Gender Design: Streifzüge zwischen Theorie und Empirie 9783035611090, 9783035612271

Die Auseinandersetzung mit Geschlecht als sozialer Konstruktion ist in sehr vielen Wissenschaftsbereichen seit Jahrzehnt

177 43 64MB

German Pages 352 Year 2017

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT BIRD
UMHERSCHWEIFEN: EIN VORWORT
Einleitung
Wicked Problems
Orte – Räume – Gender
Körper-Facetten
Die Gender-Macht der Objekte
AUTOR_INNEN
BIBLIOGRAPHIE
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Gender Design: Streifzüge zwischen Theorie und Empirie
 9783035611090, 9783035612271

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Gender Design

Board of International Research in Design, BIRD

Members: Michelle Christensen Michael Erlhoff Wolfgang Jonas Gesche Joost Ralf Michel Marc Pfaff

Advisory Board: Lena Berglin Cees de Bont Elena Caratti Michal Eitan Bill Gaver Orit Halpern Denisa Kera Keith Russell Doreen Toutikian Michael Wolf John Wood

Uta Brandes

Gender Design Streifzüge zwischen Theorie und Empirie

Birkhäuser Basel

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort BIRD

009

Umherschweifen: Ein Vorwort

011

Einleitung Lücken und Lückenfüller

016

Lernende und Lehrende

018

Rundgang 020 Das Projekt: Learning about Gender by Design

027

Jaqueline Diedam

Wicked Problems Das Dilemma der Zweigeschlechtlichkeit in der empirischen Forschung Das Projekt: What we design, designs us back

044

051

Michelle Christensen and Florian Conradi

Orte – Räume – Gender Privatheit 067 Das Projekt: Frauen im Hotel

074

Öffentlichkeit 087 Wellenbewegungen zwischen Innen und Außen

004  GENDER DESIGN 

097

Das Projekt: Fandalismus – eine ­ Intervention im öffentlichen Raum

103

Das Projekt: Invading Another’s Personal Space

108

Chi Yan Louise Yau

Nowhere/Everyhere Netze

118

Nähe und Ferne zwischen Körpern im Raum

120

Körper-Facetten Krisendesign und Krisenkörper

128

Habeas Corpus

138

Das Projekt: Fremd- und Selbst­wahrnehmung von Körper­l ichkeit – Ein Geschlechter­v ergleich anhand von Portrait­f otografien 140 Julia Schümann

Der Körper: bezüglich, aufgerüstet, ­k onstruiert, dekonstruiert, rekonstruiert …

156

Das Projekt: I-am-Me 163 Juliana Lumban Tobing

Das Projekt: Yala Maha

172

Anna Maria Merkel

Das Projekt: Reverse Branding – The BRANDes Project

180

Luca Éva Tóth

INHALTSVERZEICHNIS 005

Der geschundene Körper in der Mode

196

Der entgrenzte Körper

205

Vorwort zum „Animal ­D esign“

208

Das Projekt: Animal Design als ­ verquerer Gender Blur 209 Günes Aksoy und Keren Rothenberg

Das Projekt: Inter-Body-Action 218 Zoe Philine Pingel

Das Projekt: Das unverschämte ­ Ornament 220 Annika Mechelhoff

Das Projekt: #040585 224 Zoe Philine Pingel und Kathrin Polo

Das Projekt: Fetisch. Gender. Macht 240 Sebastian Oft

Das Projekt: Von der Theorie zur ­ Gestaltung: Everybody Has Got A Kink! 252 Sebastian Oft

Die Gender-­Macht der ­Objekte Das Eigenleben der Dinge

258

Macht und Gewalt im Design

260

Wirkungsmacht der Objekte

266

Dekoration versus Technik

272

006  GENDER DESIGN 

Conclusio: Technik als Dekoration 281 Das Projekt: Toolbag. Heimwerken für alle

282

Katharina Maxine Seeger

Das Projekt: Give + Take

292

Katharina Sook Wilting, Anusheh Onsori und Lysanne van Gemert

Objektmacht, weiblich

296

Das Projekt: Womoney 298 Alicia Shao, Paul Guddat und Matthias Grund

Die Macht der Handtasche

309

Geheimnisvolle Tarnung

315

Zwischen scharf und unscharf – ein vages Schlusswort 317 Autor_innen 321 Bibliographie 325

INHALTSVERZEICHNIS 007

VORWORT BIRD Die Rede von Gender als sozialem Geschlecht begründet sich aus der längst evidenten, wenngleich für manche offenbar immer noch verstörenden Einsicht, dass das, was wir an uns und anderen als geschlechtlich geprägte Eigenschaften und Handlungsweisen erfahren, nicht (zumindest nie allein und selten primär) auf jeweilige Ähnlichkeiten oder Unterschiede der Biologie zurückzurechnen ist, sondern Ausdruck kulturell geformter und qua Sozialisation ererbter Vorstellungen und Zuschreibungen ist. Oft subtil, aber stets machtvoll, durchdringen diese in alltäglicher Performanz perpetuierten und bisweilen auch (absichtlich oder unabsichtlich und mit wechselndem Erfolg) unterlaufenen Geschlechterbilder- und rollen alle Facetten unseres Handelns und Verhaltens, unseres Interagierens und Kommunizierens. Mithin liegt es auf der Hand und gilt es doch jeweils aufs Neue durch präzise ­Empirie erst aufzudecken, dass auch unseren gestalteten Umwelten und Artefakten vielfach vergeschlechtlichte Qualitäten, Möglichkeiten und Direktiven inhärieren und somit schließlich auch, dass Gender, obgleich noch immer selten in dieser Funktion reflektiert, einen wirkungsvollen Aspekt aller Prozesse und Resultate von Design darstellt. Nun muss eigentlich überraschen – und unterstreicht zugleich die Dringlichkeit der vorliegenden Publikation im Rahmen der BIRD-Reihe –, dass dieses so spannende wie brisante Beziehungsgeflecht nicht schon viel intensiver und weitläufiger von Design und Designforschung thematisiert und bearbeitet wurde. So liegen doch gerade dem Design als gleichermaßen praktischer und empathischer wie forschender und theoretischer Kompetenz, die sich undiszipliniert-generalistisch und mitunter subversiv mit der Reflexion und Gestaltung lebensweltlicher Zusammenhänge in ihrer ganzen jeweiligen Komplexität befasst, hier unschätzbare Spielräume für neue Erkenntnisse, kluge Entwürfe und subtile Interventionen offen. Ein Grund, warum das vorliegende Buch diesbezüglich nach wie vor gleichsam ­Pionierarbeit leistet, mag in jener ebenso aufregenden wie nunmal auch exponierten und herausfordernden Position von Design und Designforschung liegen, die sich nicht auf die distanzierte und nicht selten selbstgefällige Warte bloßer Kritik zurückziehen können, sondern stets inmitten der konkreten Verhältnisse und all ihrer Widersprüchlichkeiten agieren. Entsprechend konsequent stellt die Autorin – die seit über 20 Jahren und überhaupt als eine der ersten Personen weltweit im dezidierten Spannungsfeld von Gender und Design aktiv ist, dazu vielseitig forscht, lehrt und publiziert – hier auch kein Einheitlichkeit vortäuschendes Theoriegebäude, sondern methodisch gezielte „Streifzüge“ vor, die jenes weite Feld ideen- und beobachtungsreich durchmessen und sondieren, und versammelt dazu zusätzlich zahlreiche kluge wie mutig experimentelle, im Kontext ihrer Lehre entstandene Projektdarstellungen junger Designforschender. Marc Pfaff Board of International Research in Design (BIRD), July 2017

VORWORT BIRD  009

UMHERSCHWEIFEN: EIN VORWORT Das vorliegende Buch ist nicht notwendig linear und von vorn nach hinten zu lesen, obwohl durchaus ein strukturierter Aufbau und eine – wenn auch bewusst eher assoziative – logische Folge der einzelnen Kapitel angestrebt wurde. Es war von Anfang an klar, dass ich nicht einer wie auch immer gearteten Ableitungslogik folgen könnte, denn diese halte ich für strukturell ideologisch. Gesellschaftliche Entwicklungen lassen sich nun einmal nicht exakt und planvoll geordnet her- bzw. ableiten; und ebenso wenig hält das Design in seinen (Forschungs)Prozessen1 schlüssige, „logische“ Methoden und Heran­ gehensweisen bereit. Dies gilt umso mehr bei dem Versuch, das ohnehin schon höchst komplexe Verhältnis zwischen Theorie, Empirie und Praxis im Design zu erörtern. Im vor­ liegenden Buch drängt sich darüber hinaus die folgenschwere Kategorie „Gender“ zen­ tral in diese Beziehungen hinein. Deshalb lädt die Publikation laut Titel nicht unversehens zu „Streifzügen“ ein. Streif­züge sind nun einmal – um im Bild zu bleiben – weder systematische Überwindungen einer Strecke von A nach B noch zielgerichtete Wanderungen und schon gar keine Märsche. Das Forschungsfeld theoretisch wie praktisch erst einmal aufzuschließen, ­bedarf nach meiner Überlegung eines anderen Zugangs als des Bestrebens nach planmäßiger Auflistung dessen, was zur Zeit verfügbar wäre. Ich habe mich bei dieser Arbeit von den Situationisten (vgl. z. B. Ohrt 1997; Ford 2007; Vaneigem 2008) und insbesondere von Guy Debord (1967) inspirieren lassen; das mag hypertroph erscheinen, aber die Assoziation der „dérive“ ging mir tatsächlich spontan durch den Kopf, als ich begann, mich mit dem Buchkonzept zu beschäftigen. Wenn wir Design als eine „Situation“ – im lateinischen Ursprung des Wortes „situs“ als Sitz, Stelle, Stellung – beschreiben, dann wäre Gender das „Situierte“, auf das Design in dieser Studie trifft. Und da die „Situation“ ihren Sitz außerdem in der geografischen „Lage“ oder „Gegend“ hat, sind die Situationisten schon sehr nah. Wobei sich der Begriff der „dérive“ eigenartig widersprüchlich darstellt: Im Französischen wie im Englischen benennt er primär das genaue Gegenteil der emphatisch-­ situationistischen Interpretation, nämlich das Abstammen, Her- und Ableiten. Während in der typisch angelsächsischen Tradition das „derive“ bei dieser engen Bedeutung ­verbleibt, holt die französische „dérive“ allerdings in einem nächsten Schritt viel weiter aus: Das (nautische) Abdriften, das (Ab)-Treiben und schließlich auch jenes unscharfe

1

Die Schreibweise „Design(forschungs)-Projekte“ ist hier mit Bedacht gewählt, denn die Übergänge ­zwischen Hands-on- und Forschungs-Projekten sind durchaus fließend. Nun scheint mir diese Differenzierung bei Projekten des Designs ohnehin weniger einleuchtend als in vielen anderen Fachrichtungen, denn Design zeichnet sich spezifisch durch eine sehr enge Verstrickung von als Theorie bezeich­neter und sogenannter Praxis-Dimension aus. Vereinfacht und zugespitzt formuliert artikulierte sich der ­Unterschied dann lediglich in der Zeitdauer: kürzere Projekte wären „nur“ Design-Projekte, längere – und damit entsprechend detailliertere – verdienten nach dieser Logik die Bezeichnung „Designforschungs-Projekte“. – Ich erwähne diese Unterscheidung hier allerdings nur zur Klarstellung: dass ich mir der üblichen Differenzierung bewusst bin, sie allerdings ebenso bewusst nicht machen werde.

UMHERSCHWEIFEN: EIN VORWORT  011

­ bschweifen finden sich bereits im Wörterbuch und nicht erst bei Debord. „Entre les A ­divers procédés situationnistes, la dérive se présente comme une technique du passage hâtif à travers des ambiances variées. (…) Mais la dérive, dans son unité, comprend à la fois ce laisser-aller et sa contradiction nécessaire : la domination des variations psychogéographiques par la connaissance et le calcul de leurs possibilités.“ (Debord 1958) ­Debord kennzeichnet hier das Umherschweifen, das er bekanntlich auf die Erfahrungen urbaner Wahrnehmung bezieht, als eine Technik des eiligen, sogar hastigen Durchgangs durch abwechslungsreiche Umgebungen. Wobei diese Zufälligkeit, das Sich-Überlassen im Umherschweifen zugleich jedoch sein notwendiges Gegenteil enthält: die Beherrschung der psychogeografischen Abweichungen durch die Kenntnis und die Berechnung ihrer Möglichkeiten. Ähnlich verhält es sich mit der Form dieser Publikation: Sie schweift umher, sammelt diverse Beispiele von Design(forschungs)-Projekten im Kontext Gender auf diesem Wege ein, weiß aber um die Kontexte, in denen diese erscheinen, und kalkuliert das ­Verhältnis von Gender – Theorie – Empirie nicht nur quantitativ. Dieses situationistische Umherschweifen lässt sich gut ergänzen durch Claude ­Lévi-Strauss’ „pensée sauvage“: Das „wilde Denken“ bezeichnet für ihn ein homologisches Denken, das nicht ausdrücklichen Regeln folgt oder unterliegt. Obwohl er dieses Prinzip auf seinen ethnologischen Forschungsreisen durch Südamerika in den indianischen ­Mythen zu finden gemeint hatte, betont er selbst, dass diese Denkform nicht nur indigen-tribalen Kulturen eigen, sondern ebenso in den westlichen aufzuspüren ist – wenn auch keineswegs als gesellschaftlich generell gültige Norm: „(…) es gibt immer noch Zonen, in denen das wilde Denken (…) relativ geschützt ist: das ist der Fall in der Kunst, der unserer Zivilisation den Status eines Naturschutzparks zubilligt (…); und das ist besonders auf vielen Sektoren des sozialen Lebens der Fall, die noch nicht gerodet sind und in denen (…) das wilde Denken weiterhin gedeiht.“ (Lévi-Strauss 1968, 253) Es steht also, wie Hans-Jürgen Heinrichs in seinem Artikel über Lévi-Strauss’ Denken formuliert, „nicht klischeehaft dem ‚zivilisierten‘ Denken gegenüber, sondern einem Denken, das ‚gezähmt‘ wurde, um effektiver zu sein“. (Heinrichs 2002–2003, 86) Das umherschweifende und das wilde Denken werden in unserem Kontext Gender-im-Design nicht ideologisch-legitimatorisch bemüht, sondern diese Theorie- und methodologischen Ansätze beschreiben ziemlich genau, was hier auf das Design im Kontext Gender übertragen wird: eine Art undiszipliniertes Denken, das die Präfixe „inter“, „multi“, „trans“ sowie das „Dazwischen“ bevorzugt. Diese Ansätze betonen die ungezähmten Vorstellungen, statt die Bereiche „Design“ und jene der „Gender Studies“ diszipliniert und disziplinär abzuarbeiten. Denn die Gesellschaft bzw. das, was wir Wirklichkeit nennen, stellt sich uns ihrer Form nach unübersichtlich, widersprüchlich, divers und ineinander verstrickt dar. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft greifen ebenso chaotisch inein­ander, wie ökonomische, ökologische, kulturelle, soziale Verhältnisse und Bedingungen von Globalisierung zu einer unübersichtlichen Welt führen, die sich wiederum in den ­Erfahrungen der Menschen insgesamt entsprechend diffus niederschlagen. Aber die ­gesellschaftlichen Verhältnisse lagern sich sehr unterschiedlich ab. Denn soziale Kate-

012  GENDER DESIGN 

gorien wie Gender, Ethnizität, Nation oder Klasse sind untrennbar mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen verbunden und haben erheblichen Einfluss auf die Möglichkeiten (oder eben Unmöglichkeiten) der Gestaltung des Lebens. Das vorliegende Buch fokussiert Gender im Kontext von Design. Die Konzentration auf Gender ist bewusst gewählt, ohne damit die gesellschaftliche Relevanz der anderen, oben genannten Kategorien marginalisieren zu wollen. Jedoch ist das ebenso essen­ zielle wie bisher fast unbedachte Verhältnis von Gender und Design komplex genug, dieses exklusiv zu thematisieren. Und so werden wir diese Leerstelle zumindest ein Stück weit durch umherschweifende theoretische Überlegungen und praktische Demonstra­ tionen zu füllen versuchen. Ermöglicht wird dieses Vorhaben auch durch die engagierte Kooperation vieler ­junger Designforschender, die bereitwillig und sogar begeistert ihre Projekte und Forschungsansätze aufbereitet und für diese Publikation, zum Teil sehr gekürzt, zur Ver­ fügung gestellt haben. Dafür danke ich ihnen allen. Ich danke des Weiteren BIRD, dem Board of International Research in Design, das diesem Vorhaben zugestimmt und damit überhaupt die Grundlage für die Veröffent­ lichung gelegt hat. Benjamin Lieke danke ich sehr für ebenso kritische wie kluge und aufmunternde Kommentare und Hinweise. Und schließlich bin ich Susanne Dickel und Uta Flick sehr dankbar, weil sie mir ­geduldig und ziemlich gut gelaunt insbesondere – aber nicht nur – bei den mühsamen Fleißarbeiten wie Korrekturlesen, englische Texte Redigieren, Abgleich von Literatur­ verzeichnis und Anmerkungen etc. halfen.

UMHERSCHWEIFEN: EIN VORWORT  013

Einleitung

LÜCKEN UND LÜCKENFÜLLER Mir sind bisher keine Publikationen über Gender-im-Design1 bekannt, die sich um diese thematische und formale Verschränkung bemüht hätten: Immer klaffen Lücken.2 Entweder beschäftigen sich Arbeiten mit Methoden der Designforschung – aber es fehlen sowohl Gender- als auch praktische Demonstrationen der Forschung (vgl. z. B. Joost et al. 2016; Jonas/Grand 2012; Mareis et al. 2010; Cross 2007; Glanville 1999, 80–91); oder es werden einige (wenige) Projekte in die Debatte um Design­ forschung inkludiert – aber es fehlt die Einbeziehung von Gender (vgl. z. B. Michel 2007); oder Gender-im-Design wird unter Marketing subsummiert – wobei das Marketing das Design überwältigt (vgl. z. B. Bohnet 2016; Avery 2012, 322–336; Silverstein/Syre 2009; Moss 2009; Kreienkamp 2007), ganz besonders dann, wenn es um den US-Markt geht (vgl. etwa Berletta 2006; Brennan 2009/2011); oder es existieren Untersuchungen, die sich mit Gender im Zusammenhang von für das Design durchaus sehr wichtigen Aspekten beschäftigen – aber die dann doch aus kunst- und kulturtheoretischer, sozialwissenschaftlicher oder psychologischer Perspektive, und damit ohne Designkompetenz, geschrieben wurden (vgl. z. B. Moebius/Prinz 2012; Penny 2011; Wawra 2007; Casale/Rendtorff 2008; Bührer/Schraudner 2006; Vurgun 2005; Fausto-Sterling 2000; Kirkham 1996); Und wenn überhaupt einmal – selten genug – Gender-im-Design explizit zum Thema avanciert, werden stereotype, gender-­ codierte Produkte vorgestellt – aber lediglich in Form einer deskriptiven Sammlung, der es an designforschender Durchdringung mangelt (vgl. z. B. Weller/Krämer 2012). Eine der wenigen Ausnahmen (und deshalb auch ständig zitiert) ist der Artikel von Ehrnberger, Räsänen und Ilstedt, der sich explizit mit Gender-Normen im Design auseinandersetzt. Anhand zweier üblicher Haushaltsgeräte – der männlich konnotierten Bohrmaschine und dem „weiblichen“ Mixer – analysieren die schwedischen Designerinnen die vergeschlechtlichte Produktsprache, sodann werden die beiden Produkte dekonstruiert und schließlich als Gender-vertauschte Bohrer und Mixer redesigned (vgl. Ehrnberger et al. 2012). Dies ist ein durchaus aufregen1

2

Ich verwende in diesem Buch durchgängig die nicht übliche Formulierung „Gender-im-Design“ als ­kürzeste Möglichkeit, um den engen Zusammenhang zwischen Design und Gender zu verdeutlichen; „Gender-im-Design“ versteht sich als Hyperonym, das eben mehr ist als eine zusätzliche Fachrichtung im Design (wie z. B. Produkt-, Kommunikations-, Interaktions- oder Mode-Design etc.), sondern jegliches Design durchzieht und umfasst. Gender-im-Design ist allen theoretischen, empirischen und prak­ tischen Designbereichen inhärent, zieht Gender sich doch quer durch alle Forschungen und Praktiken des Designs, auch wenn dies bisher längst nicht erkannt und beachtet wurde. Beklagt wird hier also der Mangel an solchen Publikationen, die das Forschungs-Dreieck Design – ­Gender – Projekt fokussieren. Unbestritten gibt es zahlreiche Schriften zu Designforschung und deren Methoden, zu Untersuchungen oder Erläuterungen einzelner Design-Disziplinen; nicht zu reden von den unzähligen Studien über Gender aus den unterschiedlichsten Wissenschaftsbereichen abseits vom Design. Deshalb werden im Folgenden auch nur einige exemplarische Veröffentlichungen aus den vielen benannt – wobei es, wie erwähnt, im Designkontext nur wenige Vorstellungen praktischer Designforschungsprojekte und so gut wie keine zu Gender-im-Design gibt.

016 EINLEITUNG 

des und sowohl Praxis als auch Theorie einbeziehendes Designprojekt, das bewusst die Experimente des „Critical Design“ (vgl. Dunne/Raby 2001) zitiert, den Schwerpunkt aber statt auf Elektronik – wie die Autorinnen und Autoren des „Critical Design“ – auf Gender setzt. Ehrnberger, Räsänen und Ilstedt spielen in konsequenter Weise mit den geschlechtlich codierten Produkten, um so die Gender-Konstruk­ tionen in den Objekten selbst aufzuspüren und durch deren „Gender-Swap“ ad ­absurdum zu führen bzw. der Lächerlichkeit preiszugeben. Schärfer pointiert und für die männliche Vorstellung sowie Nutzung extrem unangenehm funktioniert der „Andro Chair“, an dem ebenfalls u. a. Karin Ehrnberger beteiligt war. Der „gynäkologische“ Untersuchungsstuhl für den Mann, der ja nicht so heißen kann (denn „gyne“ bedeutet bekanntlich „Frau“ im Altgriechischen), ist hier zu einem AndroStuhl geworden („andros“, der Mann): „The Andro Chair was designed to express something violating, humiliating, cold, and hard, with a purpose to create an awareness on how women and women’s bodies are treated in gynaecology.“ (Vgl. Sundbohm et al. 2013, 513–515.) Die Designerinnen haben diesen Stuhl sogar als dreidimensionales Modell ausgeführt und damit das iterative oder, kritischer formuliert, zunehmend redundante Schreiben über Design durch Research through (practical) Design3 designadäquat erweitert. Dennoch bleiben auch diese beiden letztgenannten Beispiele vereinzelt, und da sie lediglich als Konferenz- und Internet-Papers entstanden, werden die Themen entsprechend kurz dargestellt. Die Herangehensweisen der Designerinnen führen zwar zu klugen und mutigen Experimenten, die einen Aspekt von vergeschlechtlichtem Design kritisch zum Vorschein bringen, die aber die womöglich noch schwierigere Aufgabe nicht in Angriff nehmen: nämlich vergeschlechtlichte Artefakte, wie sie im ganz „normalen“ Alltag – und das heißt, unbedacht oder bewusst Gender-Klischees bedienend und verfestigend – vorkommen, einer genauen Analyse zu unterziehen, die perspektivisch zu einer gender-­ sensiblen Neubewertung und Neugestaltung beitragen könnte. Das ist gewiss leichter gesagt als getan. Aber genau solch eine Herausfor­ derung möchte diese Publikation annehmen: sowohl theoretische wie empirische Analysen, ergänzt durch probierende Experimente, zu präsentieren, um Gender-­ im-Design eine Spiel- und Plattform zu geben, die sich zu erläutern bemüht, wie der Umgang mit Gender im Themenspektrum Design überhaupt zu bewältigen ist – das Freud’sche „Denken als Probehandeln“ (vgl. Freud 1973, 129) soll hier seine ihm zugehörige Kehrseite des Probehandelns als Denken in Aktion erfahren. Dabei will bedacht sein, dass neben Gender auch das Design in seiner großen Komplexität permanent im Hintergrund lauert; auch dort, wo der Begriff „Design“ nicht unablässig explizit genannt ist.

3

Frayling explizierte als Erster die Differenzierungen zwischen den unterschiedlichen Formen der Design­ forschung, wobei er der qualitativen Research through Design als der das Design am angemessensten repräsentierenden Methode den Vorzug gab. Vgl. Frayling 1993, 1–5.

LÜCKEN UND LÜCKENFÜLLER  017

LERNENDE UND LEHRENDE Sowohl beim systematischen als auch beim blätternden Lesen der vorliegenden ­ ublikation dürfte schnell kenntlich werden, dass zwei unterschiedliche Stränge P die Publikation durchziehen: Neben theoretischen Kapiteln, die sich generell der Relevanz und Komplexität von Gender-im-Design widmen, finden sich spezifische Design- und Designforschungsprojekte, die die diversen Umsetzungen jener theoretischen Auseinandersetzungen in experimentellen, theoretischen wie praktischen, Projekten exemplarisch vorführen. Insofern stehen die beiden Formen nicht unvermittelt (und schon gar nicht unabsichtlich) nebeneinander, sondern der eine Teil ergänzt, erläutert, kontextualisiert den je anderen. Die vorgestellten Projekte sind nicht nur thematisch breit gefächert, sondern auch in ihrer Intensität und Ausarbeitung durchaus unterschiedlich. Das liegt an dem jeweiligen Kontext ihrer Entstehung. Die größere Zahl geht zurück auf Referate in Seminaren und Ausarbeitungen in Projekten für Bachelor-Studierende, die ich während meiner Lehre an der Köln International School of Design anbot. Vier Artikel (von Jaqueline Diedam, Julia Schümann, Anna Maria Merkel und Sebastian Oft) sind Extrakte ihrer Bachelor-Abschlussarbeiten, und ein Essay von Michelle Christensen und Florian Conradi repräsentiert überarbeitete Teile aus ihrer Master-­ Arbeit.4 Bei der Auswahl der Gastbeiträge müssen also zwei Voraussetzungen bedacht sein: Sie stammen, wie erwähnt, ausnahmslos von Studierenden, die alle, zumindest zum Zeitpunkt der Entstehung der hier präsentierten Recherchen, weder weitergehende Erfahrungen mit Publikationen noch bereits eine professionelle beruf­ liche Karriere begonnen hatten. Zweitens habe ich mich bei der Einladung an die Autor_innen dafür entschieden, lieber eine größere Anzahl von Projekten als ­wenige längere aufzunehmen, um die Diversität der Themen und Bearbeitungsmöglichkeiten zu veranschaulichen; als Konsequenz hatte das entsprechend größere Kürzungen zur Folge. Denn das ist ja überhaupt ein wesentlicher Grund für die 4

Die Autorin hatte von 1995 bis Juli 2015 den Lehrstuhl für „Gender & Design“ an der Köln International School of Design (KISD) der Fachhochschule Köln (jetzt: Technische Hochschule Köln) inne. Nach den Recherchen der Autorin wurde sie als erste Design-Professorin europaweit – und wahrscheinlich sogar weltweit – berufen, deren Denomination explizit Gender im Design thematisierte. Während in vielen anderen Disziplinen Gender als Teil des wissenschaftlichen Kanon seit Längerem nicht mehr ungewöhnlich (obwohl immer noch nicht überall selbstverständlich) ist, stellt sich das für das Design sehr anders dar: In der Designlehre und -forschung ist Gender bis heute ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Umso erstaunlicher, als die Interaktion zwischen Subjekt und Objekt notwendig und immer durch gestalterische Prozesse vermittelt ist: Alle Artefakte, mit denen wir uns, erzwungenermaßen und freiwillig, umgeben, sind gestaltet. Design ist also ein alltägliches Phänomen, und der Umgang mit ihm, gleichgültig, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, prägt unseren Alltag in jedem Moment. Und dass gesellschaftliches Handeln an und mit Objekten ebenso den sozialen Konstruktionen von Gender unterliegt wie alle anderen Prozesse, versteht sich von selbst.

018 EINLEITUNG 

Veröffentlichung dieser Publikation: Es existieren im Design bis heute international und erst recht national sehr wenige (Forschungs)Projekte und Lehrende, eben weil Gender-im-Design immer noch kaum Beachtung geschenkt wird. Aufgrund fehlender, öffentlich zugänglicher Arbeiten habe ich mich also durch­aus freudig auf im Kontext meiner Aktivitäten entstandene Arbeiten beschränkt. Die Projekte der Studierenden sind mit ihren jeweiligen Namen deutlich von den anderen Kapiteln, die ich geschrieben habe (und die nicht namentlich gekennzeichnet sind), unterschieden. Dabei ist das Spektrum äußerst breit: Kurze „quick and dirty“-Projekte wechseln sich mit ausführlicheren qualitativ-empirischen Studien ab, welche wiederum durch systematische Design-Untersuchungen im Gender-Kontext ergänzt werden. So entsteht mit etwas Glück ein facettenreiches Bild über die mannigfaltigen Möglichkeiten von Themen und Formen, wie Gender unausweichlich in das Design kommt – oder genauer: immer schon dem Design inhärent war und ist, unabhängig davon, ob bemerkt, vernachlässigt oder negiert. Einige der vorgestellten Projekte koinzidieren ziemlich präzise mit dem jeweiligen Kapitel, in dem sie erscheinen; andere dagegen gehen eine losere Verbindung mit dem jeweiligen Kapitel ein. Und doch steht keines der präsentierten Projekte allein, außerhalb des spezifischen Kontextes.

LERNENDE UND LEHRENDE   019

RUNDGANG Probieren Die umherschweifenden Facetten des Buchs suchen einige der gegenwärtig „großen“ inhaltlichen Gender-Diskussionen einzufangen, wie sie sich besonders in den Kultur-, Literatur- und Sozialwissenschaften finden, aber im Design mit anderen methodischen und inhaltlichen Zugangsweisen sehr eigenständig bearbeitet werden. Dabei transformieren sich die Themen durch die spezifischen Perspektiven, unter denen auf den jeweiligen Gegenstand geschaut wird. Getreu meiner Methodologie des Durchstreifens „wildere“ ich – um mit Michel de Certeau zu sprechen – in unterschiedlichsten Themen und Begriffen, um Gender-im-Design in den di­ versen Kontexten und durch Projekt- und Forschungsbeispiele näherzukommen. Deshalb fokussieren alle Kapitel lediglich jene Aspekte in dem jeweiligen Themenkomplex, die für die erkenntnisleitenden Fragestellungen des Buches insgesamt von Bedeutung sind, fernab aller Vollständigkeit des akut zur Diskussion stehenden Inhalts. Solch ein Vorgehen bringt sowohl sehr differente Quantitäten der einzelnen Unterkapitel hervor als auch ständige Perspektivwechsel. Die eigenwillige Herangehensweise schließt die Objekte noch einmal anders auf, als die weitaus älteren, traditionalen Wissenschaften dies anbieten. Und das könnte ein Vorteil des Designs sein: Als eine junge Disziplin (etwa seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts) kann es, befreit von der Last einer langen Wissens- und ­Wissenschaftsgeschichte, ausprobieren und sich, sozusagen nach Bedarf, der anderen Wissenschaften bedienen – wenn dies auch von diesen nicht unbedingt goutiert und akzeptiert wird. Die notwendige, bisher aber vernachlässigte Verflechtung der Inhalte mit der Kategorie Gender fördern im Design neue, im besten Sinne originelle Problemstellungen zutage. Jaqueline Diedams „Learning about Gender by Design“ ist solch ein origineller Ansatz, indem sie die Relevanz von Genderperspektiven im Design als im wahrsten Sinne des Wortes spielerische Einführung gestaltete. Sie entwarf in ihrer Bachelor-Thesis aufgrund empirisch qualitativer Interviews bewusst ein Offline-Spiel, das mit Würfeln, Briefing-Karten, Stift und Papier jüngeren Menschen die Bedeutung von Gender-Kategorien und -Optionen im Design unbeschwert, durch Probehandeln, zu vermitteln trachtet.

Verzwickung Das Konzept des Buches möchte einen Rahmen bauen, in dem die vielen schwierigen, auch strittigen Fragen offensiv thematisiert werden. Es schildert die unaus-

020 EINLEITUNG 

weichlich verzwickten, schlimmer noch „gemeinen“, „bösartigen“ Probleme (vgl. Rittel 2013; Protzen et al. 2010), in die sich das Design immanent und im Verhältnis zu anderen Disziplinen verstricken muss: Im Design – und wahrscheinlich nicht nur da – löst die Lösung eines Problems unweigerlich ein nächstes aus. Im Verhältnis zu anderen, stark gender-geprägten Fachrichtungen befindet sich das Design immer nah am Leben, am Alltag, am empirischen Erfahrungs- und Aktionshorizont der Menschen – und da gibt es in vielen Fällen kein Entrinnen in metatheoretische Sphären. Deshalb legen sich die hier veröffentlichten designtheoretischen Über­ legungen teilweise mit anderen Genderforscher_innen an, vor allem, wenn Begriffe wie „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ oder, noch komplizierter, „Frau“ und „Mann“ benannt werden. Die Unschärfe von LGBTIQ+, die in vielen Zusammen­ hängen eine Qualität und Errungenschaft darstellt, wird im empirischen Design-­ Kontext zum Problem, wenn es etwa um Studien zu Nutzen und Gebrauch der Artefakte durch die Geschlechter geht – ein besonders relevanter Forschungsbereich von Gender-im-Design. Das Kapitel „Wicked Problems“ setzt sich mit dieser Kontroverse aus der Sicht von Gender-im-Design streitbar auseinander. Michelle Christensen und Florian Conradi analysieren die Spezifik von Design und dem ihm eingebetteten Geschlecht in einer neuen Beziehung zwischen Subjekt und Objekt. Denn den Dingen, so argumentieren sie, kommt im Zeitalter avancierter Technologien eine größere Bedeutung zu. Um aus der hierarchischen Verstrickung von Macht, Gender, Ding einen Ausweg zu finden, erproben die b ­ eiden „Verkehrungen“, indem sie Theoriekonzepte in physikalische Artefakte überführen: „What we design, designs us back.“ Als vorläufigen Ausweg aus den Verflechtungen diskutieren sie die Möglichkeit einer Allianz zwischen den Dingen und den Menschen durch die Vermittlung von demokratisierten Technologien.

Räume Dieses Kapitel greift ein in vielen Wissenschaftsbereichen intensiv diskutiertes Thema auf – wobei wiederum auffällt, dass sich im Design sehr wenig Material ­findet. Lediglich dem Design verwandte Disziplinen wie Architektur und Innen­ architektur haben sich mit der Bedeutung von „Raum“ für den Gender-Zusam­ menhang ausführlicher beschäftigt, meist aber historisch mit Schwerpunkt auf dem 19. Jahrhundert (vgl. Bischoff/Threuter 1999; Harth o. J.; Pollak 2012; Ruhne 2003). Die Grenzen zwischen privaten und öffentlichen realen Räumen verschwimmen zunehmend durch die gleichzeitigen und gegenläufigen Tendenzen einer ­zunehmenden Privatisierung öffentlicher und einer Veröffentlichung privater Räume, Digitalisierung und Virtualisierung verschärfen die Unschärfe, und alle drei Räume sind deutlich Geschlechter-konnotiert. Ähnliches gilt für die Beurteilung, was als Angst- oder als Vergnügungsraum empfunden wird. Ansprüche an

RUNDGANG 021

Räume diver­gieren sehr häufig nach Geschlecht, und die Intimitäts-Distanzen sind nicht nur kulturell, sondern ebenso im Gender-Kontext von Bedeutung. Der persönliche Raum definiert sich nach Gender und Kultur sehr unterschiedlich, die sozialen und ­kulturellen Bedeutungen des Raumverhaltens bestimmen Kommuni­ kations- und A ­ ktivitätsformen der Geschlechter. Gender zeichnet mitverantwortlich für die räumliche Organisation, in der sich weibliche und männliche Bewegungsverläufe häufig diametral ausrichten. „A Room of One’s Own“5 – im 21. Jahrhundert aber einer fürs Unterwegs-Sein –, das assoziiert die qualitative Studie über „Frauen und Hotels“, die sich mit den Wünschen und Ansprüchen von Frauen, die aus beruflichen Gründen reisen (müssen), beschäftigt und wie sehr sich deren Einschätzungen und Emotionen von denen männlicher Geschäftsreisender unterscheiden. Weibliches berufliches Reisen unterliegt ganz anderen Konstruktionen als jenen, die Foucault – wenn auch in ­anderem Zusammenhang von (Krisen)Heterotopien – für die Wahrnehmung des Hotels als einem jener Orte beschrieben hat, „an denen man ein anderer ist, an ­denen alternative Lebensentwürfe ausprobiert werden können“ (Foucault 2005, 10). Den Frauen gilt das Hotelzimmer als semiprivater Schutzraum, manchmal sogar als eine Art Trutzburg, in einem von ihnen in dieser Situation immer noch als männlich dominiert empfundenem semiöffentlichen Ort. Der öffentliche Raum hingegen ist Thema des aktivistischen Projekts, das sich kritisch mit sogenanntem Vandalismus beschäftigte und zu dem Schluss kam, dass manche dieser vandalistischen Aktionen eher dem geschuldet sind, dass dieser öffentliche Raum den Menschen enteignet und durch eine „Shoppingmall­isie­ rung“ quasi privatisiert wurde. Als Gegenaktion erfanden die Studierenden Kam­ pagnen und Objekte, die eine Rückaneignung verdeutlichen sollten, und wandelten den negativen Vandalismus-Begriff durch die Veränderung nur eines Buchstabens in den fröhlichen des „Fandalismus“ um. Was Personen empfinden, die als „Eindringlinge“ einen fremden Privatbereich erobern und dieses Ereignis dokumentieren müssen, und inwiefern Gender bei der Aneignung von fremdem Territorium ein Rolle spielt, hat Louise Yau in i­ hrer Feldstudie „Invading Another’s Personal Space“ herauszufinden versucht. Eine ganz andere Aussicht fragt danach, ob das ziellose städtische Umherschweifen des historischen Flâneur aus dem 19. Jahrhundert heute überhaupt noch vorkommt, wie es sich womöglich verändert oder auf virtuelle Orte verschoben hat. Frauen sind übrigens weder historisch noch aktuell dabei gewesen – die Flâneuse existiert nicht, bestenfalls wird sie, ganz anders, bei Proust und Baudelaire zu einer „Passante“ (vgl. Baudelaire 1860, 244; Proust 1923, 138).

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Vgl. Woolf 1928, ursprünglich als zwei Essays zum Vortrag für die beiden Frauen-Colleges Girton und ­Newnham geschrieben und 1929 erstmalig als Buch in sechs Kapiteln veröffentlicht. Seitdem erschienen zahlreiche, z. T. revidierte Auflagen, z. B. Eastford, CT 2012 (Martino Fine Books). Erstaunlicherweise erschien die erste deutsche Ausgabe erstmalig 1978; vgl: Woolf 1978.

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Körper(Räume) Raumkonstruktionen beziehen sich nicht nur auf den Umgang mit Außenräumen, sondern umfassen auch die vielfältigen Reflexionen zu den vergeschlechtlichten Körperräumen: Krisenkörper, natürliche versus künstliche, verletzte und geschundene Körper, Body Enhancements jeder Art, Cyborgs, Haut als Interface zwischen innen und außen und nicht zuletzt die zweite Haut, Mode. In diesem Kapitel werden all jene Körper-Facetten erörtert und mit zahl­ reichen Experimenten und Projekten verwoben. Julia Schümann etwa vergleicht die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Frauen und Männern anhand von deren Portrait-Fotografien, die sie subtil positiv sowie negativ manipulierte. Durch Beobachtung, Befragung und vergleichende Analysen entdeckt sie ein erstaunliches Spektrum gender-differenter Einschätzungen und Emotionen: „Fremd- und Selbstwahrnehmung von Körperlichkeit – Ein Geschlechtervergleich anhand von Portraitfotografien“. Luca Tóth persifliert und performiert in „Reverse Branding“ die vielen Life­ style-, Reality- und Makeover-Shows, die das Prinzip Vorher–Nachher an mit ihrem Aussehen unzufriedenen Mädchen und Frauen durchsetzen: von der schüchternen grauen Maus zur schönen Prinzessin. Luca Tóth indes verkehrt dieses Prinzip: Eine eher auffällige, bunt gekleidete und durchaus selbstbewusste Frau wird in eine ­unauffällige schüchterne „Standard“-Frau verwandelt. Anna-Maria Merkel startete die Initiative, in Kooperation mit sri-lankischen Näherinnen faire Mode für den westlichen Markt zu entwerfen und zu produzieren. Was „Yala Maha“ vor anderen – sicherlich gut gemeinten – Experimenten dieser Art auszeichnet, ist das kluge und zugleich realistische Konzept: Statt „ folkloristische Mode“ vor Ort für Touristinnen anzubieten, wird hier hochwertige und hochpreisige Mode für die sogenannten entwickelten Länder Europas produziert. Merkels Bilderbericht stellt die bisherigen Phasen des Projekts vor. Die vielfältige, zwischen Leidenschaft und Dogmatismus geführte Debatte um sexuelle Identität, Diversität, Homosexualität, Inter-, Transsexualität und all dem Dazwischen kann am Modekörper besonders gut nachvollzogen werden: Könnte es denn eine Mode geben, die die Binarität der Zweigeschlechtlichkeit überwindet, ohne banal den Rock für den Mann und die Hose für die Frau (welche ja längst geradezu übernormal geworden ist) zum wiederholten Male zu propagieren? Barbara Vinken hat das für die gesellschaftlichen Hüllen der modernen, bürger­ lichen Körper verneint: „Während der Männerkörper in der Mode der Moderne seine Geschlechtlichkeit unmarkiert lässt, geht es in der weiblichen Mode ausschließlich um die Markierung der Geschlechtlichkeit. (…) Dieser Unterschied zwischen den Geschlechtern, den die Mode macht, ist so extrem, dass man von einem ‚dimorphisme sexuel‘ gesprochen hat.“ (Vinken 2013, 37) Zoe Philine Pingel und Kathrin Polo haben sich dagegen daran versucht, ein sich veränderndes, ein performativ bewegliches Gewand zu designen: „#40585“ ist

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der Farbcode, der im Rahmen des RGB-Farbraums (RGB steht für die drei Grundfarben Rot, Grün, Blau) diesen speziellen Farbton ergibt. Annika Mechelhoffs Entwurf „Das unverschämte Ornament“ stellt für alle ­Geschlechtskörper Mode mit Architektur dar und gleich. Geometrische Formen, Schutz und Öffnung z. B. spielen in beiden Gestaltungsbereichen eine ähnliche Rolle. Juliana Lumban Tobing experimentiert in ihrer von Origami-Faltungen an­ geregten Mode „I-am-Me“ mit der Möglichkeit permanenter Veränderbarkeit: Hier ein Stück weg, an anderer Stelle fixiert – und schon sieht alles anders aus. Ein Prinzip – viele Formen als Versuch der Individualisierung eines Kleidungsstück, das so geschlechtliche Identität herstellen wie verwischen kann. Es fällt auf, dass viele der hier vorgestellten Modekonstruktionen (die allesamt aus einem Lehrprojekt hervorgingen) das auf den Körper applizierte Material mit performativen Elementen versehen. Bewegungen des Körpers scheinen dem Gender-Blur entgegenzukommen, indem sie das Fließende nicht nur der Kleidung, sondern damit zugleich der Geschlechtlichkeit betonen. Zoe Philine Pingel hat in einem anderen Kontext noch einmal einen Dialog, die „Inter-Body-Action“, zwischen Körper, Kleidung und Aktion hergestellt. Günes Aksoy und Keren Rothenberg finden einen äußerst originellen Zugang zur der Problematik der Stereotypisierung von Geschlechter-Codes. Die Tierwelt und deren Verhaltensformen dienen den beiden als Basis ihrer menschlichen Mode­ beobachtungen. Mit „Animal Design als verquerer Gender Blur“ finden sie ­heraus, dass das natürliche Tierreich ein großes, wenn auch missverstandenes Vorbild für menschliche Schönheits- und Modekonstruktionen abgibt. Überhaupt ist die Frage danach, was Natürlichkeit bedeutet, wo sie aufhört, in Kultur und/oder Künstlichkeit und schließlich in Technologie übergeht oder driftet, für das Design besonders wichtig (wenn auch schwer zu beantworten). Material, auch sogenannte intelligente Materialien, biodynamische Lichtanwendungen, Materialität, Oberfläche, Bionik, Technologie und Nachhaltigkeit sind essenzielle ­Bestandteile der Designpraxis und tangieren notwendig Gender-im-Design. Die „Aufmöbelung“ des Körpers durch Accessoires, Wearables, kosmetische und chirurgische Eingriffe sowie die Fitness- und Upgrade-Obsessionen wirken sich auch auf den sexuell begehrlichen Körper aus. Der Übergang von Technologien, Mode und Mensch-Tier-Beziehung zu Fetisch mag auf den ersten Blick logischer erscheinen, als er auf den zweiten ist. Doch Sebastian Oft verfolgt eine andere Perspektive. Seine auf sexuelle Fetische und Praktiken konzentrierte Arbeit „Fetisch. Gender, Macht, Objekt“ versucht sich an einer Entpathologisierung und will stattdessen das Gender-Macht-Verhältnis genauer erkunden; wobei er feststellt, dass Machtgefälle zwischen den Geschlechtern sich durchaus strukturell anders entpuppen können, als sie zuerst erscheinen, und dass bei fetischistischen Aktivitäten die Rolle der Macht häufig den Objekten statt den vergeschlechtlichten Subjekten zukommt. Oft will außerdem fetischistischen

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Praktiken, mögen sie auch noch so bizarr wirken, den Hautgout des „Perversen“ nehmen und möglichen Ekelgefühlen vorbeugen. Dies ist ihm durch die Gestaltung eines den Seh- und Tastsinn gleichermaßen ästhetisch anregenden Buches gelungen, aus dem hier leider lediglich einige Abbildungen – und diese nur in Schwarz-Weiß – abgedruckt werden konnten. Statt der üblichen sexualisierten ­Fotos wählte er eine ebenso abstrakte wie individuelle Assoziationen freisetzende Gestaltung mit unterschiedlichen Materialien, Strukturen, Farben.

Ding-Kommunikation Kommunikation und Gebrauch als gesellschaftliche Praktiken sind unausweichlich vergeschlechtlicht. Denn weder Produkte noch Menschen sind geschlechtsneutral. Das scheint uns für die Menschen logisch, theoretisch und empirisch ­belegt. Dass aber die Objekte selbst Gender inkarnieren und signalisieren, ist womöglich im Detail weniger untersucht und bekannt. In diesem Kapitel wird die Bedeutung von Gebrauch und Nutzung für die Gender-im-Design-Analyse hervor­ gehoben, auch Co-Creation und Maker-Kultur werden für diesen Kontext kurz hinzugezogen, um sodann die vergeschlechtlichte Macht, wie sie sich in den Produkten sammelt und nach außen manifestiert, theoretisch und projektbezogen zu demonstrieren. Produktsprache, Geschlechtervorlieben für Produkte und deren Nutzen sowie Experimente mit weiblich konnotierten Objekten sind weitere Fragestellungen, die in unterschiedlicher Weise bearbeitet wurden: Alicia Shao, Paul Guddat und Matthias Grund nahmen sich den Finanzsektor des mächtigsten Landes der Welt vor, um ihn zu „verweiblichen“: „Womoney“ ersetzt die ausnahmslos mit männlichen Portraits bedruckten aktuellen Banknoten und Münzen der USA durch weibliche. Katharina Wilting, Anusheh Onsori und Lysanne van Gemert persiflieren ­sozial als typisch weiblich und typisch männlich erachtete Produkte in zwei unterschiedlichen Konzepten: „Give“ wandelt männlich konnotierte „mächtige“ ­Objekte in weiblich „mächtige“ um. „Take“ dagegen erfindet – sozusagen als späte Antwort auf historisch typische Unterdrückungswerkzeuge von Männern für Frauen – „böse“ Objekte, die den Männern Pein bereiten.

Funktionalität Weitgehend unwidersprochen geistert die Behauptung durch die Welt, dass sich Funktion und dementsprechend auch Funktionalität durch rationale, ja geradezu

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objektive Kriterien bestimmen ließen. Ein großer Trugschluss: Sozio-kulturelle und Gender-Vorstellungen beeinflussen sowohl Definitionen von als auch Handlungen an „funktionalen“ Objekten, Zeichen, Dienstleistungen, die weit über den Streit um diesen Begriff und die darunter versammelten Objekte aus dem Beginn und dann noch einmal aus der Mitte des 20. Jahrhunderts in der sogenannten „Funktiona­lismus-Debatte“ hinausragen. Wir werden die Gender-Konstruktion „(weibliche) Dekoration versus (männliche) Technologie“ zerstören und das Redesign eines alltäglichen Produkts – eine Werkzeugtasche – vorlegen, das Katharina Maxine Seeger untersucht und gender-sensibel neu gestaltet hat: Dabei herausgekommen ist „Toolbag. Heimwerken für Alle“.

Gender als Inspiration für das Design Es sind, in ihrer Gesamtheit betrachtet, keine spektakulären, sondern ganz normale, manchmal sogar banale Alltagssituationen, in denen Menschen als ver­ geschlechtlichte Wesen mit den Dingen kommunizieren; oder in denen als sicher geglaubte Formen überraschende andere Einsichten bieten, wenn sie unter der Genderperspektive befragt werden; oder in denen sich durch ironische Eingriffe das wahre „Objektgeschlecht“ entpuppt. Und so der Nachweis geführt werden kann, dass die Gender-Kategorie auch eine lebendige, erhellende und wichtige ­Inspirationsquelle ist, das Design einer kritischen Überprüfung auszusetzen. Es ­besteht die Möglichkeit zu grundlegender Innovation, wenn Gender von Beginn an einbezogen wird und damit die empirischen Zugänge, Methoden und adäquate Darstellung der Ergebnisse qualifiziert und designspezifisch formuliert und praktiziert werden.

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DAS PROJEKT: LEARNING ABOUT GENDER BY DESIGN Jaqueline Diedam

Gendered Design While design is still rarely gender sensitive, there have been positive changes in this area as well as an increase in discussions about gender and its role in society. In addition, the growing millennial segment finds products that obviously cater to a specific sex or gender less relevant when shopping. This change in customer behaviour calls for mainstream retailers and brands to join the discussions about gender and give customers more options (see National Purchase Diary Group, n.d.). Future designers need to understand how they can properly address gender issues in their processes and solutions. Today, gender notions and constructions are being questioned more than ever before, and there are real possibilities for practical changes, not just theoretical ones. The aim of this bachelor thesis is to find a way to create a basic learning tool for design students using gamification strategies and integrating gender discussions into the design process. Socially constructed expectations of femininity and masculinity are present in all areas of design and society. It is not new that women are constantly targeted with products that are soft, organic, rose coloured or laden with decorative elements, while products for men feature complex, angular and darker attributes that emphasise performance and durability (see Ehrnberger et al. 2012, 85–98). The mechanism behind these strategies is called the “separation principle” (see Hirdman, n.d.). This principle separates people into men and women, or their masculine and feminine ideals, and presents them as total opposites. Furthermore, it promotes that men and women have a natural predisposition to working in specific fields (high-tech vs. the care sector) or holding certain positions of power (male engineers vs. female kindergarteners). This idea of separation is not only limited to the professional sphere; it also considers gender to be connected to specific areas of interest (leadership, technology and the public sphere in contrast to domestic care, the private sphere and beauty; see Ehrnberger et al. 2012, 89). This theory is then applied to an extensive list of products – such as cars and domestic appliances, and even public transport and food packaging – and promoted to the public. Separating gender into men and women and assuming that each group has inherent preferences for specific colours, shapes and other visual and sensual qualities dismisses the diverse gender identity characteristics and personalities in those social groups. Furthermore, these stereotypes find their way into advertising, film, popular culture and professional settings. To claim that these actions do not shape

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how people see themselves or influence their expectations of what it means to be a woman or man (in consideration of today’s heteronormative scenario) is not only wrong but also ignorant of the history from which western society has developed. Design decisions have consequences, which influence both other designers and ­society at large. Clearly, there are differences in how men, women and non-binary genders ­behave. However, these differences are not due to naturally given traits, but rather result from social imprints that are constructed during an individual’s life (see Mikkola 2012). In terms of behaviour, studies have shown that there are no significant pre-existing differences between men and women (see Fine 2011). Nonetheless, gender-specific assumptions, separation and targeting can still be seen across all areas of design from typography, packaging and services to products. We are constantly surrounded by examples of shallow and stereotypical design decisions that can be insensitive towards gender and gender identities. This calls for a redesign of the very educational structure that turns design students into design professionals.

Games, Gender and Education Gamification strategies and games can be helpful platforms for students who are not yet aware of gender issues. These tools can be used for taking the first small steps in a complex area of study and exploring the connections between gender and design. Gamification has been a buzzword for quite a while. Many companies are ­experimenting with gamification elements and strategies for staff training, management workshops and developing new services and products. In this context, it is important to differentiate between ‘gamification’, ‘games’, ‘design games’ and ‘participatory design games’. Gamification can be defined as the usage of game elements or concepts for purposes other than game playing (see Zichermann 2011). More specifically, gamification is the application of typical elements of game playing (e.g. point scoring, competition with others, rules of play) to other areas of activity, typically as an online marketing technique to encourage engagement with a product or service. For example, the popular point systems in airline loyalty schemes are considered a marketing gamification strategy because these systems use gaming concepts such as points and prizes in order to encourage their clients to buy more flights with the same company. A game, on the other hand, is generally defined as a ‘system in which players engage in an artificial conflict, defined by rules, that results in a quantifiable outcome’ (Salen 2004, 80). Eva Brandt, professor at the Royal Danish Academy of Fine Arts and one of the well-known personalities in the field of participatory design research explains it as follows: ‘In relation to participatory design games it seems important that the game

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world including the game materials, and the rules for how to play contain some kind of “dream material” that opens up a make-believe world where the outcome of game playing is unknown at the outset’ (Brandt 2014, 5). Participatory design games are mostly used in research, where different actors are asked to solve a certain problem and everyone is allowed to share their views, and where information exchange is facilitated between the groups. Exploratory design games are part of participatory design research, with the biggest difference being that users are directly involved in developing the design solutions. In addition, exploratory design games do not use competition between players as stimulation but rather support users in order to gain insights from their reactions and comments during the journey (see Brandt 2011, 213–256). Design games can be extremely helpful in trying to create a safe environment and a basis for the discussion of any topic, especially those that may initially seem controversial and intimidating. I therefore believe that gamification tools in the context of gender and design can be useful in different fields of design (e.g. service design). In addition, they can serve to generate more interest and provide an opportunity to think about the connections between the many aspects of applied design and gender studies.

Game Criteria In the following, I describe the criteria used for the development of the game. The task was to create an analog game to be played by four or more players (up to six in total). The goal of the game was to trigger discussions about certain core lessons or key discussion points, which I will explain later in more detail. The duration of one game playing session had to be moderate, with the maximum duration set to no longer than 25 minutes. In addition, it was designed as a one-off game, meaning it is not played over and over again by the same participants. The reason for this will become clear in the description of the game concept. It is also important to note that the game is not to be confused with a tool for answering gender and design questions (e.g. like a dictionary for terminology used in the field). Rather, it is a tool for communication purposes aimed at igniting group discussions about the relationship between gender and design and their impact on society. The game is supposed to bring participants together in order to discuss gender topics in a relaxed and welcoming setting, instead of the traditional ‘chalk and talk’ lecture approach. Since it is an educational game, the ultimate goal is what the players take away from this experience. Therefore, the game should be meaningful and deliver a valuable message about gender and design, and perhaps even promote positive change (see Government Service Design Manual, n.d.).

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Furthermore, it is not necessary for the participants to have deep knowledge of gender and design in order to play the game. While not a requirement for inclusion, it would however be ideal if most of the participants had at least a superficial understanding of design processes or project management. Nevertheless, those participants who do not have related knowledge or experiences should not be excluded. These basic criteria should serve to make the game more accessible to a larger audience of players.

Core Lessons The game’s primary purpose is to challenge participants’ normative thinking in ­relation to gender constructions. Players are encouraged to question established ideas about gender and to analyse their true meaning and background in relation to design. In addition to taking normative ideals into consideration during the ­design process, it is also important for participants to focus on a familiar topic or question when starting the discussions on gender and design. Doing this helps to simplify certain core lessons in this area, which proved to be a good approach. Along with these goals, being accepting and supportive of diversity is another important core lesson that is essential for sensitive design solutions. In order to do this, the participants have to be open to possible new connections and constellations of values, characteristics and appearances that may not necessarily seem to go together well. Furthermore, they should not assume that there is only one way for the fictional users of their design solutions to behave or act. In connection to the core lessons above, players are also encouraged to question the binary separation principle that promotes design solutions specifically conceived for either women or men because this theory does not leave any room for individual interpretation or gender fluidity. Moreover, participants should avoid the notion that there are only two opposite genders, which can be considered the most important. Understanding the connection of gender and design in social constructions means that the participants become aware of the responsibility designers have in shaping society in a social and liberal way. Thinking about how their designs can help to deconstruct unjust social norms is the first step in this direction.

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“Design for …” The core lessons and criteria outlined above were used to develop a board game ­called “Design for…” It is a simulation board game that puts participants in the role of designers. It is also a facilitation tool to initiate discussion of the general and ­introductory issues connected to gender and design. With this objective in mind, the game tries to create an experience that is as open as possible and as guided as it needs to be. The game is not about a formula for ‘good design’ and the results should not be taken as real solutions to design problems. Rather, they are meant to serve as starting points for further discussions. The game is about mixing real-life issues with a bit of fun in order to break the ice in situations where there may be an awkward silence about important but complex gender and design topics. The participants are not judged for the ideas they develop during the game but rather encouraged to be part of a group of interested designers in a new area. The results of this process tend to be funny, absurd, stereotypical, interesting and inspiring. The outcome of the gameplay itself is not the most important aspect of the game. Instead, it is a step towards the central goal of provoking discussion. A moderator is present during the entire game playing process to assist participants with the rules and next steps. This person is also very important at the end of the game in terms of moderating the discussion regarding the results and the experiences of the participants. In order to ensure a valuable outcome, the moderator is given a set of guidelines and questions that can be used to guide the gameplay. Depending on the knowledge of the participants, the moderator may not need to be present at all times.

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Necessary game items: • Gameboard • Game cards (briefing cards – what & for whom, research fact cards, concept cards, blank persona cards) • 4 Tokens • 1 Dice • Pens and markers • Paper for sketching • 3 Timers (sand clock, kitchen timer, mobile phone, stopwatch) • Drinks for participants

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Basic playing rules: • 6 players: 3 groups of 2 • Age group: 16 and older • Players should have knowledge of design journeys or project management • Each group is represented by one token on the board • The group that first rolls the highest number starts • Groups then take turns clockwise • Players have to follow the instructions of the part of the game board they land on • There is no winner

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Visual design: The visuals of the game are colourful and have a fun feel. This dispels the idea that it has to do with something serious or boring. On the other hand, the game does not look and feel like a children’s game because this would not appeal to adults. It was important to make it visually exciting and that it not resemble a research or educational tool in the classic sense. In order to bring these requirements together and also integrate a design-related element, I chose to limit the colour range to the CMYK spectrum of magenta, blue and yellow. These colours not only provide vivid shades with great contrast but are also associated with the field of design.

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Stages of gameplay: 1. Briefing

The game starts with a very short, open briefing in the form of a ‘what?’ and ‘for whom?’ card consisting of the task to design something for a specific target group. Moving through this phase to the next one, the briefing might change depending on where players land with their token. This makes the gameplay more relaxed and prevents players who were not happy with their first briefing from becoming frustrated. The participants get cards that target a certain social, age (i.e. elderly people, children, teenagers) or professional group (i.e. lawyers, architects, nurses, etc.). Possible gender stereotypes related to these target groups can then be addressed in a discussion on how often designers tend to see target groups as groups of individuals with the same characteristics rather than considering the nuances of each group. 2. Research

During the research phase, the players draw cards that simulate their fictional research findings with regard to the product or target group. Again, depending on their actions, the players may have to exchange some of these cards before moving on to the next phase.

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3. Creating a persona

Using the research findings, the teams now have to quickly prepare and fill out their persona card. This means giving the persona a name and creating a quick sketch of an imaginary persona in the target group that represents the user for who the participants want to design something. Like the other design phases, this part should also not be confused with an appropriate design tool or with how such methods are used in everyday design processes; instead, this part should simply be seen as a ‘quick and dirty’ version of professional persona development.

4. Concept

When the persona is finished, the groups receive concept cards that will influence their final result and provide them with a number of requirements for certain parts of their concept. The concept cards contain adjectives that can be helpful because they may match the players’ personal ideas for a design or add another characteristic which the participants may not have considered compatible. 5. Visualising

In this phase, the teams have to visualise their concept quickly within five minutes. The players are provided with white sheets of paper and coloured pens. These visualisations do not have to be perfect or result in a finished design. They simply serve to illustrate the concept to the other groups.

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6. Preparation

During the preparation phase, the players are given five minutes to prepare the ­final presentation of their concept. This should be in the form of a verbal and visual presentation. What participants do not know at this point is that ‘their client’ has requested a last-minute change shortly before they started preparing the final presentation. The teams are only notified of the change when they begin this phase. The participants are told that their client wants them to change the gender of their target group. However, the teams are not told for which gender they have to adjust their concept. In addition, they should only change their presentation if they think the gender change will affect their design. This element is introduced to make participants think about the effect of gender on design and how different gender groups are often seen as the reason for making design changes.

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7. Presentation

The teams have two minutes to present their final design without mentioning their target group to the other participants. Instead of naming their target group, the participants are asked to say ‘our target group’ or ‘the target group’. After each presentation, the other players are asked to write down what they think the target group and gender are for which the other players have developed a design and why they ­arrived at this conclusion. When all the teams have given their presentations, the moderator collects the notes from each group. As I mentioned at the beginning, the game also relies on a moderator who can help with the discussion and gameplay. Before the game starts, they are given certain guidelines to follow and to help prepare for the role.

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Tips and guidelines for moderators • Be aware of the comments players make during the briefing, especially what they express when they receive their briefing cards (e.g. disappointment, happiness, etc.). These observations can be used to start discussions about each group’s expectations and associations with respect to gender roles. Example: Group 1 is not happy because they received briefing cards for ‘makeup packaging’ or a ‘beer campaign’ and target groups like ‘computer technicians’ or ‘nurses’. Thinking stereotypically, these two briefings would not be considered compatible because the normative gender of the target groups (male and female) would not match the ones of the product (female and male). If the participants react with disappointment about combinations that they perceive as mismatches, it may be helpful to encourage them and observe how they deal with this situation. • Make sure that players show how they used their ‘research facts’ and ‘concept’ cards to come up with their designs and ask about what challenges they encountered during the game. When the participants learn about the ‘gender swap’ during the preparation phase, be aware of their reactions. They can provide interesting discussion points in relation to what the gender of a target audience actually means for the outcome of a design.

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Make sure to let the participants explain how, or whether the ‘gender swap’ affected their first concept. Invite the other players to share their thoughts on the changes that other teams made to their concepts. If no changes were made despite being given the chance to change the gender of the target audience, ask the participants to explain why they decided not to change anything. Again, invite the other groups to share their thoughts and experiences.

Final Thoughts My goal with this project is to provide a platform for discussion and to introduce new students to the related topics of gender and design. I think this is important for the field’s overall sustainability and future as well as for the design profession as a whole. I have come to understand that a designer should be knowledgeable and skilled in many areas in order to be able to deal with societal problems and issues. All areas are interconnected and affect each other. In many cases, multidisciplinary approaches have been useful in finding answers to complex problems because design is involved at every level of these issues. Therefore, designers have enormous social responsibility when to comes to creating products because these products will eventually affect and shape our society. ‘Design for …’ only touches the surface of the vast area of gender and design. Nevertheless, I hope that it helps to bring about change because it is a tool that ­facilitates introducing the topic to a larger audience and starting a discussion in an interactive, open and entertaining way. This is the goal of design games that are ­developed to engage players and make them feel welcome to share their opinions. Hopefully, ‘Design for …’ also achieve this by using a simple approach for focusing on gender issues. I hope that this game can eventually be tested in real-life contexts, such as classes, workshops and conferences, where it could be analysed further in terms of how it can help to trigger discussions on how gender and design affect each other. I believe that the area of gender and design studies still has a lot of potential for new design researchers, however, I also know that most students primarily focus on the more classic areas of design. This game may not change students’ minds about their overall career goals, but it can show them that gender and design should be equally important parts in both professional design and design studies.

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DAS PROJEKT: LEARNING ABOUT GENDER BY DESIGN  041

Wicked ­P­roblems

DAS DILEMMA DER ZWEIGESCHLECHTLICHKEIT IN DER EMPIRISCHEN FORSCHUNG Der deutsche Designer, Stadtplaner, Systemtheoretiker Horst Rittel, der in den USA und in Deutschland lehrte, erfand, gemeinsam mit Melvin Webber, den wissenschaftlich so kühn-unkorrekten Begriff der „wicked problems“ (vgl. Rittel/Webber 1973, 155–169), im Gegensatz zu den wohl definierten „tame problems“, die als richtig oder falsch beurteilt sowie gelöst werden können. Letztere gehören zu solchen Problemen, die in ähnlicher Weise immer wieder auftauchen und entsprechend jedes Mal ähnlich lösbar sind. Nun möchte ich sogleich behaupten, dass eben jenen „zahmen“, also harmlosen und faden Problemen ohnehin eine restriktive und reduzierte Vorstellung von Wissenschaftlichkeit zugrunde liegt. Denn die Beweglichkeit sozialer, aber auch naturwissenschaftlicher Prozesse ist so hoch, dass die Idee einer wie auch immer gearteten „Objektivität“ der Untersuchungs­ ergebnisse oder Theorien von avancierteren Wissenschaftler_innen längst als obsolet erkannt worden ist. Analysen, seien sie empirisch oder theoretisch, sind im gelungenen Fall Annäherungen, begründete Annahmen für die Erklärung von Phänomenen und Wirklichkeiten, wie sie uns entgegenscheinen. „The search for scientific bases for confronting problems of social policy is bound to fail, because of the nature of these problems. They are ‘wicked’ problems, whereas science has developed to deal with ‘tame’ problems. Policy problems cannot be definitively described. Moreover, in a pluralistic society there is nothing like the undisputable public good; there is no objective definition of equity; policies that respond to social problems cannot be meaningfully correct or false; (…). Even worse, there are no ‘solutions’ in the sense of definitive and objective answers.“ (Rittel/Webber 1973, 155– 169) Wicked problems sind nicht nur gemein, sondern auch hinterhältig, unvorhersehbar, unstrukturiert – und spiegeln damit gesellschaftliche Prozesse durchaus realistisch.

Objekt und Genderzuschreibung Es wird Zeit, den Zusammenhang zu der spezifischen Fragestellung, um die es hier gehen soll, zu stiften. Gerade im Design ist es sinnvoll und angemessen, Gender nicht nur über Verhalten und Aktionen der vergeschlechtlichten Individuen zu ­erforschen, sondern „Genderisation“ über Objekte zu interpretieren, mit denen Menschen, erzwungen und freiwillig, permanent umgehen. Dinge und Zeichen, mit denen wir uns umgeben, geben Auskunft sowohl über unseren Status als auch über unsere privaten Vorlieben und Sehnsüchte. ­Sachlich-instrumentelle und emotional-kommunikative Ebenen vermischen sich.

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So sind die Objekte immer doppelt identifiziert: materiell und symbolisch. Und diejenigen, die mit ihnen leben und arbeiten, tun dies in den spezifischen sozio-kulturellen Konstruktionen von Geschlecht. Was sich im alltäglichen Umgang mit all den gestalteten Produkten und Zeichen empirisch feststellen lässt, ist das eigen­ artige Phänomen, dass sich überwiegend gesellschaftliche Gender-Konventionen im Gebrauch durchsetzen. Die Dinge können uns viel über diese gesellschaftlichen Genderkonventionen erzählen. Das Wort „Konvention“ muss hier als erstes wicked problem betont werden, denn Dingumgebungen und die Interaktion der Menschen mit ihnen stellen uns vor ein Dilemma: Die gesellschaftlichen Konstruktionen von Genderzuschreibung inkarnieren in den meisten Fällen auch heute noch bipolar angelegte Artefakte: Viele Produkte werden als „Frauensachen“ und „Männersachen“ gestaltet und als solche gekauft und genutzt, und das nicht nur in den Segmenten Mode, Kosmetik und Hygiene oder Kinderspielzeug; hier werden die Stereotype lediglich bereits auf der Oberfläche unmittelbar sichtbar. Das Debakel setzt als self-fulfilling prophecy ein: Das aufs eindeutige (biologische) Geschlecht abzielende Design und Marketing treffen auf hohe Akzeptanz bei sich als Frauen oder Männer definierenden Menschen. Dieses Mainstream-Selbstverständnis wird bisher noch nicht substanziell, gesellschaftlich umfassend, von der Vorstellung unterschiedlicher Geschlechtsidentitäten erschüttert. Das Dilemma bahnt sich seinen Weg aber noch massiver: Die Gender-Stereotypen, die seitens der Produktion und Distribution ­bedient, aber auch von den Menschen selbst durch Konsumtion und Gebrauch ­hergestellt und nach außen demonstriert werden, wiederholen wir empirisch ­Forschenden, indem wir in der empirischen Forschung die gleichen Stereotypen zugrunde legen – ja legen müssen. Denn wenn wir das, was gesellschaftlich als „­typisch männlich“ und als „typisch weiblich“ gilt und woran dementsprechend „geschlechteradäquates“ Verhalten und Interagieren bewertet wird, im Alltag auf seine Formen und Ausdrucksweisen untersuchen, bedarf es methodisch wie sprachlich wiederum der Arbeit mit Kategorien wie „männlich“ bzw. „weiblich“, also einer theoretisch zu kritisierenden Zweigeschlechtlichkeit. Oder wenn wir Aneignungsweisen der Objekte durch die Subjekte und das Gebrauchsverhalten unter Genderaspekten studieren, sind wir gezwungen, zumindest in die Konstruktionen „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ zu unterscheiden. Die Ding-Analyse kommt also nicht umhin, die Genderkonstruktionen als real existent zu akzeptieren und sie mit den Kriterien zu belegen, die sich zugleich als Genderstereotypien entlarven. Aber – und das macht einen bedeutenden Unterschied zur ideologischen Behauptung einer bi-polaren und differenztheoretischen Geschlechtlichkeit: Untersucht wird nicht, was die Geschlechter sind, sondern was sie tun. Nicht partizipative und insbesondere verdeckte Beobachtungsforschung ist methodisch vorzüglich geeignet, die Interaktion zwischen den Menschen und den Dingen zu analysieren. Und wenn ich spezifische Verhaltens- und Umgangsweisen auf ihre Genderkonstruktionen und Identitätskonzepte hin untersuchen will, muss

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ich die zu beobachtenden Menschen in zwei Geschlechter unterteilen. (Und in den meisten Fällen geht das ja auch problemlos – weil die überwiegende Zahl schon in ihrer äußeren Sichtbarkeit, etwa durch Kleidung, Accessoires, Frisur Geschlechts­ attribuierungen vornimmt und sich damit so präsentiert, wie die gesellschaftlichen Konventionen dies sozusagen „vorschreiben“. Schließlich können Forscher_innen ihre empirischen Studien in diesen urbanen Alltagssituationen nicht damit be­ ginnen, die zu beobachtenden Personen nach ihrer Geschlechtsidentität oder -prä­ ferenz zu fragen. Da Forschung generell und berechtigt immer interessengeleitet stattfindet, muss Genderforschung in bestimmten empirischen Konstellationen nach Geschlechtern differenzieren, um überhaupt Gender-Fragestellungen erforschen zu können. Denn es sind die Fragestellungen, die darüber entscheiden, wie empirisch geforscht wird. Untersuche ich etwa unter Gender-Aspekten das Einkaufsverhalten oder den Umgang mit Automaten – deren Interfaces häufig unverständlich, umständlich oder irreführend gestaltet sind –, so muss ich, um mög­liche genderspezifische Strategien und Probleme zu beobachten, eine bipolare Unterscheidung der Individuen vornehmen. Nur so ist es möglich herauszufinden, ob und welche Differenzen sich warum kristallisieren. Es ist wichtig zu betonen, dass ich mich bei der Beschreibung dieser hinterhältigen, nicht lösbaren Probleme auf empirische Gender-Forschungen beziehe. ­Dagegen fällt es bei theoretischen Analysen bedeutend leichter, von der Dekon­ struktion von Geschlecht durch Parodie und Performativität zu sprechen, Geschlechter zu vervielfältigen oder aufzulösen, die Normen der Heterosexualität zu brechen oder gar eine „Strategie der VerUneindeutigung (…) als Teil einer queeren ‚Politik der Repräsentation‘ (zu konzipieren)“. (Engel 2005, 275) Dies alles sind nicht nur legitime, sondern aufregende Zugangsweisen – wie aber sind sie umzusetzen in ­empirische Untersuchungen, wenn nicht z. B. Queerness oder Intersektionaliät, also nicht die Geschlechterausdifferenzierung selbst empirisch untersucht werden soll? Wir werden, so behaupte ich, diese verflixte Aporie nicht eskamotieren können, wenn wir über die empirische Existenz von Genders und Gender-Markers ­räsonieren. Wollte ich polemisch sein, könnte ich den theoretischen Reflexionen über Gender unterstellen, dass sie es bedeutend leichter hätten, die fein verästelten Differenzierungen, Ineinander-Verstrickungen der Biologie mit der Gesellschaft, der Natur mit der Kultur, der Sexes mit den Genders darzustellen – und alles zusammen noch dem Paradigma „Intersektionalität“ unterzuordnen. Die Theorie braucht sich sozusagen nicht mit den empirischen Vorfindlichkeiten und Ausdrucksformen zu „beschmutzen“. Insofern kann sie denn auch manchmal ein vorzügliches Refugium sein, sich dem vorgefundenen Antagonismus von ineinander verflochtenen alltäglichen Stereotypen und „Wirklichkeiten“ zu entziehen. – Das empirische Dilemma spiegelt sich dann, wie erwähnt, in bestimmten Begriffen, die seitens theoretischer Geschlechterforschung mit Verdacht belegt werden könnten.

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Die Kriminologin Jody Miller ist eine der wenigen, die versucht, diese differenztheoretischen Ansätze auch empirisch zu überwinden. „(…) I have suggested that the doing-gender approach has the danger of slipping into tautology when theorizing is not explicitly grounded in empirical investigations of individuals’ constructions and beliefs about the role gender plays in their activities, and when we ­presume actions are always undertaken with specific reference to accomplishing normative gender. This is exacerbated when evidence of gender crossing is downplayed or is interpreted only in a dualistic way, such as the assignment of femininity only to women and masculinity only to men.“ (Miller 2002, 455) Ihre theoretischen Überlegungen dazu sind vorzüglich – allein, wenn sie in die empirisch forschende Realität wechselt, kommt auch sie nicht umhin, das Verhalten in gemischten jugendlichen kriminellen Gangs zu differenzieren zwischen den männlichen und weiblichen Mitgliedern. In diesen Kontexten, so behaupte ich, formuliert sie eine ideologische Strategie, obwohl sie den klugen Begriff „gender-crossing“ für ihre Analysen der Gespräche mit den Gang-Mädchen beansprucht, ihn aber in der Interpretation überhaupt nicht scharf einzuhalten in der Lage ist: „Thus, it is not sur­ prising that many of the young women I spoke with (…) identified with what they ­described as the masculine orientation of the gang and strove, in certain circumstances (but by no means all), to be ‘one of the guys’. Our interviews with male gang members offer similar evidence (…). Young men in majority male gangs with one or a handful of female members described these young women as essentially ‘token’ or ‘honorary’ males.“ (Miller 2002, 444) Bereits vor einigen Jahren haben Sylvia Buchen u. a. diesen Widerspruch benannt, und es ist erstaunlich, dass diese Debatte sich nicht sonderlich weiterent­ wickelt hat. Buchen bezeichnet genau jene Ausweglosigkeit, die ich hier für Forschung mit Gender-im-Design zu benennen versuche. Zuerst rettet sich Buchen noch in allgemein-normative Sätze, wie sie weder falsch noch aber der Empirie zuträglich sind: „Dekonstruktivistische Ansätze zielen nun darauf, Kategorien, die diese bipolare Geschlechterordnung konstituieren und fortschreiben, konsequent zu hinterfragen und methodologisch zu verflüssigen, d. h. als nicht essenziell zu ­behandeln.“ (Buchen 2004, 16) Klingt gut (bis auf das nichtssagende Wort „hinterfragen“), löst aber keines der bösartigen Probleme empirischer Forschungsprozesse. In den nächsten Sätzen jedoch benennt sie das Problem: „Dies erzeugt allerdings für die empirische Geschlechterforschung ein Dilemma, denn zur Analyse der Wirklichkeit bleiben die Kategorien ‚Frauen‘/‚Männer‘ unerlässlich.“ (ebd.) Ihre, so scheint es mir, hilflose oder zumindest halbherzige „Lösung“ ist selbstverständlich immer mitzubedenken, hilft aber im akuten Forschungsprozess nicht wirklich weiter, da der Widerspruch so nicht aufgelöst werden kann: „Es kommt also darauf an, durch empirische Forschung nicht nur gesellschaftliche Strukturungleichheiten und ihre kontextspezifische Form aufzudecken, sondern insbeson­ dere auch Abweichungen von Tradiertem sichtbar zu machen.“ (ebd.)

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Es gibt kein Entrinnen. Denn, noch einmal konstatiert: Es stehen uns für die Interpretation vergeschlechtlichter Aktionen und Objektaneignungen keine an­ deren Kategorien zur Verfügung als wiederum jene, die diese genderstereotypen Aktionen und Objektaneignungen gesellschaftlich hervorgebracht haben und ausmachen. Für die gesellschaftliche Herstellung von Geschlecht, das „doing gender“1, bedarf es eines Sexuierungsprozesses der Personen, Objekte, Namen etc., und ­dieser Prozess gilt nicht nur für die Interaktion zwischen Personen oder zwischen Personen und Objekten, sondern kann bereits an den Objekten selbst festgestellt werden. Auch wenn Stefan Hirschauer in der feministischen Genderforschungs-Szene seit einiger Zeit nicht mehr sonderlich beliebt ist (vgl. u. a. Hirschauer 2014), so hat er doch kluge Sätze über die Relevanz der Objekte im Prozess des doing gender formuliert: „Der Sinnzusammenhang von so heterogenen kulturellen Objekten wird zirkulär hergestellt: den Eigenschaften und Verhaltensweisen, die einem ­Geschlecht zugeschrieben werden, wird implizit auch selbst ein Geschlecht zu­ geschrieben. Und die Sexuierung vieler kultureller Objekte trägt umgekehrt die ­Bedeutsamkeit des Personen-Geschlechts.“ (Hirschauer 1989, 103) Die Ding-Universen sind insgesamt noch nicht genügend in den Fokus von (Gender)Forschung gerückt: „Während (…) die Geschlechtercodierungen einzelner Objekttypen, -gruppen oder -beziehungen aufgearbeitet worden sind (…), sind Desiderate in der systematischen, auch theoriegeleiteten Untersuchung von ‚gendered objects‘ in Hinblick auf Dingkategorien (…) ebenso wie in Hinblick auf die damit einhergehenden Wissensordnungen zu verzeichnen.“ (CONF 2011) Diese vergeschlechtlichten Objekte brechen sich in der empirisch-alltäglichen Wahrnehmung allemal und immer noch Bahn. Und auch hier ist Hirschauer jener Aporie zwischen Theorie und Praxis auf der Spur, die ich insbesondere für das Design geltend machen muss, da sie aus der unausweichlichen und stetigen Verquickung von Theorie mit der Praxis und vive versa geradezu lebt: „Die (…) rekursive Verflechtung von Sexuierungsprozessen ist eine theoretische Modellvorstellung. Teil dieser Modellvorstellung ist, daß die Stabilität der Zweigeschlechtlichkeit nicht primär ein Theorieproblem ist, sondern zunächst ein praktisches Problem, an dessen Lösung sich Gesellschaften ebenso abmühen wie an der neutralisierenden Absorption der Geschlechterdifferenz.“ (Hirschauer 1994, 689 f.)

1

Vgl. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. (Suhrkamp). Das durch Butler in der Genderforschung weltweit bekannt gewordene Konstrukt des „doing gender“ basiert auf der „Agnes-Studie“ von Garfinkel, Kessler und McKenna sowie auf Analysen von Goffman: Vgl. Garfinkel, Harold (1967): Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs, NJ (Prentice Hall); vgl. Kessler, Suzanne J./McKenna, Wendy (1978): Gender. An Ethnomethodological Approach, New York (Wiley); vgl. Goffman, Erving (1977): „The Arrangement between the Sexes“. In: Theory and Society 4/1977, S. 301–331. Dt. in: Goffmann, Erving (1977): Interaktion und Geschlecht, hg. v. Knoblauch, Hubert, Frankfurt (Campus), S. 105–159.

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Exkurs: Der vergeschlechtlichte Schreibtisch Ich möchte nun sehr kurz exemplarisch anhand eines qualitativ-empirischen Forschungsprojekts einerseits jene wicked problems beschreiben und andererseits darlegen, wie ertragreich die Studie in ihren Ergebnissen trotz der Antinomien hinsichtlich der Zwei-Geschlechtlichkeit war. Untersucht wurden Büroschreibtische in allen fünf Kontinenten daraufhin, welche zwei- und dreidimensionalen Objekte, die nicht der Erledigung der Arbeit dienen, die an den Schreibtischen Arbeitenden darauf platzierten (vgl. Brandes/­ Erlhoff 2011)2. Dabei kombinierten wir drei Variablen zur vergleichenden Unter­ suchung: unterschiedliche Branchen, unterschiedliche Kulturen und Genderzuge­ hörigkeit. Die Analyse ergab: Die Vergeschlechtlichung der Schreibtische im Sinne des doing gender ist in einer geradezu bestürzend aufdringlichen Weise präsent. Die Kategorie Geschlecht überwältigt jene der Kultur und der Branchen, sie schlängelt sich durch beide hindurch: Präsent ist Gender überall. Das Besondere liegt in diesem Fall darin, dass wir die Vergeschlechtlichung nicht über die Unmittelbarkeit der Individuen identifizierten – also über deren Verhalten, ihr Aussehen, ihre Interaktionen oder durch Interviews –, sondern über die Objekte, mit denen sich die Menschen bei der Arbeit kontinuierlich umgeben. Der Dinge-Kosmos auf den Schreibtisch-Tatorten setzt sich zusammen aus „telling objects“ (Bal 1994, 97–115), die aber, wichtiger noch, „gendered telling ­objects“ sind. Für die Schreibtische nämlich gilt: Die Schreibtisch-Besitzer_innen stellen in der überwältigenden Zahl der Fälle weltweit ihr Gender auf dem Schreibtisch dar und her. Zweifellos sind dafür auch allgemeine Corporate Designs und von den Unternehmen erwünschtes Social Behaviour verantwortlich. Aber auch dort, wo Branchen und bestimmte Einzelunternehmen einen sehr offenen Umgang pflegen oder zumindest erlauben, siegt bei der Schreibtischinszenierung die Genderisation in Form von Stereotypen über jeglichen individuellen Geschmack: Wenn in der gesellschaftlichen Zuweisung Farben wie pink und pastellig, Formen wie rund und organisch, Materialien wie weich und plüschig als typisch weiblich gelten, dann stellen unsere weiblichen Schreibtischtäter ihr Gender offensiv in mit solchen Eigenschaften versehenen Objekten und Bildern dar. Und das gleiche Klischee ergibt sich bei den Männern: metallische und dunkle Farben (silber, blau, schwarz), geometrische Formen sowie Hartgummi und Kunststoff sind die hervorstechenden Materialien auf deren Schreibtischen. Die Schreibtisch-Objekte lassen sich eindringlich unter drei wichtigen Be­ griffen der Genderdiskussion fassen (vgl. u. a. Opitz-Belakhal 2010, 27–33), nämlich der Herstellung: „doing“ (vgl. u. a. Butler 1991; Lorber 1999; Gildemeister 2004, 2

Da die Untersuchung als eigenständige Publikation erschienen ist, werden Ergebnisse hier nur für die Darlegung eines der wicked problems angeführt.

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132–141), der Erzählung: „narrating“ (vgl. u. a. Narrating Gender 2003; Bal 1994) und der Inszenierung: „staging“ (vgl. Brandstetter 2003, 25–45; CONF 2011) von ­Geschlechtsidentitäten. Objekte fungieren bekanntlich als kulturelle Zeichen und Bedeutungsträger, „als Marker von Distinktion und Kommunikationsmittel“ (CONF 2011). Und die weiblichen und männlichen Desk-Besitzer markieren nicht nur ihre Territorien, sondern auch ihr Geschlecht durch die Objekte, mit denen sie sich umgeben. So stellen sie Gender erstens her, indem sie den größten Teil ihrer Gegenstände bereitwillig den kulturellen Gender-Codes unterwerfen. Auch wenn die Schreibtisch-­ Täter_innen nicht anwesend sind, ist es bestürzend häufig möglich, das „korrekte“ Geschlecht zu identifizieren. „Aus einer sex-Kategorie wird durch Namensgebung, Kleidung und die Verwendung weiterer gender-Marker ein gender-Status.“ (Lorber 1999, 56) Im vorliegenden Fall repräsentieren sich die „weiteren gender-Markers“ durch die Gegenstände, mit denen sich die Bürobeschäftigten umgeben. Zweitens „erzählt“ das Geschlecht biografisch etwas über die Genderkon­ struktionen „und bildet damit auch eine direkte Verbindung zur ‚Erfahrungs-‘ bzw. Erinnerungsdimension.“ (Opitz-Belakhal 2010, 31) Und wiederum spiegeln wir in unserer Untersuchung die subjektiven Lebensgeschichte in den Objektexistenzen auf den Schreibtischen: Die Dinge präsentieren Elemente von Lebensentwürfen, die sich in den sachlichen Arbeitswelten der Subjekte emotional niederschlagen. „What if the medium consists of real, hard material objects? Things, called objects for a good reason, appear to bet he most ‘pure’ form of objectivity. (…) In other words, can things be, or tell, stories? Objects as subjectivized elements in a narrative (…).“ (Bal 1994, 99) Drittens sind die Schreibtische Bühnen, auf denen sich kleine Dramen abspielen, in denen Geschlecht performiert und Rollen zementiert werden. „(…) der Terminus ‚stage‘ (wobei die aktive Verbform ‚staging‘ hier zu betonen ist) markiert so etwas wie die Bühne des augenblicklich sich abzeichnenden Geschlechterdiskurses (…). Bühnen öffnen sich aber mit den in solchen settings implizierten Begegnungsformen der Geschlechter (…).“ (Brandstetter 2003, 28) Insofern ist das staging immer auch eine Artikulation, die Gender darstellt und auf Gender reagiert. „(…) die Begegnung der Geschlechter ist – auffällig genug – immer wieder in Termini des Dramatischen und der Theatralität beschrieben worden (…), wenn etwa vom Kampf der Geschlechter oder von männlichen und weiblichen Rollen gesprochen wird (…).“ (ebd., 29) Die Begegnung der Geschlechter in „Theatralität“ und „Dramatik“, um Brand­ stetter weiterzudenken, entspricht zwar durchaus den parodistischen und performativen Begriffen der Geschlechterforschung, bezieht sich aber in dem hier zitierten Kontext auf die gender-differenten Formen und Motive der Ansammlung von Dingen auf dem Schreibtisch. Die Dinge repräsentieren die vergeschlechtlichten Wünsche und Sehnsüchte der Schreibtisch-Arbeitenden, führen aber zugleich eine Art verselbständigtes Eigenleben, indem sie theatralisch das Geschlecht präsentieren.

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DAS PROJEKT: WHAT WE DESIGN, DESIGNS US BACK Michelle Christensen and Florian Conradi Upload, download, update, downscale, stand up, sit down, turn on, turn off, turn down, turn in, reboot. Things tell us who we are, and who we should and could be. From cars and coffee machines to sneakers and salad dressings – countless things are gender scripted to unwittingly produce us as hunters and berrypickers. Whether through their colour, form, function or the identity that they produce – they are ­gendered, and therefore gendering. Furthermore, we are currently witnessing this re-embodiment of dialectics, not just in language and objects but also increasingly perpetuated in pixels. As the suggested auto search finishes your sentence as you type (‘why are women … always cold; … so emotional; … so mean’)3 – it seems that we can acknowledge: systems and things are actively generating social power. In these times, where our newsfeed tells us when to care about what, and algorithms reproduce us based on what we ‘like’ or ‘don’t like’, where left- or right-swiping ­decides potential partnerships, and sensors and chips find their way into our wine bottles and knitted sweaters give us personal advice, perhaps we can admit that things also have a constantly generated social life, intentionally or unintentionally scripted political agendas, and they are attentively making alignments to act them out. So just as gender is acted out in interactions – between people (see Butler 1999), people and things (see Barad 2003), and perhaps even between things themselves – these performances construct gendered behaviour. It is, thereby, nothing more than a performance that is being individually and collectively enacted, produced and sustained as an agreed-upon fiction with very real and oftentimes even rather despairing realities. The design of things and technologies therefore not only involves the making of the artefacts themselves, but also the sociomateriality of what we think they are or might become and how they end up being performers in the social world. One cannot ignore the role we assign to these artefacts in society, and how we use them to be (and to become) ‘normal’ or ‘natural’ – how they enable or discipline us. One realm that serves to illustrate the degree to which we design gender into material culture is body augmentation. Culturally deeper-seated and more subtly poignant than the classical discussion of breast implants or hair removal includes for instance the ‘permanent smile’ (liptail surgery) – the slight turning upwards of the corner of the mouth, popular with young Korean women as the plastic surgery makes for an illusion of perpetual cheer (see Winter K. 2013); or the equally fash3

“Why are women” typed into www.google.de on August 18th, 2016, 14:58

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ionable ‘Asian double-eyelid surgery’ which allows for a more ‘Western’ sculpting of the eyes by adding an eyelid (something that most ‘Westerners’ might have taken for granted until now) (see Daily Mail Reporter 2012). At the height of a long history of physically producing gender through objects – from achieving small feet through foot-binding to moulding small waistlines through the use of corsets – it becomes only more clear that these measurements are not just altering bodies, but permanently altering expressions. They are not just an expression of culture being materialised, they are the production of culture itself. From host mothers to sex changes, we can, and have, redesigned the meaning of what it means to have a body, and what that body could be. The issue of gender and design therefore involves perceiving the scale and level of intimacy with which gender is embedded in and produced by design and technology itself. Now that things have become so deeply, mentally and physically, a part of us, we must begin to unravel what underlying ideas of culture are being designed, not just into the world, but as a society of social cyborgs and organic androids, into us. These ‘things’ are not just a part of our everyday life, they are (for now, metaphorically) becoming a part of our DNA. They are not just around us and between us, but embedded severely in us, sometimes obviously and other times more furtively, and in every way. We depend on them to function, as they depend on us. We are constructing and being constructed, gendering and being gendered – designing and being designed. But at a time where we can hardly tell nature from culture, or object from subject – where we are witnessing the emergence of new corporealities in new material sociologies – where does that leave us as ‘designers’?

