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German Pages 376 Year 2014
Özkan Ezli, Andreas Langenohl, Valentin Rauer, Claudia Marion Voigtmann (Hg.) Die Integrationsdebatte zwischen Assimilation und Diversität
Özkan Ezli, Andreas Langenohl, Valentin Rauer, Claudia Marion Voigtmann (Hg.)
Die Integrationsdebatte zwischen Assimilation und Diversität Grenzziehungen in Theorie, Kunst und Gesellschaft
Gefördert mit Mitteln des im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzclusters der Universität Konstanz Kulturelle Grundlagen von Integration.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Eddy Decembrino, Konstanz Umschlagabbildung: Christopher Anderson, 2006, Venezuela. Caracas, Reflection in window in Altamira (Magnum Photos / Agentur Focus). Lektorat & Satz: Özkan Ezli, Julie Jeck, Claudia Voigtmann und Kerstin Zerwes-Polgar Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-8376-1888-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung
Özkan Ezli, Andreas Langenohl, Valentin Rauer, Claudia Marion Voigtmann | 9
DEBATTEN UND KONZEPTE DER I NTEGRATION Dialog im neuen Multikulturalismus Die Debatte nach der Schweizer Volksabstimmung um den Bau von Minaretten Andreas Langenohl | 25 Integrationsdebatten in der deutschen Öffentlichkeit (1947-2012) Ein umstrittenes Konzept zwischen ‚region-building‘ und ‚nation-saving‘ Valentin Rauer | 51 Kulturelle Diversität und soziale Ungleichheiten
Thomas Faist | 87 Transnationale Inklusion als ein multilokales Phänomen Ein Abschied vom Assimilationsparadigma der Migrationsforschung? Anna Amelina | 119
S CHAUPLÄTZE UND VERHANDLUNGEN VON I NTEGRATION UND DIVERSITÄT Das strittige Kollektiv im Kontext eines Repräsentationsregimes Kontroversen auf der Deutschen Islam Konferenz (2006-2009) Levent Tezcan | 159 Narrative der Integration und Assimilation im Film Özkan Ezli | 189 Assimilation und Integration aus der Perspektive der Rechtswissenschaft Katja Schneider | 213 Schreiben gegen die Unsichtbarkeit Der Roman En famille von Marie NDiaye Cornelia Ruhe | 241
IM S PIEGEL DER ZEIT „Ein Abstraktum ohne gesellschaftliche und geschichtliche Bindung“ Jüdische Assimilation im literarischen Diskurs in ihren Anfängen und heute Paula Wojcik | 263 Die Assimilation deutscher Flüchtlinge in die/der Gegenwartskultur Intransitives Erzählen von Familiengeschichten der Assimilation in Hans-Ulrich Treichels Der Verlorene und Christoph Heins Landnahme Charlton Payne | 287
Dissimilation Wissen um britische Muslime in der War-on-Terror-Dekade Nicole Falkenhayner | 319 Generationenwechsel. Perspektivenwechsel Claudia Marion Voigtmann | 349
Autorinnen und Autoren | 367
Einleitung Ö ZKAN E ZLI , A NDREAS L ANGENOHL , V ALENTIN R AUER , C LAUDIA M ARION V OIGTMANN
Assimilation und Integration waren zunächst wissenschaftliche Fachbegriffe, deren Gebrauch sich auf einen kleinen Kreis von Wissenschaftlern beschränkte. Im Amerika und Europa des 19. und 20. Jahrhunderts diffundierten sie allmählich in die Sprache der politischen Öffentlichkeit. Inzwischen ist ihr Gebrauch eine alltägliche Selbstverständlichkeit. Beide Begriffe sind Bewegungskonzepte, die auf eine Veränderung von einem gesellschaftlichen Ist- in einen Soll-Zustand abzielen. Mit ihrem Gebrauch geht stets eine Kritik am Bestehenden einher. Die im Assimilationsbegriff implizierte Kritik besagt, dass ein Teil der Gemeinschaft dieser Gemeinschaft fremd sei und deshalb sich so weit verändern solle, dass er in dieser restlos aufgehe. Assimilation ist der Terminus technicus für die Vorstellung von einem Melting Pot, der alle Unterschiede entdifferenziert und eine homogene Kultur erzeugt. Assimilation hatte zumindest im 19. Jahrhundert damit auch eine rassistische Bedeutung, nach der die als minderwertig stigmatisierte Kultur in der höherwertigen aufzugehen habe. Es finden sich aber auch andere Begriffsverwendungen, die Assimilation als das Ergebnis eines physiologischen Stoffwechselprozesses verstanden oder als eine „Selbststärkung der sich angleichenden Gruppe“ begriffen (Omran 2003: 91). Stets bezeichnete der Begriff also spezifische Formen der Umwandlung oder Usurpation von anderen Kulturen und deren Werten (Kivisto 2005). Die Geschichte des Integrationsbegriffs verlief anders. Zunächst war er in den Wirtschaftswissenschaften gebräuchlich (Herbst 1986), bevor er in die anderen Sozial- und Geisteswissenschaften übernommen wurde. Wenn heute von Integration die Rede ist, dann oft mit dem Zusatz, es handele sich
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nicht um Assimilation. Damit ist gemeint, dass Integration weder auf die Herstellung kultureller Homogenität ziele, noch andere kulturell bedingte Prägungen ausschließe. Gleichwohl bleibt Integration ebenfalls ein Begriff, der einen Ist-Zustand kritisiert und einen Soll-Zustand anvisiert. Wenn beispielsweise Ausländerbeauftragte in Integrationsbeauftragte umbenannt werden und Ausländerpolitik in Integrationspolitik (Rauer 2009: 212), dann geschieht dies mit der Intention, einen neuen Ist- und einen neuen SollZustand zu bestimmen. Ausländerpolitik will lediglich Grenzen regulieren, sie will nicht den Ist-Zustand von Ausländern und Inländern verändern; Integrationspolitik will demgegenüber verändern, wen und was sie verändern will, ist prinzipiell offen und unabschließbar und wird Gegenstand politischer Debatten. Die Debatten reagieren also auf eine hybride Vermengung von Bedeutungsoffenheit und Veränderungsimperativ, so die These eines Beitrags zur öffentlichen Karriere des Begriffs in den letzten 40 Jahren in Deutschland (vgl. Rauer in diesem Band). Öffentliche Integrationssemantiken sind deshalb so produktiv, weil eine semantische Zone spannungsgeladener Ununterscheidbarkeiten sie kennzeichnet (vgl. die Beiträge in dem Band: Frank, Ruhe, Schmitz 2012). Diese spannungsgeladenen Zonen charakterisieren nicht nur die politischen Debatten, sondern auch den künstlerischen und literarischen Umgang mit Integration. Besonders deutlich wird dies in den künstlerischen Produktionen deutsch-türkischer und deutschdeutscher Provenienz beginnend mit den 1970er Jahren bis heute (vgl. Ezli 2009; 2012b; vgl. auch Ezli in diesem Band). Wie die Beiträge im Folgenden zeigen, ist die inhaltlich abstrakte Bedeutung als Bewegungsbegriff der Grund dafür, dass das Reden über Integration zunächst offen lässt, um welchen Ist- und Soll-Zustand es sich handelt. Erst mit den pragmatischen, d.h. politischen und künstlerischen Begriffsverwendungen wird dieser Bedeutungsaspekt konkreter. Kritisierte Ist-Zustände, die zu integrieren seien, reichen von einem grassierenden Zustand sozialer Ungleichheit über dysfunktionale Kooperationsformen zwischen Institutionen bis hin zu alltagspraktischen Kompetenzen und barrierefreien Räumen. Integriert werden kann im öffentlichen Sprachgebrauch daher nahezu jeder und jedes. Diese Anwendungsoffenheit erlaubt so auch, von kultureller Integration zu sprechen, die auf mehr oder weniger kulturelle Angleichung oder gar auf Assimilation zielt. Diese letztere, teilweise offen ausgesprochene oder teilweise auch nur mitschwingende kulturelle Bedeutung des Begriffes bildet das zentrale Einfallstor für politische Debatten,
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soziale Auseinandersetzungen und ästhetische Diskurse, deren verschiedene Aspekte in den Aufsätzen dieses Bandes untersucht werden. Gefragt wird nach den theoretischen, politischen und narrativen Grundlagen dieser Konzepte in Theorie, Öffentlichkeit, Literatur und Film mit Schwerpunkt auf Europa. Wie die folgenden Beiträge zeigen, erweisen sich öffentliche Debatten, Narrative und Repräsentationen stets als Verhandlungen über die Grenzen der jeweiligen Gemeinschaften und Gesellschaften. Solche Grenzverhandlungen und Erzählungen von kollektiven Identitäten gelten in modernen Verfassungsstaaten eigentlich nicht als verhandelbar, sondern als Voraussetzung staatlicher Legitimität (Giesen 1999). Integrationsdebatten und Erzählungen kreisen also immer auch um die Bedingungen der Möglichkeit von Veränderungen kollektiver Grenzziehungen (Ezli 2012a: 182-184). „Sie [Erzählungen] verarbeiten und gestalten Komplexität durch Dynamisierung, durch Auflösung von Zustand in Prozess“ (Koschorke 2012: 21). In Zeiten von Globalisierung und transstaatlicher Regionalisierungen werden die Grenzen unterschiedlichster staatlich verfasster und transstaatlicher Kollektive neu gezogen (Langenohl, Rauer 2011). Integrationsdebatten und -narrative sind damit auch stets Selbstverständigungsdebatten und Grenzerzählungen (Koschorke 2012). Ist beispielsweise von der ‚Integration der Einwanderer‘ oder der ‚europäischen Integration‘ die Rede, wird stets beteuert, dass es sich keineswegs um Homogenisierungen handele. In solchen Beteuerungen, die Linguisten als „concessional denial“ bezeichnen, ist stets die Bedeutung des jeweils Verneinten mit impliziert. Wissenschaftshistorisch schwingt zudem eine alte wissenschaftliche Debatte mit: zwischen den ‚Pluralisten‘ und ‚Multikulturalisten‘ einerseits und den ‚Universalisten‘ und ‚Assimilationisten‘ andererseits. Diese Debatte ist inzwischen erkaltet und soll auch nicht wieder aufgewärmt werden. Gleichwohl zeigen sowohl die öffentlichen als auch die sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzungen um ‚Assimilation‘ und ‚Integrationspolitik‘, dass diese stets mitlaufenden Konzepte nach wie vor Bedeutungspotenzial für die Selbstbeobachtung moderner Gesellschaften haben. Die erheblich grenzsetzende wie auch grenzüberschreitende Bedeutung der Begriffe Assimilation und Integration erklärt sich zudem daraus, dass sie als komplexe Begriffe der europäischen Moderne zwei konträre Bewegungen bündeln: zum einen den oftmals als Gewaltakt erfahrenen kulturellen Homogenisierungsprozess und zum anderen die Generierung eines
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Möglichkeitsraums, in dem durch Aneignung neue Lebensformen, und damit verbunden Repräsentations- und Imaginationsformen, geschaffen werden (Koschorke Lüdemann, Frank, Matala de Mazza 2007). Im Kontext (der Kritik) des Multikulturalismus in Europa in Politik und Gesellschaft wurden die Diskurse bislang lediglich mit Blick auf den Homogenisierungsaspekt geführt. Die Debatte wurde damit einseitig auf die Unterscheidungen ‚Kulturverlust versus Kulturerhalt‘ (aus minoritärer Perspektive) bzw. ‚Kulturverwässerung versus Kultursicherung‘ (aus majoritärer Perspektive) reduziert (vgl. Vertovec/Wessendorf 2010). Assimilation und Integration adressieren inzwischen jedoch weitaus umfassendere Bedeutungsfelder. Sie rufen als öffentliche Repräsentationen spezifische kulturelle Imaginationen und Vorstellungen von sozialer Ent-Differenzierung und von Wandlungspotenzial auf. Zudem beziehen sie sich keineswegs mehr nur auf die beiden Felder‚ tradierte Herkunftsgemeinschaft versus Ankunftsnation‘, sondern indizieren inzwischen umfassende, aber in sich inhomogene Zivilisationskonstrukte wie beispielsweise ‚den Westen‘ oder ebenso inhomogene transnationale Räume wie die Europäische (vorgestellte) Gemeinschaft. Mit der Forderung nach Integration lassen sich politische Ziele und Programme formulieren und emphatisch in der Öffentlichkeit platzieren, aber dies erlaubt keinen einfachen Kurzschluss zwischen Integration und Assimilation. Mehr noch: Assimilations- und Integrationsvorstellungen stellen keine immer schon fixierten konstativen oder normativen Aussagen über Kultur und ihre wünschenswerte Homo- oder Heterogenität dar, sondern sind selbst inhärenter Bestandteil der jeweiligen Kultur(en), daher variabel und auf ebenfalls variierende Gegenbegriffe angewiesen (Kleeberg, Langenohl 2011; vgl. Ezli 2012a: 12-14). Diese semantische, relationale und historische Multivokalität der Begriffe Assimilation und Integration als Kulturkonzepte, die sich von ihrer bisher vorausgesetzten Bindung an ethnische oder nationale Monokulturen lösen lässt und somit Möglichkeiten der Aneignung, Bildung, Emanzipation und Egalität, ebenso wie ihre Kehrseiten aufzeigt, ist Gegenstand der vorliegenden Publikation. Mit Beiträgen aus den Fächern Soziologie, Politologie, Rechtswissenschaft sowie Literatur- und Filmwissenschaft werden die Konzepte mit Blick auf die Schwerpunkte Debatten und Konzepte der Integration, Schauplätze und Verhandlungen von Integration und Diversität und Im Spiegel der Zeit hin analysiert.
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I. D EBATTEN
UND
K ONZEPTE
DER I NTEGRATION
Der erste Abschnitt Debatten und Konzepte der Integration widmet sich programmatischen Fragen der Integrationsdebatte aus soziologisch-konzeptioneller Perspektive. Anna Amelina, Thomas Faist, Andreas Langenohl und Valentin Rauer schaffen mit ihren konzeptionellen Texten zu „Assimilation“, „Integration“ und „Diversität“ sowie „Dialog“ und „Übersetzung“, teils in Rückbindung an empirische Debatten und Problemwahrnehmungen von Assimilation und Integration, die Grundlage für die weiteren Kapitel, welche sich den Schauplätzen und Verhandlungen der Debatte und ihrem zeitlichen Horizont widmen. Andreas Langenohl untersucht die öffentlichen Debatten, die sich unmittelbar an das Schweizer Referendum über den Bau weiterer Minarette am 29. November 2009 anschlossen. Eine überraschende Einigkeit in der Schweiz wie in anderen Ländern Europas herrschte über die Lehre, die aus dem Referendum zu ziehen sei: Der Dialog zwischen den Mehrheitsgesellschaften und den Muslimen müsse sich verbessern. Langenohls Beitrag „Dialog im neuen Multikulturalismus. Die Debatte nach der Schweizer Volksabstimmung um den Bau von Minaretten“ zieht von dieser öffentlichen Debatte Parallelen zur politischen Theorie, namentlich zu Jürgen Habermas, der Übersetzungsprozesse zwischen religiösen und säkularen Bürgern als Voraussetzung dafür fordert, dass alle am politischen Diskurs teilhaben können. Die Bedeutung dieser Figur des ‚Dialogs‘ beschloss sich nicht so sehr in einer Öffnung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber einer muslimischen Minderheit, sondern schuf Letzterer in erster Linie eine diskursive Präsenz in der Öffentlichkeit. Daraus ergibt sich die Frage, inwieweit die Figur des ‚Dialogs‘ und das damit in der Öffentlichkeit aufgerufene Imaginäre der ‚Übersetzung‘ ein neues öffentliches und politisches Verständnis von Multikulturalismus andeutet, in dem kulturelle Unterschiede nicht nur (voraus)gesetzt werden, sondern Sprecherpositionen zwischen Mehrheit und Minderheit neu kalibrieren. Eine historisch-öffentlichkeitssoziologische Perspektive eröffnet der Beitrag „Integrationsdebatten in der deutschen Öffentlichkeit (1947-2012)“ des Sozialwissenschaftlers Valentin Rauer. Der Beitrag fragt nach der Verwendungsweise von „Integration“ in einer deutschen Tageszeitung ab dem 1949 bis ins Jahr 2012. Bis in die späten sechziger Jahre wurde der Begriff
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nur im Zusammenhang mit der europäischen Integration verwendet. Seit den siebziger Jahren beginnt die Begriffsverwendung sich auch auf Migranten auszudehnen. Seither laufen die europäische Integration und Einwanderungsintegration semantisch parallel. Der europäische Integrationsbegriff stammt aus den Wirtschaftswissenschaften, der migrationspolitische Integrationsbegriff aus der Soziologie. Diese beiden Bedeutungsfelder bezeichnet Rauer als region-building mit Bezug auf Europa und nation-saving im Bezug auf Migration. Zudem zeigt die Analyse, dass ein Großteil der Integrationsdebatten bereits in den sechziger Jahren nahezu identisch diskutiert wurden. So findet sich neben der Forderung, dass einer ökonomischen nun eine politische Integration in Europa folgen müsse oder Europa keine Schuldengemeinschaft sei, ebenso die Forderung, dass Deutschland sich endlich als Einwanderungsland begreifen müsse, oder die Gastarbeiter integrationsunwillig seien. In diese Tradierung fügen sich Integrationsdebatten der letzten Jahre – die Petition von 60 Migrationsforschern in der ZEIT und Thilo Sarrazin – nahtlos ein. Rauer resümiert, dass der Integrationsbegriff aufgrund seiner begrifflichen Abstraktion und Offenheit besonders geeignet ist, diese öffentlichen Debatten über die Grenzen der Gemeinschaft zu bündeln und sichtbar zu machen. Der Politologe und Soziologe Thomas Faist fragt in seinem Beitrag „Kulturelle Diversität und soziale Ungleichheiten“ danach, wie sich kulturelle Differenzen in soziale Differenzen verwandeln. Ihm zufolge setzt kulturelle Diversität – was im Migrationskontext mit sprachlicher, religiöser und ethnischer Pluralität in Zusammenhang gebracht wird – auf drei gesellschaftlichen Ebenen an: als Merkmal einer Gesellschaft, als Programme, mit denen Organisationen auf kulturellen Pluralismus reagieren, und als interkulturelle Kompetenz einer Person. Jedoch, so merkt der Autor an, produziert kulturelle Diversität nicht automatisch soziale Ungleichheit, auch wenn in vielen öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten bislang davon ausgegangen wird. So fordert Faist, es müsse vor allem herausgefunden werden, wie sich die Trennungslinien, die zu Ungleichheiten führen, ursprünglich herausbilden. Zu diesem Zwecke nimmt der Autor sich einem neuen Diversitätsmarker an: Transnationalität als grenzüberschreitendem Lebensstil. Mit dem Diversitätsbegriff gelingt es, die Folgen der sozialen Ungleichheit mit kultureller Ungleichheit in Beziehung eines Forschungsprogrammes zu setzen, das über den Assimilations- und Integrationsbegriff hinausweist.
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Mit ihrem Beitrag „Transnationale Inklusion als ein multilokales Phänomen“ fragt Anna Amelina, ob Transnationalismus den Abschied vom Assimilationsparadigma in der Migrationsforschung bedeutet. Sie setzt sich mit Theorien transnationaler Migration und Integration auseinander. Sowohl der klassische Assimilationsbegriff als auch der ihn ablösende Inkorporationsbegriff gehen – in Bezug auf Transnationalität – davon aus, dass ein Migrant von den nationalstaatlichen Institutionen als ‚ganze‘ Person eingenommen wird. Dies wird jedoch nicht der Beobachtung gerecht, dass transnationalen Migranten oft der Zugang zu wirtschaftlichen, medizinischen, religiösen und anderen Institutionen an zwei nationalstaatlichen Standorten offen steht. Wie können die verschiedenen Konstellationen unterschiedlicher Teilhabe beschrieben werden? Analog zu Armin Nassehi und Rudolf Stichweh, die anmahnten, Integration durch Inklusion zu ersetzen, schlägt die Autorin ebenfalls das Konzept der Inklusion vor, um transnationale Phänomene besser erfassen zu können.
II. S CHAUPLÄTZE UND V ERHANDLUNGEN VON I NTEGRATION UND D IVERSITÄT Die Beiträge des zweiten Abschnitts ‚Schauplätze‘ befassen sich mit Orten, an denen sich die Integrationsdebatten besonders manifestieren und verdichten. Es geht um Orte im übertragenen Sinne: die Deutsche Islam Konferenz, wo das „muslimische Kollektiv“ als neues Debattenmitglied geschaffen wird (Tezcan); in filmischen Narrativen der 1980er Jahre und in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts (Ezli); im deutschen Rechtssystem, in dem die Debatte ihre Verankerung finden muss (Schneider). Im abschließenden Beitrag dieses Kapitels wird in soziologischen und literarischen Texten französisch-maghrebinischer Provenienz untersucht, wie die rechtliche Gleichbehandlung der schwarzen Bevölkerung durch ihre subtile gesellschaftliche Diskriminierung ad absurdum geführt wird (Ruhe). Die öffentlichen integrationspolitischen Debatten konzentrieren sich seit einigen Jahren, so stellt Levent Tezcan fest, darauf, wie die Gruppe der Muslime am besten zu integrieren sei, und kulminieren in der Frage nach ihrer Repräsentation. Der Autor, der selbst als Wissenschaftler an der Deutschen Islam Konferenz (DIK) von 2006 bis 2009 teilgenommen hat, analy-
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siert diese als Ort, an dem so ein Versuch der Repräsentation – unter der Ägide des Bundesinnenministeriums – stattgefunden hat. Doch konnte man die Gruppe der Muslime als kollektiven Akteur voraussetzen? Gerade in diesem Moment des Umbruchs ist es aufschlussreich zu beobachten, wie ein muslimisches Kollektiv geradezu produziert wird. In „Das strittige Kollektiv im Kontext eines Repräsentationsregimes. Kontroversen auf der Deutschen Islam Konferenz (2006-2009)“ beleuchtet Levent Tezcan kritisch die Kontroversen um diese Gruppenbildung. Ein anderes wichtiges Medium von sich manifestierenden Verhandlungsräumen von Assimilation und Diversität sind dem Literatur- und Filmwissenschaftler Özkan Ezli zufolge filmische Narrative zur deutschtürkischen Migration, die spätestens seit den 1990er Jahren aus der Filmbranche nicht mehr wegzudenken sind. In einem Vergleich zweier erfolgreicher und bekannter Filme aus den 1980er Jahren und dem 21. Jahrhundert zeigt Ezli in seinem Beitrag „Narrative der Integration und Assimilation im Film“, wie unterschiedlich die Erzählungen der Integration zwischen den Dekaden sind und welche differenten kultur- und gesellschaftspolitischen Rahmungen mit ihnen verbunden sind. Ausgangspunkte seiner Analyse sind zunächst Fragen, welche ähnlichen und unterschiedlichen Nahund Distanzbeziehungen die Akteure zu kulturellen Kennzeichen in den 1980er und heute unterhalten und wie kohärent oder inkohärent diese Verhältnisse in Narration und Rezeption sind (vgl. Koschorke 2012: 38-44). Davon ausgehend zeigt er weiter auf, welches Feld und welche Form der möglichen oder unmöglichen Ankunft sich in den filmischen Narrativen konstituieren, die mit den jeweiligen politischen Integrations- und Desintegrationsnarrativen korrelieren und auch über sie hinausweisen. Dabei spricht Özkan Ezli für die 1980er Jahre von einer blockierten und für das 21. Jahrhundert von einer invertierten Integration. So zeigt die kulturwissenschaftliche Analyse künstlerischer Produktionen, dass Fragen der Assimilation und Diversität nicht nur eine der Politiken und Perspektiven, sondern zentral auch eine Frage der Erzählung ist. Das Erzählen ist hier ein „Organon unablässiger kultureller Selbsttransformation“ (Koschorke 2012: 25). Manchem mag noch der Vorwurf des türkischen Premierministers Recep Tayyib Erdo÷an in seiner Kölner Rede 2008 in Erinnerung sein, Assimilation sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Rede nimmt die Rechtswissenschaftlerin Katja Schneider zum Anlass, „Assimilation
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und Integration aus Perspektive der Rechtswissenschaft“ zu erläutern. Wie sind die Begriffe Assimilation und Integration im deutschen und internationalen Recht definiert? Die Klärung dieser Frage ist entscheidend dafür, welche Anpassungsleistungen an die deutsche Mehrheitsgesellschaft von Einwanderern erwartet werden können und welche nicht. Ebenso geht es um die Frage, welche Personen unter den völkerrechtlichen Minderheitenschutz fallen und welche nicht. Die Frage erörtert die Autorin in Bezug auf die in Deutschland lebenden türkischen Staatsangehörigen bzw. türkischstämmigen Deutschen im Vergleich zu den so genannten autochtonen Minderheiten wie beispielsweise Dänen und Sorben. In ihrem Resümee plädiert die Autorin dafür, diese rechtlich keineswegs selbstverständlichen Regulationsbereiche weiterhin kritisch zu beobachten. Dass die rechtliche Grundlegung, wie im französischen Gesetz gegen den Rassismus, nicht ausreicht, zeigt Cornelia Ruhe mit ihrem Beitrag „Schreiben gegen die Unsichtbarkeit. Der Roman En famille von Marie NDiaye“. Der Soziologe und Politologe Pap Ndiaye spricht von einer Unsichtbarkeit der schwarzen Bevölkerung Frankreichs mangels statistischer Daten. Was eigentlich als Form der Gleichbehandlung gedacht war, führte zu einer subtilen Diskriminierung. Seine Schwester Marie NDiaye behandelt in ihrem Roman En famille dasselbe Thema auf künstlerische Weise. Ruhe schlüsselt in ihrem Beitrag auf, wie die Transformation ihrer Protagonistin von einer ‚irgendwie Andersartigen’ zu einer Unsichtbaren durch eine Gesellschaft hervorgerufen wird, die Assimilation zwar fordert, sich aber gleichzeitig dagegen abschottet.
III. I M S PIEGEL DER Z EIT Nicht nur ihre Schauplätze sondern auch ihr jeweiliger zeitlicher Bezug prägte die Debatten um Assimilation, Integration und Diversität. Dieser Buchabschnitt zieht einen zeitlichen Bogen vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Gleichzeitig verdeutlichen die einzelnen Beiträge noch einmal Hoch-Zeiten der dargestellten Konzepte und ihre geographische Verortung: Wie schlägt sich die Debatte um die Assimilation der Juden im Deutschland des 18. Jahrhunderts (Wojcik) sowie die Flüchtlings-Diskussion im Nachkriegsdeutschland (Payne) literarisch nieder? Wie entsteht das GegenKonzept der Dissimilation in Großbritannien nach den Terroranschlägen
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von 2001 und 2005 (Falkenhayner)? Wie werden die Vereinigten Staaten heute als Erfolgsmodell von Integration literarisch propagiert (Voigtmann)? In ihrem Beitrag „‚Ein Abstraktum ohne gesellschaftliche und geschichtliche Bindung‘ – Jüdische Assimilation im literarischen Diskurs in ihren Anfängen und heute“ führt uns Paula Wojcik zunächst ins 18. Jahrhundert. Damals entbrannte in Deutschland eine Debatte über die bürgerliche Gleichstellung der Juden, die letztlich einer Debatte um ihre Assimilation gleichkam und zugleich das Assimilationskonzept beeinflusste. Wie sich diese Debatte in der zeitgenössischen Literatur niederschlug, zeigt Wojcik an jüdischen Figuren bei Lessing, Gellert und Voss, um anschließend einen Bogen zur Gegenwartsliteratur zu schlagen: Wie werden die unterschiedlichen Assimilationsbegriffe heute literarisch verarbeitet und welche poetologischen Strategien werden dazu verwendet? Und inwiefern finden schon im 18. Jahrhundert zu beobachtende Tendenzen ihre Fortsetzung in der Gegenwart? Um Erzählungen über deutsch-deutsche-Assimilation in der Nachkriegszeit geht es in Charlton Paynes Beitrag „Die Assimilation deutscher Flüchtlinge in die/der Gegenwartsliteratur. Intransitives Erzählen von Familiengeschichten der Assimilation in Hans-Ulrich Treichels’ Der Verlorene und Christoph Heins’ Landnahme“. Diese beiden Werke stimmen nicht in die offizielle Rede einer erfolgreichen Assimilation ein, sondern beschreiben deren potenziell desintegrativen Prozesse. Welche Rolle messen diese Texte der Familie im Prozess der Assimilation bei? Und lassen sich darin Parallelen ziehen zwischen einem nicht-teleologischen Begriff von Assimilation und erzähltechnischen Experimenten, so dass sich Assimilieren und Erzählen im intransitiven Sinne decken? Der Beitrag von Nicole Falkenhayner „Dissimilation. Wissen um britische Muslime in der War-on-Terror-Dekade“ führt den Gegenbegriff von Assimilation in einer in Großbritannien als kritisch empfundenen Phase ein, die sich an die Terroranschläge vom 11. September 2001 sowie die Anschläge auf das Londoner Transportsystem vom 7. Juli 2005 anschließt. Wie kam es dazu, dass britische Muslime als von der britischen Mehrheitsgesellschaft abgesondert wahrgenommen wurden, gerade in einem Land, das sich zuvor als besonders liberal und tolerant gegenüber kultureller Andersartigkeit begriff? Falkenhayner analysiert in drei Bereichen, wie das Wissen über eine britisch-muslimische Identität neu konstruiert wurde: in Politik (insbesondere das Programm der Labour-Regierung Preventing Vio-
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lent Extremism), Wissenschaft (speziell sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Islamophobie) und in der filmischen Darstellung britischmuslimischer Lebenswelten nach 9/11. Inwiefern überschneiden sich die unterschiedlichen Diskurse der Terrorismusbekämpfung, der Identitätspolitik und der fiktionalen Medienzeugnisse? Während sich Deutschland erst spät zu einem Bekenntnis, ein Einwanderungsland zu sein, durchrang, verstanden sich die Vereinigten Staaten schon seit ihrer Gründung als solches. Der Beitrag von Claudia Marion Voigtmann „Generationenwechsel. Perspektivenwechsel“ widmet sich zwei amerikanischen Gegenwartsautoren, die nicht in den USA geboren wurden, es dort jedoch zu höchsten schriftstellerischen Auszeichnungen gebracht haben: Wie stellen Jhumpa Lahiri und Junot Díaz Immigration und die daraus folgenden Fragen der Identität und sozialer Auseinandersetzungen in ihrer neuen ‚Heimat‘ dar? Wie reagieren sie auf traditionelle Erzählweisen von „immigration stories“? Und welche Schwerpunkte setzen die Medien in der Diskussion um diese ‚transnationalen‘ Autoren und ihre Werke? Der vorliegende Band Die Integrationsdebatte zwischen Assimilation und Diversität. Grenzziehungen in Theorie, Kunst und Gesellschaft geht auf die Tagung „Im Banne der Assimilation? Kunst, Kultur und Theorie transnationaler Migration“ vom 15.10. bis 17.10.2009 zurück. Die Tagung wurde vom Exzellenzcluster 16 „Kulturelle Grundlagen von Integration“ an der Universität Konstanz organisiert und finanziert, in Kooperation mit der Sektion „Migration und ethnische Minderheiten“ der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“. Wir danken dem Exzellenzcluster und der Sektion, namentlich Thomas Faist, ausdrücklich für die Ermöglichung der Tagung und dieses Bandes. An dieser Stelle möchten wir auch den Autorinnen und Autoren für ihre Vorträge und Texte herzlich danken. Ganz besonders bedanken wir uns auch bei unseren Mitarbeiterinnen Julie Jeck und Kerstin Zerwes-Polgar, die die Korrektur und den Satz dieser Publikation tatkräftig mitrealisiert haben.