We Have Been Taken Hostage – by Ourselves As designers, we have been severely compromised. As subjects, we are gendered in the way we think, the way we understand, speak and argue, and in the words that we use, both with regard to ourselves and each other. As (and through) objects, we are fabricated through the way we move, the way we sit or do not sit, the way we dress, and how we move and sit with the clothes we wear, and so on. We are socialised, culturalised, civilised and normalised through our interactions with things – and in this way are constantly being disciplined and made. We are led by things, made by things, and used by things. Once we embark on the endeavour of engaging with this conflict as ‘gender-aware’ or ‘gender-critical’ designers, we realise are faced with the horrifying confrontation of how produced we really are. Due to the entrenchment of the construction in the ontological world, we do not even have a mildly ungendered vocabulary – our materials, colours, forms and functions have all been taken hostage (most likely against their will one might add) by dialectical interpre-

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tations. We move within a maze of gendered scripts, not able to utter without saying. There are no words left to speak, no matter left to mess with. So how do we possibly find access to all of this. How do we even begin to believe that we can release ourselves from the structures that we ourselves are producing and are produced by, not least as designers who find ourselves quite literally on the muddy middle ground of simultaneously making and being made by things. Where do we even begin to have a different conversation with, and through the things that ‘we make’. One has to wonder – have we made our bed, and if so must we lie in it – or do we still have the chance to reclaim our vocabulary? One place that we could (and very often can) turn to for inspiration in these times of despair, is the feminist movement. There are especially two aspects of this struggle, which we share with fractions of the feminists. The first one is that there is perhaps no other group that has fought so hard to somehow remove itself from, or stand outside of the world that it is a product of, speaking outside of the words and grammatical structures that it has been taught to express itself in. One only has to look to the work of the écriture féminine movement (considering their particular fight, of course, in the context of their time and ‘wave’) to understand the necessity of writing in different words, grammar and even layouts, in order to not reproduce the patriarchal structures of language itself (see Cixous 1976). The second aspect is that the feminist movement embodies some of the most inventive attempts to put theories into practice. One does not have to look much further than the movement of radical lesbianism, a group of women who chose to live and love only amongst each other (see Wittig 1992), to appreciate (at least) the attempt of living in different social circumstances in order to temporarily release oneself from otherwise being inevitably tethered to entrenched patriarchal hegemonies. It goes without saying that this is not to suggest that designers should write in a ‘female language’ or that they should ‘live and love’ only amongst each other. Rather, this is to advocate that perhaps we should reflect on some tactics to release ourselves, albeit for a moment, from the obscure position of ‘maker-making-andbeing-made-by-material-world’ in order to consider how we might approach our relationship to ‘things’ differently already in their construction. In other words, to consider how we might be able to combine practice and theory, merging the positions of object and subject, to encourage things to co-write their own script rather than just constructing them as a simple reproduction of what we consider to be culture. In a sense, one could say that we would like to reflect on possible escape routes from the entanglement of gender and design – locating possible possibilities to distract oneself from oneself.

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Practical Theory What might happen, for instance, if one were to simply materialise critical theories – turning Michel Foucault’s concept of ‘interrelational power’ into a table, Judith ­Butler’s ‘gender performativity’ into chairs, or the écriture féminine’s ‘divergent language’ into dresses? Would these artefacts exist as theoretical arguments in themselves, or add voice to the debate – would they even agree? The project ‘Theorizing Design and Designing Theory’4 explored this praxis-theory relationship from a rather literal, very ad-hoc perspective, creating artefacts ranging from un/readable posters and never-ending books, to uncomfortable furniture and dresses that might fall off, all in the name of ‘practicing theory’. We did this in order to explore the hypothesis that an ad hoc materialisation of a theoretical abstraction in a sense involves ‘just doing’, without consideration for personal preference, intended user or purpose. It simply involves transforming – merely facilitating between an abstraction and a material object like wood, as in the example below. Hence, it precedes the intent of the author, thereby freeing oneself temporarily of the most difficult motive, namely motive. Furthermore, as Judith Butler herself puts forward, theory is in itself transformative, but not sufficient for social transformation. Something beyond theory must take place (see Butler 1999, 204). One experiment in this compendium aimed to materialise Butler’s concept of gender performativity – the idea that gender is tenuously constituted over time through the mundane repetition of bodily gestures, movements and enactments, as a stylisation of the body and of the gendered self (see Butler 1988, 519). The first chair that resulted from this process was constructed in such a way that one could only sit on it in a spread-legged position, thus forcing the receiver into the hegemonic position of ‘male’, re-acquainting them with an imposed encounter with reflecting authoritativeness and superiority. The second chair entailed that one could only sit in a crossed legged seating position, this time forcing the receiver into the one inferior position of ‘female’, re-acquainting them with reflecting a subordinate physical position. When ‘doing’ these chairs, which were constructed on the spot with no pre­ vious planning, we found ourselves working so intensely on forming the static wooden beams to fulfil a certain function that we had not intended norforeseen that the two chairs would clearly resemble human bodies (see figure on p. 060/061). In a sense, the artefacts seemed to be designing themselves. We stopped, drank a cup of coffee, and looked at each other with slightly panicked expressions. Was the work actually reproducing these norms by acknowledging these ideas through the mere utterance of their names? However, we came to the realisation that when an artefact builds on a general norm or image, it allows for a general readability, while simultaneously creating a direct negation, an anti-stereotype. For instance, the chairs are clearly speaking about gender. The ‘female chair’ even looks like ‘a woman sitting’, thus making the receiver think about gendered seating. However, when using the object, being confronted with sitting in this position for two minutes becomes

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rather annoying. The receiver wants to shift position but cannot. In order to this, they have to get up from the chair, which means they have lost the argument. So, in this sense, the chair is not saying ‘we must not discriminate between genders, we are all equal’but rather ‘think about how you perform your gender as a ritualised act’. Because every day you sit on a chair that actually gives you the option to sit how you want, and you still cross your legs; but when you sit on this dictatorial chair for two minutes, then suddenly you want the freedom to not have to perform your ­appropriate femininity? Therefore, the chair is not drawing on the dichotomy of women versus men, arguing that women should sit like men, or men like women. It is simply provoking the latent gendering that takes place by saying ‘think about how you sit, and thereby how you perform and establish your own gender’. Of course, it is relevant to add that the ‘female chair’ was never intended for women or the other chair for men; they were constructed for anybody to sit on and reflect on the way in which they sit from a gendered perspective. We continued the experiment, namely attempting to construct an object that could hold the properties of a subject, such as being split and shifting, however very convinced by its two dual positions. This meant that the object would not only have the right to be indecisive but also allow the receiver to read out and experience the embodiment of duality. The task was to create a furniture piece that could hold and offer two seating positions within one structure, thus allowing direct changeability. Due to the fact that we had little wood left and taking into consideration that it was 3:00 in the morning, we came to the conclusion that presumably there was not enough wood left, so the next piece had to be a stool. As the stool morphed through different versions of itself, we were finally able to create two seating positions by simply turning it 180 degrees (see Fig. 1). This presented another metaphorical idea: Turn yourself around 180 degrees and you can see what’s behind you. Even if simple in appearance, the stool argued. This was a discursive starting point brought about through use behavior. It gave the receiver a choice. For a moment, these rough intelligible furniture constructions made it explicitly possible to experience that our performances are simply trained and enacted as well as (and especially) aided by things. A simple moment between us and a mundane object, where we temporarily emerge as a social material entity, allows us to reconsider how we behave with the things around us and renegotiate the power play that takes place. In this instant, it was as if the complex interplay of discursive, symbolic and material power became perceivable and negotiable. Revealing some of the most basic and taken-for-granted aspects of the social relationships between people and things, the compendium of artefacts produced in this overall experiment emerged as what we came to call ‘Thinking Things’ or things as arguments, emerging in dialogue, with an opinion of their own.

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Materialising Uncertainty The systems and artefacts that surround us are constantly performing – encouraging, enforcing, provoking us to act, or not to act, in certain ways. What would it mean then to intentionally enable the coming into being of systems, where neither we nor the system itself can foresee what might emerge? Whose hierarchies would we then be following? In the project ‘When Objects turn Subjects: Forms of Protest’5, an experiment was developed in the context of destabilising gender within writing behaviour, while exploring the embodiment of sharing power with things. When installed on a computer, the ‘In/correct.plist’ file autocorrects a large library of words while typing, thereby distorting gendered meaning in the process of its very construction. In an attempt to relativise language, words such as ‘man’ and ‘woman’ are autocorrected to ‘people’, ‘she’ to ‘someone’, ‘masculine’ to ‘idea of gendered identity’ and ‘wife’ to ‘person to whom one is currently committed’. Furthermore, as a roguish attack on culture, words such as ‘babe’ are autocorrected to ’fellow intelligent human being’ or ‘cuddle’ to ‘culturally enhanced feeling of togetherness’. Regardless of whether one writes an email in an email client, an analysis in a word processing program, or creates a budget on a spreadsheet – the file is always present, infiltrating the event as it takes place. In this sense, the artefact goes beyond language in classical discursive terms, bringing it back to actual construction and performance, back into material empirical reality. No matter whether one sent the email, or prints the analysis, this materialisation of language becomes established as a real-world consequence. It is criticism put into practice, a becoming in the social world. However, what arises from the interaction is simply not possible to foresee because it is content generated on the spot – quite literally as a performance enacted between the person typing and the system itself. Although rather simple in form, the file enables an infinite amount of co-created content – of collaborative meaning emerging as practiced culture. And as in the case of the previously described project, it makes explicit one of the most taken-for-granted aspects of active gendering, namely the (equally self-)gendering of expressions in the simplest of everyday interactions like typing. The action in process can thereby be viewed not as a rational entity of meaning-making, but rather as a set of fluid possibilities that can be continually realised. They are not being, one might say, but becoming – they are temporarily becoming a social entity, a trans-body of human and thing. In this sense, ‘the parody’, or ‘the drag’ Judith Butler might say, opens up a space for the realisation that there are in fact a set of ontological presuppositions at work, and that these are actually open to rearticulation. These artefacts are themselves performing, and perhaps even engaging with a parody of performativity. They are neither authentic nor fake, but rather simply actively acting. They are removing themselves from the norms that they are expected to embody and (re)produce, by teasing away at those expectations. Thereby, this ‘becoming-with-thingness’ opens a space, where the unfinished

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­storyline, the void of meaning must be filled by the improvised script that happens to happen. This involves encouraging the emergence of systems and things, whose consequences are beyond our intent in the first place, meaning that they can only be encouraged. Encouraging this uncertainty of meaning through the carefully crafted possibility of irregularity, coincidence, and serendipity, means delving happily into the uncertainty of co-construction. When one’s vocabulary has been taken hostage, then perhaps one has to speak in a dialect of disorder: A parlance of uncertainty where the words that emerge are readable but not foreseen. In other words, they are not premeditated, preconceived or predetermined, but rather emerge in a democratic dialogue between human and nonhuman parties.

Becoming-with-Things There are more and more things in every home, and more things on the streets. Moreover, with developments such as the Internet of Things, there are more things connected to each other than there are people – things, it seems, which are all speaking with each other, acting out agendas and forming cartels, perhaps even creating a political sphere parallel to ours. From smartphones and smart homes to smartdrones, things are now being taught not just to think and react, but to learn, collaborate and make decisions. This is a world where the ‘tools’ that we construct are constantly (and literally) co-constructing our physical, mental and behavioural (dis) abilities. In these times of conflict, the relationships between people, things and technologies are far more intricate and merged than our analytical categories can really handle. What is vital at this point, is admitting that the ontological world is not made up of artefactual objects and human subjects, and hence, that the categories of ‘maker’, ‘object’ and ‘user’ are unstable at best, but more than likely blindly anthropocentric. Therefore, continuing to think, use and design according to these distinctions is simply allowing the unsettling blur to remain at a close distance as both sides arm up. In consequence, perhaps we should rather engage in co-designing with the things that we construct, as we come to realise that while we are ‘making’ and ‘using’ them, we are both maker and made, user and used. Nonetheless, at a point in time where things and technologies can hardly be seen as something ‘other’ than us, but rather as the nodes that hold together the network that is society, one might consider whether these nodes could be perceived as a chance. Technologies based on decentralised networks rather than hierarchies for instance, could potentially enable novel relationships between gender and technology. For example, perhaps the gendering of digitalisation could be provoked by involving all genders in the active democratisation of technology from a very young age.

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Technology is rapidly becoming more accessible to more people, situated people, with their own needs and bodies. Being able to create outside of the technical industry is resulting in the fact that diverse groups can fathom, use and even create technological products and services of their own, and participate in their development in a meaningful way. Open source has encouraged users to participate directly in the development of software, prototyping platforms like Arduino have made electronics more accessible to all ages and backgrounds, and 3D printers have raised the potential to increasingly democratise production. As we witness the increasing decentralisation of the materialisation of needs, motivations, knowledge and abilities in technologies, we begin to see a potentially new era of economies and production. Whether home printing of open-source prosthetics or the construction of DIY servers, we can assert a tendency towards the democratisation of design. One might consider the chance of using this emerging decentralisation as an oppor­ tunity to overcome dialectical regimes of power such as gender, or will we just ­continue to produce the artificial in the artificial; simply reproducing our cultural failures, not by industry, but through our own doing. We should not continue to develop the world as we know it, by being socialised to believe in it to the extent that we can hardly think outside of the cultural framework. As a matter of fact, this could be the fourth and a half wave of feminism, in which we will discover new freedoms as well as new oppressions. The relationship of gender and technology is both fluid and situated, and in constant flux. And so, through this process of democratisation, there might in fact be a real chance to envision and practice a queer politics of technology – in the hope that this might be the key to achieving a material, lived and decentralised gender equality. If technologies allow us to alter ourselves – physically, in identities, and in experiences, then we have the freedom to bring forward queer phantasies as realities, as well as new empathies and new commons. To create a place with space for bodies, matters, multiplicities – designed not by corporations but by people for their own everyday needs (although yes, being aware that these same technologies can also create oppressions of bodies as subjects and matters). This is important not only because long-standing oppressions are being more subtly weaved into us corporeally and into the fabric of our everyday lives but also because we still have not managed to create a space for hybrid bodies. It is moreover important because as we design life and death, sexuality and gender, partnership, reproduction, consumption – minds and bodies, we raise some very real ethno-­political questions. And if one thinks, even for a moment, that designers are exempt from these political questions, then one is mistaken. Because who, if not the science of the artificial, should instigate the frameworks which make blurred boundaries, multiple multiplicities, and facilitated fluidity possible. So whether one removes oneself from motive through the materialisation of abstraction, intent through fabricating uncertainty, or conception through the democratisation of technology – the approaches discussed above are just a mere

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­attempt to illustrate the emerging possibilities that we see in getting out of the maze of the intricate entanglements of gender and design. And to reflect on the fact that as we share bodies and societies, perhaps we must also begin to create urgent alliances and a more sustainable politics with things. As physical interruptions in the current discourses, these artefacts could be viewed as theoretical interventions in practice. This decentralisation of power, in a time where conception, production and distribution is perhaps in a process of transcending what we have known until now, raises the possibility at least, of design based on individual assemblages, situated bodies of people and of things, and the potential of enablement over discipline. If what we design designs us back, then a bottom-up approach to what things could be, would design us back more diverse, and more situated. Be it do-it-yourself genders or open-source sexualities – we must begin to develop more multifarious entanglements for the mutually constitutive forces of gender and design.

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Uncertainty absorption Um das wicked problem der Identifizierung der Geschlechtsidentitäten zumindest in der empirischen alltagsweltlichen (Design)Forschung zu überwältigen, könnte versucht werden, „uncertainty absorption“ (vgl. March/Simon 1993)4 zu erproben – durchaus im Gegensatz zu und nicht zu verwechseln mit Heisenbergs „uncertainty principle“, der Heisenberg’schen Unschärferelation. Denn Ungewissheit ist überall, nicht nur bei der Bestimmung des Verhältnisses von Gender-im-Design. Zugleich aber sind Leben ebenso wie Forschung darauf angewiesen, mit Ungewissheit, soll sie nicht schlicht verleugnet werden, umzugehen. Zwar beziehen March und Simon ihre These von der „Ungewissheitsabsorption“ auf Entscheidungsstrukturen in ­Organisationen, aber vielleicht taugen sie auch zur Übertragung auf Probleme der Genderforschung. Die beiden argumentieren, Entscheidungen könnten nur unter der Prämisse getroffen werden, dass vorherige Entscheidungen nicht mit jeder neuen Entscheidung wieder überprüft werden müssen: „Through the process of ­uncertainty absorption, the recipient of a communication is severely limited in his ability to judge its correctness. (…) the recipient must, by and large, repose his confidence in the editing process that has taken place, and, if he accepts the communication at all, accept it pretty much as it stands. To the extent that he can interpret it, his interpretation must be based primarily on his confidence in the source and his knowledge of the biases to which the source is subject, rather than on a direct examination of the evidence.“ (March/Simon 1993, 186) Es ist bemerkenswert zu sehen, wie March und Simon sehr selbstverständlich den Begriff des subjektiven Vertrauens in eine hochkomplexe und eher systemtheoretisch orientierte Strukturanalyse einbringen. Zwar sollte der „Rezipient“ fähig sein, Situationen aufgrund seines Wissens einschätzen zu können, ansonsten aber muss er den Vorgang, wie er sich ihm nun, durchaus ungewiss, darstellt, akzeptieren, um handlungsfähig zu bleiben. Genauso verhält es sich mit Forschungsgegenständen: Es kann nur dann geforscht werden – und das bedeutet, ständig Entscheidungen zu treffen –, wenn ich mich auf Vorarbeiten und zuvor getroffene Entscheidungen einigermaßen vertrauensvoll verlasse. Insofern muss ich davon ausgehen, dass „bis auf Widerruf (…) vorherige Entscheidungen ihre eigene Ungewissheit hinreichend bewältigt haben, um als Prämissen weiterer Entscheidungen behandelt werden zu können.“ (Baecker 2015, 1 f.) So wird deutlich, dass der Forschungsgegenstand, neben der interesse­ geleiteten Fragestellung, unter der ich ihn untersuche, zusätzlich durch eine – wenn auch gezügelte – Ungewissheit bestimmt wird, die ich akzeptieren und sogar ein­beziehen muss. Insofern sind alle Hirngespinste einer wie auch immer gearteten „Objektivität“ der Forschung mindestens doppelt hinfällig. 4

Vgl. dazu auch organisationssoziologische und systemtheoretische Ansätze, wie sie etwa von Niklas Luhmann und später Dirk Baecker ausgearbeitet wurden: Vgl. Luhmann 2000 und Baecker 2001.

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Die Übertragung von Entscheidungsfindungen innerhalb von Organisationen auf den gestalterischen Forschungsprozess erscheint also möglich und sogar gewinnbringend. Die Ungewissheit muss nur im Zaum gehalten werden, sodass ich mit ihr vertrauensvoll arbeiten kann. Aber zu glauben, „Beweise“ statt gut begründeter Annahmen als Schlussfolgerung eines Forschungsprozesses zu erhalten, ist zugleich naiv und ideologisch. March und Simon unterscheiden deshalb zwischen „evidence“ und „a body of evidence“: „Uncertainty absorption takes place when inferences are drawn from a body of evidence and the inferences, instead of the evidence itself, are then communicated.“ (March/Simon 1993, 186) „Evidences“ – also Beweise, Beweismaterial, Indizien – geben sich der trügerischen Hoffnung hin, dass im Forschungsprozess, wie in einem Gerichtsverfahren (obwohl auch das fraglich ist), unbezweifelte Objektivitäten mit Wahrheitsanspruch ans Licht gebracht werden könnten. Dagegen meint ein „body of evidence“ bei March und Simon eine umfassende Gemengelage, eine Beweislage, die interpretativ Schlussfolgerungen ermöglicht und erlaubt, die dann wiederum in den Forschungsdiskurs eingebracht (kommuniziert) werden. Nun stellt sich aber die Frage, inwieweit die Implikationen der uncertainty ­absorption nicht nur auf kulturelle und soziologische Forschung generell, sondern spezieller auf die Geschlechterforschung sinnvoll übertragen werden können. Hier lohnt es, die Ungewissheitsabsorption mit der achten These zur Beschreibung der wicked problems zu kombinieren: „Every wicked problem can be considered to be a symptom of another problem.“ (Rittel/Webber 1973, 165) Wir starten mit der analysierten Beweislage (body of evidence), dass Geschlechter sich überwiegend und empirisch beobachtbar verhalten und geben, wie es die gesellschaftliche Konstruktion einer kulturellen Zweigeschlechtlichkeit erfordert. Wir interpretieren diese Aktionen der Individuen geschlechterspezifisch und stellen geschlechterspezifische Differenzen fest. Sind wir nun in der tautologischen Falle gelandet („Wicked problems have no stopping rule“ – ebd., 162), ist diese Analyse gerechtfertigt („Solutions to wicked problems are not true-or-false, but good or bad“ – ebd.), da das Problem in vielfältiger Weise bearbeitet werden kann („The existence of a discrepancy representing a wicked problem can be explained in numerous ways. The choice of explanation determines the nature of the problem’s resolution“ – ebd., 166); oder liegt es in der gesellschaftlichen Genderkonstruktion selbst, dass alle Wege unvermeidlich in die wicked problems führen („There is no definitive formulation of a wicked problem“ – ebd., 161)? Die Ungewissheit über die Angemessenheit einer Entscheidung bleibt, aber sie scheint mir im vorliegenden Fall hinreichend reflektiert, um unter dieser Prämisse vergeschlechtlichte Objekte und gleichfalls vergeschlechtlichte Aktions- und Verhaltensweisen ihnen gegenüber analysieren zu können. Mit anderen Worten: Die Ungewissheit wird bis zum Beweis des Gegenteils solcher methodischer und ­interpretierender Verfahrensweisen soweit absorbiert, dass wir weiterarbeiten ­können.

DAS DILEMMA DER ZWEIGESCHLECHTLICHKEIT IN DER EMPIRISCHEN FORSCHUNG  063

Orte – Räume – Gender

Zum besseren Verständnis und vor allem zur richtigen Einordnung (vgl. dazu auch die Erklärung meiner Herangehensweise in der Einleitung, insbesondere unter Probieren, S. 020 f.) dieses großen und weiten Themas schicke ich einige Erklärungen vorweg (und das gilt ebenso für die kommenden Kapitel): Der umfassende Gegenstand wird zerlegt in einzelne Perspektiven, nicht aber in eine historische Chronologie, auch wenn die Diskussion um den Flâneur und die nicht existente Flâneuse dies vermeintlich nahelegt. Anhand dieser beiden Figuren-Konstellationen – denn es handelt sich ja eher um künstlerische Imaginationen und kulturelle Konstruk­ tionen – lässt sich die diametrale soziale Formation zur Bewegung in den unterschiedlichen Räumen explizit veranschaulichen. In den weiteren schlaglichtartig beleuchteten Phasen der Nutzungen, Konventionen und Verbote von gestalteten Innen- und Außenräumen interessieren deshalb nur jene Veränderungen, die sich auf das Konsumverhalten und veränderte Sehnsüchte nach Waren und deren Design beziehen. Eine neue Wendung nehmen dann die Blick- sowie Nähe-Ferne-Analysen, die kulturelle Aspekte von Körpern in Räumen thematisieren und damit den Übergang zum nächsten großen Kapitel Körper-Facetten ankündigen.

066  ORTE – RÄUME – GENDER 

PRIVATHEIT Der Öffentlichkeit beraubt Vergleichen wir einige historische Phasen unter dem Aspekt der Teilhabechancen von Frauen an der Öffentlichkeit1, dann waren ihre Bewegungs- und Aktivitätsmöglichkeiten äußerst reduziert: Sie wurden ihrer physischen und intellektuellen Entfaltung beraubt. Hannah Arendt bestimmt das Private zunächst über seinen „privativen“ Sinn – in seiner ursprünglichen Bedeutung „berauben“ (von lat. „privare“): „Auf diese vielfältige Bedeutung des öffentlichen Raumes ist der Begriff des Privaten in seinem ursprünglich privativen Sinne bezogen. Nur ein Privatleben führen heißt in erster Linie, in einem Zustand zu leben, in dem man bestimmter, wesentlich menschlicher Dinge beraubt ist. Beraubt nämlich der Wirklichkeit, die durch das Gesehen-und Gehörtwerden entsteht, beraubt einer ‚objektiven‘, d. h. gegenständlichen Beziehung zu anderen, die sich nur dort ergeben kann, wo Menschen durch die Vermittlung einer gemeinsamen Dingwelt von anderen zugleich getrennt und mit ihnen verbunden sind (…) Der privative Charakter des Privaten liegt in der Abwesenheit von anderen (…).“ (Arendt 2007, 73) Die Beraubens- und Entbehrens-Kategorie traf in besonderer Weise Frauen: Neben dem zweifellos auch vorhandenen Schutz, den die Privatheit räumlich und sozial gewährte (z. B. gegen staatliche Willkür), schlugen doch viel eher die zwanghaften Mechanismen zu, die Frauen unsichtbar machten, sie als (aus der Öffentlichkeit) verschwundene, unsichtbare Frauen abhakten. Arendt sieht Frauen historisch in der gleichen Lage wie Sklaven: „Frauen und Sklaven gehörten zusammen, zusammen bildeten sie die Familie, und zusammen wurden sie im Verborgenen ­gehalten, aber nicht einfach, weil sie Eigentum waren, sondern weil ihr Leben ‚arbeitsam‘ war, von den Funktionen des Körpers bestimmt und genötigt.“ (ebd., 88) Dieses doppelte Verschwinden im Privaten durch die Ökonomisierung einerseits (Frauen als Privateigentum) und durch die Naturalisierung ihrer Körper andererseits (Reproduktion) konterkarierte manch potenzielle Errungenschaft der Absicherung des privaten Heims, das zutiefst doppelbödig ausgestattet war: zugleich „Heimat“ und Ort der „Heimlichkeiten“. Zum einen bedeutete es die schützende Vertrautheit der Heimat. Im Heim lässt es sich – nicht nur etymologisch – „sicher wohnen“ und „sorglos weilen“. Es bietet Schutz vor natürlicher Unbill, noch s­ tärker 1

Es folgt hier nicht etwa eine Geschichte der (privilegierten oder bürgerlichen) Frauen in europäischen Privatheimen. Das Thema Privatheit – Gender wird lediglich schlaglichtartig dort beleuchtet, wo spezifische Machtverhältnisse die Frauen in der Privatheit, im Intérieur, verschwinden ließen und wo sie sich partiell durch bestimmte Praktiken und Taktiken ein halböffentliches Gehör verschafften. Die Beispiele beziehen sich allesamt auf die Frauen oder auch die Männer hinsichtlich ihres Umgangs mit Objekten und ihrer Aktivitäten – insofern thematisieren sie immer Fragen der Gestaltung des Lebenszusammenhangs.

PRIVATHEIT 067

jedoch vor allem Fremdem. Denn das Fremde ist das Unbekannte, von dem Un­ sicherheit und Gefahr ausgehen. Das Heim dagegen sichert durch Ausschluss des (fremden) Öffentlichen die Privatheit. Zum anderen geschehen die häuslichen Angelegenheiten im Verborgenen: Heimlichkeiten können in schützender Intimität ohne Angst vor öffentlicher Entdeckung ausgetauscht werden. Freud hat allerdings auch hier die Ambivalenz, oder in diesem Fall sogar: Kongruenz, von vermeintlich antonymischen Begriffen festgestellt: „Das Unheimliche ist (…) das ehemals Heimische, Altvertraute. Die Vorsilbe ‚un‘ an diesem Worte ist aber die Marke der Verdrängung.“ (Freud 2006, 259) Und so ist diese Privatheit im heimlichen Heim für die weiblichen Familienmitglieder gleich vielfach widersprüchlich indiziert: Die im Haus eingeschlossenen, verschwundenen und damit unsichtbaren Frauen entbehren (nach Arendt: wurden beraubt) einer Wirklichkeit, die sich im und mit dem öffentlichen Raum realisiert; sie entbehren einer gegenständlichen Beziehung zu anderen in der öffentlichen Dingwelt; und sie entbehren einer möglichen Kontrolle durch die Öffentlichkeit, die sie sowohl vor häuslicher, heimlicher Gewalt schützen, allerdings weibliches Wohlverhalten auch überwachen könnte. Und dennoch: Die im Innenraum immerhin denkbaren heimlichen, manchmal subversiven Aktionen kontrastieren ein kleines Stück weit die weibliche häusliche Gefangenschaft.

Die Salonnières Ohne manifeste Heimlichkeit, dennoch aber eine Möglichkeit, an der öffent­ lichen, männlich konstruierten Welt des Geistes, der Bildung, der Kultur und ­bisweilen auch der Politik semiöffentlich teilzuhaben, waren die von Frauen der ­gehobenen Gesellschaft erfundenen und geleiteten Salons. Bereits seit der Renaissance existierten vereinzelt Formen der Geselligkeit, die einigen privilegierten Frauen die beschränkte Partizipation an einer Art vermittelter Öffentlichkeit erlaubten. Jedoch kannten diese frühen Salons noch nicht die Frau als aktive Gastgeberin, sie durfte lediglich dabei sein. Erst im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts finden sich die weiblich initiierten und geführten Salons: Die Salonnières zeichneten sich durch Eigenschaften wie Charakter, Schönheit, Charme und eine gewisse Bildung aus, obwohl sie häufig Autodidaktinnen waren. Denn wo hätten sie ihr Wissen auch erwerben sollen – da ihnen Universitäten und sogar Bibliotheken den Zugang verwehrten –, wenn nicht in der häuslichen Ab­ge­ schiedenheit; im Glücksfall unterstützt von einem Bruder oder Ehemann, der ihnen Bücher aus der Bibliothek oder Abschriften aus der Royal Society beschaffte (wie das z. B. Hon. William King als Ehemann der Ada Lovelace freundlicherweise tat). Bekanntlich waren den Frauen Bildungsstätten ebenso verwehrt wie die Ausübung eines Berufs.

068  ORTE – RÄUME – GENDER 

Ein typisches Beispiel der bildungshungrigen und mit allen Kräften nach ­ ildung verlangenden Frauen dieser Zeit war Ada Lovelace, deren Mutter ihr mathe­ B matisches Interesse förderte. Durch Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und Besuchen diverser Salons lernte sie Charles Babbage kennen, dessen Mitarbeiterin sie wurde. Symptomatisch, dass ihre bescheiden als „Notes“ benannten wichtigen Ausarbeitungen des Babbage-Textes zur – übrigens nie gebauten – „Analytical ­Engine“ nicht nur länger waren als der Text von Babbage (vgl. Menabrea 1842), ­sondern ihre Anmerkungen ergaben die Vorformen zu einer komplexen Computersprache. – Immerhin wurde viel später, in den 1970er-Jahren, eine der ersten Com­ ­putersprachen nach ihr benannt: Ada. Somit war Lovelace überhaupt der erste Mensch, der eine Programmiersprache erfand (vgl. u. a. Stein 1985; Toole 1998; ­Essinger 2014) – lange, bevor die ersten Computer gebaut und nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen, z. B. Grace Hopper oder Jean Bartnik (vgl. u. a. Stanley 1993, insbes. 433 ff.) programmiert wurden. So war Ada Lovelace, wie so viele Frauen ihrer Zeit, zwischen privaten Ange­ legenheiten, wissenschaftlicher Arbeit und gesellschaftlichem Leben (inklusive ­diverser Affären) hin und her gerissen und rieb sich darin auf. Sie beklagte sich ­offenbar in Briefen an ihre Freundin und Mathematikerin Mary Somerville darüber, dass ihr durch die Ehe und die drei Schwangerschaften schnell nacheinander und die Kinderbetreuung viel zu wenig Zeit für ihre mathematischen Studien bliebe (vgl. Dorner 2015, 18). Sie starb früh, mit 36 Jahren, an Krebs. Die Salons der Salonnières können als Intervention interpretiert werden, dem Innenraum des Hauses ein Stück Öffentlichkeit im Privaten abzutrotzen. Insofern bedienten sich diese bildungshungrigen, gebildeten und diskurskompetenten Frauen der Taktiken, wie de Certeau sie den Ohnmächtigen zutraut. Deren subversive Taktiken sind flexibel, schnell, haben aber nichts Eigenes, noch nicht einmal einen eigenen, äußeren Ort: Taktik ist „ein Handeln aus Berechnung, das durch das Fehlen von etwas Eigenem bestimmt ist. Keine Abgrenzung einer Exteriorität l­ iefert ihr also die Bedingungen einer Autonomie. Die Taktik hat nur den Ort des Anderen. Sie muß mit dem Terrain fertigwerden, das ihr so vorgegeben wird, wie es das ­Gesetz einer fremden Gewalt organisiert. (…) sie ist eine Bewegung ‚innerhalb des Sichtfeldes des Feindes‘, wie von Bülow sagte (…), die sich in einem von ihm kontrollierten Raum abspielt.“ (de Certeau 1988, 89) Wichtige Bedingungen also einer möglichen Autonomie, unter anderem die der sichtbaren Außenfläche, fehlten der Salondame. Kontrolliert, der männlichen Macht unterworfen, der Feindbeobachtung ausgesetzt – und dennoch erfand sie Taktiken, die ihr punktuelle Teilhabe an Intellektualität, an nicht nur oberflächlicher Geselligkeit durch selbst gestaltete Verwandlungen des Innenraums in einen Gesellschaftsraum ermöglichten. Setzen wir das Subjekt in den Singular, so fallen de Certeaus Sache: die Taktik mit dem Individuum: der Salonnière überzeugend zusammen. Während de Certeau von Taktik schreibt, transformiere ich diese direkt auf die Salonnière – und es funktioniert: „Sie profitiert von ‚Gelegenheiten‘ und ist von ihnen abhängig (…). Was sie gewinnt,

PRIVATHEIT 069

kann nicht gehortet werden. Dieser Nicht-Ort ermöglicht ihr zweifellos Mobilität (…), um im Fluge Möglichkeiten zu ergreifen, die der Augenblick bietet. Sie muß wachsam die Lücken nutzen, die sich in besonderen Situationen der Überwachung durch die Macht der Eigentümer auftun. Sie wildert darin herum und sorgt für Überraschungen. Sie kann dort auftreten, wo man sie nicht erwartet. Sie ist die List selber.“ (ebd.) De Certeaus kluger Begriff des „Herumwilderns“, zusammengedacht mit den „Gelegenheiten“ und der historisch ohnehin den Frauen zugedachten „List“2, assoziiert in dem hier vorgestellten Kontext ziemlich genau, was die Salonfrauen auszeichnete, wie weit sie mit ihrer innerhalb des patriarchal organisierten Hauswesens verbleibenden halböffentlichen Geselligkeit gehen konnten. Deshalb bedurfte es des Interesses der Männer an solchen Zusammenkünften und min­des­ tens der Duldung des Hausherrn. „Was die Salons betrifft, haben wir es mit zwei ­gegenläufigen Bewegungen zu tun. Die bildungswilligen Frauen suchten in ­ihren Salons die Öffentlichkeit der Bildungswelt einzufangen, die Öffentlichkeit der Män­ nerwelt verlangte nach der privaten, intimen Sphäre des Salons.“ (Wilhelmy-Dollinger 2000, 2; vgl. auch Müller 2013; Peham 2014) Besser kann die A ­ mbivalenz dieser Salons nicht beschrieben werden: Jedes Geschlecht sehnte sich nach der je anderen Welt, sodass Innen- und Außenraum zwar weiterhin getrennt blieben, aber die Intimität des weiblichen Intérieur durchbrochen und die öffentliche Sphäre in das Private hineinragte. Kristallisationspunkt aber war die Frau, die diesen Typus Salon einführte, die Einladungen aussprach und den Diskurs mit geistreichem Scharfsinn konzertierte und dirigierte. Berühmt waren insbesondere die Salons der Romantik, von Caroline Schelling in Jena, Henriette Herz und Rahel Varnhagen von Ense in Berlin, um nur einige wenige im deutschen Sprachraum zu nennen. Das Kommunikations­ verhalten der gebildeten Frauen der besseren Gesellschaft, ihre Konversationen über Literatur, Kunst, Musik, Philosophie und Politik, ermöglichten es ihnen, Selbstbehauptung auszubilden und Anerkennung zu erringen. Symptomatisch ­allerdings ist, dass dieser Freiraum einer „zweckfreien Geselligkeit“ nicht dazu führte, die häufig literarisch tätigen Frauen aus dem Hintergrund ins Rampenlicht zu holen. Ihre literarischen Arbeiten artikulierten sich überwiegend in der kleinen, intimen – und damit als typisch weiblich erachteten – Form: Tagebuch, Briefe, Aphorismen. Publikationen blieben ihnen so fast immer verwehrt.

2

In einigen der zeitgenössisch bereits äußerst populären Theaterstücke des 18. Jahrhunderts werden diese weiblichen Listen ins Zentrum der Beziehung zwischen Liebenden gestellt: Vgl. z. B. das Lessingsche Lustspiel „Minna von Barnhelm“ von 1767 oder das Theaterstück „Der tolle Tag oder die Hochzeit des Figaro“ von Beaumarchais, geschrieben 1778, das Mozart als Vorlage für seine Oper „Die Hochzeit des Figaro“ diente, 1786 erstmals aufgeführt.

070  ORTE – RÄUME – GENDER 

Bürgerliche Idylle In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden auch diese vorsichtigen Schritte in eine Semiöffentlichkeit sogleich wieder unterbunden. Mit dem endgültigen ­Aufstieg des Bürgertums verschwand die Frau erneut gänzlich im Hausinneren. Aus einer einst emanzipatorischen, das Subjekt befreienden Errungenschaft des Pri­ vaten als abgegrenztem Raum wurde mit der Entwicklung und Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft endgültig eine einengende, zwanghaft vom öffentlichen Diskurs abgeschnittene eigene Welt, die nun dem weiblichen Geschlecht zugemutet und übereignet wurde. Deutlicher als etwa im Mittelalter hatten Frauen jetzt ­weder beruflich noch diskursiv etwas im öffentlichen Raum zu suchen. Das Betätigungsfeld der bürgerlichen Frau beschränkte sie nun als gute Hausfrau und Mutter auf das Heim. Allein in diesem Innenraum durfte sie ihrem Selbstverwirklichungsdrang im Dekor frönen: „Der Beruf des Mannes, seine Thätigkeit (geht) aus dem Haus hinaus ins Weite (…), dem Erschaffen und Erwerben zugewendet, und wenn er heimkehrt, arbeitsmüde und der Erholung bedürftig, so verlangt ihm nach ruhigem Genuss, ihn erfreut die Stätte, die (…) ihm die Frau behaglich und anmuthig bereitet und mit reizenden Gegenständen verschönert hat.“ (Falke 1882, 452) Dies ging so weit, dass die Frau umstandslos als dekoratives Accessoire in die Raumausstattung integriert wurde: Sie war der „edelste Schmuck in ihrer ­geschmückten Behausung.“ (ebd., 456) Die nun zur objektifizierten, heimeligen Hausfrau vollständig degradierte bür­gerliche Frau fand sich einer konstruierten süßlichen Idylle ausgesetzt, vorzüglich gespiegelt in dem Vorläufer der ersten modernen Illustrierten (ab 1853) mit dem bezeichnenden Titel „Die Gartenlaube“. „Als ‚Illustrirtes Familienblatt‘ verkörperte sie einen neuen Medientypus, wurde zum auflagenstärksten, wirkmächtigsten und oft imitierten Blatt. Als Wissenssammlung, Ratgeber und Unterhalter fand die Zeitschrift in vielen Bücherschränken einen Platz. (…) Sie steht aber zugleich als Synonym für eine idyllische und rührselige Bilder- und Romanwelt.“ (Deutsches Buch- und Schriftmuseum 2013) Irene Nierhaus hat die ideologische Vorstellung der sozusagen naturhaft-­ ornamentierten und ornamentierenden Privatfrau eindringlich fokussiert: „Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden Handarbeit, textiles Material und Innenraumgestaltung mit einem genuin weiblichen Geschlechtscharakter gekoppelt. Bio-psychische Naturalisierung und mythische Historisierung sind die Mittel dazu und markieren in zeitgenössischen Texten Stoff- und Ornamentreichtum im Innenraum als eigentlich wesenhafte Kultur der Frau.“ (Nierhaus 1999 b, 88) Nun könnte auch hier noch eine winzige positive Kehrseite an der unsichtbaren Hausfrauen­ arbeit im privaten Innenraum festgestellt werden. Selbst in der Beschränkung auf die ornamentale Innenraumgestaltung war es den Frauen möglich, sich Fähigkeiten und Kompetenzen anzueignen oder diese zu realisieren, wie sie sich seit dem 20. Jahrhundert als eigenständige Disziplinen des Designs, nämlich Interior Design

PRIVATHEIT 071

und Innenarchitektur, etablierten. Allerdings haben diese bis heute ihre eindimensionale Zugehörigkeit zu als typisch weiblich erachteten Theorie- und Praxisbereichen nicht überwinden können: Die weibliche „Geschicklichkeit“, „Fingerfertigkeit“, der weibliche „Sinn für das Schöne“ sowie der angeblich besonders für Frauen geeignete Umgang mit Textilem, fließenden Stoffen, weichen Materialien, farbenfrohen Dekors bahnen sich bis in die Gegenwart ihren ideologischen Weg. Hinterrücks scheint so die gesellschaftliche Vorstellung unbeirrt und unausrottbar das weibliche Hausfrauendasein, die private, entsprechend unbezahlte Tätigkeit des Hegens und Pflegens und Dekorierens, fortzuschreiben. Im Übrigen zeigt die als Frauengeschichte geschriebene Sozialgeschichte insbesondere des 19. und zu Beginn des 20 Jahrhunderts aber auch, dass Frauen ihre Unzufriedenheit, ihren Ärger und ihren Schmerz über das private und sexuell unterdrückte Eingeschlossen-Sein in wenigen, einzwängenden Rollen durch Rückzug in „typische Frauenkrankheiten“, insbesondere die Hysterie, zum ebenso verzweifelten wie auch „erotisch-taktischen“ Ausdruck brachten. Denn so war ihnen die Aufmerksamkeit zumindest der Ärzte und der Fotografen gewiss.3

Ein eigenes Zimmer Es ist bemerkenswert, wie sich die Bewertung der privaten Innenräume nur etwa ein Vierteljahrhundert später essenziell änderte. Wenn wir dafür nur eines der literarisch eindrücklichsten Beispiele heranziehen – es wurde bereits in der Einleitung kurz erwähnt: Virginia Woolf beschreibt präzise die Notwendigkeit für eine Frau, ein Zimmer für sich selbst, für sich allein, ihr eigen zu nennen (vgl. Woolf 2001a+b). Kein Bügelzimmer, kein Boudoir, sondern ein Zimmer, in dem sie ungestört denken, schreiben, reflektieren kann, ein Zimmer, das ihr Autonomie und selbstständige Selbsttätigkeit garantiert. Nun wurde das private Zimmer, sofern es mit der entsprechenden Charakterisierung „ganz für sich allein“ versehen und betont war, zu einem Refugium der Intellektualität und einem Gegenentwurf zum Hausfrauen-Raum, der der Regeneration der Familie und der Überwachung der Frau galt. Nachdem also Frauen der Weg hinaus in die Öffentlichkeit nicht mehr – oder zumindest weniger – verwehrt wurde, konnte sich die Sehnsucht nach einem privaten Arbeitsort überhaupt erst entfalten. Einer der berühmtesten Sätze Virginia Woolfs: „A woman must have money and a room of her own if she is to write fiction“, (vgl. Woolf 2001a, 6) drückt diese Notwendigkeit ebenso klar wie intensiv aus. Nun ist Virginia Woolf allerdings schon eine der modernen Frauen der „New Women Fiction Writers“ des frühen 20. Jahrhunderts, die sich sehr wohl draußen 3

Vgl. dazu ausführlicher Kap. Körper-Facetten: Der gefügig gemachte Körper, S. 232 f.

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selbstbewusst zu bewegen wussten. Ihr Essay „Street Haunting“ nimmt die Perspektive einer modernen Frau im Gedränge der Menschenmassen auf, die sich – und damit klar unterschieden von der flanierenden Männlichkeit – so intensiv mit den aus ihren Augenwinkeln beobachteten Vorübergehenden identifiziert, dass sie zu einem „enormous eye“ (Woolf 1967, iv, 71) wird. Hier handelt es sich nicht um den „male gaze“, sondern die ganze Frau wird zu einem Auge, das „put on briefly for a few minutes the bodies and minds of others.“ (ebd., 81) Das ist nun wirklich eine vollkommen andere Perspektive als die des gleichgültigen Beobachters, der gänzlich außerhalb der beobachteten Sujets und Subjekte bleibt. Woolfs weibliches Auge ist dermaßen empathisch, dass es sich für Momente Körper und Intellekt der anonymen Anderen sozusagen wie einen Mantel überzieht. Das, was diese historischen divergenten Bewegungen – weiblicher Privatraum als Gefängnis versus Privatraum (mit bestimmten Sine-qua-non-Bedingungen) als Befreiung – aktuell in neuer Form zusammenführen könnte, sind etwa jene Frauen, die beruflich viel unterwegs und damit alleinreisend sind. Hier erweist sich, dass Frauen das Hotel am liebsten als eine Art Home-away-from-Home bewohnen ­würden.

PRIVATHEIT 073

DAS PROJEKT: FRAUEN IM HOTEL4 Vorab Ob es gefällt oder nicht: Frauen planen, kaufen, reisen … anders als Männer, und sie stellen durchaus hohe und sehr präzise Ansprüche an die jeweiligen Dienstleistungsangebote. Außer in jenen Bereichen, für die Frauen immer noch eher geschlechter-stereotyp verantwortlich gemacht werden – wie etwa Hausarbeit oder alltägliches Einkaufen –, legen Frauen sehr großen Wert auf Service. Durch eigene Erfahrungen, diverse Gespräche mit professionell häufig reisenden Frauen und Anregungen aus Vorträgen zum Thema Frauen – Reisen – Tourismus kristallisierte sich der noch kaum untersuchte Forschungsgegenstand Frauen in Hotels heraus: Frauen, die aus beruflichen Gründen und dementsprechend allein reisen müssen. Diese Frauen – um das Ergebnis vorwegzunehmen – wünschen sich einen Service, der sich durch Vertrauenswürdigkeit, Seriosität, Sensibilität und Wahrhaftigkeit auszeichnet; und das ist ein von männlichen Geschäftsreisenden deutlich unterschiedenes Anspruchsverhalten an eine Hotelkultur.

Methodisches Vorgehen In Nordeuropa sind bereits 40 % der Geschäftsreisenden Frauen, und auch in Deutschland steigen die Zahlen rasant, auf derzeit fast 30 %. Lufthansa entdeckte als eines der ersten Unternehmen diese ökonomisch interessante Zielgruppe und verlegt seit einigen Jahren ein eigenes Magazin für ihre Kundinnen namens „­Woman’s World“5, das an Kundinnen ihres Vielflieger-Programms kostenlos verschickt wird. Die Hotels aber haben sich noch kaum auf die spezifischen weiblichen Wünsche eingestellt. Erst sehr wenige Hotels beginnen, meist noch zögerlich, weibliche Gäste als eigenständige Gruppe mit womöglich spezifischen Bedürfnissen, zu bemerken.

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Die qualitative Studie wurde als Forschungsprojekt im Rahmen meiner Lehre und Forschung an der KISD mit Unterstützung der folgenden (damals) Studierenden durchgeführt: Asuman Altay, Natascha Aplas, Nitzan Chelouche, Fabiano de Miranda, Louisa-Marie Gorgoglione, Nadine Rausch, Mari Sandbakk, S ­ arah Schipper, Emanuel Schmidt-Halswick, Julia Schremf, Tanja Steinebach, Sarah Sturm, ­Jenna ­Tockuss, Andreas Unteidig, Nina Weschenfelder, Sophie Zaubitzer, Lisa Gerkens, Erin Wheeler, Jana Celler sowie der Journalistin Inken Herzig. Vgl. Woman’s World: www.lhm-lounge.de/Profil_3201575.html oder www.internationalmediasales.net/ de/portfolio/detail/lufthansa-womans-world/ (letzter Zugriff 01.10.2016).

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„Endlich kann ich einmal alles rauslassen, was mich an Hotels nervt!“ „Danke für dieses Thema. Dazu kann ich sehr viel sagen.“ „Es gibt so viele Dinge, die mich an Hotels stören.“ „Hotels sind einfach nicht auf uns Frauen eingestellt!“ „Ich fühle mich irgendwie meist unwohl, wenn ich allein im Hotel übernachten muss.“ Dies sind einige der mannigfaltigen Seufzer von Geschäftsfrauen, als sie im Rahmen unserer qualitativen Explorationsstudie zu ihren Erfahrungen in und mit Hotels befragt wurden.6 Wir kooperierten mit ausgewählten 3-, 4- und 5-Sterne Hotelketten, die alle sehr aufgeschlossen und interessiert unsere Forschungen unterstützten. Die methodische Vorgehensweise war breit gefächert: • Problemaufriss: schriftliche Befragung allein reisender Geschäftsfrauen international, • vergleichende schriftliche Befragung allein reisender Geschäftsmänner, • semistrukturierte Leitfaden-Interviews mit weiblichen Hotel­ gästen, • semistrukturierte Interviews mit dem Hotelpersonal: Rezeption, Portiers (alle männlich), Bar, Housekeeping, Frühstücksservice, • schriftliche Befragung des Hotelmanagements von Hotelketten in Europa, • verdeckte Beobachtungen in den zugänglichen Hotelbereichen: Lobby, Bar, Frühstücksraum, • Selbstexperimente undercover: Studentinnen als Hotelgäste in der Bar, • semistrukturierte themenzentrierte Interviews mit je zwei weiblichen und männlichen, international renommierten Fachleuten aus Architektur und Design, die alle bereits Hotels neu und umgestaltet haben.

Atmosphären Bereits die ersten Reaktionen waren überraschend: Von den 150 Frauen, die weltweit mit einem offenen, themenzentrierten Fragebogen schriftlich befragt wurden, antworteten alle, also 100 %. Und zwar mit ungewöhnlich engagierten Kommentaren, 6

Ein Teil der Untersuchung wurde als Ratgeber für Hotelverantwortliche publiziert: Vgl. Brandes, Uta (2010): Frauenzimmer im Hotel. Wie Geschäftsfrauen sich Hotels wünschen, Berlin (Erich Schmidt ­Verlag).

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dezidierten und vielfältigen Verbesserungswünschen und zahlreichen Kritiken an der Hotelumgebung, der Gestaltung, den Dienstleistungen und der (mangelnden) Ansprache. Eines war unmittelbar ersichtlich: Frauen sind mit der bestehenden Hotelkultur überhaupt nicht zufrieden. Und in der Tat: Als wir die qualitativen verdeckten Beobachtungsstudien durchführten, bestätigte sich, dass in den meisten Häusern immer noch un- oder vorbewusst das Konstrukt des männlichen Reisenden die Leitfigur (für Frauen eher eine Leidfigur) der Hotelgestaltung und des Service zu sein scheint. Insbesondere, wenn Frauen geschäftlich reisen (bei Freizeit- und Urlaubsreisen unterscheidet sich ihr Verhalten), so fanden wir heraus, verhalten sich Frauen deutlich anspruchsvoller als Männer. Das reicht von unscharfen, generell unter „Atmosphäre“ zu fassenden Wünschen bis zu kleinsten Details in der Ausstattung des Hotelzimmers. Frauen wünschen nicht allein mehr Stauraum und Ablageflächen, sondern vor allem einen aufmerksamen Service sowie Umgebungen bzw. Produkte, die die Sinne ansprechen: hochwertige Kosmetik- und Hygieneartikel zum Ausprobieren ebenso wie eine gute Arbeitsatmosphäre und unkompliziert zu verändernde Lichtsituationen. Über das Raumgefühl hinaus ist für Frauen der persönliche ­Service im Hotel entscheidend: Die meisten wollen einen sehr guten, vertrauenswürdigen und empathischen Service. Das Hotel nämlich ist für Frauen – ganz im Gegensatz zu der überwiegenden Zahl der Männer – eine Art Burg, ein Schutzraum, der an zu Hause erinnern und einen ungestörten Rückzug vor neugierigen Blicken garantieren soll. Gerade wenn es sich – selten genug – um Hotels handelt, die ­Geschäftsfrauen als angenehm empfinden, wird den Frauen das Hotel(zimmer) zum Refugium. Dem möglichen Einwand, dass dies womöglich keine spezifisch weiblichen Wünsche seien und Männer zweifellos einen guten Service ebenfalls zu schätzen wissen, kommen wir durch eines unserer Findings zuvor: Während Frauen im Durchschnitt ca. 30 Dinge, Services und Atmosphärisches wünschen – und als häufig fehlend bemängeln –, ist die überwältigende Mehrheit der Männer zufrieden, wenn kostenloses W-Lan, eine gute Matratze und im Badezimmer eine kräftige Dusche vorhanden sind. Besonders auffällig gestalten sich zudem die Unterschiede im Raumverhalten: Frauen bleiben zum Abendessen (sofern sie allein speisen) eher im Hotel oder in dessen Nähe, um einem längeren Weg aus dem Weg zu gehen. Erstaunlich viele Männer dagegen, so legen die Aussagen aus den Interviews nahe, fühlen sich – imaginiert oder real – wie einsame Steppenwölfe, wenn sie nach getaner Arbeit durch die Stadt streifen: „Ich liebe die letzten Reste von Abenteuer: Ich bin allein und weiß nicht, wohin und was nun geschehen soll und wo es überhaupt noch ein Bier gibt.“7 7

Alle nicht nachgewiesenen Zitate stammen aus mündlichen oder schriftlichen Interviews mit den ­Befragten.

076  ORTE – RÄUME – GENDER 

Die Designexpert_innen Zusätzlich zu den Hotelbewohner_innen wurden vier international renommierte Gestalter_innen befragt, die sowohl im Design als auch in Architektur und Innenarchitektur für Hotels tätig sind. Wie bei den Hotelgästen, so wird auch bei den Design- und Architekturprofis erstaunlicherweise eine klare Geschlechterdifferenz deutlich: Während die Designer Marco Piva („Studio Marco Piva“, Mailand u. a.) und Massimo Iosa Ghini („Iosa Ghini Associates“, Bologna) mit großer Entschiedenheit verneinen, bei ihren ­Hoteldesigns an Frauen oder Männer auch nur zu denken, reagieren Yasmine Mahmoudieh (Designerin, Architektin und Geschäftsführerin des Start-up „MyKidsy“, London) und Lian Maria Bauer („Lian Maria Bauer Projektdesign“, Thalwil) diametral entgegengesetzt: Für sie spielt es sehr wohl eine erhebliche Rolle, wer für wen – also welches Geschlecht für welches Geschlecht – gestaltet. Die in London ­lebende, in Deutschland geborene Halbiranerin Yasmine Mahmoudieh plädiert ­vehement und offensiv für ein Konzept, Räume für Frauen von Frauen zu gestalten. Die Schweizerin Lian Maria Bauer äußert sich sozusagen im Nebenbei dazu, dass „Weiblichkeit“ generell das Wichtige an Hotelgestaltung sei. Mahmoudieh konstatiert deutliche Unterschiede zwischen den Ansprüchen von weiblichen und männlichen Hotelgästen: „In den öffentlichen Bereichen beobachte ich häufig, dass Frauen sich unbehaglich fühlen. Zum Beispiel diese isolierten Einzeltische: Ich hingegen integriere lange Tische und Theken in den von mir gestalteten Hotels, an denen man zusammensitzen kann, auch wenn man sich nicht kennt. Selbstverständlich darf das kein Zwang sein, es ist ein Angebot. Und Frauen nutzen das unter­einander sehr gern.“ Lian Maria Bauer drückt sich etwas zurückhaltender aus, jedoch auch im Bewusstsein der Relevanz spezifischer weiblicher Wünsche: „Wir Frauen wollen nicht nur gut aussehen, sondern uns auch in einem guten Ambiente aufhalten, und vor allem wollen wir auch in fremden Räumen die Zeit genießen können. Deswegen müssen wir auch mehr Einfluss auf die Hotelgestaltung nehmen.“ Sie sieht die Chance, Frauen durch das Design des Hotels zu Selbstbewusstsein zu verhelfen: „Gut gestaltete Räume vermitteln mit ihrer Klarheit und ihrem Design Sicherheit – sind also eine gute Bühne und ein guter Background. Also sollte es für allein reisende Frauen kein Problem sein, sich dort richtig zu positionieren.“ Sie achtet bei ihren Projekten besonders „auf praktische Abstellmöglichkeiten im Hotelzimmer, funktionsorientierte Anordnung der Bedienelemente, aber besonders auch auf eine charaktervolle Rauminszenierung.“ Yasmine Mahmoudieh denkt bei ihrem Hotelzimmer-Design an die vielen Dinge, die die weiblichen Gäste immer wieder wünschten bzw. vermissten: „In 90 % der Bäder kommt das Licht von oben, welches Schatten auf das Gesicht wirft. Männer sind da einfach genügsamer als Frauen. Außerdem finde ich, dass Minibars ganz anders befüllt sein müssten: mit mehr frischen Sachen. Das ist ein großer Wunsch von Frauen.“ Ihre männlichen Kollegen, so ihre Beobachtung, gestalteten

DAS PROJEKT: FRAUEN IM HOTEL  077

häufig nicht subtil genug: „Überall harte Formen, die Möbel kann man nicht bewegen, sie sind schwer wie Steine, sozusagen auf 100 Jahre Solidität gebaut, schwarzes, dunkles Holz und kaum Farbe im Hotelzimmer. Das Interessante ist, dass selbst Geschäftsmänner das häufig gar nicht gut finden!“ Massimo Iosa Ghini dagegen beantwortet alle Fragen zu möglichen Geschlechterunterschieden kurz und bündig mit „Nein“: Weder macht er sich spezielle Gedanken über mögliche Bedürfnisse von Frauen und Männern noch glaubt er, dass Frauen andere Wünsche als Männer haben könnten. Und auch das Faktum, dass Frauen eine zunehmende wachsende Gruppe von Geschäftsreisenden dar­stel­ len, hat für ihn keinen Einfluss auf die Innenausstattung eines Hotels: „Ein gut ­gestaltetes Hotel eignet sich für Frauen und Männer.“ Marco Piva formuliert seine Überlegungen, auf sich selbst als Hotelgast be­ zogen, äußerst pragmatisch: „Ich erwarte eine mich willkommen heißende At­ mosphäre, Effizienz, einen 24-Stunden-Service, genug Platz für Computer und ­Dokumente, Steckdosen, um Mobiltelefon, PC und Kamera aufzuladen, sowie ein komfortables Bett und eine gute Dusche.“ Beide Designerinnen dagegen sind sich sehr bewusst, dass sie als Frauen gestalten – und schätzen das auch als wichtig ein: Mahmoudieh ist überzeugt, „dass, wenn ich so designe, wie ich es als Frau für richtig befinde, mein Design auch Männern gefällt. Umgekehrt ist das leider nicht so. Die Design- und Architekturwelt ist sehr von Männern beherrscht, die sich nicht genug Gedanken um sinnliche Erfahrungen im Hotel machen.“ Und Bauer ergänzt trocken: „Beide Geschlechter lieben Weiblichkeit.“

Analytische Visualisierung Design, so der Anspruch, sollte nicht nur inhaltlich Gestaltungsfragen umfassend und kritisch behandeln, sondern ebenfalls in der Präsentation und Vermittlung spezifische, designadäquate Formen finden. Im vorliegenden Fall wurden zusätzlich zu der schriftlichen Interpretation der Weg, das Verhalten und die Ärgernisse einer allein reisenden Geschäftsfrau anhand eines Hotelaufenthalts von der Ankunft bis zur Abreise nachgezeichnet. Wir ent­ wickelten eine Typologie, indem wir exemplarisch möglichst viele der Aussagen, Aktivitäten, Kritiken und Empfindungen aller Frauen ineinander verflochten und so eine „Idealfrau“ erstellen konnten, die exemplarisch die Ergebnisse unserer Forschung inkarnierte. Um zu verdeutlichen, dass es sich nicht um eine reale Frau handelte, spielten die Rolle dieser „Idealfrau“ mehrere Studentinnen, jedoch in zwei realen Hotels, die mit uns kooperiert hatten. Die Bildabfolge liest sich wie Kino-­ Stills eines Stummfilms oder wie ein Foto-Roman, als Untertitel bzw. Sprechblasen dienten uns Zitate aus den Interviews aller Beteiligten. Da die Interpretation der

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­ rgebnisse drei Haupttendenzen ausmachte, unter denen die Wünsche der weib­ E lichen Reisenden geclustert werden konnten, wurden diese der Gesamtpräsen­ tation in der linken oberen Ecke des Fotos als je ein farbiges Quadrat beigegeben: „Die drei S“ analysieren Sinnlichkeit, Sozialität, Sicherheit (übrigens funktioniert der Buchstabe „S“ auch in anderen Sprachen wie Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch für diese drei Begriffe), die Farben differenzieren die Begriffe: Sinnlichkeit = blau, Sicherheit = rot, Sozialität = grün. Bewusst wurde zudem versucht, den Farbcode so zu wählen, dass sich keine trivialen Klischees ableiten ließen, weshalb z. B. Pastellfarben vermieden wurden. Aus Platzmangel finden sich hier nur einige wenige Ausschnitte des weib­ lichen Tages- und Übernachtungsszenarios als Fotos.

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1  Ankunft: „Frauen werden gern umsorgt“ (Doorman)

2 Willkommen: „Frauen schätzen den Service mehr als Männer“ (Doorman)

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3 Check-in: „Freundlicher und schneller Check-in ist mir wichtig“ (weiblicher Hotelgast)

4  Hotelzimmer: „Frauen sind kritischer in ihrer Zimmerwahl, sie verlangen öfter ein anderes Zimmer“ (Rezeptionistin)

DAS PROJEKT: FRAUEN IM HOTEL  081

5 Stauraum: „Ich brauche viel und praktischen Stauraum“ (weiblicher Hotelgast)

6 Bügel: „In meinem Schrank möchte ich auch Rock-Bügel vorfinden“ (weiblicher Hotelgast)

082  ORTE – RÄUME – GENDER 

7  Bad: „Wenn es einen Raum im Hotel gibt, der besondere Aufmerksamkeit verdient, ist es das Bad: Ein ­bisschen ‚over the top‘ würde unser aller Leben aufhellen, vor allem das der abgehärteten Profireisenden“ (weiblicher Hotelgast)

8  Bad: „Frauen sind viel unordentlicher als Männer, vor allem im Bad“ (weibliche und männliche Reinigungskraft)

DAS PROJEKT: FRAUEN IM HOTEL  083

9  Frühstück: „Frauen nutzen öfter den Zimmerservice als Männer. Sie bevorzugen leichte Kost, nichts Deftiges“ (Mitarbeiter Zimmerservice)

10  Minibar: „Frauen freuen sich über eine gesunde Alter­native in der Minibar“ (Mitarbeiterin Zimmerservice)

084  ORTE – RÄUME – GENDER 

11  Bar: „Bars sind eine Männerdomäne und für allein reisende Frauen unangenehm“ (weiblicher Hotelgast)

12  Zimmernutzung: „Ich nutze das Zimmer hauptsächlich zum Arbeiten …“ (weiblicher Hotelgast)

DAS PROJEKT: FRAUEN IM HOTEL  085

13 Zimmernutzung: „ … und zur Entspannung“ (weiblicher Hotelgast)

14 Check-out: „Wir müssen anfangen, Frauen ernst zu nehmen“ (Rezeptionist)

086  ORTE – RÄUME – GENDER 

ÖFFENTLICHKEIT Die Stadt und der Flâneur Kehren wir zurück in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts: Während die bürger­ lichen Frauen wieder in der unheimlich idyllischen Versenkung verschwunden ­waren, machte sich ein Typus Mann auf, die Stadt noch einmal neu zu erobern. Als Gegensatz zum bürgerlichen Kapitalisten, der in seinen Fabriken Reichtum akkumulierte oder als Politiker agierte, trat der Flâneur als melancholisch-gelangweilter, aber durchaus empfindsamer Intellektueller und Künstler auf den Stadtplan der Moderne. Er schlendert sowohl modern als auch durch die Stadt – nicht mehr durch die Natur, wie sein Vorläufer, der Wanderer. Er verkörpert den künstlerisch-urbanen Mann der europäischen Großstädte, der sich treiben lässt, ziellos, er driftet mit den Menschenmengen dahin, er kommuniziert nicht mit Anderen. Er geht in der Großstadt sich selbst ganz doppelt „verlustig“: Er geht mit Lust, und er erleidet lustvoll den Verlust: eines Ziels, des Kontakts zu anderen, eines Fixpunkts. Er wird gesehen, sieht selbst aber nicht – oder nur latent, hintergründig. Er scheint interesselos, aber das kann täuschen: Er reflektiert vor sich hin, er fantasiert sich die Eigenschaften der Menschen, denen er, müßig, (nicht) folgt. Der Unterschied zwischen ihm, dem Flâneur, und jenem auf den ersten Blick eng verwandten Dandy ist einfach, aber essenziell: Der Flâneur beobachtet desinteressiert, der Dandy stellt sich öffentlich dar und zur Schau. Bei Walter Benjamin wird der Flâneur bereits zu einem Mann, der an der Schwelle steht, so der melancholische Autor, wenn er sich auf Baudelaire bezieht: „Diese Dichtung (…) ist der Blick des Allegorikers, der die Stadt trifft, der Blick des Entfremdeten. Es ist der Blick des Flaneurs, dessen Lebensform die kommende trostlose des Großstadtmenschen noch mit einem versöhnenden Schimmer umspielt. (…) Die Menge ist der Schleier, durch den hindurch dem Flaneur die gewohnte Stadt als Phantasmagorie winkt.“ (Benjamin 1982 a, V/1, 54)

Literarisches Flanieren Selbstverständlich trat der Flâneur zuallererst als literarische Figur auf. Die Flâ­nerie war also nicht nur das physikalische Gehen in der Stadt, sie beschrieb einen phi­ losophisch und künstlerisch aufgeladenen Lebensstil. Erstaunlich, dass es ein Amerikaner war, der die erste Kurzgeschichte über den Inbegriff des Flâneurs schrieb: Edgar Allan Poes „The Man of the Crowd“ (vgl. Poe 1984, 388–396), erstmals 1840 publiziert. Poe berichtet über einen namenlosen Mann in einem namenlosen

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­ ondoner Coffeeshop, der, nachdem er müßig die vorbeiziehenden Menschen­ L massen beobachtet hatte, plötzlich von einem alten Mann fasziniert ist, dem er nun über eine sehr lange Zeit manisch-obsessiv folgt und den er am Ende erschöpft zu stellen versucht, von jenem aber immer noch nicht beachtet oder bemerkt wird: „And, as the shades of the second evening came on, I grew wearied unto death, and, stopping fully in front of the wanderer, gazed at him steadfastly in the face. He noticed me not, but resumed his solemn walk, while I, ceasing to follow, remained absorbed in contemplation. (…) He refuses to be alone. He is the man of the crowd. It will be in vain to follow; for I shall learn no more of him, nor of his deeds.“ (Poe, zit. n. The Edgar Allen Poe Society) Bei Poe wandelt sich der anfänglich unbeteiligt alles Beobachtende zu einem Mann mit dem unbezähmbaren Verlangen, den Anderen identifizieren zu wollen, um schließlich, sozusagen resigniert geläutert, zu erkennen, dass er nichts erkennen wird, da der Andere kein Individuum ist, sondern eben ein Mann der Menge. Charles Baudelaire beeindruckte diese Kurzgeschichte sehr, und er erkannte in dem unbekannten Mann einen Flâneur. Als Reaktion veröffentlichte er „Le peintre de la vie moderne“, eine dreiteilige Episode über den Maler Constantin Guys, erstmals in drei Ausgaben des „Figaro“ 1863 veröffentlicht. Baudelaire gibt hier eine so feine und detaillierte Interpretation der Person des Flâneurs, die alles be­ inhaltet, was einen ziellos umherflanierenden Mann ausmacht: „La foule est son domaine (…). Sa passion est sa profession, c’est d’épouser la foule. Pour le parfait ­flâneur, pour l’observateur passionné, c’est une immense jouissance que d’élire domicile dans le nombre, dans l’ondoyant, dans le mouvement, dans le fugitif et l’infini. Être hors de chez soi, et pourtant se sentir partout chez soi; voir le monde, être au centre du monde et rester caché au monde (…). L’observateur est un prince qui jouit partout de son incognito.“ (Baudelaire 1975/76, Bd. 2, 691 f.) Hier kommen alle Begriffe zusammen, die auf das Vorzüglichste das Wesen der Flânerie und den dazugehörigen Mann inkarnieren: Verheiratet ist er nicht mit einer Frau, sondern mit der städtischen Menge, seine Heimat ist die permanente Bewegung, alles ist flüchtig, wogend, an ihm vorbeiziehend. (In seinen Bewegungen und Formen des Umherschweifens unterscheidet er sich gar nicht besonders von den viel moderneren Situationisten – allerdings fehlt dem älteren Flâneur gänzlich die politisch-kritische Radikalität.) Der Flâneur des 19. Jahrhunderts war ein zwar leidenschaftlicher, aber niemals engagierter oder involvierter Beobachter, ein Mann von Welt, der die Welt sieht, sogar zu ihrem Voyeur wird, selber aber der Welt verborgen bleibt. „The city in Baudelaire is marked by three main experiences; ephemeralty, transience, and the chance encounter.“ (Parsons 2000, 21) Und so ist hier, auf die Figur des männlichen Flâneurs in der männlich codierten Großstadt konzentriert, hinzuzufügen, was Georg Simmel für die Großstadt generell behauptete: „Es giebt vielleicht keine seelische Erscheinung, die so unbedingt der Großstadt vorbehalten wäre, wie die Blasiertheit.“ (Simmel 1995, 121)

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Die bürgerliche Passagierin als Negation des Flâneurs Der männliche Flâneur wurde hier in seinen für diese Passion bedeutsamen Charaktereigenschaften beschrieben, um ihn mit seinem weiblichen Pendant zu vergleichen. Sogleich jedoch kann problemlos konstatiert werden, dass es eine passende weibliche Gegenfigur überhaupt nicht gegeben hat, ja nicht geben konnte. Die Gründe dafür sind ebenso einleuchtend wie vielfältig. Denn es wäre ganz und gar undenkbar gewesen, als ehrbare bürgerliche Frau das Haus aus Gründen des Sich-Treiben-Lassens zu verlassen, und das auch noch allein – Letzteres eine Voraussetzung der Flânerie. Als Frau dem buchstäblichen Müßiggang, dem pflicht­ vergessenen Herumgehen zu frönen, hätte das anständige Ansehen nicht nur der (Haus)Frau, sondern gleich der gesamten bürgerlichen Familie ruiniert. Des Weiteren gehörte zum ziellosen Umherschlendern die soziale Durchlässigkeit: Nicht nur die feinen Londoner, Pariser, Berliner etc. Stadtteile wurden durchquert, sondern – das machte den zusätzlichen aufregenden, auch erotischen Reiz aus – auch die armen, die schmutzigen, verruchten Viertel waren notwendige Bestandteile des Flanierens.

Die Prostituierte Versuchshalber könnten wir Frauen einer anderen sozialen Klasse als Flâneuse probieren: die Prostituierte. Sie hält sich im öffentlichen Raum auf, sie posiert, kommuniziert, schaut nach männlichen Interessenten – und schon wird klar, dass es sich auch hier keinesfalls um eine flanierende Frau handelt. Sehr bedeutend ist, dass sie einer anderen Klasse angehört als der männliche Flâneur; sie ist gesellschaftlich diskriminiert und sozial unten angesiedelt. Sie steht eher, als dass sie geht; schon gar nicht lässt sie sich in der Menge – unsichtbar – treiben, denn dann wäre sie für die Freier nicht genügend wahrnehmbar. Sie beobachtet, aber eines klaren Zweckes wegen. Ihr Ziel ist präzise vorgegeben, räumlich wie inhaltlich. Sie ist gezwungen, auffällig zu sein, sie muss versuchen, aus der anonymen Menge einen Mann herauszupicken – falls das gelingt, sind beide der Anonymität des urbanen Raumes entrissen. Und schließlich ist die Prostituierte erzwungenermaßen ­öffentlich und sichtbar: Der Zwang zum Geldverdienen treibt sie an. – All dies ist dann doch das traurige Gegenteil zum männlichen Flâneur.

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Die Passante Aber zurück zu der der gleichen Klasse wie der Flâneur angehörigen bürgerlichen Frau: Urbane Ausdehnungen hätte schon, neben der weitaus gravierenderen Problematik der Ehrbarkeit, die weibliche Mode der damaligen Zeit kaum zugelassen: lange, über den Boden schleifende Kleider, zierliche, weiche Schuhe und spätestens das Korsett hätten langes Spazieren ohnehin atemlos vereitelt. Der Herumtreiber ist nicht nur sprachlich in der weiblichen Form des Bürgertums in der damaligen Zeit außerhalb jeglicher Vorstellung. „(…) there is no female equivalent of the quintessential masculine figure, the flâneur: there is not and could not be a female flâneuse.“ (Pollock 1988, 71) Dieses Statement von Griselda Pollock wurde durchaus attackiert – wenn auch, so behaupte ich, mit schwachen Argumenten: „ (…), the critical question surrounding the flâneuse was not simply one of her absolute non-existence, but one of her exclusion from a patriarchal discourse on the modern city. (…) Strictly speaking, there may have been no female equivalents of the flâneur (…), but there were indeed women active in the public realm. In one sense, the literature of modernity may be understood as a controlling mechanism for regulating the ways in which women became visible in public.“ (D’Souza/McDonough 2006, 4) Diese Einschränkungen allein machen deutlich, dass das Konzept der nicht existenten Flâneuse, wie auch ich es hier begründe, genauer argumentiert ist. D’Souza und McDonough brauchen viele Wörter, um das Gegenteil: die Aufrechterhaltung einer Flâneuse zu legitimieren. Ebenso ergeht es Lauren Elkin, die darüber hinaus in ihrem sehr personalisiert geschriebenem Buch die Warenhäuser zu ihrer Verteidigung heranzieht (die, wie ich noch ausführen werde, ganz anderen „weiblichen“ Zwecken dienen): „The rise of the department store in the 1850s and 60s did much to normalise the appearance of women in public.“ (Elkin 2017, 14) Pollock dagegen behauptet ja nicht das ­buchstäbliche, physikalische Verschwinden aller Frauen aus den Straßen, sondern ­erstens nur das der bürgerlichen Frauen, zweitens die Unsichtbarkeit in der Form des öffentlichen Flanierens und drittens das einsame Schlendern für sich selbst: „­Women only appear (…) through their relationship with men in the public sphere, and via their illegitimate or eccentric routes into this male area – that is, in the role of whore, widow or murder victim.“ (Wolff 1985, 44; vgl. auch Dörhöfer 2007, 55–76, insbes. 59 f.) Wir können die empirische Offensichtlichkeit der manifesten Verbote für ­situierte bürgerliche Frauen noch subtiler ergänzen durch Überlegungen hinsichtlich der Unmöglichkeit eines „female gaze“ in der Öffentlichkeit. Es ist bezeichnend, dass Baudelaire nicht die (nicht existente) Flâneuse literarisch umgarnt, sondern die „Passante“ (vgl. Baudelaire 1860, 244), die Vorübergehende. Und diese hat nichts gemein mit den Qualitäten, die den Flâneur auszeichnen. Die „Passante“ ist bei Baudelaire ohnehin nur ein Studienobjekt des „male gaze“ (vgl. insbes. Mulvey 1999), sie hat keine Eigenständigkeit, sondern wird seziert und als Objekt dem

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männlichen Begehren ausgesetzt und narzisstisch einverleibt. Zwar beschreibt er die Vorübergehende, aber nur, um sie auf sich, sein Verlangen und seine selbst­ verliebte Bewunderung für seine feine Gedichtform zu beziehen. Er nennt sie eine „­fugitive beauté“, die er in der dritten Strophe des Sonetts erstmals rhetorisch anspricht – und zwar mit einem vertrauten „Du“; vielleicht aber wäre es passender, das „Du“ – in jener Zeit bekanntlich sehr selten gebraucht – als plumpe Annäherung an eine (literarische) Frauenfigur zu interpretieren, über die er Macht hat, die ihm hierarchisch untergeben, unterlegen ist. Es lohnt, das Sonett hier zu zitieren, um den Ton des müßig herumsitzenden männlichen Flâneur gegenüber einer weiblichen Vorübergehenden zu erkennen: Charles Baudelaire: À une passante La rue assourdissante autour de moi hurlait. Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse, Une femme passa, d’une main fastueuse Soulevant, balançant le feston et l’ourlet; Agile et noble, avec sa jambe de statue. Moi, je buvais, crispé comme un extravagant, Dans son oeil, ciel livide où germe l’ouragan, La douceur qui fascine et le plaisir qui tue. Un éclair… puis la nuit! — Fugitive beauté Dont le regard m’a fait soudainement renaître, Ne te verrai-je plus que dans l’éternité? Ailleurs, bien loin d’ici! trop tard! jamais peut-être! Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais, Ô toi que j›eusse aimée, ô toi qui le savais! (Baudelaire 1860, 244)

Der Germanist Harald Neumeyer hat Ton und Stimmung des Gedichts fein herausgearbeitet und – ohne die Gender-Thematik explizit zu erwähnen – sie doch in­ direkt als männlichen Machtdiskurs entlarvt: „(…) das Gedicht (spricht) von sich selbst und setzt seiner Macht der künstlerischen Gestaltung ein Denkmal; (…) so interessiert auch an der Passantin nur das, was sie dem Künstler-Flaneur ist. Am Anfang steht ein konkret körperliches Begehren, das Verlangen nach dieser großstädtischen Attraktion (…). Von der Frau ist dabei nur in der dritten Person die Rede (…). Verlorengegangen ist dem Ich demnach nicht die Passantin, kein Körper, sondern die Vorstellung einer Schönheit, die er an ihr aufscheinen sah (…). So avanciert die Passantin zur Allegorie der Schönheit, wie sie unter den Bedingungen der Großstadt noch zu haben ist – dazu braucht sie nicht einmal schön zu sein, es genügt, daß sie vorübergeht.“ (Neumeyer 1999, 111)

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Flucht statt Flüchtigkeit So faszinierend die Idee dieser entschwundenen Vorübergehenden für Baudelaire – und zweifellos für viele andere Künstler-Flâneure ebenfalls – auch immer gewesen sein mag: Ihre Erscheinung im städtischen Raum muss mit ganz anderen Begriffen beschrieben werden als dem des abdriftenden Flâneurs. Ihre Flüchtigkeit, die eine Form melancholischer Sehnsucht beim Dichter hinterlässt, ähnelt nicht jener passageren Flüchtigkeit des männlichen Durchstreifens des urbanen Raumes; vielmehr ist die sich im Stadtraum allein bewegende Frau de facto eine Eilende, fast eine Fliehende, die nicht stehen bleibt, nichts sieht, eben weil ihr solche Aktionen nicht gestattet sind. Der Flâneur dagegen ist der selbstgewählte Flüchtige. Deshalb auch muss ihr öffentliches Auftauchen mit anderen Wörtern beschrieben werden als das des Flâneurs. Idealtypisch gefasst, offenbaren sich die Unterschiede folgendermaßen: Er schweift umher, sie eilt. Er geht ziellos, sie präzise zielgerichtet. Er schaut und beobachtet, sie schaut vor sich und achtet auf ihren Weg. Er geht langsam, mag sich zwischendurch ins Café, Bistro oder auf eine Parkbank setzen, sie geht stetig und zielstrebig, ohne zu rasten. Sein Ort ist die Menge, die Ortlosigkeit ist sein (Nicht)Zuhause, sie kommt zu Hause an. Till Beutling hat eilende, den städtischen Raum fliehend durchlaufende Frauen noch heute in arabischen Kulturen entdeckt. In seiner Diplomarbeit (Beutling 2013) führte er verdeckte Beobachtungsstudien u. a. im öffentlichen Raum durch: „Stoppen Frauen im öffentlichen Raum, dann nur, wenn sie einen ‚Grund‘ haben (z. B. Warten auf öffentliche Nahverkehrsmittel oder der Einkauf an einem Straßenstand oder einem Geschäft). Es scheint, als ob Frauen im öffentlichen Raum zum Verweilen stets eine Art von ‚Schutzraum‘ aufsuchten, oder als ob sie ihn mit sich führten. Dieser Schutzraum kann vielfältige Formen annehmen (…): So kann der Einzugsbereich oder der Innenraum eines Geschäftes (die Frauen sind in dem Moment als Kundinnen vom Inhaber des Geschäftes geschützt), männliche Begleitung, die Begleitung von Kindern oder Gruppenbildung mit anderen Frauen gleichsam als Schutzraum gewertet werden.“ (ebd., 109) Nun sind die kulturellen und historischen Dimensionen, wie Beutling sie beschreibt, sicher nicht unmittelbar vergleichbar, bemerkenswert indes ist, dass die erzwungenen Verhaltensweisen den Frauen in beiden Fällen Taktiken abnötigen, die sich ähneln. Die Ortlosigkeit und deren Erfahrung im öffentlichen Raum stellen sich s­ omit für die Passantin und den Flâneur vollkommen ungleich dar. De Certeau hat offenbar auch nur den gehenden Mann im Auge, wenn er, sehr klug, aber eben einseitig, schreibt: „Gehen bedeutet, den Ort zu verfehlen. Es ist der unendliche Prozeß, abwesend zu sein und nach einem Eigenen zu suchen. Das Herumirren, das die Stadt vervielfacht und verstärkt, macht daraus eine ungeheure gesellschaftliche Erfahrung des Fehlens eines Ortes.“ (de Certeau 1988, 197) Männliches Herumirren war nicht problematisch, im Gegenteil sogar erwünscht – Ort- und Ziellosigkeit eben.

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Die Passantin dagegen hatte diese Nicht-Orte – denn für sie waren es zweifellos jene geschichts- und gesichtslosen „Non-Lieus“ (vgl. Augé 1994) – möglichst schnell zu überwinden. Argumentieren wir mit Augés „Orten“ und „Nicht-Orten“ im hier diskutierten Kontext, so können seine – nicht auf Gender bezogenen – Thesen sehr gut auf den Flâneur und die Passante projiziert werden: „So können wir die Realitäten des Transits (Durchgangslager oder Transitpassagiere) den Realitäten der festen Wohnung entgegensetzen, das Autobahnkreuz (das kreuzungsfrei ist) der Straßenkreuzung (oder der Begegnung), den Passagier (der durch seinen Zielort definiert ist) dem Reisenden (der auf einem Weg flaniert) (…)“ (ebd., 125 f.) Allerdings müssen wir die Reihenfolge, in der seine (Nicht)Orte auftauchen, hin und her schieben. Transit, Autobahnkreuz und Reisender können wir getrost dem männlichen Universum zuschlagen, während die Frau als Passagierin – eben jene, die den Raum fliehend durchquert – der festen Wohnung, der Straßenkreuzung und dem Zielort zugehörig ist. Bis auf Passagier und Reisenden, die in Augés Worten als Subjekte beschrieben sind, geraten ihm die Außenraum-Objekt-Orte zu unattraktiven Durchgangsräumen (Transit, Durchgangslager, Autobahnkreuz und Straßenkreuzung) – die Grauzonen und das Terrain vague, die später, im Post-Wohlfahrtsstaat, zu „champs aveugles“ mutieren. (Vgl. Lefebvre 1990, 36 f. u. 175.) Für die bürgerlichen Frauen des 19. Jahrhunderts waren die Städte, sofern sie sich in den Straßen nicht in ordentlicher Begleitung befanden, Zumutungen solcher Blindfelder.

Die Konsumentin im Innen der Außenräume Perspektivwechsel und scheinbarer Widerspruch: Bürgerliche Frauen betraten die städtische Öffentlichkeit sehr wohl. Wieso aber haben wir dann in dem gesamten Kapitel bisher vom Ausschluss der Frauen aus der Öffentlichkeit geschrieben? Weil die öffentliche Erscheinung der Frau auf fundamental anderen Prinzipien als ­denen des männlichen Städtewanderers beruhte. Für die bürgerlichen Frauen ­waren öffentliche Räume strikt in exterritoriale Verbotszonen und erlaubte Bereiche ­unterteilt. Das ziellose Herumspazieren in welchen Stadtvierteln auch immer: verboten. Der Aufenthalt in der offenen Öffentlichkeit: verboten. Erlaubt dagegen waren die öffentlichen städtischen Innenräume. Was paradox klingt – und auch ist –, versteht sich in der Logik herrschaftlicher Machtausübung und Arbeitsteilung zwischen der männlichen Bewegung als Freiheit und der weiblichen Begrenzung. In geschlossenen Räumen war die Frau offenbar besser zu ertragen, ähnelten diese Orte doch entfernt dem häuslichen Ambiente. Bei diesen Räumen, deren Betreten den Frauen erlaubt war, handelte es sich um die aufkommenden großen Warenhäuser, die seit etwa Mitte der 1850er-Jahre geradezu massenhaft insbesondere in Paris, London und New York (Deutschland war etwas später dran) aufgebaut und gestaltet wurden; im Deutschen zu Beginn

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immer als „Warenhaus“ bezeichnet. Auch wenn im Begriff der Ware das Objekt schon in die kapitalistische Dimension des Tauschwerts eingebettet war, würde das „Kauf“-Haus seinen unmittelbaren Zweck erst später in aller Dreistigkeit preisgeben: ein Haus, das zum Kaufen animiert. Voraussetzung für die Entstehung dieser „Grand Magasins“, „Department Stores“ und „Warenhäuser“ war der Umbau der ­Innenstädte mit ihrer chaotischen Gässchen-Struktur zu modernen, aufgeräumten, übersichtlichen und breiten Boulevards. Die radikale Umgestaltung von Paris zu einer mit modernen Konsumzentren, breiten und sternförmig zulaufenden Boulevards, den Sichtachsen und klassizistischen Häusern ausgestatteten Stadt durch den Stadtplaner, Präfekten und Baron Georges-Eugène Haussmann war höchst ambivalent. Einerseits war Paris damit in der Moderne angekommen, die Beschäf­ti­ gung nahm deutlich zu, und die Touristen strömten in die Stadt; zum anderen ­jedoch veränderte sich die Sozialstruktur radikal durch Zwangsumsiedlungen und Grundstücksspekulationen; und schließlich warfen seine Kritiker dem Baron vor, dass die Neugestaltung einzig dem Zweck diene, militärische Aufmärsche zu ermöglichen und den Barrikadenbau zu verhindern. Ein unerbittlicher Kritiker war – allerdings bedeutend später – Walter Benjamin, der die Haussmannisierung Paris’ so geißelte: „Der wahre Zweck der Haussmannschen Arbeiten war die Sicherung der Stadt gegen den Bürgerkrieg. Er wollte die Errichtung von Barrikaden in Paris für alle Zukunft unmöglich machen.“ (Benjamin 1982 c, V/1, 57) Jedenfalls waren diese neuen Straßen und die nun glitzernden Konsumtempel für die Frauen unverdächtiger zu bevölkern als die Städte zuvor. Saubere Boulevards, übersichtlich, orientierend und kontrollierend – und bestückt mit Warenhäusern, in denen die Frau nun als Konsumentin erneut von der Straße verschwand. Sie eilte ab jetzt nicht mehr als flüchtige Passantin vorbei, sondern schritt zielgerichtet in den modernen Markt, der, im Gegensatz zum alten Bazar, übersichtlich, fein, geordnet, attraktiv gestaltet war. Es ist symptomatisch, dass das Warenhaus von Beginn an weiblich konnotiert war. Kein Ort für Männer – und für den Flâneur schon gar nicht. Alles, was Letzteren ausmachte, war im Warenhaus verloren gegangen. So, wie das Warenhaus ein Ort der semiöffentlichen weiblichen Partizipation wurde, war es für den Stadtstreifer zum Tabu geworden. Er mied diesen durch Frauen bestimmten Ort. Sein Unbehagen resultierte aus den Auswirkungen dieses marktorganisierten Konsumplatzes auf seine bürgerliche Maskulinität. Das Warenhaus lief seinem Selbstverständnis zuwider. Für den Künstler-Flâneur war es notwendig, markante räumliche und visuelle Grenzlinien zwischen der männlichen Stadt- und der femininen Shopping-Welt zu ziehen. Er nahm nun die Attitüde eines sozusagen ästhetisch-angeekelten Außenseiters an, der sich von den Konsum­güterVerführungen fern hielt. Sein Begehren richtete sich auf ganz andere Räume und Dinge.

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Die Krise des Flâneurs In dem Maße also wie die Entwicklung der modernen, konsumorientierten, modebesessenen Stadt zu einer gewissen Emanzipation der bürgerlichen Frau beitrug, unterminierte sie das Selbstbewusstsein und den beobachtenden Blick des frei flottierenden Mannes: Seine männliche Autorität brach zwar nicht zusammen, war aber im städtischen Raum beschädigt. Der Flâneur wurde zu einem Exilierten. Die plötzlich aufgetauchte weibliche Konkurrenz im öffentlichen Raum irritierte und desorientierte den männlichen Stadtwanderer derart, so meine These, dass er in eine tiefe Krise stürzte, aus der er sich nie wieder erholte. Er musste ein Anderer werden: ein Sammler, ein Bewunderer exotischer, meist asiatischer Ästhetik. Nicht umsonst übte der Ferne Osten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Europa eine starke Faszination aus. Der „Japonismus“ wurde der Öffentlichkeit erstmals in größerem Ausmaß auf der Pariser Weltausstellung 1878 bekannt. (Die „Chinoiserie“ war schon fast ein Jahrhundert früher in Europa angekommen und hatte andere Gründe als der Enthusiasmus über japanisches Kunsthandwerk). Wie der Flâneur in die Krise geriet und welchen Ausweg er nahm, das argumentiert Ting Chan in ihrem Essay in einer überzeugenden Wendung: Der Künstler-Flâneur in seiner vollen Blüte entspricht bei ihr genau jenen Beschreibungen, wie sie sich in diesem und anderen Texten finden: „(…) the flâneur enters spaces where the familiar becomes strange, where the maps are abandoned and the guides discarded. (…) More often than not, the nineteenth-century male flâneur poses as a connoisseur, a skillful observer who dominates the spaces through which he moves with poise and detachment.“ (Chang 2006, 65) Hier ist seine Welt noch in Ordnung, er dominiert den ­öffentlichen Raum unangefochten. Und dann kommen die Frauen hereinspaziert, wenn auch in gezielter Form und, wie erwähnt, in die inneren Außenräume. Aber die Stadt hatte sich von diesem Moment an, als die glitzernden Konsumtempel und mit ihnen die Frauen auftauchten, verändert. Angeregt durch den Aufsatz von Ting Chang konstatiere ich diesen radikalen Wandel so: Der schlendernde Künstler-­ Flâneur verpuppte sich zum zwar enthusiastischen Asien-Reisenden – aber als rastloser Geschäftsmann, der den Asiatica-Preziosen hinterherjagt und sich seine neue Sammler-Rolle mit viel Geld erkauft. Ting Chang beschreibt im Folgenden die vier Männer zwar immer noch als Flâneure, nun aber immerhin als „anxious flâneurs“: „This essay examines a striking instance of the flâneur’s desire and fear of crossing that line (…), a tension heightened by the geopolitics of the world system. Con­ fronted by the complexity of the non-west, Théodore Duret and Henri Cernuschi, followed by Emile Guimet and Félix Régamey, refused to wander. Instead, each fell back on the reassurance of maps and guides.“ (ebd., 66) Ich dagegen sehe nicht nur im Wechsel der Aktivitäten: Reisen statt Flanieren den Untergang des Flâneurs, ­sondern auch in der beruflichen Rolle: Théodore Duret war Journalist und Kunstkritiker, Emile Guimet Industrieller und Forschungsreisender, Henri (oder Enrico) Cernuschi ein französischer Bankier, Ökonom, Politiker und Sammler. Lediglich

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Félix Régamey war Künstler, jedoch auch ein anderer, als es die „originalen“ Flâneurs waren: Er arbeitete als Karikaturist für Zeitschriften, später, nach seiner ­Japan-Reise, auch als eher ethnografisch inspirierter Zeichner und Aquarellist. Die Reise in die Fremde – offenbar häufig von einer in diesem Falle nicht erwünschten Desorientierung begleitet – kompensierte nicht den Flâneur, sondern ersetzte diesen durch einen ganz anderen, nun auch empirisch reisenden Mann. So wurde aus einem überwiegend metaphorisch als literarische Figur erfundenen männ­lichen Individuum der real Reisende und Sammelnde.

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WELLENBEWEGUNGEN ZWISCHEN INNEN UND AUSSEN Konsumstunde der Frauen Wie zuvor angedeutet, sind es selbstverständlich viele ineinander verstrickte Ereignisse und Prozesse, politische, ökonomische, soziale und städtebauliche, die das Ende des Flâneurs besiegelten. Und dennoch hatte diese veränderte Situation der Städte den einen endgültig in den Niedergang getrieben und die andere beflügelt, dem Heim – zumindest stundenweise – zu entrinnen. „By the last third of the nineteenth century the semipublic, semiprivate space of the arcades had been taken over by the department store. Women entered the public sphere as consumers, in the self-sufficient social microcosm of the department store that kept the city ­outside, at safe remove. ‘Window shopping’ was not random flânerie but directed ­toward consumption. Feminine flânerie became another mode of shopping, thus realizing the fears expressed by the artist-flâneur early in the century. This final twist, the metamorphosis of the flâneur into the flâneuse and the consequent banalization of flânerie, effectively ended the flâneur’s special relationship with the city.“ (Parkhurst Ferguson 1997, 113) Arkaden und Warenhäuser boten den Frauen einerseits genügend Gelegenheit, sich im öffentlichen Raum dennoch irgendwie in­ timer, geschützter zu bewegen, als vollkommen offen herumzustreifen – das wäre für die anständige bürgerliche Ehefrau und Mutter immer noch zu offensiv gewesen. Insofern waren die Warenhäuser ein Refugium gegenüber den älteren Einzelhandelsläden, in denen jeweils nur ein sehr begrenztes und einheitliches Warenangebot zum Verkauf stand: entweder Kleidung oder Kurzwaren oder Fleisch oder Backwaren etc. Nun war es den Frauen vergönnt, ausgiebig und auf mehreren Etagen herumzubummeln – und sich dem Konsum hinzugeben. „Warenhäuser öffneten einen kommerziellen und sozialen Raum ganz neuer Art. Sie boten eine Bühne für Inszenierungen der Warenwelt und faszinierten das Publikum als eine Art Welt­ ausstellung im Kleinen.“ (Osterhammel 2009, 341) Sie wurden zum „Paradies der ­Damen“, wie Emile Zola seinen Roman unter dem noch schöneren und präziseren Originaltitel „Au Bonheur des Dames“ veröffentlichte (vgl. Zola 2012). Das hatten die Erfinder und Geschäftsleute der neuen Warenhäuser gut erkannt: Der Erfolg hing an den Frauen, sie waren es, die das neue Einkaufen in neuer Architektur durchsetzten. „In der Blütezeit der Passagen zwischen dem Beginn und der Mitte des 19. Jahrhundert waren sie kein Raum für eigenständige weibliche ­Besucherinnen, für allein hindurchschlendernde Frauen. Das änderte sich, als die Warenhäuser, die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eröffnet wurden, den Passagen Konkurrenz machten. (…) Kaufen sollte zur respektablen Tätigkeit und zum kulturellen Ereignis und dadurch allgemein anerkannt werden. Die Geschäftsleute

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warben geradezu um die Frauen, sie propagierten das Konsumieren als Emanzipationsschritt von der häuslichen Umgebung hinaus in die Öffentlichkeit.“ (Dörhöfer 2007, 60) Die Ambivalenz ist klar: Der Einkaufsbummel in den strahlenden Einkaufshallen ermöglichte den Frauen ein wenig Selbstständigkeit und Bewegungsfreiheit, aber um den Preis der verschärften Verführung zum Konsum und zur ­Kapitalvermehrung der Warenhausbesitzer. Vom Schlendern im Inneren der öffentlichen Warenhäuser über den Schaufenster-Bummel des 20. Jahrhunderts bis zum (eingedeutschten) Shoppen in der Shopping Mall oder der Boutique: Die Konzepte des Kaufens haben eigenartige Wellenbewegungen durchlaufen, immer aber waren diese Bezeichnungen vorwiegend dem weiblichen Geschlecht eingeschrieben. Wenn wir uns einen Augenblick auf diese Aktivität in Deutschland konzentrieren, so verläuft diese Welle, grob und in großen Sprüngen gesprochen, von der semiöffentlichen Innerlichkeit (Warenhaus des 19. Jahrhunderts) über die Strategie des Durch-das-Schaufenster-in-denLaden-Blickens (besonders, wie nach dem 2. Weltkrieg, in den ärmeren Zeiten der 1950er- und 1960er-Jahre) wieder zurück entweder in die Intimität des Einzelladens oder in die, verglichen mit dem Warenhaus des 19. Jahrhunderts, größere und ­offener gestaltete Welt der sich nach innen öffnenden Shopping Malls.

Schaufenster-Bummel Der Schaufenster-Bummel, der im Englischen als „Window Shopping“ bekannt ist, trennte die auf der Straße schlendernden Menschen von der Ware via Schaufenster; das Fenster als Medium zugleich der Glücksverheißung und -enttäuschung: anschauen, aber nicht anfassen und nicht kaufen. Es ist bezeichnend, dass in der deutschen Sprache der „Bummel“ und im Englischen das „Einkaufen“ betont werden: Die Deutschen standen nach dem verlorenen zweiten Weltkrieg ökonomisch am ziemlichen Ende europäischer Haushalte. Deshalb fanden viele dieser Spaziergänge denn auch als Bummel, als Spaziergang erstens familiär und zweitens an Sonntagen statt. Gekauft werden konnte in Deutschland (und insgesamt in Europa) am Sonntag nicht, und das war gut so, denn das Geld war knapp oder nicht vorhanden. So war es auch nicht erstaunlich, dass sich, sofern existent, die gesamte Familie zum Schaufenster-Bummel in die Stadt begab: Frauen konnten nicht zum Kauf verführt werden, und der Verbleib vor dem jeweiligen Schaufenster war zeitlich relativ begrenzt, sodass die Geduld der Männer nicht allzu sehr auf die Probe gestellt wurde, und den Kindern konnte einsichtig erklärt werden, dass sonntags nichts zu kaufen war. Es ist klar, dass während der Woche ja durchaus eingekauft werden konnte. Aber der sogenannte Schaufenster-Bummel hieß deswegen so, weil eben die Dinge nur durch ein Medium, das Fenster, und nicht unmittelbar angeschaut wurden.

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Gleichwohl waren die Schaufenster so inszeniert (und manchmal lag es auch nur an dem Material), dass die Ware unvermittelt mit den Bummelnden verbunden wurde: Die Reflexion der Schaufensterscheibe verschmolz die Schauenden mit dem Objekt ihres Begehrens. Dies hat der Künstler Dan Graham schon 1979 sehr kritisch herausgearbeitet und in geometrischen Zeichnungen dargestellt: „A ‘good’ shop window, like a ‘good’ advertisement, organizes its selection of goods so that they appear to meet the (psychologically) unique needs of the person who gazes upon them.“ (Graham 1979, 53) Die Sehnsucht nach Dingen, die wegen ihres Preises unerreichbar waren, fand sich zweifellos bei allen Genders. Wenn wir uns allerdings in der damaligen Zeit die Läden und Kaufhäuser im Stadtzentrum vorzustellen versuchen, wird schnell klar, dass in den Schaufenstern überwiegend Mode zur Schau gestellt wurde, keine praktischen Haushaltsprodukte, und auch Autos oder Hobbywerkzeug standen nicht im Fokus dessen, was von außen beäugt werden konnte, sondern deutlich weiblich konnotierte Waren: Mode, Schmuck, Kosmetik; vielleicht manchmal noch amerikanisch inspirierte Haushaltgegenstände, die dann aber für die Masse genauso luxuriös und entsprechend unerreichbar waren wie die Mode. Die Blicke der Sehnsucht richteten sich ohnehin lediglich auf Luxuswaren, insbesondere eben Mode und alles drumherum, und nur von solchen Produkten ist hier die Rede. Denn die üblichen notwendigen Alltagseinkäufe sind zu keiner Zeit ein Grund zum Flanieren, Schlendern oder Bummeln gewesen.

Demonstrativ Neben den in Deutschland seit den 1950er-Jahren nicht mehr spektakulär gestalteten Kaufhäusern entstanden speziell in den 1960er-Jahren Boutiquen, in denen kleine Labels von durchaus experimenteller Qualität die biederen und Main­­­streamModewelten ergänzten und erschütterten. Es könnte behauptet werden, dass diese Zeit bis in die 1970er-Jahre hinein wahrscheinlich die einzige jemals war, in der die jener Protest- und Jugendbewegung zugehörigen Communities alle Genders erfasste und eine Art expressiver und expliziter Protest-Mode zur Schau trug. So öffneten sich hier die Räume von innen nach außen: Gekauft wurde in den manchmal nur Wohnzimmer-großen Läden – demonstriert wurden Mode wie A ­ ktionen im ­öffentlichen Raum, und das galt für alle Geschlechter. Unabhängig ­davon, dass in den meisten Fällen die Frauen noch auffälliger und kühner gekleidet waren, wählten doch auch die Männer sehr bewusst ihre Outfits, und sei es auch im „Gammler-­ Look“, wie sie von den gegnerischen Fraktionen denunziert wurden. Gender-Rollen begannen sich zu verändern, die klaren Grenzen zwischen Mode für Frauen oder Männer waren dabei zu erodieren, Jeans wurden zu allen Gelegen­heiten und von allen Geschlechtern getragen – neben seiner zu jener Zeit zeichenhaften

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­ ussagekraft zugleich ein praktisches Kleidungsstück, das bei der Partizipation an A Demonstrationen seine Strapazierfähigkeit vorzüglich unter Beweis stellte. Innen- und Außenräume wurde gleichermaßen von allen Aktivist_innen frequentiert, das zumindest war neu (wenn es allerdings auch keine egalitären Machtverhältnisse in der Nutzung der Räume bedeutete)8, idealtypisch verschmolzen Leben, Politik, Kultur, Studieren, Protestieren ineinander. Der Satz „Das Private ist politisch“ ging als emanzipatorischer Slogan auf die zweite Frauenbewegung in den späten 1960er- und 1970er-Jahren zurück, die damit sowohl die diskriminierenden Machtverteilungen zwischen Familien- und Erwerbsarbeit als auch die vergeschlechtlichten sexuellen Machtbeziehungen grundsätzlich kritisierten. Wenn das Private politisch ist, dann artikuliert sich darin die Forderung nach Durchbrechung der Mauern zwischen Privatheit und Öffentlichkeit; und die Öffnung ist eine, die den abgeschlossenen Privatraum potenziell enttabuisiert, demokratisiert.

Shopping Mall Die „Einkaufspromenade“, wie sie auf Deutsch heißen müsste, hat sich, von den USA ausgehend, in der ganzen Welt verbreitet, wobei Menge, Größen sowie Architektur und Design extrem variieren: Alte Gebäude wurden umgebaut, neue, zum Teil in enormen Ausmaßen, errichtet, von Billig-Malls bis zu Luxustempeln findet sich alles. Allerdings nicht überall: In Deutschland gibt es sehr wenige Prunk- und Pracht-Malls, verglichen insbesondere mit arabischen und asiatischen. Im Nahen und Fernen Osten sind die Shopping Malls mittlerweile vielfach zu eigenständigen, in sich geschlossenen Städten geworden – in ihnen ließe sich überleben, ohne sie jemals zu verlassen. Nicht nur Kleidung, Essen, Möbel, Pflanzen, Wellness- und Sportzentren versammeln sich unter einem Riesendach, sondern auch Arztpraxen und Therapieräume für Menschen und Haustiere. Eine bizarre, aber insofern bemerkenswerte Welt, als in Ländern wie Hong Kong, China, Taiwan, Japan die Mall den Sonntagsspaziergang (dort sind alle Geschäfte selbstverständlich sieben Tage à mindestens zwölf Stunden geöffnet) ebenso ersetzt wie den Ausflug ins Grüne, den Besuch bei Bekannten oder Familienmitgliedern, die Badeanstalt und das Konzert. Dort finden sich alle Menschen: alte und junge, Männer und Frauen, Familien mit Kindern etc. Hier werden alle Menschen irgendwie gleich, alles ist glitzernd 8

Ein besonders deutliches Beispiel für die ungleichen Machtpositionen, Zuständigkeiten für die unterschiedlichen Alltags- und Politikaktivitäten und Besetzungen von Räumen findet sich in dem Protest ­gegen die eigenen „Genossen“ des SDS: Die Rede der Filmemacherin Helke Sander als Mitglied des „Aktionsrates zur Befreiung der Frauen“ auf der 23. Delegiertenkonferenz des „Sozialistischen ­Deutschen Studentenbundes“ (SDS), Frankfurt, 13.09.1968. Vgl. Sander, Helke: 100(0) Schlüsseldokumente zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, Bayerische Staatsbibliothek, München. www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0022_san&object=translation&st=&l=de (Zugriff 28.09.2016).

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sauber, niemand wird belästigt, Diebstahl ist selten; und selbst Menschen, die arm sind, können sich hier aufhalten, denn es gibt Parks, Springbrunnen und Bänke in den Innenräumen und den auskragenden Terrassen, die nichts kosten. In gewisser Weise, absurd genug, herrscht hier eine geschlechter- und sozial-egalitäre Atmosphäre, die sich in anderen urbanen Plätzen und Räumen so gut wie nie findet. Zugleich aber müssen diese protzigen, vor Konsum berühmter und überall angebotener Brands überbordenden Orte kritisiert werden, denn sie zerstören ­Urbanität, die Vielfalt der Dinge und Räume. Der zum Kalauer umformulierte Satz Descartes’: „I shop, therefore I am“, gewinnt angesichts solcher Shopping Malls eine unheimliche Realität. Das u. a. von dem berühmten holländischen Architekten Rem Koolhaas initiierte Projekt „The Harvard Guide to Shopping“ formuliert das Problem drastisch: „SHOPPING is arguably the last remaining form of public activity. Through a battery of increasingly predatory forms, shopping has infiltrated, colonized, and even replaced, almost every aspect of urban life. (…) The voracity by which shopping pursues the public has, in effect, made it one of the principal – if only – modes by which we experience the city.“ (Chung et al. 2002, Klappentext) Das klingt klug und kritisch und fokussiert die Funktion der zeitgenössischen Innenstädte auf ihren paradoxen Kern: die Privatisierung des öffentlichen Raumes, der aber Menschen anziehen soll, ihn als Stadt, nun reduziert auf die einzige Aktivität Shopping, in ihrer Freizeit zu begehen. Jedoch, so müssen wir sogleich einschränkend hinzufügen, ist Koolhaas ideologisch und doppelzüngig, denn er selbst entwirft und baut mit seinem Architekturbüro „OMA“ Shopping Malls. Als neueste wurde die ehemalige alte Post, der „Fondaco dei Tedeschi“ in Venedig, vor Kurzem eröffnet (vgl. OMA Office Work Search o. J.; Felgendreher 2016; Howarth 2016). Der Umbau dieses zuvor in venezianischem Besitz befindliche große und sehr bekannte Gebäude war dann auch sehr umstritten und wurde von Protesten begleitet. Nun hat OMA seine Pläne für das ­Redesign des auf dem europäischen Kontinent größten Warenhauses „Kaufhaus des Westens“ (KaDeWe) in Berlin vorgestellt, das von einem feinen, traditionellen Warenhaus des späten 19. Jahrhunderts in eine viergeteilte Shopping Mall mit vier untereinander verbundenen Shops, „Quadranten“ genannt, und vier separaten Eingängen verändert werden soll. (Vgl. u. a. Frearson 2016, Hoffmann M. 2016.) Ein analytischer Blick auf diese vielfach aus dem Boden schießenden neuen Shopping Malls erhellt, dass deren Architektur und Gestaltung sich erstaunlich traditionell des alten Konzepts des 19. Jahrhunderts bedienen und lediglich ihr Intérieur zeitgemäß darstellen: Ganz altmodisch und entsprechend uninspiriert werden noch einmal Tempel und Bühnen inszeniert – weder aber für den Flâneur noch für die Passante, die beide endgültig verschwunden sind, sondern ganz banal für ­in­strumentalisierte Kund_innen jeden Geschlechts. „Der Passant – das ist nicht nur einer, der vorübergeht, er ist auch der, dem nichts mehr zustößt, auffällt (…). ­Dieser nach allen Seiten hin durchlässige Passant (…) ist an die Stelle des Flaneurs getreten (…). Wesentlich für den Passanten ist, daß er vorankommen will; er will

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weiter, fort, an einen anderen Ort, irgendwohin.“ (Ortheil 1986, 30) Gleichheit wird durch Gleich-Gültigkeit erzeugt, indem alle unterschiedslos zu potenziellen Konsument_innen gemacht werden (auf die Paradoxie dieser Gleichheit wurde ja oben schon hingewiesen).

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DAS PROJEKT: FANDALISMUS – EINE INTERVENTION IM ÖFFENTLICHEN RAUM 9 Reclaim the Streets Es ist nicht erstaunlich, wenn diese „Shoppingmallisierung“, die ja einhergeht mit einer zunehmenden Privatisierung des öffentlichem Raums, Gegenbewegungen provoziert. Wie Versuche einer intelligenten Neuaneignung des öffentlichen Raumes gestalterisch umgesetzt und wie dabei sogar Objekte und Aktionen, die gemeinhin mit Vandalismus in Verbindung gebracht werden, subversiv uminterpretiert werden können, verdeutlichen kurze Auszüge aus dem Projekt „Fandalismus“. Die Neu- und Rückeroberung des öffentlichen Raumes geschieht heute mit zum Teil sehr anderen als den bekannten Formen früherer Jahrzehnte. Aktivist_innen sind nun am Werk, die die temporäre Umnutzung der Stadt zum Zwecke der Re-Demokratisierung anstreben. Die ihren – wenn auch manchmal ungezielten – Protest gegenüber der herrschenden Macht ausagieren, die ihnen und anderen die Stadt enteignet hat. Menschen also, die den öffentlichen Raum für Momente seiner überbordenden, kapitalistisch aufdringlichen Zeichenhaftigkeit entreißen. „Einst war die Stadt vorrangig der Ort der Produktion und Realisation der Ware (…). Heute ist sie vorrangig der Ort der Exekution des Zeichens“, schrieb Jean Baudrillard bereits in den 1970er-Jahren (Baudrillard 1990, 214). Seine Kritik richtet sich gegen eine entleerte Großstadt, in der Architektur und Urbanismus zu puren Massenmedien verkommen seien, und, obwohl voller Menschenmengen, spricht er von einem bis in die Peripherie verlängerten „leeren Zentrum“ (Baudrillard 1992, 29–38). Diese Leere wird heute dicht gefüllt mit privaten Einkaufs- und Fress„Paradiesen“. ­ Gegen die den städtischen Raum okkupierende und ihn zum Ver­ schwinden bringende Starbuck-isierung, Shoppingmallisierung, Überwachungs­ video-isierung, Kübelgrün-isierung etc. agieren nämlich diverse Individuen, die sich längerfristig zu einer neuen urbanen Bewegung entwickeln könnten. Sie ergreifen ebenso intelligente wie leichtfertige und -füßige Gegenmaßnahmen: Eine neue Generation von urbanen Interventionist_innen greift längst vielfältiger in den städtischen Raum ein, als es die allseits bekannten Graffiti-Sprayer vermuten 9

Diese Straßenaktion fand auf dem Kölner Neumarkt statt und ist bisher noch nicht dokumentiert ­worden. Die gesamte Recherche und Dokumentation (mit anderen Gestaltungsbeispielen) finden sich als Publikation: Brandes, Uta (Hg.): Von Vandalismus zu Fandalismus, Köln 2009 (Walther König). An ­Projekt und Buch waren folgende zum damaligen Zeitpunkt allesamt Studierende beteiligt: Jan Anfang, ­Alexandra Brücher, Svenja Brüggemann, Nele Chilinski, Pina Dietsche, Judith Dörrenbächer, Jakob Florczyk, Andreas Gruyters, Fionn Krämer, Josef Kril, Kirsten Luley, Michael Marx, Nina Monssen, ­Johannes Schott und Marco Siegl.

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l­assen: Neben dem geheimnisumwobenen, seine Identität publicityträchtig verschleiernden englischen Aktionisten Banksy (vgl. z. B. Banksy 2015) wird die Stadt als „dreidimensionale Leinwand“ begriffen oder in der Kunst als „skulpturaler ­Unfall“ inszeniert, wie der polnische Künstler Krystian Czaplicki (vgl. z. B. Krystian „Truth“ Czaplicki) seine Aktionen sehr plastisch beschreibt. Der US-Amerikaner Mark Jenkins provoziert mit lebensgroßen Klebeband-Figuren als Bettler oder Leichen (vgl. z. B. Jenkins), Filthy Luker verpasst Baumkronen Augen, sodass sie sich in riesengroße Gesichter verwandeln (vgl. z. B. Egan). Auffällig bei der – meist illegalen – Streetart ist, dass sie fast ausschließlich männlich ausgeübt wird. Nicht alle urbanen Interventionen und Protestaktionen werden also von allen Geschlechtern ausgeübt. Die Form der Aktivitäten bestimmt denn doch, ob sie eher männlich oder weiblich konnotiert sind. Auch bei anderen Aktionen und Interventionen finden sich überwiegend männliche Jugendliche und junge Erwachsene: Sportliche Eingriffe in und Umwidmungen von Straßen wie Skateboarding, Parkour, MTB Tricks, gesprühte oder belichtete Graffiti sind klar männlich dominiert. Wir könnten durchaus formulieren: Je illegaler der öffentliche Raum bespielt wird, desto eindimensional männlicher wird er. Viele dieser Aktionen werden von städtischer Bürokratie (und auch manchen Bürger_innen) als vandalistische Aktionen gebrandmarkt. Vielleicht aber toben sich hier gar keine Vandalen aus – die es übrigens als Metapher nur im männlichen Genus gibt –, sondern hier sind Raumpirat_innen am Werk, die den privatisierten Raum in die Öffentlichkeit für alle rückverwandeln wollen. – Wir haben unseren ­Aktionen deshalb den nur durch einen Buchstaben veränderten Begriff „Fandalismus“ gegeben. Die hier vorgestellten und auch andere Interventionen vereinen relativ un­ problematisch alle Geschlechter – diese Aktionen changieren zwischen Spaß, bewusstem Nonsens und politischen Artikulationen. Vielleicht auch deswegen, weil es – im Gegensatz zu den Protestaktionen der 1960er- und 1970er-Jahre – keine­ ­ausgemachten Anführer oder sich besonders produzierende Rhetoriker gibt, engagieren sich die unterschiedlichsten jungen Menschen in Straßenaktionen. Insofern könnten wir diesen öffentlichen Treffen durchaus demokratischere und geschlechts­ egalitärere Strukturen unterstellen als gemeinhin. „Die Räume und Orte widerspenstiger Alltagspraxen sind (…) keine Inseln der Glückseligkeit, die sich im kontextfreien Raum bewegen. Sie sind stattdessen tief in die aktuell herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse und Strukturen verstrickt. Widerspenstig sind diese Praxen insofern, weil sie Orte schaffen, die die gesellschaftlichen Verhältnisse herausfordern und zu überwinden trachten.“ (Sauer 2016, 9)

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DAS PROJEKT: INVADING ANOTHER’S PERSONAL SPACE Chi Yan Louise Yau

Introduction According to Oxford Dictionaries, one of the meanings of conflict is a state of mind ‘where a person experiences a clash of opposing feelings or needs’ (Oxford English Dictionaries). Conflict is a tension that lasts for a relatively long time and can vary from being experienced internally to tension between an individual and their environment. This study was designed as an experiment to measure the relationship between the dimensions of space on the one hand and the level of conflict in relation to gender on the other. The findings aim at providing a more diversified viewpoint not only by analysing but also describing the feelings related to the tension inherent in conflict.

Personal Space Personal space can be defined as an ‘environmental and psychological concept (…) as that emotionally tinged area that people desire to maintain around themselves and that they feel is their space’ (Spielberger 2004, 805). A toilet, for example, is an area of intimacy and comfort. An individual dominates the area and becomes aware of any intruder who attempts to access their personal space. Discomfort, anxiety or anger are some of the reactions that may be experienced when one’s personal space is invaded by others (see Hall 1966, 118). The level of conflict can vary depending on different aspects, an important one of which is gender. The experiment by Fisher and Byrne suggests behavioural differences between men and women (see Fisher/Byrne 1975, 15–21) which, of course, are not restricted to physical distinctions (see Money 1955, 253–264).

The Experiment The setting The experiment was designed as an invasion of personal space in order to examine the level of conflict caused by gender differences. It took place in two bedrooms

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­ ecause the bedroom is a genuine space of personal intimacy. A male and female b participant were asked to swap bedrooms with each other, and observe their respective reactions as they assumed the role of invader (see Fig. 1a & 1b).

The tasks Both ‘intruders’ were asked to stay in each other’s bedroom by themselves for 4 hours. During this period they were allowed to access anything in the room. This was done to provide full authority to the invader and to observe how they would ­interact with a space owned and usually inhabited by somebody else. Both received a worksheet (see Fig. 2) and were asked to: • Take photos of the things that made them feel uncomfortable and describe the feeling • Rearrange the room to their preference and take before and after photos • Create a floor plan of how they would design and furnish the room • Record how long they stayed in the room and when they left the room • Record the things they were doing while in the room This was followed by individual discussions. The first and last task in the above list were to provide material for the subsequent discussions with the probands. The aim of the rearranging task was to examine how the invaders treated the space and what their reactions were. The purpose of setting the duration was to challenge the participants’ level of discomfort since they might have left the room earlier in order to avoid the feeling of being an intruder.

The Findings Types of conflict After the experiment and discussions, the findings were divided into three different levels: • The intrapersonal level: How did the individual’s role and emotions changed during the time they stayed in another’s room?

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• The interpersonal level: How did their interactions change in a space owned by someone else? • The technological level: How did they handle the objects in the space? • Finally, by comparing the levels of conflict with the discussions:Which were the most critical and crucial factors related to gender?

Intrapersonal level, from discomfort to comfort Although both invaders showed signs of discomfort at the beginning of the experiment, the feeling was not too unpleasant and did not last long. The record of the female invader showed that she felt more comfortable and familiar with the space once her behaviour changed from passive to active. The male invader recalled that he was determined to make himself comfortable in the bedroom right away. By contrast, the female invader initially stood motionless close to the door and looked around. Both felt uncomfortable, but the man chose to take an active role in order to become more relaxed, while the woman was rather reserved and cautious. That’s why she first looked around for a while, and only later decided where to sit down. According to the list of things they did (see Fig. 3a and b), the female invader took more time to release tension and she also experienced a significant change of emotions. She took photos three times. The first time she didn’t touch anything because she was still in the stage of observing and felt uneasy about being in someone else’s bedroom. The second time she started to open the drawers (see Fig. 4), and the last time she touched some personal belongings in the bedroom. By indicating her respective positions on the floor plan (see Fig. 3a), the woman’s different activities over time could be identified. She noted that she first stood next to the door, which she considered as the safest and most distant location in the space, then she moved to the sofa, the social area for guests, and eventually sat down on the bed, which was the most intimate place in the room. This indicated an attitude of slow and cautious appropriation of another person’s personal space: from feeling strange and unsure to adopting the space. According to the worksheets recording the time the invaders spent in each ­other’s bedroom, neither of the participants showed strong feelings of discomfort, which would have driven them to leave the room earlier than agreed. Overall, neither of the invaders had strong internal conflicts and were able to overcome the discomfort they experienced during the experiment. Moreover, there was no significant evidence showing that their conflicts were related to gender ­differences.

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Interpersonal level, from passive to active According to the rearrangements both invaders undertook during the experiment, the results were not only due to gendered stereotypes but also to personal preferences. Some rearrangements were made only to remove physical obstacles: The male invader adjusted the height of the ceiling lamp after he banged his head (see Fig. 5a), and the woman moved the table because it blocked her way when she walked around (see Fig. 5b & 5c). The female invader adjusted the table lamp: ‘It looks nicer when the light reflects on the mirror ball’ (see Fig. 6) and she had no problems with changing the light which, to a certain extent, is considered a ‘man’s job’. On the other hand, the man tidied up the bed (see Fig. 7a & 7b) and decorated the room (see Fig. 7c) explaining, ‘I like to make the bed, and I think the bedroom was too cold’. This was also contradictory to the common stereotype of women being responsible for keeping the home tidy and warm.

Technological level, from neutral to gendered Besides the room itself, the artefacts in the room also played an important role. By analysing the photos made by the two participants, as well as their discussion, we could identify a strong gendered perception with regard to objects that made them feel uncomfortable. Throughout the experiment, neither of the invaders had any problem with handling the lamps, television or bed, i.e. common objects present in both bedrooms. The male invader even switched on the television to make himself comfortable right after he entered the room. Obviously and naturally, both invaders would find objects that existed in both bedrooms more accessible and familiar. However, during the discussion, the male invader mentioned he wanted to, but did not, touch the accessories (see Fig. 8) that he considered ‘girl’s stuff’ because he thought it would have been inappropriate. By contrast, the female described the knives (see Fig. 9a) and tools in the toolbox (see Fig. 9b) she found in the room as ‘dangerous’ and ‘vicious in a room like that’. In addition, she also found the knitting wool (see Fig. 9c) weird as it ‘does not belong to a boy’. In the end, both invaders did not touch any of those objects they rated as belonging to the opposite gender. Although none of the objects was supposed to be sexually powerful, the ‘features in the design or arrangement (…) could provide a convenient means of establishing patterns of power and authority (…).’ (Winner 1986, 38) The analysis suggests that both individuals assigned gendered characteristics to certain artefacts, which further affected their own behaviour and perception when handling them. This explains why neither of the participants touched the objects they associated

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with the opposite gender since this might have confused their perceived gender roles.

Conclusion The experiment revealed that conflicts related to gendered interpretation in personal spaces are mainly the result of the objects in the space, not of the space itself. Even though the intimate space belonged to someone of the opposite sex, the invaders were, to a certain extent, still able to quickly make themselves quite comfortable – although this required a certain degree of rearranging in order for the space to better fit their respective ideas of well-being. Nevertheless, when the woman and man accessed the objects of the other, there was a clear difference, in terms of gendered perception, about what to touch and what not to touch. Certainly, the question as to whether each object is built for a specific gender will require further research. However, the study by Kalyn Schofield suggests: ‘As gender is preformed, the act of using technology becomes a given male characteristic, which is reinforced through the lack of female participation’ (Schofield 2009). Clearly, both cultural and social issues also have to be taken into consideration. We can only be aware of gender differences by identifying the reasons behind specific attitudes and behaviours, e.g. how individuals handle their personal space and objects. The concept of carefully analysing spaces belonging to different genders can contribute to uncovering gender stereotypes and thus support gender ­diversity.

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1a  Female’s bedroom for male invader

1b  Male’s bedroom for female invader 2  Worksheet: Sample of the tasks

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3a  Task worksheet ­ ompleted by the female c invader

3b  Task worksheet ­ ompleted by the male c invader

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4  Photo taken by female invader showing she started opening drawers

5a  Photo taken by male invader s ­ howing he fixed the height of the ceiling lamp

5b  Photo taken by female invader showing the position of the table before she moved it

5c  Photo taken by female invader s ­ howing the position of the table after she moved it

DAS PROJEKT: INVADING ANOTHER’S PERSONAL SPACE  115

6  Photo taken by female invader s ­ howing the rearrangement of the table lamp

7a  Photo by male invader showing the bed before he tidied it up

7b  Photo taken by male invader s ­ howing the bed after he tidied it up

7c  Photo taken by male invader s ­ howing the wall after he decorated it

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8  Photo taken by male invader s ­ howing the woman’s accessories

9a  Photo taken by female invader showing the knife

9b  Photo taken by female invader showing the tool box

9c  Photo taken by female invader s ­ howing the knitting wool

DAS PROJEKT: INVADING ANOTHER’S PERSONAL SPACE  117

NOWHERE/EVERYHERE NETZE Ubiquitär Ohne auf das weitgreifende Thema spezifisch einzugehen, muss doch kurz auf dieses relativ neue Phänomen eingegangen werden, das mit keiner vorherigen Bewegung vergleichbar ist und das Innen-Außen-Verhältnis zwischen Menschen und Räumen noch einmal ganz anders verschwimmen lässt. Denn das Netz und die neuen sozialen Medien sind überall – zeitlich und räumlich ubiquitär. Insofern wäre das Gegenteil ebenso wahr: Wenn ein Netz sich jederzeit über alles spinnt und das noch unsichtbar geschieht, ist es genauso gut nirgends. Dieses Paradoxon erinnert an das der Geschwindigkeit, das ja auch für die entwickelten Medien gilt. Geschwindigkeit im Kontext von Sozialität und Macht, das wissen wir spätestens seit dem Geschwindigkeitstheoretiker Paul Virilio (vgl. Virilio 1978 & 199210), fällt irgendwann mit dem „rasenden Stillstand“ zusammen. Computer und Smartphone sind nur noch eigentlich nutzlose Hüllen, die die wahre quantitative und qualitative Macht des Netzes, der Software, lediglich ummanteln, bis zukünftige Technologien die körperliche Bedienung, etwa mit den Händen, überflüssig machen werden. Bewegung ist allein in den Daten, Orte sind unerheblich, das Individuum ist still gestellt. Es hat keinen Ort, nirgends, um einen Titel von Christa Wolf zu paraphrasieren (vgl. Wolf 2002), und es hat auch keine Zeit in doppeltem Sinne: Zeit ist aufgehoben, und die neuen Medien hetzen die Menschen zur permanenten Erreichbarkeit. Das ist erst einmal für alle Geschlechter gleich. Ob gespielt, gearbeitet, herumgesurft, fotografiert oder – absurd genug – Orientierung gesucht wird: Niemand kann sich diesen zwischen Zwang, Interesse, Lust und Sucht changierenden unkörperlichen Aktivitäten entziehen. Die Allgegenwärtigkeit des Internets hält aber noch andere Widersprüche ­bereit. Etwa bei der Orientierung: Einerseits können alle permanent und überall orientiert sein, weil sie ja nur auf ihr Smartphone schauen und ihren Standort angeben müssen, um zu wissen, wo sie sind oder wo der erwünschte Weg verläuft. Das führt andererseits dazu, dass die Umgebung, wie sie sich als situierter Raum dem Auge darbietet, häufig nicht mehr in Übereinstimmung mit dem digitalen – also dem nicht naturalistischen – Bild ist. Oder aber andersherum: Durch die allgegenwärtige und gewohnte Präsenz der virtuellen Orientierung finden sich Menschen ohne ihre Smartphones kaum noch zurecht, weil sie die Umgebung, in der ihre 10 Virilio, Paul (1992): Rasender Stillstand, München/Wien (Hanser). Im französischen Original ist der Titel verrätselter und suggeriert eine etwas andere Richtung: Vgl. L’Inertie polaire, Paris 2002 (Christian ­Bourgois), also entweder eine polare (im Sinne der beiden Erdpole) Trägheit oder eben eine unvereinbare, aber aufeinander bezogene physikalisch-technische Trägheit.

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­ örper sich aufhalten, ohne ihre Geräte nicht mehr lesen können. Die Frage, inwieK weit Geschlechter-Habitualisierungen in Orientierung besser oder schlechter eingeschrieben sind, nimmt offensichtlich desto mehr an Bedeutung ab, je mehr die Orientierung über digitale Artefakte zu gewinnen versucht wird. Gender kommt dann als Besonderheit ins Spiel, wenn von den einen Inter­ aktionen und Interfaces gestaltet und programmiert und von den anderen angewendet werden. Stichworte wie HCI, UX, IX, IoT (um nur wenige zu nennen, vgl. u. a. Bardzell/Bardzell 2011, 675–684; dies. 2016, 1–7; Marsden/Kemp 2014) müssen auch unter Genderaspekten analysiert werden. Hinzu kommen die kontrovers diskutierten Konstrukte über Robotik und alles, was mit „Cyber-“ zu tun hat: Cyberspace und Cyborgs z. B. sowie die Diskussionen um feministische Technikkritik. (Vgl. u. a. Bath 2012; Haraway 1995, 33–72; Lübke 2005.) Da dieses Kapitel jedoch ­öffentliche und private Räume in Bezug auf Gender zum Thema hat, wird dieser ­Aspekt hier nicht untersucht.

Digitales Verstecken Nur ein Zitat möchte ich anführen, das sich mit dem (Nicht)Ort des Versteckens im Internet auseinandersetzt: „Frauen verstecken Daten auf dem Computer, indem sie die Ordner umbenennen und diese Ordner in einen Überordner legen. Männer verstecken Daten auf ihrem Mobiltelefon oder Computer, indem sie es oder ihn mit einem Passwort schützen, die Daten als unsichtbar programmieren.“ (Shapiro 2013, 23) Private Dinge bzw. Daten auf einem öffentlich leicht zugänglichen (oder zu hackenden) Datenträger zu verstecken, verschmilzt das Öffentliche mit dem ­Privaten in einer neuen, eben virtuellen Dimension. Und selbst wenn es zweifellos erweiterter Recherche bedarf, um das von Anna Shapiro festgestellte differente Gender-Verhalten zu überprüfen: Als These ist es bedenkenswert. Die unterschiedlichen Formen des Versteckens scheinen substanziell. Wenn wir auf Michel de ­Certeau zurückgreifen, wäre das männliche Verstecken, das öffentlich zum Verschwinden gebrachte Geheimnis als Strategie zu begreifen: eine ableitungslogisch funktionale und funktionierende Kette der „Programmierung“, die in gewisser Weise dem Manual folgt und das Erwartbare als Mainstream-Wissen anwendet. Denn es ist davon auszugehen, dass die männliche Strategie das Geheime mit einem nicht naiven und von daher nicht (leicht) zu erratenden Passwort erfolgreich schützt. Das weibliche Verstecken hingegen wäre als gestalterische Taktik zu interpretieren: Sie täuschen und tarnen, führen den Eindringling auf zwei falsche Fährten, indem sie als ersten Schritt das eigentlich Relevante unter einem Ordnernamen verstecken, der inhaltlich vermeintlich auf etwas ganz anderes verweist. Und dieser Ordner befindet sich im zweiten Schritt in einem Überordner, der, so steht zu vermuten, unter einer besonders harmlos-naiv klingenden Benennung fungiert.

NOWHERE/EVERYHERE NETZE  119

NÄHE UND FERNE ZWISCHEN KÖRPERN IM RAUM Physischer und sozialer Raum Ich berücksichtige hier nicht die zahlreichen Architektur- und Stadtplanungskonzepte (vgl. u. a. Löw 2001; Löw et al. 2007; Löw 2008; Imboden et al. 2000; Schroer 2005; Harth o. J.) – das wäre ein anderes Thema –, möchte aber dennoch kurz die unmittelbar aus dem Design heraus entstandene „Spaziergangswissenschaft“, später zur „Promenadologie“ geadelt, erwähnen (vgl. Burckhardt 2011). Lucius Burckhardt hatte sich mehr als 50 Jahre lang mit der Landschaft beschäftigt und den Umbau der Städte in der 1950er- und 1960er-Jahren kritisch begleitet. Seit den 1980ern verschrieb er sich leidenschaftlich der Promenadologie, in der er sich mit den veränderten Erinnerungsbildern beschäftigte, die wir von unserem Durchqueren der Landschaft per moderner Mobilität im Kopf zurückbehalten. Es vermischen sich so der physikalische mit dem sozialen und dem imaginären Raum. Die Spaziergangswissenschaft leidet, von heute aus betrachtet, ein wenig unter dem schwachen Momentum einer Idealisierung des „Natürlichen“ der Landschaft, des Verlustes eines einmal besser Dagewesenen. „Landschaft wahrzunehmen muß gelernt sein. (…) Unser Kulturkreis wurde befähigt, Landschaft wahrzunehmen, weil die römischen Dichter, weil die Maler der Spätrenaissance, weil die englischen Landschaftsgärtner Landschaft darzustellen verstanden. (…) Diesen Lernprozeß müssen wir aber auch individuell durchmachen. (…) Aber natürlich sieht jeder nur, was er zu sehen gelernt hat.“ (Burckhardt 1988, 273) Zu den Stärken gehören indes die dem Design typische Verknüpfung der Analyse mit der praktischen Aktion: Spazierengehen als Experiment „im Feld“, um die Veränderungen nachzuzeichnen. „Wir führen eine neue Wissenschaft ein: die Promenadologie oder Spaziergangswissenschaft. Sie gründet sich auf die These, dass die Umwelt nicht wahrnehmbar sei, und wenn doch, dann auf Grund von Bildvorstellungen, die sich im Kopf des Beobachters bilden und schon gebildet haben.“ (Burckhardt 1994) Burckhardt bemüht sich – vielleicht der letzte Versuch? –, den Flâneur (den es nach meiner Einschätzung eben nicht mehr geben kann) in den veränderten urbanen und landschaftsgestaltenden Strukturen mit den an Autos und Flugzeuge gewohnten Menschen durch bewusstes Wahrnehmen wenn schon nicht zu versöhnen, so doch einigermaßen zu balancieren. Insofern aber bleibt sein Konzept ganz deutlich dem männlichen Spaziergänger verhaftet, der weibliche Blick des Gehens sowie dieses Gehen selbst sind in der Promenadologie schlicht nicht existent. Raum erschöpft sich eben nicht in der Analyse seiner „neutralen“ physisch-­ materiellen Verfassung, sondern weist stets zusätzliche Aspekte auf, die die in ihm stattfindenden sozialen Handlungen und seine Wahrnehmung beeinflussen.

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„Die Kategorie Geschlecht übernimmt die Funktion der Positionierung von Menschen im sozialen Raum; sie hat den Status eines sozialen Platzanweisers.“ (Bub­ litz 2002, 93) Gingen die antiken Vorstellungen eines Aristoteles bis zu einem Isaac Newton noch von einem absolutistischen Raumverständnis aus, in dem der Raum eine Art neutraler, geschlossener Behälter, ein Container und damit dualistisch von Körpern vollkommen getrennt ist (unabhängig davon, ob der „Behälter“ leer oder voll ist), verbindet das relativistische Raumdenken späterer Zeit (Leibniz u. a.) den Körper mit dem Raum, sodass Raum sich erst mit und durch Handlungen herstellt, ­damit also ein Beziehungsgeflecht konstruiert wird. Lefèbvre hatte sich an einem dreigeteilten Raumkonzept versucht: Die „räumliche Praxis“ setzt Raum bereits voraus, aber durch dessen praktische Aneignung wird er auch kontinuierlich (re)produziert, und er will entziffert, wahrgenommen werden. Die „Raumrepräsentationen“ stellen den „konzipierten Raum“ dar, der von den Spezialisten „zerschnitten“ und zu einem Zeichensystem geformt wird. Die „Repräsentationsräume“ schließlich versteht er als „gelebten Raum“, jedoch als ­einen, der durch Bilder und Symbole vermittelt ist (Lefèbvre 2006, 335). Diese ­Dreiheit von Wahrgenommenem, Konzipiertem und Gelebtem geht allerdings nicht harmonisch ineinander, sondern gebärdet sich widersprüchlich, da die Beziehung zwischen Objekt und Mensch im Raum sich ständig verändert, nichts Festes ­darstellt. Giddens etwa hebt hervor, dass Raum als Ortsbezogenheit nicht über seine Materialität oder über seine geografische Präsenz Relevanz und Sinn erhält, sondern ein Ort ist, der sich über das Soziale, das in oder auf ihm geschieht, realisiert (vgl. Giddens 1995). Martina Löw schließlich präsentiert das relationale Raummodell: Sie analysiert Raum als eine relationale Platzierung sozialer Güter und Lebewesen: „Erstens konstituiert sich Raum durch das Platzieren von sozialen Gütern und Menschen, bzw. das Positionieren primär symbolischer Markierungen, um Ensembles von Gütern und Menschen als solche kenntlich zu machen (…). Dieser Vorgang wird im Folgenden Spacing genannt. (…) Es ist ein Positionieren in Relation zu anderen Platzierungen (…). Zweitens bedarf es zur Konstitution von Raum aber auch einer Syntheseleistung, das heißt, über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse werden Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst.“ (Löw 2001 b, 158/159) Dieser „entwickelte Raumbegriff“ (ebd., 156), der hier noch erstaunlich verdinglicht gegenüber den Menschen generell erscheint, indem sie im Raum zusammen mit Gütern gebündelt werden, klärt sich in späteren Arbeiten spezieller, wenn sie Gender im sozialen Raum diskutiert: „(…) in perceiving through our bodies, we form syntheses in our everyday activities as a means of linking together a great multiplicity of objects to form spaces. In so doing, the body leads a noteworthy double existence. It is not only the medium of perception but is itself a placed object. As such it is staged, styled, genderized, permeated by ethnic constructions,

NÄHE UND FERNE ZWISCHEN KÖRPERN IM RAUM  121

thus becoming a highly precarious ‘building-block’ of spaces.“ (Löw 2006, 120 f.) Löw verwendet hier bewusst „Körper“ anstelle des abstrakten Begriffs „Menschen“. Die Körper sind immer beides: Wir nehmen mit dem und durch unseren Körper wahr, aber dieser ist immer schon vergeschlechtlicht und platziert – wir könnten auch verschärft formulieren: objektifiziert den Blicken anderer ausgeliefert: „a placed object“. Und diese Positionierung im öffentlichen Raum zieht unweigerlich Blicke nach und auf sich, wie Löw am Beispiel eines der Aufmerksamkeit besonders zugänglichen Ortes und den dort stattfindenden Aktivitäten westlicher Kultur – dem Strandleben – erläutert, an dem sich Menschen unterschiedlichen Geschlechts freiwillig entblößen. Und dennoch sind die Formen, wie die Geschlechter aufeinander in dieser Situation reagieren, durchaus different. „In perceiving and placing, we create spaces. (…) When boundaries are crossed by gazes, by touches, by invasion, by language, etc., or when different spaces do not coexist in harmony, it is ­social power and domination that take over. On closer examination, the act of perceiving-while-linking can be shown to be pervaded by gender. In mixed-gender, heterosexual contexts at least (and these constitute the majority of social contexts) perception falls into two positionings: the male-coded gaze and the female-coded intuitive sense for placings.“ (Löw 2006, 128) Einmal mehr (wie bereits bei dem Verhältnis des Flâneurs gegenüber der Passante erwähnt) schlägt der „male coded gaze“ zu, während bei Frauen die hier intuitiv verortete Platzierung geschieht: Der männliche Blick zielt als „exzentrischer“ auf ein äußeres, anderes Körper-Objekt und steht damit im Kontrast zum weiblich-„konzentrischen“ nach innen, auf sich selbst gerichteten Blick – eine Form von Körper-Schutzmaßnahme. Manchmal aber kann dieses weibliche Sehen auch der Exponierung des eigenen Körpers gelten. Eine „genderization of spaces (…), eine, „genderization of perception“ (Löw 2006, 119) – und eine Vergeschlechtlichung der Aktionen, wie ich hinzufügen möchte – ergibt sich jedoch in beiden Fällen: Das weibliche Sehen bleibt bei sich selbst, am eigenen Körper, das männliche mäandert außen-orientiert.

Der zweidimensionale Körper Wenn ich soeben vom weiblich-„konzentrischen“ Blick schrieb und dabei, neben der unbewussten Intention, den eigenen Körper vor den Blicken anderer schützen zu wollen, noch eine zweite, scheinbar konträre Möglichkeit, die Körperexponierung, andeutete, so können doch beide Verhaltensformen erstaunlicherweise der gleichen Motivation entspringen. Der nach innen gerichtete und damit auf den eigenen Körper zurückgeworfene Blick – erst einmal gleichgültig, ob sozusagen verschämt-schüchtern oder selbstbewusst-selbstgefällig – ist ein narzisstisch geprägter. Während also der „male-coded gaze“ ein direktes exzentrisches Interesse an der Öffentlichkeit äußert, blendet die weiblich-konnotierte Beschäftigung mit dem ei-

122  ORTE – RÄUME – GENDER 

genen Körper die Außenwelt erst einmal aus. Auch wenn die faktische Handlung der Zurschaustellung des Körpers ihn im sozialen Raum platziert, so ist das Motiv doch primär getrieben von einem Interesse an sich selbst. Mieke Bal hat diese „Exposition“, wie sie es nennt, zwar geschlechterunspezifisch, aber als in jedem Fall bedeutsam für das Subjekt behauptet: „Something is made public in exposition, and that event involves bringing out into public domain the deepest held views and beliefs of a subject. Exposition is always also an argument. Therefore, in publicizing these views the subject objectifies, exposes himself as much as the object; this ­makes the exposition an exposure of the self. Such exposure is an act of producing meaning, a performance.“ (Bal 1996, 2) Das, was den „verinnerlichten“ gegen den „veräußerten“ Habitus zudem ­unterscheidet, sind die im übertragenen Sinne bevorzugten Dimensionen. Ich behaupte eine weibliche Präferenz fürs Zweidimensionale, denn weiblich konnotierte Positionierungen tendieren generell dazu, wenig Raum einzunehmen. Es finden sich mittlerweile zahlreiche Beobachtungen und empirische Studien, die geschlech­ter­ codierte Körperhaltungen und Gesten genau unter die Lupe genommen haben. „Die Körperhaltungen von Frauen wirken, mit ihren Armen und Beinen eng am Körper gehalten, sich schmal machend, verkleinernd, verniedlichend, verharmlosend, (…) in sich zurückgezogen, sich versteckend (…).“ (Wex 1980, 6 f.) Dass die „Strategien“, den Körper groß oder klein wirken zu lassen, immer auch Macht bzw. Ohnmacht ausstrahlen, versteht sich von selbst. Wenn etwa die Arme verschränkt und am Körper eng anliegen, artikuliert das eher Unsicherheit als Souveränität: „Diese Haltung ist defensiv, lässt Frauenkörper zusammenschrumpfen und heißt: ‚Nur nicht in die Umwelt oder den Raum eines anderen eindringen‘. In solchen ‚Geschlechtsdarstellungen‘ werden weibliches ‚Sich-klein-Machen‘ und männliche ­Expansion im Raum ausagiert. Mit anderen Worten, es handelt sich hier nicht nur um Geschlechts-, sondern auch um Machtdarstellungen.“ (Henley 1993, 198) Nun sollen hier nicht die gesamten Gender-Körperhaltungen durchdekliniert werden (vgl. weitere Studien zu Geschlecht und Körperhaltung u. a. Mühlen-Achs 2003 a, 13–37; dies. 2003 b; De Luca-Hellwig 2016), denn hier geht es ja um die These, dass sich die Geschlechtsdarstellungen in Volumen- oder flache Körper unterteilen. Hilfreich aber können an dieser Stelle Bourdieus sozial codierte „Klassenkörper“ auf die „Geschlechtskörper“ übertragen werden: „Unterschiede im Körperbau ­erfahren Verstärkung und symbolische Akzentuierung durch Unterschiede in der Körperhaltung, im Auftreten und Verhalten: in ihnen kommt das umfassende Verhältnis zur sozialen Welt zum Ausdruck. (…) Es zeichnet sich damit ein Raum ­jeweils klassenspezifischer Körper ab, der (…) in seiner spezifischen Logik tendenziell die Struktur des sozialen Raumes reproduziert.“ (Bourdieu 1999, 309) Das zeigt sich in ihrer Körpersprache, die verhalten, nicht ausgreifend ist. Frauen „einverleiben“ sich den Außenraum nicht, sie machen sich häufig im Gegenteil schmaler und kleiner, als sie eigentlich sind. Überspitzt könnten wir dies als anorektische Tendenz des weiblichen Körpers im Verhältnis zum Außenraum –

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und im Gegensatz zur männlichen Raumnutzung – beschreiben. Diese Metaphorik bezieht sich hier selbstverständlich nicht auf die psychischen Konstellationen einer Magersucht, sondern auf die kommunikative wie physische Beziehung Körper – sozialer Raum. Die These von der weiblich konnotierten Zweidimensionalität, die ich hier postuliere, konnten wir sehr deutlich in der „Schreibtisch“-Studie (vgl. Brandes/Erlhoff 2011) sogar anhand der privaten Dinge, die sich auf den Schreibtischen fanden, wahrnehmen: Die Schreibtischoberflächen der weiblichen Angestellten wiesen eine auffällig große Zahl zweidimensionaler Dinge auf. Frauenspezifisch wird die Zweidimensionalität durch den Typus der ausgestellten flachen Dinge: Sie handeln nämlich vom Privatleben, dessen emotional bedeutsame Teile in die Arbeitssphäre transferiert werden: Familien- und Urlaubsfotos, auf denen überwiegend die eigenen Kinder zu sehen sind (auf einem weiblichen Bank-Schreibtisch in Mailand fand sich das Kinderfoto sogar auf dem Mousepad), und Kinderzeichnungen sowie, ­weniger oft, Fotos von Freundinnen sind die häufigsten Privatangelegenheiten, die ins Büro getragen werden. Auch Posters und Postkarten, die Landschaften von erwünschten oder schon einmal besuchten Reisezielen zeigen, wurden von Frauen viel öfter als von Männern präsentiert. Es lässt sich also ein Zusammenhang herstellen zwischen den Körpern, die sich klein und schmal machen, um im Raum nicht aufzufallen, und den vielen zweidimensionalen Bildern und Zeichnungen auf den weiblichen Schreibtischen, wohingegen Männer, die den sie umgebenden Raum einnehmen, ausfüllen und sich in ihn erweitern, dieses Gebaren ebenfalls ihren Objekten angedeihen lassen: Viele plastische Gebilde reflektieren das Verhältnis von männlichem Subjekt und seinen Objekten im Raum. Während sich hier also die gesellschaftlich als männliche erachtete Interaktion durch Extension (sowohl des Körpers als auch der Produkte) manifestiert, performieren die „flachen“ Dinge auf den Frauenschreibtischen ein weibliches „doing gender“.

Expansion versus Kontraktion? Nun ist aber die Frage berechtigt, ob ein expansives Körper- und Raumverhalten als Conditio sine qua non zu werten ist, um sowohl wahrgenommen zu werden als auch sich selbstbewusst wohlzufühlen. Unter dem Aspekt konventioneller und real existierender Machtverhältnisse durch Raumeroberung und faktische oder symbolische Raumerweiterung scheinen zurückhaltendere Formen nicht besonders erfolgreich zu sein. Als Beispiel für viele analysiert Paravicini diese Art zurückgezogener, sozusagen unsichtbarer Existenz im Raum als geschlechterspezifische Verdrängung: „Women and girls are pushed aside.“ (Paravicini 2003, 70) Damit wird expansives Raum- und Körperverhalten als erstrebenswert präjudiziert, obwohl vielleicht problematisiert werden sollte, ob solch eine Handlungsweise überhaupt gesell­

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schaft­lich wünschenswert und sinnvoll ist. Feltz (vgl. Feltz 2002, 51) ebenso wie Löw (Löw 2001 b, 247) kritisieren diese Vorstellung als eine, die das männlich ­konnotierte Verhältnis zu Raum zur allumfassenden Selbstverständlichkeit macht, wogegen eine weniger einnehmende, weniger voluminöse Raumaneignung automatisch als defizitär bewertet wird. – Erneut haben wir es hier mit einem der zahlreichen „Wicked Problems“ zu tun: Die sozialen Genderkonstruktionen lassen Raum­eroberung durch – symbolische, gestische und physikalische – Körperausdehnung als machtvoll erscheinen, und somit wird aktuell ein solches Verhalten honoriert und als Standard von Machtposition, Herrschaft, Autorität, durchgesetzt und akzeptiert. Das wiederum unterwirft das weiblich codierte „Kleiner-Machen“ und verfestigt in permanenter Wiederholung das gesellschaftlich vergeschlechtlichte Machtgefälle. Raumaneignung, die Selbstvergewisserung des eigenen Körpers sowie die physische und symbolische Interaktion von vergeschlechtlichten Körpern im (öffentlichen) Raum sind ungemein vielfältig, artikulieren sich oppositionell in Verlängerungen oder Verkürzungen, Entäußerungen oder Verschließungen, die als kulturell überformte oder als technisch-strategische Stützen fungieren, um Halt im Raum zu finden. Und das alles unter sehr spezifischen kulturellen Bedingungen, die das räumliche Verhalten, Bewegungen und das Aufeinandertreffen unterschied­ licher Geschlechter noch einmal divers konturieren (was hier nicht ausgeführt ­werden kann). Edward T. Hall hat als einer der Ersten sehr genau die unterschiedlich großen räumlichen Abstände beschrieben, wie sie als differenzierte und kulturell unterschiedliche Distanzzonen zwischen „personal space“, „social space“ und „public space“ existieren (vgl. Hall 1966, 113–130). Bedauerlicherweise ließ er die Geschlechterfrage außer Acht – er schreibt ebenso pauschal wie typisch von „men“, zwar gemeint im Sinne von „Menschen“, aber doch bezeichnend, dass in der englischen Sprache die Menschen umstandslos zu Männern gerieten oder umgekehrt.

Spur und Aura im Raum der Geschlechter Walter Benjamin hat die Erscheinungen von Nähe und Ferne so fein und dialektisch ausgedrückt, dass es besser als Abschluss eines langen Kapitels nicht geht. Wer hier welches Geschlecht repräsentieren könnte, ist nicht ausgemacht. Gender-­ Fluidität als Qualität: „Spur und Aura. Die Spur ist Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ. Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser.“ (Benjamin 1982 b, V/1, 560)

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Körper-Facetten

KRISENDESIGN UND KRISENKÖRPER Der Körper überwuchert als Thema alle Wissenschaftsbereiche. Wenn Gender als Schnittstelle hinzutritt, wird es quantitativ wahrlich nicht übersichtlicher, denn Gender liegt quer zu allen Disziplinen und durchkreuzt sie ebenso notwendig wie produktiv. Wenn wir nun diese beiden Kategorien mit Design vervollständigen, wird es zwar nicht kalkulierbarer, aber doch etwas eingeschränkter. Als erstes Betätigungsfeld des Körpers im Design fällt wahrscheinlich die Mode ein und auf, und das ist auch legitim. Aber der Körper hat für Gender-im-Design noch mehr zu bieten, ohne der Gefahr zu erliegen, allgemeine kulturtheoretische Fragestellungen allzu erweitert einzubeziehen. Deshalb hier erneut der Hinweis, dass der Körper in diesem Kapitel nur so weit zum Tragen kommt, wie er zur Erklärung des Dreiecksverhältnisses Gender, Design und eben Körper beiträgt und soweit er für die beispielhaften praktischen Designprojekte von Bedeutung ist.

Sicherheit Immer, wenn sich Krisen, eingebildet oder real, anbahnen und erst recht, wenn sie, weiterhin imaginiert oder faktisch, da sind, steigt die Nachfrage nach Sicherheit. Das beinhaltet Forderungen nach sichernden Personen – Polizei, Feuerwehr, Militär1, Security-Firmen etc. – ebenso, wie es das steigende Interesse an schützenden Artefakten – Überwachungskameras, Gesichtserkennungs-Software, Alarmanlagen, Bewegungsmelder, mehr oder weniger erlaubte Waffen etc. – beflügelt. Aber auch die menschlichen Körper selbst neigen zunehmend dazu, sich zu schützen, sich zu überwachen und sich zu kontrollieren (vgl. Antonelli 2005). Diese drei Formen des Sicherungsversuchs lassen sich sowohl auf der Ebene der Kreation (durch Design) als auch auf der der Nutzung in postindustriellen Gesellschaften tendenziell geschlechtlich zuordnen. Für den Schutz durch Personen bedarf es gestalterisch erst einmal eines Doppelten: des Schutzes sowie der Identifizierungsmöglichkeit dieser Personenkreise selbst. Spezifische Kleidung ist ein bedeutsamer Bestandteil von deren Aktivitäten. Sie hat eine doppelte Funktion zu erfüllen: nach innen und nach außen. „Nach 1

Das Militär wird nicht weiter thematisiert, weil es im Innern eines Landes nur in Extremsituationen wie Naturkatastrophen zum Einsatz kommt und nicht der Sicherung des gewöhnlichen Alltagslebens – mit dem wir uns hier beschäftigen – dient. – Zum Thema Militär und Gender vgl. u. a.: Snyder, R. Claire (1999): Citizen-Soldiers and Manly Warriors. Military Service and Gender in the Civic Republic Tradition, Lanham MD/Oxford (Rowman & Littlefield); Faram, Mark D. (2015): „Sweeping uniform changes emphasize gender neutrality“. In: NavyTimes, 09.10.2015, www.navytimes.com/story/military/2015/10/09/ sweeping-uniform-changes-emphasize-gender-neutrality/73602238/ (Zugriff 16.10.2016).

128 KÖRPER-FACETTEN 

­innen“ bezieht sich auf den eigenen Körper, der – je nach Betätigungsfeld – gegen harte von der Gegenseite eingesetzte Gegenstände (Steine, Flaschen etc. bei z. B. ­Demonstrationen oder Prügeleien), genuine Waffen (Messer, Schusswaffen etc.) oder herabfallende Gegenstände (beim Brand eines Hauses etwa) geschützt werden muss. Die Kleidung muss zudem so gestaltet sein, dass die erforderlichen professionellen „Werkzeuge“ (Handschellen, Knüppel, Pistole, Atemschutzmaske, Brandbekämpfungs- und Geräte zur technischen Hilfeleistung etc.) so an der Kleidung oder am Körper anzubringen sind, dass sie der Pflichtausübung nicht hinderlich sind, sondern diese im Gegenteil unterstützen (größtmögliche Hitzeresistenz z. B.); und schließlich muss sie so viel Bewegungsfreiheit wie möglich erlauben (schnelle Bewegungen zum Zwecke der Verfolgung/der Rettung oder zum eigenen Schutz). Eine ganz bedeutende Rolle spielt diese Bekleidung aber auch für die Außenwahrnehmung: Diese für die öffentliche (oder private) Sicherheit zuständigen Berufsgruppen müssen für die Menschen unbedingt visuell erkennbar sein. Es geht um Orientierung: zu wissen, an wen ich mich im Falle der Not und Gefahr wenden kann, aber auch, damit diese Personen identifiziert werden können, ich mir also einigermaßen sicher sein kann, dass ich es tatsächlich mit der Polizei, der Feuerwehr oder einer privaten Sicherheitsfirma zu tun habe – ungeachtet des Problems, dass es sich auch um eine kriminelle Täuschung, z. B. um „falsche Polizisten“ handeln kann. Üblicherweise jedoch kann (und muss) ich davon ausgehen, dass mir Sicherheit durch die besondere Kleidung garantiert wird. Normalerweise werden solche Kleidungsstücke Uniform genannt, im Design sprechen wir generell von „Corporate Fashion“ – gleichgültig, ob es sich um staatliche Hoheits- oder private und Business-Uniformen handelt. Diese kann sich ­ge­nauso auf Berufsbekleidung in nicht so gefährlichen und nicht mit Sicherheit verbundenen Berufen beziehen: Beschäftigte bei Fluggesellschaften oder Bahnen, Servicekräfte im Hotel- und Gaststättengewerbe, medizinische und technische Berufe etc. – einfach, damit ich weiß, an wen ich mich im Restaurant, Hotel, Flugzeug und Krankenhaus etc. bei Bedarf wenden kann; denn gäbe es diese Uniformen nicht, wäre es sehr verwirrend, die richtige Ansprechperson zu finden, müsste ich doch versuchshalber irgendwelche Menschen „in Zivil“ ansprechen. – Obwohl bei genauerer Betrachtung auch viele der letztgenannten Corporate Fashions nicht allein der Orientierung, sondern, zumindest psychologisch, auch der Sicherheit als Beruhigung dienen. (Dies gilt etwa für Beschäftigte im medizinischen Bereich, bei Flug- und Bahngesellschaften.) Schließlich gibt es noch die mehr oder minder subtil verordnete Business-Fashion: Es versteht sich offensichtlich in unserer Kultur von selbst, dass Beschäftigte einer Bank nicht in zerrissenen Jeans oder Bermudashorts zur Arbeit erscheinen dürfen. Entgegen den Bankgeschäften, aber genauso eingeübt, ist der sorgfältig-lässige Kleider-Habitus, den etwa sogenannte „Kreative“ (Designstudios, Werbeagenturen, Architekturbüros etc.) zu Markte tragen müssen. „Corporate Fashion legitimiert sich aus unternehmensstrategischer Sicht. (…) Sie erweitert die Aufgaben der traditionellen Arbeitskleidungen um den

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Aspekt der gezielten internen und externen Unternehmenskommunikation (…).“ (Henkel 2007, 91) Bisher war lediglich von der Kleidung dieser Sicherheit vermittelnden Berufsgruppen die Rede (die dazugehörigen Objekte werden im folgenden Abschnitt ­untersucht), aber es dürfte klar geworden sein, dass deren Design viele Anforde­ rungen erfüllen muss: Sicherheit für die tragende Person, Signalwirkung durch entsprechende Applikationen und durch (Signal)Farben, Einheitlichkeit zur Wiedererkennung und vieles mehr. Soweit bekannt, wurden und werden die Uniformen von Designern gestaltet, Designerinnen kommen zumindest in Deutschland nicht vor und offenbar nicht ­infrage. Die seit 1976 sukzessive in allen Bundesländern eingeführte senfgrün-beige­ farbene Polizeiuniform gestaltete der nach 1945 fast einzige berühmte deutsche ­Modedesigner Heinz Oestergaard. (Vgl. Oestergaard 2016.) Diese neuen, nach seinen Worten „liebenswürdigeren“ Uniform-Vorschläge sollten demokratischer und weniger abschreckend wirken. „Zugegeben, elegant ist nicht gerade das Wort, das einem zu diesen etwas unvorteilhaften Schnitten und nicht gerade kleidsamen Farben einfällt. Und auch in Sachen Tragekomfort schneidet die grün-beige Kombination sehr schlecht ab. Im Sommer sei der Tuchrock für Frauen angeblich ‚untragbar‘, und der Stoff des beigefarbenen Hosenkleids sei so ‚fest wie ein Zelt‘. (…) Doch nichtsdestotrotz prägten diese Polizeiuniformen das Straßenbild der Bundesrepublik in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren. Und nach dem Mauerfall verbreitete sich das Förstergrün auch in den neuen Bundesländern.“ (Konrad 2015) Nach 30 Jahren begann die Ablösung dieser Uniform, der Hamburger Senat beauftragte das Enfant terrible, den in seriösen Designkreisen scharf kritisierten Luigi Colani (trotz seines Namens ein Deutscher), der das grün-beige Kleidungsstück in ein dunkelblaues verwandelte. (Vgl. Ulrich 2003.) Die Produktion – und ­gewiss auch die genaue Anpassung an die Anforderungen einer Polizeiuniform, so ist zu vermuten – übernahm die Firma Tom Tailor, eine Holding mehrerer Mode­ unternehmen. Mittlerweile haben alle Bundesländer auf Blau umgestellt, als letztes folgte kürzlich Bayern. Auch in den anderen der EU angehörigen Ländern übrigens sind fast alle Polizeiuniformen blau. Die Uniformen ähneln sich nun immer mehr, allerdings ist nicht festzustellen, wer die unterschiedlichen Nuancen in den diversen Bundesländern designed hat. – Bei der Feuerwehr brachte die Recherche überhaupt keine gestalterischen Besonderheiten und Namen hervor. Es scheint aber gewiss, dass in allen drei Sicherheitsbereichen Designerinnen nicht existent sind. Umso bemerkenswerter, aber eben die Ausnahme, dass die ­österreichischen Polizeiuniformen von der österreichischen Designerin Barbara Mungenast gestaltet wurden, die sich bewusst für eine „eigene Frauenlinie“ entschied: „Die Frau als starke Frau zu definieren und nicht als kleinen schwachen Mann. Interessant war: Viele Frauen wollten das anfangs gar nicht. Wir mussten schon argumentieren, um körperbetonte Linien reinzubringen.“ (Mungenast in Sonderegger 2012)

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Die anfängliche weibliche Abwehr einer „Frauenlinie“ treffen wir auch in gewöhnlicheren Alltagssituationen an: Sobald bei Entwürfen von Produkten, Services, Zeichen betont wird, dass etwas Spezifisches „extra“ für die Zielgruppe Frauen gestaltet worden sei, lehnen diese es häufiger ab. Es scheint, als ob sie, modern, sich selbstbewusst gebend oder bezeichnend, diese Spezifik statt als Qualität als eine Aktion sehen, die sie schwach machen könnte. Paradoxerweise wissen Frauen es sehr wohl zu schätzen, wenn mit großer Aufmerksamkeit und Sensibilität ihre Wünsche ergründet und berücksichtigt werden; allerdings: Diese Sonderheit darf nicht erwähnt (nur heimlich gestaltet) werden.2 Die ansonsten in der Gestaltung von Polizeiuniformen nicht existenten Designerinnen würde die in vielen Designsektionen ausgeprägte Segregierung nach Geschlechtern unterstützen: Auffällig genug, dass selbst Arbeitsfelder, die konventionell als eher den Frauen zugeeignete und zugemutete gelten – wie etwa ­Gestaltungstätigkeiten, die sich als privat, als hausarbeitsnah definieren, die das Weibliche an das Schneidern und Nähen, ans „Dekorativ-Spielerisch-Kreative“ binden –, im Moment ihrer Professionalisierung deutlicher männlich konnotiert sind. Das geschieht verstärkt dann, wenn es sich um bekannte Designer_innen handelt: Im Modedesign etwa finden sich sehr viel mehr Namen von international berühmten Designern als von Designerinnen. Erschwerend kommt speziell für die Sicherheits-Corporate Fashion hinzu, dass viele Faktoren zu berücksich­ tigen sind, die genaue technologische Materialkenntnisse erfordern hinsichtlich Brennbarkeit, Einschlägen von Objekten etc. Offenbar herrscht hier das Vorurteil, dass Designer kompetenter mit diesen Ansprüchen umzugehen wüssten als ­Designerinnen. Schutzobjekte wurden bereits als notwendige „Accessoires“ der uniformierten Kleidung erwähnt; aber das Spektrum ist sehr viel breiter. Auf der einen Seite greifen staatliche oder städtische Schutzmechanismen immer mehr um sich: überall Kameras, bei überprüfenden Organen wie Zoll, Flughafen, Ordnungsamt, Polizei und Militär zudem Waffen, Drohnen, Identifizierungs-Hard- und Software. Bestimmte Kontroll-Objekte werden zwar lediglich in besonderen Überprüfungsoder Gefahrensituationen eingesetzt (Waffen, Drohnen, biometrische Verfahren), aber die Videokameras begleiten uns, körperlich unberührt, manchmal sogar unsichtbar, permanent durch den öffentlichen Raum. Offenbar fühlen sich viele Menschen sicherer, wenn sie beobachtet werden. „Im gegenwärtigen westlichen System erfolgt die Unterwerfung nicht primär durch Zwang, sondern freiwillig. (…) wir müssen nicht zur Unterwerfung gezwungen werden, sondern begeben uns frei­ willig in Kontexte, in denen wir überwacht, kontrolliert und manipuliert werden können.“ (von Borries 2016, 23)

2

Dieses Missverständnis fanden wir übrigens auch bei den weiblichen Geschäftsreisenden (vgl. Kap. Frauen im Hotel, S. 074 ff.

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Auf der anderen Seite rüsten die Menschen auch privat immer mehr auf: Bewegungsmelder, automatische Beleuchtung bei fremdem Sich-Nähern, Alarmanlagen für Wohnung, Auto und Ferienhaus, Pfefferspray, Schreckschusspistolen und Elektroimpulsgeräte – alltagssprachlich direkter als „Elektroschocker“ bekannt – feiern fröhliche Urständ. Diese technischen oder chemischen Produkte verkommen von einem gefühlten Sicherheitsding zu einer allumfassenden Kontrolle. Die Illusion, sich zu schützen, alles im Griff zu haben, täuscht trügerische Sicherheit vor und dient in den meisten Fällen eher der psychologischen Ver­ sicherung, als dass Schutz durch Kontroll- und Attacken-Produkte signifikant erhöht würde. Außerdem: Je mehr Sicherheit wir uns einkaufen, desto unsicherer fühlen wir uns paradoxerweise – eine „Sicherheitsspirale“ nennt von Borries das. (ebd., 64) Es wäre eine eigene Studie wert zu erforschen, welche Geschlechter sich ­bevorzugt welcher Gefahrenabwehrprodukte bedienen. Zu vermuten ist, dass zumindest bei Bewegung im öffentlichen Raum geschlechterspezifische Präferenzen durchschlagen: Pfefferspray ist zweifellos ein subtil-unauffälliges weiblich konnotiertes Sicherheitsprodukt, Schreckschusspistolen oder Messer dürften demon­ strativ-gewalttätiger an Männer gebunden sein. Allerlei technische Sicherheitsspielereien im Hausbereich – das sogenannte „E-Home“ – scheint männlich dominierte Hobbybastler und Heimwerker intensiver zu begeistern, während Frauen vermutlich weitaus pragmatischer an durch Schlösser oder Ähnliches gesicherte Türen und Fenster denken. Zu diesem Thema gibt es nach meiner Recherche keine publizierten Studien oder Analysen. Das Thema „Gender und Sicherheit“ wird über­ wiegend thematisiert im Kontext familiärer oder städtischer Gewalt(prävention), Städte­planung, die die Bedürfnisse von Frauen berücksichtigt und sie als Co-Creators mit einbezieht, Krieg und Gender oder Sicherheit bzw. Gewalt in sich ent­ wickelnden Ländern. (Vgl. u. a. Whitzman 2008; Holmes; Sjoberg 2010; Zibell/ Schröder 2007; Harth o. J.; Hoch/Zoche 2014; TNS-Emnid 2014.) Sicherheitskörper, wie wir sie an dieser Stelle nur kurz streifen3, wähnen sich geschützt, wenn möglichst viel am Körper und um ihn herum Sicherheit verspricht: Darunter fallen so unterschiedliche Dinge wie Helme beim Radfahren, Knie- und Ellenbogenschützer beim Skaten, Hig-Tech-wasserabweisende Regenjacken, Kälte isolierende Wintermäntel und -jacken, aber auch so harmlose Alltagsgegenstände wie Schürzen, Wanderschuhe, Haushaltshandschuhe u. v. m. Besonders auffällig wird das Sicherheitsbestreben bei der Ausstattung von Kindern. Ob es sich um die Transportmöglichkeiten der Kinder handelt – Fahrradanhänger für Kinder- und Säuglingstransport, SUV-Autos bei wohlhabenderen Familien – oder um Kinder­ sicherungen an Möbeln, Türen, Treppen, Steckdosen, um unerreichbare Gegenstände, an denen Kinder sich verletzen könnten, wie Scheren, Messer, aber auch 3

Die Selbst-, Befindlichkeits- und Gesundheitskontrollen werden später noch unter einem anderen ­Aspekt thematisiert: Vgl. dazu Kap. Der optimierte und nachgerüstete Körper, S. 166 f.

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enorme Sicherungen am Kinderkörper selbst oder auf den Spielplätzen und beim Spielzeug: Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Am stärksten jedoch fällt das protektionistische Verhalten der Eltern auf, die ihre Kinder bis zu einem erstaunlich hohen Alter kaum noch aus dem Blick lassen (sogenannte „Helikopter-­Eltern“). Da die Kinderbetreuung noch deutlich häufiger von Müttern übernommen wird, scheint diese möglichst umfassende Beschützung zu einem größeren Teil in ihrer Verantwortung zu liegen; und 85 % der Alleinerziehenden sind Frauen, die mit der Kinderversorgung beschäftigt und belastet sind (vgl. Statistisches Bundesamt 2009). Insofern ist zu vermuten, dass mehr Frauen Sicherheitsobjekte kaufen und Sicherheitsräume aufsuchen. Umgekehrt sind es überwiegend Designer, die all diese Sicherheitstechnologien entwickeln und in Produkte, Kleidung, Fahrzeuge, Spiele usw. umsetzen. Auch hier schlagen übrigens immer noch die geschlechterspezifische Ausbildung und nachfolgende entsprechende Berufskarrieren zu; ein Circulus vitiosus, der sich offenbar sehr schwer durchbrechen lässt: Junge Frauen neigen immer noch dazu, sogenannte „weiche“ Designbereiche zu studieren (visuelle Kommunikation, Mode, Illustration etc.), während Studenten sich häufiger in Produkt- und Industriedesign, in UX, HCI, Interaktions- und Interfacedesign etc. tummeln. Insofern bildet sich hier ein merkwürdiges Ungleichgewicht heraus – vereinfacht: Männliche Gestaltung trifft auf weiblichen Konsum und Gebrauch. Die vielfältigen Sicherheitsobjekte und -bekleidungen wurden erst einmal ­unterschiedslos beschrieben, sowohl ohne Differenzierung zwischen sinnvollen bzw. notwendigen oder „übertriebenen“ Schutzprodukten als auch ohne Reflexion darüber, Gender-Fragestellungen und -Bedingungen in das Design all dieser Artefakte selbst einzubeziehen. Fangen wir mit der unlösbaren Frage an: Wie viel Sicherheit braucht es (und für wen)? Wo beginnen irrationale Ängste vor Unsicherheit, wo wird unverhältnismäßige Sicherheit gefordert? Unsicherheit und ihr Gegenteil, Schutz, mögen sich für verschiedene Geschlechter in unterschiedlichen Aktionen, Situationen und Räumen different darstellen – aber es gibt keine Bestimmung für die „angemessene“, gar „absolute“ Sicherheit. Sie ist historisch sowie kulturell konnotiert und ändert sich erstaunlich schnell. Wir müssen zeitlich gar nicht sehr weit zurückgehen und uns erinnern, dass es keine Sicherheitsgurte, keinen Airbag und keine Knautschzone im Auto gab, Kinder allein und unbeaufsichtigt auf der Straße spielten, Anoraks nicht „intelligent“, sondern wasserdurchlässig, Winterschuhe ungefüttert waren, Haustüren offen standen usw. In jener Zeit fühlten sich die Menschen wahrlich nicht unsicherer als heute (eher im Gegenteil), auch wenn wir von heute aus manches mit Schaudern oder zumindest Kopfschütteln quittieren ob der Gefahren, die da drohten. In einigen asiatischen Ländern schlängeln sich ganze ­Familien und Teile ihres Hausrats auf einem „Scooter“, also Moped, ohne Schutzkleidung und Helm durch den tosenden Verkehr. So sinnvoll es zweifellos ist, sich im Auto anzuschnallen, auf dem Motorrad – und dem Fahrrad? – einen Helm zu ­tragen: Kommende Generationen werden sich entweder amüsieren oder erschre-

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cken über die sorglose Unsicherheit, der wir uns heute aussetzen. Und selbst pathologisch-überängstliche Menschen, die sich nur noch zu Hause, körperlich von oben bis unten geschützt, aufhalten würden, stünden in Gefahr zu stürzen oder dass ein Gegenstand auf sie herunterfiele. (Diese absurde und wenig realitätstüchtige Konstruktion soll nur darauf hinweisen, dass Sicherheit eine zutiefst relative und nie zu klärende Kategorie ist.) Niemand sollte sich allzu sehr in Sicherheit wiegen, aber auch nicht vor Angst paralysiert sein. Das Design setzt sich notwendigerweise ausführlich auch mit Fragen der Sicherheit auseinander und hat mehr oder minder sinnvolle und nützliche Produkte, Anleitungen, Zeichensysteme und Piktogramme hervorgebracht. Ob es sich, wie erwähnt, um Sicherheitskleidung und dazugehörige -systeme und -gerätschaften handelt oder um verständlich geschriebene Bedien-, Warn- und Sicherheitshinweise (Manuals), aber auch um die vielfältigen Zeichensysteme mit entsprechenden Piktogrammen für potenziell gefährliche Situationen: Das reicht von alltäg­ lichen und uns selbstverständlich erscheinenden Verkehrszeichen und Ampeln, Orientierungs- und Leitsystemen in Flughäfen, Bahnhöfen, öffentlichen Gebäuden (inklusive dem so wichtigen Wegweiser zum Notausgang mit meist weißem, laufendem Männchen und Pfeil auf grünem Grund) bis zu Warnungen vor gefährlichen Gefahrengütern, -gebäuden (Atomkraftwerke) oder chemisch belastetem Gelände. Hier findet sich eine stereotype Vergeschlechtlichung durchaus häufig: Ampeln zeigen ausschließlich Männchen; auf Baustellenschildern ackert ein Mann mit der Schaufel; auf den Fahrradweg weist ein Männerfahrrad hin, das als solches durch das horizontale Rohr kenntlich wird4, der Fußweg wird durch eine Frau (Mutter) mit Kind an der Hand markiert, spezielle Sitzplätze in Bahnen und Bussen, die bei Bedarf für alte Menschen, Gebrechliche und Erwachsene mit Klein­ kindern frei gemacht werden sollen, zeigen, in entsprechender Reihenfolge, einen Mann mit Stock und Brille, einen Mann mit Stock, Blindenbinde und Brille und eine Frau (Mutter) mit Kind auf dem Schoß.5 Diese segmentierte Zweigeschlechtlichkeit verweist auf ein überaus traditionelles Rollenverständnis. In diesem Zusammenhang ist allerdings die Veränderung eines Verkehrszeichens bemerkenswert: „Das Verkehrszeichen 239/Sonderweg Fußgänger (Hervorh. i. Orig.) wurde 1953 in der Bundesrepublik Deutschland eingeführt. Abgebildet war, wie in den Nachbarländern Österreich, Schweiz, Italien und Tschechoslowakei noch heute, eine blaue Ronde mit der weißen Silhouette eines Mannes in Hut und Anzug, der 4

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Das sogenannte Herrenfahrrad ist durch das Oberrohr stabiler gebaut, der weibliche Rahmen ist durch das fehlende Rohr weniger verwindungssteif (und damit anfälliger gegen Verdrehung); deshalb werden Letztere generell kleiner gebaut. Die Rahmenform, also das Gestell des „Männerrades“, wird „Diamant­ rahmen“ genannt, es ist zum Auf- und Absteigen über das Hinterrad nicht nur deutlich unpraktischer, sondern auch potenziell unsicherer. Die sicherer zu handhabenden sogenannten „Damenfahrräder“ ­werden dagegen als „Tiefeinsteiger“ bezeichnet. Allein die Namensgebung signalisiert Geschlechter-­ Hierarchie: Diamantrahmen gegen Tiefeinsteiger! Dass das auch in dieser Reihe zu findende Piktogramm für Schwangere (mit dickem Bauch) nur weiblich konnotiert ist, macht als einziges Sinn.

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rechts ein kleines Mädchen an der Hand führt. (…) 1970 wurde es (…) im Zuge der Einführung einer neuen StVO im selben Jahr gegen eine Ronde mit der Silhouette einer Frau ausgetauscht; das Kind blieb unverändert.“ (Hitzler o. J.) Auch hier ­haben wir es, höchst symbolisch, mit einer Geschlecht markierenden Angst bzw. Sicherheit zu tun: Das Design mit Mann und kleinem Mädchen schürte bei vielen Eltern wohl die Befürchtung, das Kind könnte mit dem „fremden Mann“, vor dem ja immer gewarnt worden war, mitgehen. Eine Frau scheint da sehr viel beruhigender, denn spontan wird „Mutter“ assoziiert. Und das würden gewiss die meisten Eltern heute erst recht denken, sofern das Zeichen noch einen Mann zeigen sollte. Hier werden exemplarisch sowohl die außerordentliche Macht und Symbolkraft des Designs kenntlich als auch die Zähigkeit von Gender-Vorurteilen. Ein Weg aus diesem Geschlechterdilemma am Beispiel der Verkehrszeichen – so weit immerhin ist das Problem bei staatlichen Stellen, zweifellos gefördert durch Initiativen des Gender Mainstreaming, mittlerweile durchgedrungen – wurde dadurch versucht, dass das Schilder-Design mit stärker stilisierten Figuren arbeitet: so eine Art dickerer „Strich-Personen“ (die aber bisher eindeutig immer noch Strichmännchen heißen!), deren Körperformen und -haltungen uneindeutig und weit entfernt von jeglichem Realismus gestaltet sind. Ein weiteres, wenn auch nicht sonderlich gelungenes Beispiel: Die damalige Wiener Frauenstadträtin (aktuell Stadträtin für Gesundheit und Soziales) initiierte Ende 2006 die Aktion „Wien sieht’s anders“ (vgl. ORF 2006, vgl. Wehsely 2006); ein Versuch, für Gender-Rollen zu sensibilisieren: „Ab sofort werden Schilder und Piktogramme im öffentlichen Raum und in Amtsgebäuden zu sehen sein, auf denen Mann und Frau die bisher angestammten Rollen vertauschen. (…) Fluchtwegschilder zeigen künftig auch eine fliehende Figur mit wehenden Haaren, Rock und Damenstiefeln. (…) Jedes zweite Schild oder Piktogramm wird mit den neuen Symbolen des jeweils anderen Geschlechts ver­ sehen sein.“ (ORF 2006) Diese Initiative erntete scharfe Kritik nicht nur in anti­ feministischen Kreisen, sondern teilweise auch bei Genderforscher_innen und -­aktivist_innen: gut gemeint, aber schlecht gestaltet. Denn die Rollenklischees wurden dadurch in manchen Fällen nicht verändert, im Gegenteil unfreiwillig noch verstärkt: Wenn etwa eine Frauenfigur mit lustig wippendem Pferdeschwanz und im Minirock – immerhin trägt sie Stiefel ohne Absatz – Sand schaufelt (Zeichen für Baustelle), ist das mindestens albern. Die Veränderung der Spezialsitzplätze in öffentlichen Nahverkehrsmitteln dagegen macht durchaus Sinn: Es bezeugt Selbstverständlichkeit, wenn auch Männer mit Babys auf solch einem Platz sitzend abgebildet werden. Aber nicht nur das Sicherheitsdesign von Zeichensystemen birgt Gefahren bzw. muss sich notwendig um Genderfragen kümmern. Und hier kommen wieder einmal Kriterien ins Spiel, die, statt Uneindeutigkeit und Geschlechtsverwischungen zu fokussieren, sich notwendig mit Zweigeschlechtlichkeit auseinander­ setzen müssen. Bereits zuvor, bei der Thematisierung der Corporate Fashion, war angeklungen, dass ein relevanter Sicherheitsfaktor im Tragekomfort der Kleidung

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und der praktikablen Anbringung von berufsspezifischen Objekten an den Körper liegt: Bewegungsfreiheit und schneller Zugriff auf die Arbeitsmittel sind wesentliche Kriterien für den Arbeitsalltag von Polizist_innen, Feuerwehrleuten usw. Und da Körper nicht nur generell in Breite und Höhe variieren, sondern männliche und weibliche Körper sich in ihren Formen meist unterscheiden, muss dies seinen Ausdruck unbedingt auch in der jeweilig spezifischen Kleidung, den Hosentaschen etc. finden. – Selten wurde z. B. auch bedacht, dass Wünsche an ganz normale Fahrradhelme nach Geschlecht differieren könnten. Bisher gibt es auf dem Markt zwar geschlechterdifferente Helme, die sich aber lediglich durch dumme Charakteristika und Oberflächlichkeit auszeichnen. Meine kurze Recherche ergab: Nur Fahrradhelme für Frauen haben eine namentliche Differenzierung, die männlichen werden als selbstverständliche Norm in den meisten Fällen gar nicht als solche benannt. Die weiblichen Helme unterscheiden sich durch entsprechend stereotype Bezeichnungen: Flower-Apple, Arella, Elite Women, Women’s Saga, Women’s Blade Elle Moi, Amare, Contessa usw. Und sie kommen gern in den Farben white light blue, satin light blue, maori white, femme-weiß, weiß-pink, rosa-­ schwarz oder mit floralem Muster. Männliche Bezeichnungen finden sich wenige, wenn, dann heißen die fast ausschließlich schwarzen Helme Boss Compact oder Full Stack Dirt Don Bike. Design muss sich um die besonnene Gestaltung des Naming ebenso kümmern wie um sichere, zugleich aber – wie in diesem Fall – ansehnliche Helme kümmern. Denn nicht nur die Kopfgröße und vorgegebene ­Sicherheitsnormen sind wichtig, sondern es spielen auch scheinbar nebensächliche Gründe wie Aussehen und verdrückte Haare eine Rolle. Selbstverständlich gilt das Argument, dass auch Männer sich um ihr Aussehen mit Helm sorgen könnten; und dennoch ist erwiesen, dass auffällig mehr Frauen beim Fahrradfahren keinen Helm tragen. Argumente, die genannt wurden, bezogen sich häufig eben genau auf das Aussehen; denn mit dem Fahrrad fahren viele in Städten auch zu feineren Events, und dort möchten besonders Frauen nicht mit verdrückten und verwirrten Haaren auftreten. Und so experimentierte eine Gruppe Designstudierender an der Köln International School of Design unter der Leitung eines meiner ehema­ ligen Kollegen, Hatto Grosse, mit Entwürfen mindestens ebenso sicherer wie „schönerer“ und das Gesicht nicht verunzierender Helme. Dabei herausgekommen sind mannigfaltige Formen, die teilweise an Hüte, Mützen oder breite Haarbänder erinnern, die modular aufgebaut oder zusammenfaltbar sind. „Wesentlich nach Meinung der Studenten (sic!, d. Verf.) sind eine integrierbare Handy-­ Freisprechanlage, Kopfhörer für den MP 3-Player, oder ein Navigationssystem. Ein Blinker wäre nicht schlecht und ein Nackenriemen, der den Fahrer (!, d. Verf.) vorm Abknicken der Halswirbelsäule schützt (…) Warum nicht ein zusammenfaltbarer Helm, an den man eine Sonnenbrille anstecken könnte? Oder zum Beispiel ein aufblasbares Haarnetz?“ (Schmitt 2008) Nun mag das manche trivial und wiederum stereotyp anmuten; aber es handelt sich ja überhaupt erst einmal darum, Gender-im-Design wahrzunehmen, unterschiedliche Motivationen zu erkennen

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und die Akzeptanz des Helm-Tragens insbesondere bei Frauen zu erhöhen. Die Fokussierung der Zielgruppe Frauen bedeutet andererseits ja nicht, dass die innovativen Gestaltungen nur diesen zugute kommen, auch andere Genders können genauso davon profitieren.