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L ITERATUR Ezli, Özkan. Grenzen der Kultur. Autobiographien und Reisebeschreibungen zwischen Okzident und Orient. Konstanz: Konstanz University Press 2012a. Ezli, Özkan. „Auf Empfang eingestellt. Autokommunkation als kulturelle Dynamik in Rainer Werner Fassbinders Angst essen Seele auf (1973)“. In: Frank, Susi K./ Ruhe, Cornelia/ Schmitz, Alexander (Hg.). Integration und Explosion. Perspektiven auf die Kultursemiotik Jurij Lotmans. Bielefeld: transcript 2012b, S. 247-267. Ezli, Özkan. „Von der interkulturellen zur kulturellen Kompetenz. Fatih Akıns globalisiertes Kino“. In: ders./ Kimmich/ Werberger. Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur. Bielefeld: transcript 2009, S. 207-230. Frank, Susi K./ Ruhe, Cornelia/ Schmitz, Alexander (Hg.). Integration und Explosion. Perspektiven auf die Kultursemiotik Jurij Lotmans. Bielefeld: transcript 2012. Giesen, Bernhard. Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. Herbst, Ludolf. „Die zeitgenössische Integrationstheorie und die Anfänge der europäischen Einigung 1947-1950“. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 34. Jg., H.2 (1986), S. 161-206. Kivisto, Peter (Hg.). Incorporating Diversity. Rethinking Assimilation in a Multicultural Age. Boulder: Paradigm Publishers 2005. Kleeberg, Bernhard/ Langenohl, Andreas. „Kulturalisierung, Dekulturalisierung“. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie (2) (2011), S. 281–302. Koschorke, Albrecht. Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M.: Fischer 2012. Koschorke, Albrecht/ Lüdemann, Susanne/ Frank, Thomas/Matala de Mazza, Ethel. Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt a. M: Fischer-Taschenbuch 2007. Langenohl, Andreas/ Rauer,Valentin. „Reden an die Transnation. Eine Analyse der öffentlichen Reaktionen auf die Reden von Erdo÷an und Wulff in Deutschland“. In: Sociologia Internationalis. Bd. 49, H. 1. (2011), S. 69-101.
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Orman, Susanne: „„Assimilation“. Zur Physio-Logik kultureller Differenz nach 1800“. In: Kimminich, Eva (Hg.) Kulturelle Identität. Konstruktion und Krisen. Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 89-106. Rauer, Valentin. „Identität, Integration und Hybridität. Migrationspolitische Diskurse türkischer Dachverbände in Deutschland“. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 10/(2009), S. 145-163.
Debatten und Konzepte der Integration
Dialog im neuen Multikulturalismus Die Debatte nach der Schweizer Volksabstimmung um den Bau von Minaretten A NDREAS L ANGENOHL
Z USAMMENFASSUNG Gegenstand des Artikels sind die Debatten in der politischen Öffentlichkeit, die sich unmittelbar an die Schweizer Volksabstimmung über den Bau von Minaretten am 29. November 2009 anschlossen. An diesen Debatten fällt auf, dass eine allgemeine, weitesten Teils unwidersprochene Lehre für die Schweiz, aber auch für ganz Europa formuliert wurde: Der Dialog zwischen den Mehrheitsgesellschaften und den Muslimen müsse sich verbessern. Zugleich wurde die Aufforderung, sich in diesem Dialog zu engagieren, überwiegend an die Muslime herangetragen – und kaum an die Mehrheitsgesellschaft. Diese Analyse der Debatten in der politischen Öffentlichkeit gewinnt an Kontur, wenn man sie mit theoretischen Konzeptionen in der Politischen Theorie in Beziehung setzt. So argumentiert Jürgen Habermas seit einiger Zeit, dass in „postsäkularen“ Gesellschaften Übersetzungsprozesse zwischen religiösen und säkularen Bürgern stattfinden müssten, um zu gewährleisten, dass alle an der politischen Deliberation teilhaben könnten. Eine kritische Diskussion dieser Konzeption wirft ein Schlaglicht auf die Debatten im Anschluss an das Schweizer Referendum. Denn es existiert eine Kontinuität zwischen diesen Debatten und der politischen Theorie Habermas’, die darin besteht, dass die Forderung nach Dialog oftmals mit einseitigen Zuständigkeitszuschreibungen einhergeht, die aber
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unterbelichtet bleiben. Die Figur des „Dialogs“, die als Konsequenz aus der Volksabstimmung eingefordert wurde, gewinnt genau hieraus ihre konstitutive Wirkung: Während sie einerseits als eine Öffnung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber der muslimischen Minderheit interpretierbar ist, stellt sie zugleich sicher, dass letztere ein öffentliches Gesicht und eine diskursive Präsenz erhält. Dies ist die Folge eines Verständnisses von Übersetzung und Dialog, welches von präexistenten politischen Subjekten ausgeht, ohne ein Gespür für die eigenen diskursiven Effekte auf die Konstitution öffentlicher politischer Positionen zu haben. Die gegenwärtige Konjunktur von „Übersetzung“ und „Dialog“ ist daher vielleicht ein Indiz für einen „neuen“ Multikulturalismus, der durchaus nicht, wie es die These des Neo-Assimilationsmus formuliert, die Einebnung kultureller Differenzen zugunsten einer Mehrheitskultur fordert, sondern kulturelle Unterschiede (voraus-)setzt, abbildbar und problematisierbar hält.
„D IALOG “
UND „Ü BERSETZUNG “ IN AKADEMISCHEN UND ÖFFENTLICHEN D EBATTEN
Am 29. November 2009 unterstützte eine klare Mehrheit Schweizer Stimmabgebender eine Volksabstimmung über ein landesweites Verbot des Baus neuer Minarette über die vier damals existierenden hinaus. Dieses in der politischen Öffentlichkeit unerwartete Ergebnis wurde als ein möglicher Umschlagspunkt für Muslime in Europa angesehen. Die ersten öffentlichen Reaktionen, einerlei ob sie das Ergebnis begrüßten oder sich darüber entsetzten, stellten eine fehlende kommunikative Verbindung zwischen Muslimen und europäischen Mehrheitsgesellschaften fest und forderten die Intensivierung eines „Dialogs“ zwischen beiden Seiten – nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Europa und darüber hinaus. Diese öffentliche Analyse stellt den empirischen Kontext der vorliegenden Untersuchung dar, die folgende Frage aufwirft: Welches sind die politischen und sozialen Implikationen der wiederholten Rufe nach mehr Dialog zwischen den involvierten Seiten? Und wie soll man sich diese „Seiten“, d.h. die Positionen, zwischen denen Dialog stattzufinden hätte, vorstellen – Muslime und Christen, Gläubige und Säkulare, Mehrheit und Minderheit? Diese ersten Fragen zeigen eine Perspektive an, die die epistemologischen und politischen Ermöglichungsbedingungen von „Dialog“ und „Überset-
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zung“ hinterfragt, die als die einzig unumstrittene Lehre des Referendums galten. Obwohl im Vergleich zu „Dialog“ der Begriff der „Übersetzung“ weitaus weniger häufig in den hier interessierenden Debatten gebraucht wurde, ist er doch – dies wird der vorliegende Aufsatz zeigen – eine Schlüsselkategorie öffentlicher Verständnisse des Zusammenlebens von Muslimen und anderen in Europa. Mit dem Begriff „Dialog“ verbindet sich die Vorstellung eines Vieraugengesprächs unter Gleichen, die sich über ihre Positionen austauschen. „Übersetzung“ knüpft an diese Vorstellung an, erweitert sie aber um die Komponente unterschiedlicher sprachlich-kultureller Register der sich Austauschenden: sie sprechen „verschiedene Sprachen“, wie es eine Metapher will, die mit „Sprache“ durchaus auch partikulare Wertbezüge, Normsetzungen, kognitive Rahmungen und Interessengeneralisierungen meinen kann. Mit Blick auf die Situation von Migranten in europäischen Gesellschaften indes verliert sich häufig das Metaphorische des Übersetzungskonzepts, etwa dann, wenn politische Repräsentanten europäischer Mehrheitsgesellschaften den mangelhaften Erwerb der Landessprache durch Migranten kritisieren. Da die Figur des Migranten in Europa gegenwärtig vor allem mit Muslimen in Verbindung gebracht wird (Balibar 1991; Hüttermann 2009; Ezli 2009; Tezcan 2008; Schiffauer 2007), sind es daher häufig als muslimisch etikettierte Minderheiten – in Deutschland etwa die Türken, die nach Italienern, Spaniern und anderen „Südländern“ als die paradigmatischen Gastarbeiter galten – denen eine mangelnde Kenntnis des Deutschen vorgehalten wird. Zu Gespräch und Verständnis – Dialog – kann es gemäß dieser Vorstellung öffentlicher Kommunikation nur kommen, wenn die Minderheit lernt, die Sprache der Mehrheit zu sprechen. Dieses öffentliche Dispositiv wird von sehr unterschiedlichen Positionen aus artikuliert, angefangen bei konservativen politischen Theoretikern, die eine gemeinsame Sprache für eine Vorbedingung weiterer europäischer Integration halten, über Zeitungskommentatoren, die die Intensivierung von Dialog als die angemessenste Reaktion auf die Schweizer Volksabstimmung ansehen, bis hin zu Repräsentanten muslimischer Organisationen in Europa, die sich als Teile der europäischen Gesellschaften zu erkennen geben wollen. Die facettenreiche Beziehung zwischen Dialog, Übersetzung und Öffentlichkeit wurde kürzlich von Jürgen Habermas einer theoretischen Betrachtung unterzogen. Insbesondere hat er die Ansicht vertreten, dass religi-
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öse, auf Glauben beruhende Geltungsansprüche, insofern sie einen Ausgangspunkt für politische Stellungnahmen darstellen, in einen kommunikativen Modus „übersetzt“ werden müssen, um in gegenwärtigen, weitestgehend säkularisierten Öffentlichkeiten westlicher Gesellschaften eine politische Resonanz erzeugen zu können, und dass nichtgläubige Bürger bei dieser „Übersetzung“ assistieren sollten (Habermas 2005). Die Strategie des vorliegenden Aufsatzes besteht darin, von einer epistemologischen Kontinuität zwischen dieser akademischen politischen Theorie und öffentlichen Politikdiskursen auszugehen: Einerseits können Habermas’ Reflexionen als eine Art Vorläufer der öffentlichen Debatten nach dem Schweizer Referendum gesehen werden, während andererseits diese Debatten Habermas’ Theoriemodell kommentieren und einige seiner analytischen und gesellschaftlichen Konsequenzen ans Licht bringen, die bislang unbemerkt blieben, aber hochsignifikant für eine Bearbeitung der hier interessierenden Problematik sind.
D IE V OLKSABSTIMMUNG (29. N OVEMBER 2009) Die Volksabstimmung über ein Verbot des Baus von Minaretten in der Schweiz ging auf eine eidgenössische Volksinitiative der EidgenössischDemokratischen Union (EDU), einer kleinen Vereinigung ohne breite Unterstützung, zurück. Sie machte sich am Bau zweier Minarette fest, die zusätzlich zu den damals in der Schweiz existierenden vier geplant waren. Die Initiative gewann an Fahrt durch die Unterstützung der Schweizerischen Volkspartei (SVP), die bei den landesweiten Parlamentswahlen 2007 ca. 29 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Nationale Volksabstimmungen gelten in der Schweiz dann als erfolgreich, wenn sie mehr als 50 Prozent Zustimmung unter den Abstimmenden erlangen und zusätzlich in mehr als der Hälfte der Kantone eine Mehrheit finden. Im Falle der Initiative „Gegen den Bau von Minaretten“ war die Lage eindeutig. 57,5 Prozent der Abstimmenden votierten dafür und stellten in 22 von 26 Kantonen die Mehrheit. Die rechtliche Gangbarkeit der neuen Rechtsnorm ist zurzeit immer noch Gegenstand juristischer Debatten. Bedeutung hat diese Norm vor allem für die etwa 400.000 Muslime in der Schweiz (bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 7,9 Millionen), von denen ca. 50.000 als praktizierend ge-
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schätzt werden. Die meisten der ungefähr 200 muslimischen Gemeinden unterhalten Moscheen ohne Minarette.
H ABERMAS ’ POLITISCHE T HEORIE
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Das Schweizer Referendum steht im unmittelbaren Kontext einer Debatte über die Sichtbarkeit des Islam in der europäischen Öffentlichkeit, die gerade auch in Deutschland seit einiger Zeit kontrovers diskutiert wird (vgl. Hüttermann 2006). In der Politischen Theorie werden die Dinge etwas allgemeiner gerahmt. Namentlich Jürgen Habermas hat sich seit den 2000er Jahren, in denen er ein anwachsendes Raumgreifen religiöser Idiome in der politischen Öffentlichkeit beobachtet, dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Religion an sich zugewandt. Er stellt diese Arbeiten zur Religion in „postsäkularen“ Gesellschaften als normative Analyse einer Ethik politischer Teilhabe dar, die er an seine frühere Theorie des kommunikativen Handelns anbindet, indem er die Ressourcen demokratischer und soziopolitischer Integration und Partizipation in lebensweltlichen Interaktions- und Lernprozessen verortet. In Alltagsinteraktionen werden Einstellungen und Überzeugungen gebildet, die dann als Fundament politischer Deliberation in der Öffentlichkeit dienen können. Der Grad an kommunikativer Rationalität und Inklusivität öffentlich-politischer Deliberation hängt somit von Strukturen ab, die in lebensweltlicher Intersubjektivität das Bewusstsein ausbilden: „keine vernünftige politische Willensbildung ohne das Entgegenkommen einer rationalisierten Lebenswelt.“ (Habermas 1990: 208) Gemäß diesem Modell bürgt die Konkordanz zwischen rationalisierter Kommunikation in der Lebenswelt, postkonventionellen Bewusstseinsstrukturen und rationaler öffentlicher Debatte für die demokratische Integration moderner Gesellschaften durch politische Deliberation, die die politische Entscheidungsfindung anleitet. Die öffentliche Präsenz von Religion nun interveniert in diese politische Theorie, da sie eine ihrer Kernvoraussetzungen in Zweifel zieht. Denn selbst wenn man davon ausginge, dass in modernen (d.h. historisch westlichen) Gesellschaften die meisten Leute eine säkulare oder „nachmetaphysische“ kulturelle Orientierung teilten, muss Habermas doch konzedieren, dass Religion weder in ihrer institutionellen noch kognitiv-moralischen
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Form verschwunden ist.1 Er verweist auf verschiedene Belege hierfür: den wachsenden Einfluss orthodoxer Gruppen in bestehenden Religionsgemeinschaften; fundamentalistische Radikalisierungen religiöser Doktrinen und Überzeugungen in weltweitem Maßstab; und die „politische Entbindung religiöser Gewaltpotentiale“ (Habermas 2008a, o.S.). Angesichts dieser Tatsachen verändert sich die Grundlage für rationale, politisch-öffentliche und an Konsenserzielung orientierte Debatten: Konflikte werden zunehmend als identitäre und ideologische Abgründe inszeniert und aufgefasst; Kirchen und Glaubensgemeinschaften werden zu öffentlichen Akteuren und artikulieren zunehmend selbstbewusst moralische Urteile; schließlich erkennen Einwanderungsgesellschaften, dass solche Konflikte nicht aus der Welt geschafft werden können. Jedoch besteht der problematischste Aspekt der Präsenz von Religion darin, dass religiöse Überzeugungen nicht in derselben Weise kommunikativer Rationalisierung unterzogen werden können wie etwa politische Urteile: „religiös verwurzelte existentielle Überzeugungen entziehen sich durch ihren gegebenenfalls rational verteidigten Bezug auf die dogmatische Autorität eines unantastbaren Kerns von infalliblen Offenbarungswahrheiten der Art von vorbehaltloser diskursiver Erörterung, denen sich andere ethische Lebensorientierungen und Weltanschauungen, d.h. weltliche ‚Konzeptionen des Guten‘ aussetzen.“ (Habermas 2005: 135)
Während also eine rationalisierte Lebenswelt die Vorbedingung rationaler, auf Konsens orientierter politischer Debatte ist, wird dieses Ineinandergreifen durch die fehlende Neigung religiöser Überzeugungen, sich diskursiv rationalisieren zu lassen, unterhöhlt. Für ein Theorieprogramm, das in der Offenheit von Kommunikation für argumentative Rationalität nicht nur ein demokratisches Best Practice-Modell, sondern die grundlegende Bedingung für öffentliche Deliberation und anschließende politische Entscheidungsfindung sieht, ist dies ein schwerer Schlag. So ist es nachvollziehbar, dass Habermas nach Wegen sucht, Religion in sein theoretisches Gebäude aufzunehmen.
1 Vgl. die Zusammenfassung der soziologischen Debatte um das Säkularisierungstheorem in Franzmann/Gärtner/Köck 2006.
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Er geht das Problem auf zweierlei Weise an. Zunächst bedient sich Habermas des Begriffs der Übersetzung, um einen Prozess zu umreißen, in dem religiöse Glaubensinhalte und Werte in eine kommunikative Form überführt werden können, die deren kognitiv-moralischen Gehalt von ihrem Glaubenshintergrund ablösen und dadurch kommunikativer Rationalisierung zugänglich machen soll. Übersetzung figuriert als eine Art gestützter Kommunikation zwischen Subjekten, deren Haltungen zur Religion grundlegend divergieren. Dementsprechend entwirft Habermas Übersetzung als ein gemeinsames Projekt, das den religiösen Subjekten keine asymmetrische Bürde auferlege, gerade weil es von beiden Seiten vorangebracht werden müsse: „Diese Übersetzungsarbeit muss freilich als eine kooperative Aufgabe, an der sich auch nicht-religiöse Bürger beteiligen, verstanden werden, wenn die religiösen Mitbürger, die zur Teilnahme fähig und bereit sind, nicht auf eine asymmetrische Weise belastet werden sollen. Die religiösen Bürger dürfen sich nur unter dem Übersetzungsvorbehalt in ihrer eigenen Sprache äußern; diese Bürde wird durch die normative Erwartung ausgeglichen, dass sich die säkularen Staatsbürger für einen möglichen Wahrheitsgehalt religiöser Beiträge öffnen und auf Dialoge einlassen, aus denen die religiösen Gründe möglicherweise in der verwandelten Gestalt allgemein zugänglicher Argumente hervorgehen.“ (Habermas 2005: 137f.)
Weiterhin unterscheidet Habermas zwischen Deliberation in politischen Institutionen und solcher in der politischen Öffentlichkeit. So können religiöse Argumente, wenn sie in die politische Öffentlichkeit übersetzt werden, dort durchaus gelten, nicht aber in politischen Institutionen wie etwa dem Parlament (Habermas 2005: 137). Diese Unterscheidung bewirkt zweierlei: erstens erhält sie das moralische Potenzial religiöser Kommunikation – etwa die Kondensierung moralischer Fragen und die Erneuerung moralischer Ressourcen – für die säkulare gesellschaftliche Mehrheit, zweitens schützt sie das politische Gemeinwesen vor religiösen „Glaubenskämpfen“ (Habermas 2008a, o.S.). Insgesamt figuriert „Übersetzung“ in Habermas’ Argumentation in der Bewerkstelligung politischer Deliberation zwischen religiösen und säkularen Subjekten, zwischen denen sie eine Brücke errichtet, auf die beide Seiten gleichberechtigt treten können sollen. Diese Modifikation, die Habermas an seiner Theorie öffentlicher Deliberation vornimmt, erscheint zunächst als Aufnahme kritischer Einwände
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gegen das über mehrere Jahrzehnte vorherrschende Modernisierungs- und Säkularisierungstheorem, dem Habermas selbst in seiner Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas 1995) eine neue, umfassende theoretische Grundlage verliehen hat: „Religiöse Glaubensüberlieferungen und religiöse Glaubensgemeinschaften haben seit der Zeitenwende von 1989/90 eine neue, bis dahin nicht zu erwartende politische Bedeutung gewonnen.“ (Habermas 2005: 119) Der anschließende kursorische Überblick verhandelt indes einzig das Verhältnis zwischen religiösen und nichtreligiösen Kräften innerhalb gegenwärtiger Staaten. Mögliche Allianzen der Unterscheidung von religiös/säkular mit anderen Unterscheidungen werden nicht thematisiert. So äußert sich Habermas weder zur Frage der Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse zwischen religiösen und säkularen Bürgern noch dazu, auf welche Gruppen Religiosität zugeschrieben wird. Gerade hier entstehen aber konzeptionelle Nachfragen. Zum Beispiel wird der strukturelle Vorteil, den nichtreligiöse Subjekte in einer Öffentlichkeit genießen, die unter den Nachwirkungen der Fiktion ihrer eigenen Säkularität steht, von Habermas nicht als solcher thematisiert. Für ihn stellt die herablassende Einstellung zu religiösen Stellungnahmen in der politischen Öffentlichkeit nicht den Effekt eines Machtungleichgewichts, sondern eine Lernblockade auf Seiten säkularer Bürger dar. Selbst wenn es indes aus der Sicht politischer Theorie und Epistemologie richtig sein mag, die kognitiven Herausforderungen an religiöse und nichtreligiöse Subjekte einander gleichzusetzen, missachtet dies die höchst ungleichen empirischen Effekte, die eine Verweigerung von Übersetzung für religiöse und nichtreligiöse Bürger hat. Diese Ungleichheit lässt sich wie folgt beschreiben: während nichtreligiöse Subjekte die Übersetzung unterstützen sollten, um sie zu einem Gewinn für alle Beteiligten zu machen, müssen religiöse Subjekte ihre Stellungnahmen übersetzen (lassen), wenn sie ihre Anliegen in der öffentlichen Deliberation legitim zur Geltung bringen wollen. Nun war es genau diese Frage, wer mit dem Imperativ der (Selbst-) Übersetzung als (Kollektiv-)Subjekt konfrontiert werden darf, die in den ersten öffentlichen Reaktionen auf die Schweizer Volksabstimmung gegen den Bau weiterer Minarette artikuliert wurde. Der nächste Abschnitt fasst solche Reaktionen in der Schweizer und deutschen Qualitätspresse zusammen, mit gelegentlichen, kontrastiven Zwecken dienenden Blicken nach Frankreich und in die Vereinigten Staaten. Diese Debatten blieben nicht auf die Schweizer Verhältnisse beschränkt, sondern warfen vor allem die Frage
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der Bedeutung der Volksabstimmung für Europa und die Europäische Union auf. Sie werden gemäß einer qualitativ strukturierenden Inhaltsanalyse untersucht (Mayring 1993): Das Material wird nicht vollständig induktiv, sondern im Rahmen einer im Vorfeld formulierten Forschungsfrage geordnet und interpretiert. Diese Frage stellt sich anhand der soeben hinterfragten Ambiguitäten in Habermas’ Theorie der politischen Öffentlichkeit und der Rolle von Übersetzung: wie wird im Lichte des Ergebnisses des Referendums auf eine „Übersetzung“ rekurriert, die zwischen Subjekten stattzufinden habe, deren Positionen in einem mehrdimensionalen Raum zwischen Säkularität und Religiosität einerseits, Mehrheit und Minderheit andererseits verteilt werden?
R EAKTIONEN DER POLITISCHEN Ö FFENTLICHKEIT AUF DIE V OLKSABSTIMMUNG Die folgende Analyse untersucht Reaktionen in der schweizerischen und deutschen politischen Öffentlichkeit, wie sie in Erzeugnissen der Qualitätspresse in der ersten Woche nach der Volksabstimmung artikuliert wurden. In Deutschland bestand ein erhöhtes Interesse an der Schweizer Abstimmung, da hier bereits seit Jahren über die öffentliche Sichtbarkeit islamischer Gotteshäuser gestritten worden war (vgl. Hüttermann 2006). Zudem existiert eine enge Verbindung zwischen der Schweizer und der deutschen Presselandschaft, was sich etwa in häufigen wechselseitigen Bezugnahmen und Presseauftritten zwischen beiden nationalen Öffentlichkeiten zeigte. Es gibt daher, über das generische Argument einer eng verwobenen transnationalen Sequenzstruktur öffentlicher Kommunikation in Europa hinaus (vgl. Steeg 2003; Eder 2007), gute Gründe, die Reaktionen in beiden Ländern gemeinsam zu betrachten. Von Referendumsmehrheit zu muslimischer Minderheit Die Unerwartetheit des Ergebnisses der Volksabstimmung (man war vor der Abstimmung von nicht mehr als 37 Prozent Ja-Stimmen ausgegangen) machte verschiedene Szenarien für die Debatte direkt im Anschluss an die Abstimmung erwartbar, beispielsweise, dass der Schwerpunkt des Pressediskurses auf der Eruierung der Gründe für das Abstimmungsergebnis lie-
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gen würde. Tatsächlich geschah jedoch etwas anderes. Die Frage des Verhältnisses zwischen dafür und dagegen stimmenden Wählern verschob sich praktisch augenblicklich in die Befragung des Verhältnisses zwischen gesellschaftlicher Mehrheit und muslimischer Minderheit. Während das Referendum eine numerische Mehr- und Minderheit in Bezug auf die abzustimmende Frage erzeugt hatte, wurde es symbolisch in das Register der Beziehungen zwischen Schweizer Mehrheit und Muslimen überführt. Dies geschah maßgeblich durch eine extensive Berichterstattung über Reaktionen von als solche adressierten Repräsentanten des Islam innerhalb und außerhalb der Schweiz. So wurde über das Entsetzen seitens Vertretern internationaler islamischer Organisationen berichtet, zugleich jedoch von ihrem Aufruf an die Muslime in der Schweiz, Ruhe zu bewahren und sich im Dialog mit der nichtmuslimischen Mehrheitsbevölkerung zu engagieren (NZZ, 1. Dez.: 9). Der Mufti von Ägypten, so die Berichte, „warnte die Schweizer Muslime vor Gewalt und forderte sie auf, einen positiven Umgang mit ihren Mitbürgern zu pflegen“ (NZZ, 2. Dez.: 2). Die Berichte beinhalten auch Würdigungen, dass die Muslime in der Schweiz und der Welt ihre Besonnenheit und Vernunft bewiesen hätten, indem sie nicht gewaltsam gegen das Abstimmungsergebnis protestiert hätten (NZZ, 3. Dez.: 11). Zudem wird in der Presseberichterstattung wiederholt der Aufruf an die Muslime zirkuliert, der Welt und der Schweiz das wahre Gesicht des Islam zu präsentieren, um die Mehrheitsbevölkerung von der Kompatibilität jener Religion mit der schweizerischen Gesellschaft und Kultur zu überzeugen (NZZ, 3. Dez., 11). So wird der Generalsekretär der Organisation der Islamischen Konferenz mit den folgenden Worten zitiert: „Ich glaube, dass die Muslime in der Schweiz und in der EU daran arbeiten müssen, das wahre Gesicht des Islam zu zeigen, jenes der Toleranz und des Zusammenlebens.“ (NZZ, 1. Dez.: 9; TA, 2. Dez., vgl. auch NZZ, 3. Dez.: 11) Auch wird berichtet, dass der ägyptische Schriftsteller Alaa al-Aswani islamische Geistliche dazu aufgerufen habe, „mit der Entsendung kompetenter Rechtsgelehrter und Kulturwissenschaftler mehr Licht in die schweizerische Debatte um den Islam zu bringen“, um das Schweizer Bild über den Islam zurechtzurücken (NZZ, 1. Dez.: 45). Diese Berichte legen nahe, dass es in der Verantwortung der Muslime und ihrer religiösen Führungspersönlichkeiten liege, etwaige fälschliche Ansichten Anderer über den Islam zu korrigieren. In diesem Zusammenhang kommt auch die öffentliche Forderung nach mehr
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Transparenz muslimischer Gemeinden und Organisationen auf. So wird Pfarrer Thomas Wipf, der Vorsitzende des Schweizer Rats der Religionen, mit den Worten zitiert: „Der Rat der Religionen sollte die Muslime ermutigen, sich transparenter, demokratischer und damit öffentlicher zu organisieren.“ (TA, 1. Dez.). Allerdings ist diese katachrestische Verschiebung der Mehrheits-/ Minderheitsbeziehung von der Szene der Abstimmung hin zu einer Szene, welche Schweizer Mehrheit und muslimische Minderheit einander gegenüber stellt, von einer ambivalenten Einschätzung des normativen Status der Volksabstimmung begleitet. Einerseits wird die Volksabstimmung als demokratischer Gründungsakt gefeiert. So stellt der deutsche Journalist Hans Hermann Tiedje in einem Gastbeitrag für die NZZ die Schweizer direkte Demokratie mit der deutschen Diskurslandschaft und Politik gegenüber, der er politische Korrektheit vorwirft (NZZ, 3. Dez.: 23). Weiterhin wird argumentiert, dass der basisdemokratische Charakter des Ausdrucks des Volkswillens die Abstimmung gegen jedwede Kritik immunisiere, die aus dem Ausland an die Schweiz herangetragen werde (NZZ, 1. Dez.: 20). Roger Köppel, der Inhaber und Chefredakteur der Schweizer Wochenzeitung Weltwoche, betont in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass die Schweizer Bevölkerung Mut bewiesen habe, indem sie sich gegen eine politisch fehlinterpretierte Toleranz ausgesprochen habe. Ihm zu Folge ist die Verfahrenslegitimität der Schweizer Volksabstimmung selbst ein Ausdruck europäischer Grundwerte (FAZ, 1. Dez.: 10). Selbst dort, wo der Ausgang der Abstimmung kritisiert wird, wird doch dem Instrument der Volksabstimmung selbst Respekt und Anerkennung gezollt. So wird in einem im Tagesanzeiger (1. Dez.) abgedruckten Leserbrief ausgeführt: „Ich finde das Abstimmungsresultat beschämend, akzeptiere aber den Entscheid des Volkes und kämpfe weiterhin für den interreligiösen und interkulturellen Dialog.“ Andererseits jedoch materialisiert sich im Diskurs auch ein gewisses Unbehagen mit der Volksabstimmung als Instrument der politischen Entscheidungsfindung. So weist der Schweizer Philosoph Hans Saner darauf hin, dass Instrumente direkter Demokratie mitunter unerwünschte Resultate zeitigen könnten (SZ, 3. Dez.: 8). Es wird von Juristen berichtet, die die Befürchtung hegten, dass, selbst wenn der Verbot des Baus von Minaretten mit Schweizer Recht vereinbar sein möge, es in Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention stehe (NZZ, 1. Dez.: 9; SZ, 2. Dez.: 13).