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HABEAS CORPUS Der formale Beginn des demokratischen Körpers „An Act for the better secureing the Liberty of the Subject and for Prevention of Imprisonments beyond the Seas.“ (Habeas Corpus Act 1679) Wenn wir bedenken, wie autoritär und eigenmächtig in jener Zeit Könige und die feudale Gesellschaft insgesamt in Europa handelten, ist diese Gewährung der „Freiheit des Subjekts“ sowie die „Verhinderung von (wahllosen und zufälligen) Inhaftierungen“ eine bemerkens­ werte Frühform auf dem Weg zu demokratischer Rechtstaatlichkeit. So war England das erste europäische Land, das den Absolutismus über ein Jahrhundert vor der französischen Revolution überwand und neben dem Monarchen ein gewähltes Parlament etablierte. Was für eine frühe und weitsichtige Formulierung, mit der das neue Gesetz unter König Charles II in England 1679 eingeführte wurde: „Du habest den Körper.“ Dieses Gesetz sicherte den Individuen erstmals individuelle Freiheit zu und sollte sie vor ungesetzlichen und willkürlichen Verhaftungen schützen und sie stattdessen einer juristischen Prüfung vor einem Gericht oder einem Richter unterziehen. Die Verfügung über den eigenen Körper integriert ja eben den ganzen Menschen mit Kopf und Körper als vernunftbegabtes, nicht mehr sklavisch-abhängiges, sondern eigenständig denkendes Wesen. Der Körper durfte von nun an juristisch zumindest in England nicht mehr wahllos Repressalien ausgesetzt werden, das Urteil hatte nach rechtsstaatlicher Verurteilung zu erfolgen. Was Foucault im Zusammenhang mit dem Ende der mittelalterlichen Folter konstatierte, kann auf die Situation nach dem Habeas Corpus Act durchaus übertragen werden: „Das Verschwinden der Martern ist also das Ende des Schauspiels, es ist aber auch die Lockerung des Zugriffs auf den Körper.“ (Foucault 1992, 17 f.) Die Sicherung und die potenziell garantierte Unversehrtheit des Körpers waren große Errungenschaften, die übrigens – zumindest de jure – für alle „freien“ Menschen galten, die in England lebten. Offenbar auch für Frauen, ich habe jedenfalls keine gegenteiligen Informationen gefunden. „Hier handelte es sich (…) um ein allgemein geltendes Grundprinzip des common law (Hervorh.im Orig.). Demgemäß genießen alle den Schutz des Rechtssatzes, die unter dem Schutz des englischen Rechts stehen, also nicht nur der Adel, sondern alle Engländer. (…) Außerhalb dieses Rechtskreises stehende Menschen, also zum Beispiel die Sklaven oder die Indianer, waren dadurch nicht begünstigt. Aber immerhin betraf der Rechtssatz jeden englischen Bürger; auch der kleine Mann, der des Diebstahls verdächtig war, konnte sich auf ihn berufen.“ (Hempel 2012, 63 f.) Dafür jedoch ist das Wort „frei“ zu betonen, denn das Verbot des Sklavenhandels trat in England erst 1808 in Kraft, und der Slavery Abolition Act erklärte noch später, nämlich erst 1834, alle Sklaven im britischen Kolonialreich für frei. Bemerkenswert, dass es von Beginn an eine starke weiße „Frauenbewegung“ gab, die sich vehement

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sowohl für ein Verbot des Sklavenhandels als auch für die Befreiung der versklavten Menschen einsetzte. Nicht zuletzt involvierte deren Forderung nach Befreiung hinterrücks auch die eigene: „During the 1820s and early 1830s a strong network of women’s anti-slavery association developed. (…) In the anti-slavery movement, women found a basis from which they could pursue their own liberation. They were able to use the terminology of the anti-slavery campaign as a way to articulate some of the inequalities they suffered; and the anti-slavery campaign in many ways set the scene for the women’s rights movements.“ (The National Archives, o. J.) So fanden, wenn auch unter extrem unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und Lebensformen, unterdrückte schwarze Sklav_innen und unterdrückte weiße Mittelstandsfrauen im Versuch der Befreiung ihrer Körper (und ihres Geistes) im Protest zusammen, wenn sicher auch nicht körperlich zueinander.

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DAS PROJEKT: FREMD- UND SELBSTWAHRNEHMUNG VON KÖRPERLICHKEIT – EIN GESCHLECHTER­VERGLEICH ANHAND VON PORTRAIT­FOTOGRAFIEN Julia Schümann

Portrait und Identifikation Was geschieht, wenn das Abbild eines Menschen durch Eingriffe in die grundlegenden und speziellen Strukturen und Formen eines Gesichtes verändert wird? Woran orientiert sich die Selbstwahrnehmung? Wird die Veränderung überhaupt erkannt? Wie nehmen wir Abbilder anderer Menschen wahr? Mein Interesse wurde durch ein Phänomen geweckt, das ich während meiner praktischen Tätigkeit als Fotografin häufig beobachtet hatte: die unkritische und problemlose Identifikation der Portraitierten mit ihrem eigenen Abbild – allerdings, nachdem dieses einer so umfassenden Bildbearbeitung unterzogen wurde, dass sie durchaus als „visuelle Operation“ bezeichnet werden kann. Also führte ich eine systematische, qualitative Studie durch, um diese Beobachtung präzisieren und verifizieren zu können. Ich ging von zwei Hypothesen aus: 1. Es besteht eine geschlechterspezifische Divergenz in der sub­ jektiven Wahrnehmung und Einschätzung zwischen dem eigenen sowie dem Abbild der Partnerin oder des Partners insbesondere unter dem Aspekt von unterschiedlichen Geschlechtern. 2. Es bestehen geschlechterdifferente Emotionen und Bewertungen bezüglich der Idealisierung von Gesichtern. Zu diesem Zweck stellte ich Portraits von je 5 Frauen und Männern her, die ich durch intensive Retusche-Arbeit in zwei entgegengesetzte Extreme retuschierte und manipulierte: einerseits in idealisierender, andererseits in zerstörender (also verhässlichender) Tendenz. In jeweils vier aufeinander aufbauenden Schritten ­wurden die Gesichtsproportionen, die individuellen Strukturen und Formen sowie die Kopfform visuell „operiert“.

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Methodik Interviews: Ich führte qualitative, themenzentrierte Face-to-Face-Befragungen durch, die durch die präzise Präsentationsabfolge strukturiert und geleitet wurden. Ziel war es, Informationen über assoziative gefühls- und erinnerungsgesättigte Erfahrungen zu erlangen. Fremdbeobachtung: Während des Fotografierens beobachtete ich das Verhalten der Probandinnen und Probanden und dokumentierte es mit dem Ziel, die Emotionalität der Aussagen bestätigen oder bestimmen zu können sowie das körperliche Verhalten als Grad innerer Bewegtheit zu analysieren. Introspektion: Ich analysierte Denkprozesse anhand einer weiteren kontrollierten Befragung mit dem Ziel, Schönfärbungen sowie deren Gegenteil zu entlarven, um so die Täuschung und Selbsttäuschung in Wahrnehmungsprozessen der eigenen und fremden Körperlichkeit der Probandinnen und Probanden verstehen zu können. Nach diesen Recherchen und qualitativen Befragungen der Probandinnen und Probanden konnte ich deutliche Differenzen einer geschlechterspezifischen Idee von Schönheit und visueller Harmonie ausmachen. Raster: Auf dieser Basis entstand ein Proportionsraster, das die identische ­Manipulation aller Gesichter durch die Berechnung der Manipulationsverhältnisse ermöglicht.

Die Manipulationsstufen Proportionsharmonisierung und Proportionszerstörung: Im ersten Manipulationsschritt standen die Längen und Breiten der Gesichtselemente sowie die Elementpositionen im Fokus. Diese wurden in Richtung des Proportionsharmonisie­rungs­­­Rasters und diesem entgegengesetzt manipuliert, hauptsächlich fanden hier Verschiebungen statt. Bei den zerstörenden Manipulationen wurden die Disharmonien, bei den idealisierenden die Harmonien der Gesichter verstärkt. Diese Vor­gehens­ weise führte ich in den Folgeschritten fort. Formharmonisierung und Formzerstörung: In der Formharmonisierung wurde die Kopfform an das Raster angepasst, in der Formzerstörung wurde auch dieser Schritt in entgegengesetzter Richtung durchgeführt. Idealisierung und Idealisierungszerstörung: Im Schritt der Idealisierung und der Idealisierungszerstörung wurden alle Teile des Gesichtes isoliert betrachtet. Zudem wurden die Achsen des Gesichtes, insbesondere von Kopf und Augen, idea­ lisierend und zerstörend gezerrt. Außerdem wurden die beiden Gesichtshälften ­einander angeglichen.

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Individualisierung und Individualisierungszerstörung: Im letzten Manipula­ tions­schritt wurden die Idealisierungstendenzen entsprechend den individuellen Wünschen der Probandinnen und Probanden erneut angewendet und punktuell verstärkt. Hinzu kamen weitere Veränderungswünsche, die über die Idealisierungstendenzen hinausgingen.

Kommunikation der Manipulationen Das Ergebnis wurde den Studienteilnehmer_innen sowie deren Partner_innen in unterschiedlichen Arten präsentiert. Zu jeder einzelnen, nicht gekennzeichneten Portrait-Variante mussten die Proband_innen somit jede Abänderung in Beziehung zu ihrem gedachten Selbstbild setzen, also versuchen, ihr Aussehen zu evaluieren. Alle Portraitierten befanden sich während der Präsentationen in einer genau strukturierten, planmäßigen und technisch identischen Situation. Die beschriebenen Eigenschaften entsprechen einer Laborsituation, jedoch wurde der Negativ­ effekt einer möglichen Befangenheit, die in einer solch künstlichen Situation leicht entsteht, dadurch gemildert, dass die Forschung bei den Proband_innen zu Hause in deren vertrauter Umgebung stattfand. Die erste Präsentation stellte die Isolation dar. Zwischen neun ernste und neun lachende Portraitvarianten wurden Bruchbilder geschaltet, welche die Fixierung auf das Gesicht und somit die Konzentration auf ein bestimmtes Element unterbrachen, um einem direkt erkennbaren Wandel vorzubeugen. Die Metamorphose dagegen zeigte die Portraitvarianten im harten Bildwechsel ohne Übergang. In der folgenden Präsentationsart Sezieren wurden die Probandinnen und Probanden aufgefordert, sämtliche fehlenden und falschen Elemente anhand der Individualisierung zu entlarven. Der Vergleich stellte sodann die Parallelpräsentation aller Portraits dar, die Aufgabe bestand nun in der Identifizierung der Originalproportion. Die abschließende Demaskierung zeigte den sichtbaren Wandel von der Individualisierung zur Rohdatei in drei unterschiedlichen Arten.

Datenerfassung und Datenstrukturierung Nach der praktischen Durchführung der Studie erstellte ich eine Struktur für die Datenerfassung in Form einer Eingabemaske. Anhand dieser konnten die Interviews sortiert und vergleichbar verschriftlicht werden. Neben der reinen Abschrift wurden zahlreiche Visualisierungen zur Datenerfassung erstellt.

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Aufgrund der vielfältigen Möglichkeiten des verbalen Ausdrucks entwickelte ich eine eigene Symbolsprache, die die Sach- und Emotionsebene einer Aussage ­erhält, aber sie von der individuellen Formulierung ablöst und eine vergleichende Interpretation ermöglicht, die Tendenzen erkennen ließ. Diese Tendenzübersetzung wurde abstrahiert und unter den Schwerpunkten Identifikation, Veränderungsvermutungen, Entlarvung der visuellen Operationen und Empfindung der jeweiligen Manipulationsstufe ausgewertet. Zudem wurde das körperliche Verhalten – Mimik, Gestik und Bewegung – der Probandinnen und Probanden während des Prozesses durch Videoaufzeichnungen genau dokumentiert. Im Verlauf der Auswertung zeichneten sich immer deutlichere Übereinstimmungen ab. Meine Hauptthese, dass explizite Geschlechterdifferenzen in der Selbstund Fremdwahrnehmung bestehen, bestätigte sich erkennbar. Die Ergebnisse meiner Studie ermöglichten die Formulierung von Tendenzen der geschlechterdifferenten Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie demzufolge der Divergenz zwischen dem imaginären Bild und dem realen Abbild. Die abschließende Analyse konzentrierte sich auf die Interpretation der Körperbewegungen während der Aufnahmen (betrachtet als Symptom innerer Bewegtheit), die Beurteilung, Verortung und die Empfindung des Selbst- und Fremdbildes, die (weibliche Depression der) Demaskierung sowie auf das subjektive Idealbild.

Tendenzübersetzung: Symbolsprache

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Verfremdungsextrem: Zerstörung

Verfremdungsextrem: Idealisierung

Verfremdungsextrem: Zerstörung

Verfremdungsextrem: Idealisierung

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Verfremdungsextrem: Zerstörung

Verfremdungsextrem: Idealisierung

Verfremdungsextrem: Zerstörung

Verfremdungsextrem: Idealisierung

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Vergeschlechtlichte Schärfe und Unschärfe in der Selbst- und Fremdwahrnehmung Gestik und Mimik, ja die gesamte körperliche Bewegung wurden als Symptom, als Ausdruck innerer Bewegtheit betrachtet. Die Frauen zeigten sich viel bewegter und sichtlich erregter, aufgewühlter als die Männer. Sie zeigten ein großes Spektrum an differenten Positionen und Haltungen sowie unterschiedlichem körperlichem Verhalten insbesondere in der Selbstwahrnehmung. Es schien, als ob der Blick auf sich selbst im Portrait die Probandinnen in innere Unruhe versetzte. Ausgelöst wurde diese vermutlich durch die Fähigkeit der Wahrnehmung des extremen Kontrastes zwischen Idealisierung und Zerstörung. Eine starke Befürwortung und positive Stimmung beispielsweise durch starkes Nicken bei der Betrachtung einer Idealisierung stand im Gegensatz zu abwertenden Äußerungen und Körperhaltungen bei der Betrachtung der Zerstörung. Insbesondere bei Negativbekundungen beobachtete ich Posen wie das – Erschrecken artikulierende – Verdecken des Mundes. Frauen scheinen ihren positiven wie negativen Abbildern bewusste und zugleich sehr emotionale Reaktionen entgegenzubringen. Die Männer reagierten vollkommen anders: eher unbewegt und starr. Offenbar scheint die eigene Optik im Abbild emotional nicht sonderlich bewegend oder gar bedeutend zu sein. Männer nahmen deutlich unschärfer wahr als Frauen, sie hatten generell ein gröberes, weniger detailliertes Bild von Körperlichkeit „vor Augen“. Frauen be­ hielten ein viel klareres, schärferes Bild von Körperlichkeit im Gedächtnis. Ein Indikator hierfür war beispielsweise, dass die Männer extrem viele Portraits, die sich deutlich unterschieden, bis in die Manipulationsextreme als real proportioniert ­bezeichneten, als „wahre“, identische, als realitätsgetreue Abbilder. Die innere Referenz schien aus einer geringeren Anzahl an Koordinaten oder Informationen zu ­bestehen, die ein Erkennen des Originals durch den Abgleich dieser erinnerten Punkte mit unterschiedlichen Varianten verhinderten. Die Frauen identifizierten sich und die Partner auf einer deutlich geringeren Anzahl an Portraitvarianten, vermutlich aufgrund der klareren Referenz. Dementsprechend können Abweichungen und Fehler durch Manipulationen genauer und auch manipulationskonform beschrieben werden, da das imaginäre Bild die Abgleichreferenz darstellt. Auch in der Fremdwahrnehmung, also der Wahrnehmung des Bildes der Partnerin oder des Partners, konnte auf weiblicher Seite eine höhere Aktivität festgestellt werden – nun aber erstaunlicherweise diametral anders gelagert als zuvor bei der Einschätzung des eigenen Abbildes: Die Frauen zeigten sich in der Fremdwahrnehmung sehr viel entspannter als in ihrer Selbstwahrnehmung, die Männer dagegen deutlich angespannter! Die Portraits der Partnerinnen schienen sie emotional spürbar mehr zu beschäftigen, sie zeigten insgesamt eine deutlich größere Varianz an Verhaltensweisen.

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Dazu passte, dass sich einige Männer kontrollierend umschauten, als hätten sie Angst, ihre Aussagen könnten von ihren Partnerinnen gehört werden. (Diese ­allerdings befanden sich „sicher“ außer Reichweite.) Eine Geste, nämlich die mundverdeckende Handposition, welche die Frauen bei der erschrockenen Betrachtung ihrer eigenen Portraits gezeigt hatten und die gemeinhin als eher weiblich gedeutet wird, zeigten überraschenderweise die Männer ebenfalls ungewöhnlich häufig – jedoch in der Fremdwahrnehmung. Es liegt die Annahme nahe, dass dies ein bewusstes Verstummen indizierte: als befürchteten die Probanden, dass eine artikulierte Einschätzung eine Verletzung der Partnerin hätte bedeuten können, was wiederum mit einem Konflikt verbunden gewesen wäre. Das schweigende, lediglich gestische Anzeichen ermöglichte den Männern, dem Konflikt einigermaßen auszuweichen. Während die von der Idealisierung in Einzelschritten zum Originalbild rückführende Präsentationsart „Sezieren“ am Fremdbild mit verdecktem Erschrecken bedacht wurde, fiel den männlichen Probanden an den idealisierten (verschönernden) Fremdbildern nur eine verschwindend geringe Anzahl an Veränderungen auf. Sie fanden nahezu nichts Falsches, nichts Fehlendes, obgleich die Portraits in sämtlichen Bereichen visuell operiert und damit verjüngt worden waren. Allein die Haut-Retusche umfasste in jedem Portrait über 70 Retusche-Komponenten – neben der Manipulation wurden mittels Bildbearbeitung optimiert: Unreinheiten, Hautbild/Poren, Rötungen, Adern, Falten, Augenringe, Flecken, Muttermale, Warzen, Bart, Augenbrauen, Lippen, Augen, Make-up, Brille, Zähne. Dies bestätigt erneut die Unschärfe des imaginären Referenzbildes der Männer.

Sezieren: Entlarvung jeglicher Veränderungen des Originals Die Aussagen über die vermuteten Veränderungen zeigten auf weiblicher Seite eine systematische Struktur des Abgleichens. Die Probandinnen starteten ihre Beobachtungen in der Mitte des Gesichts, der Nase. Anschließend wurden Augen und Mund hinzugezogen und danach der Rest des Kopfes. Die Männer hingegen teilten die Veränderungen ohne erkennbare visuelle Abtaststruktur mit: Bei ihnen waren es mal der Hals, der anders sei, mal das Ohrläppchen, manchmal das ganze Gesicht oder aber „irgendetwas“.

Verortung und Empfindung des Selbst- und Fremdbildes Wie nun verortet die jeweilige Person ihren Partner oder ihre Partnerin und sich selbst: Wen idealisiert oder zerstört sie, oder sieht sie sich bzw. das Gegenüber ­unretuschiert als realistisch an? Als erstes Ergebnis kann festgehalten werden: Je mehr Veränderungen in einer Portraitvariante erkannt wurden, desto weniger

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entsprach diese logischerweise dem Selbst- oder Fremdbild. Die Fähigkeit, Details zu identifizieren, bewahrte also vor emotionalen Fehlschlüssen. Diese Aufmerksamkeit war allerdings in den meisten Fällen, zumindest einem der Abbilder gegenüber, sehr schwach ausgeprägt. Die Selbstwahrnehmung der Frauen entspricht deutlich der Zerstörungs­ tendenz. Bereits in der vorbereitenden Recherche- und Interviewphase hatte ich während der Studioaufnahmen die fast durchgängige weibliche Degradierung ­beobachtet und zusätzlich ganz direkt durch verbale Äußerungen erfahren. Das Selbstbild der Probandinnen war verunsichert, nicht selbstbewusst, sie entschuldigten sich sozusagen für die eigene „Hässlichkeit“ dadurch, dass sie sich „authentisch“ in den Zerstörungs-Retuschen repräsentiert fanden. Hier spielt zweifellos der sozial konstruierte Perfektionswahn, dem weibliche Körper unterworfen sind, eine wichtige Rolle.

Männliche und weibliche Körperideale Je idealisierter die Wunschvorstellung der eigenen Äußerlichkeit inkarniert ist und je erstrebenswerter diese empfunden wird, desto schrecklicher und hässlicher empfindet sich dementsprechend das Selbst. Wenn zum Beispiel die Optik eines Models als Ideal einverleibt ist und dann die eigene Körperlichkeit mit diesem Model-Körper verglichen wird, kann in diesem Vergleich das Selbst nur als dick, unförmig und imperfekt empfunden werden. Folglich kann das Selbst nirgendwo anders als in der negativ empfundenen Zerstörungstendenz verortet sein. Die Einschätzung der Frauen, mit denen ich die Studie durchführte, entsprach eindeutig der Tendenz zur positiven Idealisierung anderer und der negativen Zerstörung des eigenen Abbildes. Die Männer dagegen tendierten zu einem idealisierten Selbst- und Fremdbild. Diese Aussagen entsprachen jedoch ganz und gar nicht dem, was ich ihnen tat­ sächlich präsentierte. Bezogen auf ihre Partnerinnen hatten sie ein a priori so stark idealisiertes Bild, dass selbst die stärksten meiner Idealisierungsmanipulationen weder als idealisiert noch als realistisch empfunden wurden. Die Idealisierung wurde im Gegenteil als negativ wahrgenommen, da nämlich die Männer in der Idealisierung nach wie vor negativ empfundene Asymmetrien, künstliche Schrägen und Krümmungen, unschöne Verzerrungen und zerstörende Eingriffe entdeckten. So können wir konstatieren: Frauen vergleichen sich mit einem a priori einverleibten, gesellschaftlich produzierten Idealbild. Dadurch wird ein Degradierungsautomatismus in Gang gesetzt, der sich in meinem Experiment durch die ­Betrachtung ihrer idealisierten und sogar der realistischen Abbilder nur noch verstärkt.

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Obwohl die männlichen Probanden anfangs als pragmatischer erschienen, sind ihre Selbst- und Fremdwahrnehmungen de facto noch komplizierter: Bei der Bewertung des Abbildes der Partnerin verschmolzen die Männer das aktuelle Bild mit der Erinnerung zu einem Idealbild. Das weibliche Portrait wurde nicht an dem Ideal gemessen, sondern mit ihm verbunden. Mit dem Selbstbild verhielt es sich fast noch widersprüchlicher: Die Männer glaubten sich in der Idealisierung fals realistisch abgebildet, aber sie gefielen sich in diesem Bild nicht, nahmen sich stattdessen sogar als negativ wahr. Frauen empfanden die Realisierung der eigenen Vergänglichkeitsmerkmale teilweise als schockierend, sich selbst als „alt, verbraucht und unattraktiv“, wie eine Probandin wörtlich mitteilte. Die externe Körperlichkeit sowie die Einverleibung eines Ideals, das sich eher an einer kindlichen Unverbrauchtheit orientiert, wurden hier besonders deutlich. Merkmale von Reife, Erfahrung, von Spuren des Lebens und des Erlebten wurden abgestoßen, das glatte Gegenteil war „ideal“. Der Körper als Symbol- und Erinnerungsträger vergangener Ereignisse wurde ausschließlich von Männern in der Selbstwahrnehmung als nicht negativ betrachtet. Zwar wurden auch von ihnen Veränderungen hinsichtlich ihrer Vergänglichkeitsmerkmale kommuniziert, jedoch sachlicher und weitaus weniger emotional. Sie wurden gesehen, registriert und angenommen. Männer akzeptierten die Demaskierung, insbesondere in der Selbstwahrnehmung, gelassener. Die Fremdwahrnehmung der Männer und die Selbstwahrnehmung der Frauen, also die Fokussierung beider auf den weiblichen Körper, versetzte die Betrachterin wie auch den Partner als Betrachter in eine angespanntere Stimmung. So konnte ich herausfinden, dass es durchaus legitim ist, von einer gene­rellen Idealbestimmung oder Schönheitsbezeichnung zu sprechen. Diese konzentriert sich jedoch in allen Fällen auf den Körper der Frau, die Männer grenzen sich mit der Negativempfindung der Idealisierung nicht nur von der verkörperten Schönheit, sondern zugleich von den Frauen ab. Und sofern die Frau die Verkörperung von Weiblichkeit darstellt, grenzen sie sich damit eben auch von allem Weiblichen ab. So unterschiedlich Ich-Ideal, Wunsch und Schrecken sich geschlechterspezifisch in der Konfrontation mit dem eigenen Bild – maskiert, demaskiert, „natürlich“ – auch darstellen, so bleibt in jedem Fall die „intime Geographie des weib­ lichen Körpers“ (vgl. Angier 2002) Dreh-, Angel- und Bezugspunkt.

DAS PROJEKT: FREMD- UND SELBSTWAHRNEHMUNG VON KÖRPERLICHKEIT  149

Unbearbeitete Rohdatei

Verfremdungsextrem: Idealisierung

Selbstwahrnehmung: „Ich habe nicht so volle Lippen und nicht so eine Stupsnase. Die Augenbrauen sind voller, und die Augen wirken schmaler als in Wirklichkeit. Es fehlen vier Leberflecke.“

Wahrnehmung des Partners: „Sie hat ein dünneres Gesicht, die Wangen sind hier zu breit. Da sind falsche Falten um die Augen, und ihre Grübchen sind eigentlich größer. Ein Muttermal auf der linken Seite fehlt.“

150  KÖRPER-FACETTEN 

Unbearbeitete Rohdatei

Verfremdungsextrem: Idealisierung

Selbstwahrnehmung: „Ich habe schon Geheimratsecken.“

Wahrnehmung der Partnerin: „Die Nase ist zu ­gerade. Die Augenbrauen sind nicht so gut gezupft. Die Ohren stehen in Wirklichkeit mehr ab. Das Gesicht ist eigentlich breiter, und er hat mehr Geheimratsecken. Er hat eigentlich stärkere Wangen­knochen, und unter dem linken Auge fehlt ein Leberfleck.“

DAS PROJEKT: FREMD- UND SELBSTWAHRNEHMUNG VON KÖRPERLICHKEIT  151

Unbearbeitete Rohdatei

Verfremdungsextrem: Idealisierung

Selbstwahrnehmung: „Die Oberlippe ist hier zu s ­ chmal und die Augenbrauen voller als sonst. Es fehlen vier Leberflecke.“

Wahrnehmung des Partners: „Das ist meine Frau!“

152  KÖRPER-FACETTEN 

Unbearbeitete Rohdatei

Verfremdungsextrem: Idealisierung

Selbstwahrnehmung: „Korrekte Abbildung. Keine Veränderungen, nichts Falsches auf diesem Bild von mir.“

Wahrnehmung der Partnerin: „Die Nase ist zu ­ gerade. Er hat Geheimratsecken. Die Gesichtsform ist in echt markanter. Die Oberlippe auf dem Foto ist zu dick. Der Leberfleck unter dem linken Auge und links ­neben der Nase fehlen.“

DAS PROJEKT: FREMD- UND SELBSTWAHRNEHMUNG VON KÖRPERLICHKEIT  153

No Body – Some Body – Any Body? Kulturelle Erfahrungen und gesellschaftliche Prozesse sind unausweichlich von „Gender“ geprägt, und Design ist darin geradezu unabdingbar verwickelt. Geschlechtsidentitäten wiederum haben nicht nur, aber doch durchaus bedeutsam mit dem Körper zu tun. Körper möchten sich orientieren, identifizieren, verändern, performieren, manchmal un- oder im Gegenteil scharf oder durchsichtig werden, häufig aber sehnen sie sich doch auch nach einer konventionellen eindeutigen Geschlechts-Identität – das Spektrum erstreckt sich von innen nach außen und vice versa, weit und widersprüchlich. Wie kann je-mand gesellschaftlich konstruierten Normen entkommen? Wenn doch nie-mand so leicht „aus seiner Haut“ kann – außer, irgend-wer fährt aus jener. Und erst recht kann niem-and den Geschlechts-Körpern davonlaufen, auch wenn ­je-mand das vielleicht möchte. Ist es nicht merkwürdig, dass die deutschen Fürwörter niemand, jemand und selbst irgend(w)er 6 eindeutig den Mann fokussieren? Das deutsche „man“ geht sogleich im „Mann“ auf und auf ihn zurück; denn etymologische Wörterbücher attestieren dem „Jemand“ oder „Niemand“ den „Mann“, setzen diesen aber flugs mit „Mensch“ gleich. Ich behaupte dies als eine ideologische Verzerrung oder wenigstens als mangelnde Gender-Sensibilität der etymologischen Rechercheure. Wenn also Mann und Mensch auf ein- und dieselbe Wortbedeutung verweisen, wird der Mann als Basis und Prototyp des Menschen ausgezeichnet. So können wir schlussfolgern: Das Deutsche demonstriert in seiner Herkunft hegemoniale Männlichkeit. Die englischen Pronomina nobody, somebody, anybody dagegen signifizieren und betonen den erst einmal geschlechtsunspezifischen Körper. Die Some-Bodies, No-Bodies oder Any-Bodies werden indifferent vorgestellt. Diese Körper sind sprachlich eben nicht gewichtig, sie spielen erst einmal keine besondere Rolle – „bodies don’t matter“, um Judith Butler leicht zu verballhornen (vgl. Butler 1993). Da ist kein „undoing gender“, wie bei Butler, wenn sie das Ich auszuloten versucht: „(…) gender undoes the ‘I’ who is supposed to be or bear its gender, and that undoing is part of the very meaning and comprehensibility of that ‘I’.“ (Butler 2004, 16) Die Körper sind überhaupt nicht von Relevanz, und sie inkorporieren keine Materia­lität („matter“). Eine eigenartige kalte Gleichgültigkeit hüllt die englischen Körper ein, es sind lediglich „irgendwelche“ oder „einige“ oder gar „keine“ Körper. Geschlecht wird weder pejorativ noch respektvoll markiert, sondern interesselos tituliert. (Auch dieses Phänomen wäre einer gesonderten Analyse wert, denn, so behaupte ich, die deutliche Differenz in der Pronomina-Benennung wird sich bis zu den v­ ollkommen divergenten philosophischen Zugängen und Traditionen verfolgen lassen.) Auf die 6

Ein Zusammenhang auch zwischen wer und er ist etymologisch nachweisbar; vgl. „wer“. In: DWDS, Das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart www.dwds.de (Zugriff 21.10.2016).

154  KÖRPER-FACETTEN 

englischen Pronomina trifft vielleicht zu, was Renate Hof mit kri­tischem Bezug zu Butlers Theorien äußerte: „(…) gerade die auf den ersten Blick so einleuchtende Vorstellung von gender als ‚soziokultureller Konstruktion‘ (…)“ scheint davon auszugehen, „(…) dass es so etwas gibt wie ‚den‘ Körper oder ‚die‘ S ­ exualität, d. h. etwas, das vor der Konstruktion existiert – der Körper sozusagen als tabula rasa, auf dem dann kulturelle Einschreibungen vorgenommen werden.“ (Hof 1995, 2) Die englischen Körper sind grammatikalisch unbeschrieben, leer, ein weißes Blatt. Die sprachliche Auseinandersetzung dient hier nicht linguistischen Zwecken, sondern berührt den sozialen, den immer schon gestalteten Körper direkt. Wie auch immer er kulturell konnotiert ist: Niemals hat er einen neutralen Ausgangspunkt, Sozialität hat ihn immer schon geprägt. Nur heißt das nicht, dass die Körper, denen der soziale Stempel aufgedrückt wurde, sich nicht verändern könnten oder müssten – wobei die Freiheit zur Veränderung sehr wohl durch soziale und ökonomische Zwänge entweder partiell verhindert oder umgekehrt oktroyiert wird. „Die Notwendigkeit, den eigenen Körper zu formen und zu inszenieren, ist in modernen Wirtschaftsgesellschaften zur Voraussetzung gesellschaftlicher Teilhabe avanciert. So setzt die soziale Zugehörigkeit nicht selten als kulturellen Aufwand eine intensive Arbeit am Körper voraus.“ (Antoni-Komar 2012, 222) Zum Menschsein gehört nun einmal Veränderung in dieser doppelten und ­damit widersprüchlichen Form von gesellschaftlichem Zwang und subjektiver Freiheit, eingeschlossen sexuelle Orientierungen und Gender-(Re)Präsentationen. Wobei in vielen Fällen die Unterscheidung gar nicht mehr getroffen werden kann, was Zwang und was Wunsch ist. Die diffuse Handlungskompetenz des Subjekts (die agency) verschwimmt im Nebel ökonomischer Zumutungen und sozio-kultureller Communities.

HABEAS CORPUS  155

DER KÖRPER: BEZÜGLICH, A ­ UFGERÜSTET, ­KONSTRUIERT, DEKONSTRUIERT, ­REKONSTRUIERT … Was an dieser Stelle vielleicht erwartet wird: Den Kontext zwischen Schönheit, Gender und sozialer Konstruktion darzustellen, findet nicht statt.7 Denn erstens tangiert Schönheit ein ungemein breites Diskursfeld, das hier gar nicht erst eröffnet werden soll; und zweitens beziehen sich die hinführenden Überlegungen zum Körper immer mindestens mittelbar auf die Projektbeispiele, die jeweils sehr spezifisch den Körper ansprechen. In keinem der Designs geht es um das Konzept von Schönheit, sondern etwa entweder um den verletzten und misshandelten oder den In-Between-Körper, aber auch um jenen, der zwischen kulturellem, natürlichem und künstlichem oszilliert.

Beziehungen zwischen Körper und Objekt Eine Diskussion über die Natürlichkeit menschlicher Körper ist obsolet, denn längst schon haben sich allerlei soziale, kulturelle und auch technologische Komponenten in ihn nicht nur eingeschrieben, sondern ihn dadurch zu einem immer schon anderen Körper gemacht – erhoben oder erniedrigt, das ist nicht leicht zu entscheiden. Wahrscheinlich beides, abwechselnd oder ineinander vermengt. Im Design spielen Körper eine bedeutsame Rolle, denn der größte Teil der Gestaltung bezieht sich auf die ein oder andere Weise auf ihn. Es geht um Funktionen und Funktionalitäten8, um Anmutung und emotionale Besetzungen von Artefakten und Zusammenhänge jeglicher Art: Gebrauchsprodukte brauchen als Maßstab den Menschen, auf den sie verweisen und verwiesen sind. Nun sagt das allerdings noch nichts aus über Qualität, Substanz, Sinnhaftigkeit, ganz zu schweigen von Fragen 7

8

Aus den unzähligen Publikationen zum Konzept von Schönheit seien hier nur ein paar wenige herausgegriffen: Prince, Lauren: Beauty and the Body: Gendered Representations of the Digitally Altered Image, Scripps Senior Thesis. Paper 395 www.scholarship.claremont.edu/scripps_theses/395 (Zugriff 22.10.2016); Degele, Nina (2004): Sich schön machen, Wiesbaden (VS Verlag für Sozialwissenschaften). Eco, Umberto (2004): Die Geschichte der Schönheit, München (Hanser); ders. (2007): Die Geschichte der Häßlichkeit, München (Hanser); Etcoff, Nancy (2000): Survival of the Prettiest. The Science of Beauty, New York, NY(Anchor); Hauner, Andrea/Reichart, Elke (Hg.) (2004): Bodytalk. Der riskante Kult um Körper und Schönheit, München (DTV); Hergovich, Andreas (Hg.) (2001): Psychologie der Schönheit. Attraktivität aus wissenschaftlicher Perspektive, Wien (WUV-Universitätsverlag); McCracken, Angela B. V. (2014): The Beauty Trade. Youth, Gender, and Fashion Globalization, New York, NY (Oxford University Press). Begriffe wie Funktion, Funktionalität, Funktionalismus sind kritisch zu analysieren, obwohl oder gerade weil sie bei traditionellen Designkonzepten der Moderne (von Bauhaus über die Ulmer hochschule für gestaltung bis zum „guten Design“ eines Dieter Rams) eine so große Rolle spielten und immer noch spielen. (Vgl. dazu S. 275–277.)

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der Ethik (u. a. Produktions- und Arbeitsbedingungen, Obsoleszenz), Ökologie (u. a. Langlebigkeit, Ressourcenschonung) und Ökonomie (u. a. Preis-Leistungs-Verhältnis, Allokation, Distribution, Feasibility). Menschen (ge)brauchen und konsumieren Produkte und Dienstleistungen jeder Art, und sie gehen immer, erzwungen oder freiwillig, Beziehungen zu diesen ein, wobei diese Beziehung niemals einseitig funktioniert: Die Beziehungen beeinflussen uns umgekehrt genauso, und das ist in den seltensten Fällen ein harmonisches Hin und Her, sondern manchmal überwältigen uns die Objekte. Ohne dass wir hier all die älteren erlesenen Philosophen (geschichtlich bekannt handelt es sich fast ausschließlich um Männer) bemühen wollen, entwirft sich das Objekt stets in der Kontroverse zum Subjekt – ich erwähne bewusst im Designkontext das Artefakt an erster Stelle; selbstverständlich aber auch vice versa und sogar etwas dazwischen. Was wir mit unseren Körpern wahrnehmen, sind nicht nur die Dinge allein, sondern auch die „Zwischenräume zwischen den Dingen“. (Merleau-Ponty 1966, 35) Nicht unversehens steht uns mit dem Objekt9 etwas entgegen, ein Hindernis, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen, um es zu integrieren oder zu überwinden. Und je nachdem, wie unsere Körper sozial konstruiert sind, agieren sie mit und reagieren sie auf andere Körper und Dinge im Raum: per Kommunikation, Interaktion, Aktion. „Körper betreten einen Raum, sie nehmen Raum ein, sie schaffen sich Raum, es wird ihnen Raum genommen – Imagination und Realität fließen ineinander und bedingen sich – die Entfaltung verharrt in der kommunikativen ­Bedeutungslosigkeit, bis sie von einem weiteren Körper wahrgenommen wird. Erst in der Realisierung der Dialogizität, der Wechselseitigkeit eröffnet sich die Per­ formanz von imaginativer Konstruktion und Dekonstruktion von Körperbildern.“ (Heilmann 2005, 63)

Durch dick und dünn I Wie bescheiden erscheint von heute aus die in den 1970er-Jahren entstandene „Trimm Dich“-Bewegung. Die Propagierung von mehr Freizeit- und Breitensport führte zu den für ca. 15 Jahre sehr erfolgreichen „Trimm Dich“-Pfaden, auf denen alle paar Hundert Meter robust und einfach gestaltete Geräte herumstanden, z. B. Recks für Klimmzüge, Holzböcke zum Überspringen, Holzstangen zum Balancieren, einfache Hindernisse für den Slalomlauf. „Ziel war es, den Freizeitsport als Möglichkeit der Selbstverwirklichung zu positionieren, individuelles Sporttreiben unter einfachsten Bedingungen anzuregen und so für ein offeneres Sportverständnis zu werben.“ (Schaffrath 2004, 187) Offenbar ging dieses von oben verordnete Konzept vom 9

Vgl. die lateinische Herkunft von „Objekt“: obiectum: „das Entgegengeworfene“, von ob: „(ent)gegen“ und iacere: „werfen“.

DER KÖRPER: BEZÜGLICH, ­AUFGERÜSTET, ­KONSTRUIERT, DEKONSTRUIERT, ­R EKONSTRUIERT …  157

­Deutschen Sportbund aus; weil nämlich die Menschen kategorisch als für im Schnitt sieben Pfund zu viel wiegend befunden wurden (40 % der Frauen und ein Drittel der Männer (ebd.)) – verglichen mit dem Übergewicht heutiger Tage waren diese etwas vollschlankeren Menschen geradezu „normal“. Das Robert-Koch-Institut ermittelte im Zeitraum 2008–2011, dass 53 % der Frauen in Deutschland übergewichtig und darunter fast 24 % stark übergewichtig waren (das hat sich aktuell sicherlich nicht zum Besseren gewendet); bei den Männern war das Übergewicht noch ausgeprägter (67 %), beim starken Übergewicht wiederum sind Frauen und Männer nahezu gleichauf : Gut 23 % der Männer sind adipös. (Vgl. Robert Koch Institut 2014.) Allseits bekannt ist das Phänomen, dass das Schönheitsideal einer Gesellschaft in der Regel den Realitäten diametral entgegengesetzt ist; vereinfacht formuliert: je schlechter und unsicherer die gesamtgesellschaftliche Versorgungslage, desto üppiger das Körperideal. Fett wurde in machen Zeiten geradezu zum Statussymbol. Dementsprechend giert die heutige westliche Welt – und im Zuge der Globalisierung auch viele nicht westliche Länder – nach dünnen Körpern. Überzeugend lässt sich diese etwas grobe These an der einschneidenden Veränderung der Schönheitsnorm in jüngerer Zeit besonders für weibliche Körper veranschaulichen: Die Fünfziger- und beginnenden Sechzigerjahre Jahre des 20. Jahrhunderts bestimmten ausgesprochen üppig-runde, als „weiblich“ titulierte Körperformen – Marylin Monroe, Sophia Loren, Grace Kelly waren die berühmten Patinnen dieser Zeit, Audrey Hepburns zierliche Figur die Ausnahme. Monroe soll in ihren späteren Jahren Konfektionsgröße 42 getragen haben (vgl. Schleifer 2012) – als heutiges Model wäre sie damit in der Kategorie „Übergröße“ zu finden!

Das Barbie-Universum Bevor nun das genaue Gegenteil dieses weiblichen Körperideals für lange Zeit – und in westlichen Gesellschaften bis heute – aufblühte, kam diesem Trend eine Puppe namens Barbie mit einem in Teilstücken ins Extreme übersteigerten Körper zuvor; dabei war ihre Vorlage noch älter und kam erstaunlicher- oder bezeichnenderweise aus dem armen Nachkriegsdeutschland: Die „Lilli“ der BILD-Zeitung, erst als Comic von dem Karikaturisten Reinhard Beuthien und seit 1955 als erste erwachsene Modepuppe von dem Modelleur Max Weißbrodt für die Spielzeugfabrik O.&M. Hausser gestaltet, in unterschiedlichsten Kleidern. Sie war für ihre Zeit ungewöhnlich dünn, konterkarierte also das in den 1950er-Jahren aus Hollywood bekannte Körperformat. Zugleich aber strahlte sie den amerikanischen Glamour aus, den Deutschland so begierig aufnahm. Lillis Taille war fast so schmal und ihre Füße ­genauso winzig wie jene der ab 1959 vermarkteten US Barbie-Puppe. Ihr Busen wiederum war schon sehr umfänglich und die Waden auffällig stark, wie später dann bei den ersten Barbie-Puppen; allein Barbies Beine waren beträchtlich länger als

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die ihres deutschen Vorbildes.10 Allerorten wurde seitdem das unrealistische und womöglich für kleine Mädchen schädliche Körperdesign der Barbie kritisiert, was aber ihre Beliebtheit niemals schmälerte. – Für positive Aufregung sorgte die von dem Künstler und Journalisten Nickolay Lamm 2014 designte „Lammily“ – Barbie in den realistischen Körpermaßen eines schlanken 19-jährigen Mädchens (vgl. Lammily.com, FAZnet 2014), zu der es mittlerweile sehr viele unterschiedliche ­Typen gibt, aber immer in Körpern, die auch in der Wirklichkeit existieren, mit sehr diversen Bekleidungsmöglichkeiten. Es werden sogar „38 reusable stickers“ (vgl. Lammily.com) angeboten, die auf Lammilys Gesicht und Körper aufgetragen ­werden können; alles Accessoires und Haut-Markers, die aus dem „normalen“ Teenager-Leben gegriffen sind: Brille, Pflaster, Sommersprossen, Akne, Narben, Leberflecken, Mückenstiche und sogar schon Cellulite! Zwar konnte ich nicht recherchieren, wie ökonomisch erfolgreich sich das Lammily-Business entwickelt – zweifellos ist es, im Vergleich zu Mattel, ein klares Nischenprodukt, aber es ist noch am Markt und expandiert zumindest quantitativ, was die unterschiedlichen Puppen und Accessoires betrifft. Eine nach meiner Einschätzung radikalere Arbeit (wenn auch ohne das Design einer neuen Puppe) legte vor etwa 17 Jahren die von mir damals betreute Studentin Sonja Stich als Zwischenexamen vor: die Vermessung der Barbie, in ihren Proportionen skaliert auf menschliche Größe, und dazu eine Auswahl von Alltagsobjekten, mit denen Barbie sich umgibt. Person und Produkte vergrößerte sie auf Dimensionen, die eine menschliche Barbie einigermaßen ergonomisch benutzen könnte. Als männlichen Idealvergleich nahm sie sich den Modulor von Le Cor­busier kritisch vor, der, wie bereits der Titel seiner Publikation entlarvt, einen höchst ideologischen Blick auf den „harmonischen“, den „universellen“ menschlich-männ­ lichen Körper warf (vgl. Le Corbusier 2000). Sonja Stichs Rechercheergebnisse machen das gesamte Körperelend einer unter menschlichen Verhältnissen lebenden Barbie deutlich: Barbie könnte ohne Hilfsmittel überhaupt nicht selbstständig laufen, da ihre Füße insbesondere im Verhältnis zu der Größe ihres Busens so winzig wären, dass sie permanent von deren Gewicht vornüber fallen müsste. Küchen­ arbeitsflächen wären ungefähr ein Drittel höher als normalerweise, und ihr schickes Autos wäre so lang – eben wegen der gefährlich langen Beine –, dass sie in keiner Stadt dieser Welt einen Parkplatz fände. – Viel später, nämlich 2007, wurde dieses Denkmodell noch einmal unter medizinischen statt Gestaltungsaspekten durchgeführt: Die einzelnen Fachärzte, die Barbies Körper in menschlichen Proportionen 10 Zur Geschichte der Entstehung von Lilli- und Barbie vgl. u. a. Marcdolls, www.marcdolls.ch/lilli.html (Zugriff 12.01.2017); dies.: www.marcdolls.ch/mattelhistory.html (Zugriff 12.01.2017); sammeln-sammler.de: Geschichte der Bild-Lilli, www.sammeln-sammler.de/bild-lilli/ (Zugriff 11.01.2017); Westenhouser, Kitturah B. (1994): The Story of Barbie, o. O. (Collector Books); Lord, M. G. (1994): Forever Barbie: The Unauthorized Biography of a Real Doll, New York, NY (Avon Books); Ebersole, Lucinda/Peabody, Richard (Hg.) (1993): Mondo Barbie, New York NY (St. Martin’s); Toffoletti, Kim (2007): „Barbie: A Post­ human Prototype“. In: Dies.: Cyborgs and Barbie Dolls, London/New York NY(I. B. Tauris & Co).

DER KÖRPER: BEZÜGLICH, ­AUFGERÜSTET, ­KONSTRUIERT, DEKONSTRUIERT, ­R EKONSTRUIERT …  159

untersuchten, fanden folgende erschreckende Fakten: In Lebensgröße wäre sie zwischen 1,88 m und 2,26 m groß; sie wäre geplagt von Arthrose, Bandscheibenvorfall, hätte eine eingeschränkte Funktion der Organe (wegen ihrer extrem dünnen Taille) und litte unter Atemnot; außerdem wäre sie unfruchtbar, und ihr Hormonmangel führte langfristig zu Osteoporose (vgl. WDR 2007, 16–18). All diese Warnungen jedoch lassen das Geschäft unbeeindruckt. Und so ist es zwar bezeichnend, aber eigentlich nur konsequent, dass neuerdings berühmte Modedesigner und -marken Klamotten für Barbie entwerfen. Drei Beispiele seien hier vorgestellt, wobei das Modelabel Moschino durch deren offenbar von obsessiver Liebe zu Barbie-Puppen befallenem Kreativdirektor der Barbie gleich drei Jahre hintereinander Tribut zollte: „In Zusammenarbeit mit Mattel und net-à-porter lanciert Moschino eine Barbie Capsule Collection. Nachdem Kreativdirektor Jeremy Scott seine (sic!, d. Verf.) Models für die Frühjahr/Sommer-Kollektion 2015 in Entwürfen auf den Laufsteg schickte, die von Barbie-Outfits inspiriert worden waren, ging er für seine neueste Idee den umgekehrten Weg: Er entwarf eine Modelinie exklusiv für Barbie-Puppen (…).“ (Vogue 2015) Hier wurden also zuerst die Models zu Barbie-Puppen degradiert und im zweiten Schritt die Barbie in den Status lebender Models erhoben – in beiden Fällen eine „Verpuppung“ der Frauen und Vermenschlichung der Puppe. Nach diesem Erfolg verlebendigte Scott im darauffolgenden Jahr den farb­ losen Partner Barbies namens Ken individuell (d. i. Scott selbst) und gesellte ihm Barbie zur Seite: „Der Designer gestaltete eine Collector’s Edition mit einer Ken- und einer Barbie-Figur im Moschino-Outfit. Der Clou: Während die Barbies aus dem Jahr 2015 keinem speziellen Model nachempfunden waren, können sich Sammler und Puppenfreunde nun Miniaturversionen von Jeremy Scott höchstpersönlich sowie Topmodel Stella Maxwell ins Regal stellen. (…).“ (Vogue 2016) Zu beachten ist hier, dass nun Ken – der ja in Mattels Barbie-Universum ansonsten nur als schwächliches Männlein im Hintergrund bleibt – im Zentrum steht, da er die Züge des Kreativchefs Scott trägt und Barbie als die Frau an seiner Seite gestaltet ist. Als letztes und neuestes Beispiel für die unmittelbare Verknüpfung der Barbie-Identität mit Mode für lebende Frauen zitiere ich noch einmal die Vogue: „Die modische Zusammenarbeit zweier Ikonen steht an: Matty Bovan wird am Donnerstag persönlich eine limitierte Merchandise-Linie bei Selfridges in London launchen, die von der Kult-Puppe Barbie inspiriert ist. Die Kollektion soll T-Shirts, Buttons und Stickers enthalten (…). Daneben hat der New Yorker Modeschöpfer seiner Kreativität auch noch in einem anderen Bereich freien Lauf gelassen Er designte eine exklusive Serie von Barbie-Puppen, die seine Frühling/Sommer-Kollektion 2017 tragen wird (…).“ (Vogue 2017) Hier wird das Leitmotiv Barbie in einem noch anderen Identitätskonzept realisiert: Im ersten Fall dient Barbie als „Inspiration“ für das Design von Mode und Accessoires, die ohne Hinzuziehung der Puppe selbst, aber sie assoziierend und kenntlich gemacht, funktionieren soll. Und im letzten Fall wird Barbie von dem Modedesigner (re)designt, um als Model-Kleiderbügel für Bovans neue Modelinie herzuhalten.

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Durch dick und dünn II Und nun zurück zu dem diametralen Wandel der weiblichen Körper von den 1950erzu den 1960er-Jahren. Die vollschlanke Mehrheit also repräsentierte gelungenen Wohlstand und frische Gesundheit nach der kriegsbedingten Mangelzeit. Ganz anders die zweite Hälfte der 1960er-Jahre, als die Erinnerungen an die Nachkriegs- als Notzeit verschwunden waren und eine neue, nämlich junge und rebellische Generation sich aufmachte, die Eltern politisch, ästhetisch und performativ zu kritisieren und zu überwinden. Seit Mitte der 1960er-Jahre änderte sich folgerichtig das Körperbild vollkommen. Alle überstrahlende Kult-Figur dieses radikalen Umbruchs wurde Twiggy (vgl. Reed 2013, 80 f.): vorn und hinten gleichermaßen flach, lange dünne Beine, zierliche Füßchen, kurze blonde Haare; nicht wirklich androgyn, obwohl der Körper das durchaus nahelegte, aber das Gesicht passte dazu nicht recht ins Bild: Die Augen schauten, schwarz umrandet und mit langen Wimpern behaftet, riesengroß und stets erstaunt in die Welt, und ihre vollen Lippen waren meist zu einem Schmollmund geformt. Diese sorgfältige Gestaltung zur neuen Fashion-­ Ikone wurde erreicht durch die Kombination cooler Pop-Ästhetik und unschuldigem Schulmädchen-Look zugleich. Die provokante Montage aus knabenhafter Geschlechtsveruneindeutigung und süßem weiblichem Teenager schuf einen radikal neuen Typus Frau, der die vorherigen Vorbilder extrem kontrastierte: Die üppige Frau verschwand bzw. transformierte sich in ein uneindeutiges, dünnes, mädchenhaftes Geschöpf. Die westliche Welt war nun angekommen in den Zeiten der Vollbeschäftigung, einer saturierten Gesellschaft, die allerdings sogleich durch die Jugendproteste eben gegen diese selbstgefällige, übersättigte, die Geschichte verdrängt habende Kultur gestört wurde. Und so war es nur konsequent, dass die Jugendlichen po­ litisch, aber auch körperlich demonstrativ aufbegehren mussten – mit der nicht ­unerheblichen gesellschaftlichen Kampfansage der Angleichung weiblicher und männlicher Körper in Mode, Accessoires und Haarschmuck. Die gegenläufigen Körpersachverhalte – Mangelgesellschaft huldigt üppigen Körpern, Überflussgesellschaft dürren – bergen noch eine zweite widersprüchliche Seite: Körperideal und Körperwirklichkeit klaffen seitdem immer weiter auseinander. In den USA trägt die Mehrheit der Teenager-Töchter heute durchschnittlich zwei Konfektionsgrößen größer als ihre Mütter in jungen Jahren. Körperformen werden laufend wichtiger, aber auch gewichtiger. Die Diskrepanz zwischen den spindeldürren, bleichgesichtigen Models und den Leibesumfängen der gleichaltrigen „Normal“-Mädchen und -Frauen verstärkt sich genauso wie die Sehnsucht Letzterer nach eben jenen zum Verschwinden tendierenden Modelkörpern. Konfrontiert werden wir sodann mit den zunehmenden Essstörungen zwischen Anorexia nervosa und Bulimie nervosa, die übrigens mittlerweile einen wenn auch geringeren Teil der jungen Männer erfasst hat. Die Quantität der „Körper von Gewicht“ wird desto relevanter, je weniger der Umfang in zwanghafte Größen wie 32 und 34,

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eigentlich noch Kindergrößen, hineinpasst. Die Sucht nach und die Angst vor in Zahlen gefassten Konfektionsgrößen und Körperumfängen manifestiert sich in der „Einverleibung der Zahlen in den Körper“ (Döring 2011, 209) oder, noch drastischer, umgekehrt in der „Leibwerdung der Zahl“. (ebd., 35) Im ersten Fall isst der Körper sozusagen die (Ideal)Zahl – und wird dadurch, so könnte ich ebenso metaphorisch wie paradoxal behaupten, immer dicker; im zweiten Fall ist der Körper gleich selbst zur Zahl geworden – er ist in ihr aufgegangen. Allerdings werden mittlerweile Strategien (im Sinne de Certeaus also als ­Mittel der Mächtigen) von den Marketingabteilungen der Modeunternehmen ersonnen, um die Körper zu „verkleinern“. Die hintergründige Finesse des Marketing ist erstaunlich: Es werden nämlich nicht simpel die Kleidergrößen geschummelt (aus der ehemaligen 42 wird eine 40, aus der 40 eine 38 und aus dieser eine 36 etc.), sondern der jeweiligen Größe wird eine vergrößerte Körperfülle zugestanden. (Vgl. ­Simon/Scholz 2010.) Diese Strategie dient den Unternehmen selbstverständlich als verkaufstechnischer Trick, hat aber auch für die Konsumierenden den psychologischen Effekt, sich besser und schlanker zu fühlen, als sie tatsächlich sind. Diese Täuschung mutet akut freundlich an, vermag aber nicht darüber hinwegzutäuschen, dass die unerbittliche Kontrolle genormter Idealkörper für alle Geschlechter, am intensivsten aber immer noch für das weibliche, virulent bleibt.

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DAS PROJEKT: I-AM-ME Juliana Lumban Tobing Es geht nicht darum, Mode zu gestalten, die weibliche und männliche Elemente vereint oder gar als unisex bezeichnet wird; sondern darum, Möglichkeitsräume für Individuen zu eröffnen, sich so zu verkörpern und zu repräsentieren, dass unterschiedliche Identitäten ihren Ausdruck finden können. Mit meiner Arbeit habe ich versucht, dieses Konzept durch ein 3D-Origami Kleidungsstück aus Papier zu realisieren. Es besteht aus einzelnen 3D-Origami Modulen, die in den unterschiedlichsten Kombinationen zusammensetzbar sind und so immer wieder individuell zu einem Kleidungsstück geformt werden können. Im Ganzen entsteht dann ein flexibles und bewegliches Kleidungsstück, das sich den eigenen Vorlieben anpasst. I-am-Me ist ständig in Bewegung. Ändert sich die Identität, lässt sich auch die sie umschließende Hülle ändern.

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DAS PROJEKT: I-AM-ME  165

Der optimierte und nachgerüstete Körper Nicht nur die moderne Form der traditionellen Diskussion um die Mensch-Maschine-­ Faszination hat uns zu beschäftigen, sondern auch die geradezu wahnhaft bzw. ­hypochondrisch sich ausbreitende Enhancement- und Upgrade-„Kultur“, wie sie sich in den digital vermittelten Körperkontrollen expressiv äußert und uns als ­soziale Praktiken, erzwungen, unbewusst oder bewusst, eingeschrieben. „Soziale Praktiken sind (…) in der Regel Praktiken mit und in Dingen, mit technischen Artefakten (…). Indem die Dinge derart in die fortlaufenden sozialen Praktiken der ­Menschen eingebettet sind, rücken sie den Menschen auf den Leib, kommen die Objekte den Subjekten immer näher, werden Mensch und Ding immer interaktiver.“ (Hörning 2012, 34) Alle haben auf ihre Körper zu achten, wenn sie gesellschaftlich mithalten ­wollen oder damit sie gesellschaftliche Anerkennung erringen. „In leisure activities, too, the body has moved centre-stage. The idealized de­ siring and desired body of late capitalism needs work on it to produce a sleek and acceptable performance in an era that has seen the triumph of the cult of the fit body. Thinness and fitness, for men and women, are dominant desires (…).“ (Mc­ Dowell, 1999, 37) Und die unterstützenden Möglichkeiten, dies zu tun, waren noch nie so vielfältig. Das betrifft Raumbedingungen ebenso wie die Zeitorganisation. Ob drinnen oder draußen, privat, semiöffentlich (z. B. Fitnesscenters) oder öffentlich – überall springt uns die strenge Aufforderung an, gefälligst etwas für den eigenen Körper zu tun. Für das private Zuhause bieten sich mannigfaltige Trainingsgeräte an, draußen wird vor oder nach der Arbeit gelaufen; und sogar in der Mittagspause – sich jung, dynamisch, modern wähnende Unternehmen halten bereits Duschen und Umkleideräume bereit. Dazwischen und am Wochenende kommt zusätzlich das Fitness-Studio oder der „Personal Trainer“ zum exzessiven Einsatz. Der Zusammenhang zwischen körperlicher und mentaler „Fitness“ (ich gebrauche hier bewusst dieses ebenso banale wie drohende Ertüchtigungswort) wird vielfach beschworen und behauptet. Das ist verständlich, wenn doch der Körper in der postindustriellen Leistungsgesellschaft dermaßen wichtig geworden ist, dass seine Form automatisch auf die geistigen und charakterlichen Fähigkeiten projiziert wird. Ein dicker, untrainierter Körper insinuiert geistige Trägheit, Willenlosigkeit, Schwäche, denn er hat sich dem Diktat der Optimierung entzogen. Das, was Foucault als das „Neue an den Gelehrigkeiten“ (Foucault 1992, 175) des Körpers für das 18. Jahrhundert konstatiert, kann, in seinen Dimensionen erweitert, sehr wohl auf die gänzlich neuen Körper des 21. Jahrhunderts überschrieben werden: Es „formiert sich eine Politik der Zwänge, die am Körper arbeiten, seine Elemente, seine Gesten, seine Verhaltensweisen kalkulieren und manipulieren. Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt. Eine ‚politische Anatomie‘, die auch

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eine ‚Mechanik der Macht‘ ist, ist im Entstehen.“ (ebd., 176) Die „Mechanik“ hat sich heutzutage in Digitalität verwandelt, die noch subtiler und damit zugleich unerbittlicher körperliche Formen und Bewegungen überwacht, gegebenenfalls zerstört und, sofern geglückt, als aufgerüsteten, dynamischen Leistungskörper neu montiert; und umso vehementer von Design formiert und formuliert wird. „In der zeitgenössischen Upgradekultur machen sich allerorten und jederzeit Optimierungsimperative geltend: Kompetenzen sind zu erweitern, Leistungen zu optimieren, die Fähigkeiten zu steigern, die körperliche Fitness und Erscheinung sowie geistige Präsenz zu verbessern.“ (Spreen 2015, 106) Diese Macht- und Körperpolitiken betreffen erst einmal alle Geschlechter. ­Allerdings stehen zahlreiche, geschlechtsdifferenzierte Enhancement-Geräte und -Strategien zur Verfügung. Denn schließlich müssen die Körper je nach Geschlecht unterschiedliche Teile in unterschiedlicher Weise modellieren. Frauen haben die Verantwortung für möglichst weiblich-straffe, an den „richtigen“ Stellen fein gerundete Körper – es sei denn, sie gehörten einer kleinen Gruppe an, die muskelbepackte, toughe Körper bevorzugt, womit sie dem normativen gesellschaftlich durchgesetzten Schönheits-Kodex sowieso nicht entsprächen. Männer hingegen sollen sportlich durchtrainierte Körper, Waschbrettbauch und Muskeln vorweisen – Körper, die aber nicht unbedingt oder nicht notwendigerweise mit dem Adjektiv „schön“ zu umschreiben sind. „Die Zurichtung des fitten Körpers erfolgt (…) entlang geschlechtsund begehrensspezifischer Differenzkriterien. (…) In den Fitnesspraktiken und -­diskursen reproduziert sich die Geschlechterdifferenz nach wie vor als wirkungsmächtiges Konstrukt. In der Kurzformel ‚Expansion vs. Reduktion‘ zeigt sich, dass die Modellierung des fitten und knackigen Körpers zwar gleiches Ziel für alle ist, doch die konkrete Verkörperung der betreffenden Werte sich unterschiedlich zeigt: Während für viele Männer der Muskelaufbau bzw. die klassische V-Form des Oberkörpers im Zentrum steht, ist die Fettreduktion häufig genannter Zweck der Übungen bei Frauen.“ (Graf 2012, 252, vgl. Degele/Sobiech 2008, 109–118) Auffällig auch hier, dass die weiblichen Körper bestrebt sind (bestrebt sein müssen), weniger zu werden und entsprechend weniger räumliche Präsenz zu zeigen, wie bereits zuvor unter der Perspektive der Zweidimensionalität erörtert wurde.11 In beiden Fällen geht es um den gestalteten Körper – um Formgebung –, also immer auch hintergründig oder offensiv um Design. Denn das Design partizipiert beträchtlich an den Gestaltungen des Körpers in mehrfacher Weise. Der Körper durchläuft in gewisser Weise alle Prozesse, die den materiellen oder digitalen Designprozess ausmachen: von den ersten Ideen („ich will einen fitteren Körper haben“) und der Recherche („wo und wie trimme ich meinen Körper am besten“) über die Konzeptentwicklung (gewünschter Gesamteindruck des herzustellenden Körpers), die sorgfältige Auswahl der Materialien (Turnschuhe, Körperbekleidung, Sportgeräte …) bis zur Prozesskontrolle (digitale Überwachungsapparate und personale Beaufsichtigung), dem 11 Vgl. dazu Kap. Der zweidimensionale Körper, S. 122–124.

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ersten Modell (Casting), anschließendem Prototypen (erste Verkörperung) und abschließend dem marktfertigen Produkt (das fertige Körper-Produkt). So entsteht das Körperdesign. Wie lange es hält, hängt von der Qualität des Konzepts, der Materialien und den sozialen und ökonomischen Verhältnissen ab.

Der Daten-Körper Gestaltung ist auch hier erst recht permanent und immanent im Spiel, sowohl was die zahlreichen Hilfsmittel betrifft, den Körper in die entsprechend normativ angemessene Form zu bringen, als auch das Design am und im Körper selbst. Die Apparate und Materialien reichen von diversen Sportgeräten und digitalen Kontrollen über Sportkleidung, die immer diversifizierter wird und zunehmend aus High-­ Tech-Materialien besteht, bis zu den unüberschaubar vielfältigen Sportarten, Bewegungsübungen und Physiotherapien. „Unter Schlagwörtern wie QuantifiedSelf, Self Tracking oder Lifelogging wird heute eine Vielzahl an Produkten zur digitalen Erfassung, Analyse und Auswertung von Körper- und Gesundheitsdaten vermarktet. Dabei wird etwa die Anzahl der bewältigten Schritte, Pulswerte oder die Schlafdauer und -qualität gemessen (…). Viele dieser Anwendungen bieten Unterstützung bei der Erfassung von Sportaktivitäten, Gewicht, Ernährungsgewohnheiten, manche auch von weiblichem Zyklus, Alkohol- oder Nikotinkonsum (…).“ (Christl et al. 2014, 36 – Hervorh. i. Orig.) Diese auch Wearables genannten digitalen Artefakte verstärken nicht nur die Selbstkontrolle, sondern unterstützen Stress, Schuldgefühle und potenziell auch Hypochondrie, wenn nämlich die Vorgaben nicht korrekt erfüllt wurden. Das „Quantified Self“ übrigens ist eine geschützte Marke, als Quantified Self Labs von Gary Wolf und Kevin Kelly (die u. a. das Technologie-Magazin Wired mitbegründeten) in Kalifornien etabliert „Our mission is to support new discoveries about ourselves and our communities that are grounded in accurate observation and enlivened by a spirit of friendship.“ (QS o. J.) Offenbar sehr erfolgreich und angeblich in zahlreichen Städten weltweit durch sogenannte „meetup groups“ vertreten, fragen wir uns, wie sich Freundschaft mit „accurate observation“ und „self knowledge ­through numbers“, so der Untertitel (ebd.), verträgt. Um nur einmal die Dimensionen der erbarmungslosen Selbstkontrolle und hysterischen Körperüberwachungs-­ Mechanismen zu veranschaulichen, zitiere ich hier einige auf der – schlecht gestalteten – Quantified Self-Website angeführte Themen: „Fitness and health tracking, Chemical body load counts, Personal genome sequencing, Lifelogging, Metabolic mentoring, Behavior monitoring, Sleep tracking, Mood and emotion tracking“ (ebd.) etc. Es fragt sich, wie eine Quantifizierung des Selbst zu neuen Erkenntnissen und der Selbsterkenntnis über Körper, Geist und sogar noch über die Emotionen führen kann, wenn es schlicht um Zahlen geht und Qualität vollkommen irre-

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levant ist. „Data visualizations can be interpreted as more ‘authentic’ insights into daily lives than subjective experiences. This intertwines with the deeply rooted notion that seeing is believing, a reminder of the fact that even if the market in self-tracking technologies is relatively recent, the way in which it promotes visual engagements with bodies and minds is firmly rooted in our culture.“ (Pantzar/Ruckenstein 2014, 103) Da wir offenbar dem Sehen als dem uns kulturell am wichtigsten erscheinenden Sinn besonders vertrauen, tendieren wir dazu – zumal, wenn er sich in der Visualisierung von Daten präsentiert –, ihm „wissenschaftliche Objektivität“ (was immer das sein soll) zu unterstellen: „Dabei folgt die visuelle Präsentation der Daten und Werte meist einer doppelten Plausibilisierungsstrategie: Zum einen verweisen Kurven, Statistiken, Tabellen oder Kuchendiagramme dezidiert auf Wissenschaftlichkeit – auch wenn sie sich an den Maßstäben der Wissenspopularisierung wie Anschaulichkeit, Allgemeinverständlichkeit, fehlendem theoretischem Hintergrund oder wissenschaftlich-theoretischen Anschlüssen orientieren. Und zum anderen suggerieren (stilisierte) Bilder und Grafiken die vermeintlich unmittelbare Repräsentation der Wirklichkeit und erzeugen so eine kaum hinterfragte Evidenz.“ (Duttweiler/Passoth 2016, 13) Mit all diesen pseudo-verobjektivierenden Hard- und vor allem Softwares werden in der Tat nichts anderes als abstrakte Daten erzeugt – der Körper wird zum schlichten Datenträger, allerdings mit gehörigen Konsequenzen. Denn die permanente Beschäftigung mit dem und Konzentration auf den Körper, wie er funktioniert und wie er optimiert werden kann und muss, provoziert psychosomatische Reaktionen. Eine Gesellschaft, in der die Individuen ganz allein, sozusagen privat, für das Funktionieren, die Schönheit und Fitness ihrer Körper verantwortlich gemacht werden, braucht keine manifesten Strafandrohungen, denn sowohl die Disziplinierung als auch gegebenenfalls die Sanktionierung erscheinen selbst gewählt, da internalisiert. Wenn notwendig, erfolgt die Bestrafung durch die eigene Person, etwa, indem der Körper nacharbeiten oder am nächsten Tag noch mehr Leistung erbringen muss – und falls auch das nicht eingehalten wird, rächen sich Körper und Geist eben mit Schuldgefühlen. Und so einverleiben sich die Selbstoptimierungsapparate von heute die Menschen mit Affekten, wie Julien Offray De La Mettrie sie bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts für L’homme-machine (vgl. De La Mettrie 1748) behauptet hatte, eingeschlossen seine frühen Thesen über Schuldgefühle, die viel später Freud unter der Kategorie des Über-Ich (vgl. Freud 1998, XIII, 237– 289) ausarbeitete. So unterwerfen sich (und werden unterworfen) – zumindest in der westlichen Kultur – jene vielen Menschen den mannigfaltigen Selbstoptimierungszwängen, die mithalten und es zu „etwas bringen“ wollen. „Gelehrig ist ein Körper, der unterworfen werden kann, der ausgenutzt werden kann, der umgeformt und vervollkommnet werden kann.“ (Foucault 1992, 175)

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Der „entfaltete“ Körper Doch kaum haben sich die Körper an solche Selbstoptimierungs-Zwänge leidvoll und anstrengend gewöhnt, droht ein nächster Trend, der vieles dem Körper mühsam Zugemutete bereits wieder diskreditiert. Das 1998 in Frankfurt a. M. gegründete zukunftsInstitut, bekannt für seine Trendvorhersagen und insbesondere populär bei Unternehmen, verkündete ganz neu „Das Ende des Sports“. In der Anpreisung der Studie „Health Trends“ (vgl. Muntschick 2016) (die ich nicht angeschafft habe, da sie über 200 Euro kostet!) heißt es: „Sport als reine Leistungssteigerung ist für viele Menschen unbefriedigend geworden. Immer mehr wollen sich abseits des Optimierungswahns im eigenen Körper wohlfühlen, ihren Körper neu entdecken. (…) Die neue Botschaft lautet nicht mehr: ‚Mach Sport!‘, sondern: ‚Entfalte dich!‘“ (Winnefeld 2016/Zukunftsinstitut) Ohne dass wir diese die wichtigsten Trends angeblich vorhersagenden Agenturen ernst nähmen: Sie signalisieren, dass der durchtrainierte Körper offenbar inzwischen gewöhnliches Gemeingut geworden ist und deshalb ein sich zukunftsorientiert gebendes Institut einer zum Mainstream abgesunkenen Bewegung abschwören und etwas Neues erfinden muss. Wenn solchen Einschätzungen zufolge „Entfaltung“ statt Sport befohlen wird, bietet das dennoch die Chance, etwas womöglich Besseres für Körper und Selbstbewusstsein zu ersinnen als verbissene Modellierung. Denn die Regression des Körpers in ein gefügiges Instrument scheint denn doch nicht in reiner Form zu funktionieren: „Die modernen Gesellschaften haben sich in den letzten zweihundert Jahren wiederholt darum bemüht, die Körpertechniken auf ‚Körpertechniken‘ zu reduzieren, sie so zu somatisieren, dass es in ihnen um Bewegungsabläufe ging, die einer Berechnung, einer automatischen Aufzeichnung oder einer naturwissenschaftlichen Betrachtung zugänglich waren. Aber weder sind diese Reduktionen einheitlich gewesen, noch konnten sie einen ‚Körper‘ herstellen, der sich von den Ritualtechniken, Sprachtechniken, Medien und Suggestionen unterscheidet, denen dieser Körper seine jeweilige Ent­ stehung verdankt.“ (Schüttpelz 2010, 119) Es gibt eben einen Körper vor den Körpertechniken, in den Erfahrungen und seine eigene Geschichte eingeschrieben sind, die sich nicht so einfach vergessen. Und da ist auch noch etwas anderes, ein widerständiges Restpotenzial, dass das Körper-Haben mit dem Leib-Sein12 wenn nicht versöhnt, so doch miteinander in Beziehung treten lässt „Nie ist der Körper nur passive Einschreibefläche oder auch stabiles Resultat der Praktiken, die ihn zu regulieren versuchen. (…) Im Denken über Körper aus einer praxis- beziehungsweise handlungsorientierten Perspektive gehen wir also von der Idee des prozesshaften Drängens der multiplen, vielfältigen Körper aus.“ (König et al. 2012, 12) Insofern ist da Hoffnung, dass der Körper 12 „Ein Mensch ist immer zugleich Leib (…) und hat diesen Leib als diesen Körper.“ Plessner, Helmuth (1970): Lachen und Weinen. In: Ders.: Philosophische Anthropologie, Frankfurt a. M. (Suhrkamp), S. 43 (Hervorh. i. Orig.).

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nicht zu einem willenlosen Rumpf bzw. digital ge- und verleiteten Torso verkommt – das denkende und fühlende Subjekt ist zwar alles andere als frei in seiner Entscheidung, was es zu tun oder zu lassen gedenkt, aber es ist eines, das über Formen der Handlungsmächtigkeit verfügt, das sich zeitweilig in rebellischen Aktionen zu verkörpern und zu entäußern mag. Design taugt eben nicht allein dazu, Körper in sozial normative Form zu pressen und Hilfsmittel aller Art für diese Körpertechniken zu gestalten, sondern kann auch dazu beitragen, die Individuen zu befähigen, Handlungsmächtigkeit über ihre Körper zu erlangen und so mit kritischem Selbstbewusstsein jene Medien und Artefakte zu nutzen, die soziale und heteronormative Abhängigkeiten konterkarieren.

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DAS PROJEKT: YALA MAHA13 Anna Maria Merkel

Nach einer Reise durch Sri Lanka im Winter 2013/2014 nahm die Idee Gestalt an, ein Projekt zu entwickeln, das die Kreation fairer Kleidungsstücke in Kooperation mit sri-lankischen Näherinnen fördert. In einer breit angelegten Recherche wurden neben geschichtlichen Fakten, genderpolitischen Sichtweisen, kultureller Realität und Religiosität auch aktuelle gesellschaftliche Geschehnisse, Materialstudien zum Sari sowie Momentaufnahmen vorherrschender Produktionsverhältnisse und designtheoretische Aspekte betrachtet. In Zusammenarbeit mit den sri-lankischen Näherinnen entstanden per Skype- und E-Mail-Kontakt Entwürfe für mögliche Kleidungsstücke. Anschließend wurden alle Untersuchungen in einem Designkonzept arrangiert, in eine visuelle Sprache übersetzt und mithilfe der Kölner Modegestalterin Ilse Stammberger in eine Kollektion übertragen. Im Anschluss an diese erste Vorkollektion wurde das Projektteam vergrößert und unter dem Namen Yala Maha vereint. Yala Maha beschreibt seitdem den gemeinschaftlichen Gedanken: Yala, der Südwest-Monsun, und Maha, der Nordost-­ Monsun Sri Lankas, bringen mit ihren starken Regenfällen Veränderungen, zerstören morsche Strukturen und verwandeln ihre Umgebung. Yala Maha ist dabei als eine Zusammenführung südasiatischer Textilkunst mit deutschem Design zu verstehen, als eine Fusion zweier Kulturen. Yala Maha stellt hohe Ansprüche an Qualität und zeitgenössische Ästhetik. Das Projekt kämpft für gerechte Herstellungsprozesse in den Produktionsländern, arbeitet auf der Grundlage sozialer Prinzipien und setzt sich explizit für das Recht auf ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben der Kriegswitwen in Sri Lanka ein. Diese Selbstbestimmung geht einher mit finanzieller Autonomie, die langfristig und gemeinsam mit den beteiligten Frauen erarbeitet werden soll.

Arbeitsweise In Zusammenarbeit mit den Näherinnen werden gebrauchte Sari-Teile aus SriLanka in Patchwork-Arbeiten neu zusammengesetzt. In zahlreichen Kreativ-Workshops werden vor Ort bunte Assoziationsketten zur sri-lankischen Kultur entworfen. 13 Yala Maha & Friends sind: Anna Maria Merkel, Eva Herrmann, Jan Buckenmayer, Marie-Theres Rhein und Max Hoffmann.

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Brücken zwischen Erinnerungen, Alltag, Zukunftsideen und Fantastischem verbinden Figurationen mit Abstraktionen. Diese Gedanken-Ensembles werden von den Frauen in Form, Farbe und Struktur übersetzt und schließlich in kaleidosko­pischen Patchwork-Arbeiten zusammengefasst. Jene ornamentreichen Kompositionen gelangen ressourcenschonend – via reisender Menschen – nach Deutschland. Hier werden diese Sari-Patchworks mit klaren Schnitten kombiniert. Die Entwürfe der Kollektion 1 wurden im Frühjahr 2016 in Kooperation mit einem Istanbuler Nähatelier in sorgsamer Handarbeit produziert. Jede Farbgebung ist einmalig, die produzierten Teile sind somit Unikate. Die schlichten, überwiegend schwarzen Kleidungsstücke mit farbigen Applikationen werden zur Bühne und zur Projektionsfläche für künstlerische und soziale Auseinandersetzungen. Auf den Etiketten werden die Gedanken der Frauen zu ihren jeweiligen Patchworks festgehalten, um die Konsumentinnen für die Werte der Produkte zu sensibilisieren.

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Ashadari ist Mutter zweier Kinder und lebt in Kandy, Sri Lanka. Sie hat eine Ausbildung als Textilnäherin absolviert und sich anschließend auf Patchworks spezialisiert. In ihrer Freizeit ­unterrichtet sie andere Frauen im Patchwork-Quilt-Handwerk.

Patchwork PeaCock Größe: 132 × 115 cm

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Workshops In Kooperation mit der Association of War Affected Women (vgl. AWAW 2016) wurden 2015 zwei Workshops mit sieben Frauen in Kandy – dem Hochland Sri Lankas – realisiert. Fünf der Teilnehmerinnen waren mit dem Projekt bereits durch das vorhergegangene Seminar im September 2014 vertraut, was die Zusammenarbeit um ein Vielfaches erleichterte. In der ersten Phase wurden Assoziations-Ketten gebildet und Geschichten gesammelt. Das vorab besorgte Secondhand-Sari-Material wurde nach Qualität sortiert und unter den Frauen aufgeteilt. In den folgenden fünf Tagen arbeiteten alle Teilnehmerinnen selbstständig an den Patchwork-Entwürfen, die bei einem zweiten Zusammentreffen revidiert wurden. Durch diese enge Zusammenarbeit über mehrere Projektphasen hinweg entstand ein Gefühl von Teamarbeit, das Länder- und Kulturgrenzen erfolgreich überwand.

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Design-Board Mode Collage und Stoffauswahl für eine zukünftige Jacken Kollektion.

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Entwurfsphase Das Ziel der Gestaltung Yala Mahas ist die Visualisierung einer interdisziplinären Fusion, die Tradition und Moderne miteinander kombiniert und mit verschiedenen Produktionsmethoden und Entwurfstechniken experimentiert.

Schnittkonstruktion Die Schnitte der Prototypen Yala Mahas werden per Hand entworfen, die finalen Schnittmuster am Computer mit entsprechenden Programmen ­realisiert.

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Kollektion 0 Die Vorkollektion der ersten Kollektion experimentiert mit Oversized-Schnitten und zeigt Entwürfe für spätere Arbeiten.

mixedcurry&coke

lonesomelagoon

colombonights

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Jaffna

Kandy

Kollektion 1 – Urban Botanic Inspiriert und benannt nach den drei großen Städten Sri ­Lankas – Colombo, Jaffna und Kandy – umfasst die aktuelle Kollektion 1 drei Modelle und ist auf 99 Teile limitiert. Durch die individuell angefertigten Patchworks ist jedes Kleidungsstück ein Unikat. Aufgrund der Schnitte sind die Shirts – ­entworfen in einer speziellen XL-Einheitsgröße – für jeden Körper: zeitlos, saisonunabhängig und gender-fluid.

Colombo

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DAS PROJEKT: REVERSE BRANDING – THE BRANDES PROJECT Luca Éva Tóth

Lifestyle, reality and makeover shows gained remarkable popularity in the early 2000s. Old cars were turned into shiny vehicles, damp houses into ‘interior design catalogue’ homes, unruly dogs into well-behaved pets, fat people into skinny ones and people with no sense of fashion emerged as fashionistas. However, the biggest attention was given to beauty makeover shows where, with the help of experts, ordinary women tried to achieve the impossible image of perfect beauty that is omnipresent in digital and print media. These shows impose unrealistic beauty standards that make people question their own bodies, while giving them an instruction manual on how to instantly solve their problems by changing their appearance (see Sanneh 2011 among others). The recipe is simple: In some cases a new haircut, makeup, manicure, pedicure, new wardrobe and maybe a quick therapist session will do. More serious candidates will also need tooth whitening, Botox injections and plastic surgery. Problem solved. It goes without saying that the idea and method behind these kinds of makeover shows ought to be criticised as a whole. First of all, these shows would have us believe that our physical appearance is the most important thing about us; none of these shows tries to challenge the candidates to look behind the mirror and take interest in other, equally important parts of their identity, such as intellect, emotion, humour or grace. With superficial physical changes, the makeover shows ignore the reasons as to why participants may feel a need to change their appearance. Secondly, these superficial physical interventions are linked with instant happiness, thus reinforcing the false belief that success or a better life can only be achieved by being beautiful. Thirdly, the shows convey the idea that plastic surgery is just as mundane as going to the dentist. ­Finally, makeover shows pressure women into wanting to achieve an unmatched image by supporting materialism (see Lewis 2008). My project ‘Reverse Branding’ is based on these makeover shows. The project introduces the ‘gender factor’ through a design approach that mimics uncritical adaption of the brutal mechanisms of these shows, but at the same time reverses the intention into its opposite: ‘reverse branding’. The scripts for these shows usually follow the same pattern: Take an ordinary woman, introduce her and let her talk about her body image problems, briefly show the steps of her transformation and then reveal ‘the new you’ in front of an audience, possibly family members, who will be convinced that their beloved one’s life has just become better. Everyone sheds tears of happiness and the show is over.

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So the script was given, I just had to change the method. In my version, I wanted to have a woman of extraordinary and outstanding looks, who was genuinely confident, quite satisfied with both her body and looks, and then – on her request – I would be the host of the show to turn her into an average, less colourful, less original individual. I quickly realised that my perfect candidate would be our professor, Dr. Uta Brandes, and luckily, she agreed. What a coincidence that her name includes the word BRAND! With this preparation, I could get started: I drew a storyboard, organised locations like hairdressers and fashion boutiques, created a title for the show and got camera equipment and several accessories. It was a short-term project with only little funding, so time and money were pretty much limited. Therefore, many things had to be improvised while shooting. For example, the final look was also defined by the accessories I had, such as a dark wig, bold framed glasses, etc. Eventually, I defined the required look – the ‘strict look’ – and we built the story around it: The colourful Uta Brandes, whose looks quite stand out from the crowd, applied to my show because she was dissatisfied with herself. Her hair was too flashy, her clothes too extraordinary, and her body language too expressive. She asked me to help her become a less striking and more average person. And we delivered what she was looking for: A woman with a neat bob haircut, trendy glasses and simple, dark clothes. In addition to creating the new look, however, we also had to change Uta’s strong and expressive gestures, and so she also received quick coaching to achieve the final and perfect result. The more we recorded from the shows and the more steps we got through, the more we – the creators and the audience at the screening – felt the absurdity and superficiality of this physical and mental ‘transformation’. And yet, in the last scene, when we revealed Uta’s new look (in the background Bruno Mars was singing ‘you are amazing, just the way you are’), her feigned happiness spread from the screen into the room and hit everyone a little bit. Actually this feel-good ending and satisfying climax make makeover shows exceptionally appealing to audiences, making them forget about the harm and damage that these shows actually cause.