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In einem Leserbrief, der in der Neuen Zürcher Zeitung abgedruckt wird (3. Dez.: 22), wird ausgeführt, dass Mehrheitsentscheidungen weder mit Demokratie noch mit Gerechtigkeit identisch sein müssen. So ergibt sich zunächst ein zwiespältiger Eindruck bezüglich der ersten Reaktionen der politischen Öffentlichkeit auf das unerwartete Ergebnis der Abstimmung. Während einerseits eine ausgeprägte Tendenz besteht, das Mehrheits-/Minderheitsverhältnis der Volksabstimmung in die Frage des Mehrheits-/Minderheitsverhältnis zwischen Schweizern und Muslimen zu verschieben, bleibt die Institution der Volksabstimmung doch nicht ganz von Kritik unbehelligt. Indes verdichtet sich die diskursive Lage zu einer bestimmbaren Tendenz, nur scheinbar paradoxerweise, erst jenseits der Schweizer Grenzen – nämlich in der Debatte, wie sie etwa in Deutschland geführt wurde, welche Bedeutung der Volksabstimmung über die Schweiz hinaus und im weiteren europäischen Kontext zukomme. Europäische Verallgemeinerung der Schweizer Volksabstimmung Bezüglich der Reaktionen in Deutschland findet sich zunächst ein Bild, das weitgehend identisch mit den Schweizer Pressereaktionen ausfällt. Wie in der Schweiz wird die Bedeutung der Volksabstimmung vor allem mit der Beziehung zwischen gesellschaftlicher Mehrheit und muslimischer Minderheit in Verbindung gebracht. So sei die Volksabstimmung ein Symptom für eine allgemeine Befindlichkeit unter der Mehrheitsbevölkerung in Bezug auf „einen als militant und bedrohlich empfundenen Islam“ (SZ, 30. Nov.: 1). Ebenso wie in der Schweiz findet sich die Ambivalenz zwischen einem Respekt vor der Volkssouveränität, die sich im Referendum Ausdruck verschafft habe, und der Anerkennung der Notwendigkeit, nach seinem Ausgang Schadensbegrenzung in Bezug auf den Ruf der Schweiz als liberalem Land zu betreiben (SZ, 1. Dez.: 2). Zugleich gibt es jedoch zahlreiche Hinweise im Diskurs, dass die Bedeutung der Volksabstimmung über die Grenzen der Schweiz hinaus generalisiert wird, und zwar vor allem in Bezug auf die Repräsentation des Verhältnisses zwischen gesellschaftlicher Mehrheit und muslimischer Minderheit. In dieser Generalisierung verdichtet sich der Diskurs zu einem „schema of co-figuration“ (Sakai 2009: 5). Naoki Sakai bezeichnet damit eine diskursive Formation, in der zwei vorgestellte Einheiten zueinander in ein generisches Verhältnis gesetzt werden,
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wodurch es möglich wird, die Formation zu replizieren, selbst wenn sich ihr Referenzindex ändert. So habe sich der „Westen“ Sakai (2001) zufolge in einem solchen Schema als selbstidentisch gesetzt, selbst wenn sich die Projektionsflächen dessen, was als jeweils nichtwestlich galt, historisch veränderten. Ein solches Schema der Generalisierung und Übertragung zeigte sich auch in der Art und Weise, wie gesellschaftliche Mehrheit und muslimische Minderheit auch außerhalb der Schweiz zueinander ins Verhältnis gesetzt wurden und damit die Positionalität der Mehrheit stabilisiert wurde. So wird etwa in Bezug auf das Herbsttreffen der Innenminister der Länder und des Bundes berichtet, dass die Minister den Muslimen in Deutschland empfohlen hätten, hinsichtlich der Errichtung neuer Moscheen (nicht nur von Minaretten) in Deutschland „Zurückhaltung“ zu üben (SZ, 1. Dez.: 31). „Minarette oder Kuppeln einer Moschee, die wegen ihrer Größe eine Stadt dominierten, schürten Ängste vor Islamisierung, sagte Bouffier. Zugleich wollten die Innenminister sich dafür aussprechen, ‚den Dialog mit den Muslimen in Deutschland zu intensivieren‘, sagte Bouffier“ (FAZ, 4. Dez.: 4). Dieser Aufruf zu mehr Dialog zwischen Muslimen und deutscher Mehrheit, der als eine Lehre aus dem Schweizer Referendum präsentiert wird, wird von Warnungen, etwa durch Wolfgang Bosbach (CDU), bezüglich der mehrheitlichen Ängste vor der „Islamisierung“ der deutschen Gesellschaft begleitet, die man Ernst zu nehmen habe (SZ, 1. Dez.: 31). Solche Hinweise auf die Beunruhigung der Bevölkerung durch den Islam finden sich in zahlreichen Beiträgen zur Debatte, etwa wenn vor den „Ängste[n]“, der „Wut“ und dem „emotionale[n] Unbehagen“ gewarnt wird, das Deutsche angesichts islamischer Präsenzen in der Öffentlichkeit empfänden (SZ, 1. Dez.: 2, 31). Diese Beispiele zeigen, dass die Schweizer Volksabstimmung und ihre im Diskurs sich manifestierenden Implikationen für das Verhältnis von gesellschaftlicher Mehrheit und muslimischer Minderheit auch als Deutschland betreffend gerahmt wurden. Eine weitere diskursive Strategie, die Ergebnisse der Abstimmung symbolisch zu generalisieren, bestand in Berichten über vermutlich ähnliche mehrheitsgesellschaftliche Einstellungen zum Islam nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern. Ein Referendum hätte demnach überall ähnliche Resultate wie in der Schweiz erbracht. So fasste die Süddeutsche Zeitung die Ergebnisse einer Umfrage bezüglich Einstellungen gegenüber Minderheiten in verschiede-
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nen europäischen Ländern zusammen, die Teil einer Paneluntersuchung des Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer darstellte (SZ, 4. Dez.: 2). Der Artikel, überschrieben mit „Die Schweiz ist überall“, argumentiert, dass in Zeiten subjektiv schlechter ausfallender Zukunftserwartungen Menschen dazu tendierten, gegenüber religiösen und anderen Minderheiten weniger Toleranz an den Tag zu legen. Jedoch finden sich Schlagzeilen und Aussagen wie „Die Schweiz ist überall“ an verschiedensten Punkten in der Debatte. So ergaben laut Presseberichten zahlreiche in anderen Ländern durchgeführte Umfragen, dass die Ablehnung der Muslime in den meisten Ländern mindestens ebenso stark wie in der Schweiz ausgefallen wäre (SZ, 1. Dez.: 4; SZ, 2. Dez.: 13; FAZ, 30. Nov.: 1; Le Monde, 1. Dez.: 10; NZZ, 1. Dez.: 10). Diese Lage wurde in einem Kommentar von Christiane Schlötzer in der Süddeutschen Zeitung wie folgt zusammengefasst: „Denn das Schweizer Votum tangiert ganz Europa, weil leider zu befürchten ist, dass sich das Abstimmungsergebnis bei ähnlicher Fragestellung durchaus wiederholen dürfte – gäbe es die Schweizer Form der direkten Demokratie auch in anderen europäischen Ländern, etwa in Frankreich oder Deutschland.“ (SZ, 1. Dez.: 4). Diese Befürchtung wiederholt sich, etwa wenn in der Süddeutschen Zeitung (4. Dez.: 2) konstatiert wird: „Die kritische Haltung gegenüber den Muslimen in allen europäischen Ländern legt die Vermutung nahe, dass der umstrittene Schweizer Minarett-Beschluss in jedem anderen europäischen Land genauso zustande kommen könnte, wenn es dort eine Volksabstimmung in dieser Frage gäbe.“ Ebenfalls berichtet die Presse über Vertreter von Rechtsaußenparteien in Europa, wie etwa Geert Wilders in den Niederlanden und Roberto Calderoli von der Lega Nord, dass sie Pläne hätten, das Schweizer Referendum in ihren Ländern zu reproduzieren (NZZ, 1. Dez.: 10; SZ, 2. Dez.:, 8; Le Monde, 1. Dez.: 10). Diese Berichte stehen auch im Kontext der weithin geäußerten Befürchtung, dass das Ergebnis der Volksabstimmung auf fremdenfeindliche öffentliche Kampagnen zurückgeführt werden könnte, die sich auch in anderen nationalen Kontexten leicht replizieren lassen würden (SZ, 1. Dez.: 4). Die Generalisierbarkeit der Bedeutung der Schweizer Volksabstimmung wurde allerdings nicht nur diskursiv artikuliert, sondern auch performativ hergestellt, und zwar durch eben diejenigen Umfragen in mehreren europäischen Ländern, die die Schweizer Volksabstimmung reinszenieren. Sowohl die Online-Ausgaben von Der Spiegel wie von Bild boten eine Zeitlang die
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Möglichkeit, über die Schweizer Frage mit Blick auf Deutschland abzustimmen. Sowohl der französische Fernsehkanal Canal+ wie auch die Tageszeitung Le Figaro präsentierten Resultate von eigens in Auftrag gegebenen repräsentativen Umfragen in Frankreich über die Angelegenheit des Minarettbaus. Das deutsche Wochenmagazin Der Stern lud seine OnlineBesucher zu einer Abstimmung darüber ein, ob das Abstimmungsergebnis „nachvollziehbar und richtig“ sei oder nicht.2 Solche Umfragen reproduzierten die co-figuration von Mehrheit und muslimischer Minderheit. Ihre Signifikanz lag daher auch nicht, wie im Falle der Schweizer Volksabstimmung, in der Veränderung der numerischen Basis, auf der sich politische Entscheidungen begründen lassen – die Umfragen waren eben keine Volksabstimmung. Vielmehr replizierten sie die diskursive Verschiebung der Szene der Abstimmung von dem Verhältnis zwischen Mehr- und Minderheit der Stimmabgebenden hin zum Verhältnis zwischen gesellschaftlicher Mehrheit und muslimischer Minderheit. Mit anderen Worten, ihre Bedeutung war eine rein diskursive. Die einseitige Forderung nach Dialog Die Verschiebung des Mehrheits-/Minderheitsverhältnisses vom numerischen Ergebnis der Volksabstimmung zu einer diskursiven co-figuration von Mehrheit und muslimischer Minderheit verdichtete sich schließlich, nicht zuletzt auch durch die zahlreichen Replikationen der Szene der Abstimmung, in einem vielfältig im Pressediskurs wiederholten Aufruf an die Muslime, in Dialog mit der Mehrheitsgesellschaft zu treten. Wenn auch einige Beobachter daran erinnerten, dass „Integration“ von beiden Seiten auszugehen habe, wie es der Schweizer Bischofskonvent tat (FAZ, 1. Dez.:
2
Cf.
http://www.spiegel.de/politik/ausland/initiative-schweizer-stimmen-gegen-
minarett-bau-a-664104.html, kontaktiert am 4. Juli 2012; http://www.tagesschau.sf.tv/Nachrichten/Archiv/2009/11/30/Schweiz/Weltweite -Empoerung-ueber-den-Minarett-Entscheid, kontaktiert am 4. Juli 2012; http://www.lemonde.fr/politique/article/2009/12/03/les-francais-opposes-a-unreferendum-sur-les-minarets-et-a-la-construction-de-mosquees_1275465_ 823448.html#xtor=RSS-, kontaktiert am 4. Juli 2012; http://www.stern.de/ politik/ausland/minarett-bauverbot-schweizer-erregen-europa-1525618.html, kontaktiert am 4. Juli 2012.
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2), überwog doch, wie oben gezeigt, die Tendenz, die Verantwortlichkeit für Dialog recht einseitig auf die Muslime zuzuschreiben. Der Aufruf zum Dialog fiel somit ausgesprochen asymmetrisch aus: während die Muslime aufgefordert wurden, sich zu erklären und die Ungefährlichkeit des Islam zu demonstrieren, blieben die kulturellen Orientierungen der Mehrheit am Rande der Debatte. Anders gesagt: während von den Muslimen erwartet wurde, ihre Präsenz in europäischen Mehrheitsgesellschaften in Bezug auf ihre kulturell-religiöse Identität zu verorten, zu rechtfertigen und zu erklären, blieb die Frage, welche möglichen kulturellen Identitäten der Mehrheit sich in der Volksabstimmung Ausdruck verschafft hätten, praktisch völlig unbeachtet. Dies zeigte sich auch daran, dass das Abstimmungsergebnis zwar mit möglicherweise vorhandenen fremdenfeindlichen Einstellungen der Bevölkerung in Verbindung gebracht wurde, kaum jedoch mit deren Schweizer, deutschen, französischen oder europäischen Identität. Dies betrifft etwa die eben schon angeführte Pressereferenz auf die Heitmeyerschen Umfrageergebnisse, die nicht die Deutungsmöglichkeit erwägen, dass die gemessenen negativen Einstellungen gegenüber Muslimen und anderen Minderheiten etwas mit einer deutschen oder irgendeiner anderen europäischen Identität zu tun haben könnten (SZ, 4. Dez.: 2). Wenngleich Geri Müller von Bündnis 90/Die Grünen in einer Kritik am Referendum anmahnt, zuvor hätte eine „Wertedebatte“ geführt werden müssen (SZ, 1. Dez.: 2), findet unmittelbar nach der Abstimmung eine solche Wertedebatte nicht statt – bzw. genauer, die Frage der Werte und Identitäten der gesellschaftlichen Mehrheit wird nicht mit dem Abstimmungsergebnis in Verbindung gebracht, weil sie auf die Muslime verschoben wird. So stellt sich in Le Monde die identitäre Dimension des Abstimmungsergebnisses als die Frage nach der Möglichkeit eines „islam européo-compatible“ dar (Le Monde, 1. Dez.: 10). Es erweist sich, dass die diskursive Präsenz der Identitäts- und Wertefrage eine Funktion der co-figuration von gesellschaftlicher Mehrheit und muslimischer Minderheit ist. Die Zuschreibung der Notwendigkeit, in einen Dialog einzutreten, auf die Muslime stellt sich als ein signifikanter Kommentar zu Habermas’ Konzept der Übersetzung religiöser in politische Idiome dar. Wenn, Habermas zufolge, das Prinzip der Übersetzung für die Gangbarkeit einer Brücke zwischen religiöser Soziokultur und öffentlich-säkularer Deliberation bürgt, ist es unter den Bedingungen der asymmetrischen Zuschreibung von Dialogbe-
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reitschaft auf die Minderheit nur die letztere, die ihren Fuß auf diese Brücke setzen muss. Die transnationale und minoritäre Figur der Muslime in Europa verschmilzt in sich Fragen von Einstellungen, Identität und Werten, weswegen diese Figur zur Explizierung ihrer Einstellungen, Identität und Werte aufgefordert werden kann. Im Gegensatz dazu bleibt die Mehrheit merkwürdig unterbestimmt – das Abstimmungsergebnis spricht gewissermaßen für sich selbst und schneidet daher jede Debatte über eventuell problematische oder hinterfragenswerte Werte und Identitäten, die hinter dem Ergebnis liegen könnten, ab. Muslime werden so in der Öffentlichkeit als minoritäres Subjekt adressierbar, das sich erklären muss, während die Mehrheit in der Selbstevidenz, und Stummheit, des Abstimmungsergebnisses belassen wird. Diese diskursiv hervorgebrachte Stummheit der Mehrheit, die sich quasi auf den Akt der Abstimmung zurückziehen kann, hielt freilich nicht lange an. Gegen Ende der ersten Woche nach der Volksabstimmung setzten Analysen ein, die „europäische Werte“ kritisch hinterfragten, Motivationen der Pro-Wähler ausloteten und die bis heute fortdauern. Als unmittelbare Reaktion auf die Volksabstimmung ist jene diskursive Konstellation dennoch bemerkenswert, unwahrscheinlich und insofern spezifisch. Denn sie kontrastiert in deutlicher Weise mit den in den letzten beiden Jahrzehnten schon ubiquitär zu nennenden öffentlichen Elaborationen über die kulturelle Identität der europäischen Mehrheitsgesellschaften, wie sie etwa die Pressereaktionen auf die Reden von Tayyip Erdo÷an (2009) und Christian Wulff (2010) in Deutschland kennzeichnete, und zwar unmittelbar nach den Reden (vgl. Langenohl/Rauer 2012). Angesichts einer derartigen diskursiven Omnipräsenz und Verfügbarkeit des Idioms europäischer kultureller Identität ist der Verzicht auf dieses Idiom in den unmittelbaren Reaktionen auf die Volksabstimmung erklärungsbedürftig. Die hier vorgelegte Interpretation dieses Sachverhalts lautet, dass jener Verzicht Teil der diskursiven cofiguration von abstimmender gesellschaftlicher Mehrheit und muslimischer Minderheit ist, der die Dialogpflicht, quasi als kommunikative Antwortpflicht auf eine souveräne Artikulation der Mehrheit qua Abstimmung, den Muslimen auferlegt.
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D IE F IGUR DES M USLIMS UND DIE K ONSTRUKTION VON „Ü BERSETZUNG “ ALS K OMMUNIKATION Die soeben vorgestellte Inhaltsanalyse kann folgendermaßen zusammengefasst werden. (1) Nach Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses erfolgte praktisch augenblicklich eine diskursive Verschiebung der MehrheitMinderheits-Relation von den Abstimmenden hin zum Verhältnis zwischen Schweizer Mehrheitsgesellschaft und Muslimen. (2) Die in den unmittelbaren Reaktionen auf das Ergebnis vorgebrachte Forderung nach mehr Dialog in diesem Verhältnis richtete sich auffallend einseitig an die Muslime, die dazu angehalten wurden, ihre religiöse Identität zu explizieren, während die Identität(en) der Mehrheitsbevölkerung kaum Gegenstand der Debatte waren. (3) Die Muslime wurden als eine transnationale Glaubensgemeinschaft und zugleich, in dieser Qualität, als europaweite Minderheit figuralisiert. (4) Die Verallgemeinerbarkeit des Ergebnisses der Volksabstimmung auch außerhalb der Landesgrenzen wurde von zahlreichen politischen und journalistischen Akteuren, aber auch durch Reinszenierungen der Abstimmungsszenerie durch zahlreiche, der Abstimmung nachgebildete Umfragen in verschiedenen europäischen nationalen Öffentlichkeiten diskursiv hergestellt. Diese Ergebnisse lassen sich zu dem Befund verdichten, dass die Debatte um das Referendum zu einer diskursiven Figuralisierung muslimischreligiöser Subjektivität führte, die, in ihrer Rolle als europaweite Minderheit, auf einen Dialog mit den jeweiligen nationalen Mehrheitsgesellschaften verpflichtet wurde. Dieser Befund führt uns zu Habermas’ Theorie der Öffentlichkeit zurück, da diese von einer unmittelbaren, durch Lernprozesse verbürgten Kontinuität zwischen subjektiver Soziokultur und öffentlicher Deutungskultur ausgeht. Die Einführung des Begriffs der „Übersetzung“ soll in Habermas’ Entwurf diese Kontinuität in einer „postsäkularen“ Konstellation absichern, in der Religiosität droht, die Kontinuität zwischen Lebenswelt und rationaler öffentlicher Deliberation zu unterbrechen. Die öffentlichen Reaktionen auf die Volksabstimmung, die von einer massiven Figuralisierung der Muslime im Vehikel des Rufs nach asymmetrischem Dialog gekennzeichnet sind, erweisen sich als ein höchst signifikanter, kritischer Kommentar zu diesem Modell. Denn Habermas geht ja davon aus, dass Übersetzung selbst keine subjektivitätskonstitutiven Effekte zeitigt, sondern vielmehr zwischen präexistenten Subjekten stattfindet. Übersetzung er-
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scheint somit als ein konzeptuelles Epiphänomen der allgemeineren Strukturen einer Theorie politischer öffentlicher Deliberation, welche eine kommunikativ rationalisierte Lebenswelt, und damit lebensweltliche Subjekte, voraussetzt. Daher ist Habermas nicht in der Lage zu beschreiben, was passiert, wenn Übersetzung in der Abwesenheit präexistenter Subjekte stattfindet bzw. eingefordert wird. Jedoch ist genau dies die Konstellation, die die öffentlichen Reaktionen auf die Schweizer Volksabstimmung erzeugten: sie identifizieren nicht konkrete Subjekte, mit denen in Austausch zu gelangen wäre, sondern konstruieren eine abstrakte und gleichzeitig identitär aufgeladene Subjektivität „der Muslime“. Übersetzung ist hier also weit davon entfernt, der transparente und kooperative Transfer von Bedeutung zu sein, als der sie bei Habermas konzipiert wird. Eine solche Vorstellung von Übersetzung und Dialog artikuliert vielmehr selbst eine Position innerhalb eines Diskurszusammenhangs, in welchem Übersetzung und Dialog zwischen imaginierten „first-person subjectivities“ (Gaonkar 2002) stattfinden, deren Hergestelltheit unreflektiert bleibt. Es geht mir hier nicht darum, Habermas’ Theorie als solche zu kritisieren. Vielmehr soll ihre spezifische Ungeeignetheit bei der Formulierung der Problematik von Übersetzungsprozessen zwischen unmarkierter Mehrheit und (als muslimisch) markierter Minderheit genutzt werden, um diese Problematik genauer herauszuarbeiten. Die oben analysierten öffentlichen Reaktionen buchstabieren die Nebenfolgen einer politischen Theorie der Übersetzung aus, die zur Konzipierung von Übersetzung die Annahme präexistenter Subjekte benötigt. Sie trägt eine doppelte und wechselseitig sich bestätigende Bewegung aus: im Rahmen der Unterstellung, dass das Wahlergebnis einem präexistenten Wählerwillen zum Ausdruck verhilft, ist die Figur der Muslime ein Stellvertreter für die Antwort, die auf diesen Willensausdruck erwartet wird. Insofern die Forderung nach Dialog sich an die Muslime richtet, können sich die „first-person subjectivities“ des stummen Wahlvolkes und der Muslime wechselseitig diskursiv stabilisieren. Noch deutlicher zeigt sich die Signifikanz der Verschobenheit zwischen Habermas’ Übersetzungsbegriff und den öffentlichen Forderungen nach mehr Dialog, wenn man Habermas’ Begriff mit Konzeptionen von Übersetzung kontrastiert, die eine alternative politische Theorie skizzieren. Im Unterschied zu früheren theoretischen Positionen, die den Begriff der Übersetzung stark an die Theorie hermeneutischen Verstehens anlehnten (Gadamer 1960), betonen neuere Ansätze in der Kulturtheorie die kulturellen Effekte
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und Hegemoniebezüge von Übersetzungsprozessen (De Man 1986; Derrida 1988 [1972]; Sakai/ Solomon 2001; Sakai 2009; Brennan 2001). Eine der großen Problematiken der Übersetzung besteht demnach in der Konstruktion „anderer Kulturen“ als holistischer und containerartiger Ganzheiten (Apter 2001: 3). Die Gefahr einer Konzeptualisierung von Übersetzung als gestützte Kommunikation zwischen zwei Seiten liegt also in der in diesem Modell kaum vermeidbaren Unterstellung, diese Seiten seien monokulturell, präexistent, selbstidentisch und holistisch. Lau Kin-chi, Hui Po-keung and Chan Shun-hing geben angesichts dessen die Warnung aus, dass „translation is not free of the politics of representation, and in translating, one participates in a process charged with struggles precipitated in history.“ (Lau/Hui/Chan 2001: 257) Diese Bedenken werden durch die von Naoki Sakai und Jon Solomon diskutierte begriffliche Unterscheidung zwischen der Kommunikations- und der Adressierungsdimension von Übersetzung geschärft: „Whereas ‚address‘ indicates a social relation (that between addresser and addressee) that is primarily practical and performative in nature, hence undetermined and still-to-come, ‚communication‘ names the imaginary representation of that relation in terms of pronominal identities, informational content, and receptive destinations: who we are supposed to be and what we were supposed to mean.“ (Sakai/Solomon 2006: 7)
Die Vorstellungswelt, die durch den Begriff der Übersetzung aufgerufen wird und für die Habermas’ Verwendungsweise dieses Begriffs ein perfektes Beispiel darstellt, gehört zumeist der Kommunikationsdimension an, während die Konzeptualisierung von Übersetzung als Adressierung der Kommunikation symbolisch äußerlich bleibt. Wird Übersetzung daher ausschließlich als Kommunikation verstanden, trübt sich die Sicht auf die symbolische Konstruktion von Akteuren als Figuren, die dieselben Übersetzungsprozesse als Adressierungsmodus zeitigen (cf. also Lau/Hui/Chan 2001: 257). Übersetzung-als-Kommunikation ist somit „not only a border crossing but also and preliminarily an act of drawing a border, of bordering“ (Sakai 2009: 10). Aus einer soziologischen Perspektive betrachtet liegt die Pointe dieses Arguments darin beschlossen, dass es keinerlei präexistente Akteure bzw. Subjekte voraussetzt, zwischen denen Kommunikation stattfinden könnte, sondern stattdessen die aus der Adressierungsdimension
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abgeleitete Konstruiertheit dieser Akteure und Subjekte in eine empirische Forschungsfrage überführt. Die Reaktionen auf die Schweizer Volksabstimmung, insofern sie den Bedarf an mehr Dialog und Übersetzung herausstellen, verdeutlichen somit das Vorbeizielen von Habermas’ kommunikationszentriertem Übersetzungsbegriff an diesen konstitutiven Effekten von Übersetzung als „social action“ (Sakai 2009: 1). Während die Debatte zu mehr Übersetzung und Dialog aufruft, ist sie in einem performativen Akt begriffen, der eine cofiguration exekutiert, generisch verallgemeinert und zwei sich wechselseitig stützende Diskurspositionen in der Öffentlichkeit erzeugt: „die Muslime“, von denen (Selbst-)Übersetzung erwartet wird, und die schweigende Mehrheit.
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Zurzeit werden in verschiedenen nationalen politischen Öffentlichkeiten in Europa wie auch im transnationalen öffentlichen Raum Europas „muslimische Gemeinschaften“ diskursiv konstruiert. Levent Tezcan (2012) hat dies am Beispiel der Deutschen Islam Konferenz (DIK) herausgearbeitet. Er betrachtet die DIK als einen Ausdruck des Willens des Staates, eine bestimmte Populationsgruppe, die von anderen auf religiösem Gebiet unterschieden wird, durch eine kulturalisierende Zwangssubjektivierung zu führen. Zentrales Instrument des Staates ist in der DIK, Tezcan zufolge, der „gouvernementale Dialog“ (ebd.: 59), d.h. ein Dialogverständnis, das eine Subjektposition durch einen Akt der Ansprache fabriziert und zu bestimmten Zielen führen soll. Aus Sicht des vorliegenden Aufsatzes ist das Erstaunliche an dieser Strategie etwas, was man einen reflektierten Konstruktivismus nennen könnte: Die DIK ist ganz offen dazu da, „deutsche Muslime“ zu produzieren. Auf der Grundlage dieses politisch nutzbar gemachten Konstruktivismus werden Muslime dazu angehalten, sich als religiöse Subjekte von Fundamentalismus und Terrorismus zu distanzieren – also als Träger eines Glaubens und einer Ethik, die sie dann als die ihrigen verteidigen müssen. Dies geschieht im Namen des Dialogs – eines Dialogs im Sinne, um mit Gayatri Spivak zu sprechen, einer „rationalen Abstraktion“, die man „nicht nicht wollen kann“ (Spivak 1993: 237, Übersetzung AL) und die da-
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her außerordentlich schwer zu kritisieren ist, wie die zögerlichen und sich noch nicht zu einer systematischen Argumentation verdichtenden Kritiken an der Volksabstimmung als politischer Form zeigten. Stattdessen amalgamierte sich jene Abstraktion des Dialogs mit der der Demokratie, also eines weiteren schwer kritisierbaren Konzepts. Was bedeutet dieser Befund für die Frage, ob sich gegenwärtige multikulturelle Gesellschaften im Banne der Assimilation befinden, wie sie der vorliegende Band aufwirft? Die These eines Neo-Assimilationismus „designed to promote a core national identity“ nach dem Ende des Multikulturalismus (Waite 2011: 353), die zurzeit breit diskutiert wird, ist m.E. nicht auf die hier geschilderte diskursive Konstellation übertragbar. Wir haben es bei der Figur des Dialogs und der Übersetzung zwischen Kulturen stattdessen mit Dynamiken kultureller Partikularisierung zu tun. Der Effekt jener Figur besteht nicht darin, eine Einebnung von Unterschieden zu fordern, sondern darin, solche Unterschiede öffentlich abbildbar zu machen und problematisierbar zu halten. Steven Vertovec und Susanne Wessendorf (2010) haben argumentiert, dass sich multikulturelle Praktiken in europäischen Gegenwartsgesellschaften unterhalb der Ebene des öffentlichen Diskurses durchaus gedeihlich entwickeln und damit die Verabschiedung multikulturalistischer Politik, die in der gegenwärtigen politischen Öffentlichkeit omnipräsent ist, relativieren. Vor dem Hintergrund der hier unterbreiteten Argumente wäre indes zu fragen, ob nicht die politische Öffentlichkeit in Europa mittlerweile selbst durch einen neuen Multikulturalismus gekennzeichnet ist – einen Multikulturalismus, der kulturelle Unterschiede nicht adressiert, um die Gangbarkeit gruppenspezifischer Rechte zu verhandeln, wie in den 1990er Jahren diskutiert (vgl. Taylor et al. 1994), sondern um kulturelle Abweichungen von unterstellten Mehrheitsnormen auf Angehörige kulturell-religiöser Minderheiten zuzuschreiben und so als Abweichungen zu figuralisieren.
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Integrationsdebatten in der deutschen Öffentlichkeit (1947-2012) Ein umstrittenes Konzept zwischen ‚region-building‘ und ‚nation-saving‘1 V ALENTIN R AUER
Z USAMMENFASSUNG Mit dem Konzept der „Integration“ beschreiben die Sozialwissenschaften Prozesse der Vergemeinschaftung und des Abbaus von sozialer Ungleichheit. Die Frage, wer, wie, und in welche Gemeinschaft integriert werden soll, lässt das Konzept stets offen. Inzwischen ist „Integration“ jedoch auch zu einem Debattenschwerpunkt in der politischen Öffentlichkeit avanciert. Auch bei den öffentlichen Verwendungsweisen bleibt es offen, wer der Adressat von Integration sein soll. Vor diesem Hintergrund zeichnet der Beitrag die öffentlichen Semantiken von Integration in Deutschland diachronisch nach. Es soll die Frage geklärt werden, ab wann in der deutschen Öffentlichkeit von Integration gesprochen wurde und welche Kollektive adressiert wurden. Als Ergebnis kristallisieren sich zwei Bedeutungen heraus: Erstens artikuliert sich mit dem Integrationskonzept eine transnationale Hoffnung auf
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Ich bedanke mich ganz herzlich bei Aleida Assmann, Claudia Marion Voigtmann, Özkan Ezli, Rudolf Schlögl und Thomas Kirsch für wertvolle Kommentare und Hinweise zum Vortrag bzw. diesem Aufsatz.
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europäische Vergemeinschaftung und zweitens eine Politik zur Einhegung von Migrationsfolgen auf nationaler Ebene. Das Konzept adressiert also zwei Gemeinschaftsgrößen: erstens eine transnational europäisches „region-building“ und zweitens ein nationalstaatliches „nation-saving“. Die erste Bedeutung konnotiert einen utopischen Projektcharakter von einem zukünftig herzustellenden Europa, die zweite Bedeutung konnotiert einen bewahrenden Projektcharakter von einer vergangenen vormigratorischen, nunmehr wiederherzustellenden Nation. Die öffentlichen Integrationssemantiken verschränken damit zwei politische Projekte: das „region-building“ Europas und das „nation-saving“ des Nationalstaates. Darüber hinaus zieht sich eine gemeinsame Semantik durch sämtliche öffentliche Verwendungsweisen hindurch: Die Forderungen zielen stets auf eine Veränderung von Gemeinschaftsgrenzen. Entweder soll qua „Integration“ aus nationalstaatlich segregierten Gemeinschaften eine größere europäische Gemeinschaft entstehen oder aber bestehende Einheiten, wie lokale oder nationale Kommunen, sollen qua „Integration“ vor kulturellen und sozialen Ungleichheitsprozessen „bewahrt“ werden. Wie im Beitrag gezeigt wird, bündeln die öffentlichen Debatten um Integration damit ein zentrales politisches Projekt zu transnationalen, nationalen und lokalen Vergemeinschaftungsvorstellungen.
E INLEITUNG Die im Deutschen als Fremdwörter gebräuchlichen Begriffe „integrieren“ und „Integration“ wurden aus dem Lateinischen entlehnt und bezogen sich, laut Duden, auf Ableitungen von „integer“ im Sinne von „integrare“: Dieser Bezug bedeutet: „heil, unversehrt machen, wiederherstellen; ergänzen“ oder im Sinne von „integratio“ „Wiederherstellen eines Ganzen“ (Duden Bd. 7 1997: 308). Etymologisch ist die Bedeutung von „Integration“ damit zunächst konservativ. Ein vermeintlich zerbrochenes „Ganzes“ sei wieder zusammenzufügen. Diese Einheit kann dann entweder die lokale Gemeinschaft, der Nationalstaat oder gar eine Großregion wie Europa sein. Obwohl „Integration“ inzwischen aus der öffentlichen politischen Semantik in Deutschland nicht mehr wegzudenken ist, fehlt leider ein Eintrag in dem begriffshistorischen Werk „Geschichtliche Grundbegriffe“ (Brunner, Conze, Koselleck 1974, 1995). Stattdessen findet sich dort lediglich ein Eintrag
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zu dem Begriff „Einheit“.2 Gleiches gilt für wichtige aktuelle Handbücher zur politischen Philosophie und Theorie oder zu soziologischen Grundbegriffen (vgl. u.a.: Nohlen/Schulze 2010). Eigenständige Beiträge zu „Integration“ oder „Integrationspolitik“ fehlen dort entweder ganz oder, wenn sie thematisiert werden, dann ohne Auseinandersetzung mit Integrationssemantiken als diskursives Projekt (vgl. u.a. Korte/Schäfers 2010; Hartmann/Offe 2011). Sammelbände, die sich explizit dem Thema „European Integration Theory“ (Wiener/Diez 2004) widmen, inkludieren zwar konstruktivistische und diskursive Ansätze (Risse 2004, Waever 2004; für einen Überblick vgl. Keutel 2011), thematisieren jedoch an keiner Stelle den diskursiven, pragmatischen oder begriffshistorischen Bedeutungsgehalt von Integrationsbegriffen an sich. Stattdessen besteht zumeist die inhaltliche Grundannahme darin, dass die europäische Integration primär aus einem geteilten Erfahrungsraum des Zweiten Weltkrieges resultiert oder als gemeinsamer Erwartungshorizont am Ende eines in der Zukunft zu realisierenden politischen Projekts zu verstehen sei (Eder/Kantner 2000; Trenz 2005; Eder/Giesen 2003, Eder 2009, Risse 2010). Als einer von wenigen hat sich der Historiker Ludolf Herbst einer Begriffsgeschichte von „Integration“ gewidmet, allerdings endet seine Geschichte mit den 1960er Jahren. Laut Herbst stammt der Begriff aus dem Liberalismus und war vor dem Zweiten Weltkrieg nur in den angloamerikanischen Rechts- und Wirtschaftswissenschaften gebräuchlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Europa die Einigungsgeschichte zunächst mit dem Begriff der „Föderation“ beschrieben. „Erst nach 1948“ erlebte Integration eine plötzliche Konjunktur, auch in der medialen Öffentlichkeit und
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Der Aufstieg des Erwartungshorizonts „Einheit“ erfolgte in Deutschland ab dem 18. Jahrhundert und prägte in den darauffolgenden Jahrhunderten das nationale Projekt. Auch heute hat der Begriff noch eine Funktion, das offizielle Motto Europas lautet „in Vielfalt geeint“ http://europa.eu/abc/symbols/motto/index _de.htm (Zugriffsdatum 28.08.2011). Im Rahmen der europäischen Integration wurde diese Formel etabliert, wobei, wie Klaus Eder anmerkt, nie genau gesagt wurde, worin diese Einheit eigentlich besteht (Eder 2009). Auf der EU-Homepage heißt es lediglich: „Das Motto drückt aus, dass sich die Europäer über die EU geeint für Frieden und Wohlstand einsetzen […].“ http://europa.eu/abc/ symbols/motto/index_de.htm (Zugriffsdatum 28.08.2011).
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„begann […] allmählich den Begriff Föderation zu verdrängen“ (Herbst 1986: 172). Des Weiteren wird in den Sozialwissenschaften die semantische Bedeutung von „Integration“ nicht nur im europäischen, sondern auch in der Migrationsforschung angewendet. Empirische Untersuchengen zur semantischen Dimension des Konzepts finden sich dort mit Blick auf die 1990er und 2000er Jahre. Ein Resultat besagt, dass aus Sicht der deutschen Öffentlichkeit Integration in erster Linie die Integration in den Arbeitsmarkt und Bildungsinstitutionen meint (Rauer/Schmitdke 2001). Aus Sicht von Einwanderverbänden bezeichnet Integration aber auch eine doppelte Kompetenz, sowohl in die Institutionen im Aufnahmeland, als auch in die Institutionen des Herkunftslandes (Rauer 2008). Theoretische Explikationen des Integrationskonzepts finden sich in den Sozialwissenschaften hingegen zahlreich. Die bekannteste begriffliche Fassung ist die Unterscheidung in System- und Sozialintegration (Lockwood 1969, Friedrich/Jagodzinski 1999). Die Systemintegration befasst sich mit dem organisatorischen Gefüge von institutionellen Akteuren, und die Sozialintegration mit den Zugehörigkeiten von Individuen zu Institutionen im allgemeinen Sinne, d.h. sowohl hinsichtlich von Freundeskreisen, Arbeitsmarkt, politischer Partizipation und kollektiver Identifikationen (Büttner/ Meyer 2001; Diehl 2002). Ein weiterer Ansatz, der Integration thematisiert, ist der so genannte boundary-making-approach. Dieser Ansatz beruht auf einem Aufsatz von Frederick Barth (1996 [1969]) zur Logik ethnischer Grenzziehungen. Gemäß Barth integrieren sich Gemeinschaften nicht über eine gemeinsame Kultur, Normen und Werte, sondern über kollektive Grenzziehungspraktiken. Seine vielfach zitierte These lautet dementsprechend: „it is the boundary that defines the group, not the „cultural stuff“ that it encloses“. (Barth 1996 [1969]: 300) Integration und Vergemeinschaftung ist nach Barth als Resultat von Grenzziehungsprozessen institutioneller Arenen zu begreifen (Wimmer 2008). Integrierte Kollektive beruhen des Weiteren auf kommunikativen Praktiken, nicht nur auf Werten, Interessen oder machtvermittelten Schließungsprozessen. Mehr- und Minderheiten, oder panethnische oder pannationale Kollektive sind also nicht durch eine mehr oder weniger homogene Kultur oder Religion etc. bedingt. Vielmehr definieren sie sich über ihre jeweiligen Grenzziehungsdefinitionen als eine heterogene oder homogene Kultur. Kulturelle Einheit als auch Verschiedenheit kann als integrierende Grenzdefinition dienen. Es sind
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nicht die Kulturen selbst, die „integrieren“, sondern es sind die Formen und Imaginationen über ihre Grenzen (Langenohl/Rauer 2011). Folgt man diesen Überlegungen, dann sind die Debatten und Semantiken zur „Integration“ als Teil einer öffentlichen Grenzziehungspraxis zu bestimmen. Der Ansatz blickt stets auf das „Machen“ von Ethnizität selbst und weniger, wie Ethnizität mit anderen sozialstrukturellen Merkmalen zusammenhängt (Boatcă 2010). Der boundary-making-approach „classifies forms of ethnicity making – rather than types of ethnicity or the different ways in which ethnicity relates to economic or political inequality“ (Wimmer 2008: 1028). Theoretisch behaupten die Vertreter dieses Ansatzes also, dass die Unterscheidung von Gruppen in Mehr- und Minderheiten Folgen von Grenzpraktiken sind, und nicht Ursache von Grenzpraktiken. Zu der Frage, inwiefern öffentliche Debatten über Integration im Zuge dieser Grenzpraktiken eine Rolle spielen und wenn ja welche, ist jedoch in diesem Ansatz kaum etwas Explizites zu finden. Dieser boundary-making-approach steht im engen Zusammenhang mit den Ansätzen der letzten zwanzig Jahre zu Transnationalismus und Transstaatlichkeit (Kivisto/Faist 2007, Schönwälder 2009). Im Transnationalismus werden Nationalstaaten als historischer Sonderfall untersucht und Vergemeinschaftungsprozesse anhand von Interaktionsdichten in transnationalen sozialen Räumen beobachtet (Pries 2010). Das Integrationskonzept wird in diesen Ansätzen zumeist als Teil eines methodologischen Nationalismus kritisiert und als inadäquat in Zeiten globaler Migrationsströme verworfen (vgl. die Beiträge in: Hess 2009, Pries 2010). Bisweilen heißt es gar, das Integrationskonzept sei hoffnungslos „veraltet“, weil es noch von der Einheit von Territorium, Kultur, Politik und Bevölkerung ausgehe (Terkessidis 2010: 39-76). Eine solche Einheit habe aber, so die Kritik, niemals in der Geschichte existiert und wird in einer globalen Weltgesellschaft zudem immer unwahrscheinlicher. Das Konzept der Integration werde den zunehmenden globalen Verflechtungen nicht mehr gerecht. Statt von „Integration“ sei deshalb von „Inklusion“ (Nassehi 1999), „Diversität“ (Vertovec/Wessendorf 2010) oder „Hybridität“ (Bhabha 2000, Rauer 2009) als Kern von Vergemeinschaftungsprozessen auszugehen. Erst in jüngster Zeit finden sich einzelne Beiträge, die das keineswegs auf nationale Gemeinschaftsbildung beschränkte Integrationskonzept auch auf transnationale Migrationsprozesse übertragen (Faist 2007, Rauer 2008; Schönwälder 2009; Amelina 2010; Langenohl/Rauer 2011). Diese Ansätze
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zeigen, dass rein begrifflich und in der öffentlichen Semantik eine transnationale „Integration“ möglich ist. Zumal der Begriff formal abstrakt ist und keinerlei inhaltliche Vorentscheidungen trifft, hinsichtlich des Kollektivs, das und in das integriert werden soll. Die Reduktion des Integrationskonzepts auf die Annahmen des methodologischen Nationalismus verstellt den Blick auf den Projektcharakter des Integrationsbegriffes in transnationalen, supranationalen und transstaatlichen Kontexten wie der europäischen Union. Hier besteht also noch Forschungsbedarf. Insgesamt erscheint vor diesem Hintergrund geboten, die Auswahl dessen, wer, worin integriert werden soll, nicht vorab auf den nationalstaatlichen Kontext zu beschränken. Daher wird im Folgenden empirisch der Frage nachgegangen, welche semantischen Kontexte und Kollektive als Referenzobjekt dem Integrationsprojekt öffentlich unterlegt und zugeschrieben werden und welche Debatten diesen Semantiken zugrunde lagen. Die folgenden Ergebnisse beruhen auf einer Studie, die methodisch begriffsgeschichtliche Ansätze (Eggers 2009) mit strukturierter Inhaltsanalyse (Früh 2007) kombiniert. Analysiert wurden deutsche Presseartikel (FAZ) im Zeitraum von 1948-2010 sowie weitere Dokumente, in denen Schlüsseltexte publiziert wurden. Die Artikelauswahl erfolgte computer- und suchwortgestützt mit dem Programm MAXQDA.3 Als Ergebnis lassen sich zu-
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Zur Software vgl. Rauer 2008. Die Methode der klassischen Begriffsgeschichte ist nicht auf eine Wortgeschichte beschränkt. Allerdings erweitern Synonyme und Quasi-Synonyme oftmals den quantitativen Aufwand der Quellen. Zudem stellt sich das Problem der Abgrenzung, ab wann ein Begriff noch zum Integrationskonzept zu rechnen ist und ab wann nicht. Koselleck schlägt vor, auf Synonyme weitgehend zu verzichten (Koselleck 2006). Die Datenerstellung erfolgte suchwortgestützt mit „Integration“. Zunächst ging es in dieser Studie um eine erste Sondierung, die sich auf sämtliche Ausgaben der FAZ vom Beginn der Online-Archivierung im Jahre 1947 bis zum 31.12.2011 bezog. Die Einbeziehung anderer Zeitungen wäre wünschenswert und würde die Ergebnisse bereichern. Bei der Kodierung wurde induktiv, nach den semantischen Kontexten bzw. Themenfeldern des Integrationskonzeptes sortiert. Kodiert wurden also Themenfelder, in die sich der Integrationsdiskurs im Laufe der Zeit ausdifferenzierte. Die quantitative Dimension dieser einzelnen semantischen Kontexte wurde aus arbeitsökonomischen Gründen nicht miterfasst. Stattdessen wurden die jeweils ersten Artikel zu einem Ereignis einer qualitativen Analyse mit Blick auf
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nächst zwei Phasen von Integrationssemantiken zeitlich voneinander unterscheiden: Erstens eine Konsolidierungsphase die von 1948 bis etwa 1974 dauerte und zweitens eine Verstetigungsphase die von 1974 bis heute, d.h. bis in das Jahr 2011 anhält. Beide Phasen werden im Folgenden inhaltlich und chronologisch rekonstruiert.
V ON DER W IRTSCHAFTLICHEN ZUR S OZIALEN I NTEGRATION (1949-1974) Die erste Nennung von Integration in der bundesdeutschen Presse erfolgte im November 1949. So zitiert FAZ aus einer Rede von Paul Hoffman, dem Administrator der amerikanischen Marshallplanverwaltung, die dieser vor der „Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit“ (OEEC) hielt. Hoffmans Rede markiert historisch den Beginn des Siegeszuges des Integrationsbegriffes in der europäischen Öffentlichkeit. Zuvor, so Ludolf Herbst, blieb in den Anfangsjahren Integration „im großen und ganzen […] ein amerikanischer Begriff, der eng mit der Durchführung des European Recovery Program (ERP) verbunden und jedenfalls auf den ökonomischen Bereich eingeschränkt“ war (Herbst 1986: 174). Erst die Rede von Hoffman änderte diese eingeschränkte Semantik. Die FAZ rezipiert Hoffmans Rede, indem sie seine Aussage hervorhob, in der er sich für eine nüchterne Bewertung der „wirtschaftlichen Integration Europas“ aussprach. Die europäische Integration sei keine utopische Idealvorstellung, sondern eine „Notwendigkeit“. Damit rezipiert die FAZ Hoffmans Konzept einer Europäischen Integration als faktische Gegebenheit, über die es sich nicht einmal lohne zu debattieren.
diskursive und semantische Konnotationen unterzogen. Auch diese Vorgehensweise ließe sich mit einem umfassenden Forschungsprojekt weiterführen und vertiefen.
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Liberalisierung allein genügt nicht Paul Hoffman bezeichnete in seiner grundlegenden Rede vor dem Ministerrat der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit die wirtschaftliche Integration Europas keineswegs als ein Ideal, wohl aber als eine praktische Notwendigkeit. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.11.1949, 7)
In jener Zeit erlangte das Konzept der Europäischen Integration dabei aber auch unterschiedliche Bedeutungen: Während es von westdeutscher Seite eher als eine Chance zur Wiedererlangung nationaler Souveränität angesehen wurde, galt „Integration“ aus französischer Sicht als Möglichkeit zur „indirekten Kontrolle“ (Abelshauser 2011: 234) über die Westdeutschen Stahl- und Montanindustrie. Solche national divergierenden Sichtweisen können hier aber leider nicht berücksichtigt werden. In der FAZ ist schon wenige Wochen später bereits von der „Idee der Integration“ die Rede, allerdings noch in einem negativen Bezug, indem der Türkei bescheinigt werde, die „Idee“ nur mit „großen Schwierigkeiten“ umsetzen zu können. Die Idee der Integration verbleibt noch stark im Entstehungskontext des Integrationskonzeptes im Zuge des Marshallplanes. Aus der heutigen historischen Distanz betrachtet, scheint die Türkei offenbar von Beginn an, als Alter Ego der europäischen Integration in den Medien auf.
Die Türkei und der Europa-Handel Die türkische Regierung hat die Bedingungen bekannt gegeben, unter denen sie bereit ist, die Forderung der Vereinigten Staaten an die Länder des MarshallPlanes anzunehmen, 50 Prozent ihrer Einfuhren ‚freizugeben’. Diese Bedingungen sind deshalb besonders interessant, weil sie deutlich die großen Schwierigkeiten zeigen, die die Umsetzung der Idee der ‚Integration’ in Wirklichkeit bereiten. Die Türkei fordert völlige Freiheit ihrer Importe […]. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.12.1949, 7)
In dem weiteren Verlauf der fünfziger Jahre nimmt die Bedeutung des wirtschaftlichen Verständnisses von Europäischer Integration stets zu (Herbst 1986). In der FAZ finden sich in dieser Zeit zahlreiche Artikel, deren semantische Bedeutung sich langsam weiter auffächert, ohne sich von der
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ersten Bedeutung seit der Hoffman-Rede wesentlich zu unterscheiden. Exemplarisch soll hier eine Textpassage zur so genannten „Saar-Frage“ angeführt werden, ohne dass allerdings auf den gesamten Kontext eingegangen werden kann. In den fünfziger Jahren war es noch ungeklärt, welchen Status das Saarland haben werde, ob es zu einem Bundesland Westdeutschlands werde, oder ob es zu einer neuartigen europäischen transstaatlichen Zone gehören solle, die relativ unabhängig von Deutschland und Frankreich potentiell sogar Europäische Institutionen beherbergen könne (Loth 1986). In diesem Zusammenhang wurde an Adenauer in einer Debatte kritisch die Frage gerichtet, ob Adenauer politisch der Europäischen Integration das Primat vor der Saarpolitik einräume (Lipgens 1974), indem er die „Integrationsverträge“ unterzeichne, aber die „demokratischen Rechte der Saar vernachlässigt“ habe.
Die Saarfrage doch vor den Europarat? […] eine sozialdemokratische Anfrage [an den Bundeskanzler lautete: wenn…] die Bundesregierung die Integrationsverträge unterzeichnet [habe], ohne darauf zu bestehen, daß an der Saar wenigstens ein Minimum an Demokratie gewährleistet werde. […] so müsse sie sich den Vorwurf gefallen lassen, daß sie bereit sei, die Freiheit an der Saar der Politik einer sogenannten Integration zu opfern. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.06.1952, 3)
Bemerkenswert ist die rhetorische Relativierung in der obigen Formulierung der FAZ, wenn es in dem Artikel heißt, dass die „Freiheit an der Saar“ einer „sogenannten Integration“ geopfert werde. Die Formulierung einer „Freiheit“ in einem rechtlich nicht oder noch nicht zu Westdeutschland gehörigen Gebiet konnotiert die Vorstellung von der Freiheit und Souveränität einer Nation, verstanden als „Einheit“ von Territorium, Bevölkerung und Staatlichkeit. Eine „sogenannte Integration“ ist zu relativieren, weil sie offenbar dieser „Freiheit“ entgegenstehe. Mit dieser passiven uneigentlichen Rede demonstriert das Zitat jedoch gleichzeitig die Schwierigkeiten, mit denen ein nationaler Diskurs gegenüber der Idee der Europäischen Integration bereits im Jahre 1952 konfrontiert war. Eigentümlich passiv wird die vermeintlich nationale „Freiheit“ gegen die Europäische „Integration“ eingeführt. Das Denken in Kategorien der Einheit unterscheidet sich offenbar doch leicht von dem Denken in Kategorien der Integration. Während
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das Konzept der „Einheit“ auf eine Wiederherstellung eines unveränderlichen kollektiven Zusammenhalts zielt, operiert Integration stets prozessualer und zukunftsorientierter. Einheit zielt auf Wiederherstellung einer Communitas, Integration auf eine Herstellung. Diese offenere Konnotation mag auch die erstaunliche Konjunktur des Terminus Technicus „Integration“ mit Blick auf Europa erklären. Zwölf Jahre später hat sich die ursprünglich rein ökonomisch verortete Integrationssemantik endgültig um andere Bedeutungsfelder erweitert. Beispielhaft sei hier eine Textpassage aus dem Jahre 1964 angeführt, in dem eine „politische Integration“ als Nachfolgerin der „wirtschaftlichen Integration“ projektiert wird.
Appell zum Maßhalten auch an die EWG-Partner / Die politische Integration soll der wirtschaftlichen folgen Jede wirtschaftliche Integration stehe auf unsicherem Boden, wenn sie nicht vom politischen Willen getragen sei. Erhard warnte jedoch vor einer falsch verstandenen internationalen Solidarität. Gerate ein Land aus eigenem Verschulden ins Gedränge, so verleite eine solche Solidarität nur dazu, es auch weiter an den notwendigen Anstrengungen fehlen zu lassen. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.05.1964, 1)
Die unten wiedergegebene Passage wurde im Jahre 1964, d.h. vor 48 Jahren verfasst, scheint aber nichts von ihrer Aktualität auch im Jahre 2012 eingebüsst zu haben. Die Debatte um eine europäische politische Integration ist angesichts der Krise der südlichen Eurostaaten identisch. Diese Form des Appells an „mehr“ Integration ist stets mit einem Zukunftsversprechen verbunden. Dies war im Jahre 1964 so und ist auch noch so im Jahre 2012. Das Integrationskonzept ist durch seine prozessuale Konnotation offenbar auch in der Lage, ein Vorhaben stets aufs Neue für die Zukunft zu fordern. Anders als die „Einheit“, die einen vermeintlichen Missstand „revidiert“, ermöglicht das Sprechen im Namen der Integration, einen Missstand zu projektieren. Dabei scheint er, wie das Beispiel der Forderungen um die politische Integration demonstriert, stets aufs Neue wiederholbar zu sein. Solche Integrationsforderungen ermöglichen es, eine Zukunftsaussicht auf Dauer zu stellen. Allerdings unterscheiden sie sich auch von den utopischen Idealen, die zwar auch ihre Realisierung in die Zukunft projizieren, jedoch
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gelingt dies nur über die Gewissheit, dass sie bloße Ideale oder Utopien sind, d.h. dass sie niemals in die Realität umgesetzt werden können. Die Integrationsforderung nimmt so gesehen eine Mittelstellung ein. Sie erscheint realisierbar oder sogar notwendig, wie in dem Textbeispiel zur HoffmanRede aus dem Jahre 1949. Gleichzeitig ermöglicht die Forderung einen steten Aufschub, ohne dabei als utopisch oder unrealistisch zu erscheinen. Auch dieser eigentümlich verstetigte Erwartungshorizont der Integrationssemantik erklärt den Erfolg dieses Konzeptes in den letzten fünfzig Jahren. Erstaunlicherweise findet bis in das Jahr 1964 der zweite Verwendungskontext von Integration, nämlich die Integration von Gastarbeitern und Einwanderern keinerlei Erwähnung in der FAZ. Der erste Artikel, in dem „Integration“ und „Gastarbeiter“ als Bedeutungszusammenhang thematisiert werden, ist anlässlich der Feierlichkeiten zu dem so genannten „Millionsten“ Gastarbeiter. Am Tage vor der inzwischen ikonisch gewordenen Übergabe eines Mopeds an den „Millionsten“ nach seiner Ankunft am Bahnhof, schreibt die FAZ bereits über das Ereignis und erwähnt den Begriff „Integration“.