DAS PROJEKT: REVERSE BRANDING – THE BRANDES PROJECT  181

1  Storyboard sketches

2  Still from the film: the title

3  Still from the film: greeting from the show’s host

4  Still from the film: at the hairdresser’s

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5  Still from the film: Uta’s application, i­ ntroducing her three biggest problems

6  Still from the film: the first meeting, i­ ntroducing our concept

7  Making of…Reverse Branding

8  Still from the film: the first step – new hair

DAS PROJEKT: REVERSE BRANDING – THE BRANDES PROJECT  183

9  Still from the film: in the fashion shop – the host coaching Uta on how to choose outfits

10  Still from the film: covering the mirror – our candidate has not seen her ‘new you’

11  Still from the film: the last instructions to Uta, how to own her new look and personality

12  Still from the film: the climax – introducing the new Uta

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Der repräsentierte Körper Das zuvor diskutierte körperliche Upgrading kann sich aber auch in anderen als Körperertüchtigungs-Mechanismen äußern, sozusagen bequemer und täuschender. Bekannt sind die vielen manipulierten Körperbilder, die nicht nur Models und Schauspieler_innen von sich als Abbilder präsentieren: hier ein wenig Fleisch und Fett weg, dort ein Muskel mehr, begradigte Nase, vollere Lippen … – die Liste ließe sich beliebig verlängern. Wir reden hier erst einmal lediglich von den manipulierten Fotografien solcher Menschen, nicht von deren Gesichtern und Körpern aus Fleisch und Blut. Lauren Prince hat in ihrer vergleichenden Studie untersucht, wie „women are represented in images and how the pervasive use of digital alterations influenced the women seeing these photographs. (…) Through an in-depth comparison of the ways in which digital manipulation dictates gender representations and preserves patriarchal gender roles, one can explore how the same technological tools can be applied in completely different ways.“ (Prince 2014, 5 f.) Neben Phänomenen, die sich quer über die Geschlechter hinweg fanden, identifizierte sie fünf relevante Kriterien der differenten Repräsentation von weiblichen und männlichen Körpern und Gesichtern sowie der Blicke auf diese: „The antagonisms I focus on are (1) the women’s bodies but men’s faces, (2) the role of photo manipulation to denaturalize the female body while the male form is enhanced, (3) the lack of multidimensionality in the expression of femininity with the wide opportunities for multidimensionality in masculinity, (4) a non-erotic gaze when women look at other women, while the intense fear of the homosexual experience when men look at other men, and (5) the constant association with women with the term ‘beauty’, while the comparable term does not exist when applying the same concepts to men.“ (Prince 2014, 71) Es erweist sich, dass diese digital veränderten Fotos Männer komplexer werden lassen, Frauen dagegen eindimensionaler. Und die Kategorie „Schönheit“ scheint bei Frauen eine ungleich gravierendere Rolle zu spielen. Beiden abgebildeten Körpertypen allerdings ist in ihrer Komposition gemeinsam, dass sie nach „bestimmten Formgesetzen zusammengefügt, gestaltet“ (vgl. DWDS) sind. Nichts fehlt, nichts wird physikalisch weggeschnitten oder beschädigt, lediglich neu komponiert – „nach bestimmten Formgesetzen“, die virtuell verschlanken oder betonen, den Blick eher von unten oder von oben binden etc. Da es sich um zweidimensionale Abbilder handelt, nicht um dreidimensionale Körper, können sie nicht genauer überprüft werden. Die heute gültigen Gesetze für Werbe-, Mode- und Medien-Körper, die nach der digitalen Bearbeitung als Bilder in den diversen Medien erscheinen, haben wenig mit den dreidimensionalen Körpern zu tun, wie sie in der Wirklichkeit herumlaufen – das ist sattsam bekannt. Wie sehr aber diese Körper verwandelt werden, ist doch für Außenstehende erstaunlich und übertrifft in seinem Arbeitsaufwand das in diesem Fall naive, d. h. nicht professionelle, Vorstellungsvermögen. Ersichtlich wird das Ausmaß der Bildbearbeitungen an einem Zitat, mit dem eine der in

DER KÖRPER: BEZÜGLICH, ­AUFGERÜSTET, ­KONSTRUIERT, DEKONSTRUIERT, ­R EKONSTRUIERT …  185

Deutsch­land führenden Agenturen namens „Elektronische Schönheit“ (vgl. Elektronische Schönheit) sich auf ihrer Website präsentiert: Bereits in der Ankündigung wird das zu bearbeitende Individuum in wenige äußerliche Bestandteile zerlegt. Die Agentur erledigt „Photo Postproduction im Bereich Beauty, Haare und Mode“ (ebd.) Die Leistungen umfassen: „Retouch mit aktuellen Werkzeugen und Technologien, RAW Konvertierung, Farbabgleich unter D50 Normlicht nach ISO 3664:2009, Farbmanagement nach ECI und FOGRA Standards, Erstellung von hochauflösenden Contractproofs nach ISO 12647-7 bis zu einer Papierbreite von 61 cm.“ (ebd.) Der technische Apparat mit seiner für Uneingeweihte ebenso unverständlichen wie kalt-rechenhaften Hard- und Software wird so zum Hauptakteur: Das Objekt überwältigt das Subjekt. Vorab trimmt ein Heer von Stylist_innen die real existierenden Models, damit der Aufwand für die Fotograf_innen und in der Postproduction (meist Männer) nicht zu aufwendig wird. Make-up und Licht sind wichtige Unterstützer für ein perfektes Aussehen. Und nach dem Fotoshooting – das gehört zum Standardprogramm – müssen Pixel für Pixel alle Unebenheiten, Rötungen und Pickel der Haut entfernt werden, je nach Anforderung Nasen kleiner, Taillen schmaler, bei weiblichen Models Arme dünner, Beine länger, Busen oder Po kleiner oder größer gemacht, bei Männern die Muskeln an Oberarmen und am Bauch (Waschbrettbauch) und gegebenenfalls der Penis – sei er auch bedeckt – vergrößert werden. Die digitale Repräsentation konstruiert vermeintlich „natürliche“ Schönheit – ein absurder Widerspruch in sich selbst: Je künstlich-digitaler, desto natürlicher soll das Abbild wirken, das nun nichts mehr mit dem Ebenbild der Person zu tun hat. – Allerdings: Das, was hier im digitalen Design der Körper so gnadenlos, entsubjektiviert und geradezu entkörperlicht erscheint, birgt einen Vorteil, der den Models weniger mühevolle Vorbereitung abverlangt. Wie Cathrin Bauendahl, die Inhaberin jener Agentur „Elektronische Schönheit“, in einem Interview verrät: „Teilweise rasieren sich die Models fürs Shooting gar nicht mehr die Beine, weil sie wissen, dass später ohnehin alles noch mal optimiert wird.“ (Pohlmann 2010) Ich frage mich allerdings angesichts solcher Bearbeitungen zweidimensional zu repräsentierender Körper, wieso es dazu überhaupt noch der wie eine unbearbeitete Leinwand erscheinenden lebendigen Körper bedarf – komplett digital gestaltete Charaktere (Avatare) sind wahrscheinlich die zukünftige Alternative. Noch aber sind lebendige „Vorlagen“ offenbar preiswerter als deren digitales Pendant.

Der fragmentierte und zerstückelte Körper in der Kunst In Datenkörper erwähnte ich nur einmal kurz De La Mettries L’homme-machine, und auch hier werde ich auf die populären historischen Diskussionen des 18. und 19. Jahrhunderts um das so vehement diskutierte Verhältnis von Mensch – Maschine, Puppe – Automat, Mechanik – Physik nur insofern eingehen, als sie etwas

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über die genderspezifischen Körperkonzepte verraten. So umgehe ich das tragische Monster, das Mary Wollstonecraft Shelley mit so viel Empathie literarisch erdachte (und das im Roman von einem männlichen Menschen erschaffen wird) (vgl. Wollstonecraft Shelley 2013), oder die unheimliche Automaten-Puppe „Olimpia“ in der Novelle von E. T. A. Hoffmann (vgl. Hoffmann 1816/2014) oder die künstliche Frau „Hadaly“ (vgl. Villiers de l’Isle-Adam 1984), um nur einige zu ­nennen. Zu diesem breiten Themenfeld existieren vielfältige exzellente Analysen aus der Philosophie und Psychologie, den Sozial- und Kultur- sowie den Literaturund Kunstwissenschaften.14 In dem hier beschriebenen Kontext interessieren stattdessen die (Geschlechter)Verhältnisse zwischen Original und Kopie, Natur und Technik, Größenwahn und Paranoia. Bereits seit einiger Zeit schwankt die ge­sellschaftliche Einschätzung zwischen wahnhafter, deutlich männlich konno­ tierter Omnipotenz, künstliches Leben gestalten zu können, der Angst vor dessen ­Unkontrollierbarkeit sowie der weiblich konnotierten Tragik, die diesen Hervor­ bringungen innewohnt. „Dominant ist in der Kulturgeschichte des künstlichen Menschen (…) die Verunsicherung, die er auslöst, Verunsicherung darüber, was einen Menschen zum Menschen macht und von der künstlichen Kopie scheidet, ­Ver­unsicherung, was die Natürlichkeit von Geschlechtereigenschaften betrifft, ­Verunsicherung vor allem über die Möglichkeit von Natur und Natürlichkeit. (…) Dies gilt vor allem im Hinblick auf Geschlechterverhältnisse: Wenn um 1800 die ­komplementäre Dichotomie der Geschlechter in den zunehmend dominant wer­ denden Wissenschaftsdiskursen durchgesetzt wird (…), tauchen Marionetten, Kleider­puppen, Automaten und Golem-Frauen auf. Heute gerät diese seit zwei Jahrhunderten etablierte Dichotomie der Geschlechterverhältnisse in Un- und Neuordnung (…).“ (Kormann et al. 2006, 10) Wenn wir die „Un- und Neuordnung“ auf die allgemeineren Körperkonzepte beziehen, beginnen diese aber bereits im späteren 19. Jahrhundert: Hatten wir uns soeben den repräsentierten Körpern gewidmet, wird es noch komplizierter, wenn wir nun von den unvollständigen, fragmentierten Körpern sprechen müssen: der Körper in Stücken.15 „Dieser zerstückelte Körper (…) zeigt sich regelmäßig in den Träumen, wenn die fortschreitende Analyse auf eine bestimmte Ebene aggressiver Desintegration des Individuums stößt. Er erscheint dann in der Form losgelöster

14 Ich nenne hier nur wenige alte und neue Publikationen zum Phänomen der Analogie von Maschine/Automat und Mensch: Descartes, René (1993): Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, neu hg. v. Gäbe, Lüder, Hamburg (Felix Meiner): „Ebenso wie eine aus Rädern und Gewichten zusammengesetzte Uhr“ ist der Körper „eine Art von Maschine (…) aus Knochen, Nerven, Muskeln, Adern, Blut und Haut.“, ebd., S. 75; Müller-Tamm, Pia/Sykora, Katharina (Hg.) (1999): Puppen, Körper, Automaten – Phantasmen der Moderne, Köln (Oktagonon); Kormann, Eva/Gilleir, Anke/Schlimmer, Angelika (Hg.) (2006): Textmaschinenkörper. Genderorientierte Lektüre des Androiden, Amsterdam/New York, NY (Rodopi). 15 Vgl. dazu die vorzügliche Ausstellung, die sich dieses Themas aus der Kunstperspektive schon 1990 annahm: Das Fragment. Der Körper in Stücken, Paris, Musée d’Orsay vom 5.02.-3.06.1990 und Frankfurt, Kunsthalle Schirn vom 24.06.-26.08.1990. Vgl. auch Sauer, Marina (1991): „Das Fragment. Der Körper in Stücken“. In: Kritische Berichte 1/1991, S. 120–123.

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Glieder und exoskopisch dargestellter, geflügelter und bewaffneter Organe.“ (Lacan 1991, 67) Ohne in die Kunstgeschichte einzutauchen, eignen sich doch einige der Überlegungen aus spezifischen Kunstkontexten vorzüglich zur Fokussierung jener Fragmente, die den spezifischen Zugang zum kaputten Körper in den Gendertheorien auch für Gender-im-Design fruchtbar zu machen versprechen. In der Kunst(geschichte) haben die fragmentierten Körper – manchmal sind es nur noch körperliche Fragmente – Tradition, auch wenn die Antike das Konzept des fragmentierten Körpers überhaupt noch nicht kannte. Da jedoch den seit der Renaissance sukzessive ausgegrabenen antiken Skulpturen nun einmal zeitbedingt einige oder viele Körperteile fehlten, begannen eine heftige Diskussion und ein ziemlich wilder Aktionismus um sich zu greifen, wie mit diesen antiken Rudimenten umzugehen sei. „Da antike Werke einer stets wechselhaften Beurteilung unterworfen wurden, unterlagen sie einem historischen Kreislauf von Rekonstruktion und Montage.“ (Sauer 1991, 121) Begeisterung und Faszination für das nicht be­arbeitete Fragment und dessen bewusste Akzeptanz als eigenständige Kunstform entwickelten sich erst seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit den Antikenfunden, die durch den obsessiven und kulturell rücksichtslosen Heinrich Schlie­mann zweifellos beflügelt wurden. (Auch er übrigens einer dieser kapitalistischen, zum Multimillionär aufgestiegenen Geschäftsmänner, der allerdings, statt sich an fernöstlichen Japonerien zu delektieren16, dem versunkenen Troja in der heutigen Türkei nachjagte.) „Das Motiv des gewollten, bewußt konzipierten Fragments, das als ganzheitliches Kunstwerk angesehen wurde, trat bei Rodin erstmals auf (…). ­Bemühte man sich bis dahin, die als verstümmelt empfundenen antiken Figuren durch Ergänzungen zu ‚vervollständigen‘, so setzte sich im ausgehenden 19. Jahrhundert die Tendenz durch, die Werke in ihrem aufgefundenen Zustand zu belassen. Das antike Fragment wurde fortan mit all seinen Zeiteinflüssen und Zerstörungen als Ganzheit anerkannt.“(ebd.) Gewissermaßen ein Paradoxon, da ein Fragment ja normalerweise wie Stückwerk, Segment, Überrest, also als etwas Unvollständiges identifiziert ist und das Ganze als Gesamtheit, Totalität, Unteilbarkeit den Kontrast dazu bilden müsste. Dass das Fragment von nun an als Ganzheit gesehen werden konnte, ist in der neueren Kunst seitdem zur Selbstverständlichkeit geworden. Exemplarisch für den als schön erfahrenen Torso steht Rainer Maria Rilkes 1908 geschriebenes Sonett ­Archaïscher Torso Apollos (vgl. Rilke 1955, 557). Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts indes entfaltete sich in den bildenden Künsten, aber auch in der experimentellen Literatur (Lautpoesie etc.) ein neuer ­Umgang mit dem Fragment, der Collage, der Zerrissenheit: Deutlich erkennbar wird das an Kunstbewegungen wie dem Kubismus mit seiner geometrischen Auf- und Neugliederung sowie Verschiebung von Körpern, dem Dadaismus mit seinen

16 Vgl. dazu Kap. Die Krise des Flâneurs. S. 95 f.

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Collage-­Techniken17 (die wir allerdings genauso gut als neue Zusammensetzung statt Auseinanderreißen interpretieren können), die Glieder- und Schaufensterpuppen der 1920er-Jahre (vgl. u. a. Seifert 2004, 70; Harnack 2006, 24–30) eines Man Ray oder André Masson, aus den 1930er-Jahren kennen wir Hans Bellmers unheimliche Puppenfragmente und insgesamt die surrealistischen Fragmentdarstellungen (vgl. Seifert 2004, 169–172); und in den 1950er-Jahren geht es dann u. a. weiter mit der ­Décollage (vgl. u. a. Krempel 2007; Neuburger 2005; Becker/Vostell 1965): Raymond Hains, Jacques de la Villeglé, später auch François Dufrêne, Mimmo Rotella und Wolf Vostell zerstörten Werbeplakate, die großflächig im öffentlichen Raum hingen und auf denen häufig auch (weibliche) Körper für irgendetwas warben. In bewusster Form rissen diese Künstler größere Streifen oder kleinere Fetzen von den P ­ ostern und montierten sie als neue Klebebilder wieder zusammen. Gewiss mutet diese Kunstform vordergründig weniger brutal an als zerrissene, zerstückelte und verdrehte Kunst- und Puppenkörper, weil wir Letzteren entweder – als Kinder – animistisch Leben einhauchen oder aber – als Erwachsene – in diesen Kopien Abbilder ­unserer selbst erblicken. Dennoch aber sind das Auseinanderreißen, Zertrennen, Zerteilen von Bildmaterial durchaus als destruktive Aktionen zu interpretieren: Eine Art Häutung findet da statt, so könnten wir, gewiss ein wenig pathetisch, assoziieren. Schauen wir uns zeitgenössische Kunstformen an, so fallen unter vielen anderen Künstler_innen jene auf, die in Skulpturen erneut mit der Monstrosität von (Puppen)Körpern spielen, wie dies etwa in scharfem Sarkasmus und durchaus als politisch verstandene Kunst die Brüder Jake und Dinos Chapman gestalten: Sie ­verschweißten beliebige Puppen oder Körperteile zu unangenehm verrenkten, verwachsenen Missbildungen, interpretierten 1994 Goyas „Los Desastres de la Guerra“ in gruseligen Kunststofflandschaften mit nackten gemarterten und gefolterten Gummi-Soldaten, entwarfen Kinderpuppen mit Genitalien in deren Gesichtern, schockierten mit einer Skulptur aus Schaufenster-Kinderpuppen mit vielen Mädchenköpfen, Beinen und Armen – mutierte Wesen, an den Torsi zusammengewachsen, und wiederum ersetzen sexuelle Organe Nase, Mund, Ohren; oder sie ins­zenierten verweste Körper. Manche der Kunstaktionen der Chapman-Brüder erscheinen wie üble pornografische Inszenierungen – und doch verstehen sie sich als bewusste ­politische Provokateure, die kürzlich immerhin zur Unterstützung der „Women’s Equality Party“ Hunderte von Münzen mit dem Schriftzug dieser Partei in Umlauf brachten, um auf die „groteske“ Unterrepräsentanz von Frauen in Politik und „in den meisten Bereichen des Lebens“ hinzuweisen (vgl. Monopol 2016). – Ich erwähne diese Aktion, die nicht den Körper thematisiert, deswegen, damit das Spektrum der Chapmanschen Arbeiten deutlich und ihre sexualisierten Höllen- und Holocaust-Ausstellungen nicht als antifeministische Aggression verstanden werden. 17 Vgl. die Herkunft des Wortes von gr. kólla und lat. colla: Leim; das künstlerische „Klebebild“ erscheint durch die seit ca. 1910 ersten papiers collés (zusammengeklebte Papiere) eines Georges Braque und Pablo Picasso. Vgl. auch: Döhl, Reinhard (1994): Collagen lesen. Musik, Schrift und Realität im Dialog ­Braques und Picassos, www.stuttgarter-schule.de/collesen.htm (Zugriff 15.01.2017).

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Annegret Winter aber hat im komplizierten Verhältnis von Fragment und Ganzheit noch eine andere Perspektive ausgelotet: „Doch schauen wir uns den Begriff des Fragments genauer an. Er meint nicht das Teil im Sinne des Ganzen, als stellvertretendes pars pro toto, sondern das Destruktive, das Abgeteilte jenseits des Ganzen, eher das Übriggebliebene, das Bruchstück und seine Bruchstellen. Diese sprechen vom Verletzen, assoziativ weist das Grausame darin auf die Endlichkeit des Menschen, das Sexuelle auf Perversion und Fetische.“ (A. Winter, o. J., 4) Künstlerinnen finden sich in der Body Art als subversive Bearbeiterinnen kultureller Praktiken, die hegemonialer Männlichkeit kritische Körper-Kunst entgegensetzen, sich dabei aber eben nicht auf „schöne Körper“ beziehen, sondern ebenfalls mit fragmentierten, aufgeplatzten, kurz: furchtbaren Körpern arbeiten. Louise Bourgeois, deren Werk eine enorme Vielfalt über die lange Zeit ihrer Arbeit aufweist, entstellt etwa in monströsen Körperschemata weibliche und männliche Wesen mit mehreren oder gar keinen Köpfen rücksichtslos, einzeln oder kopulierend, geschlechtslos; zugleich aber verarbeitet sie in vielen Fällen auch ihren offensichtlichen Vaterhass, manchmal überdeutlich: In der riesigen Installation von 1974 blicken wir in eine rot ausgeleuchtete Höhle mit brustartigen Objekten und den Resten einer kannibalischen Mahlzeit – überdeutlicher Titel der großen Installation: „Destruction of the Father“ (vgl. Bourgeois 2008). „So unterziehen auch bestimmte Künstlerinnen die vorherrschenden, aber auch die avantgardistischen Weiblichkeitsentwürfe einem subversiven Prozess. Dabei wird die Unversehrtheit und Makellosigkeit des weiblichen Körpers durch Dekonstruktion und Fragmentierung ausgehöhlt, verfremdet, ja als Fiktion entlarvt. Der Fragmentierung ist also die Dekonstruktion etablierter patriarchalischer und bürgerlicher Konzepte eingeschrieben.“ (A. Winter, o. J., 6) Viele Künstlerinnen, so meine Hypothese, de(kon)struieren deutlicher als ihre Kollegen.18 Jene Body Art-Künstler, die mit Körperpein als Konzept arbeiten, sind gewiss nicht vorsichtiger, was körperliche Schmerzen betrifft, aber sie inszenieren sich zugleich narzisstischer und expressiver. Günter Brus’ Satz kann dafür exemplarisch stehen: „Mein Körper ist die Absicht, mein Körper ist das Ereignis, mein Körper ist das Ergebnis.“ (Brus 2015, 1) Künstlerinnen setzen sich häufig anders radikal mit dem eigenen, dem weiblichen Körper auseinander – schonungsloser, sich entblößender und sich sozusagen still peinigend. Ich greife hier nur zwei der profiliertesten und kompromisslosesten heraus: Cindy Sherman wurde bekannt durch ihre Fotoserien, in denen sie sich selbst seit über 30 Jahren in den unterschiedlichsten Identitäten inszeniert (vgl. Loreck 2002). 18 Ich behaupte hier nicht, dass es keine Künstler gäbe, die ihrem Körper Schmerzen zufügten – um nur zwei zu nennen, die ihre Körper jeweils äußerst expressiv und wahrhaft schmerzhaft malträtieren: Stelarc (vgl. u. a. Stelarc The Monograph) oder Pjotr Pawlenski (vgl. u. a. Pawlenski, Pjotr: Der bürokratische Krampf und die neue Ökonomie politischer Kunst). Meine Hypothese allerdings besagt, dass die Motive – und entsprechend auch die Form der Pein – bei den Künstlerinnen sowohl weniger narzisstisch als auch sozialkritischer inszeniert werden.

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Sie wird ihr eigenes Model, und als dieses erforscht sie provokant die Konstruktionen zeitgenössischer Identitäten und Repräsentationen, wobei sie mit weiblichen Klischees spielt und sich aller Formen von Kitschbilder und -filmen bedient: „Sherman has captured herself in a range of guises and personas which are at turns amusing and disturbing, distasteful and affecting. (…) dominant themes (…), including artifice and fiction; (…) horror and the grotesque; (…) myth, carnival, and fairy tale; and gender and class identity.“ (MoMA) Was Sherman in präzisen Kostümen und in z. T. makabren Körperverrenkungen – wenn sie sich z. B. als misshandelte, vergewaltigte oder tote Frau in Szene setzt – demonstriert, verschärft Marina Abramovic unmittelbarer und physisch wie psychisch höchst schmerzhaft: Sie riskiert ihren Körper bis zur Erschöpfung oder sogar bis zur tödlichen Gefahr. In unzähligen Performances (in den 1970er- und 1980erJahre gemeinsam mit ihrem Partner, dem Künstler Ulay, nach 1988 dann allein) setzt sie den eigenen Körper realen Torturen aus: Sie rannte mit voller Kraft zigmal gegen Wände, peitschte sich aus, ritzte sich mit einer Rasierklinge ein Pentagramm in die Bauchdecke, lag nackt auf einem Eisblock – die Liste von selbst herbeigeführten Misshandlungen ließe sich noch erschreckend lang fortsetzen. Eine der eindrücklichsten, stillsten, aber nicht minder qualvollen Aktionen ins­zenierte sie 2010 anlässlich ihrer Ausstellung im Museum of Modern Art, als sie 75 Tage lang in einem roten langen Kleid täglich sieben Stunden lang unbeweglich und schweigend auf­ ­einem Stuhl ausharrte (vgl. Abramovic 2012, vgl. Abramovic 2016). Die bewusste – nennen wir es neutral erst einmal – Veränderung des eigenen Körpers findet in den rebellischen weiblichen Kunstaktionen gegen die gesellschaftlichen Erwartungshaltungen statt: bewusste Verhässlichung, Entblößung, Verzerrung – eben gegen die „Unversehrtheit und Makellosigkeit“, wie Annegret Winter (vgl. A. Winter, o. J., 6) schreibt. Damit wird der sozial konstruierte Zwang zur schönen Perfektion nachdrücklich aufgebrochen, dem Frauen noch erbarmungs­loser als Männer unterworfen sind, sodass das Monströse, aber auch das Verletz­liche und vor allem Verletzte zum Vorschein kommt; nicht spielerisch, sondern b ­ itterernst. „Wenn das Fragment eines menschlichen Körpers in der Kunst zum zentralen Bedeutungsträger wird, ist es immer auch ein deutlich alarmierendes Zeichen. Denn es redet von Gewalt und Inbesitznahme, von Geschlechterrollen und Dominanz, von Hemmungslosigkeit und Vereinsamung, vom Verstreichen der Zeit und der Gefährdung des Selbst, von Zufallsindividualität und Sehnsucht nach verlorener Kontinuität, Fetisch und Körpergefängnissen. Insofern verweist das Fragment auf den Körper im Sinne der Infragestellung und Verweigerung von Spiegelung und Identifikation, in seiner Unfassbarkeit irgendwo zwischen Authentizität und Projektionsfläche anderer Blicke angesiedelt. Das Fragment als Träger der Bruchstellen redet von Grenzziehungen, die im Moment der Fokussierung verschwimmen, sich verlieren. Diese Bruchstellen sind aber auch Leerstellen zum Andocken anderer ‚Moleküle und Satzteile‘. Daher muss das Fragment auch als Teil einer ­Figuration, einer Koppelung, eines Körperkonstrukts wahrgenommen werden, die

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wiederum Wegweiser zu menschlichen Projektionen und Repräsentationssystemen sein können.“ (ebd., 4)

Der montierte Körper Marina Sauers Begriffe Rekonstruktion und Montage (vgl. Sauer 1991, 121), die sie ­entlang der kunsthistorischen Antikenrezeption entfaltet, eignen sich gut, um den ­engen Zusammenhang zwischen Natürlichkeit und Artifizialität oder Technologie, zwischen Teilen und dem Ganzen aufzuzeigen. Schauen wir auf den menschlichen Körper etwa aus einer medizinischen Perspektive, so erschließen sich Rekonstruktion und Montage als zwei unterschiedliche Körperkonzepte bzw. medizinische Notwendigkeiten, je nachdem, in welchem Zustand sich der Körper befindet oder in ­welchen die entsprechende Person ihn a posteriori gestaltet sehen möchte. Re­ kon­struktion stellt den Körper möglichst ideal wieder her, wie er zuvor einmal war. Dieses Verfahren wird einerseits angewendet, wenn der Körper durch einen Unfall oder ein anderes Unglück zu Schaden kam und an seiner ursprünglichen Gestalt innere oder äußere Teile kaputt gingen, die aber rekonstruiert werden können – z. B. bei ­einem Arm- oder Beinbruch. Andererseits kann die gleiche Methode angewandt ­werden, wenn eine Person, z. B. aus Schönheitsgründen, dies wünscht. Dieser chirurgische Eingriff ist allerdings nicht nur anders motiviert als der durch ein U ­ nglück notwendig gewordene, sondern betrifft zudem andere Körperteile und andere medizinische Verfahren; z. B. das Absaugen von Fett, die Entfernung von Krampfadern oder Falten. Bei der Montage dagegen inkorporiert der Körper körperfremde Artefakte oder Materialien, die Gründe sind üblicherweise jedoch die gleichen wie bei der Rekon­ struktion: Im medizinischen Fall werden dem Körper Teile beigefügt oder implementiert, die „verloren gingen“ oder irreversibel zerstört wurden: Prothesen, eine fremde Niere o. Ä. Zum Zwecke der kosmetischen Schönheitskorrektur oder -operation wäre an Einspritzungen (z. B. Aufpolsterung der Lippen oder Wangen) zu denken oder an die Anreicherung natürlicher durch künstliche Körperteile (Brustimplantate). Die Art der Körpereingriffe unterscheidet sich also ebenso – Wiederherstellung (Rekonstruktion) versus Tausch und Ersatz (Montage) wie die Motive divergieren (medizinische Notwendigkeit versus kosmetische Verbesserung). „Am Ende des 20. Jahrhunderts ist der Mensch zur reparierbaren Maschine geworden. Von der Medizin auf seine biologischen Prozesse reduziert, lässt sich fast alles am menschlichen Körper austauschen oder verbessern. Künstliche Organe, fortgeschrittene Transplantationsmedizin, Herzschrittmacher, die künstliche Herstellung von Haut, Ohren, Gelenkknorpeln sind Teil dieser Entwicklung gleichwie Plastische Chirurgie – neue Nase, neuer Busen oder neues Gesicht als Basis einer neuen Identität – und Gentechnologie.“ (Seifert 2004, 102) So realistisch Anja Seifert die modernen

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Prozesse der diversen Eingriffsmöglichkeiten in die wirklichen Körper (nicht nur deren Konstrukte) benennt, so kulturpessimistisch erscheint ihr Blick auf den Menschen als „reparierbare Maschine“. Das ist nicht nur undifferenziert in Hinblick auf die beträchtliche – auch ethische – Differenz zwischen gesundheitlicher Verbesserung und kosmetischer Verschönerung, sie vergisst auch, zwischen den Formen der Künstlichkeit zu unterscheiden: Der Maschinisierung des Körpers stellt ein ganz anderes Konzept vor als jenes seiner organischen Substitution oder Aufrüstung. Das betrifft auch die sehr neue und sehr aufregende Diskussion um die körperlichen „Eigentums- und Besitzverhältnisse“: Was gehört (noch) zu meinem Körper, und was ist eine äußerliche Applikation?19

Der verletzte (Text)Körper im Design Abgesehen davon, dass das gesamte Körperdesign inklusive Techniken, Zubehör und Gerätschaften, wie zuvor beschrieben, selbstverständlich eine Frage und Aktion von Designprozessen ist, habe ich länger darüber nachgedacht, wie die fragmentierten und zerrissenen Körper in diesem Zusammenhang direkter auf Design bezogen werden können. Nahe liegt da die Erwähnung bestimmter Gestaltungen aus dem Bereich der Typografie: Buchstaben- und damit Schriftgestaltung insgesamt, so kann konstatiert werden, gehen immer vom einzelnen (Fragment) zum Gesamten: Jeder einzelne Buchstabe wird gestaltet, ohne dass er als einzelner Kommunikation herstellen könnte20; es bedarf immer der Komposition von mehreren Buchstaben, die zu Wörtern, diese zu Sätzen und alles zusammen gegebenenfalls zu einem Text zusammengesetzt werden: vom Buchstaben-Fragment zum komponierten Textkörper. In der Schriftgestaltung tummeln sich erstaunlicherweise fast ausschließlich Designer, zumindest sind sie es, die einen hohen Bekanntheitsgrad erlang(t)en und deren Schriften zu den Klassikern oder Standards nicht nur für kunstvolle Plakate verwendet, sondern ganz gewöhnlich zum Schriftgut von Tageszeitungen und Büchern aller Art gehören oder aber als Unternehmensschriften entworfen wurden. Bei genauerer Recherche treffen wir auf eine gar nicht so kleine Zahl von Schriftgestalterinnen (Susanne Dechant kam schon bei ihrer ersten Zusammenfassung auf ungefähr 400 in der Geschichte bis heute, und Michael Rosenlehner führt auch eine große Zahl auf) (vgl. Dechant 2012, 187 und Rosenlehner 2012) – aber wenn es um die Bekanntheit oder um die häufige Anwendung der Schriften in der Praxis geht, 19 Vgl. dazu Kap. Der gefügte Körper oder: Körperliche Besitzverhältnisse, S. 235–239. 20 Nun ist bekannt, dass viele Künstler_innen zu unterschiedlichen Zeiten bewusst mit zerrissenen, fragmentierten Bruchstücken von Buchstaben oder Wörtern gearbeitet haben, um zu demonstrieren, dass Sprache nicht nur freundliche Kommunikation ist, sondern auch Missverständnisse hervorbringen, Ideologien formulieren kann und sogar dazu taugt, Todesurteile auszusprechen.

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dann sind es doch wieder ziemlich eindeutig die Männer, die hier führen.21 Und wenn wir auf Schriften und Schriftstücke – auch in digitaler Form – treffen, die durch Unschärfe veruneindeutigt, durch Fragmentierung „abgeschnitten“ oder halbiert wurden, durch im Blatt- oder Buchrand verschwindende Schriftteile unvollständig oder durch bewusstes Durchstreichen gleichsam „gelöscht“ wurden, dann stammen sie nach meiner Recherche von Männern. Wenden wir uns nun vom versehrten Textkörper ab und in einem zweiten Schritt dem geschundenen Körper selbst zu, wie er im Design erscheint. Nur ein einziger Designer fällt mir ein, der seinen eigenen Körper in selbst gewählter Verfügung schmerzhaft „gebraucht“: Der österreichische, seit Langem in New York lebende Grafikdesigner, Typograf (und manchmal auch Performer und Aktionist) Stefan Sagmeister gestaltete 2009 ein Poster für die AIGA (American Institute of Graphic Arts), indem er sich die Einladung für seinen Vortrag am Cranbook College mit einem Skalpell über den gesamten (nackten) Körper einritzen ließ. „For this lecture poster for the AIGA Detroit we tried to visualize the pain that seems to accompany most of design projects. Our intern Martin cut all the type into my skin. Yes, it did hurt real bad.“ (Vukic 2012). An einer interessanten anderen Perspektive, den Schmerz einzuarbeiten, versucht sich Simon Brühlmann mit seiner textlinguistischen Analyse: „Die Art und Weise, wie im Falle des AIGA-Plakats geschrieben wurde – das Ritzen der Haut – stellt einen Sonderfall dar, der das Auseinanderhalten der Textteile erschwert. Wenn diese in ihrer Summe den Gesamttext ergeben sollen, dann müsste es doch möglich sein, vom Gesamttext den verbalen Teiltext auszublenden, um so darauf zu schließen, 21 Zu den weltweit bekanntesten Typografen und deren Schriften gehören vor allem, in historischer Reihen­ folge: Peter Behrens (1868–1940), Erfinder des Corporate Design und einheitlichen Erscheinungsbildes für die AEG; Max Miedinger (1910–1980) entwarf mit der Helvetica (1956) eine der heute am weitesten verbreiteten Schriften; dem Schriftgestalter Hermann Zapf (1918–2015) gelang es als einem der ersten, die von ihm entworfenen Schriften Palatino (1949), Optima (1952) und Zapf Dingbats (1978) mit ins ­Computer-Zeitalter zu überführen; Adrian Frutiger (1928–2015), ein „Übervater“ für viele jüngere Typo­ graphen, gestaltete die Univers (1957) und die Frutiger (1975); Kurt Weidemann (1922–2011) entwarf u. a. die Biblica (1979), ITC Weidemann (1983) sowie die Hausschriften für die Daimler Benz AG und für den Ernst Klett Verlag; Erik Spiekermann (1947) designte u. a. die Berliner Grotesk (1979), LoType (1980), FF Meta (1985), ITC Officina (1989); und David Carson (1954) gebärdete sich eine Zeitlang als enfant terrible der Typografie-Szene: kaum lesbare Schriften, krumme und schiefe oder fragmentierte ganze Texte sollten bewusst das Konzept von der guten Lesbarkeit destruieren – das demonstrierte er etwa als Layouter der Zeitschriften Musician oder Beach Culture. – Zwar gibt es beeindruckende Schriften auch von zeitgenössischen jüngeren Designerinnen: z. B. von der libanesischen Typografin Nadine Chahine, die sich für eine kluge Bezüglichkeit zwischen arabischen und lateinischen Schriften engagiert (Frutiger ­Arabic, Neue Helvetica Arabic, Univers Next, Palatino Arabic, Zapfino Arabic von 2015 etc.) und die die Koufiya entwarf: die erste Schrift, die zugleich arabische und lateinische Komponenten enthält. Die ­serbische Designerin Olivera Stojadonovic hat sich intensiv mit der Rekonstruktion und Transformation ­kyrillischer Schriften auseinandergesetzt (ITC Aspera, ITC Hedera, ITC Rastko), aber auch für das lateinische Schrifttypen gewohnte Auge Schriften wie z. B. ITC Anima gestaltet. Die junge Bauingenieurin, Kommunikations- und Schriftdesignerin Bianca Berning arbeitet in der Typogafie-Agentur Dalton Maag, erst als Font Developer und inzwischen als Leiterin „training and development, knowledge management“ und zuständig für die „implementation of internal standards and the improvement of the font development processes“. Katharina Köhler gehört mit zum Collective Camelot, hat noch als Studentin Lelo (Lomo) und Rosart entworfen und mit ihren Partnern u. a. Gräbenbach und Rando; Schriften, die aber eher ausgestellt als massenhaft angewendet werden.

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was der visuelle Textteil sei. Wenn wir annehmen, die Ausgestaltung der Schrift (die Schnitte) gehöre zum verbalen Teiltext, dann zeigte das ‚Bild‘ einen Körper ohne eingeritzte Schrift. ‚Abgebildet‘ wäre also ein unversehrter Körper – zu sehen ist jedoch nur ein verletzter. Wenn man ­umgekehrt annimmt, die Schnitte gehörten zum visuellen Teiltext, dann wäre der verbale Text nirgends mehr eigenständig sichtbar: Versucht man, das Blut und die Schnitte von der Schrift wegzudenken, dann bleibt lediglich eine vorgestellte nicht-­sichtbare Schrift übrig – ähnlich dem unversehrten Körper, den wir nicht erblicken können.“ (Brühlmann 2011, 49) Das Versehrte und das Unversehrte als Transition zwischen Information und Körper, Text und Bild erscheinen hier als unauflösliches Hin und Her. Vielleicht könnten wir den Schmerz, hervorgerufen durch das Einritzen der Haut, als das Interface, das Medium, interpretieren, das dieses Ineinander und ermöglicht und bedingt. Sagmeisters neuestes, sehr aufwendiges Projekt fragt nach der Kategorie Glück. The Happy Show (vgl. Sagmeister/Walsh o. J.) reist als Ausstellung um die Welt und wird von The Happy Film (vgl. Sagmeister 2013) begleitet. In dieser spektakulär gestalteten Dokumentation setzt er sich in mehreren Experimenten körperlich, mental, psychisch unterschiedlichen Situationen aus: Die drei kontrollierten Selbstversuche, denen er sich unterzieht, wurden von einem – typisch amerika­nischen – Populär-Psychologen als drei mögliche Wege zum Glücklicher-Werden behauptet: Meditation (in einem asketischen buddhistischen Kloster), Psycho­therapie und (medizinisch verordnete) Drogen. Er hält die drei Wege zeitlich konsequent durch, obwohl alle drei Aktionen beträchtliche mentale und körperliche Schmerzen bereiten. In beiden Gestaltungsansätzen Sagmeisters findet Schmerz sowohl wissentlich, willentlich, selbst gewollt als auch durch (im zweiten Fall körperliche und emotionale) Berührung statt. Beim AIGA-Projekt wird Information durch Hautbeschädigung – deren Schmerzhaftigkeit uns allen geahnt oder erfahren bewusst ist – inszeniert. Allerdings wäre die Informationsverbreitung vermutlich sehr gering gewesen, wenn sie nur durch den nackten Körper der einen Person vermittelt worden wäre. So brauchte es das in größerer Auflage erschienene Poster mit dem Foto des geritzten Sagmeister-­ Körpers, um eine breitere Öffentlichkeit über den Vortrag in Kenntnis zu setzen. Nun gerät eine solche Aktion allein dann spektakulär, wenn glaubwürdig wird, dass die Haut tatsächlich ins Original eingeritzt wurde und es sich nicht um eine nachträgliche Photoshop-Bearbeitung handelte. „Der männliche Oberkörper ist bloß ein dargestellter Textträger: Der Körper liegt dem Rezipienten nicht als haptisch ­erfahrbarer, sondern lediglich als abgebildeter Textträger vor. Die Haptik wird ­vorstellbar – die blutigen Schnitte reichen aus, um das Empathievermögen des R ­ ezipienten anzuregen. Schrift wird im Plakat als brutal, schmerzhaft, extrem ­körperlich präsentiert.“ (Brühlmann 2011, 50) In diesem Design, so konstatieren wir, trägt Sagmeister seine verletzte Haut zu Markte, indem nicht nur der malträtierte Körper als Ganzer, sondern die Schrift auf dem Körpermaterial den schockierenden Eindruck hervorruft – als Abbild, dem Authentizität bereitwillig unterstellt wird.

DER KÖRPER: BEZÜGLICH, ­AUFGERÜSTET, ­KONSTRUIERT, DEKONSTRUIERT, ­R EKONSTRUIERT …  195

DER GESCHUNDENE KÖRPER IN DER MODE Verletzung durch Skandalisierung Vergleichen wir diese gestaltende Verletzung mit jenen, denen der weibliche Körper im Design ausgesetzt wird, so ergibt sich ein essenzieller Unterschied: dort die selbstgewählte Verletzung als Kommunikations- und Informationsmedium, hier die den weiblichen Körper fasziniert miss- und verachtende Inszenierung in der Mode, bei der die Körper der Subjekte als leere Hüllen fremdgesteuert und ausgeschlachtet werden. Es ist wahrscheinlich kein Versehen, dass ausgerechnet in der Kreation und Vorführung von Mode insbesondere der weibliche Körper sowohl fokussiert wie vollends und ungemein zynisch entsubjektiviert wird. Mode ist eine der härtesten Branchen, die vorstellbar sind; es geht um viel Geld, zugleich um enorme Kurzfristigkeit, was die Lebenszyklen der Mode betrifft (eine der sozial, ökologisch und ökonomisch übelsten Textil-Discounter-Ketten global, Primark, wechselt seine Fashion-Linien mittlerweile monatlich!). Und Models werden heutzutage von den Designern gern als „Kleiderbügel“ tituliert und entsprechend als solche missbraucht. Dass diese Ausbeutungsstrukturen deutlich die weibliche Mode am weiblichen Körper fokussieren, hat Barbara Vinken präzise begründet: „Letzten Endes geht es in der weiblichen Mode um das, was die männliche Mode um der Beständigkeit des Institutionenkörpers willen verdeckt: um die Metamorphosen des Leibes, um den Weg allen Fleisches. Die weibliche Mode entäußert das Individuum an seine Leiblichkeit.“ (Vinken 2013, 37) Warum sich in der männlichen Mode der bürger­ lichen Gesellschaft und der Moderne niemals etwas Spektakuläres, Verrücktes, Extremes hat durchsetzen können, begründet sie mit der gesellschaftlich geforderten autoritativen Position der männlichen „Amtsperson“: „Dreht sich im ikonischen und erfolgreichsten Kleidungsstück der Moderne, dem Anzug, alles um die Aufhebung des Körpers in eine selbstbestimmte und -beherrschte Person, die gleichzeitig Amtsperson ist, dann bleibt die Entäußerung an den Körper, die Entäußerung des Körpers, das bestimmende Moment der weiblichen Mode. Das kann bis zur völligen Objektwerdung, bis zur Verdinglichung etwa in der Puppe und der Marionette, ja, bis zur Verpflanzlichung, Vertierung, zur Versteinerung dieses Körpers gehen.“ (ebd., 43 f.) Zugleich bestätigt Vinken damit die These, dass in der sozial konstruierten Normalität queere, trans und neutrale Mode(körper) wegen herrschaftsstabilisierender Mechanismen nicht vordringlich eine Rolle spielen können, spielen dürfen. Und zugleich fixiert sie die Funktion des Models als ein „Etwas“, das den leeren Puppengestalten, wie wir sie in der Kunst beschrieben22, näher ist als einem lebendigen Menschen: „Das Mannequin ist nicht nur Resultat der Abstraktion und Nor22 Vgl. Kap. Der fragmentierte und zerstückelte Körper in der Kunst, S. 186–192.

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mierung individueller Körper; es ist auch eine Reduktion der Maße der Statue, die in ihrer Vollkommenheit göttliche Schönheit spiegelt. Dabei liegt die Faszination des Puppenkörpers, jeder transzendenten Dimension beraubt, in seiner Seelen­ losigkeit. Der Körper des Models belebt, er setzt ein Artefakt in Bewegung, er inkarniert den leblosen Körper der Puppe. (…) Der Inbegriff ihrer (der Mode, d. Verf.) ­Affirmation – Warenfetischismus, Verdinglichung etc. apostrophiert – ist das Mannequin mit seinem leeren, spiegelnden, abwesenden Blick.“ (ebd., 42 f.) Kampagnen und Plakate, die mit mehr oder weniger deutlichen sexuellen ­Anzüglichkeiten spielen, hat es vielfach und zu unterschiedlichen Zeiten gegeben. Skandalisierung durch Bilder, die Sexualität zum Thema machen, sind offenbar häufig das, was ein Eyecatcher genannt wird – eine typische Strategie, Aufmerksamkeit durch etwas zu erzeugen, das aus den massenhaften Werbungen heraussticht; und Sex(ismus) scheint offenbar immer wieder und noch Konjunktur zu haben. ­Allerdings gibt es doch große Unterschiede zwischen provokanten, aber intelligent, ironisch oder mit einem Augenzwinkern versehenen Kampagnen23 und jenen, die schockieren, weil sie Gewalt ausstrahlen, Menschen (überwiegend Frauen) entwürdigen, überwältigen, sexuell missbrauchen. Aus den bedauerlicherweise unzähligen platten „Sex sells“-Anzeigen – deren Gestaltung immer von mehr oder minder bekannten Design-Agenturen für viel Geld übernommen wird – greife ich hier nur eine heraus, die ebenso dumpf wie offen sexistisch zu gewalttätigem Sex auffordert: Die Hostelkette A&O lancierte 2009 zwei Anzeigen, auf denen nur der Unterleib einer Frau im Bikini-Höschen zu sehen ist. Dieses trägt in Höhe des Schambereichs die Aufschrift „24 h open“. Das zweite Motiv variiert lediglich den Satz auf der Bikinihose: „not yet filled“. Beiden Werbungen gemeinsam ist der Schriftzug „Sexy Preise“, der sich über den Oberschenkel zieht. Hier wird über den zum Missbrauch auffordernden Akt hinaus auch jenes Ver­ fahren deutlich, das Frauen bildtechnisch zusätzlich verstümmelt: Kein Mensch erscheint hier, sondern nur ein Fragment, und zwar jenes, auf das sich der sexed gaze richten soll. Darstellungen von offener Gewalt gegen Frauen sind besonders in der Mode – die nun im Fokus stehen soll – und den dazugehörigen Werbekampagnen seit den 1990er-Jahren fast normal geworden. Manchmal aber wird die Grenze noch wüster und obszöner durchbrochen: die Inszenierung des Models als vergewaltigtes Mädchen oder gleich als Leiche. Bei all diesen zahlreichen schändlichen Designaktionen werden die inszenierten Frauen im buchstäblichen Sinne des Wortes zu Fashion Victims: ästhetisierte Opfer männlicher Täter-Fotografen. 23 Zu diesen leichten, Pop-Art zitierenden Aktionen gehörte z. B. die legendäre Kampagne, die Charles Wilp 1968 als „Cola-Rausch“ für die schwächelnde Marke Afri-Cola in Deutschland gestaltete: Sowohl als Poster als auch in Werbeclips inszenierte er wunderschöne, erotisch äußerst attraktive Models, die als weiß gekleidete Nonnen sich einem sinnlichen Cola-Rausch hingaben: Bei der „super-sexy-mini-flower-pop-op-cola“-Werbeinitiative wirkten als Nonnen u. a. berühmte Popstars wie Marianne Faithfull, Amanda Lear, Donna Summer und Marsha Hunt mit.

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Im Folgenden werde ich einige dieser Werbeplakate, -aktionen und -foto­gra­ fien beschreiben, um die schamlose Ausbeutung des ausnahmslos weiblichen Körpers durch – meines Wissens nur mit einer Ausnahme24 – männliche (Mode)­Foto­ grafen zu demonstrieren.25 Bewusst habe ich mich nicht um die Erlaubnis bemüht, solche Fotos und Plakate in diesem Buch abzubilden; denn dann hätte ich ja den Missbrauch noch einmal ins Bild gerückt und damit einem vordergründigen faszinierten Voyeurismus im Sinne des male gaze das Wort geredet: „The determining male gaze projects its phantasies on to the female figure. (…) women are simultaneously looked at and displayed, with their appearance coded for strong visual and erotic impact so that they can be said to-be-looked-at-ness.“ (Mulvey 1999, 62 f.) Seit Langem berüchtigt sind bestimmte Werbeaktionen des Modelabels Dolce & Gabbana, von denen ich hier nur eine üble Inszenierung aus dem Jahr 2007 ­herausgreife: Der nackte Oberkörper des Mannes glänzt vor Schweiß; er trägt eine Sonnenbrille, seine Jeans sitzen sehr tief; er kniet über eine Frau gebeugt. Die Frau, nur bekleidet mit einem sehr engen schwarzen Body, liegt rücklings auf dem Boden, Augen geschlossen, attraktiver, dunkelrot geschminkter Mund halb offen; ihre langen schwarzen Haare ergießen sich nach hinten auf den Boden. Der Mann drückt ihre nach hinten neben dem Kopf angewinkelten Arme mit Gewalt auf den Boden. Sie bäumt sich auf, nur ihre Schultern und die Füße in den High Heel-Sandalen berühren noch den Boden. Um dieses Zentrum herum lungern vier weitere Männer und beobachten die Szene mit Mienen, die zwischen Interesse und cooler Lässigkeit ­changieren. Wahrscheinlich hoffen sie, auch noch an die Reihe zu kommen. Das ­zusätzliche Perfide an diesem eine bevorstehende Vergewaltigung suggerierenden Schauspiel: Es ist nicht ganz klar, ob die Frau nicht doch „mitspielen“ mag; denn ihr Gesichtsausdruck und ihr sich aufbäumender Körper bleiben vage: zwischen Angst, Ohnmacht und möglicher heimlicher Lust. Das hier vermittelte Frauenbild ist gegen Frauen gewalttätig männlich überformt. Drastischer formuliert: Es drängt sich der Eindruck auf, Frauen würden hier schlichtweg gehasst und deshalb zu raffinierten, ambivalenten, lustvollen Opfern stilisiert. – Nach heftigen Protesten diverser Frauenorganisationen insbesondere in Italien und Spanien wurde dieses Werbefoto zurückgezogen und durch ein anderes, auch nicht sonderlich frauenfreundliches, 24 Bei der – nach meinen Recherchen – einzigen Ausnahme handelt es sich um die Mode- und Lifestyle-Fotografin Annabel Mehran, die in New York und Los Angeles lebt; vgl. u. a. www.annabelmehran.com (Zugriff 26.01.2017) und Becker, David (2013): „VICE Sparks an Uproar After Publishing Female Author Suicide Photos“. In: PetaPixel, 21.06.2013, https://petapixel.com/2013/06/21/vice-sparks-an-outroar-after-publishing-staged-female-author-suicide-photos/ (Zugriff 26.01.2017). 25 Damit ist nicht gesagt, dass nicht auch Fotografinnen oder Designerinnen grenzwertig-obszöne Bilder herstellen können, wenn wir etwa nur an eine Inez van Lamsweerde denken, die für Werbung und Mode und auch als freie Fotografin arbeitet. Obwohl ihre Arbeiten z. B. an und mit dürren weiblichen M ­ odels, durch Retuschen geschlechtslos gemacht, als durchaus problematisch, mindestens aber p ­ rovokativ bezeichnet werden können, gestaltet sie doch niemals Gewalt- oder Mordszenen, wie dies viele i­ hrer männlichen Kollegen getan haben. Vgl. u. a. ihre werbliche Fotoserie für einen hometrainer „Thank you Thighmaster“, 1993, vgl. u. a. Medien Kunst Netz, www.medienkunstnetz.de/werke/thank-you-tigh­ master/ (Zugriff 26.01.2017); vgl. A. Winter, 11 f.

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ersetzt. Allerdings müssen wir leider vermuten, dass die legitime Empörung der­ maßen öffentlichkeitswirksam war, dass Dolce & Gabbana die Werbeanzeige selbst auch gar nicht mehr benötigte; denn noch lange nach dem Rückzug der Kampagne wurde das Bild weltweit veröffentlicht, da alle Zeitschriften und Zeitungen über das skandalöse Foto berichteten, Pro- und Contra-Bewertungen erfolgten – und zur Überprüfung jeweils das inkriminierte Foto abgebildet wurde; kostenlose Werbung für D&G, die das vielleicht sogar bewusst eingeplant hatten.

Der geschundene „terroristische“ Modekörper Die zweite Kampagne, die ich hier exemplarisch beschreiben möchte, bezieht ihren Nervenkitzel aus dem „Spiel“ von Pornografie, Staatsgewalt, Terror: Einer der international als Stargestalter gehandelten Fotografen, Steven Meisel (der seit 1988 jedes Vogue-Cover designt), inszenierte für die italienische September 2006-Ausgabe der Modezeitschrift Vogue anlässlich des fünften Jahrestages der Terrorattacke auf das New Yorker World Trade Center („9/11“) folgende als „State of Emergency“ titu­ lierte Fotogeschichte (vgl. Popsugar 2006): Eine „Terroristin“, die von der Staats­ gewalt festgenommen und vulgär sexuell-gewalttätig durchsucht wird (wobei sie selbstverständlich feinste Mode trägt). Joanna Bourke, Geschichtsprofessorin am Birkbeck College, University of London, hat die Fotoreihe eindrücklich beschrieben und analysiert: „There is a vicarious satisfaction in viewing these depictions of cruelty in the interests of national security. It is no coincidence that the security forces are shown to be protecting us from a person who is neither male nor obviously Muslim. Instead, the terrorist threat is an unreal woman. In contrast to the security personnel depicted, she is placed beyond the realm of the human. Her skin is as plastic as a mannequin’s; her body too perfect, even when grimacing in pain. When the model is depicted as the aggressor, she remains nothing more than the phallic dominatrix of many adolescent boys’ wet dreams. In both instances, the beauty of these photographs transforms acts of violence and humiliation into erotic possibilities. (…) Torture has not only become normalised, it has been integrated into one of the most glamorous forms of consumer culture – high fashion.“ (Bourke 2006) Der Zusammenklang von sexueller Unterwerfung, Sicherheit suggerierender – und damit legitimierter – Staatsgewalt, exotisch-entrücktem weißem Model in ­schicker Kleidung bringt eine extrem eigenartige wie brutale Atmosphäre hervor. Folter als sexualisierte Pikanterie in einem Ambiente, das normalerweise Luxus, Shopping, Spaß verheißt: Das ist ungewöhnlich und scheint (männliche) sexuelle Fantasien zu beflügeln – zumindest erhoffen sich das die Modelabels.

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Der geschundene „Horrorfilm“-Modekörper Und noch einmal Steven Meisel, der gerne mit den Bildern gefolterter oder ermordeter Frauen zu spielen scheint und der deshalb offenbar ebenso gern von der italienischen Vogue gebucht wird: Erschienen in der April-Ausgabe 2014, inszeniert er häusliche Gewalt in ihren unterschiedlichsten, meist blutigen „Spiel“arten. Unter dem Title „Horror Movie“, der ja sofort seine Intention (Horror) preisgibt, sich aber zugleich durch den Zusatz „Movie“ vor der Wirklichkeit fortzustehlen meint, gestaltet Meisel eine lange Folge von Szenen, die von äußerst brutaler häuslicher Gewalt zeugen: Junge Frauen (Models in selbstverständlich erlesenen Kleidern teurer Fashion-Designer, denn es handelt sich bei Vogue schließlich um eines der wichtigsten und erfolgreichsten Modemagazine), die, das bezeugen ihre Münder, vor Angst offenbar schreien oder vor Entsetzen oder gleich als Leiche ganz verstummt sind. Da liegt eine junge Frau kopfüber am unteren Ende einer Treppe innerhalb ­eines Hauses, Augen halb offen, vielleicht schon gebrochen wegen des möglichen Genickbruchs, den sie beim Sturz erlitt, Beine verdreht, Oberschenkel geöffnet, ein Arm weit von sich gestreckt, daneben ein Küchenmesser mit Blut darauf und daneben; ihre glänzenden dunkelroten Haare vermischen sich mit dem Blut, das aus einer Kopfwunde strömt und das perfekt zu ihrem roten, etwas verrutschten Kleid passt. Im Halbdunkel, ihr gegenüber, aber entfernt, ein Mann in blutigem Hemd in einem Sessel sitzend, der sie emotionslos-ruhig betrachtet. – Nächstes Bild: Auf derselben Treppe, nun aber stehend an die Wand gepresst, eine schwarzhaarige Frau, eher noch ein Mädchen, kindlich unschuldig ganz in sauberes Weiß („Like a Virgin“) gekleidet – ohne Blutflecken – mit panisch erhobenen Armen und weit ­geöffnetem, wahrscheinlich schreiendem Mund. An der Wand eine wie mit abrutschenden Fingern gezeichnete Blutspur. Am oberen Treppenabsatz derselbe Mann von zuvor in selbigem weißen Hemd mit sorgfältig arrangierten Blutspritzern darauf. Sein Gesicht befindet sich außerhalb des Bildrahmens, der untere Teil des Körpers sowie seine Hände verschwinden im schattigen Dunkel des Treppenhauses. – Noch ein Bild: dieselbe Frau in demselben Kleidchen, wieder mit weit geöffnetem Mund schreiend, horizontal auf dem Boden liegend und mit ihren beiden Händen das untere Ende einer Tür umklammernd, hinter der ihr Körper von der Brust abwärts nach rechts hinter der Tür verschwindet – als ob unsichtbare Hände sie wegzuziehen versuchten; vor der Tür in unserem Blickfeld eine blutige (vermutlich) Stoffschere. – Ein letztes Foto: Eine wahrscheinlich andere junge Frau, in einem ebenfalls weißen sehr hübschen Mantel presst sich breitbeinig und mit lang ausgestreckten Armen in größter Angst an eine helle Zimmerwand, Augen halb offen und – von der Beobachter_innenposition aus – ganz weit nach links verdreht; denn von dort kommt der Tod in Gestalt eines rasenden Mannes, von dem nur sein linker Arm (es muss der linke sein, denn sonst würde er sich nicht auf die Frau orientieren) und die Hand, die ein Beil hält, zu sehen sind. Das Beil hat kurz zuvor die aus Holz bestehende Haustür so weit zersplittert, dass im Augenblick des Geschehens

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nur Beil, Arm und das halbe Gesicht des Mannes mit einem weit aufgerissenen Auge und viel weißer Sclera gezeigt werden. The „message is overwhelmed by the medium – the pleasures of seeing the bodies of women, dead or alive, are repeated, again and again.“ (Campbell 2014) Bis auf das erste Fotoshooting, in dem das rothaarige Model als Leiche dra­ matisiert wurde, leben die anderen Opfer alle irgendwie noch. Allerdings werden wir im Ungewissen darüber gelassen, wie die als Momentum von Gewalt gestaltete Szene letztendlich ausgehen wird. Und doch könnten wir wissen, wie die Gewalt­ taten enden, denn Meisel hat Foto für Foto bekannte Filmsequenzen „rekonstruiert“, in denen Frauen Opfer von Gewalt wurden; darunter etwa „Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe“, „Suspiria – in den Krallen des Bösen“, „Shining“ oder „Das Schweigen der Lämmer“. Es ist schwer zu entscheiden, was schlimmer ist: die Fotoserie selbst oder die Tatsache, dass die mächtige Chefredakteurin der Vogue Italia, Franca Sozzani, die Aktion als Protest gegen die Gewalt gegen Frauen und Kampf für deren Ermächtigung und Emanzipation behauptete! (vgl. Fury 2014) Solch ein impertinentes Statement erweist einmal mehr das klebrige, gleichwohl mächtige Konstrukt, mit dem in Teilen der Modewelt und ihren Fashion Shows, Glamour Modemagazinen und Anzeigenkampagnen eine sexualisierte Morbiditäts-­ Kultur zelebriert wird, in der inszenierte Leidenschaft zur schlichten Macht, Romantik zur Gewalt und Nähe zu eiskaltem Hass verkommen.

Der geschundene theatralische Modekörper Das Spiel mit toten Frauenkörpern scheint für viele Fotografen eine hohe Attraktion zu besitzen. Es ist wichtig zu betonen, dass es Männer sind, offenbar besessen davon, den Tod schöner junger Frauen in feiner Mode zu inszenieren. Selbst dann, wenn es sich nicht um einen schnöden Job für eine Modezeitschrift mit gewiss sehr viel Geld handelt, inhalieren Lifestyle-Fotografen sozusagen den weiblichen Hauch des Todes mit Vorliebe – „guilty pleasures“ für Kreateur und Publikum. Der japanische Fotograf Izima Kaoru scheint von solchen Todes-Designs obsessiv fasziniert, denn seine Fotoserie mit bekannten japanischen Schauspielerinnen und Models hält nun schon eine ganze Weile an. „Death Becomes Her“, wie die US-amerikanische Zeitschrift Interview ihr Interview mit Kaoru treffend eröffnete (vgl. Interview 2009). Robert Zemeckis schwarze Komödie gleichnamigen Titels von 1992 mit den exzellenten Schauspielerinnen Meryl Streep und Goldie Hawn ist indes wesentlich vergnüglicher anzuschauen und intelligenter konzipiert. „Koizumi Kyoko wears Sybilla“ (1993), „Hosokawa Fumie wears Tiffany“ (1995), „Tomita ­Yasuko wears Prada“ (1997), „Igawa Haruka wears Dolce & Gabbana“ (2003), „Erin O’Connor wears Vivienne Westwood“ (2006), „Kimura Yoshino wears Alexander McQueen“ (2007), „Sakai Maki wears Jil Sander“ (2008) …, und so geht es mit Kaorus

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Fotoserie dazwischen und danach munter weiter (vgl. Kaoru 2008 und 2011). Das Konzept ist ebenso simpel, wie die Fotos sensationell wirken: Kaoru rekrutiert jene berühmten japanischen Frauen und bittet sie, ihren „Lieblings-Tod“ und -Ort für sich selbst zu beschreiben und sich dazu ein Haute-Couture-Outfit von einer oder einem Modedesigner_in auszusuchen, in dem sie sterben möchten. Dann bereitet er den Tatort in sehr knallig-bunten Farben (typisch japanische Ästhetik) sorgfältig vor und platziert das Opfer sodann in diesem Ambiente. Jede einzelne Situation mit Frau besteht aus drei Fotos: erstens Vogelperspektive mit sehr kleinem Opfer ­irgendwo in der Ecke oder unter Blumen bzw. Müll bzw. im Brackwasser oder Drive-­ in-Restaurant oder oder … – fast unsichtbar begraben, zweitens Totale auf Augenhöhe und drittens Close-up der Toten. Diese Fotos werden in limitierten Stück­ zahlen als C-Prints auf den Kunstmarkt geworfen – Kunstfotografien bringen mehr Geld als Designfotos (und ein Motiv und Ausführung können, wie hier, mehrmals und damit lukrativer verkauft werden). Die Verdinglichung der jungen Frauen wird auch noch einmal drastisch dadurch deutlich, dass Izima Kaoru zuvor (und offenbar weniger erfolgreich) wirk­­­ liche „Landscapes“ fotografierte, aber nach seinen „Landschaften mit einer Leiche“ giert das Publikum und gieren Käufer_innen offenbar weitaus stärker.

Der geschundene literarische Modekörper Ein letztes unangenehmes Beispiel möchte ich dokumentieren, das sich an besonders gebildetem literarischem Wissen delektiert: Die Fotografin Annabel Mehran gestaltet ansonsten eher Fotos, die sich nicht besonders deutlich von anderen Fash­ ion-Fotos unterscheiden, aber durchaus eine gewisse Leichtigkeit der Anmutung ausstrahlen. Deshalb ist es umso unverständlicher oder zumindest bedauerlich, dass sie sich, vom Sujet offenbar fasziniert, nach meinen Recherchen als einzige Fotografin (vgl. dazu Anm. 23 in diesem Kap.) für eine solche Bilder-Serie hergab: Im Juni 2013 publizierte das Vice Magazine26 on- und offline in seiner „Women in Fiction Issue“ genannten Ausgabe den Fotoshoot „Last Words“. In dieser Serie ­werden sieben exzeptionelle Schriftstellerinnen dadurch „gefeiert“, dass sieben Models, in teure Modebrands gewandet, die wirklich erfolgte (oder, wie im Fall von Dorothy Parker, versuchte) Selbsttötung dieser Literatinnen nachstellen. Nach Protesten verschwanden die Fotos auf einer „404 page not found“-Netz-Information,

26 Vice Media ist ein kanadisch-amerikanisches, inzwischen auf vier Kontinenten omnipräsentes Medien-Netzwerk, das on- und offline Kultur-, Politik- und Nachrichten-Magazine, einen TV-Sender, Bücher und ein Musiklabel unterhält; es wendet sich besonders an coole, avancierte junge Menschen, die sich von Politik bis Sex für so ziemlich alles interessieren, das ungewöhnlich und provokant ist. Vgl. zum kurzen Überblick „Vice Media“, https://en.wikipedia.org/wiki/Vice_Media (Zugriff 08.04.2017).

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waren also kommentarlos aus dem Netz genommen worden – aber die Print-Version war längst ausgeliefert und blieb daher nachhaltig präsent und im Gedächtnis. Charlotte Perkins Gilman (1860–1935), US-amerikanische Dichterin und Frauenrechtlerin, in einem Sessel sitzend, auf einem Tischchen neben sich eine welkende Blume, ein Buch, eine Gaslampe und eine umgestürzte Glasflasche, im Hintergrund eine gelbe Blumentapete (vgl. ihre autobiografisch inspirierte Kurz­ geschichte The Yellow Wallpaper von 1892, Perkins Gilman 2005); mit der linken Hand hält sie sich ein Chloroform-getränktes Taschentuch vor den Mund. Virginia Woolf (1882–1941), englische Literatin und Verlegerin, presst mit beiden Händen einen schweren Stein vor ihren Bauch, während sie, mit abwesendem Blick und in ein langes weißes Kleid gehüllt, bereits bis zu den Waden im Wasser (Der Fluss Ouse) steht. Dorothy Parker (1893–1967, vgl. Parker o. J.), US-amerikanische Schriftstel­ lerin, Journalistin, Drehbuchautorin, Literatur- und Theaterkritikerin, sehr politisch engagiert (Mitbegründerin der Hollywood Anti-Nazi League), versuchte ins­ gesamt viermal erfolglos, sich die Pulsadern aufzuschneiden (sie starb schließlich an ­einem Herzinfarkt); das sie repräsentierende Model, schwarzhaariger Bubikopf, schwarzes Kleid und lange Perlenkette, steht vor dem Waschbecken, aufrecht, ruhig, mit geschlossenen Augen, die nach oben offenen Hände blutüberströmt. Sylvia Plath (1932–1963, vgl. Plath 2005), US-amerikanische Lyrikerin und ­Romancière (ihr einziger Roman „Die Glasglocke“ machte sie berühmt), kniet in gesittetem Mädchenkleid-Look vor einem 1960er-Jahre Backofen und richtet ihren Blick ruhig-depressiv auf die geöffnete Backofentür. Elise Nada Cowen (1933–1962, vgl. Marler 2004), US-amerikanische Literatin der Beat Generation, emanzipiert in ihren Beziehungen zu Männern und Frauen, aus der siebten Etage aus dem Fenster gestürzt (tatsächlich stürzte sie sich durch das geschlossene Wohnzimmerfenster ausgerechnet ihres Elternhauses). Das hochformatige Foto zeigt einen auf dem Bauch liegenden schmächtigen weiblichen Körper in kurzem Röckchen, Beine und Arme leicht verdreht-abgewinkelt, in einem Hof, rechts von ihr Mülltonnen, von oben wölben sich gnädig grünblättrige Äste eines Baumes; die Vogelperspektive (siebte Etage) zwingt die Blicke der Beobachtenden steil nach unten, herab an der Hauswand, deren Mauerwerk mit roten Streifen farbig akzentuiert ist und entsprechend deutlich Blut assoziiert, obwohl an der Figur und um sie herum keinerlei Blut zu sehen ist; einige winzige weiße Punkte, die unten am Hauseingang und leicht in der Nähe der Leiche verstreut liegen, könnten auf die zersplitterte Fensterscheibe hinweisen. Die Taiwanesin Chen Mao Ping (1943–1991, vgl. Chen 2007), bekannt unter ihrem Künstlernamen San Mao, schrieb autobiografische Reiseliteratur und war als Übersetzerin tätig. Wir sehen – das Hochformat ist in diesem Fall mehr als logisch – nur das Gesicht und den mit einem ausgeschnittenen Oberteil bekleideten Oberkörper des asiatisch aussehenden Models im Profil, wie es sich vor einer schäbigen Wand, von der der Putz abblättert, Seidenstrümpfe um den Hals gelegt hat;

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mit den Fingern ihrer linken Hand lüpft sie unter dem Kinn ein wenig die zum Band gedrehten Strümpfe, während ihre rechte über Kopfhöhe (noch) den Strang hält. Und schließlich die zuletzt geborene Iris Chang (1968–2004), US-amerika­ nische Schriftstellerin und Journalistin, die politisch-dokumentarische Bücher schrieb (vgl. Chang 1995, Chang 1997, Chang 2003). Als Fashion Victim sehen wir das Model im Profil in einem weißen Auto sitzend, close-up, also in Großaufnahme, von außen durch das heruntergekurbelte Seitenfenster fotografiert, mit beiden Händen einen Revolver umklammernd, der von schräg unten direkt und sehr nah auf ihren leicht geöffneten roten Mund zielt; ihre Augen sind geschlossen. Was wir sehen: fünf von sieben Selbstmordszenen sind Farbfotografien, zwei schwarz-weiße, wobei sich mir hier die Farbverteilung nicht erschließt. Denn weder haben das Alter bzw. Geburtsjahr der Künstlerinnen damit etwas zu tun noch die spezifischen, ohnehin allesamt voyeuristisch inszenierten Todesursachen. Ich könnte als Vermutung formulieren, dass die Künstlerinnen Parker und San Mao, deren Tod in Schwarz-Weiß inszeniert wurde, die vielleicht am offensten politisch agierenden und recherchierenden Frauen waren und deshalb der Purismus einer Schwarz-Weiß-Fotografie diese Haltung besser einzufangen meinte. Die vier Hochund drei Querformate werden verständlich, denn, zynisch genug, das Format verkörpert jene Form, die die je spezifische Todesart und den Tatort am geeignetsten in Szene setzten. Im Hochformat werden gestaltet: der Fenstersprung (aus großer Höhe), das Aufschneiden der Pulsadern (stehend, Blut fließt vertikal), das Er­hängen (Betonung der Vertikale). Die anderen vier Tatorte Auto, Fluss, Backofen, Wohn­ zimmer legen die Horizontale nahe: Ein Auto ist eher lang als hoch, ein Fluss fließt horizontal, und Küche sowie Wohnzimmer sind private Räume, deren Ausstattung im Querformat besser eingefangen werden kann. – Alles sehr genau und sehr fein geplant, ohne jegliche Emotion den realen Geschehnissen gegenüber – tote Literatinnen werden für ein Mode-Lookbook missbraucht. „Today’s depictions have less to do with the tragedy of a life cut short and more to do with a perverse, voyeuristic fascination with violence and gore in female crime scenes. In effect, the current ­fascination reflects the normalization and de facto acceptance of violence against women.“ (Bryant, 5)

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DER ENTGRENZTE KÖRPER Grenzverwischungen Das, was einst so sicher als zwei voneinander geschiedene Bereiche gedacht war, die sich entweder einigermaßen im Einklang befanden oder als Antagonismus ­auf­einanderprallten: Natur und Kultur, hat sich grundlegend durch Technologien, gesellschaftliche Veränderungen und theoretische Vorstellungen gewandelt. Dementsprechend sind auch die Interpretation und das Verständnis vom (geschlecht­ lichen) Körper breit aufgespannt und – was die theoretische wie ethische Evaluation betrifft – höchst kontrovers bewertet. „Die virtuelle Ent-Natürlichung menschlicher Körper einerseits führt andererseits zu einem stärkeren Vergewisserungsbedürfnis konkreter Körperwahrnehmung und -erfahrung.“ (Heilmann 2005, 64) Immer dann, wenn Vorstellungen und Realitäten ins Wanken geraten, wie hier der Körper, der nun nicht einmal mehr „nur“ aus Natur und Kultur komponiert ist, sondern plötzlich zusätzlich technologische und virtuelle Konstrukte in ihn hineinkriechen, ihn sogar potenziell auflösen –, immer dann sucht eine ebenso verunsicherte, des­ orientierte, festhaltende wie kritisch-analytische Reaktion das zu entgleiten Drohende zu beschwören oder zu retten. Solche rapide fortschreitenden Entwicklungen sind sehr schwer zu beurteilen; keinesfalls können damit einhergehende Ängste als nostalgisches Beharren an Überkommendem diskreditiert werden. Andererseits ist die enthusiastische Begrüßung technologischer und biochemischer Veränderungen oder Mobilmachung der gesellschaftlichen Körper gleichfalls unangebracht. „Die zu beobachtenden Grenzverwischungen zwischen Natur und Mensch, Mensch und Maschine gehen einher mit Auflösungsstrategien basaler Kategorien, die bisher als Grundorientierung für ein noch humanes Dasein sorgten. (…) Ontologische Bestimmungen des Mensch- und Subjektseins und Leib/Körperverständnisses werden in Frage gestellt und neue Definitionsversuche drängen sich auf.“ (Petrovic-­ Ziemer, 160) Wie auch immer die Beurteilung ausfällt: Körper und Geschlecht müssen ­angesichts dieser bereits existenten oder möglichen Eingriffe, Substituierungen, Kompositionen neu gedacht werden. Donna Haraway ist nicht die Erste, die seit Mitte der 1980er-Jahre ziemlich radikal die Vorstellung vom „ganzen“, „organisch-natürlichen“ Körper infrage stellt. (Vgl. Haraway 1985, 8 ff. und Haraway 2004.) Der US-amerikanische Mathematiker und Begründer der Kybernetik, Norbert Wiener, prägte den Begriff der Kybernetik (cybernetics), den er auf sich selbst regulierende Mechanismen und Systeme bezog (vgl. Wiener 1948). Gemeinsam mit seinen Kollegen, dem Physiologen und Physiker Arturo Rosenblueth und dem Elektroingenieur Julian Bigelow, spricht er von ­einer Art der Übereinstimmung zwischen Maschinen und lebenden Organismen:

DER ENTGRENZTE KÖRPER  205

„The broad classes of behavior are the same in machines and in living organisms …) Structurally, organisms are mainly colloidal, and include prominently molecules, large, complex and anisotropic; machines are chiefly metallic and include mainly simple molecules.“ (Rosenblueth/Wiener/Bigelow 1943, 22 f.) Auffällig, dass auch Haraway viel später die Tiere in ihre „living organisms“, wenn auch in modifizierter Absicht, aufnimmt: „In sum, ‘companion species’ is about a four-part composition, in which co-constitution, finitude, impurity, historicity, and complexity are what is. (…) inhabitants of technoculture become who we are in the symbiogenetic tissues of naturecultures (…).“ (Haraway 2003, 16 f.) Haraways „Techno-“ und „Naturkulturen“ fallen nicht nur zusammen, sondern das sind wir („who we are“). Sie erläutert ihr besonderes Interesse an der Mensch-Tier-Verbindung anhand der Beziehung zwischen Hunden und Menschen mit der Kategorie metaplasm: Für sie bedeutet das „the remodeling of dog and human flesh, remolding the codes of life, in the history of companion-species relating (…)“ (Haraway 2003, 20) Sie ist sich zweifellos der Doppelbedeutung des Begriffs bewusst: einerseits als rhetorische Figur der „Umformung“ durch Normabweichungen wie etwa Weglassen, Hinzufügen, Austauschen; andererseits als aus der Zellbiologie stammender Begriff für unbelebte Materie oder Einschließungen wie Stärke oder Pigmente. Und so werden die Lebenswissenschaften neu und erweitert konfiguriert: Menschen, Tiere, Maschinen und lebende Teile wie Zellgewebe gehen eine unauflösliche Verbindung ein. „Die Begründung der Physiologie als Experimentalwissenschaft markiert eine entscheidende Wende der Lebenswissenschaften: Denn diese fragten fortan nicht mehr nach dem Wesen des Lebens, sondern nach der Steuerung seiner Prozesse. (…) Der lebende Körper wurde zur Verkörperung dieses Wissens. Als eine Ganzheit, die sich selbst steuert und reguliert, bildete er den zentralen Gegenstand der Biologie, doch darüber hinaus konstituierte die formale Beschreibung dieser Ganzheit und der vitalen Steuerungsprozesse eine Wissensfigur, die anwendbar war auf Individualitäten wie Maschine, Tiere, Menschen oder Gesellschaften.“ (Bühler 2004, 9) Mit Haraway begann als wesentliche Erweiterung die techno-kritische feministische Befragung des vergeschlechtlichten Körpers. „Die Cyborg als imaginäre Figur und als gelebte Erfahrung verändert, was am Ende des zwanzigsten Jahrhundert als Erfahrung der Frauen zu betrachten ist.“ (Haraway 1995, 33)27 Haraways Emphase für „gemischte“ Körper folgt der Argumentation, dass sich ansonsten ja mit jedem Ding, das eine Verbindung mit dem Körper eingeht, eine Kluft auftäte zwischen dem „wirklichen“, dem „echten“ Körper und seiner Modifizierung. Haraway diskutiert die dreifache Grenzauflösung in modernen Gesellschaften zwischen Mensch und Tier (vgl. Haraway 2003 u. 2007), Organismus und Maschine, dem Kör27 Die deutsche Übersetzung macht aus dem englischen Artikel-Neutrum „the“ ein weibliches „die“ im ­Singular, obwohl der deutsche Buchtitel neben den Cyborgs explizit und zusätzlich Frauen benennt: Die Neuerfindung der Natur, Primaten, Cyborgs und Frauen.

206  KÖRPER-FACETTEN 

perlichen und Nicht-Körperlichen. „(…) companion species (…) is my akward term for a not-humanism in which species of all sorts are in question (…). Companion species is a permanently undecidable category, a category-in-question.“ (Haraway 2007, 164 f.) Ironisch und selbstverständlich konstruiert Haraway Cyborgs (vgl. Haraway 1995), die aus natürlichen und künstlichen Teilen zusammengesetzt sind – cyb-ernetic org-anisms.28 Diese dreidimensionale Collage aus – wenn wir es so ­verdinglicht fassen wollen – unterschiedlichen, natürlichen und artifiziellen, lebendigen und nicht lebendigen Materialien geht dennoch erst einmal von dem ­unversehrten Cyborg-Körper aus, der, wenn auch technologisch, bio-technisch oder neuro-biologisch nachgerüstet, in sich dann doch wieder „ganz“ ist. Insofern ist das Argument zu bedenken, dass es womöglich emanzipatorischer ist, einen „funktionstüchtigen“ technisch aufgeladenen Körper mein Eigen zu nennen als ­einen, der verletzt, misshandelt, gewalttätig unterdrückt ist.29 Unsere Körper sind längst sozio- und techno-kulturell hergestellt und vermischt. In dem Maße also, wie technologische, bio-chemische oder neurologische Konstrukte auf den Körper zu- und in ihn eingreifen, wäre der zusammengesetzte, biologisch, technisch und sozial komponierte Körper eine Möglichkeit, der gesellschaftlichen Unterworfenheit des weiblichen oder geschlechtlich uneindeutigen Körpers zu entgehen – Unschärfe als emanzipatorischer Akt. „Ja, kann man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen? Ist das unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen?“ (Wittgenstein 1993, 280)

28 „Kybernetes ist griechisch für den ‚Steuermann‘. Als solcher lenkt er, wie die antike und biblische Überlieferung bezeugt, das Schiff und die Geschicke der Gemeinde. Er ist es, der den Reisenden und – mit göttlichem Auftrag – auch den Sesshaften ihre Wege bahnt. In dieser Doppelfunktion wird der Kybernetes bei Thomas von Aquin Gubernator heißen, ehe die Neuzeit vom Governor spricht. (…) der Kybernetes (wird) Mitte des 20. Jahrhunderts zu neuen Ehren kommen: Er gilt als Galionsfigur einer universalen Steuerungswissenschaft, die nach Norbert Wiener Cybernetics oder ‚Kybernetik‘ heißt.“ (Maier/Wolf 2004, 8) 29 Vgl. dazu Kap. Der geschundene Körper in der Mode, S. 196–204.

DER ENTGRENZTE KÖRPER  207

VORWORT ZUM „ANIMAL DESIGN“ Der geradezu wahnhaft nach biologischen und genetischen Ursachen für den ­angeborenen Verbrecher suchende Psychiater und Begründer der Kriminologie, Cesare Lombroso, bot u. a. „abnormale“ Tiere als Beispiele für den menschlichen, ebenso „abnormalen“ Charakter des Delinquenten30 an. Hätten diese „Studien“ nicht so erschreckende positive Rezeptionen über eine längere Zeit erfahren (u. a. und in schlimmster Weise durch die Nationalsozialisten), so könnten wir an seinen Analogien zu tierisch-„abnormem“ Verhalten und menschlichen Verbrechern heutzutage geradezu Vergnügen finden. Jutta Person hat in ihrem vorzüglichen Buch über die Geschichte solcher „Wissenschaften“ bei Lombroso folgendes Tier-Bestiarium vorgestellt: „Ehebrecherische Störche, boshafte Hamster, nymphomanische Kühe, neidische Tauben, Notzucht treibende Ameisen, mordende Hühner, Raubbienen und sodomitische Esel stehen als Beispiele für die biologischen Wurzeln des Verbrechens von Lombrosos L’Uomo delinquente (…), das die moderne Kriminologie mitbegründet und Lombroso als Kriminalanthropologen weltberühmt werden lässt.“ (Person, 87) Die Lebewesen jedoch oder Haraways „symbiogenetic naturecultures“ (vgl. Haraway 2003) sind dagegen vollkommen anders bewertet. Sie könnten sogar zu sehr eigenartigen, klug konzipierten, aber auch lustigen Machtverwerfungen führen, wenn das Konstrukt und die gesellschaftliche Logik hegemonialer Männlichkeit probehalber auf die Tierwelt transformiert würden: Das tierliche Missverständnis bestünde womöglich darin, aufgrund spezifischer Charakterzüge und des körperlichen Aussehens der Menschen diametral andere, also „falsche“ Macht­ verhältnisse zu vermuten. So ausprobiert im folgenden Projekt.

30 Neben der Beschreibung des L’uomo delinquente erfand Lombroso sogleich auch La donna delinquente, bei der die Verbrecherin umstandslos mit der Prostituierten vermischt wird – wodurch die Täterin ihm sozusagen doppelt „abnormal“ im Verhältnis zum Verbrecher geriet. Vgl. die ersten deutschen Übersetzungen einiger von Lombrosos rassistischen Büchern: Lombroso 1887 und Lombroso 1894.

208  KÖRPER-FACETTEN 

DAS PROJEKT: ­ANIMAL ­DESIGN  ALS ­VERQUERER ­GENDER  BLUR Günes Aksoy und Keren Rothenberg

Seit Jahrhunderten versucht der Mensch zu beweisen, dass er die intelligenteste, die am weitesten entwickelte Spezies sei. Der Mensch steht für Vernunft und Kultur, das Tier für das Trieb- und Instinkthafte, das Wilde und Unkultivierte. Das abendländische Denken ist stark von solchen Dichotomien geprägt. Neben der Mensch-Tier-Antonymie lassen sich nach der gleichen Konstruktion die Begriffspaare Kultur-Natur, Vernunft-Instinkt, Subjekt-Objekt, Mann-Frau anführen. Solche Dualismen erleichtern es den Individuen, sich zu positionieren, ein Selbstverständnis als Selbst-Bewusstsein zu formulieren. Die „Gegenüberstellung von Mensch und Tier hat die Funktion, Menschlichkeit zu definieren“ (Hastedt 2011, 196). Das System der Divergenz funktioniert, indem der eine Teil den anderen als „Anderen“ stigmatisiert, ihn also dazu macht und in eine Abhängigkeit bringt. Diese Abhängigkeit hat eine gesellschaftliche Hierarchisierung und Unterdrückung zur Folge: Der oder das Eine wird höher gewertet als der oder das Andere. Auf sozio-kulturelle Gender-Beziehungen bezogen wird der Frau machtpolitisch die Position des Anderen zugewiesen, die sie auf den Mann als Maßstab und Orientierung zurückwirft. Individualität wird ihr, genau wie dem Tier, abgesprochen. Die Politologin ­Sabine Hastedt vergleicht diesen ausschließenden Mensch-Tier-Dualismus mit dem Mann-Frau-Dualismus: „Beide Beziehungssysteme werden von einer dualistischen, gegensätzlichen Ordnung bestimmt“ (ebd.). Tier und Frau werden in diesem System objektifiziert, und so definieren sich „Menschlichkeit und Männlichkeit (…) über den Ausschluss weiblicher und tierischer 
Individuen“ (ebd., 197). Dabei sind „Spezies und Geschlecht (…) soziale Konstruktionen, die den Anschein eines essenziellen, natürlichen Kerns erwecken“ (ebd., 209). Die Kategorien Frau und Tier sind keine festen Größen, sondern werden durch performative Akte immer wieder hervorgebracht (vgl. ebd., 209). Vor dem Hintergrund dieser widersprüchlichen Phänomene ist es umso überraschender zu beobachten, dass Menschen sich bei genauer Betrachtung sehr wohl Eigenschaften der Tiere zu 
eigen machen. Es scheint, als würde gerade das von ­ihnen geschaffene Konstrukt der 
Geschlechterrollen seine Kraft aus der Nachahmung des Tierreichs ziehen. Ein Blick in die Welt der Mode verdeutlicht: Überall finden sich Zebra-, Tigerund Leopardenmuster, Accessoires oder ganze Mäntel aus Pelz oder Federn, lange Fingernägel, die an Krallen erinnern, und wilde Mähnen, die die des Löwen imitieren.

DAS PROJEKT: ­A NIMAL ­D ESIGN ALS ­V ERQUERER ­G ENDER BLUR  209

Es scheint ein Bedürfnis zu 
geben, sich in die Haut des Tieres zu hüllen. Interessanterweise sind die Attribute, die menschliche Weiblichkeit demonstrieren sollen, auffälligerer Natur (ausgeprägte Muster, Haare, Federschmuck etc.), während männliche Accessoires eher unscheinbar bleiben (Portemonnaies, Lederschuhe und -jacken). Demnach sind die sekundären Geschlechtsmerkmale – Erscheinungs­ bild und Verhalten –, die bei den meisten Tierarten vorherrschen, in menschlichen Genderkonstruktionen wiederzuerkennen als grundlegende geschlechtsspezifische Rollenstereotype – allerdings befremdlicherweise mit umgekehrten Gender-­Vor­ zeichen. Die offensichtlichsten Beispiele hierfür sind die Löwenmähne – die auch im alltäglichen Sprachgebrauch verankert ist – und der farbenfrohe Federschmuck, mit denen sich die menschliche Frau ziert, um ihrer Rolle als der Schönen und Verführerin gerecht zu werden. Dagegen gibt sich der menschliche Mann wie ein auf der Jagd lauerndes Tier, stark und ungeschmückt, um seiner Rolle als Jäger und ­Ernährer zu entsprechen. Worin mögen die Gründe für eine solche Art der Aneignung liegen? Warum also findet sich dieses Phänomen, sich im wahrsten Sinne des Wortes mit fremden Federn zu schmücken, so ausgeprägt in der menschlichen – mindestens der westlichen – Welt? Es entsteht wohl in einer von Vernunft und Effizienz bestimmten Welt zwangsläufig das Verlangen, das Abgespaltene, Natürliche und 
Triebhafte wieder zu integrieren.
 Swetlana Hildebrand konstatiert, dass „die biologischen Anlagen von Tieren durch Menschen als eine Geschlechtsidentität interpretiert werden“ (vgl. Hildebrandt 2011, 217). Hildebrandt geht unter Einbeziehung queerer Theorien davon aus, „dass sowohl die Mensch-Tier-Verhältnisse von der Kategorie Geschlecht beeinflusst sind, als auch die Kategorie Geschlecht von den Mensch-Tier-Verhältnissen mitstrukturiert wird“ (ebd., 217). So gelten die bei Tieren beobachteten Ver­ haltensmuster unter heteronormativen Aspekten tautologisch als Legitimation heteronormativer Gesellschaftsformen im menschlichen Bereich (vgl. ebd., 220). Nach Hildebrandt werden Tiere „im Rahmen des über sie produzierten Wissens als geschlechtlich markiert und zu Projektionsflächen menschlicher Aushandlungsprozesse um Geschlecht“ (ebd., 217).
So lässt sich sagen, dass das Verhalten der Tiere geschlechtsspezifisch markiert wird und zur Legitimation geschlechtsspezifischer Merkmale und Verhaltensweisen der Menschen dient. Tiere haben besonders dann auffällige Verhaltensmuster, wenn es um das Balzen, also um die Paarung geht. Um die sexuelle Attraktivität zu erhöhen, greifen Männchen zu stark visuellen und 
performativen Mitteln. Ein eindringliches Beispiel dafür ist das farbenfrohe und üppige Gefieder sowie der Balztanz diverser Vögel. Ähnliche an der Balz orientierte Verhaltensmuster sind auch bei den Menschen sowohl auf performativer (Körpersprache, Tanz) wie auf visueller Ebene (starkes Schmücken und Schminken) zu beobachten. Wenn Menschen sich also Dinge von Tieren aneignen, so tun sie dies auch, um die sexuelle Attraktivität beim begehrten Geschlecht zu erhöhen. Die Ironie bei dieser Aneignung animalischer Attribute und

210  KÖRPER-FACETTEN 

Attitüden durch den Menschen liegt, wie zuvor erwähnt, auf der Hand: Die Frau orientiert sich am männlichen Tier, während der Mann sich das weibliche Tier zum Vorbild nimmt. Es findet also eine verquere Aneignung tierlicher31 Attribute durch die Menschen statt. Im Tierreich ist es die – vom Menschen so gedeutete – Aufgabe des Männchens, mit seiner beeindruckenden Erscheinung und seinem verführenden Verhalten die Gunst des Weibchens zu erheischen, während umgekehrt das Weibchen ein gezielt unauffälliges 
Erscheinungsbild aufweist, um vor Feinden geschützt und auf der Jagd getarnt zu sein. Bei einigen Tierarten ist das Männchen durch sein auffälliges Erscheinungsbild derart eingeschränkt, dass ihm Aufgaben wie die der Aufzucht der Jungen zuteil werden, während sich das Weibchen um die Jagd und den Nestbau kümmert und damit das Überleben der Jungen sichert. Dementsprechend ist es in den meisten Fällen das Weibchen, das sich den Partner aussucht, sich selbst jedoch nicht zu 
schmücken und anzubieten braucht.
 Nur auf den ersten Blick also mögen die Grenzen zwischen Mensch und Tier klar gezogen werden können. Auf den zweiten aber wird wohl mehr als deutlich, dass die Einteilung der Spezies – wie die der Genderkategorien – ebenfalls Kon­ strukte sind und sich die Grenzen verwischen, die 
Kategorien Mensch und Tier also potenziell durchlässig sind. Dieses Verwischen der Grenzen bzw. die fließenden Übergänge der Kate­ gorien von Gender und Spezies soll das folgende Gedankenexperiment deutlich ma­chen: Wie würden sich Tiere verhalten, wenn sie es uns gleichtäten und sich an ­unsere Geschlechtsidentitäten anpassten? Der starke König der Löwen und der ­bezaubernd schöne Pfau würden sich, ihre tierliche Logik auf die Menschen pro­ jizierend, mit der menschlichen Frau und die Löwin und Pfauhenne mit dem menschlichen Mann identifizieren und diese imitieren. Im nun folgenden Bildteil zeigen wir zunächst das verquere Aneignen der Tiere durch den Menschen. Anschließend werden die ausgewählten Tiere Löwe und Löwin, Pfau und Pfauhenne in einen menschlichen Alltag projiziert und „gendergetreu“ platziert. Mit dieser Verwischung der Geschlechtsidentitäten wird unsere als selbst­ verständlich gedachte Männlichkeit und Weiblichkeit als ideologisches Konstrukt entlarvt. Und so wird das Potenzial 
dieses doppelten Gender Blur ersichtlich: nämlich die Möglichkeit, das Korsett der gesellschaftlich herrschenden Heteronormativität aufzusprengen.

31 In dieser Arbeit wird der Begriff „tierlich“ statt „tierisch“ verwendet. Dies geschieht in Anlehnung an den Chimaira-Arbeitskreis, der darauf hinweist, dass tierisch und tierlich zwar das Gleiche bedeuten, in dem Begriff „tierisch“ aber eine negative Konnotation mitschwingt.