Der Millionste Eine Million Gastarbeiter in Deutschland – diese Zahl ist mehr als ein eindrucksvolles Zeichen für den wirtschaftlichen Aufschwung in diesem Lande. Dahinter versteckt sich ein nicht abzuschätzendes Ausmaß europäischer Integration und stiller, durch wertvolle Ausbildung der Ausländer geleisteter Entwicklungshilfe. Zudem darf man in dem spanischen Gast den Repräsentanten eines Europas sehen, das in der Freizügigkeit eines der wesentlichsten Merkmale seiner freiheitlichen Ordnung sieht. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.09.1964, 17)
Doch wie die Textpassage zeigt, schreibt die FAZ nicht über Integration der Gastarbeiter, sondern über den Millionsten, als „Ausmaß europäischer Integration und […] geleistete Entwicklungshilfe“ und als „Repräsentant“ eines „freiheitlichen“ Europas. Der Integrationsbegriff verweist in diesem Beispiel immer noch auf die Ursprungsidee der Alliierten einer „wirtschaftlichen Integration“ übernimmt aber gleichzeitig den Freiheitsbegriff, der vormals einer nationalen Souveränität zugeschrieben wurde, für Europa. Allerdings erstaunt es, dass der Millionste nicht als Zeichen erfolgreicher Integration von Gastarbeitern gewertet wird, sondern als Zeichen erfolgrei-
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cher Entwicklungspolitik (vgl. für diesen Zusammenhang weiterführend: Schönwälder 2001: 161f). In jenen Jahren gingen die politische und öffentliche Meinung noch fest von der These aus, dass die „Gastarbeiter“ nach einigen Jahren wieder ausnahmslos in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden (Bade 1992; Herbert 2001), und dort, mit ihrem verdienten Geld und den erworbenen Erfahrungen „Entwicklungshilfe“ leisten. Nicht die Integration der Gastarbeiter in Deutschland, sondern die Integration Europas verleiht dem Ereignis seine außerordentliche Bedeutung. Eine erste Nennung im Einwanderungskontext findet sich erst im Jahre 1968. Die FAZ lokalisiert die „Integration der Gastarbeiter“ in ihrem unmittelbaren lokalen sozialen Umfeld, mit einer Semantik, wie wir sie bis heute kennen.
Der Gruppenumsatz ist 1967/68 um 24 Prozent gestiegen / Sprunghafte Zunahme bei Farbfernsehern erwartet Mit rund 2600 Mitarbeitern ist der Arbeitskräftebedarf noch nicht gedeckt. Die Beschäftigung ausländischer Gastarbeiter ist aus verschiedenen Gründen schwierig. Zum einen zieht es diese in die größeren Städte, zum anderen ist für das bayerischländliche [sic!] Grassau mit seinen dreieinhalbtausend Einwohnern schon die Integration der derzeit rund 300 beschäftigten Ausländer eine Aufgabe. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.09.1968, 15)
Das kleine Städtchen Grassau erlebt offenbar dank der Nachfrage nach Farbfernsehern einen rasanten wirtschaftlichen Boom. Gleichzeitig herrscht Arbeitskräftemangel, der wohl mit „Gastarbeitern“ zu lindern wäre. Doch, so die berichtete Meinung, ein weiterer Zuzug erschwere „die Integration“ der bisher bereits dort lebenden „Ausländer“. In dieser Formulierung bezieht sich Integration nicht mehr auf ein transstaatliches wirtschaftliches Gefüge, sondern auf Individuen, bzw. auf spezielle, identifizierbare soziale Gruppen. Nicht mehr „Märkte“ gilt es nach dem neuen Verständnis zu integrieren, sondern „Menschen“. Es ist kein Zufall, dass sich dieser semantische Übergang eines wirtschaftswissenschaftlichen Konzeptes im Zuge einer ökonomischen Konjunktur ereignete. Je größer die Menge der „Farbfernseher“ ist, die unsere Gesellschaft produziert, desto größer wird auch das Wachstum der arbeitenden Menschen, die wiederum „integriert“ werden „müssen“. In diesem Nexus zwischen ökonomischer Warenakkumula-
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tion und sozialen Wohlfahrtsängsten ist die semantische Bewegung von einem ökonomischen zu einem soziologischen Integrationskonzept vollzogen. Integration wird dabei endgültig aus seinem alten Kontext eines wirtschaftlichen Zusammenwachsens von Staaten gelöst und stattdessen im lokalen lebensweltlichen Kontext angewendet. Integriert werden nicht mehr Volkswirtschaften, sondern Individuen oder soziale Gruppen. Aus einer ökonomischen Integration wird eine soziale Integration. Mit dieser Erweiterung ändert sich semantisch auch der Erwartungshorizont. Im Falle der wirtschaftlichen Integration Europas gilt eine stets erneuerbare Zielmarke von „noch mehr“ als innovativ, im Falle der „Ausländerintegration“ gilt ein „noch mehr“ als reaktiv. Die europäische Integration dient als Erwartungshorizont im Sinne eines permanent herzustellenden Zustands. Die „Integration der Ausländer“ wird hingegen als notwendige, soziale Hilfsmaßnahme präsentiert. Es ist jene Zeit in die „Gastarbeiter“ in der Öffentlichkeit „zum Problem“ werden (Schönwälder 2001: 196). Anders als die Europäische Integration gilt die „Integration von Ausländern“ nicht als wünschenswerter gesellschaftlicher Zustand, sondern als eine Folge von wirtschaftlichem Wachstum und Teil der, wie man heute sagen würde, „Lohnnebenkosten“. Während die „Ausländerintegration“ kostet, senkt die „europäische Integration“ die Transaktionskosten. Das Integrationskonzept kann offenbar trotz der Soziologisierung seines Adressaten nicht die ökonomische Herkunft ablegen, vielmehr ändern sich mit der Soziologisierung lediglich die Vorzeichen der Kosten von Plus auf Minus. Das neue soziologische Integrationskonzept wird nun mit unterschiedlichen Aspekten und Narrativen im Einzelnen in der Öffentlichkeit weiter ausgestaltet. Das obige Beispiel stellt eine bis heute bekannte Variante des so genannten „Das-Boot-ist-voll“-Narrativs aus der Sprache der Flüchtlingspolitik dar (Häsler 1967). Es wurde in den 1980 und 1990er Jahren vielfach von Nachrichtenmagazinen wie dem SPIEGEL und anderen Zeitungen in der damals so genannten „Asyldebatte“ bemüht (vgl. dazu: Jung, Niehr, Böke 2000: 171). Das „Das-Boot-ist-voll“-Narrativ geht von einem Untergangsszenarium aus, das Ausschluss und Ausgrenzung von Menschen legitimiert, die das Boot scheinbar zu schwer werden lassen und es so seiner Schwimmfähigkeit berauben. Die zynische Legitimationsstrategie lautet: Werde nicht ausgegrenzt, so gehe die Gesamtgesellschaft zugrunde. Das Narrativ überträgt das nautische Motiv eines Schiffbruchs schlicht auf Phänomene der sozialen Ungleichheit, in der keinerlei maritime Gesetzmä-
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ßigkeiten gelten. Ziel ist lediglich die Legitimation eines Zuzugstops oder Integrationskalküls. Kalkuliert wird die Proportion von bereits anwesenden „Ausländern“ gegen die „Integration“ künftiger „Ausländer“. Dieses Narrativ findet sich in vielen Formulierungsvarianten, auch ohne nautische Metapher. Im Jahre 1998 wurde es beispielsweise in einer abgewandelten Fassung von dem damaligen Innenminister Otto Schily bemüht, indem er sagte: „Die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands durch Zuwanderung ist überschritten“4. Im Zuge der Soziologisierung der Integrationsthematik spielt das Fach der Soziologie eine wichtige öffentliche Vermittlerrolle. Bereits Ende der 1960er Jahre beginnen soziologische Forschungsprojekte sich mit dem Thema „Integration“ auseinanderzusetzen. So berichtet die FAZ über ein von der Stadt Köln finanziertes Forschungsprojekt der „Deutschen Gesellschaft für Sozialanalytische Forschung“. Zu Beginn des Buches wird die Notwendigkeit zur Integrationsforschung über den Anstieg von Kriminalität und Selbsttötungen im Gastarbeitermilieu begründet (Bingemer, Meistermann-Seeger, Neubert 1970: 9). Ansonsten argumentiert das Projekt psychoanalytisch und erklärt die ablehnende Haltung der Deutschen gegenüber Gastarbeitern mit einem kollektiven Verdrängungs- und Abwehrkomplex. Die Gastarbeiter hätten nur dem Zweck gedient, den alten Traum von Sklaven und Zwangarbeitern als einer Schicht „unter der Unterschicht“ zu erfüllen. Die Ablehnung der Deutschen gegenüber den Gastarbeitern „helfe den Deutschen“, ihre nicht verarbeiteten Schuldgefühle aus dem Zweiten Weltkrieg zu kompensieren. Diese Sichtweise wird in der FAZ kommentarlos öffentlich rezipiert.
Gastarbeiter in der zweiten Phase: der Arbeitsplatz wird zur neuen Heimat Zu den Untersuchungen, die dem Unterschwelligen der deutschen Volksmeinung nachgehen, gehört eine in Kürze als Buch erscheinende Arbeit der „Deutschen Gesellschaft für Sozialanalytische Forschung, Köln“ über „Die Integration der Kölner Gastarbeiter“ (Karl Bingemer, Edeltrud Meistermann-Seeger, Edgar Neubert). […] Für die Einfärbung der unfreundlichen Haltung werden zwei Gründe genannt: der primäre Zweck des „Unternehmens Gastarbeiter“ sei gewesen, eine
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Münz, Rainer (1999): Newsletter Ausgabe 1 (Online): http://www.migrationinfo.de/mub_artikel.php?Id=990101.
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„unter den Unterschichten“ existierende Gruppe zu halten. Die unbewußte Motivation der negativen Einstellung erkläre sich aus der „absoluten Vermeidung des historischen Kapitels der Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg“. Die Abwertung der Fremden helfe den Deutschen, ihre Schuldgefühle aus der Vergangenheit abzubauen. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.07.1969, BuZ1)
Ansonsten sind solche psychoanalytischen Ansätze in der Folgezeit nicht mehr zu finden. Vielmehr entwickelt sich in Westdeutschland eine Integrationsforschung, deren Fragestellungen und Ergebnisse sich eher mit den sozialen Aspekten von Migrationsfolgen und sozialer Ungleichheit beschäftigen (Esser 1979). Die Ergebnisse werden in der Öffentlichkeit gerne zitiert und rezipiert. Im Zuge dieser Berichterstattung scheint sich wenig zu wandeln. Beispielsweise könnte der Artikel zu einem Forschungsprojekt aus dem Jahre 1970 zu einer „Studie über die Not der Ausländer“ auch im Jahre 2012 erschienen sein. Die Bezeichnung „Ausländer“ wäre lediglich durch die Bezeichnung „Menschen mit Migrationshintergrund“ zu ersetzen. Zudem demonstriert dieser Artikel ein weiteres bis heute tradiertes Narrativ, das der „Integrationsunwilligkeit“. Wie der Artikelausschnitt zeigt, wurden offenbar im soziologisierten Integrationsdiskurs von Beginn an Zweifel an einem Willen zur Integration der „Ausländer“ formuliert. So berichtet die FAZ, wie der Frankfurter Oberbürgermeister eine soziologische Studie damit beauftragt, die u.a. klären solle, „inwieweit die Ausländer überhaupt bereit sind, sich zu integrieren“. Die soziologische Forschungsfrage, die sich mit der Integrations(un)willigkeiten der Eingewanderten befasst, stößt auch in den nächsten 40 Jahren stets auf großes öffentliches Interesse (Buck 2012). Begleitet wird dieser Zweifel durch die Metaphern der „Ausländerghettos“ und der „Abkapselung“ in den 1990er und 2000er Jahren (Rauer 2004).
Studie über die Not der Ausländer. Reu. Das „geistliche Go-in“ im Barackenlager des Bauunternehmens Philipp Holzmann AG in Rödelheim, in dem etwa tausend italienische Gastarbeiter der Firma untergebracht sind, hat Oberbürgermeister Möller auf der gestrigen Magistrats-Pressekonferenz zu der Mitteilung veranlaßt, daß auch der Magistrat bereits ein „geistiges Go-in“ zu diesem Thema veranstaltet hat: Er habe eine Gruppe von
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Soziologen damit beauftragt, eine Studie über die allgemeine Situation der ausländischen Arbeiter in Frankfurt anzufertigen. Die Erhebung soll nach Möllers Vorstellung klären, inwieweit die Ausländer überhaupt bereit sind, sich zu integrieren. Diese Voruntersuchung müßte die Einwände prüfen, daß die Gastarbeiter sich von sich aus abkapseln, um unter sich wie in einer soziologischen Enklave zu leben. Die Hauptuntersuchung hätte sich damit zu befassen, wie eine Integration zu ermöglichen ist und welche Voraussetzungen dafür gegeben sind oder noch geschaffen werden müssen. Der Magistrat denkt dabei an eine Materialerhebung über alle Aspekte der Problematik: von der Wohnungsnot über die Schulverhältnisse bis zur Freizeitgestaltung. […] Wenn man den Gastarbeitern überhaupt helfen wolle, bedürfe es einer konzertierten Aktion. […] Anders könne man nicht gewährleisten, daß die ausländischen Arbeiter zu einem Teil unserer mitbürgerlichen Gesellschaft würden – mit entsprechenden Rechten und entsprechenden Chancen. (Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.12.1970, 24)
Normativ ist an dieser Forschungsfrage zur Integrationsmotivation unterschiedlicher sozialer Gruppen zunächst nichts Außergewöhnliches zu bemerken. Dennoch kommt diesem Zweifel öffentlich ein starker Nachrichtenwert in der medialen Öffentlichkeit zu. Die symbolische Stärke der Semantik um „Integrationsunwilligkeit“ erklärt sich möglicherweise ebenso durch die ökonomische Herkunft des Integrationskonzepts. Auch das öffentliche Integrationskonzept verweist, anders als Konzepte wie „Solidarität“ oder „Wohlfahrt“, auf ökonomische Kosten-Nutzen-Kalküle. Diese ökonomischen Bedeutungsreste haften dem Konzept stets an, auch wenn es sich an die Chancengerechtigkeit von sozialen Gruppen oder Individuen wendet (Gerdes/Bittlingmayer 2011). In der Öffentlichkeit wird Integration nicht nur mit Solidarität, sozialer Wohlfahrt oder der Förderung von Chancengleichheit assoziiert, sondern mit monetär vergleichbaren Kosten. Gastarbeiter sah man zu jener Zeit nicht als Bürger, sondern, wie die Metapher sagt, als „Gäste“. Als „Gäste“ verstand man sie nicht als Mitglieder der Gesellschaft, die Steuern und soziale Abgaben zahlten und daher auch Anspruch auf soziale Leistungen hatten, sondern als „ökonomischen Puffer“, der in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs die Arbeitskraft bereitstellt, in Zeiten des Abschwungs aber keine wohlfahrtsstaatlichen Kosten verursacht, da die „Gäste“ dann ja wieder in ihre Heimatländer zurückkehren würden (Herbert 2001: 219). Bekanntlich kam es anders, obwohl tatsäch-
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lich viele „Gäste“ wieder gingen (Richter, Richter 2012) blieben doch auch viele für immer. Das ökonomische Konjunkturpuffermodell scheiterte. Die Bezeichnung im obigen Artikelabschnitt von Gastarbeitern als „Teil unserer mitbürgerlichen Gesellschaft“ zeugt bereits vom Zweifel an der Puffertheorie in jener Zeit. Der Zweifel spiegelt sich in der partikularisierenden Formulierung des Oberbürgermeisters zu Gastarbeitern wieder, in der er davon spricht, dass die Gastarbeiter qua Integration zu einem „Teil“ unserer „mitbürgerlichen Gesellschaft“ werden könnten. Die Verwendung des Präfixes „mit“ vor „Bürger“ sollte bis weit in die 1990er Jahre hinein die symbolische Grenze zwischen Bürgern und den lediglich hier lebenden, jedoch nicht vollständig als zugehörig definierten Mitbürgern markieren (Meyer 2001: 12). Wenn die Gäste blieben und „Mitbürger“ wurden, wurde die Frage nach der Motivation nach Integration eine entscheidende Kostenfrage. Nachdem das Modell der arbeitenden Gäste und ihrer Abreise in Zeiten des Abschwungs scheiterte, zielten die kostensparenden Überlegungen auf möglichst eigenmotivierte Integration in die deutsche Bildungsgesellschaft und den deutschen Arbeitsmarkt (Rauer, Schmidtke 2001). Fortan galt der Motivation der „Mitbürger“ eine derartig herausgehobene Aufmerksamkeit. Das dem zugrunde liegende Kalkül lautete: Wenn die „Mitbürger“ sich selbst und freiwillig engagieren, werden die Kosten für die „Bürger“ geringer. Die das Narrativ der Integrationsunwilligkeit produzierende Formel suggeriert also: Je geringer die Motivation zur Integration der „Mitbürger“, desto höher der wohlfahrtsstaatliche Kostenaufwand der „Bürger“. Das Narrativ der Integrationsunwilligkeit lässt sich bereits in jener frühen Zeit mit den anderen bis heute bekannten Narrativen wie der „Gettoisierung“ und der „ethnischen Enklavenbildung“ mühelos verknüpfen. Beispielsweise berichtet ein Artikel aus dem Jahre 1974 von einer Baugruppe in Bad Nauheim, die ein Areal kaufen wollte, um dort Wohnhäuser zu errichten. Die Baugruppe stieß bei den Kommunalpolitikern offenbar auf Widerstand. Sie lehnten es ab, dass ein, wie es hieß, „Türkisch Bad Nauheim“ entstehe. Diese Formulierung eines Bindestrich-Ortes suggeriert eine Assoziation mit historischen Resten von Ortschaften unterschiedlicher Besiedelungszeiten. Reste dieser Zeit finden sich in Ortsnamen wie beispielsweise im ehemals dänischen Schleswig-Holstein als „Dänisch Nienhof“ etc. wieder. Es sind Namen, die die Ursprünge einer autochthonen Minderheit signalisieren sollen. Ein solches „Türkisch Bad Nauheim“ klingt wie eine Farce. Diese Farce wird mit dem Begriff der „Türkensiedlung“ nochmals auf
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diskriminierende Weise scheinbar humoristisch konterkariert. Gleichwohl erscheint der Plan der Baugruppe als ehedem utopisch, da aufgrund des Abschwunges auf dem Arbeitsmarkt keine Gelder mehr vorhanden seien. Parallel zu dieser Verhinderungsgeschichte einer wohnungspolitischen Selbsthilfe der Zugewanderten wird ihnen gleichzeitig Integrationsunwilligkeit unterstellt. Die einzelnen Narrative lassen sich also mühelos miteinander verknüpfen.
Sorge um türkische Familien. Sie stellen den Hauptanteil der Gastarbeiter im Wetteraukreis […] Eine Studie des türkischen Architekten über die Unterbringung der Gastarbeiter hatte ergeben, daß diese unter unhaltbaren sanitären Verhältnissen und oft zu Wuchermieten wohnen müssen. Das Land Hessen zeigte sich jedoch einer gesonderten Türkensiedlung wenig geneigt, da dies Gettobildung bedeute. Als bekannt wurde, wo etwa im Osten des Staatsbades Grundstücke für ein solches Viertel bereitgestellt werden könnten, formierte sich schnell eine Bürgerinitiative. […] Sie kündigte an, mit allen Mitteln gegen ein etwaiges „Türkisch-Bad Nauheim“ vorzugehen. Der Umschwung auf dem Arbeitsmarkt hat auch die Verfechter der eigenen Türkensiedlung verstummen lassen. Geblieben ist die Notlage auf dem Wohnungssektor und der türkischen Kinder und Jugendlichen. […] Wichtig sei zu verhindern, daß die Kinder auch bei uns als Analphabeten aufwachsen, weil die Schulmöglichkeiten nicht benützt würden. Hinderlich sei vor allem der schwache Wille der Türken zur Integration. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.02.1974, 24)
Eine weitere Variation dieses spannungsreichen Zusammenhangs zwischen dem Narrativ der Selbsthilfe und der Integrationsunwilligkeit findet sich im Bezug auf die Vereins- und Verbandsgründungen von Zuwanderern. So berichtet die FAZ von migrationspolitischen Vereins- und Verbandsgründungen im Sinne einer positiven Initiative, die es zu fördern gelte, zumal der damalige Bundeskanzler in einer Rede eine solche Aktivierung angeregt hatte. Mit institutioneller Eigeninitiative seien die „Gastarbeiter“ aus ihrer Passivität zu befreien. Gestärkt werden müsse, so würde es heute heißen, das Sozialkapital, ihre „Agency“, d.h. ihre politische Partizipation und Mobilisierung. Dieser bereits im Jahre 1970 vertretene Anspruch, Integration nicht als „Anpassung“ zu verstehen, sondern als aktive Bürgerschaft, exis-
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tiert bis heute in der Integrationsdebatte. Die Befürworter begreifen die Selbsthilfe als ein Element migrationspolitischer Zivilgesellschaft, die Kritiker befürchten eine durch Binnenintegration verursachte, gettoisierende Abschottung (vgl. zu dieser Debatte: Rauer 2008). Selbsthilfe zur Integration Die Zeit der schönen Reden sei nun endlich vorbei, sagte der Exilungar Bêla Jârvâs, und er gründete mit sechs weiteren Ausländern im Frühjahr dieses Jahres in Frankfurt einen Sozialverein für ausländische Arbeitnehmer, genannt „Interurban“. Der Verein erstrebt nicht die bisher immer wieder geforderte Anpassung der „Gastarbeiter“ an die deutsche Gesellschaft, sondern er will Ernst machen mit der in einer Rede des Bundeskanzlers vom 8. März verheißenen Integration, die den Ausländer aus seiner passiven Dulderrolle erlösen soll. (Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.12.1970, 25)
Die integrationspolitische Vorstellung der „Selbsthilfe“ adressiert ein migrationspolitisches Subjekt auf Seiten der Migranten. Zuwanderer sind als Individuen oder Familie eingewandert, aber nicht als institutionell verfasste Gruppe (Rauer 2008). Dies unterscheidet sie von den so genannten „autochthonen Minderheiten“. Mit Individuen kann jedoch kein Staat in „Dialog treten“. Dieses Paradox einer „Minderheitenpolitik“, die sich ihre eigene „Minderheit“ konstruiert, hat Levent Tezcan (2012 sowie sein Beitrag in diesem Band) am Beispiel der Islamkonferenz in den 2000er Jahren nachgezeichnet. Die Anfänge eines solchen, ein Kollektiv konstruierenden Prozesses zeigen sich bereits in diesen ersten Umrissen einer migrationspolitischen Subjektkonstruktion. Eine weitere Spielart der Sorge um Abschottung und Integrationsunwilligkeit findet sich in einem Artikel zu den Fußballvereinen der Zuwanderer. So wird unter der Überschrift „Nebeneinander“ von der Tendenz berichtet, dass „man am liebsten unter sich“ bleibe und dass es sogar Bestrebungen gebe, neben dem deutschen Fußballverbund (DFB) weitere nationale Fußballverbände zu gründen. In den neunziger Jahren wird für eine solche integrationspolitische Forderung der Begriff der „Parallelgesellschaft“ erfunden (vgl. dazu Yildiz 2010). Die gegen Parallelstrukturen arbeitende Integrationspolitik orientiert sich am klassischen nationalen Entweder-oder-Prinzip (Beck, Grande 2004). Nur ein Nationalstaat habe das Recht eine Bevölke-
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rung zu repräsentieren. Transnationale soziale Räume und multiple Zugerhörigkeiten erscheinen als ein Problem, dass es mit Integrationsmaßnahmen zu lösen gelte.
Nebeneinander Ob Italiener, Griechen, Spanier oder Türken, man bleibt am liebsten unter sich. Ob in der Kneipe nebenan, wo ein Landsmann hinter der Theke steht, oder im Sportverein – von Integration kann keine Rede sein. Der DFB ist gewillt, die „Eingliederung der großen Zahl ausländischer Gastarbeiter, die Fußball spielen wollen, in jeder Form zu unterstützen“. Doch reicht der erklärte gute Wille? Mit Unbehagen registriert man beim DFB Versuche, in seinem Revier sogar ausländische Verbände zu etablieren. Die FIFA plädiert für Integration statt Abtrennung. In der Theorie allerdings weiß weder der nationale noch der internationale Verband zu sagen, wie die getrennte Entwicklung einzudämmen ist. […]. Nun wird man als Idealrezept nicht allen Integrationswilligen den Umweg über die „Mischehe“ empfehlen können. Der DFB sollte sich Gedanken machen, wie ein Mehr an Miteinander zu erreichen ist. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.05.1971, 11)
Abschließend soll auf eine wichtigste narrative Ausgestaltung der Integrationssemantik hingewiesen werden: das Rotationsprinzip und die Bezeichnung von Deutschland als einem „Einwanderungsland“. Entgegen vielfacher Behauptungen in der Forschungsliteratur zu diesem Thema in den 1990er und 2000er Jahren findet sich die Begrifflichkeit eines Einwanderungslandes bereits im Jahre 1972 in der politischen und medialen Öffentlichkeit. Wie der folgende Artikelausschnitt demonstriert, ist die Karriere des Integrationskonzeptes in den 1970er Jahren auch der Verabschiedung vom so genannten „Rotationsprinzip“ zuzurechnen. Das Rotationsprinzip wurde als institutioneller Garant etabliert, der sicherstellen sollte, dass die angeworbenen Arbeitskräfte tatsächlich „Gäste“ bleiben würden. Die Verträge zwischen der Bundesrepublik und der Türkei begrenzten die Aufenthaltsdauer auf maximal zwei Jahre. Nach Ablauf dieser zwei Jahre wurden die Arbeiter ausgetauscht. Die Temporalisierung der Migrationsbewegung sollte die Notwendigkeit einer Integration der Menschen verhindern. Eine Verabschiedung vom Rotationsprinzip bedeutete also die Einführung eines Integrationsprinzips. Einher geht mit diesem Wandel die Idee, ein Einwan-
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derungsland zu sein. Dieser diskursive Zusammenhang liest sich im Jahre 1972 beispielsweise wie folgt:
Verschleiß ausländischer Arbeiter. Seminar der Ehlers-Akademie / Kritik am „Rotationsprinzip“ al. KIEL, 27. November. Obwohl die Ausländerbehörden dies verneinten, müsse die Bundesrepublik Deutschland als Einwanderungsland bezeichnet werden. 2,3 Millionen ausländische Arbeiter hofften auf mehr Sicherheit ihres Rechtsstatus, langfristig aber auf ihre Eingliederung. Ihnen diesen Wunsch zu verweigern, sei schon volkswirtschaftlich nicht vertretbar. Mit diesen Argumenten appellierte Dr. Franz, Richter am Oberverwaltungsgericht Berlin, an den neuen Bundestag, das Ausländergesetz zu reformieren. Schwere Bedenken erhob der Redner gegen die Praxis, auf einen raschen Wechsel der jeweils in der Bundesrepublik tätigen Gastarbeiter zu drängen. Dieses vom deutschen Ausländerrecht unterstützte „Rotationsprinzip“ bringe durch befristete Aufenthaltsgenehmigungen unverantwortbare soziale Härten mit sich. Vor allem aber sei es wirtschaftlich nicht zu rechtfertigen. […] Die einzig sinnvolle Lösung lautet nach Meinung des Redners: langfristige Aufenthaltsgenehmigungen für ausländische Arbeiter und ihre Integration in die Rechts- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik. Eine Isolation und Deklassierung dieser beträchtlichen Minderheit werde zu sozialen Spannungen führen. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.11.1972, 4)
Die obige in der FAZ rezipierte Rede wurde in einem akademischen Kontext vorgetragen. Die Umsetzung dieser Forderungen in ein offizielles Zuwanderungsrecht sollte noch Jahrzehnte auf sich warten lassen. Gleichwohl lässt sich konstatieren, dass bereits zu diesem frühen Zeitpunkt die wesentlichen Elemente der verschiedenen Integrationssemantiken artikuliert wurden. Zusammenfassend besteht das semantische Feld des Integrationskonzeptes bis zum Jahre 1974 aus fünf verschiedenen Elementen als: 1. 2. 3. 4.
‚Region-building‘ (von der Nation zur Region: Europäische Union), wissenschaftliche Grenzdefinition, ‚Problemdiagnose‘ (Soziologie), ‚Nation-building‘ (versus ‚Gettoisierung‘ und ‚Parallelgesellschaft‘), Widerstand/‚Voicing‘/Subjektivierung (Vereine, Verbände, Kampagnen) 5. Ethnisierung (‚Integrationsunwilligkeit‘/‚Bildungsferne‘)
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Diese fünf semantischen Bereiche haben sich in den ersten Jahren der Anwendung des Integrationskonzepts auf Zuwanderer in der Öffentlichkeit konstituiert. Die späteren Jahre wiederholen und verstetigen diese verschiedenen Elemente bisweilen als vermeintliche Neuigkeit (Rauer 2008) oder variieren mehr oder weniger bestimmte Aspekte. Im Folgenden soll auf eine weitere chronologische Darstellung der Berichterstattung verzichtet werden und stattdessen der unter 2. genannte Aspekt von Integration als wissenschaftliche Grenzdefinition eines „Problems“ für die Jahre 20062011 vertieft werden. Für die dazwischen liegenden 30 Jahre liegen zahlreiche Einzelstudien vor (vgl. u.a. Herbert 2001; Schönwälder 2001; Faist 2001; Eder, Rauer, Schmidtke 2004; Vonderau 2004; Rauer 2010, Dünnwald 2011, Schwarz 2011). Zu nennen ist in diesem Zeitraum die Diskussion um den Anwerbestopp, die Familiennachzugsregelungen, die Rückkehrförderungen qua Geldprämien in den 1980er Jahren, die Diskussion um die Kindervisa in den 1990er Jahre, die Zeit der Pogrome 1990-1993 sowie die umfassende Debatte um den Zusammenhang von doppelter Staatsbürgerschaft und Integration gegen Ende der 1990er Jahre. Ein relativ neuer Aspekt bildet vor allem der neue Diskurs um den Islam und Integration seit dem Jahre 2001. Es ist eine Zeit in der aus „Ausländern“ und „Zuwanderern“ „Muslime“ werden. Neben der ethnischen Zuschreibung verbreitet sich ein neue panethnische kollektive Bezeichnung (vgl. u.a. Tezcan 2012).
I NTEGRATIONSFORSCHUNG UND DIE D EBATTE ‚ RICHTIGE ‘ M ETHODE (2006-2011)
UM DIE
Abschließend soll aus der jüngsten Entwicklung der Integrationsdebatten ein oft übersehener Aspekt herausgegriffen werden, der insofern aufschlussreich erscheint, weil sich darin ein öffentlicher Disput um sozialwissenschaftliche Methodenfragen im Zusammenhang von Integrationssemantiken ereignete. Daran zeigt sich einerseits, dass der Einfluss soziologischer Forschung auf die öffentlichen Integrationsdiskurse nicht zu unterschätzen ist, andererseits zeigt sich auch, welches Maß an öffentlichem Skandalisierungspotential sozialwissenschaftliche Daten annehmen können, wenn sie in einen normativen Rahmen und Kontext gerückt werden. Im Folgenden geht es keinesfalls um eine erschöpfende und umfassende Darstellung der
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Debatten, sondern um einen Aspekt, der Relation zwischen Integration und Sozialwissenschaften. Im Jahre 2006 initiierte der Berliner Stadtteil Neukölln eine öffentliche Kampagne gegen Zwangsheirat. Nicht diese Kampagne selbst, sondern die Literaturhinweise der Kampagne stießen auf Widerstand. So formierte sich eine Gruppe von „60 Migrationsforschern“ und veröffentlichte eine „Petition“ in der Wochenzeitung DIE ZEIT (05.07.20065) unter dem Titel: „Gerechtigkeit für die Muslime! Die deutsche Integrationspolitik stützt sich auf Vorurteile. So hat sie keine Zukunft. Ein Denkanstoß“. Hier soll nicht der gesamte Argumentationsgang der Petition wiedergegeben werden, lediglich der Nexus zwischen Wissenschaftlichkeitsanspruch und öffentlichen Aussagen zur Integration. Stein des Anstoßes der 60 Unterzeichner und Unterzeichnerinnen war die auf der Homepage angegebene Literatur, da in dieser Literatur der Islam zu einseitig und diskriminierend dargestellt wird. So heißt es in der Petition:
Die Stoßrichtung dieser Literaturempfehlungen ist eindeutig: Es ist der unverbesserlich rückschrittliche Islam, der verantwortlich ist für Zwangsverheiratungen und andere Grausamkeiten. Als Gegenmittel hilft nur „Integration“ in die deutsche, sprich westliche Gesellschaft. (DIE ZEIT 05.07.2006)
Schuld an dieser Fehldarstellung ist die fehlende Wissenschaftlichkeit der auf der Homepage empfohlenen Bücher. So heißt es in der Petition weiter:
Allerdings sollte man annehmen, dass Verwaltung und Ministerium dem interessierten Publikum eine Literatur empfehlen, […] deren Aussagen wissenschaftlich abgesichert sind. Tatsächlich ist aber genau das Gegenteil der Fall – bei den erwähnten Büchern handelt es sich um reißerische Pamphlete, in denen eigene Erlebnisse und Einzelfälle zu einem gesellschaftlichen Problem aufgepumpt werden, das umso bedrohlicher erscheint, je weniger Daten und Erkenntnisse eine Rolle spielen. (DIE ZEIT 05.07.2006)
5
http://www.zeit.de/2006/06/islam_integration.
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Die Unwissenschaftlichkeit wird zudem untermauert, indem gezeigt wird, wie eine der auf der Homepage empfohlenen Autorinnen, Necla Kelek, sich selbst in ihren wissenschaftlichen und literarischen Aussagen widerspricht:
Die Literatur ist unwissenschaftlich und arbeitet ganz offensichtlich mit unseriösen Mitteln. Necla Kelek beispielsweise hat vor etwa drei Jahren ihre Dissertation zum Thema Islam und Alltag vorgelegt, in der sie zu ganz anderen Ergebnissen kommt als in Die fremde Braut. […] Dass sie in Die fremde Braut das genaue Gegenteil behauptet, scheint für Necla Kelek kein Problem zu sein. Sie verwendet sogar Interviewmaterial aus ihrer früheren Untersuchung – allerdings wird es nun neu gedeutet. (DIE ZEIT 05.07.2006)
Die Petition endet mit dem Appell an mehr Wissenschaftlichkeit in der Diskussion um die Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft und fordert „[…] eine rationale Diskussion über die zukünftige Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft zu führen. […] indem man sich auf Erkenntnisse stützt, die auf rationale Weise gewonnen wurden.“ (ebd.) Bemerkenswert ist die Fokussierung und Forderung nach Wissenschaftlichkeit in dieser Petition. Wie bereits Anfang der 1970er Jahre operiert die soziologisierte Variante des Integrationskonzepts mit einem Wissensgefälle. Aussagen zur Integration beanspruchten einen Expertendiskurs, sonst bestehe die Gefahr der Ignoranz und, schlimmer noch, der Diskriminierung und Ausgrenzung. Der enge Nexus von Wissen aus der Migrations- und Integrationsforschung einerseits und öffentlicher Skandalisierungsintensität andererseits lebt seit 1970er Jahre ungebrochen fort. Dementsprechend fällt die in der ZEIT abgedruckte Entgegnung von der kritisierten Necla Kelek aus. Neben polemischen Stellen bezieht auch sie sich auf das Wissenschaftsverständnis der Kritiker und Kritikerinnen. Insbesondere diskutiert sie die Frage nach der Güte qualitativer Forschung und das Problem des Meinungswechsels und hält ihren Kritikern entgegen:
Sie haben das Leid anderer zugelassen! Eine Antwort auf den offenen Brief von 60 Migrationsforschern: Sie ignorieren Menschenrechtsverletzungen, weil sie nicht in ihr Konzept von Multikulturalismus passen.
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[…] Ich habe in den vergangenen zehn Jahren genau hingesehen, habe mit einigen meiner Interviewpartner wiederholt gesprochen, die Veränderung in der türkisch-muslimischen Community registriert und dabei dazugelernt. Nach meinem Verständnis macht erst das seriöse Forschung aus: die Bereitschaft, die eigenen Ergebnisse durch genaue Beobachtung auch wieder infrage stellen zu lassen. Der Vorwurf, angeblich »Einzelfälle« zu Verallgemeinerungen »aufzupumpen«, ist auch noch deshalb besonders absurd, weil die Mit-Initiatorin dieses offenen Briefes an mich, Yasemin Karakasoglu, in ihrer Dissertation auf über 400 Seiten die Ergebnisse ihrer Befragungen von 15 muslimischen, kopftuchtragenden Pädagogikstudentinnen ihres Instituts auswertet.“ […] Für mich sind es gerade diese Migrationsforscher, die seit 30 Jahren für das Scheitern der Integrationspolitik verantwortlich sind. Die Politik hat viel zu lange auf sie gehört. Die Unterzeichner beanspruchen, sich „auf Erkenntnisse zu stützen“, die „auf rationale Weise gewonnen wurden“: auf den Tisch damit! (Quelle: http://www.zeit.de/2006/07/ Kelek)
Offensichtlich ist die Debatte an diesem Stadium endgültig zu einer Debatte um die richtige wissenschaftliche Methode geworden. Ununterscheidbar verschränken sich politische, sozialwissenschaftliche und normative Argumente. Die enge Verknüpfung von Wissenschaft, Integrationspolitik und Öffentlichkeit zeigt hier ihr spannungsreiches Skandalisierungspotential. Fragen nach der Verallgemeinerbarkeit von Aussagen zu Studien, die auf qualitative Daten beruhen, werden zumeist in Methodenseminaren an den Universitäten, nicht aber in den öffentlichen Debatten eruiert. Die „rational“ gewonnenen Erkenntnisse sind stets wissenschaftliche Erkenntnisse, d.h. sie unterliegen stets auch einer Falsifizierungsmöglichkeit. In der Öffentlichkeit ist ein solcher Umgang mit Wissen jedoch eher unverständlich. Medien berichten von Fakten und Tatsachen und nicht von wissenschaftlichen Thesen und Argumentationsschritten. Dieser Übergang zwischen methodischem Streit und integrationspolitischen Aussagen bezeugt die Spannungspotenz des Konzepts. So erstaunt es nicht, dass vier Jahre später, im Jahre 2010, wiederum Necla Kelek ein nunmehr quantitativ und statistisch argumentierendes Buch von Thilo Sarrazin vorstellt. Nunmehr werden wieder mit dem Anspruch sozialwissenschaftlicher Daten integrationspolitische Thesen vertreten, diesmal jedoch nicht in Form qualitativer Interviews oder Romane, sondern
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in Form von Tabellen und Graphiken. In einer Rezeption einer Buchvorstellung wird dieser Unterschied deutlich.
30. August 2010. Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek stellte das Buch „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin vor6 Die prominente türkische Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek gibt Thilo Sarrazin Rückendeckung, ergreift als erste das Wort auf der Pressekonferenz in Berlin und stellt das Buch „Deutschland schafft sich ab“ vor über 300 wartenden Journalisten in der Bundespressekonferenz in Berlin vor. Die Bewertung habe überraschende Zusammenhänge ergeben, so Kelek in ihrer Buchvorstellung. Sie referiert über den Inhalt und die Aussage des Buches, spricht über das Vorgehen, die Recherche und die Schlussfolgerungen von Sarrazin in seinem Buch. Den in diesem Zusammenhang aufgekommenen Vorwurf des Rassismus gegen Thilo Sarrazin hält die türkische Sozialwissenschaftlerin und Schriftstellerin für Unkenntnis. Der Islam ist für die Muslimin keine Rasse, sondern ein kulturelles System, was auch kritisiert werden darf.
Auch dieser methodische Ansatz und die Datenlage bleiben nicht unkommentiert. So schreibt der ehemalige Statistiker vom Bundesamt für Statistik einen Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung und bezeichnet den gesamten Umgang der Autoren aber auch der Öffentlichkeit als „statistischen Analphabetismus“:
Amtliche Daten zwischen Klamauk und Ignoranz […] Für tiefer gehende statistische Analysen braucht man substanzwissenschaftlich wohlbegründete Hypothesen über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Ist der familiäre Hintergrund ausschlaggebend dafür, dass eine Frau ohne Schulabschluss bleibt und welche Merkmale sind für ihren familiären Hintergrund kennzeichnend? Dann braucht man Daten über diese Merkmale. Vor allem braucht man aber Methoden, mit denen Hypothesen über solche Zusammenhänge empirisch überprüft werden können. Zu prüfen ist, ob die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau keinen Schulabschluss hat, tatsächlich von den vermuteten Ursachen
6
http://www.suite101.de/content/thilo-sarrazin-und-sein-buch-deutschlandschafft-sich-ab-a85265.
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abhängt. An dieser methodischen Kompetenz mangelt es Herrn Sarrazin offenbar. Besässe er sie, hätte er dieses Buch so nie geschrieben. (Neue Zürcher Zeitung, 10. September 2010, 23)
In dieser Passage werden nicht mehr die wenigen Interviews oder qualitativen Methoden kritisiert, sondern die statistischen Schlussfolgerungen über Ursache-Wirkungs-Relationen und die Beschaffenheit und Aussagekraft statistischer Daten. Auch dies sind in der Regel Diskussionen, die sich in sozialwissenschaftlichen Seminaren als Lehrstoff eignen, aber nicht in der Öffentlichkeit. Es folgten jedoch auch andere Widersprüche und Petitionen, die sich in diesem Fall nicht mehr auf die deskriptive Wahrheitsaussage und die Validität der Daten bezogen, sondern eine dezidiert normative Position bezogen. Es handelt sich ebenfalls um einen von mehreren tausend Personen unterzeichneten Aufruf, der jedoch anders als im Fall der Neuköllner Debatte nicht mehr über wissenschaftliche Tätigkeiten als Migrationsforscher eingeschränkt war. Dementsprechend wurde auch eine „wissenschaftliche“ Gegenmeinung als sinnlos bezeichnet, vielmehr gehe es um politische Fragen des richtigen Zusammenlebens in einer Einwanderungsgesellschaft. Ausschnitte des Aufrufs lauteten: Demokratie statt Integration7 […] Es ist sinnlos, den infamen Behauptungen von Sarrazin et al. wissenschaftliche Fakten entgegenstellen zu wollen, um zu beweisen, was MigrantInnen „wirklich“ tun oder lassen. Man kann diese Debatte nicht versachlichen, denn nichts an ihr ist richtig. Wir akzeptieren schlicht keine Haltung, die gesellschaftliche Verhältnisse nach Kosten-Nutzen-Erwägungen durchrechnet und Arme und MigrantInnen zur Ausschusspopulation erklärt. Dies geschieht im Kontext einer globalen Wirtschaftskrise, von der nur allzu klar ist, wer ihre Folgen tragen soll. Wir wollen das Offensichtliche klar stellen. Wir leben in einer Einwanderungsgesellschaft. Das bedeutet: Wenn wir über die Verhältnisse und das Zusammenleben in dieser Gesellschaft sprechen wollen, dann müssen wir aufhören, von Integration zu reden. Integration heißt, dass man Menschen, die in diesem Land arbeiten, Kinder bekommen, alt werden und sterben, einen Verhaltenskodex aufnötigt, be-
7
http://www.demokratie-statt-integration.kritnet.org/
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vor sie gleichberechtigt dazugehören. Aber Demokratie ist kein Golfclub. Demokratie heißt, dass alle Menschen das Recht haben, für sich und gemeinsam zu befinden, wie sie miteinander leben wollen. Die Rede von der Integration ist eine Feindin der Demokratie.
Bemerkenswerter Weise distanziert sich der Aufruf von der Frage, „was MigrantInnen ‚wirklich‘ tun oder lassen‘“ und wendet die Debatte in eine politische Debatte. Kritisiert wird an dem Integrationskonzept der deutschen Öffentlichkeit und, wie es sich in Gestalt des Buches von Thilo Sarrazins artikulierte, als ein ökonomisches Kalkül von Kosten-NutzenErwägungen. Offenbar hat auch im Jahre 2010 das soziologisierte Integrationskonzept noch nicht seine ökonomische Herkunft aus den Wirtschaftswissenschaften ganz abgestreift. Integration würde im öffentlichen Verständnis den Menschen einen „Verhaltenskodex“ aufnötigen, der darüber bestimme, ob sie dazugehören oder nicht. Aus diesem Grund sei das Integrationskonzept ein antidemokratisches Konzept. Die Soziologisierung einer wirtschaftswissenschaftlichen Kosten-Nutzen-Kalkulation ist gescheitert. Integration bleibt aus Sicht der Unterzeichner und Unterzeichnerinnen im öffentlichen Gebrauch daher ein Konzept, das der Frage entgegenstehe, wie man in „einer Demokratie“ zusammenleben wolle.
F AZIT : D IE E MERGENZ IN D EUTSCHLAND
DES I NTEGRATIONSDISKURSES
Das Konzept der „Integration“ prägt zwei kollektive Erwartungshorizonte: zum einen die Integration Europas und zum anderen die Integration von Einwanderern in Deutschland. Mit Blick auf Europa projektiert Integration eine suprastaatliche europäische Gemeinschaftsbildung, mit Blick auf die Migranten eine Gemeinschaftsfortschreibung im Rahmen des Nationalstaats. Ist aufgrund dieser multiplen Bedeutungskontexte das Konzept der Integration als antidemokratisches Konzept zu verwerfen? (vgl. auch Tekessides 2009) Dieser Schluss soll abschließend entschieden verneint werden. Integration ist ein abstrakter Begriff zur Beschreibung von Vergemeinschaftungsprozessen. Konzepte und Schlüsselbegriffe der Gemeinschaftsbildung dienen dazu, soziale Prozesse zu „be-greifen“. Andere ähnlich abs-
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trakte Schlüsselbegriffe wären die Konzepte der „Modernisierung“ oder der „Revolution“ (Koselleck 1979; 2010; Richter 1995, Hillebrand 2010). „Integration“, „Revolution“ oder „Modernisierung“ besagen zunächst nur auf einer formalen Ebene, dass sich mit Blick auf gesellschaftliche Strukturen etwas ändert. Ob diese Veränderungen demokratisch oder antidemokratisch sind, entscheidet nicht der Begriff selbst, sondern seine öffentliche Verwendungsweise. Denn für sich allein genommen sind diese Schlüsselbegriffe des sozialen Wandels normativ völlig unspezifisch, spezifisch erst ihr pragmatischer Gebrauch. Von der historischen Semantik und der Systemtheorie wissen wir jedoch, dass Abstraktheit kein Problem, sondern ein wesentlicher Grund eines Erfolges von sozialpolitischen Konzepten ist. Abstrakte Gesellschaftsbegriffe können aufgrund ihrer inhaltlichen, formalen Charakteristik von unterschiedlichen politischen Milieus usurpiert und mit den konträrsten Inhalten und Zielen versehen werden (Crouch 2011). Im 19. und 20. Jahrhundert war die „Revolution“ ein sowohl politisch rechtes als auch politisch linkes Projekt. Es unterschied sich inhaltlich jedoch mit Blick auf die eingesetzten Mittel und die zu erreichenden Ziele. So wie im 18. Jahrhundert der Begriff der „Revolution“ dazu diente, die Folgen der „Modernisierung“ auf den Begriff zu bringen, so dient heute der Integrationsbegriff dazu, die Folgen der Globalisierung auf den Begriff zu bringen. In den Kommunikationswissenschaften ist es inzwischen Konsens, dass die Öffentlichkeit die soziale Realität nicht nur widerspiegelt, sondern auch formt und prägt. Insofern tragen die öffentlichen Integrationsforderungen stets zur Ausgrenzung und Gemeinschaftsbildung unter zunehmend globalen Entgrenzungsbedingungen bei – nicht aber der abstrakte Begriff sui generis. Die öffentliche Begriffspragmatik von Integration ist nicht mit der wissenschaftlichen Bedeutung identisch. Reinhart Koselleck hat die Semantik politischer Begriffe auf die berühmte Formel der „vergangenen Zukunft“ gebracht. Die Formel fasst den Zusammenhang von vergangenen „Erfahrungsräumen“ und zukünftigen „Erwartungshorizonten“ zusammen. Der Erfahrungsraum richtet den Blick auf die gemeinsame Vergangenheit einer sozialen Gruppe oder eines Landes. Seine Inhalte resultieren aus der gemeinsamen Partizipation an Ereignissen und Geschehnissen. Aus dem vergangenen Erfahrungsraum generiert sich der an die Zukunft gerichtete Erwartungshorizont. Mit dem Integra-
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tionskonzept artikulieren sich in der deutschen Öffentlichkeit zwei Erwartungshorizonte, die eigentümlich quer zueinander verlaufen: Zunächst findet sich seit 1948 der Erwartungshorizont einer „regionalen Integration“ Deutschlands in Europa als allgemeiner Prozess eines regionbuilding. Anschließend seit 1968 zeigt sich ein zweiter nationalstaatlicher Erwartungshorizont, der sich an die Einwanderer richtet. Dieser Horizont ist rückwärts gewandt und orientiert sich an vergangenen Vorstellungen einer präzise benennbaren, singulären nationalen Zugehörigkeit. Gegen die Idee einer neuen, verwandelten Einwanderungsgesellschaft artikuliert sich in diesem zweiten Verständnis eher eine Idee von nation-saving angesichts global zunehmender Vernetzungsprozesse. Im öffentlichen Integrationskonzept verschränken sich also auf spannungsreiche Weise zwei verschiedene Erwartungshorizonte: ein transnationaler auf die Zukunft ausgerichteter und ein nationalstaatlicher an der Vergangenheit orientierter Erwartungshorizont. Der Integrationsbegriff kann also weder demokratisch oder undemokratisch sein. Über den Inhalt und die normativen Konnotationen entscheiden allein die Gebrauchsweisen in der Öffentlichkeit. Was die Analyse seiner Gebrauchsweisen eindrücklich zeigt, ist der Effekt von „veröffentlichter“ Soziologie. In der Integrationspolitik dient der soziologische Begriff dazu, Grenzen zu thematisieren, zu skandalisieren, Grenzen neu zu ziehen oder sie abzubauen. Die Deutungshoheit über den Begriff hat die Wissenschaft damit längst verloren. Es wäre aus Sicht der Wissenschaft jedoch zu einfach, aufgrund dieses Kontrollverlustes auf den Begriff gleich ganz zu verzichten. Vielmehr sollte das Forschen über Integration dazu genutzt werden, Prozesse der Vergemeinschaftung und der Ausgrenzung im öffentlichen Einwanderungs- und Europadiskurs transparent zu kommunizieren. Mehr kann und soll ein abstraktes wissenschaftliches Konzept nicht leisten.
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I NTEGRATIONSDEBATTEN
IN DER DEUTSCHEN
ÖFFENTLICHKEIT | 85
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Kulturelle Diversität und soziale Ungleichheiten T HOMAS F AIST
Z USAMMENFASSUNG Die Frage, wie aus kulturellen Differenzen soziale Ungleichheiten werden, ist bisher weitgehend ungeklärt. In den westeuropäischen Gesellschaften hat es im Verlauf der letzten Jahrzehnte erneut eine enorme Zunahme an kultureller Diversität gegeben, was Religion, Sprache, Wir-Gruppen (wegroups), transnationale Verbindungen und Herkunftsländer von Immigranten angeht. Aristide Zolberg hat uns ins Gedächtnis gerufen, dass kulturelle Diversität nicht etwa eine Abweichung von der vermeintlichen Norm der kulturellen Homogenität ist, sondern vielmehr der Normalfall. Der unscharfe Begriff „Diversität“ impliziert in zweierlei Hinsicht innovative Maßnahmen: Erstens geht es bei Diversität nicht nur um die Integration von Migranten, sondern auch darum, wie die Organisationen der dominanten Gesellschaft mit kulturellem Pluralismus umgehen. Zweitens lässt sich unter Diversität sowohl die individuelle Kompetenz von Migranten als Mitgliedern von Organisationen verstehen als auch eine Reihe von Programmen, die Organisationen in Reaktion auf kulturellen Pluralismus einsetzen. Wenn Diversität jedoch hauptsächlich als Managementtechnik aufgefasst wird, wie soll dann der Umgang mit sozialer Ungleichheit aussehen? Da wir vor allem herausfinden müssen, wie sich die Trennungslinien, die zu Ungleichheiten führen, ursprünglich herausbilden, können Forschungsansätze hilfreich sein, die sich mit sozialer Abgrenzung befassen. Der Erklä-
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rungsansatz der sozialen Mechanismen zum Beispiel liefert eine Antwort, indem er die Produktion von Ungleichheiten als Trennungslinien aus vielfältigen Diversitätsmarkern verfolgt. Zusätzlich zu bekannten Merkmalen wie Klasse, Religion, Ethnizität und Geschlecht müssen zu diesem Zweck neue Merkmale untersucht werden: Transnationalität in Form eines grenzüberschreitenden Lebensstils bietet sich dafür an.
D IVERSITÄT
IM
M IGRATIONSKONTEXT
Die kulturelle Diversität in Westeuropa hat sich wieder verstärkt. Davon legt die zunehmende Heterogenität der Migranten,1 was Herkunftsländer, Zugehörigkeit zu ethnischen und nationalen Gruppen, Religion, Sprache, Immigrationskanäle und rechtlichen Status anbelangt, ein beredtes Zeugnis ab. In den letzten Jahren hat sich die Zahl der Herkunftsländer, aus denen Menschen nach Europa einwandern, vervielfacht. Immer mehr kleinere Gruppen von Einwanderern stehen den älteren, größeren Gruppen gegenüber. Die Veränderungen, zu denen es in den letzten drei Jahrzehnten zum Beispiel in Köln, Hamburg, Stuttgart, Frankfurt und München gekommen ist, sind repräsentativ für viele deutsche und europäische Großstädte. Besonders auffällig ist der relative Rückgang des türkischstämmigen Bevölkerungsanteils. Der Anteil von Immigranten aus Polen nimmt dagegen zu, und Gruppen, die bisher zahlenmäßig schwächer vertreten waren, sind innerhalb weniger Jahre stark gewachsen. Das betrifft insbesondere Immigranten aus der Ukraine, den Philippinen, Togo, Vietnam und Indien. Ähnliche Trends lassen sich – oft in noch deutlicherer Form – in anderen europäischen Großstädten wie London, Lissabon, Barcelona, Mailand, Amsterdam und Kopenhagen beobachten (Alexander 2004: 60). In der Folge ist die Bevölkerungsstruktur insgesamt durch die Zuwanderung heterogener geworden, wozu auch die inner-europäische Migration von Arbeitnehmern, Studenten und Rentnern beigetragen hat. Die gegenwärtigen Entwicklungen stellen historisch gesehen eine Umkehrung des Trends zu kultureller Homogenisierung vom Ersten Weltkrieg bis in die frühen 1950er Jahre dar.
1
Aus Gründen der Vereinfachung des Lesens wird im Folgenden auf die weibliche Schreibform verzichtet. Die allgemein gehaltenen Personennennungen schließen jedoch sowohl Männer als auch Frauen mit ein.
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In öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten wird oft eine enge Verbindung zwischen der kulturellen Diversität von Migranten und sozialen Ungleichheiten vorausgesetzt. Im sogenannten „Kopftuchstreit“ beispielsweise wird das von manchen muslimischen Frauen getragene Kopftuch zuweilen als Symbol geschlechtlicher Unterdrückung ausgelegt. Auch wenn Migranten transnationale Beziehungen aufrechterhalten, etwa durch die Heirat von Partnern aus dem Herkunftsland oder indem sie Fernsehprogramme aus ihrer Heimat bevorzugen, wird das von manchen Beobachtern als Zeichen zunehmender sozialer Segregation verstanden, die sich in schlechteren Zeugnissen, allgemein schlechteren Bildungserfolgen und höherer Arbeitslosigkeit von Migrantenkindern und Migranten niederschlägt. In Wirklichkeit ist der Zusammenhang zwischen Diversität und Ungleichheit viel komplexer (z.B. Crul und Heering 2008; Faist 1994). Bisher weiß man wenig über die Bedeutung kultureller Differenzen für soziale Aufwärts- und Abwärtsmobilität. Dass die zunehmende kulturelle Diversität in westeuropäischen Gesellschaften überhaupt als ein neues Phänomen dargestellt wird, mag überraschend erscheinen. Wie Aristide Zolberg uns bereits vor einigen Jahren ins Gedächtnis gerufen hat, ist kulturelle „heterogeneity […] the more usual state of affairs“ und eben nicht „a departure from the norm“ (Zolberg 2004: 5). Die meisten europäischen Länder sahen in ihrer jahrhundertelangen Geschichte nicht nur die Existenz ethnischer und nationaler Minoritäten, sondern auch Zuwanderung in großem Stil (Zolberg 1978), sei es durch Religionsflüchtlinge oder Arbeitsmigranten. Es geht also nicht darum, dass die heutige Diversität der Zuwanderer eine neue Erscheinung ist – uns interessieren hier vielmehr die veränderten Bedingungen, unter denen sie sich abspielt. Ein in diesem Zusammenhang vorgebrachtes Argument lautet, dass Diversität als Konzept und Set von – nicht notwendigerweise kohärenten – Richtlinien, Programmen und Routinen verschiedene weltanschauliche und politische Richtungen umfasst und sowohl diejenigen anspricht, die die individuelle wirtschaftliche Kompetenz und Selbständigkeit von Migranten hervorheben („Neoliberale“), diejenigen, die individuelle Entfaltung im Geflecht von Institutionen sehen („Liberale“) wie auch diejenigen, für die die politische Kompetenz von Einwanderern in öffentlichen Angelegenheiten wichtig ist („Republikaner“) und schließlich solchen, die die soziale Kohäsion von politischen Gemeinschaften betonen („Kommunitaristen“). Und
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nicht zuletzt spielt der Begriff eine wichtige Rolle für Institutionen auf lokaler und nationaler Ebene sowie für die Europäische Kommission, die auf Strukturreformen für die Umgestaltung von Integration in einem gegenseitigen Prozess drängen (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2003). Die Anpassung von Organisationen an „kulturelle“ Faktoren, die ökonomische Nutzung von soft skills und die Erbringung von Dienstleistungen für eine kulturell heterogene Kundschaft treten in den Vordergrund. Während beim Konzept der Assimilation die Eingliederung des einzelnen Migranten in die Mainstream-Gesellschaft im Mittelpunkt steht und der Multikulturalismus dagegen – in einigen Ausprägungen – die Rechte von Migranten als Mittel zur Steigerung des von ihnen empfundenen Gefühls von Anerkennung und Zugehörigkeit und somit auch zur Verbesserung der gesamtnationalen Einheit hervorhebt, konzentriert sich die Idee der Diversität auf die mittlere Ebene – die der Organisationen. Im Migrationskontext lässt sich das Entstehen neuer Formen von Diversität beobachten, zum Beispiel der transnationale Lebensstil. Unter „transnationalen sozialen Räumen“ ist nicht nur das grenzübergreifende Verbundensein von Netzwerken, Organisationen und Gemeinschaften zu verstehen, sondern auch die Tatsache, dass bestimmte Segmente von Migranten ihre Aktivitäten in Bezug auf Familie, Freunde, geschäftliche Beziehungen, politische Partizipation und kulturellen Austausch über Grenzen hinweg fortführen (Faist 2000a). Während die Konzentration auf die Organisationsebene insofern einen wichtigen Beitrag darstellen mag, als sie mit der „zivilen Sphäre“ der Integration verbunden ist (Alexander 2006), erscheint es problematisch, dass bisher Diversität als Managementtechnik in Organisationen sich nicht mit Problemen der sozialen Ungleichheit beschäftigt. Wir dürfen Diversität nicht nur als Führungstechnik verstehen, sondern müssen sie unter Berücksichtigung von Heterogenitäten entlang der Trennungslinien von unter anderem Klasse, Geschlecht, Religion, Ethnizität, Alter und Transnationalität untersuchen. Diese Herangehensweise wird es uns ermöglichen, die Mechanismen zu verfolgen, durch die aus Differenzen oder Diversität soziale Ungleichheiten werden. Es folgt zunächst eine Beschreibung der vielen Facetten des Begriffs „Diversität“, die zum Teil seinen Reiz ausmachen. Daran anschließend wendet sich die Analyse ihrer Hauptaufgabe zu, nämlich einen Zusammenhang zwischen kultureller Diversität und sozialer Abgrenzung – der Herausbildung von Trennungslinien – sowie der Produktion von sozialer Un-
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gleichheit durch soziale Mechanismen herzustellen. Im dritten Teil betreten wir mit Transnationalität als einem Merkmal von Diversität wissenschaftliches Neuland. Der Aufsatz schließt mit einer Betrachtung von politischen Streitfragen und der Rolle, die die von Sozialwissenschaftlern im Bereich von Diversität und sozialen Ungleichheiten herausgearbeiteten Kategorisierungen spielen.