DAS PROJEKT: ­A NIMAL ­D ESIGN ALS ­V ERQUERER ­G ENDER BLUR  211

1 Pfau

2 Pfauen-Frau

3  Pfau-Henne

4  Mann-Henne

212 KÖRPER-FACETTEN 

5  Löwe

6 Löwen-Frau

7 Löwin

8 Mann-Löwin

DAS PROJEKT: ­A NIMAL ­D ESIGN ALS ­V ERQUERER ­G ENDER BLUR  213

9  Paar Konstellation

214  KÖRPER-FACETTEN 

10  Tiere-Alltag

DAS PROJEKT: ­A NIMAL ­D ESIGN ALS ­V ERQUERER ­G ENDER BLUR  215

Der „neutrale“ Körper Körper können verändert, deformiert, neu komponiert, verschleiert, entblößt – und noch viel mehr – werden. Und dies geschieht eben durch diverse Manipulationen: durch Körpereingriffe (Operationen, Kosmetika), durch eine zweite Haut (Mode), durch Staging (Inszenierung) oder durch den Einsatz von Hilfsmitteln (Produkte) zwecks Erweiterung körperlicher (und intellektueller) Fähigkeiten, um nur einige Möglichkeiten noch einmal in Erinnerung zu bringen. Fashion-Design spannt den höchst kontroversen Bogen von asozialer und unökologischer Billig- und Wegwerfmode über Mainstream- und Business-Kleidung bis zu extremer geschlechtlicher ­Stereotypisierung auf der einen und experimenteller Gender-Fluidität auf der anderen Seite. Als eine der avanciertesten Designsektionen ist Mode eben auch ein besonders gutes Spielfeld, um gender-fluide Konzepte auszuprobieren. Hier können Gender-­ Identitäten sehr experimentell ausgelotet und getestet werden. Denn Mode ist ein feiner Seismograf neuer Tendenzen nicht nur der Bekleidung selbst, sondern fungiert oft als (radikalerer) Entwurf, als Blaupause für (abgemilderte) zukünftige gesellschaftliche Strömungen. Einer der immer wiederkehrenden Trends – und das nicht un­ bedingt nur bei den Avantgarde-Brands – sind die unterschiedlichen Bemühungen, Mode für zunehmend androgyn behauptete und unmarkierte Körper zu entwerfen. Im Frühjahr 2016 etwa hat die Kaufhauskette Selfridges einige Räume für sogenannte „gender-neutral fashion“32 unter dem Namen Agender gestaltet und diese Mode mit folgenden Sätzen beworben:„The Concept Space is an environment in which you are given the freedom to transcend notions of ‘his’ and ‘hers’, as you simply find your most desired item by colour, fit and style.“ (Selfridges o. J.) Das Ausstellungsdesign präsentierte sich durchaus intelligent: Auf einer großen Papierbahn waren die schwarz geschriebenen, vergeschlechtlichten Personalpronomen „She“ und „He“ mit einem semitransparenten, hellen Band überklebt, also „durchgestrichen“, stattdessen erschien darunter deutlich sichtbar „Me“. Unten auf dem Papierbogen mit (digital-simulierter oder echter?) Handschrift das Wort „Agender“ und dessen Phonetik („adzenda“). Auf der entsprechenden Website wird dann die größere Gender-Diversity als Definition ausgebreitet: „Def: Without a gender (nongendered, genderless, agender, neutrois); moving between genders or with a fluctuating gender identity (genderfluid); third gender or other-gendered; includes those who 32 Es soll hier nicht weiter erörtert werden, dass der Begriff „Gender-Neutralität“ nicht nur unpräzise, ­sondern falsch erscheint. Nach meinen Analysen – und darauf weise ich ex- und implizit in dieser gesamten Publikation hin – kann es keine Neutralität (von lat. neuter: keine_r, keine_r von beiden) von ­Genders geben, da alle Menschen vergeschlechtlicht sind, unabhängig von der Bestimmung der je­wei­ ligen Geschlechtsidentitäten. Sich selbst als gender-neutral zu bezeichnen, verschleiert sowohl die ­eigene Geschlechtsidentität (die selbstverständlich in sich je fluid wechseln kann) als auch leistet es ­jenen Ideologien Vorschub, die die gesamte Gender-Diskussion ohnehin für irrelevant, wenn nicht gar für lächerlich und von „wahren“ gesellschaftlichen Problemen ablenkend halten. Zur Diskussion um die Anzahl der diversen Geschlechtsbenennungen (in den USA stehen 60, in England sogar 71 Geschlechteroptionen bei Facebook zur Wahl) s. u. a.: Facebook, Beyer 2014, Williams, Rh. 2014.

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do not place a name to their gender. Welcome to Agender, a celebration of fashion without definition.“ (ebd.) Die Modeabbildungen, die dann folgten, verdeutlichten wieder einmal eine gewisse Hilflosigkeit, wie die die zweite Haut (die Mode) Präsentierenden „fluktuierende Gender-Identität“ inkorporieren könnten: Es ist auffällig, dass in der überwiegenden Zahl der Beispiele des Modedesigns für alle Genders der – immer noch als solcher kenntliche – weibliche Körper androgynisiert und die Haare kurz geschnitten, der männliche etwas sanfter und weicher mit längeren Haaren gestaltet sind. Da finden sich z. B. zwei von den Körperformen her weiblich-androgyne Models, beide in Hosen, einmal mit Plateau- und einmal mit flachen Schuhen, die eine in schwarzem Anzug, weißem Hemd und schwarz-grauer Krawatte, die andere in dunkelblauer Bluse (Hemd) und schwarzer ausgestellter Hose; und beim „zweiten Paar“ erkennen wir ein zwischen Schneewittchen und Cosplay-Teenager oszillierendes Mädchen in weitem weißen Kleid und daneben ein Junge in ziemlich gewöhnlicher Männerkleidung (schwarzes Polohemd, weiße Männerhose), bei dem nur der Hut (schwarz, sehr weiblich, mit breiter Krempe und Schleife) das Gender verwirrt. Und schließlich sahen wir ein junges männlich-weibliches Paar, die eine weiß, der andere schwarz in relativ ähnliche Kleidungsschnitte gekleidet; allerdings ist ihre längere weiße Baumwoll-Jacke hinten mit dreidimensionalen Ornamenten verziert, während seine Jacke, soweit ersichtlich (er ist von vorne, sie von hinten ­fotografiert) aus Nylon uni-farben schwarz ist. Bezeichnenderweise erscheinen im Netz neben der nicht sehr im Vordergrund stehenden Agender-Seite alle weiteren („shop the edit“) unter ganz banal-binären Kategorien: „Women“, „Men“. Die Agender-Aktion ist also, so ist zu vermuten, doch lediglich ein simpler Marketing-Trick, um besondere Aufmerksamkeit zu erheischen, während sämtliche anderen Modeseiten wieder auf „back to normal“ zurückgespult sind. Neben dem Selfridges-Versuch fand ich bei meinen Recherchen noch einige andere Brands, die in marginalen Segmenten Mode für alle Genders anboten (die­ ­jedoch überall als „gender-free“ „ungendered“, „gender-neutral“ offeriert wurden) – aber das ist offenbar Vergangenheit. Sowohl Denim („Gender Neutral Collection“‚ „#LoveYourOther“) als auch Zara („Genderless“) haben inzwischen (oder momentan, während ich dies schreibe) keine Kleidung mehr unter diesen Kategorien im ­Angebot: „no results found“ oder „there are no products matching the selection“ bescheidet die entsprechende Suche. Was Reema Khrais im August 2016 zu bemerken meinte, scheint schon fast wieder Vergangenheit: „Gender-free clothes still make up a tiny slice of the market, but it’s a growing trend. Mainstream fashion brands like American Apparel and Diesel include gender-neutral clothes in their selections, and, earlier this year, fast-fashion giant Zara released an ‚Ungendered’ collection of basic T-shirts, sweatshirts and denim in neutral colors.“ (Khrais 2016, vgl. auch Tick 2015) Es wird spannend sein zu sehen, was die Zukunft bringt: Rückfall in konventionell-konservative Muster, Betonung von Androgynie oder eine noch radikalere Offenheit, wo alles möglich ist: fluide, elastische Konstrukte, die nicht nur unterschiedliche, sondern auch ständig sich verändernde Gender-Identitäten zulassen.

DER ENTGRENZTE KÖRPER  217

DAS PROJEKT: INTER-BODY ACTION Zoe Philine Pingel

The piece deals with concepts of body, identity and performance. Gender identity is performed through an act, an activity. It builds upon an underlying semiotic system, a system of representation of codes. The object allows the medium (performer) to reveal their individual identity. The object itself appears androgynous because there is an absence of polarised male or female characteristics. The combination of soft and hard forms, circles and rectangles, and two and three dimensions makes the object gender sensitive, oscillating between and playing with gender norms. When creating the wearable object, I thought about how the fabric shapes should look and connect. I wanted to construct a textile sculpture with no specific centre, no defined inside or outside, and with no hierarchy in itself. It should also be able to grow or be dismantled. It should feel comfortable and warm when worn. It should give the beholder the desire and space to interact with it. The object may seem to stand on its own when displayed, but gains its true meaning when performed. It aims to emphasise androgyny by visualising the transformation of both ­medium and object. In the end, however, what matters is not only the interaction between medium and object but also the audience’s perception. The space within and around the object enables dialogue between the performer and public.33

33 Die hier präsentierte Auswahl umfasst neben den folgenden beiden Entwürfen von Zoe Philine Pingel und Kathrin Polo sowie Annika Mechelhoff auch den von Juliana Lumban Tobing, vgl. Kap. I-am-Me, S. 163–165.

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DAS PROJEKT: INTER-BODY ACTION  219

DAS PROJEKT: DAS UNVERSCHÄMTE ORNAMENT Annika Mechelhoff

Während meines Studiums habe ich mich in vielen theoretisch wie auch praktisch orientierten Projekten intensiv mit Identitätskonzepten auseinandergesetzt. Das Verstehen und Erforschen verschiedener Identitätsentwürfe und deren Position in der Gesellschaft sind grundlegende Werkzeuge für Designer_innen. Genau betrachtet ist Kultur ein Netzwerk aus sich bedingenden und gegenseitig bedeutenden Zeichen. Sie selbst sind also Kultur, und Kultur ist Kommunikation.34 Wenn alle Kulturphänomene (also auch Mode und Architektur) als Zeichen verstanden werden, können sie gezielt eingesetzt werden, um Neues zu gestalten und andere Inhalte zu transportieren. Gender ist in dieser Betrachtung ein Begriff, der sich die Zeichen Mode und Architektur zu eigen macht, um ein Identitätskonzept zu kon­ struieren und neue Betrachtungsweisen einer fluiden Identität zu ermöglichen. Der kommunikative Akt, der zwischen der Erkennung eines Zeichens (dem Reiz) und seiner Deutung durch die Rezipierenden liegt, ist der Moment, in dem Spannung und Aufmerksamkeit generiert werden. Diesen Zwischen-Moment nutzt mein Projekt. Ich betrachte Mode und Architektur hier als Zeichensysteme, die über ihre ­einfache Funktionalität hinaus vieles mehr kommunizieren. Sie fordern die „Kon­ struktion von Kontexten mit gesellschaftlicher und symbolischer Bedeutung“.35 Beide verschmelzen hier zu einem einzigen Zeichen für etwas vollkommen Unspezifisches, was weder feminin noch maskulin, doch alles Erdenkliche dazwischen bedeuten kann. Mode und Architektur haben neben ihrer Art der Entstehung aus konstruierten Grundlinien und geometrischen Rastern auch konzeptionell viele Gemeinsamkeiten. In beiden verberge oder offenbare ich meinen Körper, um mich vor der ­Außenwelt zu schützen oder eben diese einzuladen. Ihre Formen können statisch maskulin oder dynamisch feminin, ihre Farben kalt oder warm empfunden werden. Und beide sind einem stetigen Wandel unterworfen. Dabei ist der Bruch mit dem, was wir gewohnt sind zu sehen, das, was unser Interesse am stärksten lenkt. Denn wenn alles bestrebt ist, die größtmögliche Kohärenz zwischen dem Individuum und seiner Umwelt, in der es sich inszeniert, herzustellen, ist das Brechen dieser 34 Eco, 2002, 295: „Wenn Semiotik nicht nur die Wissenschaft von den Zeichensystemen ist, die als solche erkannt werden, sondern die Wissenschaft, welche alle Kulturphänomene so untersucht, als ob sie Zeichensysteme wären – wobei sie von der Hypothese ausgeht, dass in Wirklichkeit alle Kulturphänomene Zeichensysteme sind, d. h. daß Kultur im wesentlichen Kommunikation ist – …“. 35 Ebd.: „( …) eine Definition, welche das Entwerfen von Kleidung insofern miteinbezieht, als diese Element sozialer Anerkennung und Mittel des Gemeinschaftslebens ist;“

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kulturellen Norm Provokation.36 Die Norm verpflichtet zum Einhalten der „persönlichen Fassade“37, denn diese garantiert, sich in jeder Situation angemessen zu ­verhalten. Einer der wichtigsten Orientierungspunkte für unser Verhalten ist das eindeutige Erkennen des Geschlechts unseres Gegenübers. Nun bestimmt zwar das biologische Geschlecht in keiner Weise unsere sexuelle Identität. Unser kulturell begründetes System von Heteronormativität verlangt allerdings eine klare Auszeichnung von maskulin und feminin. Wir versuchen geradezu zwanghaft, allem (nicht nur Menschen, sondern häufig auch Dingen, z. B. Gebäuden) ein Geschlecht zuzuordnen, damit wir wissen, wie wir uns zu verhalten oder zu fühlen haben. Wenn Mode ein identitätsbildendes Zeichensystem ist und somit mehr als das bloße Verhüllen des Körpers, erfährt die Gestaltung geschlechtlicher Identität als Gender durch die normative Vorstellung des „sexed body“38 signifikante Einschränkungen. Der Kleidung wird eine Bedeutung zugeschrieben, und so wird sie zum Zeichen für „männliche“ oder „weibliche“ Zuschreibung. Was aber passiert, wenn dieses Zeichen intentional „sinnlos“ gemacht wird, um ihm neue Bedeutung zu ermöglichen und einzuschreiben? Was geschieht, wenn Spezifikationen annulliert und stereotype Formen und Farben so abstrahiert werden, dass keine klare ­Geschlechtszuordnung getroffen werden kann? In diesem Falle würde die Kleidung selbst über ihre eigentliche Funktion hinauswachsen und, vom konventionalisierten Zwang befreit, in einen Schwebezustand zwischen schwerer Bedeutsamkeit und frevelhafter Bedeutungslosigkeit übergehen. Und dieser Zustand hinterlässt bei den Menschen gleichsam Faszination und Ratlosigkeit. Der visuelle Fokus meiner Arbeit „Das unverschämte Ornament“ liegt auf der um ein undefiniert geschnittenes Kleid drapierten, skulpturalen Metallkonstruktion. Das darunterliegende schwarze Kleid verbirgt alle verräterischen Geschlechtsmerkmale. Die Konstruktion ist im Wesentlichen für die Funktion des Kleides nicht von Bedeutung; und ein Element, das den funktionalen Wert eines Objekts weder steigert noch mindert, lässt sich ohne Weiteres als Ornament bezeichnen. Obwohl Alfred Loos 1908 den Untergang des Ornaments vorhersagte, welches, zum bloßen Schmuck degradiert, den Geist des modernen Menschen beleidige, ist ­dieser bis heute nicht eingetreten. Die Ornamentik wurde in vielen Bereichen des Designs und der Architektur sogar wiederbelebt. 36 Goffmann, 1983, 26: „Außer der vermuteten Übereinstimmung zwischen Erscheinung und Verhalten ­erwarten wir natürlich auch noch eine gewisse Kohärenz zwischen Bühnenbild, Erscheinung und Ver­ halten, Eine solche Kohärenz bildet den Idealtypus, der uns dazu anregt, dass wir unser Augenmerk und Interesse auf die Ausnahme davon richten.“ 37 Ebd., 25: „Zur persönlichen Fassade sind Amtsabzeichen oder Rangmerkmale, Kleidung, Geschlecht, ­Alter, Rasse, Größe, physische Erscheinung, Haltung, Sprechweise, Gesichtsausdruck, Gestik und ­dergleichen zu rechnen.“ 38 Butler, 1991, 22: „Wenn der Begriff „Geschlechtsidentität“ die kulturellen Bedeutungen bezeichnet, die der sexuell bestimmte Körper (sexed body) annimmt, dann kann man von keiner Geschlechtsidentität behaupten, dass sie aus dem biologische Geschlecht folgt.“

DAS PROJEKT: DAS UNVERSCHÄMTE ORNAMENT  221

Zeitgenössische erfolgreiche Modelle dafür finden sich in allen Städten und auf allen Laufstegen der Welt. Zwei der herausragenden Gestalter, der Architekt Frank Gehry und der Modedesigner Issey Miyake, inspirierten mich zu meinem ­Modekonstrukt. Ihr Spiel mit Formen und Farben behaupte ich als ornamental. Freilich handelt es sich um eine ganz andere Art von Ornamentik, als Adolf Loos sie beschrieb. Sie besteht nicht aus „Zacken und Löchern“, oder, wie Henry van de Velde sich über die Ornamentik des Barock und des Rokoko echauffierte, aus kitschigen Blumen und Blättern. Vielmehr handelt es sich bei Gehry und Miyake um eine zeitgemäße, moderne Ornamentik und, wenn man es so betrachtet, um eine mögliche Art der „Neuen Ornamentik“39, nach der van de Velde so sehnsüchtig ­gesucht hatte. Das neue Ornament ist eben vieles, jedoch nichts Bestimmtes, und es verhält sich geradezu unverschämt zu seinem Umfeld.

39 van de Velde, 1901: „Das Ornament wird ein Organ und weigert sich, nur etwas Aufgeklebtes zu sein. Das kommt von den Absichten seines Schöpfers; als er es wählte und jedem anderen vorzog, hat er sich gefragt, welchen Platz es einnehmen, welche Aufgabe es erfüllen, welches Licht es erhalten werde, er hat den Raum bedacht, der ihm zugeteilt ist und die Einflüsse der Linien, welche den Raum einschließen und nur das Element erlauben, dessen Erscheinen sie gefordert haben.“

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Model, weiblich: Franziska Severin; Model, männlich: Dmitry Kuznetsov; Fotos: Melanie Müller

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DAS PROJEKT: #040585 Zoe Philine Pingel und Kathrin Polo Werde, der du bist. (nach Pindar, Pythische Oden)

Anders Unser Mode-Projekt ist eine Botschaft gegen vorgefertigte Geschlechterrollen und ein Appell an die freie Persönlichkeitsentfaltung. Es zelebriert Individualität und sogenannte „Andersartigkeit“ als natürlichen Bestandteil menschlichen Lebens.

Dilemma Soll Mode abseits heteronormativer Geschlechterrollen und Modekonventionen gestaltet werden, müssen die festgefahrenen gesellschaftlichen Regeln und Standards erst einmal analysiert und offensiv artikuliert werden. In diesem Prozess selbst steckt aber ein erstes Dilemma, denn durch die Bestimmung von vermeintlicher „Normalität“ versus „Andersartigkeit“ bedient man sich genau jener Kategorien, die doch kritisiert werden sollen. Wir bewegen uns also bei der Betrachtung des menschlichen Identitäts-Spektrums zwischen zwei Denkmustern: Da manifestiert sich zum einen das normative Denken, das im Großteil der Bevölkerung verankert ist und behauptet, es gäbe ein bipolares Geschlechterverhältnis – Mann/Frau bzw. männlich/weiblich. Dieses normative soziale Konstrukt: ein biologischer Junge wird zum Mann, ein biologisches Mädchen wird zur Frau, hemmt eine freie Entfaltung der individuellen Persönlichkeit von Geburt an in einem gesellschaftlich vorherrschenden Unterdrückungs­ prozess. Zum anderen existiert ein gender-sensibles Denken, das Identität vom biologischen Geschlecht trennt und dadurch eine fließende, unendliche Bandbreite an Geschlechtsidentitäten zwischen Mann und Frau anerkennt. Menschen, die sich abseits der gesellschaftlichen „Normalität“ bewegen, die also vermeintlich männliche bzw. weibliche Verhaltensweisen, Kleidung, Lebensstile, Berufswahlen etc. entgegen ihres biologischen Geschlechts oder in unerwarteten Neu-Kompositionen ausleben, sind noch immer Minderheiten und werden daher im normativen Denkmuster nach wie vor als „anders“ erkannt und manchmal sogar als „abartig“ verurteilt. Das Andere ermöglicht indes eine hohe Identitäts-Varianz, die von einem ge­ sellschaftlich diktierten Mann und einer ebenso definierten Frau abweicht. M ­ anche

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­ ieser Individuen identifizieren sich z. B. als trans, two spirit, FTM, androgyn etc., and dere wiederum verweigern sich auch dieser Einordnung und ziehen stattdessen die ­undefinierte Persönlichkeitsentfaltung einer einengenden Begrifflichkeit vor. So offenbart sich selbst bei dem Versuch, Menschen in gender-sensitive ­Gruppierungen zu unterteilen, ein gewisses Schubladendenken. Es gibt dann zwar mehr Boxen als nur Mann und Frau; aber es bleiben viele auf der Strecke, die sich vielleicht als Hybrid betrachten, zwischen Identitäten im Laufe ihres Lebens hinund hergleiten oder einfach kein Label wollen. Fluidität von Genderidentitäten heißt das Konzept, das die gesellschaftlichen Gender-Stereotypien auflösen will.

Identitätsspiel statt Kollektion So haben wir uns bewusst dafür entschieden, keine Kollektion für eine bestimmte Personengruppe anzufertigen. Denn das hätte bedeutet, ein fließendes Gender­ spektrum zu verleugnen und Menschen erneut zu kategorisieren. Mode ist also im Kern nichts anderes als eine Art leere Leinwand, die im Tragen durch das Individuum mit Identität und Bedeutung bespielt wird. Identität sollte also nicht durch Mode bedingt, sondern zum Ausdruck gebracht werden. Deshalb lehnen wir eine Geschlechts-Kategorisierung ab und appellieren an eine Neutralisierung vorherrschender Bedeutungsmöglichkeiten von Kleidung, um eine (vorurteils-)freie und individuelle Komposition für alle Menschen zu ermöglichen und damit auch in der Mode deren Identität frei entfaltbar zu machen.

Die Show Dementsprechend ist #040585 kein vermarktbares Kleidungsstück, sondern eine Botschaft: ein Appell an Individualität und Freiheit; ein Aufruf, gesellschaftliche Konventionen aufzubrechen, unterschiedlichste Identitäten zu entfalten und dadurch das je neue, eigene Gesicht zu zeigen. #040585 eröffnet die Show damit, dass die Zuschauer_innen zunächst eine reglose Statue am Kopf des Laufstegs erblicken. Das Kostüm besteht aus einem langen, weißen Cape, das in seinem geraden, steifen Schnitt die menschliche Silhouette komplett verhüllt. Die weiße, ausdruckslose Maske rundet den Eindruck einer anonymen, unpersönlichen Skulptur ab. Nach einer einleitenden, Spannung aufbauenden Stille setzt im Hintergrund eine Kinderstimme ein, die laut die Namen verschiedener Farben ruft. Währenddessen ergießt sich blaue Farbe in den weißen Stoff – subtil fließend, vertikal nach unten wachsend und an den Rändern in die Horizontale verschwimmend. Diese

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Verfärbung bedeutet Aufbruch: einen allmählichen Prozess der Enthüllung wahrer Identität, die sich ihren Weg durch den rigiden Schleier gesellschaftlicher Restriktionen und vorgefertigter Geschlechterrollen bahnt, bis sie diese durchbricht. In einem symbolischen Akt der Befreiung kann sich nun auch die anonyme Gestalt aus ihrer Immobilität lösen und beteiligt sich ab jetzt aktiv daran, soziokulturelle Konventionen aufzubrechen, indem sie die Hülle an der durch Farbe bereits brüchigen Stelle energisch aufreißt. Darunter erscheint ein in das gleiche Blau ­gekleideter menschlicher Körper. Ermutigt durch diesen ersten Schritt des Aus­ brechens legt die Gestalt ihre Maske ab und enthüllt ein unerwartetes Gesicht. ­Gestärkt durch den Akt der Überwindung vorgegebener Normen und die Offen­ barung der eigenen Identität setzt sich der ganze Körper in Bewegung. Beim Hin­ ablaufen des Laufstegs gerät auch das steife Textil in Aktion, wippt im Takt der ­Bewegung und enthüllt ein vorher nicht sichtbares, da von dem weißen Mantel verdecktes, aber immer dagewesenes Stück Blau am Rücken des Capes – Boris’ einzigartige Identität.

Die Benennung Die Raute mit Zahlenfolge #040585 bezieht sich auf den RGB-Farbcode für die spezifische Nuance Blau, die wir in unserem Stück verwenden. Wir vergleichen damit das Gender- mit unserem Farbspektrum, das bunt und in unendlichen, fließend ­ineinander übergehenden Variationen vorzufinden ist: Gender Fluidity. Zwar betten Systeme – wie in diesem Fall RGB oder CMYK – selbst dieses ­wabernde, diffuse Geflecht aus Farben in ein präformiertes Gefüge aus Zahlen und Namen. Jede Nuance innerhalb dieses Spektrums besitzt einen ganz individuellen Farbwert, und dennoch versuchen diese Systeme, jeden als einzelnes Pixel voneinander abzugrenzen und zu benennen. Das Publikum sieht aber nur die Farbe Blau, nicht etwa den unpersönlichen ­Zahlencode. Genau so wünschen wir uns zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen: die Erkennung und Anerkennung einer fluiden Identität der Menschen, nicht ­deren Label. Damit das gelingt, müssen wir unsere eigene Identitätsentwicklung vom b ­ inären Geschlechtersystem lösen und eine viel größere Bandbreite an Möglich­keiten begreifen und begrüßen. Nur im Ausbruch aus einem starren Identitätsverständnis und der bewussten Vermeidung der Reproduktion dieses Systems können wir die zukünftige freiheitliche Persönlichkeitsentfaltung aller Menschen in Gang setzen.

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Foto Credit / Danksagung Foto Credit: Fotos: © KISD, Sebastian Wosik, Michaela Patschurkowski Unser besonderer Dank gilt: • den Fotografen Sebastian Wosik und Michaela Patschurkows­ki, die im Auftrag der Köln International School of Design (KISD) dieses Event dokumentierten • unserem Model Young Boris, der sich unter dem Pseudonym ALBI X für die Entdiskriminierung von Albinos (besonders in Afrika) einsetzt und sich für unser Projekt und unsere Botschaft zu seiner ersten öffentlichen Laufsteg-Performance überreden ließ • Mudjacka M. Yengo für seine Verdienste als Boris’ Mentor und Manager sowie für seine Unterstützung und Dokumentation unseres Projektes • Uta Brandes für die Betreuung dieses Projekts und ihren uner­ müdlichen Einsatz für die Schärfung des Verantwortungsbewusstseins junger Nachwuchs-Designer_innen im Hinblick auf gender-sensitive Gestaltung.

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Der gefügig gemachte Körper Drei inhaltlich extrem unterschiedliche Körper-Be- und -Ermächtigungen werden im Folgenden verhandelt: Dem medizinisch manipulierten weiblichen Körper am Ausgang des 19. Jahrhunderts stelle ich, vielleicht unerwartet, den emanzipatorischen Modekörper im Reformkleid zu ziemlich derselben Zeit gegenüber: der reformierte Körper. Und diese gegeneinander antagonistischen Figuren konfrontiere ich sodann mit dem unscharfen, Innen- und Außengrenzen verwischenden Zukunftskörper. Erinnern wir uns: Eine frühe Demokratisierung formulierte sich in der englischen „habeas corpus“-Akte, die die Verfügung über den eigenen Körper sprachlich manifestierte. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als hysterisch stigmatisierten Frauen mussten ihren Körper allerdings der Neugier der Ärzte überlassen. Bedeutend ist dabei die für die Diagnose sehr praktische Koinzidenz mit der inzwischen stark verbesserten Fotografie: So konnten die Symptome der „hysterischen“ Frauen nicht nur schriftlich, sondern auch im (Ab)Bild festgehalten werden. Die Frauen wurden in gewisser Weise ihres Körpers doppelt enteignet, indem die Psychiater und Nervenärzte die Frauen medizinisch und fotografisch sexuell scham­ loser Ausbeutung unterwarfen. Es existieren unzählige, als lüstern und gewaltförmig zu bezeichnende Fotografien von in verrenkten Posen erstarrten, paralysierten, gelähmten Frauen. (Vgl. Didi-Huberman 1997, vgl. Charcot 2016.) Vor der ärztlichen Erfindung des Symptoms der weiblichen Hysterie entsprach die „stigmatisierte Jungfrau“ noch dem Ideal einer mystisch-religiös überhöhten Kindfrau, die ihre weiblich-sexualisierte Körperlichkeit durch Keuschheit überwunden hatte (obwohl wir auch hier durchaus eine heimliche männliche Begierde, religiös verblümt, unterstellen können). Mit der Hysterie-Diagnose jedoch entblößten die Ärzte die moderneren Frauen erstmals offen erotisch. Nicht nur wurden sie als hysterisch diagnostiziert, sondern zugleich schamlos dem als Wissenschaft ­legitimierten wahrscheinlich ersten „male gaze“ (Mulvey 1999) ausgesetzt. Allerdings: Auch wenn viele der entweder in psychiatrischen Anstalten kasernierten (vgl. die berühmt-berüchtigte Klinik Salpêtrière des Jean-Martin Charcot, vgl. Webb 2008) oder von Ärzten behandelten Frauen eindeutig der Verdinglichung und der Sensationslust ausgelieferte Opfer waren, so gab ihnen doch offensichtlich diese dermaßen starke Aufmerksamkeit erregende „Krankheit“ – ob bewusst oder unbewusst, ist in diesem Fall gleichgültig – die Gelegenheit, ihrer entweder bürgerlichen oder entwurzelten dunklen Ereignislosigkeit und Beschränkung zu entkommen, ja sogar ins fotografische Rampenlicht gerückt zu werden. „Die Hysterike­rinnen der Salpêtrière ‚reüssierten‘ in den Rollen, die man ihnen suggerierte, so erfolgreich, daß sie dabei so etwas wie eine elementare Glaubwürdigkeit des Leidens einbüßten.“ (Didi-Huberman 1997, 257) Die Fotografien fangen die weiblichen Körper in der Psychiatrie auf ihren Betten mit verrutschten dünnen Hemdchen und entblößten Schultern und Beinen in teils frivol anmutenden Posen ein. So gehen Hysterie, Psychoanalyse und Fotogra-

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fie eine unheilvolle Verbindung mit den Opfern ein. Susanne Holschbach bezieht sich in ihren Beschreibungen auf die von Didi-Huberman wieder vorgelegten Fotografien, wie sie von Charcots Assistenten an der Salpêtrière, Désiré Bourneville, in den drei Bänden seiner Iconographie (vgl. Bourneville 1877–1880, vgl. Didi-Huberman 1997) geschossen wurden: Hier tritt „der Konflikt zwischen medizinischem und ästhetisierendem bzw. erotisierendem Blick an die Oberfläche. Die Art und Weise, wie die Patientin (…) präsentiert wird, ist noch im wesentlichen gedeckt durch das Anliegen, die Kontrakturen der Gliedmaßen deutlich hervorzuheben. Die zu diesem Zweck entblößten Körperteile, der rechte Arm und das rechte Bein, sind dem Betrachter zugewandt (…). Irritierend ist aber bereits der den Betrachter direkt adressierende Blick des ‚Modells‘, der der Inszenierung bereits einen ero­ tischen Unterton verleiht (…). Der verkleinerte Ausschnitt der zweiten Bildtafel ­fokussiert genau auf diesen Blick über die entblößte Schulter – eine geläufige Pose weiblicher Verführung (…) – wobei die Decke, die im zweiten Bild die Stuhllehne und den Körper der Patientin verhüllt, um den nackten Arm zu exponieren, zugleich als kunstvolle Drapierung fungiert, die die Umdeutung der schmerzhaften Verdrehung des Arms in nahezu klassischer Pin-up Pose begünstigt.“ (Holschbach 2002, 130) Obwohl die Autorin sich um eine erstaunlich neutralisierte Bildbeschreibung bemüht, kann sie doch nicht umhin, das gesamte Arsenal an der Sexualisierung in den Fotografien zu benennen: erotisierend, entblößte Körperteile, Pin-up-Posen – und ich füge die Kleidung hinzu, diese zwar weiten, aber eben erotisch verrutschten Hemden, die Schultern oder Arme oder Beine oder alles zusammen bloßlegen. Immerhin muss bedacht werden, dass wir uns zeitlich und modisch in einer Phase befinden, wo einerseits die züchtige Verhüllung der Frauen vom Hals bis über die Fußknöchel sozial vorgeschrieben war, andererseits aber durch das Marterinstrument Korsett (vgl. Stelle 2005) dann doch wieder die Idealisierung typisch weib­ licher Formen (eingeschnürte Taille, Betonung des Busen und des Pos) als bürgerliche Bigotterie durchscheint.

Der reformierte Körper Und hier lässt sich eine sehr eigenartige Verbindung zwischen den zugerichteten, „hysterisch“ psychiatrisierten und sexuell abhängig gemachten Frauen mit den Emanzipationsbewegungen der bürgerlichen Frauenbewegung und deren Mode herstellen: Der ins Korsett gepresste Körper, der mithilfe von Schnüren, Stäben aus Fischbein und unter Schmerzen zugerichtet wurde, passte genau in die gesellschaft­ liche Konstruktion der unselbständig und kindlich im Haus gefangenen bürger­ lichen Frau des 19. Jahrhunderts. Das Korsett hängte den Frauenkörper am Kleid auf, das Subjekt war die Mode, die Frau das verdinglichte, passend gemachte Objekt. Um 1900 (erfunden wurde es bereits um 1850) kam das Reformkleid als neue

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Bewegung auch im Deutschen Reich an: ein Kleid ohne Modellierung, mit bequemen weiten Ärmeln, fließend von den Schultern am Körper herabfallend, am weiblichen Körper aufgehängt, passend für alle Körperformen. Das Reformkleid bedeutete Auflehnung: eine Abrechnung mit der traditionellen Mode und mit den patriarchalen Herrschaftsstrukturen. Insofern war dieses Kleid weit mehr als eine neue Mode, es war das wahrscheinlich erste politische Kleidungsstück, das Aufbruch und die ­Forderung nach Befreiung inkarnierte. Emilie Flöge, Lebensgefährtin von Gustav Klimt, war eine erfolgreiche Geschäftsfrau und Bohémienne, die mit ihren beiden Schwestern sehr erfolgreich den Haute-Couture-Salon Schwestern Flöge leitete (vgl. Greiner 2014, vgl. Pallestrang 2012). Sie hatte Kontakt zu vielen Künstlern und ­Architekten des Jugendstils, und sie wie auch Klimt entwarfen Reformkleider, die von Frauenrechtlerinnen und Künstlerinnen begeistert aufgenommen wurden. ­Allerdings konnten sich diese „Schmuddelkleider“ bei den nicht künstlerisch und politisch bewegten Frauen nie durchsetzen. Dazu war dann doch die gesellschaftliche „Normal“-Realität zu stark, als dass ausgerechnet am als schön, artifiziell und normiert erzwungenen weiblichen Körper das „Sackkleid“ hätte reüssieren dürfen. Das Reformkleid war aber dennoch Ausdruck von größeren körperlichen „Befreiungsbewegungen“, und diese gerieten zu einer insgesamt – zumindest in den Kreisen der Avantgarde – bei den Künstler_innen, Innen- und Architekt_innen, Kunstgewerbler_innen/Gestalter_innen40 sich breitmachenden Euphorie der politischen und physischen (Bewegungs)Freiheit des Körpers durch Luft, Licht, Raum, fließende Formen – kurz: durch die Verflüssigung der Lebensbedingungen. Die Architekturen und Produkte des Jugendstils sind hierfür beredte Zeugen: Gegen den Pomp, die überbordende Ornamentik eines konservativen Historismus, gegen die dunklen Innenräume ohne Licht, die schweren, pokalähnlichen Gefäße, die einschnürenden Kleider erhoben sich nun filigrane, leichte, fließende Bewegungen nachzeichnende Artefakte. Und in einer allerdings nur kurz währenden Phase ­erprobten die Avantgardist_innen und Aussteiger_innen unerhörte Nacktheit als Naturzugewandtheit, gesundheitlich begründete Libertät ebenso wie Libertinage und die Idee der „freien Liebe“ (vgl. Andritzky/Rautenberg 1989, Voswinckel 2009, Landmann 2009, Buchholz et al. 2001)41 – und wenn die Künstlerinnen etwa auf dem Monte Verità nicht nackt herumtanzten, dann in ihren weiten kurzen und ­langen Hemden – dem einfachsten aller Reformkleider.

40 Offiziell gab es wahrscheinlich um 1900 noch überhaupt keine Architektinnen, da ihnen ja professionelle Ausbildungen und Studien an Technischen Hochschulen oder Baugewerkschulen sehr lange Zeit ­verwehrt blieben. Ulrich Büchholdt hat dazu eine aufwendig recherchierte Datensammlung vorgelegt, aus der hervorgeht, dass es womöglich mehr Architektinnen gab, die nicht unter diesem Titel firmieren konnten, bestenfalls als Kunstgewerblerinnen aufgeführt waren. (Vgl. Bücholdt.) 41 Dass diese Körperkultur-Bewegungen nicht nur emanzipatorisch, sondern in Teilen esoterisch und politisch sehr problematisch (Rückkehr zum „germanisch“ abgehärteten Körper) daherkamen, lässt sich an vielen Beispielen, insbesondere aber an der höchst ambivalenten Entwicklung der „Natürlichkeits“-Ideologie des Nudismus (FKK) belegen. Vgl. Habel 2000.

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Der gefügte Körper oder: Körperliche Besitzverhältnisse In diesem großen Körper-Kapitel haben wir uns permanent mit dem in unterschiedlichsten Formen erweiterten geschlechtlichen Körper beschäftigt. Nun aber werden wir eine zusätzliche Dimension hinzufügen, die Haraways Cyborgs diskutiert, diese aber unter einer anderen Perspektive noch einmal radikalisiert. Sowohl philosophisch als auch juristisch tauchen Fragen auf, die auf den ersten Blick bizarr wirken, auf den zweiten genaueren jedoch den Diskurs über den Körper ab heute und für die nächste Zukunft notwendig werden bestimmen müssen – und zwar ­unabhängig davon, ob solche Fragestellungen freudig begrüßt oder bedenklich abgewogen bzw. abgelehnt werden. Es stellt sich von nun an die Frage, ob es denn überhaupt noch Grenzen zwischen den menschlichen Körpern, künstlichen Erweiterungen durch Hilfsmittel, als Ornament und Schmuck, als Besitz oder als ausgelagerte Gehirnteile, Exobrains (vgl. Ramachandran 2010, 262), geben kann. Es ist vielleicht bezeichnend, dass es ein Mann ist, David Rose, der nicht menschliche Artefakte mit Menschen euphemistisch-unproblematisch und dementsprechend simplifiziert zusammenbringt: „(… ) the prosthetics future for technology does take into account our humanity. Prosthetics amplify our bodies, the power of all our senses, and the dexterity of our hands. It’s appealing to develop technology that keeps us more or less who we are, only more so. We already have memory and the technology gives us much, much more of it (…).The critical characteristic of technology-as-prosthetic is that it internalizes computational power. It becomes a part of us, so much so that it is us. It’s not out there, external (…).“ (Rose 2014, 23 f.) Ihm sind die computergenerierten Prothesen aller Art lediglich eine gute Strategie, das Ich zu verbessern, weil wir die Internalisierung rechnerisch erzeugter Macht offenbar gut integrierten und damit unsere Identität lediglich vervollkommneten. Rose begeistert sich für eine funk­ tionalistisch-instrumentelle Nachrüstung des Körpers und meint damit, ein besseres Ich, eine gelungenere Identität einer Person „machen“ zu können. Die Juristin Gowri Ramachandran und die Philosophin Alexis Nicole Dyschkant sind da, obwohl sie die gleichen Diskurse starten, wesentlich differenzierter in ihrer Argumentation. Sie lassen subjektive Bewertungen außer Acht. Stattdessen diskutieren sie die Implikationen und Konsequenzen unserer zunehmend technisch aufgeladenen Körper, die von körperlicher Integrität und dessen Grenzen über Identitätsbestimmungen bis zu rechtlichen Fragen – was ist (noch) Diebstahl, und was ist (schon) Körperverletzung – reichen. Und was diese Techniken mit dem ohnehin längst vom natürlichen zum sozialen Konstrukt erweiterten Körper anstellen, hat enorme Auswirkungen sowohl unter juristischen wie kulturellen und ethischen Aspekten. Die beiden Forscherinnen radikalisieren Haraways techno-feministische Thesen, indem sie die Frage stellen, was überhaupt zum bzw. dem Körper gehöre und was denn die Identität einer Person ausmache. Dyschkant thematisiert die Problematik mit Verweis auf Haraways Cyborgs und stellt drei alternative

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­ etrachtungsmöglichkeiten zur Wahl: „There are three possible responses to the B existence of the cyborg. One is to insist that one’s person is composed of a natural body and attached objects. A second response, advanced by Gowri Ramachandran, is to reconceive of the body as a ‘social body’. I advance a third response which distances the ‘person’ from the ‘body’ and associates one’s person with one’s agency.“ (Dyschkant 2012) Dyschkant bindet also die eigene Person („one’s person“) – als Wirkungsträgerin – enger an die Handlungsmacht oder Handlungskompetenz („agency“) als an den (verletzten oder versehrten) Körper. In welcher Weise auch immer der Körper aus natürlichen und artifiziellen Teilen komponiert ist: Nach Dyschkant hat die Person die Kontrolle über das körperliche Ensemble. „What the cyborg shows us is that the body can be composed of any kind of part but the person is necessarily the agent which controls, benefits from, and depends upon these parts. Human tissue, animal tissue, or mechanical ‘tissue’ all allow a person to exercise their agency and interact with the world. The type of body which a person controls need not be relevant.“ (ebd.) Denn wenn der Körper, in dem eine „Person“ haust, gar keine Rolle mehr spielt, ist es auch unerheblich, aus was dieser besteht. Das ist zweifellos eine sehr kompromisslose Position, die vieles von dem in Frage stellt, was gemeinhin als so bedeutsam für Identitätsvorstellungen, auch der geschlechtlichen, gilt. „The distinction between person and body is not new, but throughout much of history the person has been limited, or contained in, the body. The development of the cyborg represents an exciting change. It is now possible to conceive of the person extending physically beyond the body via attachments, integrations, extensions, and even completely detached objects.“ (ebd.) – Fast könnten wir diese Argumentation zurückbinden an eine, die bereits im 17. Jahrhundert – unter einem etwas anders gelagerten Erkenntnisinteresse, nämlich dem des denkenden Ichs – begonnen wurde. Als rhetorische Figur nimmt Descartes sich die Einbildung vor: „Also zuerst bemerkte ich, dass ich ein Gesicht, Hände, Arme und jene ganze Gliedermaschine hatte, wie man sie auch an einem Leichnam sieht, und die ich mit dem Namen ‚Körper‘ bezeichnete.“ (Descartes 2016, 19) Hier gibt es also keinen ­Unterschied zwischen der lebenden und der toten „Gliedermaschine“. „Ich will annehmen, dass ich nicht jene Verbindung von Gliedern bin, welche der menschliche Körper heißt; (…) ich habe angenommen, dass Alles dies nichts ist. Aber der Satz bleibt: Trotzdem bin ich Etwas.“ (ebd., 20) Was aber dann macht den Körper aus, der auch bei Descartes schon mehr ist als der naturhaft gegebene? Seine Schlussfolgerung führt ihn zum Verstand, der wichtiger sei als jede körperliche Regung: Es hat sich „nun ergeben (…), dass selbst die Körper nicht eigentlich von den Binnen oder von dem Vorstellen, sondern nur von dem Verstände allein erkannt werden (…)“. (ebd., 25) Was bei Descartes der vom Körper unabhängige Verstand bzw. das Ich als Trennung behauptete, gerät in den neuesten Körper-Diskursen ausgesprochen komplex als über den Körper hinaus erweiterte Dimension der diesem an­ gehängte oder sogar von ihm losgelöste Artefakte, die dennoch ihm substanziell ­zugehörig sind. Wo lässt sich dann die Grenze ziehen zwischen dem Körperbesitz

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(vgl. die frühe Selbstverfügung „du habest den Körper“ des englischen „Habeas Corpus Act“) und einem Außen, das getrennt vom Körper in der Welt ist? Das genau sind die Fragen, die sich zukünftig zunehmend drängender stellen werden und die nicht leicht zu beantworten sein werden. Denn niemand würde ernsthaft in Zweifel ziehen, dass ein Mensch, der wegen des Verlusts seines „natürlichen“ Armes oder Beines eine Prothese trägt, diese als Teil seines Körper ansieht und dass deren ­gewaltsame Entfernung nicht nur als Diebstahl oder Raub, sondern vielmehr als Körperverletzung zu bewerten ist. „(…) grabbing an object out of one’s hand is battery if the object is so closely connected to somebody as to be considered a part of his body. In particular, objects which serve to substitute for a part of one’s natural body may be considered a part of one’s body, such as interference with a cane. Dis­ ability aids, such as prosthesis, wheelchairs, or hearing aids, are paradigm examples of artificial objects that are viewed as intimately attached to one’s body.“ (Dyschkant 2012) Hier zählt die „Intimität“, also die innige Nähe eines Objekts zum mensch­ lichen Körper, oder aber die unbedingte Notwendigkeit, da ohne das äußere Hilfsmittel der Körper nicht aktionsfähig wäre. Viel strittiger gestaltet sich da schon der Fall, wenn es sich um (vermeintlich?) verzichtbare, als „Luxus“objekte angesehene Dinge handelt. Das Konzept des soc­ ial body, wie es Gowri Ramachandran, auf die Alexis Dyschkant sich mehrfach bezieht, formuliert, wirft vollkommen neue Fragen zu den Grenzen/Entgrenzungen des Körpers auf – Ramachandran interpretiert sie als eindeutig „indistinct borders“ (Ramachandran 2010, 259). Nun ist die Kategorie des social body nicht neu, aber wie die Juristin sie in Bezug auf Körperverletzung interpretiert, kommt das einer radikalen Erweiterung gleich: „What we typically call the body is an organic, continuous entity, which does not properly capture the body that matters – the social body. It is one’s social body that is most relevant to one’s daily life, and social bodies can include the inorganic and can be physically discontinuous.“ (ebd., 259) Wie bei Dyschkant schon angesprochen, erschüttert uns die These, dass etwa ­Hilfen für versehrte Körper (Stock, Prothese etc.) dem Körper zugerechnet werden müssen, nicht, denn diese Hilfsmittel scheinen sozial und physisch angemessen, da notwendig für die möglichst große Bewegungsfreiheit des eingeschränkten Individuums. Gowri Ramachandran aber schreckt uns aus unserer wohlmeinenden Zustimmung auf, wenn sie argumentiert, dass auch ein Smartphone als intim dem Körper zugehöriger Teil gelten kann: „When the smartphone user describes her smartphone as her exobrain, she is saying that as a social fact the smartphone functions as an external adjunct to her brain, helping her store all kinds of facts that she either could not store in her brain (everything on the internet), or now need not bother to (commonly used phone numbers). The smartphone may not have been part of her pre-social body, but it functions as part of her social body.“ (ebd., 262) Die Autorin fügt den biologisch-physiologischen Körpergegebenheiten (pre-social body) die Dimension des social body hinzu, womit sich die körperlichen Besitzverhältnisse durchaus dramatisch zu verändern beginnen: Was ist innen, was außen?

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„For instance, blood, sperm, and eggs are very internal to the physically continuous body, but they are commonly viewed as borderline cases with respect to whether they ought to be considered part of the body or not, with the legality of their sale considered controversial.“ (ebd., 264) Um einen Eindruck von den möglichen ­Entscheidungskalamitäten zu gewinnen, müssen wir nur einige ihrer Kapitelüberschriften und Auszüge aus diesen Kapiteln zitieren, um das Ausmaß der (nicht nur juristischen) Probleme, die da auf uns zukommen werden, zu erkennen: „From Difficult and Painful to Remove Objects to Easily and Painlessly Removed Objects“: „(…) another factor at work in our social construction of whether objects are part of the body is how difficult it is to remove the object – is it expensive, inconvenient, dangerous, or painful?“ (ebd., 265);. „From Physical Continuity to Total Detachment“: „Hair and parts of fingernails are extremely easy to remove, with no pain at all, but they are attached to the rest of the body. Thus, perhaps, it is the physical continuity of the body that matters. (…) On the other hand (…), persons generally do not describe clothing, canes, and wheelchairs as body parts despite their physical continuity with the rest of the body when worn and used.“ (ebd.); „From Organic and Human to Inorganic and Not Human“: „Pacemakers, imaginary artificial organs of the future, and ink tattoo are often thought of as part of the social body, and they are neither organic nor human. (…) If a person had a skin graft or organ transplant from an animal or plant, we would also, I believe, expect those objects to be understood as part of the person’s body.“ (ebd., 267), „From Necessities to Luxuries“: „Another factor that may affect our understanding of what objects make up the body is the importance of those objects to our conceptions of a decent life. This, the wheelchair or cane may be more likely to be thought of as part of the body than a smartphone, perhaps in part because the cane is used for a more basic function – physical mobility – while the smartphone is viewed as a bonus on top of a minimally acceptable life.“ (ebd.) So viele Fragen, die selbstverständlich auch Gowri Ramachandran konjunk­ tivisch stellt und vorerst nicht beantwortet, denen wir uns jedoch nicht mehr lange werden entziehen können, weder juristisch noch sozial, moralisch, ethisch, kulturell – und gestalterisch. Wer also besitzt in Zukunft welchen Körper, wie weit reicht er, nach welchen Kriterien beurteilen wir Körperunversehrtheit und -verletzung, welche inneren und äußeren organischen und anorganischen Angliederungen oder Entfernungen werden wir akzeptieren? Auf jeden Fall tritt noch eine zusätzliche Problematik deutlich ins Rampenlicht, die die Juristin artikuliert: die gesellschaftlich-moralische Norm der Bestimmung von Notwendigkeit und Luxus. Hierbei verhält es sich ähnlich wie mit der – nach meiner Einschätzung ohnehin unsinnigen – Definition der sogenannten „Grundbedürfnisse“, die zu befriedigen seien, und den davon unterschiedenen „darüber hinaus gehenden“. Das von Ramachandran diskutierte Smartphone als exobrain wird vielen Menschen wahrscheinlich verwerflich oder wenigstens bizarr vorkommen; noch schlimmer, wenn es um – und dann vielleicht noch modische – Kleidung geht. Aber nachdem wir uns mit ihrer scharfen

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­ rgumentation des ohnehin schön längst als social anerkannten erweiterten und A komponierten Körpers auseinandergesetzt haben, wird eine Trennung zwischen Notwendigkeit und Luxus wenn nicht obsolet, so doch bedenkenswert. Die Bezüge zum Design drängen sich, obwohl nicht offensiv thematisiert, bei der hier geschilderten Problematik deutlich auf: Denn all die medizinischen, kosmetischen und technischen Geräte rund um den Körper, um diesen zu heilen, zu verbessern, zu verschönern oder ihm Hilfsmittel beizugesellen, werden in enger Kooperation zwischen den jeweiligen Berufsgruppen mit Designer_innen gestaltet; Gleiches gilt für die Gestaltung diverser Materialien selbst, wie etwa Implantate, Körperschrauben etc. Insofern bedarf es hier keiner expliziten Erklärung der Rolle des Designs, sondern die Relevanz bezieht sich auf die Erkenntnis, dass jeglicher dieser Prozesse ausnahmslos vom Design mitbestimmt wird. Kaum zu beantworten dagegen ist die Frage, wie die Geschlechter in Form möglicher Differenzen in die Problematik eingehen. Zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich wahrscheinlich lediglich konstatieren, dass erst einmal alle Geschlechter von diesen neuen Entwicklungen und Interpretationen des Körpers massiv betroffen sein werden. Es wird, wie in allen anderen Kontexten, zweifellos eine Auseinandersetzung um Machtverhältnisse bedeutsam sein: Wer verfügt über welche Interpretationen mit welchen Konsequenzen über welche Personen? Es ist zu wünschen, dass Gowri Ramachandrans Fassung sowohl die Körper-Integrität als auch die Selbstverfügung über den Körper und alles, was dazuzählt, stärkt. Damit wäre ein Potenzial entfesselt, das einen in Teilen herrschaftsfreieren Diskurs und eine emanzipatorische Praxis erlaubte. – Vielleicht aber auch nicht. Und so gelangen wir erneut an das Phänomen der Unschärfe, mit der wir es in so vielen Dimensionen in diesem Buch bereits zu tun hatten. „If there is a line between our bodies and the environment surrounding us it is a blurry one.“ (Ramachandran, 263)

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DAS PROJEKT: FETISCH. GENDER. MACHT Sebastian Oft

Dendrophilie, Candaulismus, Zoomimik, Trichophilie, Oculolinctus … – eine Aufzählung unterschiedlichster Termini, die sich liest wie eine Liste exotischer Krankheiten, und doch bloß sexuelle Fetische beschreibt. Dendrophile beispielsweise fühlen sich von Bäumen sexuell erregt, Candaulistinnen und Candaulisten befriedigt das wissentliche Zusehen beim Geschlechtsverkehr Anderer. Die Zoomimik beschreibt die Nachahmung von Tieren im sexuellen Kontext, Trichophile sind Haar­ fetischistinnen und -fetischisten, und wer Oculolinctus ausübt, leckt Augenbälle oder möchte sich die eigenen lecken lassen. Was sich wie eine absurde Darstellung von „Perversionen“ oder vermeintlich „abnormalem“ Sexualverhalten auffassen lässt, beschreibt tatsächlich nichts weiter als die sexuelle Realität vieler Fetischistinnen und Fetischisten. Und so groß die Unterschiede allein dieser kleinen Auswahl verschiedener Fetische auch sein mögen, gemein ist ihnen doch allen, dass sie – nicht bloß qua Terminologie, sondern eben auch in ihrer diagnostischen und sozialen Bewertung – als pathologisch angesehen werden. Bei näherer Betrachtung der oben angeführten Fetische lässt sich aber noch eine weitere Gemeinsamkeit feststellen: Sie alle zeichnen sich über verschiedene Objektbezüge und Machtverhältnisse aus – sei es durch das „Objekt“ Haar oder durch den Verzicht menschlicher Dominanz durch die Imitation eines Tieres. Diese Mechanismen sind auf scheinbar alle Fetische übertragbar. In den meisten Fällen eröffnet sich außerdem noch ein weiterer, sie bedingender Topos: das Geschlecht. Wird bei einem Korsettfetisch das vergeschlechtlichte Objekt fokussiert, ist es im Transvestitismus die vergeschlechtlichte Macht, die sich über die Annahme der Rolle des jeweils anderen Gender artikuliert. Demnach ist es nicht bloß die ­Pathologisierung der Fetische, die die Konstitution dieser zu bestimmen scheint, sondern auch die spezifischen Interdependenzen der designtheoretisch konstitutiven Topoi Gender, Macht und Objekt.

Fetische – Eine Begriffsklärung Der Begriff Fetisch ist etymologisch sowohl dem lateinischen facticius (nachgemacht oder unecht) als auch aus dem französischen Wort fétiche (Zauber oder Zauber­ mittel) entlehnt. Es zeigt sich, dass sie trotz unterschiedlicher Bedeutungen beide auf Fetische zutreffen. Schließlich beschreiben sie „den künstlichen und den

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­spirituell-magischen“ (Diehl et al. 2011, 163 f.) Aspekt, der Fetischen inhärent ist. Seine sexuelle Konnotation erhält der Fetischismus erst weitaus später: durch die psychiatrische Abhandlung der Ärzte und Psychiater Jean-Marie Charcot und Valentin Magnan aus dem Jahr 1882, „in der sie aus ihrer therapeutischen Praxis Fallbeispiele von Patienten wiedergaben, denen Nachtmützen, Schürzen, Schuhe und andere ähnliche Gegenstände als bevorzugte Objekte sexueller Erregung oder Befriedigung dienten.“ (Kohl 2003, 100) Schon von Anbeginn seiner sexuellen Konnotation also drückte der Fetischismus eindeutig eine gewisse Objektgebundenheit aus, die in der Psychoanalyse und in den Sexualwissenschaften schnell zur pathologischen Obsession erklärt wurde und die vermeintlich der Therapie bedurfte. Seit dieser über 100 Jahre alten Abhandlung hat sich die Wahrnehmung von Fetischen im wissenschaftlichen Kontext erstaunlich wenig gewandelt. Von dem Pionier der Psychoanalyse, Sigmund Freud, oder dem frühen Psychiater Richard Krafft-Ebing bis hin zu den noch heute geltenden Richtlinien in den Klassifika­ tionssystemen psychischer Störungen der American Psychiatric Association (APA) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden und werden Fetische nach wie vor als sexuelle Störung diagnostiziert, wenn auch mit differenzierteren Richtlinien als noch in den Anfängen der Psychoanalyse und Psychiatrie. Doch auch heute offenbart sich weiterhin ein Pars-pro-toto-Prinzip: Der Fetischismus sei als sexuelle Störung zu diagnostizieren, sobald die menschliche Beziehung in den ­Hintergrund träte und das Objekt oder Ritual wichtiger als jene würde. Aus dieser definitorischen Stigmatisierung von Fetischistinnen und Fetischisten durch den wissenschaftlichen Diskurs entwickelt sich folgerichtig eine generelle gesellschaftliche Ablehnung der als „krank“ bewerteten Handlungen. „Verhalten sich Menschen ‚pervers‘, indem sie etwa ungewöhnliche fetischistische oder transvestitische Vorlieben entwickeln, wurden und werden sie (auch wegen der ­öffentlichen Maßgeblichkeit tradierter psychoanalytischer und psychiatrischer Auffassungen) inzwischen sogar in weiten Teilen der Bevölkerung ganz allgemein als psychisch gestört angesehen (…).“ (Fiedler 2004, 176) Die Folgen der Stigma­ tisierung und Pathologisierung für Fetischistinnen und Fetischisten führt der Psychoanalytiker Peter Fiedler weiter aus. So schreibt er, es sei nicht weiter erstaunlich, dass sexuelle Neigungen und Vorlieben zur Ursache eines persönlichen Leidens werden könnten, wenn man dabei bedenke, welches Stigma und welche Auswirkungen mit ebendiesen vermeintlichen „Perversionen“ verbunden seien (ebd.). Im Gegensatz zu diesen problematischen Bewertungen wird hier eine eigene und für den weiteren Verlauf gültige Begriffsklärung von Fetischen vorgenommen, deren oberste Prämisse es sein wird, Fetischistinnen und Fetischisten nicht von vornherein zu pathologisieren. Denn im Wissen, dass wissenschaftliche Diskurse Wirklichkeit mitgestalten – und andersherum: über Gestaltung etwas zur Wirklichkeit wird – soll die vorherrschende Übereinstimmung über das „Krankhafte“ des Fetischismus zugunsten einer sozial verantwortlichen und kritischen Begriffsklärung revidiert werden.

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„Diskurse üben Macht aus, da sie Wissen transportieren, das kollektives und individuelles Bewusstsein speist. Dieses zustandekommende Wissen ist die Grundlage für individuelles und kollektives Handeln und die Gestaltung von Wirklichkeit.“ (Hirseland et al. 2001, 87) Im Folgenden wird auf den Großteil der diagnostischen Definitionen von APA und WHO verzichtet. Insbesondere, da Sadomasochismus und Transvestitismus in ihnen als von den Fetischen unabhängige sexuelle Störungen gelistet werden, ­offenbaren sich weitere Mängel. Zwar handelt es sich bei diesen in der Tat per ­reiner Wortdefinition nicht um Fetische, sondern um sonstige Paraphilien, jedoch sind auch sadomasochistische und transvestitische Fetische letzten Endes unweigerlich an eine spezifische Objektqualität und -semiotik gebunden und weisen damit die gleichen Parameter auf, die allen Fetischen eigen ist. Unter Vermeidung pathologischer Konnotationen gelten hier als fetischis­ tische Sexualpraktiken und Fetische solche queeren Sexualpraktiken, die objekt­ gebunden ausgerichtet sind – hierzu gehören auch Sadomasochismus und Transvestitismus in der Annahme, dass diese ebenfalls immer objektgebunden agieren. Außerdem ist davon auszugehen, dass nicht an Geschlechtspartner_innen gebundene Fetische in allen Schichten der Bevölkerung anzutreffen sind (vgl. Fiedler 2004, 6 f.). Zwar werden sie als nicht normatives Sexualverhalten bezeichnet werden müssen, jedoch sollte das nicht der Rechtfertigung einer Pathologisierung, Ver­ urteilung oder sonstigen Abwertungen Vorschub leisten. Dennoch gibt es tatsächliche sexuelle Störungen, unter denen Fetische in den Diagnosekatalogen der APA und der WHO aufgeführt sind. Daher werden sie unter einem „epikureischen Ansatz“ betrachtet, bei dem letztendlich das Maß entscheidet. Hier soll ein von der Modehistorikerin Valerie Steele vorgestelltes Stufen­ modell helfen (vgl. Steele 1996, 19): Sobald ein Fetisch in einer Ausprägung auftritt, welche die Geschlechtspartnerin oder den Geschlechtspartner vollständig und in derartigem Ausmaß ersetzt, dass es negativen Einfluss auf das Sozial- und Liebesleben hat oder in eine delinquente Handlung mündet, so handelt es sich um die Ausprägung eines Fetischs, der der Diagnostik und letztlich womöglich einer Behandlung bedarf (vgl. Steeles Stufe vier). Das bedeutet demnach, dass die legitime Grenze zwischen Devianz und Delinquenz dort gezogen wird, wo alle involvierten Parteien bewusst ihr Einverständnis zu der jeweiligen sexuellen Praktik geben können und kein Schaden für Unbeteiligte oder Ausübende entsteht.

Fetische – Eine Kategorisierung Wie eingangs erwähnt, spricht man bei der Untersuchung verschiedener Fetische von einer nahezu endlosen Bandbreite an Variationen in Ausprägung, Objektbezug und Intensität. Dementsprechend wäre es wohl ein unmögliches Unterfangen,

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­ etische als universell anzusehen und alle Fetische vereinheitlicht auf die Kate­ F gorien Gender, Macht und Objekt in ihrer Konstitution zu untersuchen. Statt­dessen erscheint es viel sinnvoller, die Topoi als universell und alle Fetische bedingend ­anzusehen und somit eine Kategorisierung der Fetische anzustreben. So kann ­gewährleistet werden, der Individualität der Fetische gerecht zu werden und spezifischer auf die jeweiligen Interdependenzen von Gender, Macht und Objekt in den unterschiedlichen Kategorien einzugehen. Erstaunlicherweise gibt es kaum Bestrebungen, Fetische zu kategorisieren, So finden sich bisher bloß vereinzelt Ansätze einer möglichen Unterteilung in der Fachliteratur. Fiedler beispielsweise versucht eine Kategorisierung vorzunehmen, indem er die Fetische in ihren (sensorischen) sexuellen Stimuli differenziert. So könne eine erste Kategorie jene sein, in der der sexuelle Stimulus der Teil eines Körpers ist; eine nächste, in der es sich um die leblose Erweiterung eines Körpers handelt – beispielsweise Kleidungsstücke oder auch Prothesen; darauf folge dann eine Kategorie, die die besondere Qualität einer spezifischen taktilen Stimulation, die über die Materialität fungiere, beinhaltet; und zuletzt würden andere sensorische Stimuli – wie gustatorische oder olfaktorische – in einer weiteren Kategorie zusammengefasst (vgl. Fiedler 2004, 201). Es ist der Interaktion mit Dingen jedoch innewohnend, dass ihnen sinnliche Stimuli vorausgehen und eine Kategorisierung damit bloß etwas bereits Gegebenes spiegelt, was jedem Fetisch und letztlich jedem sexuellen Akt von Natur aus gemein ist. Jedoch insbesondere im Fetischismus, der „nicht nur Sexualität, sondern auch Macht und sinnliche Wahrnehmung“ (Steele 1996, 11) betrifft und „vielmehr selbst ‚die Religion der sinnlichen Begierde‘ sei“ (Kohl 2003, 92), ist die Unterteilung in sensorische Stimuli dann unzureichend, wenn die sinnliche Wahrnehmung als alle Fetische konstituierend behauptet wird. So ist es doch zutreffender, Fetische in ­andere sie bedingende Stimuli zu unterteilen, nämlich in ihre sexuellen. Es muss demnach für jeden spezifischen Fetisch festgestellt werden, welches sein ausschlag­ gebender Aspekt für die Objektbeziehung und den Lustmoment ist. Darauf aufbauend können sie den übergeordneten Kategorien zugeteilt werden, und es entsteht eine universellere Struktur in der Distinktion verschiedener Fetische, durch die das Fundament für eine Untersuchung nach den Interdependenzen von Gender, Macht und Objekt gegeben ist. Nach der Skizzierung, auf welcher Grundlage andere Theoretiker_innen eine Kategorisierung vornehmen und wo deren Schwächen liegen, stelle ich meine Herangehensweise vor, die, den bedingenden sexuellen Stimuli folgend, eine Unterteilung in sechs Kategorien vornimmt: Die erste Kategorie ist die der materiellen Fetische, in der der Stimulus auf der spezifischen Materialität des fetischisierten Gegenstandes liegt. Diese Kategorie ist unterteilt in Subkategorien, namentlich in weiche, harte und fluide Materialien. Als zweite Kategorie ist die der sadomasochistischen Fetische festgehalten. Hier erfolgt der Großteil der Stimulation durch die dem Sadomasochismus inhärenten

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Regeln von Demütigung und Dominanz, Quälen und Gequältwerden. Die beiden Subkategorien unterteilen sich in sadistische und in masochistische Ausprägungen (da für gewöhnlich das Individuum nur einen der beiden Fetische ausübt) sowie eine Sondersubkategorie, die des Bondage. Die dritte Kategorie subsummiert die körperlichen Fetische. Die Stimulation erfolgt hier also im weitesten Sinne durch die dem Körper zuzuordnenden Anreize. Unterteilt wird innerhalb dieser Kategorie in Körperteile, in leblose Körpererweiterungen – wie Kleidung oder Prothesen – und in Körperflüssigkeiten. Als vierte Kategorie ist die der rollenverändernden Fetische zu nennen. Ausschlaggebend in dieser Kategorie ist, dass das Individuum eine andere Rolle als die eigene annimmt bzw. mit einer anderen Rolle als der gewöhnlichen der Sexualpartnerin oder des Sexualpartners agiert. Auch hier sind zwei Subkategorien benannt: Transvestitismus und Rollenspiele. Als fünfte Kategorie lassen sich die Kategorie-unspezifischen Fetische festhalten. Hier finden sich Stimuli, die unter den bisherigen Anläufen nicht zweifelsfrei einer der anderen Klassen zuzuordnen waren, beispielsweise sehr gegenstandsoder ritusspezifische Fetische. Zudem wird noch eine weitere, letzte Kategorie aufgestellt, die eine besondere Stellung innerhalb des Klassifizierungssystems einnimmt, da sie die Grenzfälle ­behandelt. Hierzu werden Fetische gezählt, die an der Grenze zur sexuellen Störung stehen, da sie stark davon abhängig sind, welche Parameter die Auslegung des ­Fetischs bestimmen.

Materielle Fetische „Bestimmte Materialien haben durch ihre taktilen, olfaktorischen und visuellen ­Eigenschaften sowie durch konnotierte Bedeutungen eine starke erotische Ausstrahlung.“ (Steele 1996, 129) Die materiellen Fetische sind bestimmt von der besonderen erotischen Stimulation durch ihre sensorische – sprich die taktile, olfaktorische, visuelle oder auch sogar akustische oder gustatorische – Qualität unterschiedlichster Materialien. Neben diesen sensorischen Qualitäten sind die Materialien jedoch zusätzlich durch ihre semiotische Aufladung bedingt: So definieren ebenfalls der jeweilige kulturhistorische, soziale und besonders der vergeschlechtlichte Kontext die Perzeption der verschiedenen Materialien. Die Zuordnung von Weiblichkeit zu vermeintlich weiblichen Materialien und Männlichkeit zu vermeintlich männlichen hat nämlich – ähnlich wie die Zuschreibung von Geschlecht zum Körper – die Folge, dass Gender konstruiert wird. Judith Butler schreibt dazu, dass „die Zuschreibung von Weiblichkeit zu weiblichen Körpern, so als ob diese eine natürliche oder notwendige Eigenschaft wäre“ (Butler 2009, 22), in einem normativen Rahmen statt-

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finde, „in dem die Zuordnung von Weiblichkeit zu weiblicher Anatomie ein Mechanismus zur Erzeugung von Gender ist“. (ebd.) Der gleiche Effekt lässt sich auch bei der Vergeschlechtlichung von Materialien beobachten, was zu der Annahme führt, dass die Zuschreibung geschlechtlicher Konnotationen zu spezifischen Materi­alien ebenfalls Gender erst mitentstehen lässt. Einhergehend mit dieser Vergeschlechtlichung werden außerdem die ihr zugehörigen Machtmechanismen etabliert, welche über die geschlechtliche Konnotation der Materialien im materiellen Fetischismus implizit exekutiert werden. Daher liegt der Ursprung des Reizes in den materiellen Fetischen offenbar nicht bloß in ihrer Sensorik, sondern eben auch in ihrer semiotischen Aufladung – sowohl durch das Material selbst als auch durch die Form, in der es erscheint. Wenn nun das Material das Zentrum des Stimulus ausmacht, wie beispielsweise bei Seidenoder Latexfetischismus, handelt es sich augenscheinlich weniger um eine Frage von Subjekt und Objekt in den den Fetischen inhärenten Machtmechanismen, als vielmehr um eine Frage von geschlechtlicher Konnotation. Harte Materialien werden prinzipiell maskulin konnotiert und erhalten dadurch eine Machtposition, die ein vermeintlich weibliches Material nicht erreichen kann. Ein seidener String-Tanga würde somit als durch und durch weiblich wahrgenommen, eine Latex-Boxershorts als männlich. Ein lederner String-Tanga jedoch erhält durch das Material für die ­Lederfetischistin oder den Lederfetischisten männlich konnotierte Qualitäten, eine spitzenbesetzte Boxershorts wird über die Materialität folglich eher weiblich konnotiert. Wenn dies den Reiz ausschlaggebend bedingt, so handelt es sich um einen materiellen Fetisch, dessen Interdependenzen mit dem Material stark gebunden sind an Gender und Macht, wobei die Macht aus der Gender-Identifikation erwächst.

Sadomasochistische Fetische „Machtausübung besteht darin, ‚Führung zu lenken‘, also Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Verhalten zu nehmen.“ (Foucault 2005, Bd. IV, 226) Sadomasochistische Fetische zeichnen sich durch die Auswirkung und die Hinnahme von Macht über das „Spiel des Quälens“ aus. Die Sadistin oder der Sadist beeinflusst, so scheint es zunächst, durch ihre oder seine Machtausübung das Verhalten von Masochistin oder Masochist – und Letztere erlangen die sexuelle Stimulation eben darüber, sich lenken und quälen zu lassen. So scheint der Topos Macht eine besonders gewichtige Stellung in den sadomasochistischen Fetischen ein­ zunehmen. Michel Foucault schreibt über Macht, sie sei ein „Ensemble aus Handlungen, die sich auf mögliches Handeln richten, und operiert in einem Feld von Möglichkeiten für das Verhalten handelnder Subjekte. Sie bietet Anreize, verleitet, verführt, erleichtert oder erschwert, sie erweitert Handlungsmöglichkeiten oder schränkt sie ein, sie erhöht oder senkt die Wahrscheinlichkeit von Handlungen.“

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(ebd., 286) Er beschreibt damit, dass Macht handlungsgebunden eine Handlung darstellt, die sich auf das Handeln richtet und immer auch andere Handlungsabsichten oder -wahrscheinlichkeiten beeinflusst. Im stark handlungsgebundenen sadomasochistischen Fetisch lässt sich dieses Phänomen beobachten: Die Macht und das den Ausübenden zuteilbare Machtgefälle wird dadurch etabliert und konstruiert, dass sie als Handlung Anreize bietet und die Handlungen des Gegenübers bedingt, sich gleichsam aber auch nach ihnen richtet. Das Machtverhältnis zwischen Sadismus und Masochismus kann in zwei ­Ansätzen in seiner Konstitution betrachtet werden. Der erste sieht auf einer Meta­ ebene die Masochistinnen und Masochisten in der eigentlichen Machtposition, denn „[g]ewöhnlich ist es der Masochist, der die sadistischen Aktivitäten seines Partners provoziert und kontrolliert“. (Fiedler 2004, 249 ff.) So mag oberflächlich zwar die Person die Machtausübende sein, die das Gegenüber unterdrückt, jedoch ist es letztendlich die masochistische Person, die diese Macht will und lustvoll zulässt, i­ nsofern selbst Macht generiert und damit in gewisser Weise über die Macht der S ­ adistin oder des Sadisten verfügt. Der zweite Ansatz sieht den Ursprung des Verhältnisses in der Binarität der Geschlechter, die notwendig ein Machtgefälle von männlich zu weiblich impliziert und sich in semiotischer Aufladung sowohl in der Form als auch in der Materialität der Objekte wiederfindet, die in sadomasochistischen Fetischen verwendet werden. Exemplarisch an den Parteien Domina und Sklave aufgezeigt, bedeutet dies, dass die Domina ihre Macht multipel konstruiert: über ihr Gebaren als machtvolle Person, über ihre Macht suggerierende Kleidung, aus Macht suggerierenden Materialien und mit Macht suggerierenden Objekten – und so dem Sklaven die Macht explizit durch das von ihm geforderte Gebaren und unter Umständen die Kleidung, die er trägt, abspricht. Dies, so Steele, geschieht über die geschlechtliche Konnotation der binären Gegensatzpaare, in denen die Domina sich bewusst maskulin oder phallisch konnotierter Elemente bedient, die Macht ausstrahlen, der Sklave bewusst in feminin konnotierte Verhaltensweisen oder Kleidungsstücke gezwängt wird, die Ohnmacht suggerieren (Steele 1996, 176 ff.).

Körperliche Fetische „(…) die Attraktion der Uniform manchmal so überwältigend zu erleben, dass ich das Gefühl habe, mit den Kleidern zu schlafen, während der Mann in ihnen lediglich eine (…) Art belebter Kleiderbügel ist.“ (Tom of Finland, zit. in Steele 1996, 186) Wenn man der Aussage des Zeichners Tom of Finland folgt, so lässt sich daraus schließen, dass in seinem Fetisch das fetischisierte Objekt, in diesem Fall also das Kleidungsstück Uniform, eine so substanzielle Rolle als sexueller Stimulus ­einnimmt, dass der Träger durch die Uniform ersetzt wird, das Objekt als Subjekt

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fungiert und dem Menschen selbst jegliche Menschlichkeit abgesprochen wird. Dies geschieht in einer Art und Weise, die sich anders konstruiert als in einem rollenverändernden Fetisch – in dem eine Uniform unter anderen Umständen womöglich zunächst verortet würde –, denn in diesem kreiert der Fetisch sich nicht durch das Verschwinden der Person hinter der Kleidung, vielmehr über die Rolle, die die Person durch die Kleidung einnimmt. Der intersubjektive Moment im Sexualverkehr scheint also zugunsten der Hingabe an das fetischisierte Objekt ausgelöscht: Der sexuelle Stimulus wird fast ausschließlich auf das Zielobjekt projiziert, und dem Menschen als Gegenüber und Trägerin oder Träger des Objektes – und manchmal auch als Ursprung des jeweiligen Objektes, wie in den Körperteil- und Körperflüssigkeits-Fetischen der Fall – wird auf sexueller Ebene jegliche Individualität ­zunächst abgesprochen. Jean Baudrillard spricht von einer „Parzellierung des Körpers“, die die Fetischistinnen und Fetischisten vornehmen. Die Körperteil-Fetischisierung beispielsweise wendet sich, „unfähig, den Gegenstand ihrer Befriedigung in der singulären Totalität einer Person zu finden – ebenfalls in einer Diskontinuität von Bezugspunkten zu, und der Partner erscheint ihr dann paradigmatisch in eine Reihe von erogenen Zonen aufgeteilt, wobei stets eine dieser Zonen mit objektaler Aufmerksamkeit umgeben wird.“ (Baudrillard 2007, 128) So wird also das Gegenüber nicht bloß zerstückelt und in Einzelteile zerlegt, sondern diese Stücke haben keine Kontinuität und so auch keinen Zusammenhang miteinander mehr. Dadurch wird der Mensch seiner Macht über die Objektifizierung zunächst enteignet – wie im Fuß­ fetischismus, wenn der Fuß im Fokus der Erotik steht, nicht der dazugehörige Mensch. Jedoch übt auf einer Metaebene letztlich der Fuß als Objekt die Macht über das fetischistische Subjekt aus. Der Mensch, zu dem der Fuß gehört, tritt d ­ abei aber genauso in einen machtlosen Zustand. „Fetischismus ist danach ein Glaube, der die Freiheit des Subjekts vernichtet und es zum Sklaven der Dinge macht.“ (Böhme 2012, 91) So ermächtigt sich das Fetischobjekt, da es aus dem Objektstatus heraus in einen intersubjektiven Kommunikationsakt gelangt, indem es Benutzerin und Benutzer entmächtigt und für sie ein sakrales Idol wird (ebd., 73). Das gleiche Prinzip lässt sich auch auf die Körperflüssigkeits-Fetische anwenden. So scheint es, dass die körperlichen Fetische bis auf Ausnahmen in den leblosen Körpererweiterungen – die wieder an vergeschlechtlichte Objekte wie Kleidung gebunden sind – hinsichtlich ihrer Machtmechanismen nicht in erster Linie durch Gender bedingt werden, obgleich selbstverständlich Gender immer auch eine gewichtige Rolle im Verhältnis Macht – Objekt spielt. Aber in den hier beschriebenen Fällen scheint vielmehr die Objektifizierung jeden Gegenübers und des sexuellen Stimulus zu einem Machtgefälle zu führen. So wird zunächst die Person, die den Körperteil oder das Körpersekret zur Verfügung stellt, dadurch entmächtigt, dass sie parzelliert wird; und in einem weiteren, subversiven Schritt erhält das Objekt die eigentliche Macht über das Subjekt – indem Letzteres es dazu ermächtigt, als Einziges die sexuelle Stimulation zu ermöglichen.

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Rollenverändernde Fetische „Natürlich dient das Verkleiden beim Transvestitismus wie die Bevorzugung eines Fetischs beim Fetischismus der sexuellen Stimulierung, einer Stimmungsveränderung in Richtung Euphorie (…).“ (Fiedler 2004, 207) Was Fiedler hier spezifisch auf den Transvestitismus – obgleich er auch andere Fetische allgemein referenziert – bezieht, lässt sich in der Kernaussage auf alle rollenverändernden Fetische anwenden. Ihnen ist gemein, dass die Kleidung, die man trägt, den Beteiligten eine bestimmte Rolle zuweist, die letztlich als sexueller Stimulus fungiert. In beiden Subkategorien scheint die geschlechtliche Konnotation gewisser Kleidungsstücke eine evidente Rolle zu spielen, anhand derer sich Objekt- und Machtbezüge ableiten lassen. Transvestitin oder Transvestit übernehmen beispielsweise durch das Verkleiden in der jeweils geschlechtsrollenstereo­ typischen Kleidung für jenen Moment, in dem der Fetisch ausgelebt wird, die sexuellen und sozialen Bedeutungen, die mit der jeweiligen Rolle verbunden sind – und damit auch die geschlechtlichen Konnotationen. So sind es insbesondere machtvolle, heterosexuelle Männer, die ihr Lustempfinden im Transvestitismus dadurch gewinnen, dass sie ihre „angeborene“ Macht durch das Tragen der „ohnmächtigen“, weiblichen Kleidung abgeben. Denn wie Steele schreibt, stellen sich Transvestiten häufig in überspitzt weiblicher Kleidung oder Aufmachung dar, um so eine „essentiell weibliche, unterwürfige“ (Steele 1996, 178) Rolle zu repräsentieren und der Weiblichkeit mehr Gewicht zu verleihen Auch Rollenspiele konstituieren sich oftmals über Gebaren und Kleidung der (geschlechts)spezifischen Rolle, indem diese stereotyp oder überspitzt dargestellt wird. So präsentieren sich weibliche Rollen häufig in einer devoten Position, über die die jeweils männlich konnotierten Rollen herrschen. Autoritäre Figuren wie Polizist, Soldat oder Feuerwehrmann sind klar maskulin und in einer Machtposition, wohingegen die unterwürfigen Figuren wie Krankenschwester, Hausmädchen oder Schülerin klischiert weibliche Rollen darstellen, die mit weiblich konnotierten Arbeitsfeldern verbunden sind, wie der Pflege, dem Haushalt oder der Erziehung. Wenn man sich also die besondere Relevanz der Kleidung in den rollenverändernden Fetischen vor Augen führt, so lässt sich festhalten, dass sie als Objekt die Fetische ähnlich bedingt wie teilweise in den Subkategorien der körperlichen Fetische. Rollenverändernde Fetische etablieren fast ausschließlich über Kleidung die ihnen inhärenten Machtverhältnisse und sexuellen Stimuli. Durch das Objekt Bekleidung werden (wie auch in den materiellen und sadomasochistischen Fetischen sowie, bedingt, in den leblosen körpererweiternden Fetischen) über das Geschlecht die Akteurinnen und Akteure ermächtigt oder entmächtigt. Indem ihnen geschlechtsrollenspezifische Attribute zugeteilt werden, über die sie ihre Machtposition festigen, ändern oder aufgeben können, entwickeln sie sich entweder zum mächtigen Subjekt oder zum ohnmächtigen Objekt. Jedoch ist es bei genauerer Betrachtung auch hier auf einer Metaebene das Objekt, das die eigentliche Macht innehat. Denn

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erst der Fetisch ermächtigt die Fetischistinnen und Fetischisten, da sie in direkter Abhängigkeit zu ihm stehen. Ohne die Frauenkleidung, ohne die Polizistenuniform, ohne das Krankenschwesterkostüm ist eine Performanz der gewünschten Rolle schließlich kaum möglich.

Kategorieunspezifische Fetische „(…) der geregelte, aber verpflichtungslose Spielcharakter (…); das Phantasma der geheimen, exklusiven Beziehung zum Objekt; die reparativen Gesten dem anderen gegenüber; das Gefühl der Ich-Stärkung durch die Spielszene; das Wissen, dass man sich wieder trennt; ein Gefühl von Dankbarkeit.“ (Böhme 2012, 445) Bedenkt man die schier endlose Vielzahl an fetischistischen Ausprägungen, die sich selbst innerhalb der hier kategorisierten Fetische findet, so ist es wenig verwunderlich, dass nicht alle Fetische in die Parameter der gegebenen Kategorien eingeordnet werden können. Daher werden in dieser Kategorie all jene Fetische zusammengefasst, die entweder so spezifisch sind, dass sie sich jeder generalisierenden Unterteilung entziehen – wie beispielsweise die Gerontophilie, in welcher der sexuelle Stimulus im Altersunterschied liegt, oder der Staubsaugerfetischismus, in dem das Saugrohr zur Erzeugung eines Vakuums am Genital verwendet wird – oder aber nicht zweifelsfrei einer Kategorie zugeordnet werden können, wie z. B. der ­Lebensmittelfetisch, in dem Lebensmittel penetriert oder zur Penetration benutzt werden. Da in dieser Kategorie sowohl objekt- als auch ritusspezifische Fetische aufzufinden sind, kann man auf bereits zuvor erarbeitete Erkenntnisse zurückgreifen, die hier aber auf jeden individuellen Fetisch spezifisch angewandt werden müssen. So ist es wahrscheinlich, dass die These der subversiven Objektmacht auf bestimmte Fetische zutreffen kann – dass also das Objekt in der subversiven Machtposition ist und Fetischistin und Fetischist die eigene Macht durch projektive Verfahren abgeben. Genauso kann für andere Fetische dieser Kategorie festgehalten werden, dass wahrscheinlich fetischspezifische Macht- und Gendermechanismen greifen, die an dieser Stelle nicht in dem Ausmaß und so generell konstatiert werden können wie in den vorherigen Kategorien.

Grenzfälle „Sie (die Widerstände, d. Verf.) sind in den Machtbeziehungen die andere Seite, das nicht wegzudenkende Gegenüber.“ (Foucault 2008, 1101)

DAS PROJEKT: FETISCH. GENDER. MACHT  249

In allen der bisher vorgestellten Kategorien spielen Machtverhältnisse die tragende Rolle, und in vielen baut diese auf den von Foucault erwähnten Widerständen auf. Doch in keiner Kategorie scheinen die Widerstände so evident zu sein wie in der Kategorie der Grenzfälle. Während sowohl materielle als auch sadomasochistische, körperliche, rollenverändernde und sogar kategorieunspezifische Fetische alle unkompliziert unter die vorgeschlagene Begrifflichkeit der Fetische gestellt und klar von sexuellen Störungen differenziert werden können, gestaltet sich dieses Vorhaben bei den Grenzfällen ungleich kritischer, da die Trennungslinie hier nicht eindeutig bestimmbar ist. Sie verläuft fließend und ist so stark abhängig von Intensität und Auslegung des Fetischs, wie das in sonst keiner Kategorie der Fall ist. Hier handelt es sich also um Fetische, die sich durch besondere Gewaltvorstel­ lungen (wie Vergewaltigungsfantasien oder verletzungsinduzierender Sex) oder durch besonders risikoreiche Praktiken (wie Autoasphyxie, ein Fetisch, in dem der sexuelle Stimulus durch Atemnot verursacht wird, oder Outdoor-Fetische, in denen die Stimulation durch die Möglichkeit der Entdeckung der Ausübung von Sexualität durch Andere gewährleistet ist) auszeichnen. Auch hier lassen sich Subkategorien bilden, nämlich die des potenziellen Selbstschadens und die des potenziellen Außenschadens. Obgleich es sich also bei den Grenzfällen nicht automatisch um fetischistische Ausprägungen handelt, die den sexuellen Störungen zuzuordnen sind, sondern immer individuell über die Intensität entschieden werden muss, fällt es schwer, adäquat die Topoi Gender, Macht und Objekt zu untersuchen und diese Fetische guten Gewissens den anderen, unproblematischen Fetischkategorien zuzuordnen.

Fetisch – Eine Rekapitulation In drei der Kategorien – den materiellen, den sadomasochistischen und den rollenverändernden Fetischen – scheint hauptsächlich die geschlechtlich-konnotative Macht des Objektes ausschlaggebend zu sein. Auf zwei untrennbar miteinander verbundenen und interagierenden Ebenen, nämlich der Form- und Materialsprache, erwächst Macht aus der geschlechtlichen Konnotation eines Objektes. Ein weiblich assoziiertes Objekt drückt fast ausschließlich Ohnmacht und Devotion aus, während ein männlich konstruiertes mit Macht und Dominanz verbunden wird. Die Aneignung dieser konnotativen Ohnmacht oder Macht via Fetisch scheint nicht ausschließlich objektgebunden zu sein, sondern wird gleichsam durch Benutzung des Objektes auf Benutzerin oder Benutzer über die damit einhergehende Vergeschlechtlichung übertragen. In zwei der Kategorien – den körperlichen und kategorieunspezifischen Fetischen – scheint die Macht des menschlichen Subjekts über das entpersonifizierte menschliche Objekt die jeweiligen Fetische zu bedingen. Macht wird an dieser

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Stelle darüber konstruiert, dass die Person, mit der fetischisierend interagiert wird, in ihrer Menschlichkeit destruiert und über die Etablierung dieser Person als Objekt eine Machthierarchie aufgebaut wird. Allen Kategorien gemein ist meine These, dass auf einer subversiven Meta­ ebene sich das fetischisierende Subjekt nie in der Machtposition befinden kann. Es wird immer die ohnmächtige Rolle einnehmen müssen – selbst wenn es sich darüber nicht bewusst ist –, da es den Fetisch durch projektive Verfahren eigens kreiert. Durch die Projektion gewisser Phantasma auf das Objekt wird dem Subjekt die Macht letztlich abgesprochen und auf das Objekt übertragen. Das Fetischobjekt befindet sich dieser Annahme folgend immer und unumstößlich in der Machtposition gegenüber den Fetischistinnen und Fetischisten, da es die sexuelle Stimulation bedingt – ohne die der Fetisch überhaupt nicht möglich, nicht existent wäre. Fetische, als durchaus komplexe Konstrukte, unterliegen immer spezifischen und individuellen Auslegungen der Intensität und Auslebung und sind daher nicht so leicht miteinander vergleichbar. Nichtsdestotrotz lassen sich gewisse Tendenzen und Annahmen in den Interdependenzen des untersuchten Kontexts Gender – Macht – Objekt aufzeigen, die offenbar alle Fetische auszeichnen. Auch scheinen diese Topoi selbst untrennbar miteinander verbunden und sich genauso gegenseitig zu bedingen, wie sie die Fetische bedingen. „Deutlich wird lediglich, dass die sexuellen Präferenzen, Neigungen und Interessen der Menschen sehr komplex und nur selten miteinander vergleichbar sind. Es gibt offensichtlich ganz gewöhnliches, aber auch seltsam bizarres Verhalten. Es gibt ein zwanghaftes Getriebensein neben sehr wohl überlegten Handlungen. ­Sexuelle Präferenzen können völlig harmlos sein, aber auch hochgradig gefährlich.“ (Fiedler 2004, 179)

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DAS PROJEKT: VON DER THEORIE ZUR GESTALTUNG: EVERYBODY HAS GOT A KINK! Sebastian Oft

Im ersten Schritt bildete die schriftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Fetisch die theoretische Basis für die eigene gestalterische Umsetzung, die in einem zweiten Schritt erfolgte. Bisherige gestalterische Ansätze müssen als nicht sonderlich gelungen bezeichnet werden. Zur Darstellung fetischistischer Neigungen wird eindeutig das Buch präferiert, das auch mir als geeignetes Medium erschien. Obgleich die Gestaltung von Printmedien zahllose Möglichkeiten der Visualisierung bietet, finden sich in den Büchern zu Fetischen bislang fast ausschließlich fotografische Abbildungen. Diese beziehen sich zudem auf bloß einen Teilbereich der Fetische, vornehmlich aus dem sadomasochistischen Kontext, niemals aber auf die Individualität und Vielfalt der Fetische als Gesamtkonstrukt. In dem von mir gestalteten Buch soll der Fokus klar darauf liegen, die Individualität der unterschiedlichen Fetische in den Vordergrund zu stellen, und nicht – wie in bisherigen Ansätzen –, nur einen Teilbereich der Fetische in immer gleicher Darstellungsform abzubilden. Mir war es dagegen wichtig, dass primär der spezifische Fetisch – und nicht das Medium – die Darstellungsform bestimmt. Ich entschied mich bewusst für ein „Coffee Table Book“, in dem ich 42 sehr unterschiedliche Fetische präsentiere. Es soll in das vermeintlich perverse, schmutzige, dunkle Thema Fetisch Licht bringen und es durch ungewöhnliches Layout, verantwortungsbewussten Inhalt und eine aufregende Umsetzung „salonfähig“ machen. Ich bediente mich eines großen Spektrums verschiedener Techniken der ­Darstellung: Illustration, Typografie, Grafiken, aber auch vielfältiger Materialien und diverser Papierveredelungen und -manipulationen: Fold-ups, Pop-ups, Ausstanzungen, Falzungen und mehr. Überdies sollte jede Darstellungsform mindestens eine von vier Anforderungen erfüllen: Der Fetisch sollte demnach entweder ­erfahrbar gemacht werden, Interaktionen herausfordern, die Sensorik bedienen oder assoziativ gestaltet sein, sodass die Leserinnen und Leser in das Buch eingebunden werden und es ihnen leichter fällt, sich dem Thema gegenüber unvoreingenommener zu öffnen.