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EIN FACETTENREICHER
B EGRIFF
„Diversity refers to any mixture of items characterized by differences and similarities“ (Thomas 1996: 5): So wie dieser Versuch sind Definitionen des Begriffs „Diversität“ meist nicht besonders hilfreich. Ludwig Wittgenstein lehrt uns, dass sich die Bedeutung eines Begriffs am besten aus der Art seiner Verwendung folgern lässt. Der Diversitätsbegriff ist zurzeit allgegenwärtig. Man trifft auf ihn in öffentlichen Debatten ebenso wie in grundverschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen wie Kulturanthropologie, Mikroökonomie und Biogenetik (dort: „Biodiversität“). Im sozialpolitischen und wirtschaftlichen Diskurs findet sich der Begriff unter anderem im Kontext von Ethnizität, Kultur, Gender Mainstreaming, Alter, Klasse, sexueller Orientierung, Religion, beruflicher Stellung, Ausbildungsniveau, mentalen und physischen Fähigkeiten und Gesundheit (Wood 2003). Im Migrationskontext bezeichnet „Diversität“ oft eine Pluralität von Sprachen, Religionen und ethnischen Gruppen. Diversität ist keine vorsoziale Kategorie und daher stets mit zugeschriebenen Bedeutungen beladen. Sie ist die wahrgenommene und evaluierte Form von (kultureller) Differenz. Das bedeutet, Diversität wird von gesellschaftlichen Akteuren konstruiert, indem Demarkationslinien zwischen Klassifikationen mit sozialen Bedeutungen gezogen und manchmal bestimmte Klassifikationen als dominant definiert werden. Diversität erscheint bisher meist hauptsächlich als ein Merkmal mit positiven Konnotationen für wirtschaftliche Effizienz, soziales Vertrauen und das Gemeinwohl. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Weite des Begriffs „Diversität“ andere Interpretationsmöglichkeiten zulässt. Mit Hilfe ökonometrischer Untersuchungen versucht man beispielsweise auf makrostruktureller Ebene zu beweisen, dass ungefähr die Hälfte des Unterschieds zwischen den Sozialausgaben der Vereinigten Staaten und Europas auf das hö-
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here Ausmaß an ethnischer Diversität in den Vereinigten Staaten zurückzuführen ist (Alesina et al. 2003). Größere Heterogenität könnte also einer der Hauptgründe für einen schwächer ausgeprägten Wohlfahrtsstaat sein. Immer mehr Menschen verleihen indessen ihrer Begeisterung darüber Ausdruck, dass kulturelle Diversität unter bestimmten Umständen zu größerem innovativem Potential führen kann. Ein Beispiel ist die creative class aus jungen hochqualifizierten Berufstätigen, die sich in ethnisch gemischten Wohnbezirken ansiedelt (Florida 2005). Bei diesen Lobreden auf die Diversität wird normalerweise verschwiegen, dass die betreffenden Wohnbezirke im Hinblick auf sozioökonomische Klassenpositionen durchaus homogen – am oberen Ende der Skala – zusammengesetzt sind. Eine einleitende Analyse des Begriffs „Diversität“ bringt drei Bedeutungen zu Tage, die sich drei verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen zuordnen lassen. Die erste Bedeutung definiert Diversität als ein Merkmal von Gesellschaften. Multikulturelle Gesellschaften wie zum Beispiel Kanada haben Diversität als Gesellschaftskonzept verinnerlicht. Genauer gesagt bezieht sich das auf die Dekonstruktion von Normalitätsbegriffen und dominanten Kulturen sowie auf die wahrgenommene Inklusion durch Anerkennung (Fraser und Honneth 2003). Auf dieser ersten Ebene steht Diversität oft synonym für kulturellen Pluralismus und soll durch multikulturell ausgerichtete Politik unterstützt werden. Auf der zweiten, gegenwärtig die akademische und öffentliche Diskussion beherrschenden Ebene, bezieht sich Diversität auf Organisationen, unter anderem in Form der Beobachtung, dass Organisationen der Mainstream-Gesellschaft ihre Praktiken anpassen und bei ihren Routinen kulturelle Diversität berücksichtigen. Dabei wird quasi stillschweigend vorausgesetzt, dass Organisationen der Mehrheitsgesellschaft ihre Mitarbeiter, Mitglieder und Kunden nicht aufgrund ihrer kulturellen Eigenheiten diskriminieren (dürfen), sondern vielmehr positiv und einfühlsam auf kulturelle Unterschiede eingehen (sollen). Krankenhäuser sind ein gutes Beispiel für den öffentlichen Sektor: In den Kliniken vieler westeuropäischer Großstädte sind 20 bis 40 Prozent der Patienten Migranten oder Migrantenkinder (Healy und McKee 2004). In der Folge findet eine Anpassung der Praktiken und Routinen statt, etwa indem Mitarbeiter aus verschiedenen Kulturen rekrutiert oder Dolmetscherdienste zur Verfügung gestellt werden. Auf der dritten, der individuellen Ebene schließlich meint Diversität die interkulturellen Kompetenzen einer Person, die zum Beispiel in Form von Mehrsprachigkeit zum Ausdruck kommen.
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Die beiden letztgenannten Dimensionen gehen eine Verbindung ein, wenn Organisationen – insbesondere auf Gewinn ausgerichtete Unternehmen oder öffentliche Dienste – den Versuch einer Effizienzsteigerung unternehmen und derlei Kompetenzen zu einem Rekrutierungskriterium für ihre Mitarbeiter machen (Managing Diversity). Diversität als Managementkonzept wird typischerweise generell ähnlich wie der Multikulturalismus auf eine Weise präsentiert, die ihre Nützlichkeit als analytisches Konzept ebenso zum Ausdruck bringt wie ihre Eigenschaft als normatives Prinzip, so dass die Grenzen zwischen beiden verschwimmen. Diversität als potentieller Integrationsmodus in Westeuropa vermeidet die gegen den Multikulturalismus geltend gemachten Kritikpunkte (stellvertretend für viele siehe Gitlin 1995 und Barry 2001), indem erstens das Hauptaugenmerk nicht auf den Rechten von Migranten oder nationalkulturellen Minderheiten liegt, sondern auf den positiven Effekten von kultureller Pluralität und Kompetenz für Unternehmen der Privatwirtschaft und öffentliche Dienste. Folglich kommt es zu einer semantischen Verschiebung weg von der Anerkennung kollektiver Identitäten und hin zur Betonung individueller Kompetenzen, was die Herstellung einer Verbindung sowohl zum Individualisierungsdiskurs als auch zu der Idee ermöglicht, dass jeder Mensch Unternehmer in eigener Sache („Lebensunternehmer“) ist. Zweitens konzentriert sich der Diversitätsdiskurs nicht ausschließlich auf Migranten, die nur eine von vielen zu berücksichtigenden Kategorien darstellen. Dieser Aspekt ist hilfreich, um verschiedene Programme wie beispielsweise Gender Mainstreaming und Diversity Management miteinander zu verknüpfen. Es geht dabei nicht nur um kulturelle, sondern auch um Unterschiede in Bezug auf Geschlecht und sexuelle Orientierung. Aus semantischer Sicht betrifft die Veränderung nicht so sehr die Integrationsmodi als solche, sondern den dabei jeweils gesetzten Schwerpunkt. Man sollte diese Sichtweisen deshalb nicht einfach als Ersetzung früherer Konzepte wie Assimilation und Multikulturalismus durch den Diversitätsbegriff verstehen, sondern eher als ein Zeichen dafür deuten, dass auf Organisationsebene weiterhin eine Dynamik im Umgang mit kultureller Vielfalt existiert, vor allem, wenn es um ökonomische Effizienz und die Erbringung von Dienstleistungen geht. Um jedoch offensichtliche Kritik zu vermeiden, wie sie manchmal gegen den Multikulturalismus gerichtet wurde, haben sich einige Debatten und Praktiken das Schlüsselwort „Kompetenzen“ anstelle von „Rechten“ auf die Fahnen geschrieben.
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Die Betonung der „Kompetenz“ Einzelner im Verein mit einer Politik, die die Employability (Beschäftigungsfähigkeit) von Personen in den Mitgliedsländern der Europäischen Union (EU) fördern soll, hat sich weit von dem einstigen Kampf gegen Benachteiligung und strukturelle Diskriminierung entfernt. Der Schwerpunkt liegt jetzt darauf, was die Einzelnen zur Effizienz von Organisationen beitragen können. Dieser allgemeine Trend betrifft nicht nur kulturelle Diversität, sondern umfasst alle Formen von sozialer Diversität. Im privaten Sektor heißt das Diversity Management oder Managing Diversity, im öffentlichen Sektor spricht man von einem „interkulturellen Ansatz“ oder „interkultureller Öffnung“. Diversity Management-Programme führen zu nachhaltigen Veränderungen bei Entscheidungsstrukturen, Routinen und Mitarbeitern von Organisationen (siehe zum Beispiel Frohnen 2005). Organisationen transformieren Einheiten von kulturell indifferent in kulturell plural. Kulturell plurale Organisationen demonstrieren kulturelle Diversität als Ressource, indem sie Trainingsprogramme zur Verbesserung der interkulturellen Kompetenz ihrer Mitarbeiter auflegen, bei der Auswahl und Rekrutierung neuer Mitarbeiter entsprechende Kriterien verwenden und ihren Kunden besondere Dienstleistungen anbieten. Durch die Zugehörigkeit zu einer Organisation kann es zur Verschiebung der Grenzen zwischen der privaten und der beruflichen Sphäre kommen. Kulturell indifferente Organisationen respektieren normalerweise eine strenge Trennung zwischen dem privaten und dem beruflichen Bereich: Merkmal wie z. B. das ethnische Erbe gehören der Privatsphäre an. Diversity-Programme dagegen nutzen Wissen und Fähigkeiten aus der persönlichen Sphäre von Mitarbeitern für deren Rolle in der Organisation. Neben dem ethnischen Merkmal wie Mehrsprachigkeit können auch durch Marker wie Lebensstil, Kultur oder Geschlecht der Mitarbeiter bedingte Präferenzen zur Steigerung der wirtschaftlichen Effizienz und Produktivität beitragen. Fragen in Bezug auf soziale Ungleichheiten geraten in einem solchen auf die Bedürfnisse der Organisation abgestimmten intellektuellen Umfeld ins Hintertreffen.
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D IE E NTSTEHUNG SOZIALER SOZIALE M ECHANISMEN
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U NGLEICHHEITEN
DURCH
Im Kern geht es bei Diversitätskonzepten darum, dass sich Organisationen an den kulturellen Pluralismus anpassen und individuelle Kompetenzen ihrer Mitarbeiter nutzen, um vollständige Inklusion entweder in der zivilen Sphäre (z.B. interkulturelle Öffnung der öffentlichen Verwaltung) oder Wettbewerbsfähigkeit in Märkten (Stichwort: Diversity Management) zu erreichen. Organisationen verwenden und konstituieren somit kulturelle Merkmale, um ihre Strukturen und Routinen zu mainstreamen. Solche Merkmale können ein Signal sein für soziale Ungleichheit und ungleiche Verteilung von Macht zwischen Gruppen, die durch Ethnizität, Geschlecht, Klasse oder Religion getrennt sind. Durch die Anwendung von DiversityProgrammen kann die durch die entsprechenden Trennungslinien bedingte Ungleichheit reifiziert oder neu geschaffen und legitimiert werden. Managing Diversity-Programme beispielsweise laufen Gefahr, Kategorien wie Ethnizität zu verstärken (Wrench 2005), von der Aufrechterhaltung oder Produktion nichtkultureller Merkmale wie der sozialen Klasse ganz zu schweigen. Es besteht also ein großes Risiko, dass kulturelle Differenzen durch Diversity-Programme aufrechterhalten bleiben, obwohl man meint, dem Problem der ungleichen Behandlung von Angehörigen unterschiedlicher Rassen und Ethnien, was den Zugang zu Positionen und die Stellung und Chancen innerhalb von Organisationen anbelangt, durch Managementtechniken begegnen zu können. Dabei besteht auch die Gefahr, dass kulturelle Differenz ganz abgetrennt von Fragen der sozialen Ungleichheit entlang von Trennungslinien wie Klasse und Geschlecht gesehen wird, wenn man sie nämlich nur unter dem Blickwinkel des Managements von individueller Kompetenz zugunsten der Organisationseffizienz betrachtet. Im Wesentlichen müssen zukünftige Forschungsbemühungen der Schlussfolgerung aus empirischen Analysen – zum Beispiel im Arbeitsmarktbereich – Beachtung schenken, dass „far too little attention has been paid to the relationship between diversity and inequality and to the contextual importance of intergroup relations in the larger society“ (DiTomaso, Post und ParksYancy 2007: 474). Indem wir die Analyse von sozialer Abgrenzung in Diversitätssituationen auf die Produktion und Reproduktion von sozialer Ungleichheit ausweiten, betreten wir Neuland. Untersuchungen zur sozialen Abgrenzung
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haben sich bisher meist auf die Ethnizität konzentriert und waren angereichert mit zusätzlichen Aspekten von Diversität, wie Rechtsstatus, Sprache und Religion (vgl. Bauböck 1993, Zolberg und Long 1999). Wir müssen berücksichtigen, dass (kulturelle) Differenzen an sich nicht notwendigerweise soziale Ungleichheit implizieren. Beispiele gibt es zuhauf, etwa dafür dass Differenzen in Bezug auf Religion in Europa – z.B. Protestanten und Katholiken als unterschiedliche christliche Konfessionen – nicht mehr als Basis für Exklusion, soziale Schließung und Ausbeutung dienen, wie auch dafür, dass Religion in jüngster Zeit zu einem Merkmal für soziale Abgrenzung geworden ist. Dies lässt sich im Verhältnis der dominanten Bevölkerungsgruppe in Westeuropa gegenüber „muslimischen“ Immigranten beobachten (Foner und Alba 2008). Will man soziale Mechanismen zu Tage bringen, die dafür verantwortlich sind, dass Diversität zu Ungleichheit wird, ist es hilfreich, die Definition der Integration von Migranten zu erweitern. Sie umfasst dann nicht nur Aspekte der Ressourcendistribution, d.h. Differenzen und Ähnlichkeiten von Migranten und Nichtmigranten in wichtigen Lebenssphären, sondern auch Aspekte der Perzeption und damit Grenzen zwischen Kategorien wie etwa Gruppen. Zwei Muster der sozialen Abgrenzung sind hier besonders wichtig: das Verschieben und das Verwischen von Grenzen. Für Deutschland lassen ALLBUS-Daten (Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften) vermuten, dass es zwischen 1996 und 2006 zu signifikanten Veränderungen der Grenzen zwischen Migrantengruppen und der Mehrheitsgruppe („Deutsch-Deutsche“) gekommen ist. Es lässt sich erstens eine Verschiebung von Grenzlinien erkennen: die Mehrheitsgruppe hat bestimmte Migrantengruppen (Italiener, Spanier, Griechen) klar als zu sich zugehörig wahrgenommen. Diese Gruppen werden jetzt als Teil der Mehrheitsbevölkerung angesehen. Anderen Kategorien gegenüber kam es jedoch zu keiner Veränderung oder sogar zu einer Zunahme von (wahrgenommener) Unterschiedlichkeit, zum Beispiel gegenüber „Muslimen“. Zweitens lässt sich zwischen 1996 und 2006 in bestimmten Kategorien das Verwischen von Grenzlinien beobachten, beispielsweise durch die zunehmende Zustimmung der Mehrheitsbevölkerung zu der Forderung, dass die in ihrem Land Geborenen das Recht auf Einbürgerung haben sollen. Neben anderen Merkmalen bestimmt die soziale Klassenzugehörigkeit darüber, wie die Angehörigen ethnischer Kategorien eingeschätzt werden. Quasi-experimentelle Untersuchungen zum Rekrutierungsverhalten auf Ar-
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beitsmärkten legen nahe, dass es deutlich seltener zu Diskriminierung kommt, wenn die Interaktionspartner als ebenbürtig im Hinblick auf den sozialen Status wahrgenommen werden. Die sozioökonomische Position und die Beherrschung der Sprache der Mehrheitsgruppe sind dabei starke Prädiktoren (Fincke 2009). In Abhandlungen zur sozialen Abgrenzung (zum Beispiel Wimmer 2008) werden soziale Ungleichheiten zwar berücksichtigt, doch werden sie meist nur als Teil eines bestimmten Merkmals für Heterogenität – die Ethnizität – betrachtet und nicht von anderen Merkmalen unterschieden, die Voraussetzung für die Schaffung von Ungleichheit sein können, aber nicht selbst Ungleichheit konstituieren. Ein Beispiel ist wiederum die Religion: Während die verschiedenen christlichen Konfessionen in den vergangenen Jahrhunderten in Europa Merkmale für die soziale Klasse waren (siehe etwa die Differenzen zwischen Protestanten und Katholiken), ist dies zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr der Fall. Dagegen werden heutzutage hauptsächlich die kulturellen Differenzen zwischen Christen und Muslimen in öffentlichen Debatten und in der Forschung als Signale für soziale Differenzen entlang den Trennungslinien von Klasse und Status aufgefasst. In wissenschaftlichen Untersuchungen wurde bisher zu wenig auf die Tatsache geachtet, dass kulturelle Differenzen als sozial konstituierte Kategorien von Differenzen an sich noch nicht Ungleichheit konstituieren. Soziale Mechanismen bilden ein konzeptuelles Element und helfen die Prozesse zu erklären, die von Diversität zu sozialen Ungleichheiten führen. Sie wollen eine kausale Rekonstruktion von Prozessen liefern, die definierte Ergebnisse zur Folge haben. Als soziale Mechanismen werden wiederkehrende Prozesse oder Pfade bezeichnet, die bestimmte Initialbedingungen (nicht notwendigerweise kausaler Art) mit bestimmten Ergebnissen in Verbindung bringen, wobei es sich bei den Ergebnissen sowohl um hervorgerufene Wirkungen als auch um erreichte Ziele handeln kann. Soziale Mechanismen lassen sich definieren als „a delimited class of events that alter relations among specified sets of elements in identical or closely similar ways over a variety of situations“ (McAdam, Tarrow und Tilly 2001: 24). Wir können mit Hilfe sozialer Mechanismen Schritt für Schritt nachvollziehen, wie sich ein Endzustand (etwa: bestimmte Ungleichheiten) aus einem bestimmten Anfangszustand (etwa: bestimmte Heterogenitäten) heraus entwickelt hat.
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Wenn man Zusammenhänge durch Mechanismen erklären will, geschieht dies nicht durch die Suche nach statistischen Beziehungen zwischen Variablen, sondern durch den Versuch, gegebene soziale Phänomene, zum Beispiel Ereignisse, Strukturen oder Entwicklungen, durch Identifizierung der sie erzeugenden Prozesse zu erklären. Ein solcher Erklärungsversuch ist darauf ausgerichtet, die sozialen Prozesse im Zeitverlauf und dabei mögliche Pfadabhängigkeiten zu prüfen (Mayntz 2004). Mechanismische Erklärungen sind also generalisierte Aussagen über wiederkehrende Prozesse und können sowohl akteurszentriert als auch systemorientiert sein (Mayntz 2004). Mechanismen können als Kausalelemente in verschiedenen Theorien, als Verbindungen in Theorien oder Teile von Theorien verwendet werden. Da es wahrscheinlich keine universellen Mechanismen gibt, können sie nicht als Allzweckmittel dienen – vielmehr sind Mechanismen in der Regel domänenspezifisch und hängen vom jeweils behandelten Problem ab (Bunge 2004: 195). Soziale Mechanismen zur Produktion oder Verbesserung sozialer Ungleichheiten können auf lokaler, nationaler, transnationaler, internationaler und globaler Ebene wirken. Inklusion und Exklusion; Ausbeutung; Hierarchisierung; Brokerage und Opportunity Hoarding („Horten von Gelegenheiten“) sind typische soziale Mechanismen (siehe Tilly 1998 und Therborn 2006) für Listen von Mechanismen, die bei der Erzeugung von Ungleichheiten eine Rolle spielen. Für Inklusion und Exklusion ist die Staatsbürgerschaft ein sehr gutes Beispiel. Sie dient als Instrument der sozialen Schließung, indem Staatsbürgerangehörige als vollwertige Mitglieder gelten und von den Ausländern, die Nichtmitglieder sind, unterschieden werden. Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben sich in Debatten und Gesetzen zur doppelten Staatsbürgerschaft die geänderten Trennungslinien herauskristallisiert, entlang denen der Zugang zur vollwertigen Staatsbürgerschaft gewährt wird. Noch vor 50 Jahren war in nahezu allen Ländern der Welt die Aufgabe der ursprünglichen Nationalität Voraussetzung für den Erwerb einer neuen Staatsbürgerschaft. Demgegenüber tolerieren heutzutage mehr als die Hälfte aller Staaten die doppelte (multiple) Staatsangehörigkeit auf die eine oder andere Weise. Eine der Hauptantriebskräfte für diese Veränderung war ein pfadabhängiger Mechanismus (lock-in) auf der Grundlage des Übereinkommens vom 20.2.1957 über die Staatsangehörigkeit verheirateter Frauen, das vorsieht, dass Frauen nicht zur Aufgabe ihrer ursprünglichen Staatsbürgerschaft gezwungen sein sollten, sobald sie die Nationalität ihres Ehemannes
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annahmen. Diese Norm setzte sich in der internationalen und nationalen Gesetzgebung durch und führte im Zusammenhang mit anderen Änderungen, unter anderem die Stabilisierung von Wohnbürgerschaft (denizenship), zu signifikanten Öffnungen der Regeln für den Staatsbürgerschaftserwerb, selbst in Ländern, in denen die doppelte Staatsangehörigkeit noch nicht gesetzlich vorgesehen ist (Faist und Kivisto 2008). Ausbeutung, ein weiterer wichtiger sozialer Mechanismus, der Ungleichheiten erzeugt, ist die Verwendung einer ökonomischen Ressource, in diesem Fall Arbeitskraft, für ethisch unakzeptable Zwecke. Das heißt, es werden klare normative Standards dafür vorausgesetzt, was in ArbeitgeberArbeitnehmer-Beziehungen akzeptabel und fair ist. Wenn Migranten, manchmal sogar ohne Aufenthaltsgenehmigung, informell und illegal im haushaltsnahen Dienstleistungsbereich beschäftigt werden, haben sie praktisch keine rechtliche Handhabe, weil ihnen bei Entdeckung die Abschiebung droht, während ihre Arbeitgeber mit einer Geldstrafe davonkommen würden. Auf institutioneller Ebene ist unter Ausbeutung eine Umverteilung zu verstehen, die zwischen verschiedenen Regionen in beiden Richtungen stattfindet. So ist erstens ein sogenannter care drain (in Anlehnung an brain drain) von Osteuropa nach Westeuropa feststellbar, wo in ihren Herkunftsländern ausgebildete osteuropäische Fachkräfte in der häuslichen Pflege tätig werden. In der Folge gehen die Investitionen in die Ausbildung dieser Fachkräfte für ihre Herkunftsregionen verloren, und es kann dort zu einem Arbeitskräftemangel im Pflegesektor kommen. Logischerweise erleiden die Entsenderegionen dabei Verluste, vor allem jene, die keine Substitutionskapazität haben, weil sie die Abwanderung von ungeschulten wie auch von gut ausgebildeten Arbeitskräften nicht mit Hilfe ihrer eigenen Ausbildungsstätten oder durch Import von Arbeitskräften aus dem Ausland abfedern können (Faist 2008). Zweitens – und nicht notwendigerweise im Ausgleich zu den genannten Verlusten – gibt es Überweisungen, vor allem finanzieller Art, durch die in der Fremde als Pflegekräfte oder Haushaltshilfen tätigen Frauen in ihre Herkunftsstaaten. Sowohl in den Entsende- als auch in den Aufnahmeregionen kommt es zu einer zunehmenden Ungleichheit auf Mikro-/Haushaltsebene. In den Herkunftsregionen partizipieren natürlich nicht alle Haushalte gleichermaßen an der internationalen Migration, sondern hauptsächlich diejenigen, die Teil von Migrantennetzwerken sind. Weil nicht alle in gleichem Maße von den Überweisungen profitieren, sind die Spill-over-Effekte unklar. In Einwanderungsländern wie Italien verstärkt
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sich durch die oft illegale Beschäftigung von ausländischen Haushaltshilfen die Ungleichheit zwischen Haushalten (Piperno 2007). Diese Beobachtung führt uns zu der Frage nach den Implikationen für soziale Ungleichheiten auf anderen Ebenen, zum Beispiel im Hinblick auf Herkunfts-/ Rückkehrländer und Aufnahmeländer. Auf regionaler Ebene besteht das Risiko einer ungünstigen Ressourcenumverteilung von Herkunfts- zu Zielregionen. Im Zuge der Migration kann es nämlich nicht nur zu einem care drain kommen, sondern auch zur Notwendigkeit von Überweisungen in die Zielländer. Migranten müssen oft große Summen investieren, um sich im Zielland zu etablieren und sich beispielsweise Arbeitspapiere zu beschaffen (Faist, Fauser und Kivisto 2010). Für die Produktion von Ungleichheiten sind die intersektionalen Muster von Heterogenitäten entlang den Hierarchien von Merkmalen wie Ethnizität, Geschlecht und Klasse von zentraler Bedeutung. Integration kann verschiedene Hierarchisierungsprozesse mit sich bringen. Man spricht von Deklassierung, wenn Qualifikationen nicht offiziell in ein anderes Land übertragen werden können, wie im Falle des in der Ukraine ausgebildeten Arztes, der nach Deutschland immigriert, wo sein Universitätsabschluss nicht anerkannt wird. Engendering bezeichnet die geschlechtsspezifische Verteilung von Arbeit, zum Beispiel wenn Migrantinnen typischerweise gesetzlich nicht geregelte Arbeiten im Haushalts- oder Pflegebereich verrichten, während Männer stereotyp in der Landwirtschaft beschäftigt werden. Das ist nicht nur negativ zu sehen. Die ethnische Zugehörigkeit ist zwar eines der Merkmale, die oft verwendet werden, um Migranten bei ihrer Berufsausübung in bestimmte Schubladen zu stecken, und die so Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt (re)produzieren. Andererseits kann Ethnizität auch im Sinne der Migranten selbst funktionieren, wenn diese sich als zu einer bestimmten Gruppe zugehörig typisieren und dadurch Zugang zu gewünschten Positionen erhalten (Selbstethnisierung oder auch self-engendering). In Reaktion auf die diversitätsbedingt existierenden Hierarchien und mit dem Ziel, Zugang zu Arbeitsplätzen zu erhalten oder Freunde, Verwandte und Bekannte erfolgreich zu vermitteln, engagieren sich Migranten in selbstethnisierender Weise. So machen sich aus der Ukraine nach Deutschland immigrierte Männer bisweilen ihre ethnische Zugehörigkeit zunutze, um eine Beschäftigung in der Landwirtschaft zu finden, und Migrantinnen aus ähnlichen Regionen lassen sich durch ethnische Netzwerke Arbeit im haushaltsnahen Dienstleistungsbereich vermitteln
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(Amélina 2009). Aus systemischer Perspektive führt Ethnisierung zur Erzeugung und Aufrechterhaltung von Strukturen der beruflichen Ungleichheit durch Exklusion, doch aus relationaler Perspektive – der Perspektive der Migranten selbst – fungiert sie als Mechanismus für Opportunity Hoarding. Manche Migranten sind stolz darauf, als Jobvermittler in ethnischen Netzwerken zu agieren. Ethnizität hängt somit auf komplizierte Weise mit der Klasse zusammen. Will man die Erzeugung sozialer Ungleichheiten aus (kulturellen) Differenzen durch soziale Mechanismen erklären, muss man die makrostrukturellen Bedingungen, unter denen diese Prozesse ablaufen, ebenso berücksichtigen wie auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinende Trends. Obwohl beispielsweise in vielen westeuropäischen Gesellschaften die Grenzlinien gegenüber Kategorien wie den Muslimen verstärkt worden sind, hat es unter anderem in Großbritannien, den Niederlanden und Deutschland auf makroinstitutioneller Ebene zahlreiche Bemühungen gegeben, muslimische Organisationen in den für organisierte Religionsausübung zuständigen institutionellen Rahmen einzubeziehen. In Deutschland hat sich die 2006 ins Leben gerufene Islamkonferenz darum bemüht, Ansprech- und Kooperationspartner zu etablieren, mit denen die deutschen Behörden über die Gründung weiterer halböffentlicher muslimischer religiöser Körperschaften verhandeln können. Um vollständig in der öffentlichen Sphäre zu partizipieren und in Deutschland voll anerkannt zu sein, müssen religiöse Organisationen von behördlicher Seite als „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ zertifiziert werden. Es lassen sich also zwei gegenläufige Trends auf unterschiedlichen Ebenen beobachten. Während es, wie durch Umfragen bestätigt, im letzten Jahrzehnt zu einer stärkeren sozialen Abgrenzung gegenüber der Kategorie „Muslime“ gekommen ist, wurde gleichzeitig durch Verhandlungen im öffentlichen Raum der Versuch unternommen, islamische Organisationen im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu etablieren. Diese Beobachtung legt nahe, Verallgemeinerungen im Hinblick darauf zu prüfen, in welcher Sphäre bzw. auf welcher Ebene sozialer Organisation Grenzziehungsprozesse verlaufen.