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„Von der Theorie zur Gestaltung: Everybody Has Got A Kink!“

Und so ist letztendlich Everybody Has Got A Kink! als praktische Umsetzung meiner Final Thesis entstanden. Das Buch möchte den Leserinnen und Lesern einen Zugang zu der Welt der Fetische eröffnen und so einen Beitrag dazu leisten, der Stigmatisierung von Fetischistinnen und Fetischisten entgegenzuwirken. Denn oftmals ist es nichts weiter als ein Mangel an Wissen, der Ablehnung und Stigmata erzeugt. Idealtypisch stellte sich die Erkenntnis ein, dass letzten Endes jede und j­ eder einen Kink haben kann.

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Die Gender-­ Macht der ­Objekte

DAS EIGENLEBEN DER DINGE In jedem Kapitel können die verschlungenen Verhältnisse als Dreiecksbeziehungen beschrieben werden, wobei zwei Seiten jeweils die gleichen bleiben: Gender – Design. In den folgenden Überlegungen kommt als dritte Seite „Objektmacht“ hinzu: Gender – Design – Objektmacht. Gernot Böhme hat das Weder-Noch wie das Sowohl-Als-Auch der Dinge und der Subjekte mit seinem Begriff der Atmosphären zu fassen gesucht. „Sie (die Atmosphären, d. Verf.) sind Räume, insofern sie durch die Anwesenheit von Dingen, von Menschen oder Umgebungskonstellationen, d. h. durch deren Ekstasen, ‚tingiert‘ sind. Sie sind selbst Sphären der Anwesenheit von etwas, ihre Wirklichkeit im Raume. (…) die Atmosphären (werden) nicht freischwebend gedacht, sondern gerade umgekehrt als etwas, das von den Dingen, von Menschen oder deren Konstellationen ausgeht und geschaffen wird. Die Atmosphären sind so konzipiert ­weder als etwas Objektives, nämlich Eigenschaften, die die Dinge haben, und doch sind sie etwas Dinghaftes, zum Ding Gehöriges, insofern nämlich die Dinge durch ihre Eigenschaften – als Ekstasen gedacht – die Sphären ihrer Anwesenheit artikulieren. Noch sind die Atmosphären etwas Subjektives, etwa Bestimmungen eines Seelenzustandes. Und doch sind sie subjekthaft, gehören zu Subjekten, insofern sie in leiblicher Anwesenheit durch Menschen gespürt werden und dieses Spüren zugleich ein leibliches Sich-Befinden der Subjekte im Raum ist.“ (Böhme G. 1995, 33 f.) Dass die Menschen sich mit Objekten umgeben, mit ihnen hantieren, kommunizieren und notwendig in allen Aktionen und Lebenssituationen auf sie verwiesen sind, ist hinreichend bekannt und bedarf deshalb keiner weiteren Ausführung. Dass Objekte ihrerseits die Menschen beeinflussen, ist ebenfalls unstrittig. Dass aber schließlich Objekte ein gewisses Eigenleben führen mögen, sie selbst Macht ausüben, ist vielleicht weniger bekannt, allerdings philosophisch und kulturell längst nicht erst seit Bruno Latours gegenwärtig geradezu penetrant modisch rezipierter Akteur-Netzwerk-Theorie (vgl. Latour 2007) en vogue. „Ähnlich wie Deleuze verabschiedet sich auch die ANT, die im Umfeld der Science and Technology Studies (STS) entstanden ist, von dem Subjektbegriff, um sich stattdessen ausschließlich auf das Zusammenspiel von menschlichen und nichtmenschlichen ‚Aktanten‘ zu konzentrieren. Wie dieser Neologismus schon andeutet, schreiben Latour und andere Vertreter der ANT also auch den unbelebten, materiellen Artefakten, wissenschaftlichen und technischen Objekten sowie Architekturen eine gewisse Handlungsträgerschaft zu, die sich jedoch nur in dem Prozess der Interaktion entfalten kann. Der Verzicht auf den Subjekt- und damit auch den Körperbegriff hat jedoch zur Folge, dass sich die sinnliche Wahrnehmung, die notwendigerweise jede interobjektive Tätigkeit begleitet, mit dem ANT-Vokabular nicht ohne weiteres beschreiben lässt.“ (Göbel/Prinz 2015, 25)

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Nicht-menschliche Netzwerke, Aktanten und Entitäten haben schon beizeiten, wenn auch unter anderen Begriffen und Erkenntnisinteressen, Kant1, Hegel2, Marx3, Freud4 und sehr viele andere danach, aber noch vor Latour, beschäftigt. Die Objekte spielen unterschiedliche Rollen je nachdem, wo und bei wem sie sich befinden: Während Kinder den Dingen eine Seele einhauchen, sie zu Helden oder Tröstungsobjekten machen (vgl. Winnicott 1969 und 2006; vgl. Piaget 2005), verwandeln sie sich in der Erwachsenenwelt in Objekte mit einem Eigenleben, die mal kommunizieren (vgl. Antonelli 2011 a), ein anderes Mal Macht ausüben (vgl. Sturm) und gelegentlich sogar gewalttätig werden (vgl. Antonelli/Hunt 2015). Die Kommunikation erscheint eher freundlich: „Whether openly and actively or in subtle, subliminal ways, things talk to us. They do not all speak aloud: some communicate in text, diagrams, and other graphic interfaces; others empathetically and almost te­lepathically, just keeping us company and storing our memories; still others in sensual ways, with warmth, scent, texture. (…) The bond between people and things has always been filled with powerful and unspoken sentiments going well beyond functional expectations and including attachment, love, possessiveness, jealousy, pride, curiosity, anger, even friendship and partnership (…).“ (Antonelli 2011b). Die Objektmacht wird im Folgenden noch ausführlich unter der Kategorie ihrer Vergeschlechtlichung erörtert – hier nur zur Fragestellung der Macht im Design so viel: „Wie werden Produkte gestaltet, damit sie machtvoll und mächtig wirken? Welche allgemeinen und designspezifischen Erkenntnisse, Methoden, Strategien und Regeln kommen dabei zur Anwendung? Was sind die Auswirkungen machtvoller und mächtiger Produkte auf den sozialen Kontext und die Praxis des Benutzens?“ (Sturm 2009) 1

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Vgl. u. a.: „(…) es sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d. i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne affizieren. Demnach gestehe ich ­allerdings, das es außer uns Körper gebe, d. i. Dinge, die, obzwar nach dem, was sie an sich selbst sein mögen, uns gänzlich unbekannt, wir durch die Vorstellungen kennen, welche ihr Einfluß auf unsre Sinnlichkeit uns verschafft, und denen wir die Benennung eines Körpers geben;““ – Kant, Immanuel (1977): Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik. Werke in zwölf Bänden, hg. v. Weischedel, ­Wilhelm, Frankfurt a. M. (Suhrkamp), Bd. 5, S. 151. Vgl. u. a.: „Das Hier ist z. B. der Baum. Ich wende mich um, so ist diese Wahrheit verschwunden und hat sich in die entgegengesetzte verkehrt: Das Hier ist nicht ein Baum, sondern vielmehr ein Haus.“ – Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1979): Phänomenologie des Geistes, In: Werke in 20 Bdn., hg. v. Moldenhauer, Eva/Michel, Karl Markus, Bd. 3. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), S. 84. Vgl. u. a.: Marx, Karl: „Die Form des Holzes z. B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.“ Marx, Karl (1968): Das Kapital, Bd. I. In: Ders./Engels, Friedrich: Werke, Bd. 23, Berlin (DDR) (Dietz), S. 85. Vgl. u. a. Freud – hier im Kontext „Verliebtheit“: „Gleichzeitig mit dieser (unerfüllbarer Liebe, d. Verf.) ‚Hingabe‘ des Ichs an das Objekt (…) versagen die dem Ichideal zugeteilten Funktionen gänzlich. (…) alles, was das Objekt tut und fordert, ist recht und untadelhaft. Das Gewissen findet keine Anwendung auf alles, was zugunsten des Objekts geschieht; (…) Das Objekt hat sich an die Stelle des Ichideals gesetzt.“ Freud, Sigmund (1999): Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: Ders.: Gesammelte Werke in 18 Bänden, Bd. XIII, Frankfurt a. M. (S. Fischer), S.124 f.

DAS EIGENLEBEN DER DINGE  259

MACHT UND GEWALT IM DESIGN Zwischen Objektmacht und Objektgewalt muss – trotz mancher Nähe – noch unterschieden werde. Wenn auch die Begrifflichkeit im Kontext Design anders verwendet wird als z. B. bei Hannah Arendt, so kann ihre Unterscheidung zwischen Macht und Gewalt durchaus auf unseren Kontext bezogen werden: „Power and violence are opposites; where the one rules absolutely, the other is absent. Violence appears where power is in jeopardy, but left to its own course, it ends in power’s disappearance.“ (Arendt 1970, 56) Gewalt also erscheint häufig als zweite Kraft, die sich entweder, fast unmerklich, in die Macht einschleicht oder aber, wie Arendt formuliert, sich dann Raum erobert, wenn Macht in Gefahr, sie zu schwach ist, um Gewalt unter Kontrolle zu halten. Insofern könnten die beiden Kategorien folgendermaßen unterschieden werden: Macht wirkt psychosozial, lässt – nicht zuletzt durch ebenso präzise wie umfassende Gestaltung – Menschen freiwillig gehorchen; Gewalt dagegen erzwingt Gehorsam durch psychologischen oder physischen Zwang und Terror. Die Gewalttätigkeit der Objekte erschließt sich manifest sehr schnell, durch Waffen etwa, aber auch subtiler, z. B. durch gefährliche Computerviren: „Throughout history, design has both perpetuated and mediated violence, giving rise to tools that harm, control, manipulate, and annihilate – from the simple, handheld weapons of ancestral times to the undetectable, self-propagating computer malware of contemporary ones. The potential violence wrought by these tools is compounded by systemic power imbalances and their reification in our bureaucratic, social, and economic structures.“ (Lowry 2015, 7) Insofern bedarf es, insbesondere im Zeitalter der sogenannten neuen und sozialen Medien, der allgegenwärtigen Erreichbarkeit, permanenten Interaktion und Kommunikation, gar keiner unmittelbar autoritären gesellschaftlichen Strukturen, um Verfolgung (wo befindet sich wer wann) und Kontrolle (was macht wer wo) sowie öffentliche Diffamierung und Denunziation zu ermöglichen. Die „systemischen Machtungleichheiten“ entfalten sich für diverse gesellschaftliche Teilsysteme und -gruppen – etwa für Unternehmen, private und öffentliche Institutionen, aber auch für kriminelle und politische Banden – günstig, also machtvoll, während andere – z. B. Individuen, zivilgesellschaftliche Initiativen – sich eher auf der schwachen, machtlosen Seite befinden.

AMMO I Ein Magazin, das Cover im üblichen, leicht verkleinerten (20,5 cm × 27,5 cm) A4-­ Format (21 cm × 29,7 cm), das deutlich an Modezeitschriften im elegant-coolen Stil

260  DIE GENDER-­M ACHT DER ­O BJEKTE 

von Vogue5 erinnert: eine junge hübsche Frau, fotografiert bis kurz vor der Taille, Kopf – typisch zwischen sinnlich und schüchtern-kokett changierend – nach rechts geneigt, volle, dezent rosa gefärbte Lippen, die sich nicht zu einem Lächeln ver­ ziehen, lange braune Haare über die nach rechts den Betrachtenden zugewandte Schulter bis zum Ellenbogen herabfließend, sportliche khaki-farbene Bluse, (nicht zu weit) aufgeknöpft, mit aufgekrempelten Ärmeln. Der Blick schwankt irgendwo zwischen ernst, sinnlich, sehnsüchtig – ein durchaus oft vorkommender Mode-­ Model-Blick. Der Titel groß und fett in Versalien über die gesamte Seitenbreite und etwa ein Fünftel der Seitenlänge gesetzt, der – auch dies typisch für die Namens­ platzierung von Mode- und Lifestyle-Zeitschriften – unbekümmert, fast brutal, sich über ein Drittel bis zur Nasenwurzel des Gesichtes zieht, die Augen allerdings sorgfältig aussparend. Das „O“ in Ammo umschließt das französische Wort „ALLEMAND“ in Versalien – ein womöglich weiterer Hinweise auf die sprachliche Ähnlichkeit der Zeitschrift Vogue, bekanntlich ein französisches Wort. In präziser, aber unregelmäßig und lässig wirkender Verteilung über den Körper verstreut die wichtigsten Themen nebst Autor_innen; unten rechts, klein und unauffällig – auch dies durchaus normal –, der Barcode. Farblich sehr zurückhaltend: eine Mischung aus weißem Hintergrund, weißer und schwarzer Schrift und khaki-farben – und über dem Ganzen schwebt eine Art verwaschener leichter Nebel.

AMMO II Ein Magazin, das Cover im üblichen, leicht verkleinerten (20,5 cm × 27,5 cm) A4-­ Format (21 cm × 29,7 cm), das deutlich an Herren-Magazine à la „Zigarren-Journal“ oder „Jagd und Hund“ erinnert: keine Person weit und breit, dafür in mattem Gold großflächig und bewusst durcheinander geworfen das gesamte Titelblatt bedeckend – ja, was: Zigarrettenspitzen, Zigarrrenverpackungen oder orientalische ­Gefäße? Oder sollte es sich gar um Patronenhülsen handeln? Die länglichen, runden, goldenen, an einem Ende offenen Hüllen sind reich ornamentiert, wir sehen Zweige, Blätter, Blumen, die dreidimensional geprägt sind, keine Figuren. Manche Gehäuse öffnen sich an ihrem einen schmalen Ende kreisrund, einige wirken leicht eingedellt, andere schließen die Öffnung mit halbrunden Kreisen, wie Blätter oder Spitze, ab. Der Titel AMMO bleibt in Größe und Schrifttypo gleich wie bei der Modezeitschrift, nur durchschneidet er hier kein Gesicht, wirkt deshalb auch ruhiger und weniger scharf, sogar elegant. Auch enthält das Titel-„O“ einen Hinweis auf die Sprache, dieses Mal „ANGLAIS“. Einzig mag im ersten Moment die Schriftfarbe 5

Zur Erinnerung: Die italienische Vogue hatte bereits mit perfidem Voyeurismus die für Modeshows ­vergewaltigt hergerichteten Models genüsslich präsentiert (vgl. Kap. Der geschundene Körper in der Mode, S. 196–204).

MACHT UND GEWALT IM DESIGN  261

i­ rritieren, da sie – wie auch die Artikeltitel, die als Information sich versetzt rechtsund linksbündig auf dem Cover verteilen – weiß ist, was gestalterisch und im Farbspektrum üblicherweise eher eine weibliche Anmutung suggeriert. In vorliegendem Fall jedoch erscheint das Titelblatt der weiblich fokussierten AMMO in männlich konnotiertem Schwarz. Dieser normative Widerspruch lässt sich aber leicht aufklären: Der Hintergrund der „weiblichen“ AMMO ist weiß, sodass eine Kontrastfarbe gewählt werden musste. Die „männliche“ AMMO arbeitet mit einem Vollbild (die goldenen Hüllen) über die gesamte Seite, und durch die dunkel erscheinenden Öffnungen der Hüllen wäre hier eine schwarze Schrift schlecht sichtbar geworden. Eine noch andere als eine dieser beiden Unfarben hätte die golden-­ stolze Eleganz gestört.

AMMO III Wenden wir uns kurz dem Titel zu. AMMO ist Englisch und eine Herleitung von „ammunition“ – und nun spätestens schwant auch den des Englischen Nicht-­Kun­ digen, dass der Titel offenbar etwas mit Munition zu tun haben könnte. Das ist richtig, „Ammo“ nämlich ist lediglich die umgangssprachliche Verballhornung der englischen Munition. Sobald das gewusst wird, machen sich Verunsicherung und Beunruhigung breit: Wieso werden eine vielleicht etwas biedere Modezeitschrift und ein konservatives Herrenmagazin mit ein und demselben Namen belegt, vor allem aber: Was haben diese mit Munition zu tun? Die Aufklärung ist ernüchternd und einschüchternd: AMMO nämlich ist weder eine die weibliche Zielgruppe ansprechende Modezeitschrift noch ein gediegenes, altmodisch anmutendes Herrenmagazin. AMMO ist überhaupt keine Zeitschrift, und die beiden Titelseiten gehören zu ein und derselben Publikation, eine Rückseite gibt es nicht. Je nachdem, wie herum sie im Regal steht oder sie in die Hand genommen wird, erscheint das eine oder das andere Bild – zwei Seiten derselben Medaille; der Innenteil ist hälftig geteilt, das goldene Cover eröffnet den englischen, das Frauen-Cover den deutschen Teil. Die goldenen Objekte entpuppen sich als gebrauchte, nach dem Schießen übrig gebliebene Granathülsen, das „Model“ als israelische Soldatin in Uniform. Bei AMMO handelt es sich gleichermaßen um den mit vielen Essays bestückten theoretisch anspruchsvollen wie – bewusst – erschreckend kalten, Macht und Gewalt in Kunst und Design präsentierenden Katalog Unter Waffen. Fire + Forget 2 – das ist die „weibliche Seite“ / Under Arms – Fire + Forget 2 – die distinguierte „männliche Seite“ (vgl. Blumenstein et al. 2016). Dieser Katalog gehört zur gleichnamigen exzellenten, moralische und ethische Vorstellungen auf eine harte Probe stellende Ausstellung im Frankfurter Museum Angewandte Kunst (vgl. Blumenstein et al. 2016–2017). Sowohl die Ausstellung als auch der Katalog loten das Verhältnis zwischen offener und ebenso brutaler, aber versteckter Gewalt sowie Macht darstellenden und

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symbolisierenden Artefakten und Installationen aus. Ein Pendeln – und irgendwann ist nicht mehr klar, was schrecklicher und zugleich obszöner ist: das weiße Kaffeegeschirr von Antonio Murado, das mit riesigen Blutspritzern befleckt ist und den geschmacklosen Titel „Salomé“ trägt; oder Waffen, die sich jede_r mit Do-itYourself-Dekor im 3D-Printer ausdrucken kann. Oder ist es dann doch die mich ­fassungslos zurücklassende Installation der 70 Stills, die aus dem 2012 gefilmten Video Double Shooting von Rabih Mroué destilliert wurden: Der Libanese zeigt die Installation nach Handy-Aufnahmen eines Syrers, der offenbar seine eigene Erschießung filmte: Die Handy-Kamera „schießt“ Bilder desjenigen, der den Bilderschießer mit einer realen Waffe erschießt. In der Ausstellung wechseln solche ­Militär-, Kriegs-, Todes-„Installationen“ sich mit ins Modische verzerrten – je nach Interpretation – vulgären oder provokativen Designs aus der Innenraumgestaltung, Accessoires oder der Mode ab. Wie z. B. Philippe Starcks Gun Lamp, wahlweise erhältlich als Nachttisch-, Tisch- oder Stehleuchte, deren Sockel und Stand aus einem vergoldeten Gewehr besteht, auf dessen Spitze ein stinknormaler Lampenschirm montiert ist (vgl. Starck, Gun Lamp); die Tischversion ist gerade in Bars äußerst ­beliebt.

Military Fashion Bleiben wir noch einen Moment bei den Assoziationen des Militärischen, des Krieges, der Camouflage in zivilem Kontext. Da fällt einmal mehr sofort das Mode-­ Design ins Auge, das immer wieder einmal mit mehr oder weniger drastischen Anleihen aus dem Bereich des Militärischen aufwartet. Der Militär-Look verwandelt die Uniform in modische Kleidung und Accessoires: Cargo-Hosen, militärische lange, schwere Wintermäntel tauchen ziemlich regelmäßig immer mal wieder auf, schwere Schnürstiefel ebenfalls, außergewöhnlich ist da schon die Verwendung von Gelcoat, das ursprünglich bessere Gleiteigenschaften zur Optimierung im Yachtbau versprach, aber auch bei Flugzeugen und Autos mit GFK-Karosserien (aus Kunststoff) zum Einsatz kam und nun auch die zivile Kleidung veredelt. Gewöhnlich kommen diese Transformationen zwar eher und eindeutiger in der männlichen Mode vor – das Brachiale, Mächtige, Einschüchternde, das solche Kampf- und Kriegsmetaphern ausdrücken, folgt der gesellschaftlichen Konvention, Männlichkeit zu assoziieren. Aber Frauenmode ist nicht ausgeschlossen. Eine in Frauengröße elegant redesignte M43-Jacke speist sich aus folgender Tradition: „Die Feldjacke gehört zu der M-1943 Winterbekleidung (…). Sie fand noch lange nach dem 2. Weltkrieg Verwendung bei den US-Streitkräften (…).“ (Bausenwein Military Store)6 Diese Jacke lässt sich gut kombinieren mit an Waffen erinnernden Schmuck 6

M43 bezeichnet übrigens ursprünglich einen im 2. Weltkrieg eingesetzten Granatwerfer.

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(z. B. von Elkin, vgl. Elkin, London). Etwas harmloser gerät das Outfit, wenn lediglich die Farben sich dem Armee-Look anpassen: Das bräunlich-olivfarbene Grün gibt seine militärische Herkunft gleich im Namen preis: militärgrün, im Gestaltungskontext unter der Farbbezeichnung „RAL 6031“ bekannt. Und solange die Meere noch nicht gänzlich verschmutzt sind, haben wir es in der Mode noch immer mit dem feinen Navy-Blue zu tun. Aber auch schmutzige khaki- oder schlammfarbene Fashion gehört in das Spektrum von Militär und Krieg. Es handelt sich um Tarnfarben, die, je nachdem, wo sich Soldat_innen aufhalten, an die Umgebung angepasst werden: Im Dschungel braucht es andere Farben, um mit der Natur zu verschmelzen, als etwa in der Wüste. Der erste Golfkrieg, den die USA durch ihre Invasion auslösten, wurde im Jargon als „Operation Desert Storm“ bekannt, weil er eben in der Wüste Kuwaits stattfand und dementsprechend die hellen Khaki-Uniformen im Wüstensand ideal­typisch verschwanden. Und noch raffinierter werden mittlerweile dank neuer Technologien uniformierte Krieger_innen selbst im Farben- und Pattern-Chaos unterschiedlichster Umgebungen unsichtbar: Gepixelte Tarnmuster-Uniformen versprechen erfolgreiches Verstecken. Es ist erstaunlich, wie viele Tarnmuster seitdem entstanden sind: Multitarn- und Schneetarndruck (vgl. Rentzsch 2016, 8), Strukturtarnung wie beim „Ghillie-Anzug“ für Scharfschützen7, insbesondere aber sind die US-Tarnmuster mithilfe der Technologien weit entwickelt: „Gemäß der jüngst verkündeten ALARACT (All Army Activities) 0825/2015 kommt ab Juli die neue Army Combat Uniform (ACU) im jetzt Operational Camouflage Pattern (OCP) genannten Tarnschema in die Truppe. Das mittlerweile als OEF-Pattern bezeichnete, von der New Yorker Designerfirma Crye-Precision entwickelte Multicam und auch das grüngrau-digitale Universal Camouflage Patter (UCP) sollen zunächst für die Übergangsphase noch weiter getragen werden dürfen.“ (Strategie-Technik-Blogspot 2015)8 Nun klingt das alles für Militär-Unerfahrene womöglich recht kryptisch; ­bemerkenswert allerdings sind drei Dinge: Erstens wird hier im Kontext von militärischer Kampfkleidung bereitwillig von Design gesprochen und von einer „Designerfirma“ gestaltet; zweitens ist, genau wie bei ziviler Mode, von neuen Designs die Rede: „Die ACU durchlief nicht nur hinsichtlich des Tarnschemas Designveränderungen. So verfügt sie über einen modifizierten Kragen ohne klettbaren Verschlußsteg. Die Ärmeltaschen lassen sich über seitliche Reißverschlüsse öffnen, 7

8

Weibliche Scharfschützen im Militär gab es offiziell wahrscheinlich nur in der Roten Armee der Sowjetunion im 2. Weltkrieg (Ludmilla Michailowna Pawlitschenko gilt als die erfolgreichste und berühmteste, vgl. u. a. King 2013, Krylova 2010); und aktuell im syrischen Bürgerkrieg – aber nur bei den kurdischen Volksverteidigungskräften – (vgl. u. a. Nordhausen 2014). Crye Precision („Serving Those Who Protect Freedom“) bieten alles an, was Militär und für von diesem Look Angezogene begeistert: Apparel, Armor + Equipment, Stuff + Things, wie es auf der Website heißt. Besonders aufschlussreich: Ohne Überprüfung, lediglich durch die Versicherung der entsprechenden Käufer_in, wird bedenkenlos an beliebige Gruppen oder Individuen verkauft, die nichts mit dem Militär zu tun haben. Unter „Terms“ finden sich z. B. folgende Aussagen: „By purchasing body armor, you acknowledge and certify that (i) you have no felony convictions, (…), (iii) you do not intend to use the body ­armor for any criminal purpose and (iv) you are over 18 years old.”(Crye Precision)

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nicht mehr über Patten. Die Pattentaschen an Ober- und Unterschenkel lassen sich wieder mit Knöpfen statt Klettverschlüssen öffnen. (…) Zusätzlich werden noch die Farbe des Unterhemdes, des Hosengürtels und der Kampfschuhe von hell-sandfarben zu einem dunkleren ‚Coyote-Brown‘ verändert.“ (ebd.) Und drittens ist sich die US-Army sehr genau nicht nur der besten Tarnaspekte des Designs bewusst, sondern erschafft damit, wie ganz „normale“ Mode- und andere Unternehmen, eine präzise Corporate Identity (CI): „Ab dem 1. Oktober 2019 müssen (…) alle Soldaten (…) einheitlich mit der neuen OCP-Kampfbekleidung ausgestattet sein.“ (ebd.) Fast ohne Veränderungen (ausgenommen einige Wörter wie etwa „Soldaten“) könnten die Beschreibungen auch der Ankündigung der neuen Mode irgendeines Mode­ labels für die nächste Fashion Week entnommen sein. Überhaupt ist das gefährliche Zwillingspaar Tarnen und Täuschen eine der mächtigsten Kombinationen, die von Zeit zu Zeit und immer wieder aus dem militärischen in den zivilen Bereich überschwappen – nicht nur in der Mode. Manchmal sind es eben nicht, wie ich im Folgenden unter Genderaspekten noch zu spezifizieren suche9, die voluminösen Dinge, die mit Macht assoziiert werden. „Fragen nach der Veralltäglichung des Militärischen im Zivilen (wären) immer auch Fragen nach der Wirkungsweise geschlechtlicher Zuschreibungen und der Reproduktion von Geschlechterverhältnissen.“ (Tomberger)

9

Vgl. dazu Kap. Objektmacht, weiblich, S. 296 f.

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WIRKUNGSMACHT DER OBJEKTE Machtsymbolik und Machttransformation Macht kann überzeugend durch symbolische oder ikonische Eigenschaften ausgestrahlt werden, ohne dass damit unmittelbare Aktionen verbunden sein müssen: Einmal gelernt, dass Krone und Zepter Insignien der Macht sind, die gleichsam Staatsgeschicke zu lenken vermögen, oder dass das Kreuz christlichen Religionen zuzuordnen ist, die entsprechende Rituale und möglicherweise, allemal historisch, Macht zelebrieren, reichen die zu Inkarnationen der Macht geronnenen Artefakte aus, um Hierarchien zu akzeptieren oder Respekt zu zeigen (oder eben das Gegenteil: zu verweigern oder Widerstand zu leisten). Wichtig bleibt im Kontext gestalteter Objekte, Zeichen, Grafiken etc., dass die Sprache der Dinge bekannt, gelernt sein muss, damit sie generell einheitliche Reaktionen bei allen hervorruft. Menschen, die noch nie ein Gewehr gesehen haben und dessen Wirkung nicht einschätzen können, hätten wahrscheinlich keine Angst vor diesem Ding; erst wenn bekannt ist, was solch ein Produkt anrichten kann, verstehen wir die Sprache und fürchten uns, wenn es auf uns gerichtet ist, oder mögen uns mächtig fühlen, wenn wir es auf andere richten. Einmal erlernt, reicht also das bloße Objekt an sich selbst aus, Angst und Schrecken – wie in diesem Beispiel – zu verbreiten. Eine Schusswaffe braucht dann nicht tätig (bedient) zu werden, um Angst auszulösen. Aufgerüstete Polizei, die bei Demonstrationen oder Fußballspielen zahlreich zugegen ist, wird als potenziell Gewalt ausübend erkannt, bevor ein Schlagstock oder Wasserwerfer zum Einsatz kam. Das bedeutet: Hier bestimmen die Dinge an sich selbst, wie ­ihnen fernzubleiben oder sich ihnen gegenüber mit Bedacht zu verhalten sei – das Artefakt selbst hat seine Macht einverleibt und zugleich entäußert. Die Artikulation von Macht durch die Objekte selbst muss aber gar nicht so offensichtlich sein wie bei den zuvor beschriebenen Beispielen von Uniform, Waffe, Wasserwerfer oder auch Panzer. Diese Dinge sind uns aus zivilen bis kriegerischen Auseinandersetzungen bekannt, und wir wissen, selbst wenn wir solche Erfahrungen nie gemacht haben, wie gefährlich Situationen sein können, in denen diese ­Objekte eine Rolle spielen. Wo aber treffen wir in unserem ganz normalen Alltag auf Dinge, die so designt sind, dass sie machtvoll oder mächtig wirken? Diese rhetorische Frage ist leicht zu beantworten: so ziemlich überall. In unserem Alltag treffen wir permanent auf ­Produkte, die entweder Macht oder Mächtigkeit (häufig auch beides) aufgrund ihrer Produkteigenschaften ausstrahlen. Allerdings, wie zuvor erwähnt, konturieren Kontext und Erfahrung zusätzlich die Interpretation des Mächtigen. Hier mani­ festieren sich zwei widerstrebende Emotionen: Einerseits mögen sich Menschen mächtig fühlen, weil die Erweiterung der eigenen körperlichen und intellektuellen Fähigkeiten durch spezifische Artefakte Macht über die Dinge verspricht. Anderer-

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seits können Dinge, die den körpereigenen Maßstab überschreiten, dazu führen, sich ohnmächtig und schwach zu fühlen. Und schließlich kommt es darauf an, wer über bestimmte Objekte in welcher Situation verfügt: Eine Bohrmaschine in den eigenen Händen ist eine Form der Aneignung, die das Gefühl von Macht und damit Kompetenz vermittelt; umgekehrt kann die Bohrmaschine, die in der Tat formal einem Revolver ähnelt, in der Hand einer anderen Person bedrohlich wirken – und sie wäre ja potenziell auch als eine gefährliche Waffe zu benutzen. Weitere Beispiele: Motorradausstattung und -bekleidung können für Außenstehende in unangenehmer Weise dadurch mächtig wirken, dass die Person nicht nur aufgerüstet, fast gepanzert, sondern auch anonym, entpersonalisiert, inkognito wirkt, da das Gesicht unter dem Helm verborgen bleibt. Große, teure Autos, von vorn betrachtet, haben „Gesichter“ wie wilde, gefährliche, machtvolle Tiere: Die „Augen“ (Scheinwerfer) sind schlitzförmig in die Länge und nach oben gebogen, das wirkt aggressiv; und der „Mund“ (Kühlergrill) ist schmallippig, keinesfalls zu einem Lächeln verzogen. Im Gegensatz dazu stehen kleine Stadtautos (übrigens auch gern, wegen ihrer netten Harmlosigkeit als „Frauenautos“ tituliert), die dem Kindchenschema folgen: große Kulleraugen, Stupsnase, erstaunter Mund, alles ­andere als Macht versprühend.

Vergeschlechtlichte (Ohn)Macht Alle Produkte, Zeichen, Dienstleistungen, mit denen wir – entweder gezwungenermaßen – täglich konfrontiert sind oder mit denen wir uns – freiwillig – umgeben, sprechen zu uns immer auch vergeschlechtlicht. Diese Kommunikation ist hochkomplex und funktioniert nach dem bekannten Double-bind-Muster: Die immateriellen und materiellen Objekte versuchen mit allen Mitteln, unsere Aufmerksamkeit zu erregen: Sie dienen sich uns an, suchen uns zu verführen, mühen sich, ihren Nutzen unter Beweis zu stellen – und wir reagieren als geschlechtliche Wesen auf die materiellen und immateriellen Objekte, deren Funktionalität und Anmutung. Analysieren wir diese Artefakte unter dem Aspekt der Macht, so scheint klar: Alles, was sich im Kontext faktischer und symbolischer Objekt-/Produktmacht findet, ist männlich konnotiert. Als ich vor einiger Zeit begann, über Gender und Objektmacht nachzudenken, stellte sich mir bald die Frage, ob und, wenn ja wo sich Macht in weiblich konnotierten Objektkontexten überhaupt zeigt. Der erste Blick enthüllt: nirgends. Denn die mächtigen Dinge scheinen – mindestens in den westlichen Kulturen – ausnahmslos an das Konstrukt Männlichkeit gebunden. Hier bedarf es eines kurzen, gleichwohl bedeutsamen Einschubs: Es ist mir wichtig zu betonen, dass die Befragung vergeschlechtlichter Macht durch Objekte aus analytischen Gründen erfolgt, die für eine Gender-im-Design-Diskussion signifikant ist und bisher kaum verfolgt wurde. Für die Analyse ist es nicht von Belang,

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ob eine Verschiebung des Gender-Machtkonstrukts für wünschenswert gehalten oder prinzipiell problematisch bewertet wird. Denn es geht hier weder um eine Meinungsäußerung noch um eine Einschätzung zwischen gut oder schlecht, sondern um die Offenlegung der enormen Bedeutung, die gestaltete Dinge unter der Perspektive von Gender inkarnieren. Zurück zum unbalancierten Machtverhältnis der Dinge. Betrachten wir das übliche Gender-Marketing, das Männerprodukten Macht, Frauenprodukten infantile Süße – und damit Ohnmacht – zuschreibt. Zugegeben füge ich hier ein recht simples, nichtsdestotrotz wirkmächtiges Beispiel an: Nassrasierer. Beginnen wir mit den die Männer adressierenden Rasierern: Sie warten auf mit kräftigen Farben – schwarz, dunkelblau oder metallic- und Ferrari-rot-farben. Die markigen Formen sind klar, wenig Rundungen, dafür Griffe, die das Zupacken nahelegen. Und dann die langen Produktnamen: Power Select, Sword Quattro Titanium, Mach 3 Turbo oder Fusion Power Stealth (der von Designern für das US-Militär gestaltete „Stealth Bomber“ war bekanntlich aufgrund seiner Form für Radar unsichtbar). Die Namen glänzen mit physikalischer und mathematischer Kompetenz, und sie sind sehr schnell: Düsenjet, (Schall)Geschwindigkeit, Strömungsverhältnisse (die Mach-Zahl). Hinzu gesellen sich kriegerische Sportlichkeit (Schwert), ­zusätzlich verbirgt sich ein Automodell (Quattro) hinter der umständlichen Produktbezeichnung und, besonders machtvoll eingefangen, die Doppelbedeutung von Titan(ium): einerseits ein Metall, das besonders beständig und widerstands­ fähig ist und eine hohe Festigkeit bei geringer Dichte und einen hohen Korrosionsschutz aufweist; andererseits ein in der griechischen Mythologie verankerter Riese in Menschengestalt und ein mächtiges Göttergeschlecht. Der männliche Nassrasierer verspricht weit gefächerte Macht und bedient nahezu alle Stereotypen männlich-patriarchaler Herrschaft und Intelligenz.10 Schauen wir uns nun die drei Charakteristika Form, Farbe, Naming bei der weiblichen Zielgruppe an: Die Griffe sind entweder kreisrund oder elliptisch, die Farben ausnahmslos pastellig: lila, fliederfarben, pink, türkis. Auch die Ladyshavers stellen sich mit erstaunlich klischierten Namen vor: Venus Embrace Sensitive, Venus Breeze Spa, Intuition Sensitive Care, Lady Protector, Angel. Auch hier darf die mythologische Götterwelt nicht fehlen, nun in schierer Weiblichkeit: Venus, die römische Göttin der Liebe, Erotik, Sinnlichkeit, Schönheit, tauchte zuvor bereits als Aphrodite in der griechischen Mythologie auf. Sie geriet zum schwärmerischen ­Motiv vieler Künstler, allesamt männlich; das bekannteste und gelungenste dürfte Sandro Botticellis „Geburt der Venus“ (1484/85) sein – übrigens insofern ein Tabubruch,

10 Diese bewusste Vergeschlechtlichung von – in diesem Fall elektrischen – Rasierern der holländischen Firma Philipps reicht erstaunlich weit zurück, bis in die 1930er Jahre. Noch deutlicher differenziert sich die zweite Rasierer-Generation ab den 1950er-Jahren: Da gibt es – für welches Geschlecht wohl? – ein „Ei“-und ein „Lippenstift“-Modell. (Vgl. Van Oost 2003.)

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als es der erste weibliche Akt der Neuzeit war.11 Neben der Venus taucht als Nass­ rasierer-Benamung noch der Engel auf – heutzutage ein ebenso liebliches wie mittlerweile zum Weiblichen mutiertes Wesen. Und im weltlichen Kontext wird die Frau zur „Lady“ geadelt. Bezeichnend sind auch die weiteren diesen Grazien beigegebenen Verbindungen: Sinnlichkeit und Sensibilität verweisen auf das Feine und Ästhetische, weshalb auf jeden Fall ein Hauch, eine Brise, aus dem Wellness-Bereich herüberweht, um die Schönheit zu bewahren und zu schützen („Protector“); dazu passt die Umarmung doppelt: als eine der Schönheit innewohnende und sie zugleich umarmende Sinnlichkeit. Diese Begriffe verschmelzen ferner zu einem Konglomerat, in dem sich das Emotionale der Umarmung mit Schutz, Fürsorge, Pflege und weiblicher Intuition vereinigt – nur Empathie fehlt in diesem Kaleidoskop angenommener und zugemuteter weiblicher Kompetenzen und Interessen. Die Funktion männlicher und weiblicher Rasierer müsste sich in keiner Weise voneinander unterscheiden. Denn ihr einziger Sinn und Zweck ist es, Haare an ­unterschiedlichen Stellen aller Körper zu entfernen. Dazu bedürfte es wahrlich all dieser schmuckhaften Unterschiede nicht, und die Technik ist ohnehin die gleiche. Dieses schlichte Beispiel erhellt, dass kulturell weiblich überformte Produkte in der westlichen Welt offenbar per se nicht die Kraft besitzen, Macht zu demon­ strieren. Macht, da historisch so lange fast ausschließlich männlich besetzt, scheint eben deshalb an Vorstellungen von Männlichkeit zu kleben. In konsequenter Entgegensetzung zu solch patriarchaler Hegemonialität erscheint alles weiblich Konnotierte schwach, niedlich, sanft, harmlos. Vergewissern wir uns, perspektivisch anders gelagert, noch einiger anderer Macht und Mächtigkeit ausstrahlender Objekte und Aktionen. Ich habe im Netz ­erschreckend viele angeblich authentisch im Alltag so gesichtete Bilder gefunden, die notorische Vorurteile gegenüber als dumm (und meist blonden) denunzierten Frauen posten – die „Echtheit“ dieser Fotos ist nicht zu beurteilen, aber das ist im Kontext der Verunglimpfung von Frauen auch irrelevant: So oder so erfüllen sie ihre Funktion. Bei meinen Recherchen entdeckte ich viele Postings unter dem Motto „Yes, it’s a woman“ (vgl. u. a. funbanks und Circle City Communities), von denen ich hier zwei exemplarisch beschreiben möchte: Das erste Foto zeigt ein metallenes ­geschlossenes Garagentor, in dessen unterem Drittel lauter kleine horizontale ­Dellen zu sehen sind. Das ist nicht ungewöhnlich, gewiss sehen nach längerer Zeit viele Garagentore so aus. Den Clou liefert das so als Verkehrszeichen real existierende Parkplatzschild, das oberhalb der Dellen angebracht ist: das übliche weiße „P“ auf blauem Grund, gefolgt von dem Wort „Frauenparkplatz“. Damit die beiden Dinge – ein Garagentor und das Schild für einen Frauenparkplatz – zu einem Witz reüssieren, bedarf es dieser Kombination. Wäre auf der leicht verbeulten Garagentür 11 Der erste männliche lebensgroße Nackte in der Kunst nach der Antike war die in der Frührenaissance um 1430/40 erschaffene Bronze-Freifigur David von Donatello (Donato di Niccoló di Betto Bardi), vgl. u. a. Poeschel 2014, vgl. Hurschmann et al. 2000.

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l­ediglich das Schild „Parkplatz“ oder, noch drastischer, „Männerparkplatz“ angebracht worden, hätte niemand gelacht, sondern sich gefragt, wieso solch ein Foto gezeigt wird. Der Humor, wenn wir ihn denn so nennen wollen, funktioniert einzig und allein durch den Wortteil „Frau“. Sehr ähnlich stellt sich der Witz im zweiten Bild dar: Von oben fotografiert, ist ein Parkplatz zu sehen, auf dem parallel verlaufende Markierungen die jeweilige Parklücke markieren. Bis auf einen Platz sind alle anderen ordentlich belegt, nur die eine Ausnahme irritiert: In einer Parkbucht zwischen den vielen anderen steht ein kleines Auto quer, d. h. im rechten Winkel zu den Markierungen und Autos. Des Weiteren sind zwei Personen auf dem Weg zu ihren jeweiligen Autos zu sehen, die eine männlich, die andere weiblich. Die Frau geht auf das quer geparkte Auto zu, das Auto und sie sind in einem von dem Verursacher des Posts markierten Kreis eingefangen, und am unteren Ende des bearbeiteten Fotos findet sich der fett in Gelb geschriebene Satz: „Yes, it’s a Woman!!!“ (vgl. Circle City Communities) Und wieder geht der Witz auf Kosten des weiblichen Geschlechts, eine andere Lesart als die, dass Frauen eben ihre Unfähigkeit und Dummheit in vermeintlich männlichen Kompetenzbereichen (hier: Auto) demonstrieren, kann es nicht geben. Bisher also mussten wir feststellen: Als gefährlich erkannte und erlernte Objekte z. B. aus den Bereichen Militär, Polizei, Sicherheit, Kriminalität inkarnieren männliche Macht, selbst dann, wenn sie aus ihrem ursprünglichen Funktionskontext herausgelöst und in andere, harmlosere – z. B. in Mode – transformiert werden. Technische, naturwissenschaftliche und potenziell Gewalt ausübende Objekte – und seien es nur die entsprechenden Wörter – sind ebenfalls exklusiv mit männ­ licher Macht verbunden. Dagegen entpuppen sich weiblich konnotierte Objekte entweder durch in Formen, Farben und Namensgebung harmlose Sanftheit, Hege-, Pflege- und Schönheitsaktivitäten suggerierend, oder aber die Umgangsweisen mit „männlichen“ Artefakten sind ungeschickt, inkompetent, dumm; und damit wirken beide, Objekte und Frauen, in Ohnmacht aneinandergekettet. Versuchen wir nun kurz einen experimentellen Rollentausch: Was geschieht, wenn die machtlosen Objekte und Handlungen Männern zugeordnet werden? Auch hier wieder ein Objekt und eine Handlung, die sich auf der gleichen Ebene wie die zuvor erwähnten abspielen – nun allerdings haben die Objekte einen Genderswap durchlaufen und sind die Aktionen der Männer „verweiblicht“. Auch diese Beispiele fand ich im Internet. Vor einer gekachelten Wand, die mit hübschen Sonnenblumen bemalt ist, befinden sich zwei Urinale, die formal aussehen, wie diese Nutzgegenstände eben aussehen. Das Ungewöhnliche artikuliert sich allein in den Farben und einem kleinen zusätzlichen Accessoire: Die Keramikbecken leuchten in expressivem Pink und Türkis, der Knopf der Wasserspülung in Lila. Als mädchenhaftes Sahnehäubchen sind den Wasserrohren der Spülung hellrosa Schleifchen umgebunden. Ein männliches Objekt par excellence wird durch eine so oberflächliche Veränderung wie eine andere Farbe und ein Schmuckband lächerlich, komisch. Und zwar deshalb,

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weil Farben und Schmuck so eindeutig weiblich assoziiert sind, dass das mannhafte Objekt, in das sich ansonsten häufig im Wettstreit die Urinbögen entleeren, plötzlich schwach und dumm wirkt. Umgekehrt also bedeutet das die Ohnmacht dessen, was gesellschaftlich als eindeutig der weiblichen Sphäre zuzuordnende Merkmale konstruiert ist. Bei dem zweiten Beispiel nehmen Männer Posen ein (ich vermute, in diesem Fall als kritisch-lustige Performance bewusst inszeniert), die in diesem Kontext ausnahmslos als weiblich gelten – typische Posen, wie sie auf Auto-Shows oder in pornografisch angehauchten Pin-up-Kalendern zu sehen sind: Mehrere Frauen im engen weißen Top, kurzen roten Miniröckchen und in Stilettos räkeln sich lasziv auf dem und um das Auto herum. Auf dem zweiten Bild stellt sich eine Gruppe von Männern genauso in Positur – allerdings mit einem weitaus schäbigeren Auto. ­Intelligent, weil so der eigentliche Fokus – das Posieren – erhalten und nicht durch Bilder wie aus albernen „Klamottenfilmen“ abgelenkt wird: Die Männer haben sich nicht wie Frauen verkleidet, sondern deren Kleidung männlich nachgeahmt: weißes T-Shirt oder Unterhemd, rote Sport-Shorts. Der Effekt ist auch ohne Anschauungsmaterial gut nachvollziehbar: Die Inszenierung strahlt weder Attraktivität noch gar Erotik aus, sondern beeindruckt einmal mehr nur durch Lächerlichkeit. Es ergeht den durch Männer imitierten weiblichen Posen ebenso wie den „verweiblichten“ männlichen Objekten: Sie wirken dämlich, bestenfalls bizarr. Das Prinzip funktionierte übrigens andersherum keineswegs: Eine Frau, die raumgreifend „männlich“ posiert, ein schweres Motorrad oder einen Panzer lenkt, wirkt womöglich einschüchternd, befremdlich oder mutig, mitnichten aber lächerlich. Das bedeutet: Eine „Verweiblichung“ von Dingen und Handlungen erscheint nie mächtig, sondern harmlos, niedlich, schwach, fragil etc., während eine „Vermännlichung“ stark macht, ermächtigt.

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DEKORATION VERSUS TECHNIK Ornamente der Weiblichkeit „When Sir George and Lady Lyttleton were planning to have a new house built, Lord North summed up drily their attitude: ‘If it is an Italian house, it is My Lady’.“ (Cunningham 1994, 63). Die Sehnsucht nach einem italienischen Architekturstil, wie er sich im England des 18. Jahrhunderts findet, war offenbar eine weibliche. Gegen die burgähnlichen Schlösser oder – nomen est omen – die englischen Herrensitze, die abweisend, von dicken grauen Mauern umgeben, daherkamen, wurde die rö­ mische Villa oder auch der Palladianismus genannte klassizistische Baustil eines Andrea Palladio zum Inbegriff des Anderen: Harmonie und Proportionen fein austariert, strahlten seine Gebäude helle Eleganz aus. Hier wird eine Differenz kenntlich, die ich, vielleicht etwas überspitzt, als männliche Machtdarstellung durch voluminöse und trutzige Mächtigkeit hier und lichte, zierlich anmutende Leichtigkeit dort charakterisieren möchte. Bereits im Kapitel Orte – Räume – Gender (vgl. Bürgerliche Idylle, S. 071 f.) wurde deutlich, wie sehr die Kompetenz der Frauen im 19. Jahrhundert auf die Dekoration des gemütlichen Heimes mit Textilien, schön ausgesuchten Farben, Stickereien etc. als „naturhaft-weiblich Wesenhaftes“ reduziert und marginalisiert wurde. Die Kompetenzzuschreibung hat sich keineswegs radikal verändert, auch heute noch wird Frauen ein „Händchen“ fürs Dekorative nachgesagt. Und beim Dekor ist auch das Ornament nicht fern, das allzu häufig und vorschnell mit Oberflächen-Aufpeppung gleichgesetzt und entsprechend als kitschig abgewertet wird. – Insofern haben wir einmal mehr den Gleichklang von Dekor und Weiblichkeit, und dies a priori mit ­einer gewissen Abschätzigkeit, bestenfalls als nettes Hobby akzeptiert. Nicht unversehens, dass Adolf Loos in seinem geradezu präfaschistisch zu ­bezeichnenden Rundumschlag gegen das Ornament zwar nicht nur auf die Frauen eindrosch, sondern auch viele seiner Architektur- und Gestaltungskollegen anfeindete, aber dennoch Frauen als rückständig und lediglich auf ihre Erotik reduziert wahrnahm; und im Ornament sah er das Primitive (wie bei „primitiven“ Völkern) par excellence inkarniert: „Die kleidung der frau unterscheidet sich äußerlich von der des mannes durch die bevorzugung ornamentaler und farbiger wirkungen und durch den langen rock, der die beine vollständig bedeckt. Diese beiden momente zeigen uns, daß die frau in den letzten jahrhunderten stark in der entwicklung zurückgeblieben ist.“ (Loos 1962/1898, 161) Aber er war zuversichtlich, dass die ­Zukunft auch die Frauen zur Vernunft bringen würde, wobei er – höchst widersprüchlich – rechte Idiologeme mit Forderungen vermischte, die durchaus auch jene der bürgerlichen Frauenbewegung um die Jahrhundertwende waren: das Recht auf Erwerbs­ arbeit, Berufsausübung für Frauen: „Nicht mehr die durch den appell an die

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sinnlichkeit, sondern die durch arbeit erworbene wirtschaftliche ­unabhängigkeit der frau wird eine gleichstellung mit dem manne hervorrufen. Wert oder unwert der frau werden nicht im wechsel der sinnlichkeit fallen oder steigen. Dann wird die wirkung von samt und seide, blumen und bändern, federn und farben versagen. Sie werden verschwinden.“ (ebd., 163 f.) Diejenigen, die das Ornament nicht verdammten, sondern im Gegenteil sogar lobten und entwarfen, waren für ihn Verbrecher (gegebenenfalls wohl auch Verbrecherinnen): „die nachzügler verlangsamen die kulturelle entwicklung der völker und der menschheit, denn das ornament wird nicht nur von verbrechern erzeugt, es begeht ein verbrechen dadurch, daß es den menschen schwer an der gesundheit, am nationalvermögen und also in seiner kulturellen entwicklung schädigt.“ (Loos 1997/1931, 281) Loos beschwerte sich sogar noch, dass seine weltweisende Analyse des verbrecherischen Ornaments nicht mit Jubel begrüßt wurde. „ich habe folgende erkenntnis gefunden und der welt geschenkt: evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornamentes aus dem gebrauchsgegenstande. ich glaubte damit neue freude in die welt zu bringen, sie hat es mir nicht ­gedankt.“ (ebd., 277) Der ansonsten so kluge Walter Benjamin ist in ­diesem Fall – nämlich dem Kampf zwischen Technik/Funktionalismus und Kunst/­ Ornament betreffend – auf Adolf Loos hereingefallen. Er attestierte dem Jugendstil einen ideologischen Technik-Einsatz, mit dem die Jugendstil-Ornamentik gerettet werden sollte: „Der Jugendstil ist der zweite Versuch der Kunst, sich mit der Technik auseinanderzusetzen. (…) Er begriff sich nicht mehr als von der konkurrierenden Technik bedroht. Umso aggressiver fiel die Auseinandersetzung mit der Technik aus, die in ihm verborgen liegt. Sein Rückgriff auf technische Motive geht aus dem Versuch hervor, sie ornamental zu sterilisieren.“ (Benjamin 1982 d, V/2, 692) Aber auch weniger obsessiv-wütende Gestalter wollten das Ornament zumindest für eine Weile suspendieren: „(…) it would be greatly for our aesthetic good if we should refrain entirely from the use of ornament for a period of years, in order that our thought might concentrate acutely upon the production of buildings well formed and comely in the nude.“ (Sullivan 1979 a, 187) Der Architekt Louis Sullivan kombinierte die angestrebte „Nacktheit“ der Gebäude immerhin noch mit einem „anmutigen“ oder gar „hübschen“ (comely) Adjektiv. Das hätte Loss zweifellos auch schon nicht mehr gelten lassen. Was offenbar beide Gestalter – und sie waren zwei unter vielen – durch Ornamentlosigkeit zu überwinden trachteten, war die als überladen verachtete Fassade, die sie als lediglich der Repräsentation dienende schale Oberfläche verdammten. Vergleichbar einer Frau, die wie ein lebendiges Schmuckstück repräsentiert und repräsentiert wird. Das hat Veblen am Ende des 19. Jahrhunderts sehr klar und ebenso kritisch erkannt: „Her (the woman’s, d. Verf.) sphere is within the household, which she should ‘beautify’, and of which she should be the ‘chief ornament’.“ (Veblen 1970, 126) Die Frau wird also zu einer „mobilia“, zu einem beweglichen Eigentum des Mannes. So wurde die Frau, entgegen sonstiger Stereotype, noch nicht einmal selbst der Schmuck-Verliebtheit verdächtigt, sondern sie, die Frau, wurde als Haupt-Dekor ausgestellt – ein Ornament, das der Mann

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sich wie eine Trophäe leistete, um sich selbst im Kontrast zur Frau als die die sozio-ökonomische und technische Sphäre Repräsentierender und der Erwerbswelt Angehöriger zu manifestieren. Schauen wir nun kurz auf die beiden einzigen Frauen, die in den 1920er-Jahren am Bauhaus eine einigermaßen verantwortliche Position innehatten: Gunta Stölzl wurde 1925 nicht gleich als „Lehrerin“, sondern zuerst nur als „Jungmeisterin“ der Weberei eingestellt (vgl. Neurauter 2013, 325), und Marianne Brandt war kommis­ sarische Leiterin der Metallwerkstatt (vgl. Weber/Weber 2005), ein deutlich weniger typisch weiblicher Bereich als die Weberei. Obwohl beide so wichtig auch für die professionelle Zusammenarbeit mit der Industrie waren, wurden sie nicht sonderlich respektiert. Die Weberei wurde als reine Frauenklasse errichtet, und Stölzl selber ­reproduzierte das Klischee von Frauen, die für diese Art der Arbeit geeignet seien: „Die Weberei ist vor allem Arbeitsgebiet der Frau. Das Spiel mit Form, Farbe, ge­ steigertes Materialempfinden, starke Einfühlungs- und Anpassungsfähigkeiten, ein mehr rhythmisches als logisches Denken sind allgemein Anlagen des weiblichen Charakters, der besonders befähigt ist, auf dem textilen Gebiet Schöpferisches zu leisten.“ (Stölzl 1997, 42) In diesem kurzen Statement finden sich leider alle Stereotypen zur Beschreibung des „Wesens der Frau“, das sie zutiefst vom Mann unterscheidet: Die Frau spielt eher, als dass sie arbeitet, das Weiche, Textile, Dekorative ist ihre Domäne; sie empfindet, fühlt sich ein, passt sich an, denkt nicht logisch – und das alles sind ihre Anlagen! Diese Selbstdiskriminierung ist umso unverständlicher, als die Weberei zu einer der produktivsten und zukunftsweisendsten Werkstätten wurde, die traditionales Kunstgewerbe innovativ ablöste und sich in modernes Industriedesign verwandelte. „Sie (die Werkstatt, d. Verf.) hatte auch so großen kommerziellen Erfolg, dass sie repräsentativ für das ganze Bauhaus wurde.“ (Müller, 2009 b) Das wiederum missfiel den Bauhaus-Patriarchen trotz der Einnahmen, die für das Bauhaus sehr wichtig waren. Dafür bemühte der Bauhaus-Gründer Walter Gropius das Stereotyp der zu schweren Arbeit und legitimierte sowie marginalisierte damit zugleich die „Frauenabteilungen“: „Nach unseren Erfahrungen ist es nicht ratsam, daß Frauen in schweren Handwerksbetrieben wie Tischlerei usw. arbeiten. Aus diesem Grunde bildet sich im Bauhaus mehr und mehr eine ausgesprochene Frauenabteilung heraus, die sich namentlich mit textilen Arbeiten beschäftigt, auch Buchbinderei und Töpferei nehmen Frauen auf. Gegen die Ausbildung von Architektinnen sprechen wir uns grundsätzlich aus.“ (Baumhoff 1999, 102) Zu beachten ist auch ­jener Pluralis Majestatis des „Wir“, das wie selbstverständlich das Männerbündnis besiegelte, in dem Frauen weder etwas zu sagen noch zu suchen hatten. Und so ist es nicht verwunderlich, dass für Frauen wie Gunta Stölzl bereits damit alles erreicht schien, sich überhaupt am Bauhaus zu behaupten und so weit aufzusteigen. Deshalb schaffte sie es nicht, ihre Leistungen und die der mit ihr arbeitenden Frauen adäquat bewerten. „Die geschlechtsspezifischen Konnotationen von Textilarbeiten und ihre gesellschaftliche Funktionalisierung blieben im Bauhaus weitgehend unreflektiert, was eine effektive Aufwertung verhinderte.“ (Felix 2010, 30)

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So viel hat sich seitdem gar nicht verändert: Alles, was mit Schmuck – aus­ genommen in den Körper implantierter wie etwa Tatoos –, Ornament, weichen Materialien, Gefühl für Formen und Farben assoziiert wird, lässt Frauen aufscheinen. Deshalb hier einige aktuelle Zitate, die Einrichtungstrends für 2017 zu identifizieren meinten: „Today we bring more Home Decor Trends 2017 with the lovely ­femininity of Pastel Pink for Home Interiors.“ (Room Decor 2016) „Pastel Pink“ ist hier nicht nur ein fahles Rosa, sondern es wird zu einer benamten, gebrandeten Farbe, was an der Großschreibung ersichtlich wird. Und gewiss wäre eine „entzückende“ oder „allerliebste“ Maskulinität unvorstellbar, diese Adjektive funktionieren nur als „lovely femininity“. Aber weiter im Text: „The magic of this color trend for 2017 is that the Pale Pink can be used in every single room decoration inside home interiors. It can be the color of an accent chair on a living room, like ‘Audrey Chair’ by ‘Koket’. The feminine velvet armchair has a modern design (…)“ (ebd.) Audrey ruft die fragil-feminine Audrey Hepburn in Erinnerung, die in dem Film„Frühstück bei Tiffany“ der Inbegriff einer entzückenden, gleichwohl eleganten, den Luxus liebenden jungen Frau war (auch wenn sich am Ende herausstellt, dass dies nur kompensatorische Eskapaden eines unglücklichen jungen Mädchens waren, die dann den Wert wahrer Liebe kennen- und schätzen lernt, so bleibt doch eher das süße, durchaus sympathische Luxus-Mädchen im Gedächtnis) ; Koket ist dann, trotz Fehlschreibung, der dazu passende Unternehmensname. Und zum Glück handelt es sich bei dem femininen Sessel auch noch um „modernes Design“. Der weiblich dekorierte Innenraum hat kaum etwas von seiner erdrückenden Konventionalität und Stickigkeit der historischen Intérieurs verloren.

Funktion(alismus) der Männlichkeit Der bürgerliche Männerkörper hingegen, der organisiert, verwaltet, plant, erfindet, vor allem aber profitiert, Geld macht, investiert – der demonstriert seine Macht durch zunehmende Schmucklosigkeit. „Peu à peu legt die Männermode so alles Herausstechende, alles Phantasievolle und Überraschende ab. (…) Das Durchsetzen dieses radikalen Puritanismus war kein müheloses Unterfangen (…). Die Kunst des Kunstlosen will gelernt sein. Es wird eine männliche Wissenschaft für sich.“ (Vinken 2013, 57) Und so wird das Ornament zum „unmännlichen“ Element, zu überflüssigem Schnick-Schnack, eben zu typisch weiblicher Staffage. Louis Sullivan war Mitbegründer der Chicagoer Schule, also jener Architekten am Ende des 19. Jahrhunderts, die die ersten Skyscrapers entwarfen und bauten, da inzwischen die technischen Voraussetzungen (u. a. Stahlskelettbau, Feuerschutz, Fahrstühle) für – zu dieser Zeit als hoch erachtete – Gebäude (von um die 10 Etagen und ca. 40–50 m hoch) entwickelt worden waren (vgl. Condit 1964, insbes. 127–140). Und diese Hochhäuser hatten klar strukturierte Formen, die Fassaden waren

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­gerastert, horizontal und vertikal mit sich kreuzenden rechtwinkligen „Linien“, die aus Fenstern in Reih und Glied mit sie unterbrechenden schmucklosen Pfeilern aus Stein bestanden. Es ist Sullivan, dem der bis heute von Gestaltungsprofis in ­aller Welt zitierte und von vielen noch immer gepriesene FFF-Satz zugeschrieben wird (obwohl dieser ihn offenbar von seinem Büro-Partner Dankmar Adler zitierte und auch dieser nicht der Erste war) (vgl. Wikipedia): Form Follows Function. Ein Gebot, das sich seitdem nicht nur auf Architektur, sondern auf die gesamte Welt der Gestaltung, vom Kleinsten bis zum Großen, beziehen sollte. In jedem Artefakt soll also die Funktion ausschlaggebend sein, dem die Form dann lediglich zu folgen habe, oder umgekehrt: Sofern der Primat der Gestaltung eindeutig auf der Funktion läge, ergäbe sich daraus geradezu automatisch die entsprechende und angemessene Form. „Whether it be the sweeping eagle in his flight or the open apple-blossom, the toiling work-house, the blithe swan, the branching oak (…), the drifting clouds, over all the coursing sun, form ever follows function, and this is law. Where function does not change form does not change.“ (Sullivan 1979 b, 208) Erstaunlich, dass Sullivan ausgerechnet die Natur einerseits geradezu schwärmerisch als Zeugin anruft und andererseits den Leitsatz zum ewig gültigen Gesetz erklärt, wenn doch die gebaute Umwelt genau den Eingriff in die Natur per Gestaltung bedeutet. (Abgesehen davon, dass wahrscheinlich die Artefakte, insbesondere, wenn sie so hoch in den Himmel ragen, eben jener angepriesenen Natur potenziell den Garaus machen, indem etwa Vögel dagegen prallen.) Und seine Vorstellung, dass ohne Funktionsänderung sich die Form ebenfalls nicht veränderte, ist schlicht naiv. Davon zeugen unzählige, einige gelungene und viele weniger gelungene Produkte, in denen sich das Marketing gegen das Design durchsetzt („wir brauchen schnell was Neues, das irgendwie anders aussieht“). Viel wichtiger aber: Was heißt Funktion, wer verfügt über die Interpretationsmacht? So entsteht eine self-fulfilling ­prophecy: Die als männlich geltende, von Männern behauptete und erzeugte ­Funktionalität ist eben der männlichen Vorstellung, ihrer Erfahrung mit Funk­ tionalität geschuldet, die sodann als natürlich, objektiv oder logisch behauptet wird. Wenn wir Technologie gesellschaftlich als männliche konstruierte Kultur begreifen, bedeutet dies, „that designers are inadvertently constructing masculinely symbol­ically gendered technology, and that this impacts how technology is ultimately used if it is at odds with Individual Gender“. (Rode 2011, 397) Funktion und Funktionaliät sind durchaus wichtige Kategorien für den Prozess des Entwerfens. Denn angeblich legitimiert sich ein Gestaltetes (gleichgültig, ob zwei-, dreidimensional oder digital) dadurch, dass es für die Nutzenden einen Gebrauchswert hat, dass also seine Benutzung funktioniert.12 „Man drückt auf einen Knopf, und es funktioniert, man nimmt etwas in die Hand, man betrachtet etwas, man legt den Hebel um, oder man setzt sich drauf: und es funktioniert, man kann trinken, man versteht oder kann wenigstens lesen, der Motor läuft, man sitzt. 12 Denn die lat. functio meint ja erst einmal ganz pragmatisch-neutral nichts anderes als „Verrichtung“.

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Als sei alles in der Sache selber vorgegeben und nur in dieser einen Weise ergiebig. Und die Form, also die Gestaltung, habe dieser Funktion zu folgen. Als sei die Funktion ein Mythos, ein Transzendentes, etwas stets Vorgelagertes, das immer schon anwesend sei und im Design lediglich umgesetzt oder realisiert werden müsste.“ (Erlhoff 2013, 65) Dieser Mythos verdichtete sich sodann im Funktionalismus, der angeblich der reinen Sachlichkeit und der schlichten Zweck­form verpflichtet war. Architektur und Design begannen mit der Gründung des „Deutschen Werkbundes“ und dessen interner Auseinandersetzung um künst­lerisches Handwerk versus industrielle Massenproduktion. „An den wichtigsten Persönlichkeiten der Gründungs­ phase zeichneten sich die kommenden Konflikte ab. Wenn Henry van de Velde für eine Reform der Künstlerausbildung eintrat, in der Künstler mit Handwerkern zu einer angewandten Kunst fanden, war der spätere Streit um Maschinenform bereits vorprogrammiert.“ (Flick 2005, 237) In all diesen Auseinandersetzungen spielten Frauen überhaupt keine und nachfolgend im Bauhaus als isolierte eine vollkommen untergeordnete Rolle, wie zuvor beschrieben. Der Funktionalismus etabliert sich als und bleibt ausschließlich männ­licher Herrschaftsbereich, ist aber ein höchst ideologisches Konstrukt. „Der sich so neutral und vorurteilsfrei gebende Funktionalismus ist selbst hochkulturell g ­ eladen. Es ist ein technizistisches Weltbild, die das Ding, das Haus, zu einer ‚­Maschine‘ macht, die vom Nutzer einseitige Verhaltensanpassung abfordert.“ (Hörning 2012, 31) Betrachten wir, wie zuvor bei den „ornamentalen Frauen“, auch hier ein aktuelles, als Trend bezeichnetes männliches Beispiel aus der Design-Welt stereotyper Geschlechterwohnräume: „When we talk of masculine spaces, most of our readers tend to think about either shabby bachelor pads that seem to exude a sense of chaos, or sterile spaces that borrow from an uber-minimal and almost futuristic theme. Yet masculine living rooms can be a lot more than these mere stereotypes, and they also can convey a sense of warmth, elegance and diverse styles and themes. A carefully curated masculine living room is far easier to create than ones with ­feminine touches, and the overall ambiance often seems more apt for public spaces.“ (­Nothingam 2014) Die Autorin beschreibt männliche Klischees anfangs als ­genau solche: entweder schäbig, chaotisch oder steril, über-minimal, futuristisch, um im Folgenden beruhigend darauf hinzuweisen, dass selbst männliche Räume einen Hauch von Wärme und Eleganz aufweisen „dürfen“. Mit dieser Betonung verschärft sie aber nur die männlichen Räume als geschlechterspezifische Differenzwelt, die darin gipfelt, dass diese sich besser als öffentliche Räume eignen. Und schließlich ist das Design für Männer offenbar einfacher als die Gestaltung feminier Räume. – Zahllose andere Lifestyle- und Wohnmagazine bezeugen im Übrigen die Nähe männlicher Räume zu technikaffinen, mit machtvollen Attributen versehenen Ausstattungen und Accessoires sowie dunklen Farben.

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(Don’t) Do It Yourself Wer sich diese „Bachelor Pads“, wie die „Junggesellen-Buden“ im Englischen heißen, nicht leisten kann oder doch lieber der Selbstverwirklichung frönen möchte, der mutiert zum enthusiastischen Heimwerker. Das Phänomen des Selbermachens und die Liebe dazu tauchen immer mal wieder in Wellenbewegungen auf. Seit einiger Zeit scheint es wichtiger denn je zu sein; allerdings existiert zugleich eine Placebo-Aktivität, in der sich die eigene Kreativität in kompensatorischer Beobachtung des Do-it-Yourself-Prinzips erschöpft. Unzählige Fernseh- und Internetangebote führen Selbstgemachtes vor: Backen, Kochen, Stricken, Häkeln, Basteln, Bauen, Reparieren, Malen, Schneidern, Schminken, Gärtnern – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.13 In Zeiten zunehmender Unübersichtlichkeit, Technologisierung, potenzieller Enteignung von den eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten und deren Überantwortung an anonyme Maschinen und Softwares erscheint das Idealbild einer gesicherten, harmonischen Welt am Horizont, in der die Selbstverfügung über die eigenen Geschicke auch als ­Geschicklichkeit, Talent, Kreativität ersehnt wird. Der Wunsch nach Authentizität, das Glücksgefühl, etwas Gelungenes selbst hervorgebracht zu haben, ist eine starke Emotion. Aber offenbar reicht es schon – sei es aus Zeitrestriktion, aus Unvermögen oder mangelnder Erfahrung –, wenn besagte Sendungen geschaut und gege­ benenfalls die Materialien besorgt werden. Deutlich wird das bei den allseits und mittlerweile bei vielen Geschlechtern beliebten Kochsendungen und Rezepttipps, die begeistert geschaut, aber dennoch nicht selbst umgesetzt werden. Und dennoch gibt es sie, die kreativen Macher_innen. Der im Tiefsten immer noch ureigene Männertraum der Herstellung (meist eher nutzloser) Dinge mit den eigenen Händen durchs Heimwerken trägt einen höchst ideologischen Kern: die Idealisierung vergangener Zeiten, in der die Entfremdung des Menschen von seinem Produkt angeblich noch nicht erfunden worden war und das Handwerken in friedlicher und selbstzufriedener Form stattfand. Jürgen Habermas hat diese pseudoromantische Verzerrung verelendeter Verhältnisse schon 1958 gegeißelt, als er das Heimwerken eine „gesellschaftliche Fehlleistung“ nannte (Habermas 1958, 226). Heubach hat eine sehr feinteilige Analyse des Heimwerkers geliefert (der ihm – zu Recht, aber gewiss nicht reflektiert – in allein männlicher Gestalt entgegentrat) (vgl. Heubach 2002, 141–145). Seine Interpretation jedoch – und darin unterscheidet sich meine Argumentation deutlich – birgt bei aller analytischen Kompetenz ein so empathisches und positives Moment, dass ich geneigt bin, ihm Sympathien für diese merkwürdig-männerbündlerische Verschworenheit zu unterstellen. Eigentlich unverständlich, da Heubach die wesentlichen Merkmale des Heimwerkens in einer präzisen Beweisführung darlegt, die die Nutz- und Sinnlosigkeit so deutlich heraus13 Es wäre lohnend zu recherchieren, wie viele dieser Angebote und Tipps sich an welche Gender-Gruppe wenden.

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stellt bzw. die psychologischen Implikationen enthüllt: „So kann mit ihm (dem Heimwerken, d. Verf.) dinglich angeeignet werden, was tätig zu realisieren immer ­weniger möglich wird.“ (ebd., 142) Wichtig ist dabei die Zufriedenheit über die Ab­ arbeitung am Material zwecks „Herstellung von Verbindungen“ (ebd., 143), was die Person mit dem Material und dem Objekt verschmilzt. Das vielleicht bedeutsamste Phänomen, das die männliche Selbstverwirklichung vor aller weiblichen auszeichnet, ist das Prinzip, die selbstgemachten Dinge nicht fertig werden zu lassen. Immer bleibt noch etwas zu tun, was aus den Männern unerfindlichen Gründen diese Fertigstellung verhindert hat. Heubach argumentiert umfassend und erschließt damit das Kuriosum Heimwerken des Heimwerkers detailliert damit, dass „ihm (dem Werk, d. Verf.) den letzten Handgriff, seine Vollendung vorenthaltend, beläßt der Heimwerkende das von ihm hergestellte Ding sozusagen auf ihn angewiesen und versucht er, es als sein Werk und damit zugleich sich als dessen Autor kenntlich zu erhalten. In dieser Strategie des Imperfekten die Vollendung seines Werkes aussetzend, verhindert der Heimwerkende, daß es sich in ein ‚Objekt‘ verwandelt, das in seiner Perfektion die Autorenschaft und damit seine Individualität negiert, deren Veranschaulichung doch das Motiv des Sich-ins-Werk-Setzens bildete.“ (ebd., 144) Unbeschadet dieser psychologischen Obsession des Nie-fertig-Werdens gelten die Do-it-yourself-Macher als funktionale Handwerker, die Geld sparen, wenn nicht ­extern gefertigte Möbel gekauft und das Haus oder die Wohnung selbst umgebaut werden. Beispielhaft hat dies der Baumarkt Hornbach erkannt, dessen Slogans eindeutig den nie zu Ende gebrachten männlichen Hobby-Prozess beschreiben: „Es gibt immer was zu tun“, „Es ist in dir. Lass es raus“, „Wie viel Wahnsinn steckt in dir?“ Es ist nicht zu kühn zu behaupten, dass dem eher weiblich konnotierten Phänomen des Selbermachens die unabdingbare Vollendung der Tätigkeit eingeschrie­ben ist. Nicht nur, weil die Materialien, mit denen Frauen überwiegend hantieren, weiche und zum Teil verderbliche Stoffe sind (wie etwas Lebensmittel), sondern auch, weil bei ihnen die Idee, etwas nicht zu Ende Gefertigtes herumliegen zu lassen, höchstes Unbehagen auslösen dürfte. Denn die trainierte und sozialisierte Verantwortlichkeit für das Konzept einer häuslichen Ordnung schlägt habitualisiert auch auf die Hobby-Bereiche durch. Zudem eignet Frauen ein gewisser Pragma­tismus, vermischt mit Stolz, gegenüber ihren Schöpfungen: Ein selbst gestrickter P ­ ullover will auch getragen werden, und deshalb braucht es das fertige Produkt. Und schließlich haben Frauen meist keinen Heimwerker-Keller oder einen eigenen abgeschiedenen Bereich, sodass verstreute Einzelteile keine Heimat fänden, sondern lediglich Unordnung verschärften. Die amerikanische Künstlerin Lisa Anne Auerbach, die in ihren Arbeiten provokative politische Statements in ironischen Strickobjekten verpackt, setzt sich ­vehement und mit guten Argumenten gegen diese ganze Do-it-yourself-Kultur – sei sie männlich oder weiblich geprägt – zur Wehr. Sie begreift sie als Enteignung und Pervertierung eines einst als anti-konsumistisches, aktivistisches und ethisch kommunitäres Projekt. „Now it means going into debt at mega-stores, consuming more and more materials manufactured overseas, raping the earth, destroying forests,

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creating garbage, and mucking up our lives with badly fixed toilets, leaking tile floors, ill-fitting sweaters, bowing floorboards, crooked walls, and ugly mosaics. We are bankrupting competent carpenters. We are destroying the careers of electricians and hvac crews. Our d.i.y. travesties of home improvement leave us with closets full of under-used tools and sheds full of extra wood and steel wool and toxic chemicals and mastic and caulk.“ (Auerbach 2008) Auerbach kritisiert die Ausbeutung jener Selbstverwirklichkeits-Sehnsüchte durch Corporate Strategies großer Unternehmen. Sie begreift die unentwegte Begeisterung für lediglich dilettierendes Selber-Machen als eine „Plage“, die Professionalität ruiniert und die Hobbyist_innen mit schlechter Qualität versorgt: „A plague veiled in the ideal of empowerment is sweeping our nation, leaving in its wake neighborhoods scarred by crappy home ­improvement, families destroyed by badly cooked gourmet meals, and scores and ­heaps of barely used tools, leftover supplies, and unfinished projects.“ (ebd.)

Objekt-Erfahrung Es wurden bereits zahlreiche Beispiele genannt, dass Design mehr ist, als ein Ding ­herzustellen, damit es gebraucht werden kann. Aber selbst der Gebrauch mag schon strittig sein: Wer bestimmt denn, was gebraucht wird, welchem Artefakt tatsächlicher Gebrauchswert attestiert werden kann? Hinzu kommt in jedem Fall das im Design unscharf als „Anmutung“ Bezeichnete, das sich aus sehr vielen Komponenten zusammensetzt und den Gesamteindruck hervorbringt. Hartmut Esslinger, Begründer von frogdesign, hat Sullivans dogmatischen „form follows function“ in den streitbaren und viel offeneren Satz „form follows emotion“ transformiert (vgl. Sweet 1999, vgl. Brandes 1998). Menschen lieben und hassen Objekte oder finden sie langweilig, überflüssig, unpraktisch, schön, hässlich – und das gilt für alle Artefakte, auch die trivialen, täglich benutzten wie Löffel, Teller, Staubsauger usw. So haben Gefühle einen hohen Anteil an der Bewertung und, dadurch bedingt, an der Art und Häufigkeit ihres Nutzens. Und noch ein äußerst bedeutsames Moment kommt hinzu: die Erfahrung. Wie nah oder wie fern, wie bekannt oder unbekannt sind die Dinge mir? Dabei gilt: Bestimmte Arbeits- und Verantwortungsbereiche sind erfahrungsmäßig verdichtet, manchmal überdeterminiert, andere im Gegensatz dazu reduziert, nahezu unbekannt. So entwickeln sich gegenläufig unterschiedliche Kompetenzen und Fähigkeiten auf der einen, Desorientierungen und Bornierungen auf der anderen Seite. Dabei ist es unerheblich, ob den Geschlechtern diese Differenzen bewusst sind, sie sie akzeptieren oder dagegen ankämpfen. Im Design stellt sich die Frage, ob das, was unter weitgehendem Ausschluss eines Geschlechts als funktional, aufregend, sinnvoll etc. definiert wurde, genauso gestaltet und beurteilt worden wäre, wenn mehr als ein Geschlecht als Gestaltende an dem Designprozess und dessen Bewertung aktiv partizipiert hätten. Zweifellos würden Bewertungen von Macht und Ohnmacht, „Technischem“ und „Schmuckhaftem“ anders ausfallen.

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CONCLUSIO: TECHNIK ALS DEKORATION Nachdem die Analyse der nach Weiblichkeit und Männlichkeit sortierten Lebensund Arbeitsdinge augenscheinlich starke Differenzen ergab – schmückende Ornamentik gegen technisch-funktionalistisch aufgeladene Sachlichkeit, so werfe ich das hiermit deutlich wieder über den Haufen. Es stellt sich nämlich heraus, dass die Begrifflichkeiten selbst schlicht ideologisch und damit gewissermaßen tautologisch ist. Denn die als weiblich identifizierten Objekte verketten geradezu automatisch alle Dinge, die dort auftauchen, mit dem Weiblichen und vice versa die männlichen Dinge mit dem Männlichen – tautologisch eben. Zur Erklärung versuche ich mich an einer Theatermetapher, die die Artefakte als Requisiten in einem Schauspiel auf der Bühne begreift. Naturwüchsig mag sich die Bewertung der weiblichen Theaterrequisiten, die sich da eingeschlichen haben, so darstellen: Die weibliche Bühnenausstattung und die weiblichen Ding-Schauspielerinnen hätten einen Hang zum dekorativen Ornament oder sogar Kitsch. Diese Einschätzung muss allerdings sogleich als gender-stereotype Ideologie zurückgewiesen werden. Denn hier kommt lediglich die gesellschaftliche Rubrifizierung zum Tragen, die die mit Femininität assoziierten Objekte und Farben als schlichtes Dekorum diskriminiert. Wende ich diese Logik auf die männlichen Ding-Schauspieler an, würden sie unter Sammelbegriffen wie „technikaffin“ und „funktional“ gegenüber den weiblichen Rollen gewissermaßen geadelt. Funktio­na­ lität und Technik scheinen höhere Ränge einzunehmen, weil sie so rational, vernünf­ tig und sinnvoll wirken; männlichen Dinge, denen die weiblichen schmückende Stichworte zutragen, damit Männlichkeit sich heldenhaft entfalten kann. Die kleinen (Ding)Schauspieler_innen und deren Requisiten, die die Geschlechter-Bühnen bevölkern, sind, so meine Schlussfolgerung, gleichermaßen als Accessoires, vielleicht als Nippes zu bezeichnen. Denn was die niedliche, kosmetische, fami­ liäre Ornamentik bei den Frauen, ist bei den Männern ebenfalls Dekorum: das Tech­ nische, angeblich Praktisch-Funktionale ist der niedliche „Kitsch“ der Maskulinität. Und so ende ich mit gründlich recherchierten Hypothesen: Die Bühnen weiblicher Schauspiele ähneln ruhigen, statischen, mit Intimität, Privatheit und Sehnsüchten nach Schönheit und – zum Teil – Niedlichkeit sowie Gemütlichkeit aufgeladenen Kammerspielen. Die männlichen Stücke suggerieren einen deutlich stärkeren Action-­ Charakter, die zudem technisch hochgerüstet sind; manchmal aber auch lediglich die sachlich-funktionale Arbeitswelt nachspielen – in diesem Fall sozusagen dem ­naturalistischen Theater nacheifern. Und beide sind gleich konventionell.

CONCLUSIO: TECHNIK ALS DEKORATION  281

DAS PROJEKT: TOOLBAG. HEIMWERKEN FÜR ALLE Katharina Maxine Seeger

Einleitung Da mein Großvater mir früh beibrachte, wie man Löcher bohrt und Drähte lötet, entwickelte ich schon als junges Mädchen einen selbstverständlichen Zugang zu Werkzeugen. Deshalb erstaunte mich die Beobachtung, dass ein Großteil der sonst so emanzipierten Frauen in meinem Umfeld sich nicht nur sehr stereotyp verhält, sondern eine regelrechte Abneigung gegen handwerkliche Tätigkeiten und die Handhabung von Werkzeug zeigt. Und das bezieht sich nicht nur auf komplizierte Renovierungsarbeiten oder das eigenständige Bauen von Möbeln. Selbst überschau­ bar komplexe Aufgaben wie das Zusammenbauen eines Ikea-Regals oder das Aufhängen eines Bildes scheinen große Herausforderungen bereitzuhalten, die spätestens bei der Notwendigkeit einer Bohrmaschine zum Ruf nach personeller Hilfe führen. Hinweise auf die Einfachheit einer Aufgabe und deren Erläuterung werden dennoch oft mit einem „Ja schon, aber ich kann das nicht“ quittiert. Einerseits lässt diese Aussage darauf schließen, dass ein Bewusstsein für die Machbarkeit klei­nerer handwerklicher Arbeiten vorhanden ist; andererseits jedoch bestehen bei Frauen offensichtlich stärkere Barrieren als bei Männern, sich aktiv mit handwerklichen Aufgaben auseinanderzusetzen.

Handwerk und Gender Es geht im Folgenden darum herauszufinden, wie ein besserer Zugang zu Werkzeug und handwerklichen Tätigkeiten geschaffen werden kann, ohne dass die Ge­ staltung selbst wieder in den ideologischen Topf „nur für Frauen“ gesteckt wird. ­Ausgehend von der Beobachtung, dass eine zögerliche Zugangsweise zu handwerklichen Tätigkeiten im Alltag eher – aber wahrlich nicht ausschließlich – auf weiblicher Seite festzustellen ist, stehen Frauen zwar im Fokus der Recherche und des Konzepts, aber die daraus resultierende Neugestaltung einer Werkzeugtasche dient ­allen Geschlechtern, die nicht professionell heimwerken. Nun zeigen aber einige Studien, dass Frauen sich offenbar zunehmend doch mit handwerklichen Tätigkeiten auseinandersetzen. Der Handelsverband Heimwerken, Bauen und Garten (BHB) schätzt, dass bereits 43 % der Baumarkt-Kunden weiblich sind. „Und das Marktforschungsinstitut Forsa fand unter 1084 Frauen in

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Baumärkten heraus: 75 Prozent greifen zur Bohrmaschine, weil es billiger kommt als der Handwerker. Und jede dritte Frau bohrt und dübelt, weil es eben der Partner nicht tut.“ (Süddeutsche Zeitung, SZ.de 2014) Es ist anzunehmen, dass die Heimwerkerinnen, im Gegensatz zu den Heimwerkern (vgl. Heubach 1987, 141– 154), seltener aus Hobby-Enthusiasmus aktiv werden, sondern aus viel pragmatischeren Gründen: Geld sparen, niemand anwesend, der helfen könnte etc.

Do-it-yourself-Angebote Um also herauszufinden, ob und wie sich Wirklichkeiten und Stereotype in Serviceund Marktangeboten niederschlagen, untersuchte ich systematischer das speziell auf Frauen bzw. Hand- und Heimwerkerinnen ausgerichtete Informations- und Werkzeugangebot. Besonders im Kontext der Do-it-yourself-Bewegung (DIY) wird deutlich, dass die weibliche Zielgruppe als eigenständig erkannt und bewusst angesprochen wird.

Handbücher Neben einem großen Angebot an Heimwerker-Handbüchern und Magazinen wie „Selbst ist der Mann“ gibt es eine Auswahl an Frauenratgebern, die den Anspruch haben, Frauen die Grundlagen des Heimwerkens zu vermitteln. Frauenratgeber machen nicht nur durch Titel wie „Do-it-yourself für Frauen“ oder „Handbuch für praktische Mädels – do it yourself ohne Stress und abgebrochene Nägel“ ihre Zielgruppe deutlich, sondern verstärken durch Farben wie rosa, pink, lila und rot ein traditionell-konventionelles weibliches Erscheinungsbild. Im Gegensatz zu anderen Handbüchern, die ihren Fokus auf ausführliche Anleitungen legen, werden in Frauenratgebern Erklärungen ungenau und nachlässig gegeben und zeichnen diese sich zudem durch klischeehafte Wortwahl aus. Etwa der Vergleich des Werkzeugkoffers mit einer Prada-Handtasche sowie der ständige Bezug zu Kleidung oder Kosmetik verstärken das Vorurteil, Frauen seien ständig auf ihr Äußeres bedacht (Mahrenholz 2006, 32). Hier zeigt sich das Bestreben (und partielle Missverständnis), auf diese Art ­Zugang zur weiblichen Zielgruppe in einem typisch männlichen Bereich zu finden. Wohlmeinend könnte dies als ein erster Ansatz gewertet werden, Frauen als eigenständige Gruppe gezielt anzusprechen, was womöglich auf eine professionellere und intelligentere Entwicklung in der Zukunft hoffen lässt.

DAS PROJEKT: TOOLBAG. HEIMWERKEN FÜR ALLE  283

© York Christoph Riccius in Zusammenarbeit mit Heimat Werbeagentur GmbH

Kurse Auch Baumärkte haben das Potenzial von Kundinnen erkannt, in erster Linie an dem speziell auf Frauen ausgerichteten Kursangebot zu erkennen. Außerdem bieten viele Volkshochschulen und Institutionen, wie die Do-it-yourself-Academy oder das Handwerkerinnen Haus in Köln, Heimwerkerkurse für Frauen mit dem Ziel an, eine angewandte Einführung in Werkzeug und Material zu geben.

Werbung Die vorgehende Analyse der DIY-Angebote zeigt deutlich, dass der Markt Frauen als eigenständige Zielgruppe erkannt hat. Im Gegensatz zu den DIY-Produkten, die eine klischeehafte Ansprache der weiblichen Zielgruppe verfolgen, steht die Kampagne „Women at Work“ der Baumarkt-Kette Hornbach (Horizont 2003). Dieses Beispiel verdeutlicht, dass es möglich ist, die Aufmerksamkeit der weiblichen Zielgruppe ohne Genderstereotypien zu erreichen, etwa, indem auf ironische Art und Weise geradezu performativ mit traditionellen Rollenbildern gespielt wird. Trotz der provokanten Motive liegt hier der Schwerpunkt darauf, Frauen als starke selbstständige Heimwerkerinnen zu zeigen und ein modernes Frauenbild zu vermitteln.

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© York Christoph Riccius in Zusammenarbeit mit Heimat Werbeagentur GmbH

DAS PROJEKT: TOOLBAG. HEIMWERKEN FÜR ALLE  285

Werkzeugangebot Für Heimwerkende ist der Baumarkt die erste Anlaufstelle, wenn es darum geht, ein handwerkliches Projekt zu starten. Denn neben Material und Zubehör wird dort auch Werkzeug verkauft. Allerdings sind Anfänger und Anfängerinnen einem großen unübersichtlichen Angebot ausgesetzt, was durch die wahllose Auswahl an Einrichtungsgegenständen noch verstärkt wird. Zwar sind an einigen Regalen Schilder zur genaueren Produktbeschreibung angebracht, allerdings bewerben diese lediglich Herstellung und Qualität der Werkzeuge. Funktion und Verwendung werden weder auf den Schildern noch auf den Verpackungen erklärt. Die Unübersichtlichkeit der Regale findet sich in der gesamten Struktur des Baumarkts wieder. Obwohl die Gänge zum Teil nach Gewerken geordnet sind, ist das System für sporadische Besucher und Besucherinnen nur schwierig zu durchschauen. Sowohl die Auswahl der Produkte als auch die Kommunikation sind für Baumarkt unerfahrene Personen undurchschaubar. Nun zeugt dieser Mangel an Information und Orientierung von einer Ignoranz der Baumärkte nicht nur gegenüber Frauen, sondern generell gegenüber Anfängern und Anfängerinnen.

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Werkzeugangebot für Frauen Im Gegensatz zum stationären Handel offeriert der Versandhandel eine Auswahl an sogenannten Frauenwerkzeugen. Das Angebot zeichnet sich hauptsächlich durch eine infantil-mädchenhafte Farbgestaltung aus. So sind die Werkzeugkoffer und das darin enthaltene Werkzeug so gut wie immer rosa und pink, oftmals drängt sich als penetrante Assoziation die Analogie zu einem Kosmetikkoffer auf. Um herauszufinden ob „Frauenwerkzeug“ den Bedürfnissen von Frauen b ­ esser gerecht wird, zeige ich die Unterschiede zwischen einem handelsüblichen Werkzeugkoffer der Firma Ellix und dem „Lady Werkzeugkoffer“ auf. Die beiden Werkzeugkoffer wurden nach vergleichbarer Ausstattung ausgewählt. Neben der stereotyp als weiblich erachteten Farbe Pink für den Frauenwerkzeugkoffer fallen besonders der qualitative Unterschied des Materials sowie die Größendifferenz ins Auge. Während der „normale“ Werkzeugkoffer aus strapazierfähigem Aluminium hergestellt ist, besteht der Frauenwerkzeugkoffer aus rosafarbenem Kunststoff und ist deutlich kleiner und leichter. Die Verpackungen beider Koffer zeigen fotografische Abbildungen des darin enthaltenen Werkzeugs. Neben der selbstverständlichen Benennung „Werkzeugkoffer“, die keinen Aufschluss über die Verwendung der Werkzeuge gibt, trägt die Verpackung der Frauenwerkzeugkoffer die spezielle Bezeichnung „Lady Werkzeugkoffer – Das unverzichtbare Hilfsmittel für jede moderne Frau“. Darauf sind comichafte Illustra­ tionen von zwei Frauen zu sehen, die zwar Blaumann und Sicherheitsstiefel tragen, aber mit verhältnismäßig großen Busen, schmaler Taille und breiten Hüften geradezu sexistisch dargestellt sind. Vergleicht man die Schraubendreher der beiden Werkzeugkoffer, wird der qualitative Unterschied der Werkzeuge deutlich: Die Griffe des Ellix-Werkzeugs sind der Handform angepasst und ermöglichen durch Gumminoppen, unabhängig von der Handgröße des Benutzers oder der Benutzerin, eine gute Handhabung. Außerdem sind die Spitzen der Schraubendreher verstärkt, um Abnutzung zu reduzieren. Auch die Griffe der Zangen sind ergonomisch gestaltet. Im Gegensatz dazu

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sind die Griffe des Frauenwerkzeugs kleiner und dünner, aus minderwertigem ­ aterial und nicht an die Handform angepasst. M Der „normale“ Werkzeugkoffer ist durch die funktionale Gestaltung und ­Zusammensetzung für Männer und Frauen geeignet. Die ergonomische Form der Werkzeuge erfüllt alle Anforderungen, trägt zur bequemen Handhabung bei und deckt durch die Zusammenstellung der Werkzeuge den Bedarf gerade von Unerfahrenen gut ab.

Case Study Um nach der Analyse des Marktangebots die individuelle Einschätzung von Anwenderinnen zu überprüfen, führte ich semistrukturierte qualitative Interviews durch. Ich fragte sechs Expertinnen – Schreinerinnen und Handwerkerinnen, die jungen Mädchen und Seniorinnen den Umgang mit Werkzeug beibringen und die Umsetzung von eigenen Projekten unterstützen –, wie Frauen das Angebot bewerten, wie gut sie mit den Werkzeug arbeiten können und wie Werkzeug für Nicht-Handwerkerinnen zugänglicher gemacht werden kann. Zunächst fiel auf, dass alle befragten Handwerkerinnen bereits in ihrer Kindheit erste Erfahrungen mit Werkzeugen und deren Handhabung gemacht hatten. So gab es in allen Fällen positive und durch Vorbilder geprägte Erlebnisse mit Werkzeug. Neben den persönlichen Erfahrungen zeigten auch die Beobachtungen der Frauenkursleiterinnen, dass die Einstellung von Frauen und Mädchen in Bezug auf den Umgang mit Werkzeug stark erziehungsabhängig ist und frühes Ausprobieren die Einstellung zu Werkzeug entscheidend beeinflusst. Außerdem, wenig über­ raschend, erläuterten sie, dass besonders bei Frauen im Seniorinnenalter Hem-

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mungen abgebaut werden mussten, bevor diese handwerklich tätig wurden. Die Abneigung vieler Frauen gegenüber Werkzeug ist also mit Unsicherheit, nicht aber mit Trägheit oder Desinteresse zu begründen. Ungewöhnlicher war die Beobachtung der Kursleiterinnen, dass Frauen mittleren Alters aufgeschlossener und selbstständiger als junge Frauen sind, wenn es um Reparaturen und Renovierungen im eigenen Haushalt geht. Eine Begründung ­dieser Regression könnte in der unterschiedlichen Entwicklung der Generationen begründet sein: Während Frauen mittleren Alters noch gelernt haben, Dinge wiederzuverwerten und zu reparieren, ist es für die jüngere Generation viel normaler, Gegenstände wegzuwerfen und neu zu kaufen. Die Mehrheit der Handwerkerinnen berichtete von Erfahrungen mit erstaunten bis skeptischen Reaktionen auf ihre Berufswahl. Dieses Verhalten lässt darauf schließen, dass einige Männer immer noch mit dem Bruch traditioneller Rollenverteilung überfordert sind und sich von emanzipierten Frauen bedroht fühlen. Beispielhaft hierfür waren die Schwierigkeiten, die Frauen bei der Suche nach einer handwerklichen Lehrstelle hatten. „Die Reaktion auf meine Bewerbung in Tischlereien war entsprechend: Die meisten haben direkt abgelehnt oder das Argument vorgeschoben, dass sie keine Frauentoilette hätten. Einer hat mich gefragt, ob ich für meinen Sohn anrufen würde.“ Aber es wurden auch positive Erfahrungen benannt: „Sobald man Kompetenz ausstrahlt, wird man auch als Handwerkerin und nicht nur als Frau wahrgenommen.“ Die Handwerkerinnen sind mit der Auswahl des Werkzeugangebots zufrieden und haben keine Verbesserungsvorschläge. Dies widerlegt die Behauptung, Frauen wünschten sich spezielles, an „weibliche Bedürfnisse“ angepasstes Werkzeug. So zeigten alle Handwerkerinnen eine deutliche Abneigung gegen das „Frauen­ werkzeug“. Sowohl Qualität als auch Anmutung des Werkzeugs wurden kritisiert. „Das Frauenwerkzeug signalisiert: Frauen sind keine Handwerker; deshalb brauchen sie leichtes, überschaubares Werkzeug. Das finde ich abwertend.“

Dummes Frauenwerkzeug Die Werkzeuganalyse verdeutlichte, dass im Baumarkt angebotenes Werkzeug durchaus für alle Geschlechter geeignet ist. Allerdings ist die Präsentation des ­Angebots unübersichtlich und wirkt auf Anfänger und Anfängerinnen chaotisch, verwirrend, einschüchternd. Um Zugangsbarrieren abzubauen, wären eine besser nachzuvollziehende Struktur des Verkaufsbereichs, ausführlichere Produktinformationen und – idealtypisch – ausreichend und gut geschultes Personal hilfreich. Das speziell auf Frauen ausgerichtete Angebot ist gender-unsensibel, geprägt von einem stereotypen Frauenbild. Dies wird besonders in der Gestaltung des sogenannten „Frauenwerkzeugs“ sichtbar. Diese Produkte sind nicht nur klischee­ behaftet, sondern stellen Frauen schlicht und einfach als lächerlich und dumm dar.

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Die extrem schlechte Qualität des Werkzeugs signalisiert, dass Frauen keine Ahnung von Werkzeug hätten und demzufolge auch nicht in der Lage seien, dieses bewerten zu können. Durch Farbe und Größe der Werkzeuge wird eine physische und soziale Unterlegenheit der Frauen gegenüber Männern insinuiert und die handwerkliche Betätigung von Frauen durch den ständigen Vergleich mit banalen Dingen wie Kosmetik und Shopping extrem abgewertet, eben weil es sich hier um angeblich typisch weibliche – und damit inferiore – Artefakte und Aktivitäten handele. Die Verpackung des analysierten „Lady-Werkzeugkoffers“ verstärkt diese abwertende Wirkung durch Abbildung knapp bekleideter, wohlproportionierter Handwerkerinnen: Gezeichnet wird das Bild der Frau als naives, hohles Sexobjekt. Produkte dieser Art verfehlen ihre Zielgruppe vollkommen. Darüber hinaus ergaben die Befragungen der Handwerkerinnen, dass sie gern mit „normalem“ – und das heißt in diesem Fall „männlich“ konnotiertem – Werkzeug arbeiten. Die Problematik liegt also nicht im Werkzeugangebot begründet, sondern in der Art, wie es präsentiert und die Funktionen schlecht (oder gar nicht) erläutert werden. Entscheidend ist also für Frauen ohne handwerkliche Erfahrung, dass die wichtigen Informationen empathisch und keinesfalls herablassend kommuniziert werden.

Eine gender-sensible Werkzeugtasche Als Konsequenz der Beobachtungen, Analysen und Interviews machte ich mich an das Redesign eines Werkzeugkoffers. Ich wollte ein Produkt gestalten, das sinnvoll und leicht verständlich seine Handhabung kommuniziert und alle Anfängerinnen und Anfänger motiviert, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und sich eigenständig handwerklichen Aufgaben zu nähern. „Toolbag“ ist eine Werkzeugtasche, deren Inhalt frei zusammengestellt werden kann. Die eigenständige Auswahl des Werkzeugs erfordert eine aktive Auseinandersetzung mit der Funktion der jeweiligen Geräte. Um Laien bei der Strukturierung der Grundausstattung zu unterstützen, gibt der Informationsfächer eine erste Orientierung, welche Werkzeuge für welche Tätigkeiten gebraucht werden. Anders als herkömmliche Werkzeugkoffer kann „Toolbag“ nach Bedarf bestückt und jederzeit erweitert werden. Gender und materielle Kultur: Vielleicht war es möglich, an einem kleinen Beispiel zu demonstrieren, wie die historischen und bis in die Aktualität hineinreichenden Rollenzuschreibungen perspektivisch überwunden werden könnten.

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DAS PROJEKT: GIVE + TAKE Katharina Sook Wilting, Anusheh Onsori und Lysanne van Gemert

In unserem Alltag sind wir ständig von Produkten umgeben, die Macht demon­ strieren bzw. als machtvoll wahrgenommen werden. Der gesellschaftlichen Kon­ struktion von Heteronormativität folgend, sind diese Objekte eindeutig männlich konnotiert. Um diese Logik performativ zu konterkarieren und ein Objekt mächtig und gleichzeitig weiblich zu gestalten, gibt es mindestens zwei Gestaltungsansätze: entweder ein machtvolles Objekt zu „verweiblichen“ oder ein „weibliches Objekt“ mit Macht auszustatten. Aus diesen Vorüberlegungen entstand das Konzept Give & Take, das auf ironische Art und Weise demonstriert, wie weiblichen Objekten Macht eingehaucht und männlichen Macht genommen wird.

Give Die erste Kollektion, „Give“, wandelt bestehende „männliche“ mächtige Objekte so um, dass sie sich in „weibliche“ mächtige Artefakte verpuppen. Zweifellos zählen etwa Waffen zu den machtvollen, da gefährlichen Produkten. Wir entschieden uns für das nicht ganz so martialische, aber deutlich männlich konnotierte Schweizer Taschenmesser. Indem wir lediglich die Verpackung des neben der Klinge noch zahlreiche andere Werkzeuge enthaltenden Taschenmessers durch eine „typisch weibliche“ Hülle – nämlich die Lippenstifthülse – ersetzten, wurde aus dem einst „männlichen“ Objekt visuell und gedanklich unproblematisch ein „weibliches“. Dieses jedoch führt bei der Sicht auf sein Innenleben zu Irritationen, weil die Gender-Konnotationen nicht mehr „stimmen“. Und so entstanden neben dem Lippenstift-Taschenmesser noch der Granaten-­ Ohrring und die Tampon-Patrone. Erstaunlich, wie massiv Gender-Stereotype eines Objektes allein durch eine minimale Änderung ihrer Erscheinung verändert werden kann.

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Lippenstift-Taschenmesser

Granaten-Ohrring

Tampon-Patrone

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Penis-Korsett

Take In der zweiten Kollektion, „Take“, wird ein anderer Ansatz verfolgt. Bei unseren Recherchen waren uns historische „Unterdrückungswerkzeuge“ aufgefallen, die von Männern für Frauen erfunden worden waren: Da ist beispielsweise das viktoria­ nische Korsett, das Frauenkörper durch unnatürlich schlanke Taillen abschnürte und sie im Gegenzug atemlos bis zur Bewusstlosigkeit machte. Auch in anderen als der europäischen Kultur finden sich Folter-Mittel zur Generierung eines rein weiblichen Schönheitsideals: die „Padaung“ genannten Hals-Ringe asiatischer Kulturen, insbesondere in Myanmar, die den Hals strecken sollen, oder der chinesische „Lotus-Schuh“, der den Frauenfuß zugunsten einer kleinen Form völlig deformiert. Diese und noch viele mehr waren Folterinstrumente, von Männern dazu erschaffen, ihre Schönheitsprojektionen auf die Frau ganz materiell-gewalttätig durchzusetzen. Die für die „Take“-Kollektion entworfenen Kleidungsstücke simulieren sehr ähnliche Funktionen – allerdings nun als männlicher Gegenpart zu den weiblichen „Unterdrückungswerkzeugen“. Inszeniert wurden hier „böse Objekte“, die den männlichen Trägern Pein bereiten. Weibliche Macht artikuliert sich in diesem Konzept durch die Herrschaft, die Frauen als Erfinderinnen oder Designerinnen schmerzhafter Mode für Männer ausüben. Und so entstanden der Folter-Kragen, der Lotus-Fußballschuh und das Penis-­ Korsett.

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Folterkragen

Lotus-Fußballschuh

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OBJEKTMACHT, WEIBLICH Erster Versuch: Ökonomische Machtverschiebungen Auch wenn Maddy Dychtwalds optimistischer Blick in die Gegenwart und die Zukunft sich sehr stark aus US-amerikanischen Erfahrungen speist, sind solche Tendenzen in den entwickelten Ländern (und zum Teil auch in den ärmeren) durchaus wahrscheinlich: „Today, women hold 51 percent of all management, professional, and related positions in the United States. American women are starting their own business at nearly double the national average.“ (Dychtwald 2010, 5 f.) „(…) women, who now equal or exceed the education levels of men in numerous countries, are poised to reap a massive benefit from the shifting economy.“ (ebd., 6) Insofern könnte ökonomische Macht sich von einer männlich dominierten zu einer weiblichen verschieben. Da in dem hier angesprochenen Zusammenhang aber keine ökonomischen Prognosen relevant sind, sondern ich versuche herauszufinden, welcher Objekte es bedürfte, um sie weiblich konstruierter Macht zuordnen zu können, bleibe ich zwar für einen Moment beim Geld, aber fokussiere ein bestimmtes, ein besonderes, ein als typisch weiblich erkanntes Objekt. De Beers, einer der weltweit größten Diamantenproduzenten und -händler (und deshalb wahrscheinlich ohnehin dubios), gab immer schon sehr viel Geld für Werbung aus. Die meisten dieser Kampagnen zielten auf eine sehr traditionelle Vorstellung für den Kauf eines Diamantrings: Als teurer Verlobungs- oder Hochzeitsring – in den USA werden sie auch unter Namen wie „Eternity-“, „Infinity“-, „Memoire“- oder „Love“-Ring vermarktet – wird er von dem Mann für die entsprechend zu beeindruckende Frau gekauft. Und solch ein Ring wird in den USA traditionell am Ringfinger der linken Hand getragen – das Signal und die Demonstration einer verlobten oder verheirateten Frau. Da nun aber seit langer Zeit die Anzahl der Ehen wie überall stark zu sinken beginnt, in Großstädten immer mehr, gewollt oder ungewollt, Singles leben und arbeiten, und vielleicht auch, weil Männer aufgrund der kürzeren Haltbarkeit einer Ehe bzw. mehrfacher Heirat vorsichtiger mit dem Kauf teurer „Eternity“-Ringe geworden sind, überlegte De Beers, wie neue Zielgruppen zu erschließen wären. Und so wurde ungefähr seit 2004 eine große Kampagne gestartet, die eine bis dato nicht erkannte Zielgruppe gewinnen wollte: „The Diamond Information Center began a huge marketing campaign aimed at articulat­ ing the meaning of right-hand rings – and thus a rationale for buying them. ‘Your left hand says we’, the campaign declares. ‘Your right hand says me’.“14 (Walker 14 Nun ist das Diamond Information Center keineswegs ein unabhängiges Institut, wie der Name vermuten lassen könnte, sondern es ist „the division of the ad agency J. Walter Thompson that serves the Diamond Trading Company, which in turn is the sales and marketing arm of the diamond giant De Beers.“ (Walker 2004)

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2004) Eine in der Tat schlaue Argumentation: die traditionalistischen Einen nicht zu verlieren und die als emanzipatorisch umworbenen Anderen zu bestärken – oder besser: zu umgarnen. Die Gegenüberstellung von „we“ und „me“ ist bezeichnend: Das „Wir“ schreibt die konventionelle Beziehung fest, in der die heterosexuelle Frau passiv darauf wartet, von dem heterosexuellen Mann als Geschenk nicht nur einen teuren Ring, sondern damit zugleich die – wie auch immer langfristig trügerische – Gewissheit zu erhalten, dass er für sie Sorge tragen wird. Linguistisch, mehr noch aber psychoanalytisch mit Lacan gesprochen, hätte der Mann den Signifikanten (signifiant) geliefert, mit dem die Frau bezeichnet (signifiée, deshalb hier in der weiblichen Form) wird. Das „Ich“ markiert demgegenüber deutlich das weibliche Selbstbewusstsein, mit dem bei ihr durch den selbstständigen Kauf eines teuren Diamant­ringes Handlungsmacht und -entscheidung allein bei ihr selbst liegen – signifiant und signifié_e fallen ununterscheidbar in einer Person zusammen. „(…) if you see a diamond ring on the fourth finger of a woman’s right hand, you may or may not know that it signifies an independent spirit, or even economic empowerment and changing gender mores.“ (ebd.) So drückt also die unabhängige Frau ihre Macht gleich doppelt und dreifach dadurch aus, dass sie sich den Ring selbst kauft (statt sich zu verkaufen, indem sie sich den Ring von einem Mann kaufen lässt); und sie trägt ihn rechtshändig, Symbol ihrer machtvollen Unabhängigkeit, denn sie kann nun sogar die Größe und das Karat des Diamanten selbst bestimmen – womöglich leistet sie sich drittens einen größeren als den, den ein Mann ihr geschenkt hätte! Solch ein Ring, aus seiner konventionellen Attitude befreit und in einen neuen Kontext weiblicher Souveränität und Selbstbestimmung überführt, könnte als Symbol ebendieser neuen ökonomischen Ungebundenheit fungieren. Im Zuge dieser Neuinterpretation gerät ein wertvoller Diamant zu einem weiblich konnotierten Machtartefakt – wenn auch anders codiert als jene Objekte, die wir bisher als der männlichen Machtsphäre zugehörig identifizierten. Im Folgenden wird sich diese Andersheit erst exemplarisch, danach im Versuch, diese als strukturelle ­weibliche Machtmerkmale zu charakterisieren, entfalten.

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DAS PROJEKT: WOMONEY Alicia Shao, Paul Guddat und Matthias Grund Die aktuellen US-Banknoten und Münzen zieren ausnahmslos bekannte männliche Politiker aus der Geschichte des Landes, darunter mehrere US-Präsidenten. Auf der Ein-Dollar-Note etwa ist der erste Präsident der Vereinigten Staaten, George Washington, zu sehen, auf dem Fünf-Dollar-Schein Abraham Lincoln, der 16. Präsident. Des Weiteren findet sich u. a. Alexander Hamilton, erster Finanzminister und Begründer der amerikanischen Politischen Ökonomie; oder Benjamin Franklin, der berühmte Naturwissenschaftler, Schriftsteller, Erfinder und Staatsmann. Bisher waren lediglich zweimal in der US-amerikanischen Geschichte für sehr kurze Zeit die Portraits von Frauen auf Banknoten abgebildet: Die beiden einzigen Frauen, die es jemals auf einen Geldschein schafften, waren 1865–1869 Pocahontas, die legendäre amerikanische Ureinwohnerin, und 1891–1896 die Ehefrau des ersten US-Präsidenten, Martha Washington. Über 100 Jahre ist es also her, dass das Konterfei einer Frau letztmalig auf einen Dollar-Schein gedruckt wurde. Ab 2020, dem 100. Jahrestag der Einführung des Frauenwahlrechts in den USA, soll der Zehn-Dollar-Schein mit einem Frauenportrait in Umlauf gebracht werden – eine einzige Banknote mit weiblichem Antlitz! Noch ist nicht entschieden, auf welche Frau die Wahl fallen wird: vielleicht auf die berühmte Afro-Amerikanerin Harriet Tubman, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts für mindestens 15 Jahre entlaufenen Sklaven zur Flucht von den Süd- in die Nordstaaten oder nach Kanada verhalf; oder auf die Bürgerrechtlerin Rosa Parks, die 1955 in Alabama verhaftet wurde, weil sie sich geweigert hatte, ihren Sitzplatz im Bus für einen Weißen zu räumen; oder doch auf die weiße Eleanor Roosevelt, die neben ihrer traditionellen Rolle als First Lady bis 1945 sich nach dem 2. Weltkrieg als hochrangige Politikerin in der UNO sowie als Menschen- und Frauenrechtsaktivistin engagierte. So lange will Womoney nicht warten und sich zudem nicht mit einem einzigen Geldschein begnügen. Womoney räumt mit der männlichen Herrschaft auf und transformiert die gesamte US-Währung – immerhin eine der mächtigsten Währungen auf dem globalen Markt – in Frauenpower. Alle auf den Zahlungsmitteln üblichen Politiker werden durch einflussreiche Frauen aus Geschichte und Gegenwart ersetzt, um eine kritische Perspektive auf dieses so eindeutig männlich konnotierte Machtsymbol zu ermöglichen.

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100 Dollar: Bundeskanzlerin Angela Merkel (statt Benjamin Franklin)

50 Dollar: Facebook-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg (statt Ulysses S. Grant)

20 Dollar: Vogue-Chefredakteurin Anna Wintour (statt Andrew Jackson)

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10 Dollar: Medienunternehmerin Oprah Winfrey (statt Alexander Hamilton)

5 Dollar: Superheldin Wonder Woman (statt Abraham Lincoln)

2 Dollar: Oscar-Preisträgerin Penélope Cruz (statt Thomas Jefferson)

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1 Dollar: Mehrfache Nobel-Preisträgerin Marie Curie (statt George Washington)

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Hannah Arendt (statt „Native American“- und „Präsidenten“-Serie)

Malala Yousafzai (statt Franklin D. Roosevelt)

Hillary Clinton (John F. Kennedy)

Mother Teresa (statt George Washington)

Marina Abramovic´ (statt Thomas Jefferson)

Beyoncé Knowles-Carter (statt Abraham Lincoln)

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Zweiter Versuch: Sitzmöbel – die Macht des Be-sitzens und Verschlingens Bestimmte Objekte nehmen wir nicht als machtvoll wahr, weil sie nicht den Kriterien entsprechen, die zuvor als Attribute männlich konstruierter Macht und Mächtigkeit analysiert worden waren; da sie eben nicht der gesellschaftlichen Konvention der Dinge folgen, die wir als machtvoll zu akzeptieren gelernt haben, sondern die im Gegenteil Eigenschaften aufweisen, die als hübsch, harmlos, weich, farbenfroh – und damit weiblich konnotiert – interpretiert werden. Und doch können einige der sich nicht in diesem Spektrum befindlichen Artefakte de facto Macht ausstrahlen. Vielleicht befremdlich, wenn ich hier als eine Spielart ausgerechnet eiförmige Produkte anführe, die ja nun per definitionem als typisch weiblich gelten müssten. Das ist berechtigt, aber diese ovale Form kann sehr raffiniert Macht ausdrücken: sozusagen durch eine supraweibliche Anmutung und Aufforderung. Hierfür können wir u. a. ein bestimmtes Möbeldesign verantwortlich machen. Es gibt Sessel und sogar gepolsterte Stühle – und zwar keine beliebigen, namenlosen, sondern die zu den Designikonen zählen, bis heute hergestellt werden und sich sehr erfolgreich auf dem Markt behaupten. Ich greife exemplarisch vier Stilikonen in ihrer zeitlichen Reihenfolge heraus, allesamt von Männern entworfen: Die erste wurde von dem finnischen Architekten und Designer Eero Saarinen entworfen, der allerdings früh in die USA emigrierte (vgl. Saarinen 2011, vgl. Serraino 2005). Er begann mit dem Gegenteil seiner späteren Gestaltungen: streng geometrische Linien, kubische Formen, die an das Bauhaus und Mies van der Rohe erinnern. Bald aber orientierte er sich an expressiv-­ expressionistischen Formen; seine stark geschwungenen und damit schwungvollen frei tragenden Dachkonstruktionen wurden zu seinem Markenzeichen. Jetzt aber analysieren wir ein Produkt des Designers Saarinen aus dem Jahr 1948. Bereits der Name spiegelt in diesem Fall fast aufdringlich die Anbindung an den weiblichen Körper: Womb. Ein Sessel ohne Ecken und Kanten, bezogen mit Stoffen und Farben, die als „journey“, „melange“, „haze“, „sabrina leather“ umschrieben sind, und der bis heute, je nach Art der Polsterung, für den stolzen Preis zwischen 3500 und 6000 Euro angeboten wird. Die Farben leuchten entweder in Rotund Gelbtönen, oder sie sind gedeckt-gebrochen. Das Chromgestell verschwindet nahezu unter der voluminösen Polsterung: mächtig, breit, alles aus einem Guss, ­zusätzlich mit zwei Polstern für Rücken und Sitz ausgestattet, die schon für sich ­genommen einen veritablen Sessel als Maß abgegeben hätten. Womb wird mit einem ebenso gepolsterten Fußhocker geliefert. Ein Sessel, der offensiv dazu einlädt, sich in seinen Schoß zu begeben, sich einzurollen wie ein Embryo, geschützt gegen die Unbill der Welt. Es ist bezeichnend (oder erstaunlich), dass eine Frau den ­Auftrag gab: die amerikanische Architektin, Designerin und Gründerin der großen bis heute existierenden Möbelfirma Knoll, Florence Knoll. Die Website von Knoll behauptet über die Entstehung des Sessels: „Eero Saarinen designed the ground­

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breaking Womb Chair at Florence Knoll’s request for ‘a chair that was like a basket full of pillows’ – something she could really curl up in.“ (Knoll) Die Assoziationen sind eindeutig: Schoß – Korb – die schwankende Weichheit der Kissen (ein wenig wie Flüssigkeit) – Sich-Einrollen (wie eine schnurrende Katze oder ein Embryo).­ ­Jedoch ist diese uterine Oase mindestens ambivalent: Neben der Geborgenheit vermittelt Womb die Mächtigkeit des weiblichen Schoßes, der sowohl ausstoßen als auch verschlingen kann. Sicher ist, dass nicht die Be-sitzenden es be-sitzen, sondern das organische Objekt animistisch die Person erobert. Fast genauso, nur noch viel pathetischer bereits auf den ersten Blick, entpuppt sich der knallrote oder rosa-rot gestreifte Sessel Up 5 Donna mit Fußstütze Up 6 (1969) des italienischen Designers Gaetano Pesce. Bizarr, dass die beiden Objekte mit einer Kette aneinandergefesselt sind. Der Name erschließt sich nicht ganz, denn aufwärts und nach oben strebt der Sessel nicht. Alles geht in die Breite (106 cm breit!). Aus Polyurethanschaum kalt formgeschäumt, imitiert er einen schräg nach hinten gelehnt sitzenden gigantischen weiblichen Torso, der vom voluminösen Busen bis zu den breit gespreizten Schenkeln reicht. Das Ding wirkt bedrohlich, aber nicht im erotischen oder sexistischen Sinn. Wir haben es hier eher mit dem Torso einer dem Klischee nachempfundenen italienischen „Mamma“ zu tun. Der an sie angekettete Ball mag an die unauflösliche symbiotische Beziehung zwischen Mutter und Kind erinnern, in der beide Gefangene sind. Mir ist nicht klar, ob Pesce mit ­diesem Sessel den italienischen Müttern ein liebevoll inszeniertes ironisches Denkmal setzen wollte, das in seinen mächtigen Ausmaßen die unbestrittene Macht­ position der Mamma im italienischen Familienverbund symbolisiert, oder es sich um eine aggressive Verarbeitung traumatischer Kindheitserfahrungen handelt. Oder aber es ist eine Pop-Art-Adaption, die in jener Zeit der politischen Proteste, des italienischen disegno radicale (vgl. Navone/Orlandoni 1974) und der utopischen Emanzipation von den kleinbürgerlich abgeschotteten Wohnzimmern zu der Weite urbaner Wohnlandschaften (vgl. Ambasz 1972) provokative Ausdrucksformen suchte. Wie auch immer dies zu bewerten ist: Up 5 Donna ist gewaltig, mächtig – und droht, jeden und jede zu verschlingen, die es sich in der dicken geöffneten Mamma gemütlich machen wollten. Ohne die Psychoanalyse zu bemühen, könnten wir uns dennoch fragen, ob der Sessel nicht für Männer angstbesetzter wäre, da erstens Frauen solche Körperformen vertrauter sind als Männern und zweitens ihre Identität womöglich weniger bedroht wäre. Drittes und letztes Sessel-Beispiel: Der S-Chair (1991/92) des englischen De­ signers Tom Dixon (vgl. Dixon 2008) verbindet seine sehr spezielle Form mit dem ungewöhnlichen Material Sumpfstroh oder, weniger experimentell, Korbgeflecht. Das „S“ im Namen umschreibt sowohl die Form, die sich ähnlich einem schlanken S nach oben windet, als auch ist es der Anfangsbuchstabe der Schlange, „serpent“ im Englischen. Beides wird beim Betrachten des Stuhls unmittelbar sichtbar: Er scheint sich gerade durch Flötentöne aus einem Bastkorb emporzuschlängeln, ähnlich der Python eines Schlangenbeschwörers. Von vorn betrachtet scheint sich

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die Schlange in aggressiver Angriffsposition zu befinden. Der runde Stahlfuß suggeriert, dass sie noch nicht ihre vollständige Höhe erreicht hat, sondern sich in dieser Rundung noch das hintere Ende ihres Körpers verbirgt, bereit, jederzeit sich ­herauszuwinden. Von vorn betrachtet, könnte es auch der Körper, ohne Kopf und Füße, einer Frau sein, deren Oberkörper sehr schlank wirkt, ohne Busen, der Unterkörper sich aber breit und einladend, wieder mit auseinanderstrebenden Schenkeln präsentiert. – Das ist die visuelle Beschreibung des Objekts. Nehmen wir nun aber das naheliegende Bibelgleichnis dazu, so imaginieren wir jene Eva vom Anfang der Welt, die von der Schlange dazu verführt wurde, den verbotenen Apfel vom Baum der Erkenntnis zu essen. Damit öffneten sich erstens Adams Augen für die Sexualität, und zweitens verwies Gott die kluge Eva als auch den begehrenden Adam des Paradieses. So gerät Dixons Stuhl zur Warnung für die Männer, vor Frauen auf der Hut zu sein, und zugleich klärt sich in ihm die Schuldfrage der Geschlechter.

Dritter Versuch: Accessoires und Kosmetik Ein weiterer Versuch, gesellschaftlich primär weiblich konstruierte Dinge auf ihr Machtpotenzial zu testen. Ich habe sechs Objekte ausgewählt, die als typische ­Accessoires für Frauen gelten, die sie auch meistens den ganzen Tag bei sich tragen. (Mit Ausnahme des ersten Beispiels. Wenn dieser spezielle Schuh aber getragen wird, dann gehört er so gut wie untrennbar zu der Person, bis sie sich dieses Gegenstandes, zu Hause angekommen, entledigt.) Der Stiletto-Schuh: Hier interessiert ausschließlich der Absatz, nicht grundlos „Stiletto“ genannt. Diese schlanke, „elegante“ italienische Stichwaffe erweist sich in ihrer Transformation zu einem Mode-Accessoire als außerordentlich sinnfällig nicht nur bezüglich der Absatzform – dünn, lang, spitz –, sondern auch in seiner Multifunktion. Wobei diese Form des Absatzes einen unauflöslichen Widerspruch einbettet. Seine Gestalt lässt die Träger_innen größer und aufrechter erscheinen, und die Gangart wirkt eleganter, weil allzu große Schritte mit Stiletto bestückten Schuhen nicht möglich sind. Der aufrechte Gang, der die Hüfte nach vorn schiebt, ist ebenfalls dem Körper aufgezwungen, denn das Gehen allein auf Zehen und Ballen mit stark erhöhter Ferse lässt keine solchen Bewegungen zu, wie sie etwa barfuß oder in flachen Schuhen möglich sind.15 Sattsam bekannt ist der hochhackige Schuh als Fetischobjekt (vgl. Freud 1991a, XIV, vgl. H. Böhme 2012, vgl. Steele 1996), von dem wohl fast ausschließlich Männer sexuell attrahiert werden – der Schuh als pars pro toto für die machtvolle Frau? 15 Allerdings bereitet es Frauen, die fast immer Schuhe mit hohem Absatz tragen, sogar Mühe, mit den ­Füßen parallel zum Boden zu laufen, weil sich durch die permanente hintere Fußerhöhung die Achillessehne verkürzen kann.

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Wenn wir uns nun jedoch der Stiletto-Schuh-Trägerin selbst zuwenden, so ist sie gefangen in den Widersprüchen zwischen dem möglichen erotischen male gaze, den sie – bewusst oder unbewusst – auslösen könnte, dem Selbstbewusstsein der eigenen Größe und Eleganz, der Beraubung der Bewegungsfreiheit (Weglaufen wird schier unmöglich) und der Ersatz-Waffenfunktion: Denn ausgezogen, kann der Stiletto-Schuh in der Hand durchaus der Selbstverteidigung gegen gewalttätige Attacken dienen. Es ist jedenfalls unbestreitbar, dass der hochhackige Schuh eine differenzierte Körperverfügung erlaubt, die symbolisch-fein oder praktisch-grob Macht (allerdings eben im schlechtesten Fall auch Ohnmacht) mani­ festieren kann. Die Sonnenbrille: Sie gehört auf jede Nase, sobald auch nur eine fahle Sonne scheint. Dies gilt sicher erst einmal für alle Geschlechter, aber die weibliche Sonnenbrille dient anderen Zwecken als die männliche. Betrachten wir die aktuellen Trends (die regelmäßig in dieser Form wiederkehren), so entsprechen sie genau meiner Hypothese von der Sonnenbrille als zugleich narzisstisch-kokettes wie Versteckspiel-Accessoire. Die riesengroßen, häufig kreisrunden Brillen verdecken neuerdings etwa die Hälfte des Gesichts, reichen über die Augenbrauen (die ja eigentlich sehr viel zum Gesichtsausdruck beitragen), und in der Vertikalen ziehen sie sich bis zum unteren Ende der Nase – Oversize in jeder Form prägt den Trend. ­A­llein das Volumen dieser Brillen und die Verdeckung eines Großteils des Gesichts signalisieren Selbstbewusstsein bei gleichzeitiger Geheimhaltung vieler Emotionen und Absichten. Denn schließlich verdeckt die Sonnenbrille ja – im Gegensatz zur durchsichtigen Brille – Form, Farbe und Ausdruck der Augen hinter einer dunklen oder spiegelnden Fläche. So bleibt nur noch der Mund, an dem für Außenstehende erkennbar wäre, was die Trägerin denken und bewerten mag. Aber es ist auch bekannt, dass der lächelnde Mund stärker lügen oder Emotionen verschleiern kann als die Augen, die wir offenbar weniger unter Kontrolle haben. So entfaltet sich weibliche Macht hier durch Über- und Verdeckung, die Augen werden unsichtbar, ein Versteckspiel, das sein Gegenüber verunsichert. Der Lippenstift: Ihm eignet eine merkwürdige Form, die nicht allein funktional zu erklären ist, schließlich gibt es auch flüssige Lippenstifte und Pasten, die mit einem Pinsel aufgetragen werden. Herausgedreht, wirkt der feste Lippenstift wie ein Penis, der bei Benutzung zwischen weiblichen Lippen erigiert. Zugleich ist er ein äußerst weiblich-narzisstisches Objekt. Meist tief- oder knallrot, wirkt er ­zudem gefährlich, verschlingend – so, als ob die Lippen alles einsaugen könnten. Und sie assoziieren Blut. Weibliches Blut, das andere, besonders Männer, verun­ sichert, denn es rückt das ausnahmslos weibliche Menstruationsblut ins Vorbewusstsein. Historisch ist die Kultur- und Gendergeschichte des Blutes (vgl. Wegner 2001, vgl. Fahs 2016) eine sehr wichtige, die insgesamt, aber ganz besonders in den vielen frauenspezifischen Ritualen, Mythen, Aberglauben die Angst vor „unreinen“ menstruierenden Frauen und deren dadurch abgeleitete Minderwertigkeit bis ins 20. Jahrhundert evozierte – speziell in den europäischen Gesellschaften.

OBJEKTMACHT, WEIBLICH  307

Das Make-up: Der Lippenstift ist lediglich Teil der gesamten Aufmachung, vor allem des Gesichts, die zu erstaunlichen Ergebnissen führen kann. Leicht lässt sich das an Stars aufzeigen. Wir kennen sie, wie sie auf der Bühne oder im Film auf­ treten; erhaschen wir jedoch, dank erfolgreich tätiger Paparazzi, einen heimlichen Blick auf sie, während sie zur Ertüchtigung ihres Körpers laufen oder gerade aufgestanden sind, erkennen wir sie nicht wieder. Prinzipiell gilt das erst einmal für alle Berühmtheiten, aber die Möglichkeit der weiblichen Veränderung durch Schminke und Haaraufmachung ist ungleich größer als bei Männern. Ich rede hier übrigens nicht von der Aussehensveränderung der Schauspieler_innen für eine Theateroder Filmrolle, sondern von ihrer eigenen aufgemachten Identität, also jener, mit der sie sich in der Öffentlichkeit bewegen. Da Make-up im „Alltag“ weiblicher Celebrities viel stärker und offensichtlicher aufgetragen wird, verändern sie sich bis zur Unkenntlichkeit. Weniger stark, aber intentional gleich, verändert Make-up auch unberühmte Frauen. Sie „verkleiden“ sich durch Schminke, die das „wahre Gesicht“ verschleiert. Auch in diesem Fall kann das Make-up einer doppelten Absicht dienen: sich attraktiv zu fühlen und damit Selbstbewusstsein auszustrahlen und die wah­ren Absichten und Gefühle zu verschleiern. Ein Gesicht, das gut zu offiziellen, ­hierarchisch organisierten oder unangenehmen Anlässen passt. Verbunden damit ist eine strategisch gewählte Maskerade, die die Performance vollendet, kritisch, machtvoll wirken lässt.

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DIE MACHT DER HANDTASCHE Leben en miniature Ich werde nun ein ebenso banales wie stereotyp weiblich konnotiertes Objekt als einen möglichen Kristallisationspunkt vorstellen, an dem sich Macht in sehr spezifischer Weise bündelt. Es ist unausweichlich, dieses symptomatische Objekt aus den Dingkategorien herauszugreifen, da es über hohe symbolische Kraft verfügt und zudem einer rigiden Geschlechterspezifik folgt: Die Handtasche gehört, so müssen wir konstatieren, zu (vielen) Frauen wie der Hobbykeller zu (vielen) Männern. Taschen im Sinne von „Bags“ können von allen Geschlechtern getragen werden, obwohl Form und Farbe dann doch häufig gender markers kommunizieren. Die Handtasche aber scheint die Inkarnation (eben tatsächlich als Einverleibung) eines weiblichen Accessoires zu sein. „Indeed, researchers have found that the average 30-year-old owns 21 handbags and buys a new one every three months. That adds up to 111 over the course of a lifetime (…) Five per cent of those surveyed even admitted to owning more than 100 at present.“ (Bag Forum) Handtaschen können einen hohen Wert haben, wenn sie den „richtigen“ Brand aufweisen; Kennerinnen vermögen alltägliche, „billige“ Handtaschen oder Imitate sehr genau von den ­teuren und originalen Marken zu unterscheiden. So übernimmt die Handtasche auch die Rolle, die eigenen Vorlieben zu kommunizieren, Geschmack und Status zu demonstrieren. Obwohl stumm, legt die Handtasche beredtes Zeugnis über Wertigkeit und Kennerschaft ab („ich habe einen guten Geschmack“, „ich kann mir so etwas Edles leisten“, „ich kann mithalten“ etc.). Seit vielen Jahren diktiert die Mode große und vielfach weiche Taschen, so ­genannte „XL-Taschen“, offenbar kommt als zusätzlicher Trend kurzfristig das ­genaue Gegenteil hinzu, die „Mini-Bag“. Letztere allerdings ist zweifellos nur ein Mini-Trend, denn wie so oft in der Mode muss das eine Extrem mit dem anderen konterkariert werden. Die dysfunktionale Mini-Tasche muss entweder an die große angedockt werden (so behauptete etwa der Modetrend 2017), oder aber die kleine Tasche wird lediglich in kurzen, speziellen Momenten getragen, die eher aus der Not geboren sind: wenn der Anlass aus Gründen der Distinguität (Theater, Empfang etc.) große Behälter als unangemessen diskreditiert und eine Clutch fordert oder aber im Gegenteil aus praktischen Gründen: Überall dort, wo Unübersichtlichkeit, Fülle, Gedränge herrschen, ist eine sehr kleine Tasche weniger hinderlich. Andererseits vermögen gerade diese Winzlingstaschen nicht das Phänomen zu erklären, warum Frauen Taschen so emotional besetzen. Die weibliche Tasche stellt sozusagen die voluminöse und streng nach innen abgedichtete Außenhaut des verborgen zu haltenden Innenlebens dar, das mit seiner wilden Dinge-Mischung das persönliche Leben wie eine Kurzgeschichte eben

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nicht erzählt, sondern geheim hält; und dafür reicht keine Mini-Tasche aus. Denn die Handtasche (ver)birgt so viele Dinge vor den Augen anderer. Wollten wir diese clustern, so ergäben sich mindestens sechs Kategorien: Ökonomie/Finanzen, Schön­ heit, mobiler Werkzeugkoffer, Emergency Kit, Sicherheit/Kontrolle, Arbeit/Freizeit. „If I don’t have my bag hanging from my shoulder, I feel little naked. The handbag becomes part of me as if it is an essential part of my body, like my womb. (…) I know the bag as well as my own body.“ (Farber 2016) Die Handtasche, so meine These, ist der bisherige Inbegriff und zugleich ganz buchstäblich die beste Verkörperung weiblicher Macht durch ein Objekt. „Taschen sind Zeichen von Übergang und Veränderung im Leben einer Frau. Sie kommen und gehen mit den verschiedenen Lebensphasen und -übergängen, mit den jeweiligen Orten und Zielen. Die erste Tasche ist für viele ein Übergangsritus von der Kindheit zur erwachsenen Frau.“ (Colibri Research/WeJane 2008). Sigmund Freuds Verdienst der Entdeckung und Veröffentlichung der Sexualität als heimlicher höchster Wunsch wird ohne Zweifel durch seine vollkommene Fehleinschätzung der weiblichen Sexualität gemindert. Auch wenn ihn offenbar nichts hinderte, sich sehr ausführlich mit der weiblichen Sexualität zu beschäf­ tigen, gab er doch immerhin an manchen Stellen sein komplettes Unwissen zu: „Vom Geschlechtsleben des kleinen Mädchens wissen wir weniger als von dem des Knaben. Wir brauchen uns dieser Differenz nicht zu schämen, ist doch auch das Geschlechtsleben des erwachsenen Weibes ein dark continent für die Psychologie.“16 (Freud 1991b, XIV, 241) Und doch hat er (und nicht nur er) uns Hinweise darauf ­gegeben, welche Objekte weibliche und männliche Genitalien symbolisieren. „Das weibliche Genitale wird symbolisch dargestellt durch alle jene Objekte, die seine Eigenschaft teilen, einen Hohlraum einzuschließen, der etwas in sich aufnehmen kann. Also durch Schachte, Gruben und Höhlen, durch Gefäße und Flaschen, durch Schachteln, Dosen, Koffer, Büchsen Kisten, Taschen usw.“ (Freud 1998c, XI, 157) Ein anderer Container, nämlich das (Schmuck)Kästchen, wird bei Freud ebenfalls dazugezählt: „Wenn wir es mit einem Traum zu tun hätten, würden wir sofort daran denken, daß die Kästchen auch Frauen sind, Symbole des Wesentlichen an der Frau und darum der Frau selbst (…).“ (Freud 1991c, X, 158) Das Kästchen beweist im übrigen literarisch und mythologisch seine hohe Symbolik im weiblichen Kontext; ich erwähne lediglich zwei sehr bekannte Beispiele: Die Büchse der Pandora stellt einmal mehr das Klischee der neugierigen Frau her, die die von Zeus ihr übergebene Büchse den Menschen schenkt, ihnen aber mitteilen sollte, dass sie sie ­niemals öffnen dürften. Und Pandora öffnet die Büchse „natürlich“ gleich selbst. Damit bringt sie der Welt alle Laster und Verderbnisse, die zuvor unbekannt waren: Krankheit, Tod, Arbeit usw. Nun hätte die Dose auch die Hoffnung enthalten, aber bevor diese entweichen konnte, schloss sie sich wieder – die Schuld der Frau, wie 16 Vgl. dazu die sehr differenzierte Kritik, die nicht pauschal alles „Freud’sche“ dogmatisch verdammt: Rainer, Petra (2009): „Der dunkle Kontinent spricht! Karen Horney und Simone de Beauvoir als Avantgarde“.

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in der Bibel, hier, in der griechischen Mythologie, lediglich etwas anders symbolisiert. Und dann das (wegen seines Antisemitismus umstrittene) Theaterstück William Shakespeares: „Der Kaufmann von Venedig“. Hier erscheint der gute Mann, Bastiano (es gibt daneben noch die dummen, geldgierigen Männer), als der sensible, aufmerksame, der eben genau beobachtet und liest, das goldene und silberne Kästchen gar nicht beachtet und sich für das richtige Kästchen aus billigem Blech (und damit für die Hochzeit mit der angebeteten Portia) entscheidet. Auch die Grimm’­ schen Märchen halten jede Menge Überraschungs-Behälter bereit, und immer wieder sind sie, positiv wie negativ, mit Frauen und dem Konzept von Macht verknüpft. Wir können das „Schmuckkästchen“: die Handtasche berechtigt als ein Dazwischen-Medium bestimmen: zwischen sachlich und emotional changierender Funktionalität und dem Schmuck-Accessoire, das häufig auch zusätzlich nach außen mit diversen Schmuckelementen besetzt ist: mit Steinen, Verschlüssen, Nieten, Federn, Pelz. Die Handtasche wird zu einem Beziehungsobjekt (ein „Schmelztiegel“ weiblichen Lebens), kann Ausdruck von Identität sein (Spiegelung des Selbst nach ­innen und außen), soziale Signale aussenden (Kommunikation von Gruppen-­ Zugehörigkeit und Gruppen-Abgrenzung), und sie ist ein Kontrollinstrument (auf ­alles vorbereitet sein, die Dinge im Griff haben) (vgl. Colibri Research/WeJane 2008). Vor allem aber ist sie zutiefst geheimnisvoll und intim. Handtaschen sind konkave Behälter, mit einem großen „Schlund“, der Verschlingungsängste hervorrufen mag und der in eine dunkle Höhle führt, von der Uneingeweihte nicht wissen, was sich darin befindet. Und das sind eigentlich alle außer der Handtaschenbesitzerin – bestenfalls wissen andere Frauen um das mögliche Innenleben einer Tasche aus eigener Erfahrung. Eine meiner Kenntnis nach weltweit geltende strikte Regel besagt, dass insbesondere Männer keinen Zutritt zu einer weiblichen Tasche haben. Insofern wirkt dieses weibliche Modeaccessoire zutiefst unheimlich, es verbirgt, vorzugsweise vor den männlichen Einblicken, alles, was in einem weiblichen Leben unabdingbar mit sich getragen wird. Das Innen­ leben dieses von außen so modisch und auffällig gestalteten und branded Objekts erlaubt es, das geheimnisvolle, sogar tabuisierte Innere als (eindeutig weiblich ­konnotierte) Macht der Intimität zu begreifen. Und die Macht erweitert sich konsequent dahingehend, dass Frauen dazu tendieren, in diesen großen Handtaschen stets ­etwas zu suchen (das sich, eben wegen der unübersichtlichen Größe, so schwer finden lässt). Daran konnten bislang auch alle Lifestyle-Tipps nichts ändern – etwa, die wichtigsten Dinge wie Schlüssel und Telefon in einem Extra-Beutel auffälliger Farbe in der Tasche zu verwahren. Es scheint eher so, als ob Frauen, un- oder vorbewusst, subtile Macht verströmen, indem sie durch langes Suchen die anderen (Männer) tatenlos und hilflos zuschauend warten lassen. „Sie suchte in ihrer Handtasche“ – Max Frisch über Ingeborg Bachmann. Diese geheimen Orte wirken dadurch noch einschüchternder, weil eine Ah­­nung existiert, dass sie wohl tatsächlich das intime Leben, komprimiert, en miniature,

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enthalten. Dadurch werden die vielen ebenso unsichtbaren wie geheimnisvollen Dinge in der Tasche, von denen niemand – und erst recht nie ein Mann – Genaueres weiß, noch zu Symbolen erhöht. Sie tragen große, den Außenstehenden unverständliche Bedeutung, sie sind zu unsichtbaren, unerkannten Erkennungszeichen für etwas geworden, das von jenen, die nicht „dazugehören“, nicht dechiffriert werden können. Diese Unsicherheit erzeugt Macht auf der einen, Verunsicherung und Verhaltensschwierigkeiten auf der anderen Seite. – Und noch ein Indikator für die Mächtigkeit dieses so modisch und auf den ersten Blick trivialen Zubehörs findet sich: Die Handtasche als womöglich einziges Objekt ermächtigt deren Besitzerin, sich eine in den Raum erweiterte Extension ihre Körpers zu erlauben.

Die Waffe der Frau Die weibliche Handtasche als Machtinstrument, als Waffe: Das mag vielen über­ trieben oder überinterpretiert scheinen, aber ich möchte sie eines Besseren belehren. Schon die langen Metallketten, die manchen Taschen als von der Schulter zu hängende Bügel dienen, sind durchaus gewalttätig zu interpretieren: Ketten, die kreiselnd geschwungen werden, sind schlicht gefährlich. Einige Designs begnügen sich mit Tiger-Applikationen oder -Stickereien. Andere aber designen noch direkter: Es gibt (sehr teure) Handtaschen, bei denen die Designer gewalttätige Schmuck­ el­emente applizieren: Der ohnehin morbide Alexander McQueen designte zu Lebzeiten gleich den gesamten Korpus der Tasche als Granate. Seine Nachfolgerin Sarah Burton – erstaunlicherweise nicht die einzige Designerin, die solche Tötungsinstrumente in Luxustaschen umsetzt – gestaltete die Abendtasche „Knuckle Duster Clutch“ (!) mit Totenköpfen und Schlagring. Christian Loubotin, ansonsten bekannt für sein unmenschlich hohes High-Heel-Schuhdesign mit roten Sohlen, hat sich eine Handtasche einfallen lassen, die mit Dornen bestückt ist und „Artemis“ heißt, so fortan auch der Name dieser Tasche und nicht mehr nur derjenige der griechischen Jagdgöttin und Hüterin der Frauen und Kinder. Für 27 000 Euro bietet „The Row“ eine große Tasche aus aggressiv wirkender Alligatorhaut an. Maria Grazia Chiuri entwarf für Valentino die über und über mit Nieten übersäte „Rockstud Dome Satchel Bag“. In diesem Zusammenhang erhält der banale Spruch von den „Waffen einer Frau“ eine ganz neue Bedeutung. Fakt ist jedenfalls: Frauen, die es sich leisten können, kaufen solche Taschen, einige Brands waren wohl nach kurzer Zeit ausverkauft. Neben dem für die Machtanalyse zu vernachlässigendem, da zu kurz gegriffenem Gag- oder Immer-was-Verrücktes-Neues-Machen-Aspekt findet sich in solchen Gewalttaschen wieder einmal ein doppeltes Symbol: Frauen panzern sich und ihr Innenleben gegen die Unbill des Außen, und sie drohen der ­Außenwelt mit Abschreckungs-Artefakten. Was sich hier als vielleicht obszöner, zumindest aber bizarrer Auswuchs des Modedesigns manifestiert, realisiert sich in für europäische Verhältnisse ungeahnter,

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erbarmungsloser Härte, wenn wir in die USA blicken: Denn dort wird tatsächlich ernst gemacht. In den USA werden inzwischen Taschen zum Kauf angeboten, die ganz praktisch und materiell als Waffencontainer designt wurden und sich „concealment bags“, Tarntaschen, nennen: „Ladies’ purses for concealed weapons need to be durable and efficient. While style concerns typically take second place for this type of bag, designers are also becoming more attuned to creating attractive, professional styles of concealment bags.“ (Radcliff o. D.) Der Begriff „Concealment“ wird sehr häufig auch im Deutschen für Unreinheiten der Gesichtshaut über­ deckende Stifte gebraucht. Erinnern wir uns: In diesem Kapitel tauchte Tarnung oder Verschleierung schon zuvor unter der Kategorie „Make-up“ auf. Als Waffen­ tasche trifft sie den Sachverhalt wahrlich noch besser, weil die Tasche wie das ­Gerät von Geheimagent_innen funktioniert, die wir alle eher aus Filmen denn als ­Anschauungsmaterialität des Alltäglichen kennen. In einem harmlos wirkenden Gegenstand, einer Handtasche, lauert im dunklen Innern ein gefährliches Ver­ teidigungs- oder Angriffsinstrument, der Revolver. Auffällig ist, dass die Waffenhandtaschen-Designer mittlerweile aufgerufen sind, aus den ersten biederen ­Frauentaschen, die bis dato lediglich „haltbare“ und „leistungsfähige“ Behälter als Waffenversteck präsentierten, nun zusätzlich „attraktiv“ und „professionell“ gestaltete Tarnungsträger anbieten sollen. Nachdem ich zu Beginn meiner Recherche annahm, dass das Angebot von Waffen-Handtaschen für Frauen ein absonderliches, gleichwohl singuläres Geschäftsmodell sein müsste, wurde ich fatalerweise eines Besseren belehrt. Wenn auch nicht auf europäischen, so wurde ich doch auf US-Websites fürchterlich und reichlich fündig. Im Folgenden werde ich einige der Unternehmen benennen und deren Slogans zitieren. Alle werben mit Macht und Femininität zugleich. Damit die Weiblichkeit nicht zu kurz kommt, imitiert das Web-Design kitschige und stereotype „Frauen“farben (rosa, lila, pastell), „Frauen“schriften (kursiv, ornamental) sowie Frauen­ namen der Handtaschen (Gwyneth, Kate, Penelope, Belladonna, Jaqueline). Soweit ersichtlich, sind zumindest einige der Firmen von Frauen gegründet oder stellen diese in den Vordergrund. Beispielhaft stelle ich hier eine vor: Der wahre Durchbruch moderner „schöner“ Frauen-Handtaschen, die Waffen verbergen, begann mit der Gründung des Brands „GunGoddess“ – ein ebenso schrecklicher wie immanent gelungener Name: die Waffengöttin. Göttinnen sind jedenfalls selbstbewusst, erhaben über weltliche Belange, sie sind mächtig – und sei es auch nur durch ein geheimes, machtvolles Accessoire. Die aus Griechenland stammende und durch ihre Heirat mit einem Armee-Angehörigen zur Amerikanerin gewordene Athena Means ist dabei, das Image der Geheimtaschen aufzupolieren und aus ihnen chice Taschen und Clutches zu machen. Auf das Geschäft mit dem Vertrieb solcher ­Waffen-„Shoppers“ kam sie durch „my own frustration with trying to find feminine, colorful shooting accessories (…). While I am serious about my shooting, I also like to look like a woman while I am doing it. (…) I would like to move in the direction of

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more GunGoddess-branded items. I definitely plan to expand the t-shirt line. I am also working on a GunGoddess line of range bags and gun cases. (…) Quality is crit­ ical. I test and use every product before offering it.“ (won, the 2012) Means’ Liebe zum professionellen Schießsport, den sie offenbar für männlich hält, da sie „dennoch feminin aussehen“ möchte, brachte sie auf die Geschäftsidee für weibliche Waffen und -accessoires. Der Aufmacher ihrer Website lautet: „Carrying a firearm for self defense in a stylish, high-quality concealed carry purse is far better than not carrying at all.“ (GunGoddess) Und hier einige Formulierungen anderer Anbieter: • „The Well Armed Woman“: Where the Feminine and Firearms Meet (vgl. Well Armed Woman, the). • „eGunBags“: Designer Gun Bags for the Professional Woman (vgl. eGunBags) • „IT’S in the BAG Boutique“: Pretty outside, powerful inside (vgl. IT’S in the BAG Boutique). • „Concealed Carrie“: Why should women be forced to compromise fashion for function? (Vgl. Concealed Carrie.) Nur der fast ironisch klingende Brand „Gun Tote’n Mamas“ (vgl. Gun Tote’n Mamas) fällt aus der Reihe: Mattes Grün-Blau für den Namen in kräftigen Versalien, die mich entfernt an Stempelschrift oder den Wilden Westen erinnern, klare Informationen, relativ geradlinige Leder-Handtaschen ohne viel Schnick-Schnack; und der Slogan betont sowohl bei den Designerinnen und Inhaberinnen als auch bei den Kundinnen weibliches Selbstbewusstsein: „A Certified Women-Owned Company“ und „inspired and developed by women for women, taking control in style“. Die Verbindung von „stilgerecht“ und „Kontrolle übernehmen“ ist ziemlich klug gewählt, ohne allzu pathetisch oder süßlich zu wirken. – Bedauerlich, dass die „Gun Mamas“ mittlerweile Waffentaschen gestalten und vertreiben, denn zuvor waren sie im Geschäft mit Reisetaschen und -accessoires.

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GEHEIMNISVOLLE TARNUNG Zu Beginn der Überlegungen hinsichtlich weiblich konnotierter Macht, ausgedrückt in Produkten, war mir nicht klar, was sich am Ende kristallisieren könnte. Als ich schließlich im langen Verlauf meiner Suche auf die Handtasche als Verkörperung weiblicher Macht gekommen war, die so ganz anders strukturiert sein musste als die gewohnte männlich assoziierte, hatte ich das weibliche US-Waffentaschengeschäft noch gar nicht entdeckt. Bis zu jenem Zeitpunkt hatte ich die „Macht-Tasche“ der Frau als zwar wirkungsvoll interpretiert – aber auf symbolischer Ebene. Dass die Taschen auch reale materielle Gewalt erfolgreich inkarnieren können, nehme ich als Beleg für die Richtigkeit meiner These von der geheimnisvollen Produktmacht entgegen der offensiven männlichen Macht. Dabei ist die tatsächliche Waffentasche nur ein Aperçu zu der weitaus alltäglicheren und spannenderen symbolischen Macht-Handtasche. Und so schließe ich das Machtkapitel mit dieser Konklusion: Wenn Objekte nicht der gesellschaftlichen Ding-Konvention folgen, die wir als machtvoll und mächtig zu interpretieren und zu akzeptieren gelernt haben, ist es schwer, diese zu lesen und zu verstehen; wenn es sich also nicht, wie zu Beginn erwähnt, um Krone und Zepter, Schuss-, Hieb- und Stichwaffen, bestimmte Automarken, auch Ego Shooter-Spiele usw. handelt. Weibliche Macht aber wird eher im sozialen Kontext sichtbar – mehr im Handeln als im Repräsentieren durch Produkte. Sie muss erklärt werden. Weibliche Macht kann nicht so einfach in Produkte eingeschrieben werden, weil traditionelle und uns verständliche Symbole der Macht – wie sie sich immer auch in Objekten manifestieren – eben männlich konnotiert sind. Im Gegensatz dazu nehmen wir andere Objekte nicht als machtvoll wahr, obwohl sie es de facto sein können: Die „Pille“ ist ein Beispiel für ein mögliches weibliches Machtprodukt (Verfügung über den eigenen Körper oder aber auch den Partner im Ungewissen darüber lassen, ob man sie nimmt…). Als Ding ist sie lächerlich klein, rund, völlig unscheinbar und normalerweise für alle, außer für ihre Besitzerin, unsichtbar. So kann physische Winzigkeit oder Unsichtbarkeit ein Kriterium für eine Spielart weiblicher Macht sein, die eher in praktischem Handeln ausgespielt wird, als in der Beeindruckung durch das Objekt selbst besteht. Ein zweites, damit zusammenhängendes Kriterium: Weibliche Macht zielt aus der Deckung heraus. (Nicht von ungefähr gebrauche ich hier das Wort „zielen“.) Es sind weniger die Objekte selbst, die explizite und nach außen gerichtete Macht ausdrücken. Es sind die Kontexte, in denen Frauen mit spezifischen, weiblich ­konnotierten Objekten hantieren, die den Männern unverständlich bleiben, die klein oder groß, spitz und scharf, vor allem aber unscharf sind; die undurchsichtig, ­verschleiernd, verdeckend, manchmal sogar unsichtbar und damit direkte Macht negierend, ihre Macht entfalten.

GEHEIMNISVOLLE TARNUNG  315

ZWISCHEN SCHARF UND UNSCHARF – EIN VAGES SCHLUSSWORT „Sooft ich durch eine Brille sehe, bin ich ein anderer Mensch und gefalle mir selbst nicht; ich sehe mehr, als ich sehen sollte, die schärfer gesehene Welt harmoniert nicht mit meinem Innern, und ich lege die Gläser geschwind wieder weg, wenn meine Neugierde, wie dieses oder jenes in der Ferne beschaffen sein möchte, befriedigt ist.“ (Goethe 1982, 120 f.) Begonnen wurde das Buch mit der Zusicherung, Geradlinigkeit und Ableitung zu verweigern – nicht aus Starrsinn, sondern aus dem im Sujet selbst liegenden ­unausweichlichen Inter-, Trans- und Dazwischen-Driften von Gender, Design und, erst recht, von Gender-im-Design. Widersprüche, Gegensätze, Disparitäten taten sich auf, die nicht zu glätten waren. Dies betrifft insbesondere die strittigen Aus­ einandersetzungen um Kategorien wie Weiblichkeit und Männlichkeit, Frau und Mann und die spezifischen Bedingungen, wie sie sich dann auf den subjektiven Umgang mit Objekten und die Einwirkung der Objekte auf die Subjekte auswirken. Die Dinge, wie ich sie hier beschrieb, treten im Design meist in Form von zwei- und dreidimensionalen, analogen und digitalen Produkten auf, ihnen haftet also immer auch das Warenförmige an. Ich habe mich bemüht, immer sehr genau darauf zu achten, wann ich von „weiblich“ oder „männlich“, wann ich von der sozialen Konstruktion von Weiblichkeit oder Männlichkeit und wann ich von mehreren und unscharfen „Genders“ schreibe. Nun ist aber das faktisch-praktische Verhältnis von Gender-im-Design in großen Teilen so sehr auf – seien es auch subtile – Gender-Differenzen und sogar -Disparitäten verwiesen, dass ich diese vorsätzlich und im Bewusstsein kritischer Anmerkungen von Intersektionalitätsforscher_innen aufzeigte und analysierte; ganz besonders, wenn es um empirische Beobachtungen im Alltagsleben und um die Auseinandersetzung mit auf eindeutige Geschlechter-­ Zielgruppen zugeschnittene Produktwelten geht. Aber auch die Ausarbeitung bestimmter historischer Gender-Konstellationen muss unabdingbar männliche und weibliche Lebenszusammenhänge spezifizieren. – Das ist der scharfe, der fokussierte Zugang. Die unscharfen Teile jedoch überspannen die scharfen Zweiteilungen, was ich sowohl im Titel als „Durchstreifen“ als auch im „Umherschweifen“ und in den uneindeutigen Gender-Bearbeitungen kenntlich machte. Und so kam mir in den Sinn, dass meine unscharfen Zugangsversuche – zweifellos sehr vereinfacht (und womöglich deshalb auch unstatthaft) – in bescheidenem Maße die Heisenberg’­ sche Unschärferelation auf zwei andere Begriffe transformieren könnten: eben auf Design und Gender. Nach Heisenberg ist das Verhältnis von Impuls eines Teilchens und Ort deshalb unscharf, weil nicht beide gleichzeitig exakt bestimmbar sind: Ist der Ort fest bestimmbar, ist der Impuls unsicher und vice versa. Jeweils nur eines kann exakt bestimmt werden. Heisenberg hat das in einer Vorformulierung seiner

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berühmten Theorie auch für physikalisch nicht kompetente Menschen ganz verständlich angedeutet: „(…) an der scharfen Formulierung des Kausalgesetzes: ‚Wenn wir die Gegenwart genau kennen, können wir die Zukunft berechnen‘, ist nicht der Nachsatz, sondern die Voraussetzung falsch. Wir können die Gegenwart in allen Bestimmungsstücken prinzipiell nicht kennenlernen. Deshalb ist alles Wahrnehmen eine Auswahl aus einer Fülle von Möglichkeiten und eine Beschränkung des zukünftig Möglichen.“ (Heisenberg 1927, 26)1 Möglichkeiten sind dazu da auszuwählen, denn ein zu untersuchender Gegenstand kann unter sehr diversen Perspektiven betrachtet werden. Und da fühlt sich die noch relativ junge Designforschung häufig bemüßigt, sozusagen über-­ akademisch sich legitimieren zu müssen; in dem Irrglauben, dass die Naturwissenschaften in ihrer angeblichen Genauigkeit und „Objektivität“ als Vorbild dienen könnten. Dass eben genau jene Naturwissenschaften längst dabei sind, Unschärfe, Ungefähres und die Unmöglichkeit von Exaktheit zuzugeben und zuzulassen, hat Heinz von Foerster kurz und lapidar so formuliert: „Die ‚hard sciences‘ sind erfolgreich, weil sie sich mit den ‚soft problems‘ beschäftigen, die ‚soft sciences‘ haben zu kämpfen, denn sie haben es mit den ‚hard problems‘ zu tun.“ (von Foerster 1993, 161) Die Genderforschung wiederum ist dabei, ihre Studien transformatorisch so auszuweiten (Stichworte u. a. Intersektionalität, Queer-Theorien), dass ihr zuweilen der thematische Fokus aus dem Blick zu geraten droht oder aber die Fokussierung eines spezifischen Themas – unter selbstverständlich sehr vielen möglichen anderen Themen – als eindimensional kritisiert wird. „Die sogenannten weichen Wissenschaften haben unter dem Druck solcher Geltungen vieles daran gesetzt, ihrerseits Schärfe zu erreichen, Unschärfe zu eliminieren und damit gesellschaftliche Anerkennung zu erstreben. Dabei haben sie sich an den Stellen selbst besiegt, wo sie versuchten, die höhere Komplexität von Beobachtungen zu beseitigen, die dort notwendigerweise auftritt, wo ich kein Labor mit begrenzten experimentellen Anordnungen schaffen kann, wo ich also den Beobachtungsvorrat nicht gezielt so begrenzen kann, dass die Komplexitätsreduktion mir zu möglichst eindeutigen Aussagen verhilft. Solche Beseitigungsversuche endeten und enden immer wieder im Feld der Naivität, der Vereinfachung, die kaum mehr das relevante Beobachtungsfeld in der Lebenswelt erfassen kann oder sich zum Selbstzweck gerät.“ (Reich 2009, 553 f.) Mein Unterfangen, Gender und Design als Gender-im-Design zusammen­zu­ bringen, setzt sich damit notwendig zwischen mindestens diese beiden Stühle. Aber genau darin, so konstatiere ich, entfaltet sich das Potenzial dieses Themas als Unschärfe. Es sind keine spektakulären, sondern ganz normale, manchmal sogar banale Alltagssituationen, in denen Individuen mit den Dingen kommunizieren; oder in 1

Hier handelt es sich um das erste Manuskript, in dem Heisenberg sich seiner Theorie über die Unschärfe­relation nähert.

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denen als sicher angesehene Formen überraschende andere Einsichten bieten; oder in denen durch ironische Eingriffe sich das wahre „Objektgeschlecht“ entpuppt; und der Nachweis geführt wird, dass die Gender-Kategorie eine lebendige, erhellende und wichtige Inspirationsquelle ist, das Design einer kritischen Überprüfung auszusetzen. Es besteht die Möglichkeit zu grundlegender Innovation, wenn Gender selbstverständlich von Beginn an einbezogen wird und damit die empirischen Zugänge, Methoden und adäquate Darstellung der Ergebnisse qualifiziert und designspezifisch formuliert und praktiziert werden. Das Konzept eines gendersensiblen, multidisziplinären Ansatzes in der Designforschung und der Designpraxis muss das Geschlecht der Menschen als Gestaltende und Nutzende und die Geschlechtersprache der Objekte sowie deren beider Interaktion einschließen. So verspricht die Zukunft des Designs wahrhafte Innovation und bessere Kommunikation.

ZWISCHEN SCHARF UND UNSCHARF – EIN VAGES SCHLUSSWORT  319

AUTOR_INNEN GÜNES AKSOY wurde in Istanbul geboren und lebt in Köln. Sie studierte Integrated ­ esign an der Köln International School of Design/KISD, TH Köln und arbeitet als frei­ D berufliche Designerin in den Bereichen Video, Fotografie und Grafikdesign für Print- und Digitale Medien. Mit dem Fokus auf konzeptionellem Design arbeitet sie sowohl eigen­ ständig als auch in kooperativen Projekten aus dem Kunst- und Kulturbereich. UTA BRANDES promovierte in Soziologie und Psychologie, ist aber seit Langem im De­ sign als Autorin und international Lehrende unterwegs. Bis Mitte 2015 lehrte sie als weltweit erste Professorin für „Gender & Design“ (außerdem für Designforschung) an der Köln International School of Design/KISD, TH Köln. Sie ist Mitinitiatorin und Vor­ sitzende des in New York gegründeten international Gender Design Network (iGDN) so­ wie Mitinitiatorin der Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung (DGTF). Mit Michael Erlhoff leitet sie die Designberatungsagentur be design in Köln. MICHELLE CHRISTENSEN ist Designforscherin und Doktorandin am Design Research Lab der Universität der Künste Berlin. Sie studierte Politische Soziologie (BA, Roskilde Universität), Konfliktsoziologie (MA, Utrecht Universität), Gender-Studies (MSc., Amster­ dam Universität) und Design (MA, Köln International School of Design/KISD, TH Köln). Weiterhin war sie u. a. in der Krisenabteilung von Amnesty International USA als Legis­ lative Fellow im Amerikanischen Kongress in Washington D.C. und an verschiedenen Universitäten in den Niederlanden und in Deutschland als Dozentin tätig. Seit 2014 ist sie im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung (DGTF) und seit 2015 Mitglied im Board of International Research in Design (BIRD) des Birkhäu­ ser Verlags. Sie lebt in Berlin. FLORIAN CONRADI ist Dozent, Designforscher und Doktorand am Design Research Lab der Universität der Künste Berlin. Er studierte Design an der Fachhochschule Mainz (­Diplom, FH), der Bezalel Academy of Art and Design in Jerusalem, dem Sandberg Insti­ tut der Gerrit Rietveld Academie in Amsterdam (MFA), und an der Köln International School of Design/KISD, TH Köln (MA). Seit 2006 initiiert er Design- und Forschungs­ projekte im akademischen und sozio-politischen Kontext und führte beispielsweise empirische Feldforschung im Norden Ugandas, in Israel und in den palästinensischen Gebieten durch. Seine Arbeiten wurden international veröffentlicht und ausgestellt. Er lebt in Berlin.

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JAQUELINE DIEDAM wurde in Curitiba (Brasilien) geboren und studierte Integrated De­ sign an der Köln International School of Design/KISD, TH Köln. Während ihres Studiums arbeitete sie in den Bereichen Produkt- und Service Design und führte Projekte zum Thema Gender & Design durch. Heute ist sie als freie Illustratorin und Kreativdirektorin tätig. Sie lebt in Köln. LYSANNE VAN GEMERT war Gaststudentin im Bereich Multimedia an der Köln Inter­ national School of Design/KISD, TH Köln. Momentan studiert sie Art & Technology an der Saxion University of Applied Sciences, Enschede (Niederlande) mit dem Ziel, Motion ­Designerin zu werden. Sie lebt in Enschede. MATTHIAS GRUND ist Designer und verbindet in seinen Arbeiten mehrere Designdiszip­ linen, um so komplexe Probleme zu lösen. Sein Interesse an Gender und Design ent­ deckte er während seines Studiums an der Köln International School of Design/KISD, TH Köln. Er lebt in Köln. PAUL GUDDAT studierte Sozialwissenschaften, bevor er an der Köln International School of Design/KISD, TH Köln durch ein Projekt auf das Thema Gender und Design aufmerksam wurde. Seine theoretischen Vorkenntnisse nutzt und verknüpft er in prak­ tischen Arbeiten, speziell im Produktdesign und in Inneneinrichtungen. Er lebt in Köln. ANNIKA JULIA MECHELHOFF wurde in Chiclayo (Peru) geboren. Seit 2011 studiert sie Integrated Design an der Köln International School of Design/KISD, TH Köln mit Schwer­ punkt auf den Lehrgebieten Gender und Design sowie Identität und Design. Sie lebt in Köln. ANNA MARIA MERKEL/YALA MAHA & FRIENDS sind: Anna Maria Merkel, Eva ­Herrmann, Jan Buckenmayer, Marie-Theres Rhein und Max Hoffmann. Das Team um Yala Maha hat sich in den ersten Semestern des Studiums an der Köln International School of Design/ KISD, TH Köln gefunden und arbeitet seither in unterschiedlichen Projekten eng zusam­ men. Annamaria Merkel, Eva Hermann, Jan Buckenmayer und Max Pietro Hoffman ­absolvierten im Juli 2016 ihr Studium im Fach Integrated Design an der KISD, Marie-­ Theres Rhein im Studiengang Lehramt an der Universität zu Köln. Nach Abschluss des Studiums hat sich das Team um Yala Maha leider weitgehend aufgelöst. Die ehemaligen Mitglieder arbeiten international in Werbeagenturen und Galerien. Die Idee des Projek­ tes – sowie dessen Netzwerk – besteht jedoch weiterhin und sucht aktuell nach Investo­ ren und Unterstützern. SEBASTIAN OFT ist Absolvent der Köln International School of Design/KISD, TH Köln. Er arbeitet im Bereich interdisziplinäres Kommunikations- und Grafikdesign mit besonderem Fokus auf Gender und Queer Studies. Nach Zwischenstationen in Istanbul und Hongkong ist er heute als Gestalter bei „yellow too“ sowie als freier Designer tätig. Er lebt in Berlin.

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ANUSCHEH ONSORI beendete 2013 ein duales Studium zur Einzelhandelskauffrau / staatl. geprüfte Betriebswirtin, spezialisiert auf die Möbelbranche. Aktuell studiert sie Integrated Design an der Köln International School of Design/KISD, TH Köln. Sie lebt in Köln. ZOE PHILINE PINGEL, geboren in Deutschland und aufgewachsen in Barcelona, studiert zur Zeit an der Gerrit Rietveld Academie in Amsterdam im Bereich Txt (Textil, Text, Kon­ text), nachdem sie 2015 ihr Studium mit dem BA an der Köln International School of ­Design/KISD, TH Köln abgeschlossen hatte. Sie untersucht Interaktionen von Körper und textilen Formen, wobei Gender und Design ein grundlegender Bestandteil sind. Ihr Fokus liegt auf der Erforschung und Gestaltung neuer Möglichkeiten von Textilien in ­Bezug auf Form, Identität, Körper und Mode. KATHRIN POLO wurde mit deutschen und italienischen Wurzeln in Regensburg geboren. Im Sommer 2016 schloss sie ihr Studium (BA) in Integrated Design an der Köln Interna­ tional School of Design/KISD, TH Köln ab. Sie setzt sich sowohl im privaten als auch im öffentlichen und professionellen Bereich für Gendersensibilität und LGBTQ-Rechte ein. KEREN ROTHENBERG wurde in Köln geboren und schloss ihr Bachelor-Studium in Inte­ grated Design an der Köln International School of Design/KISD, TH Köln ab. Seit ihrem Abschluss im Dezember 2015 ist sie als selbstständige Grafikerin tätig. Sie lebt in Köln. JULIA SCHÜMANN arbeitet seit 2009 selbstständig als Fotografin mit Atelier in Bergisch Gladbach. Ihr aufbauendes Studium in Integrated Design schloss sie 2015 im Fach Gen­ der und Design ab. Seit 2014 ist sie Mitglied des international Gender Design Network/ iGDN. KATHARINA SEEGER ist Strategic Design Lead bei BCG Digital Ventures und entwickelt nutzungszentrierte Produkte und Services. Sie hat Integrated Design an der Köln Inter­ national School of Design/KISD, TH Köln sowie Visuelle Kommunikation an der Hong Kong Polytechnic University studiert. Sie ist ausgebildete Jivamukti Yoga Lehrerin und lebt in Berlin. ALICIA SHAO schloss ihr Studium in Grafikdesign und Werbung an der Auckland Univer­ sity of Technology (Neuseeland) ab. Gegenwärtig studiert sie Integrated Design an der Köln International School of Design/KISD, TH Köln. Sie lebt in Köln. JULIANA LUMBAN TOBING ist Studentin an der Köln International School of Design/ KISD, TH Köln. Ihr Studienschwerpunkt liegt im Bereich Mode, insbesondere interessie­ ren sie die wissenschaftliche Auseinandersetzung sowie das experimentelle Arbeiten in den Bereichen Technologie und Mode. Sie lebt und arbeitet in Köln.

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LUCA ÉVA TÓTH schloss ein Studium in Ästhetik (BA) an der Universität in Szeged, ­ ngarn, ab und studierte danach Kunstgeschichte an der Eötvös Loránd Universität, U Budapest. Abschließend absolvierte sie ein Master-Studium in Design und Kunsttheo­ rie an der Moholy-Nagy Universität in Budapest. Während dieses Studiums verbrachte sie im Austausch zwei Semester an der Köln International School of Design/KISD, TH Köln. Aktuell arbeitet sie als Junior Art Director in der Werbeagentur Aclewe in Köln. KATHARINA SOOK WILTING studiert seit 2014 Integrated Design an der Köln Interna­ tional School of Design/KISD, TH Köln. Ihre Schwerpunkte sind Produktdesign, Fashion Design und Service Design. Sie lebt in Köln. LOUISE YAU CHI YAN arbeitete nach ihrem Multimedia- und Werbedesign-Studium an der Hong Kong Polytechnic University und an der Köln International School of Design/ KISD, TH Köln als selbstständige UX/UI-Designerin in Hong Kong, nachdem sie bereits in London und Amsterdam tätig war. Sie engagiert sich professionell für Geschlechterge­ rechtigkeit und gründete die Plattform feel-free.org, die sich für Frauen-Empowerment einsetzt und sich mit weiblicher Masturbation beschäftigt. Ihr ist es wichtig, in multidis­ ziplinären Teams und in multikulturellen Umgebungen zu arbeiten.

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Projektkoordination: Lisa Schulze Herstellung: Kathleen Bernsdorf Layout und Satz: Sven Schrape Design-Konzept BIRD: Christian Riis Ruggaber, Formal Papier: 110g/m2 Offset Lithographie: LVD Gesellschaft für Datenverarbeitung mbH Druck: Beltz Bad Langensalza GmbH Library of Congress Cataloging-in-Publication data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen ­Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ins­ besondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von ­Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Verviel­ fältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, ­bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Gren­ zen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils gelten­ den Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Dieses Buch ist auch als E-Book (ISBN PDF 978-3-0356-1109-0; ISBN EPUB 978-3-0356-1086-4) erschienen. © 2017 Birkhäuser Verlag GmbH, Basel Postfach 44, 4009 Basel, Schweiz Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF ∞ Printed in Germany ISBN 978-3-0356-1227-1 9 8 7 6 5 4 3 2 1

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Wörterbuch Design Begriffliche Perspektiven des Design Dieses Wörterbuch bietet die interessante und kategoriale Grundlage für einen ernsthaften internationalen Diskurs über Design. Es ist das Handbuch für alle, die mit Design beruflich und in der Ausbildung zu tun haben, sich dafür interes­ sieren, sich daran vergnügen und Design begreifen wollen. Über 100 Autorinnen und Autoren u. a. aus Japan, Österreich, England, Deutsch­ land, Australien, aus der Schweiz, den Niederlanden und aus den USA haben für dieses Design-Wörterbuch Originalbeiträge geschrieben und bieten so bei aller kulturellen Differenz mögliche Erörterungen an, sich über wesentliche ­Kategorien des Design und somit über Design grundlegend zu verständigen. Es umfasst so­ wohl die teilweise noch jungen Begriffe aktueller Diskussionen als auch ­Klassiker der Design-Diskurse. – Ein praktisches Buch, das sowohl ­Wissenschaftscharakter hat als auch ein Buch zum Blättern und Lesen ist. Michael Erlhoff, Tim Marshall (Hg.) In Zusammenarbeit mit dem Board of International Research in Design 472 Seiten 16,8 × 22,4 cm Gebunden ISBN: 978-3-7643-7738-0 Deutsch ISBN: 978-3-7643-7739-7 Englisch

Design as Research Positions, Arguments, Perspectives Die Designforschung ist vielfältig und im ständigen Wandel begriffen. Dieses Buch fragt nach dem aktuellen Stand der Dinge und skizziert die Grundfragen der forschenden Praxis. 16 internationale Autor/innen widmen sich in persönlichen Stellungnahmen vier Aspekten: Gibt es Differenzen zwischen Designpraxis und Designforschungspraxis? Welche Allianzen zwischen Text und Artefakt sind auf der Suche nach neuem Wissen möglich? Wie werden Theorien und Methoden aus anderen Disziplinen durch die Designforschung übersetzt und transformiert? Be­ wegt sich die Designforschung auf dem Weg zu einer formalen Disziplin, und wäre dies überhaupt ein Gewinn? Somit ist dieses Kompendium die Bestandsaufnahme eines schnell wachsenden Forschungsfeldes und zugleich ein Kompass zur persönlichen Orientierung. Gesche Joost, Katharina Bredies, Michelle Christensen, Florian Conradi, Andreas Unteidig (Hg.) In Zusammenarbeit mit dem Board of International Research in Design 240 Seiten 16,8 × 22,4 cm Gebunden ISBN: 978-3-0356-0919-6 Englisch

Crowd Design From Tools for Empowerment to Platform Capitalism Die digitale Revolution ist mit dem Versprechen verknüpft, die Selbstständigkeit des einzelnen Nutzers zu stärken. Der Aufstieg von kommerziellen Plattformen zur Koordination von Crowdarbeit stellt die Gültigkeit dieses Narrativs jedoch in Frage. In Crowd-Design analysiert Florian Alexander Schmidt die Entstehungsgeschichte, Funktionsweise und Rhetorik solcher Plattformen. Der Vergleich von historischen Crowd-Diskursen und Visionen der Online-Kollaboration bildet den Ausgangspunkt für eine kritische Betrachtung aktueller Ausprägungen von Crowdarbeit: Der Fokus der Studie liegt auf der Auslagerung von Designaufgaben unter Verwendung dieser Crowdsourcing-Plattformen. Grundlegende Mechanismen, welche den Plattformbetreibern zur Motivation und Kontrolle der Crowds dienen, werden offengelegt. Florian Alexander Schmidt In Zusammenarbeit mit dem Board of International Research in Design 256 Seiten 16,8 × 22,4 cm Gebunden ISBN: 978-3-0356-1198-4 Englisch

Designerly Ways of Knowing Das Verstehen und Entwerfen im Design gehorcht ganz eigenen Regeln. Nigel Cross begann um 1980 mit anderen avantgardistischen Forschern diese spezi­ fischen Gesetzmäßigkeiten herauszuarbeiten. Das Buch fasst seine fundamen­ ta­len Erkenntnisse der letzten 25 Jahre konzis zusammen. Es bietet einen faszi­ nierenden und qualifizierten Einblick in die Welt der Design-Kreativität. Die sieben Kapitel behandeln Kernthemen wie: die Fähigkeit zum Design-Entwerfen, natür­liche und künstliche Intelligenz im Design, der kreative Sprung, die kreativen Strategien, Problem-Formulierung, das Generieren von Lösungen, Design als eine (wissenschaftliche) Disziplin. Die Einleitung des BIRD macht deutlich, warum «Designerly Ways of Knowing» den kongenialen Einstieg in diese rasch an Bedeutung gewinnende Disziplin darstellt. Nigel Cross ist Professor of Design Studies an der Open University in Milton Keynes und Editor-in-Chief der internationalen Zeitschrift «Design Studies». Nigel Cross In Zusammenarbeit mit dem Board of International Research in Design 144 Seiten 16,8 × 22,4 cm Gebunden ISBN: 978-3-7643-8484-5 Englisch

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Design durch Gebrauch Die alltägliche Metamorphose der Dinge Diese Publikation erforscht und analysiert eine ganz besondere Form von Design: Das ebenso normale wie wunderbare Phänomen, dass Menschen ohne Desig­ nanspruch bereits gestaltete Dinge umnutzen, anders nutzen, im besten Sinne «missbrauchen». Nicht Intentionales Design (NID) findet täglich, in jeder Lebens­ sphäre, in allen Teilen der Welt statt. Diese Umgestaltung durch Umnutzung macht die Dinge multifunktional, kombiniert mit kluger Erfindung neue Funkti­ onen. Sie ist häufig reversibel, ressourcenschonend, improvisierend, innovativ, preiswert. Für das Design kann es zu einer Quelle der Inspiration werden, wenn die professionellen Designer erst einmal wahrnehmen, was im praktischen Ge­ brauch mit all den gestalteten Dingen tatsächlich geschieht. Uta Brandes, Sonja Stich, Miriam Wender In Zusammenarbeit mit dem Board of International Research in Design 192 Seiten 16,8 × 22,4 cm Gebunden ISBN: 978-3-7643-8866-9 Deutsch ISBN: 978-3-7643-8867-6 Englisch

Design als Rhetorik Grundlagen, Positionen, Fallstudien Auf welche Art wirkt und überzeugt Design? Was wissen Gestalterinnen und Ge­ stalter von den Regeln, die sie, teilweise unbewusst, anwenden? Die zeitgenös­ sische Designforschung entwickelt zunehmend ein Interesse an den rhetorischen Mechanismen der Design-Praxis. Der vorliegende Sammelband stellt die klassische Kommunikationslehre der Rhetorik als eine neue und umfassende Metatheorie des Designs vor. Sie betrifft prinzipiell alle Bereiche heutigen Designs – vom Grafik-Design über die Architek­ tur bis zur Interfacegestaltung. «Design als Rhetorik» führt drei Bereiche zusammen: Das Buch stellt die histo­ risch relevanten Texte vor und bildet als Positionsbestimmung die kontroverse zeitgenössische Diskussion ab. Zudem versammelt es in Fallstudien Beiträge zu den wichtigsten Forschungsfeldern wie etwa «Interaktive Rhetorik», «Rhetorik Design und Gender», «Rhetorik des World Wide Web». Gesche Joost, Arne Scheuermann (Hg.) In Zusammenarbeit mit dem Board of International Research in Design 280 Seiten 16,8 × 22,4 cm Gebunden ISBN: 978-3-7643-8345-9 Deutsch

Transformation Design Perspectives on a New Design Attitude Kann Design zur Lösung globaler Probleme wie Klimawandel, Ressourcenver­ knappung und Bevölkerungswachstum beitragen? «Transformation Design» sucht nach neuen Wegen für die Veränderung unserer Verhaltensweisen und der Ge­ sellschaft durch neue Formen der Innovation. Der bestehende nutzerorientierte Ansatz des Designs muss deshalb zu einem gesellschaftsorientierten Ansatz er­ weitert werden. Das Konzept der Transformation geht auf den Anthropologen Karl Paul Polanyi und sein Buch The Great Transfomation (1944) zurück, in dem die Entstehung der mittlerweile nahezu unangefochtenen und global verbreiteten westlichen Markt­ logik beschrieben wird: die Transformation von Gesellschaften mit Märkten in Marktgesellschaften bezeichnet er als «Entbettung der Märkte». Das Buch ver­ sucht eine erste Positionierung dieser ehrgeizigen ethischen Haltung im Design. Und es will die internationale Diskussion beflügeln, das Projekt eines verantwort­ lichen Designs voranzutreiben. Wolfgang Jonas, Sarah Zerwas, Kristof von Anshelm (Hg.) In Zusammenarbeit mit dem Board of International Research in Design 288 Seiten 22,0 × 28,0 cm Gebunden ISBN: 978-3-0356-0653-9 Englisch

Prozessästhetik

Eine ästhetische Erfahrungstheorie des ökologischen Designs

Seit den 1960er-Jahren richtet sich der Blick von Designern vermehrt auf Pro­ zesse, die Produkte und Umwelt verbinden: Aspekte wie Rohstoffgewinnung und Produktions­bedingungen beeinflussen den Designprozess ebenso wie Gebrauch und Weiterverarbeitung. Im Gegensatz zum postmodernen Produktdesign, das seinen Fokus vor allem auf die kommunikativen Prozesse zwischen Produkt und Nutzer richtet, werden für das ökologische Produktdesign die den Lebenszyklus prägenden natürlichen oder auch stofflich-energetischen Prozesse bedeutsam. Die Zeiltichkeit des Produkts wird so konstitutiv für dessen Verständnis. Das Buch zeichnet dieses gewandelte Produktverständnis nach und untersucht, welche ästhetischen Erscheinungsformen das ökologische Produktdesign kennt und wie sich diese übergreifend einordnen lassen. Johannes Lang In Zusammenarbeit mit dem Board of International Research in Design 176 Seiten 16,8 × 22,4 cm Gebunden ISBN: 978-3-0356-0326-2 Deutsch