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W ISSENSCHAFTLICHES N EULAND : T RANSNATIONALITÄT ALS M ERKMAL VON D IVERSITÄT Infolge der Transnationalisierung sozialer Formationen hat sich der Lebensstil von Migranten, die über Grenzen hinweg agieren, als neue Form von Diversität etabliert und wirkt zusätzlich und interagierend zu bekannten Unterschieden wie Geschlecht, Religion, Sprache und soziale Klasse. Viele Migranten halten nach ihrer Niederlassung im Einwanderungsland Verbindungen in ihre Heimat oder in andere Regionen aufrecht. Im Zusammenhang mit Kettenmigration, religiösen Gemeinschaften, ethnischen Diasporas, Migranten- und/oder Menschenrechtsorganisationen und Cliquen von Wissenschaftlern oder Geschäftsleuten entsteht eine Vielzahl enger und dauerhafter Bindungen. Solche „transnationalen sozialen Räume“ konstituieren sich nicht so sehr durch geographische Mobilität als vielmehr durch die Aufrechterhaltung von Kontakten zwischen Migranten und relativ immobilen, im Herkunftsland zurückgebliebenen Familienmitgliedern oder Freunden (Faist 2000b). Transnationale Bindungen dieser Art gibt es schon lange. Im Zeitalter des Nationalismus verwendete Max Weber dafür den Begriff „Auslandsgemeinschaften“ (Weber 1980 [1922]: 357). Er meinte damit Gruppen und Verbände von deutschen Migranten in Nord- und Südamerika während des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts. Bessere Kommunikations- und Reisemöglichkeiten, die damals mit Telegraph und Dampfschiff noch in den Kinderschuhen steckten, lassen heute einen kontinuierlichen Austausch über Grenzen hinweg zu. Über die Implikationen transnationaler Lebensstile für soziale Ungleichheiten wird zurzeit heftig diskutiert, vor allem, was die Integration von Migranten im Einwanderungsland anbelangt. Systematische Forschungsergebnisse stehen noch aus. Bisher sind zwei gegensätzliche Meinungen vorherrschend: In der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte ist einerseits oft die Rede davon, dass geographische Mobilität und transnationale Netzwerke bei Angehörigen höherer Einkommens- und Ausbildungskategorien mit Aufwärtsmobilität verbunden sind (Kuznetsov 2006), andererseits wird Transnationalität bei weniger qualifizierten Arbeitsmigranten anscheinend mit Abwärtsmobilität und dem Scheitern von Integration assoziiert (Esser 2004). Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass sogenannte Hochqualifizierte über geographisch weitläufige Netzwerke und intensive (berufliche) Kontakte über Staatsgrenzen hinweg verfügen
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(Meyer und Charum 1995). Grenzüberschreitende soziale und symbolische Verbindungen sind für viele hochqualifizierte Fachleute zentrale Elemente und Indikatoren für eine transnational ausgerichtete Karriere, selbst wenn sie nicht über Grenzen wandern. Multinationale und exportorientierte Unternehmen sehen entsprechend in linguistischen und „multikulturellen“ Qualifikationen ihrer (zukünftigen) Mitarbeiter positive Attribute und suchen aktiv danach. Und im neuen Migrations- und Entwicklungsdiskurs seit den späten 1990er Jahren haben unternehmerische Migranten (und manchmal auch die Verbände, in denen sie sich zusammenschließen) eine positive Konnotation als hoch mobile, hochqualifizierte und gut integrierte Neuankömmlinge in den Einwanderungsgesellschaften. Personen mit niedrigerer beruflicher Qualifikation – ob mit oder ohne Migrationserfahrung – werden mit geringerer Wahrscheinlichkeit Teil berufsbezogener transnationaler Netzwerke. Es ist auch nicht weiter überraschend, dass ihnen eher negative Konnotationen zugeschrieben werden. Die transnationalen Verbindungen und Aktivitäten von Asylbewerbern, Flüchtlingen und irregulären Einwanderern werden oft als der Integration im Einwanderungsland hinderlich dargestellt. Wenn solche Migranten beispielsweise weiter stark die Fernsehprogramme aus ihren Herkunftsländern nutzen, kann der Verdacht aufkommen, der Segregation würde Vorschub geleistet, und die Debatte konzentriert sich darauf, wie sichergestellt werden kann, dass solche Kategorien von Migranten sich in die Gesellschaft des Aufnahmelandes integrieren, und wie sich unerwünschte transnationale Kontakte unterbinden lassen (Scheffer 2008). Die Konstituierung von Transnationalität als positiv konnotiertem Diversitätsmerkmalmarker ist besonders relevant, wenn es um Migration und Entwicklung geht. In den letzten Jahren wurden Migranten sowohl von Immigrations- als auch von Emigrationsländern als neue „Akteure“ in der Entwicklungszusammenarbeit eingesetzt. Es wird angenommen, dass Migranten als Mittler wirken und auf diese Weise die „Entwicklung“ fördern können. Dahinter steht der Grundgedanke, dass sie aufgrund ihrer Beziehungen und Bindungen und dank ihrer speziellen Kenntnis der Bedürfnisse der sogenannten Entwicklungsländer eine wichtige Rolle bei der Initiierung der sozioökonomischen Entwicklung spielen und in Konfliktfällen gut als Mediatoren eingesetzt werden können. Rücküberweisungen in die Herkunftsländer, die Weitergabe von Wissen und Ideen („soziale Überweisungen“) sowie besondere Fähigkeiten der Migranten – sogenannte insider
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advantages, z.B. Sprachkenntnisse, soziale Kontakte, die Vertrautheit mit bürokratischen Abläufen – können der Entwicklungszusammenarbeit zugutekommen. Die Nutzung der speziellen Fähigkeiten von Migranten und ihren Kenntnissen der ortsüblichen Verhältnisse und ihr Einsatz als Mittler und Mediatoren sind Teil eines neuen „Mantra“ (Kapur 2004) für Migration und Entwicklung. Es ist dagegen kein neues Phänomen, dass Migranten nicht nur Schecks schicken, sondern in engem persönlichem Kontakt mit den im Heimatland zurückgebliebenen Familienmitgliedern und Freunden bleiben. Dafür gibt es seit langem viele Beispiele (Thomas und Znaniecki 1918, Vol. 5: 98127). Bessere technische Möglichkeiten und ein größeres Verständnis für fremde Kulturen haben inzwischen für mehr Raum für grenzüberschreitende Interaktionen gesorgt. Neu ist jedoch, dass es reizvoller für Akteure der Zivilgesellschaft ist, dem alten staatszentrierten entwicklungspolitischen Paradigma der 1960er Jahre den Rücken zu kehren und sich am Marktparadigma der 1980er und 1990er Jahre zu orientieren. Auf diesem Ansatz basierende Programme wurden sowohl von internationalen Organisationen wie der Weltbank als auch von Nationalstaaten des globalen Nordens und Entwicklungshilfeorganisationen angeschoben. Die europäischen Einwanderungsländer konzentrieren ihre Politik für Entwicklungszusammenarbeit, zum Beispiel die Gemeinsame EU-Afrika Strategie, auf die südlich an die EU angrenzenden Länder. In den Richtlinien der EU und in den Politiken ihrer Mitgliedsländer wird Entwicklungshilfe zunehmend an Migrationssteuerung gekoppelt und Wert auf die Feststellung gelegt, dass das jeweilige nationale ökonomische Interesse an hochqualifizierten Arbeitnehmern legitim ist. In den Emigrationsländern hat sich indessen das Image der Migranten verbessert: sie werden nicht mehr als „Überläufer“, sondern als „Helden“ angesehen. Russland, Ghana, Mali, Mexiko und die Philippinen haben inzwischen Diasporaministerien eingerichtet. Es gibt Steuervergünstigungen für indische Emigranten, die in Silicon Valley leben und arbeiten, wenn sie in ihrem Herkunftsland investieren. Auch Politiken wie die Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft tragen dazu bei, dass sich Emigranten ihrer Heimat weiter eng verbunden fühlen (Faist 2008). Migranten erfüllen die Funktion bzw. den sozialen Mechanismus des Brokerage auf zwei Ebenen in der Entwicklungszusammenarbeit, und auf beiden Ebenen versuchen internationale Organisationen, Staaten und NGOs in letzter Zeit verstärkt, sie als Entwicklungsakteure zu gewinnen. Erstens
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kehren Migranten aus der Diaspora gelegentlich als hochqualifizierte Fachleute im Rahmen von Kurzeinsätzen in ihre Herkunftsländer zurück oder entwickeln sogar aus eigener Initiative kleine Projekte. Ein Beispiel sind Ärzte, die sich in der Gesundheitsfürsorge engagieren. Zweitens unterstützen sowohl einzelne Migranten als auch Migrantenkollektive – von Familien bis hin zu Migranten-Hilfsorganisationen – Verwandte und Freunde in ihrer Heimat und beteiligen sich etwa am Bau von Brunnen oder Schulen. In einigen europäischen Ländern wird die gelegentliche Rückkehr von Migranten in ihre Herkunftsländer und ihr Engagement in der Entwicklungszusammenarbeit mit Hilfe staatlicher Programme koordiniert. Diese Programme, unter anderem die französische Politik des codéveloppement, wurden allerdings ursprünglich mit dem Ziel ins Leben gerufen, die endgültige Rückkehr von Migranten in ihre Heimat zu fördern, und beruhen auf engen, politisch asymmetrischen Beziehungen aus der Kolonialzeit. Im Lichte der neuen politischen Praxis, Migranten als Akteure und Mittler in der Entwicklungszusammenarbeit zu fördern, werden bisher als Nachteile betrachtete Attribute – zum Beispiel wenn Migranten sich verschiedenen Kulturen zugehörig fühlen – als besondere Kompetenzen und Vorteile neu interpretiert. Kurz gesagt: grenzübergreifende Beziehungen und damit verbundene Ressourcen als Ausprägung der Transnationalität von Migranten werden zum Merkmal von Diversität. Darunter sind zum Beispiel Verpflichtungen und Engagement von Migranten in ihren Herkunftsländern (die früher als Indikator für Nichtintegration im Immigrationsland galten) zu verstehen. Aus dieser neuen Perspektive betrachtet, ist die Integration der Eingewanderten mit ihrem transnationalen Engagement und ihren Verpflichtungen im Herkunftsland vereinbar. Die Integration im Einwanderungsland ist empirischen Untersuchungen zufolge praktisch Grundvoraussetzung für die sinnvolle Mitwirkung an entwicklungspolitischen Aktivitäten (Portes, Escobar und Radford 2007). Im Allgemeinen sind transnationale Aktivisten lokal nach wie vor in ihrer Heimat verwurzelt und nutzen diese Wurzeln als Basis für grenzüberschreitende Aktivitäten. Ein Beispiel sind in Deutschland ansässige afrikanische Organisationen, die sich in der Entwicklungszusammenarbeit engagieren und unter anderem beim Bau von Schulen, Brunnen und Wasserleitungen helfen. Dabei gilt es jedoch im Auge zu behalten, dass die entwicklungspolitischen Ziele und Interessen der Migranten manchmal von denen ihrer in der Heimat zurückgebliebenen Landsleute abweichen (Sieveking, Fauser und Faist 2008).
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Die bei der Zusammenarbeit mit Migranten-Organisationen auftretenden Probleme scheinen sich also prinzipiell nicht von den Problemen zu unterscheiden, auf die etablierte Entwicklungshilfeorganisationen gegenüber den Empfängern von Entwicklungshilfe stoßen. Während das transnationale Engagement von hochqualifizierten Fachkräften im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit in einschlägigen Verlautbarungen und auch von Graswurzelorganisationen begrüßt wird, erscheinen die transnationalen Beziehungen und Bindungen von gering qualifizierten Arbeitsmigranten oft in einem negativen Licht, vor allem wenn es um die Frage der erfolgreichen Integration im Aufnahmeland geht. Wenn Migranten sich transnational engagieren und Kultur und Traditionen aus ihrer Heimat beibehalten wollen, wird das oft als hinderlich für die Integration in der Aufnahmegesellschaft betrachtet. Seit langem wurde in Politik und Forschung ausdrücklich oder stillschweigend vorausgesetzt, dass Integration praktisch automatisch zu abnehmender Orientierung am Herkunftsland führt. In Europa und Nordamerika stellte man sich häufig vor, dass Einwanderer von einem Land in ein anderes Land migrieren, sich dort dauerhaft und für immer niederlassen und sich im Einklang mit den wirtschaftlichen, politischen und soziokulturellen Institutionen der dominanten Gesellschaft integrieren oder Integration scheitert. In dieser Sichtweise verstärken transnationale Bindungen und Praktiken bei von sozio-ökonomischem Abstieg betroffenen bzw. bedrohten Migranten die Segregation von der Mehrheitsgesellschaft (vgl. Esser 2004 für eine differenzierte Argumentation entlang dieser Linie). Dies impliziert, dass in diesem Falle die Aufrechterhaltung von transnationalen Beziehungen dazu führt, dass Migranten noch weniger das notwendige Verständnis für Kultur und Sprache des Aufnahmelandes entwickeln können. In politischen Diskursen werden eine Reihe von Problemen damit in Verbindung gebracht, zum Beispiel religiöse und kulturelle Praktiken, die mit westlichen demokratischen Werten unvereinbar sind, im Extremfall sogenannte „Ehrenmorde“, sowie mangelnde Partizipation an wirtschaftlichen und sozialen Institutionen des Immigrationslandes; etwa vergleichsweise hohe Arbeitslosigkeit, schlechtere Zeugnisse und ein allgemein niedrigeres Bildungsniveau von Migranten. Die Folgen des transnationalen Lebensstils, unter anderem durch den „Import“ eines Ehepartners aus dem Heimatland, werden häufig in anekdotischer Weise als Beispiel für negatives soziales Kapital präsentiert, also für den sozialen Mechanismus der spezifischen Reziprozität in Verwandt-
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schaftsnetzwerken, der zu sozialer Segregation im Einwanderungsland beitragen kann (z.B. Kelek 2005). Ob transnationale soziale Praktiken ein Sprungbrett für Integration oder vielmehr eine Sackgasse und einen Schritt in Richtung Segregation darstellen, ist eine interessante Frage, die sich allerdings aufgrund der bisherigen Erkenntnislage nicht immer eindeutig beantworten lässt (z.B. Faist und Özveren 2004). Es gibt Hinweise dafür, dass transnationale Bindungen bei Arbeitsmigranten auch parallel zu erfolgreichen Integrationsprozessen verlaufen und über den Zeitverlauf nicht unbedingt abnehmen (vgl. Morawska 2006). In den aktuellen öffentlichen Debatten der europäischen Länder erscheinen transnationale Orientierungen und Praktiken jedoch insgesamt mehr und mehr als Manifestation der (bewussten) Weigerung von Migranten, sich Kultur, Sprache und Werte der Aufnahmeländer zu eigen zu machen, und somit als Grund für den vermuteten Mangel an sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Integration. Es ist nach wie vor umstritten, ob und wie wichtige soziale Mechanismen wie zum Beispiel Brokerage im Falle des Engagements von Migranten in der Entwicklungszusammenarbeit funktionieren, welche Wirkungen in den Emigrationsländern auftreten und wie sich negatives („saures“) soziales Kapital in Bezug auf die Exklusion von Migranten in den Immigrationsländern auswirkt. Dagegen lässt sich mit einiger Sicherheit sagen, dass es notwendig ist, die mit Transnationalität verbundenen Mechanismen genauer zu untersuchen. Um dabei sinnvolle Ergebnisse zu erzielen, gilt es nicht nur zu fragen, ob Transnationalität zu Integration oder Nichtintegration beiträgt – beide Sichtweisen werden in der Wissenschaft vertreten (siehe beispielsweise Guarnizo, Portes und Haller 2003; Snel, Engbersen und Leerkes 2006) –, sondern, wie und unter welchen Bedingungen der Prozess abläuft (siehe Glick Schiller et al. 2005). Für die Analyse von Transnationalität muss das auf Nationalstaaten als Container bezogene Denken aufgegeben und die Logik des Vergleichens von Nationalstaaten um einen Ansatz ergänzt werden, der den über Staatsgrenzen hinweg stattfindenden Austausch berücksichtigt. Ein einschlägiger Fall sind Strategien der sozialen Absicherung, die häufig Landesgrenzen überschreiten. So werden mehr als 10% der holländischen staatlichen Altersrenten bereits an Empfänger gezahlt, die außerhalb der Niederlande leben (Toyota, Böcker und Guild 2006). Die Mobilität von Individuen und Gruppen, die transnationalen Aktivitäten von Organisationen und die internationale Koordination von Staaten spielen – um im Folgenden nur ein paar
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Beispiele zu nennen – eine Rolle bei der sozialen Absicherung von nach Spanien übergesiedelten deutschen Rentnern, ebenso wie bei marokkanischen Arbeitsmigranten, die aus Frankreich in ihre Heimat zurückkehren, oder bei ukrainischen Arbeitskräften, die in Deutschland in der häuslichen Pflege tätig werden, und der anschließenden Umstrukturierung des Pflegesektors in ihrer Herkunftsregion. In all diesen Fällen wird die soziale Absicherung nicht notwendigerweise auf dem Staatsgebiet eines einzelnen nationalen Wohlfahrtsstaats zur Verfügung gestellt und in Anspruch genommen. EU-Bürger, die innerhalb der EU, etwa nach Spanien, oder in der EU nahestehende Länder wie die Türkei übersiedeln, stehen frühere Arbeitsmigranten gegenüber, die zwischen ihren Aufnahme- und Heimatländern pendeln (Böcker 1993). Zu den üblichen Merkmalen Klasse, Geschlecht und Ethnizität gesellt sich zusätzlich Transnationalität als mit der Produktion von Ungleichheit verbundenes Merkmal. Die Möglichkeit eines transnationalen Lebensstils hängt nicht nur von finanziellen und sozialen Ressourcen (z.B. Freundes- und Verwandtennetzwerken) ab, sondern auch von makropolitischen Mobilitäts- und Niederlassungsregelungen und damit vom rechtlichen Status (Gustafson 2008). Wenn EU-Bürger innerhalb der EU oder in Länder, die der EU angeschlossen sind, auswandern, schließen sie sich entweder in – was Ethnizität und/oder Staatsbürgerschaft anbelangt – ziemlich homogenen Enklaven zusammen oder sie mischen sich auf individueller Basis unter die lokal einheimische Bevölkerung. Die erste Ansiedlungsform tritt häufig bei Mittelstandsrentnern auf, die der Sprache des Einwanderungslandes nur eingeschränkt mächtig sind; Rentner aus den oberen Schichten entscheiden sich oft bewusst gegen solche abgeschotteten Gemeinschaften. Sie verfügen nicht nur über die nötigen finanziellen Mittel, sondern auch über linguistische und kulturelle Kenntnisse, indem sie zum Beispiel die Sprache(n) des Immigrationslandes beherrschen. Grob gesprochen, gehören viele britische oder niederländische Rentnerkolonien in Spanien oder der Türkei dem ersten Typ an, während auf eigene Faust in die Toskana ausgewanderte Rentner zur zweiten Kategorie zählen (vgl. King, Warnes und Williams 2000). Ein transnationaler Lebensstil wird im Fall der EU-Bürger von den nationalen Politiken der Wohlfahrtsstaaten ermöglicht und führt zu Opportunity Hoarding. Als Rentner in ein anderes europäisches Land auszuwandern, war am Anfang eine Exklusivoption für finanziell Bessergestellte,
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doch das hat sich in den letzten Jahrzehnten geändert. Heutzutage können es sich auch Mittelstandsrentner leisten, ihren Lebensabend im Ausland zu verbringen. Das bedeutet, dass nicht nur ein wachsender Prozentsatz von Hochqualifizierten und sogenannten Professionals, Geschäftsleuten und anderen ausgewählten Kategorien von Personen einen transnationalen Lebensstil pflegen, sondern auch Gruppen, die nicht (mehr) auf dem Arbeitsmarkt aktiv sind und von Transferleistungen der nationalen Wohlfahrtsstaaten leben. Rentner können so die Gelegenheit nutzen, sich das Land mit dem für die jeweilige Jahreszeit angenehmsten Klima auszusuchen. Je nachdem, wie ihre finanzielle Situation und der rechtliche Status es erlauben, können sie die Serviceangebote aus dem Gesundheits- und Pflegebereich wählen, die ihnen am wichtigsten sind, und sie auf die speziellen Bedürfnisse ihres jeweiligen Lebensabschnitts abstimmen. Wie im Falle der Pflegekräfte spielt der rechtliche Status eine wichtige Rolle. Dieser wirkt sich unterschiedlich aus, je nachdem, ob es um die EUinterne Mobilität von Bürgern aus Mitgliedsstaaten geht oder um die dauerhafte Rückkehr früherer Arbeitsmigranten in ihre Heimatländer. Für viele Rentner, die als Arbeitsmigranten tätig waren, ist es wichtig, auf Leistungen des Gesundheitssystems im früheren Aufnahmeland zurückgreifen zu können. Das ist für Arbeitsmigranten aus Nicht-EU-Staaten aber nicht selbstverständlich. Um Anspruch auf Leistungen der niederländischen oder deutschen Krankenkassen zu haben, müssen zum Beispiel marokkanische oder türkische Migranten auch als Rentner ihren festen Wohnsitz im Immigrationsland behalten, denn sonst würden sie auf den gewohnten Gesundheitsfürsorgestandard verzichten müssen. Demgegenüber haben EUBürger, die innerhalb des gemeinsamen europäischen Raumes wandern, normalerweise die nötigen Mobilitätsrechte, um über die Grenzen von Mitgliedsstaaten hinweg Sozialversicherungsleistungen in Anspruch nehmen zu dürfen.
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N ULLIUS IN V ERBA: D IE P ERZEPTION VON D IVERSITÄT DER S OZIALWISSENSCHAFTEN
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Welche Folgen haben Merkmale und Dichotomien, die in wissenschaftlichen Ansätzen und Debatten zum Thema Diversität verwendet werden, für die Produktion und die Interpretation sozialer Ungleichheit? In Entwicklungs- und Migrationsstudien wird häufig, inzwischen meistens implizit, zwischen Tradition und Moderne unterschieden. Im Zusammenhang mit Diversität hat das mehr als einmal zu der Behauptung Anlass gegeben, Migranten würden einen Entwicklungsprozess von traditionellen zu modernen Formen der kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Organisation durchlaufen. Dieser Blickwinkel vernachlässigt die Tatsache, dass es nicht nur unter Migranten, sondern auch innerhalb von nichtmigrierenden Gruppen vielfältige kulturelle Milieus gibt – ein Grund mehr, die der Analyse von Diversität zugrunde liegenden Kategorien regelmäßig einer Überprüfung zu unterziehen.2 Aufgabe der Sozialwissenschaft ist es dabei einerseits, die Praktiken von Akteuren aus verschiedenen Kategorien festzustellen, und andererseits zu bedenken, wie akademische Kategorisierungen des Weiteren zur Verwendung kultureller Merkmale beitragen können. Die reflektierte Verwendung von Kategorisierungen kann zur Identifizierung von Dichotomisierungen auf einem Gebiet beitragen, das reich an starken positiven und negativen Konnotationen ist. Da Diversität als wissenschaftliches und öffentlich-politisches Konzept noch nicht lange im Trend liegt, sollten die Begriffe, um die sich die damit zusammenhängenden Debatten über Integration und Ungleichheit drehen, besonders sorgfältig gewählt werden. Die Sozialwissenschaften haben sich viel Zeit damit gelassen, auf die Implikationen von kultureller Diversität oder Heterogenität für wichtige soziale und politische Fragen zu reagieren. Historisch be-
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Evtl. wäre der Begriff Heterogenität angemessener als Diversität (vgl. Blau 1977). Es ist nämlich u.a. zu beachten, dass die Rede von „Diversität“ insbesondere in der US-amerikanischen Diskussion in die Nähe eines aufgeweichten Ungleichheitsbegriffs geraten ist und dadurch tendenziell das suggeriert, was eine differenzierte Analyse vermeiden sollte: ein Verwischen des Unterschieds zwischen Unterschieden/Markern und Ungleichheit.
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trachtet stellt die der Diversität inzwischen beigemessene Bedeutung einen Wendepunkt und zugleich eine Abkehr von den skeptischeren Beurteilungen dar, die sie Ende des 19. Jahrhunderts und über weite Strecken im 20. Jahrhundert erfahren hat. Die sozialen und politischen Theoretiker der damaligen Zeit standen der Beziehung zwischen Diversität auf der einen Seite und Gleichheit und Demokratie auf der anderen Seite kritisch gegenüber. Neben anderen kann John Stuart Mill als klassischer Befürworter des skeptischen Standpunkts angesehen werden (Mill 2006 [1861]; siehe auch Weber 1988 [1895]). Erst Ende der 1980er Jahre konnte die Argumentation, dass allgemeingültige liberal-politische Ideen mit kultureller Differenz vereinbar sind, Fuß fassen und fand in Will Kymlickas Konzept der multikulturellen Staatsbürgerschaft (1995) Ausdruck. Die Hinwendung zu Diversität in Organisationen und der zivilen Sphäre ist eine weitere Entwicklung in diese Richtung. Diversität erhält gesteigerte Aufmerksamkeit, weil sie in der öffentlichen Debatte Westeuropas in Zusammenhang mit dem Kampf um Gleichberechtigung steht. Das Streben nach Anerkennung und Umverteilung konstituiert einen Modus demokratischer Integrations- und Staatsangehörigkeitspraktiken, sowohl im Hinblick auf kulturelle als auch auf politische und soziale Rechte. Um zu vermeiden, dass Diversity-Programme von aktuellen politischen und gesellschaftlichen Praktiken getrennt werden, muss das Diversitätsparadigma über die Belange der Organisationen hinaus betrachtet und mit der demokratischen Debatte verknüpft werden. Diversität muss also in Verbindung gebracht werden mit explizit zum Ausdruck gebrachten Forderungen nach gleichen Partizipationschancen, wenn man die mit sozialer Ungleichheit verbundenen Probleme verstehen will. Die Prägung politischer Prozesse durch Forderungen nach materieller und symbolischer Gleichheit ist ein Grundzug aller demokratischen Gesellschaften (Tocqueville 1988 [1835 und 1841]). Wenn sich die gegenwärtige Diversitätsdebatte nicht allein auf die Diskussion von Veränderungen in Organisationen, die effiziente Nutzung individueller Kompetenzen und die Hervorhebung der zunehmenden Bedeutung von Diversität als eine Reihe von persönlichen Eigenschaften und Politiken beschränken soll, dann muss aus den bisherigen soziologischen Erkenntnissen zum Multikulturalismus eine Lehre gezogen werden. Zumindest aus der Perspektive von Entscheidungsträgern und vielen politischen Verfechtern des Multikulturalismus zielen multikulturelle und somit Diver-
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sitätspolitiken auch darauf ab, bisher marginalisierte Gruppen in die politische Sphäre und den gesellschaftlichen Mainstream einzubinden. In multikulturalistischen Praktiken wird oft auf den zivilgesellschaftlichen Diskurs verwiesen. Multikulturalismus dient in einer Demokratie als Integrationsmodus, der durch eine bestimmte Art von ziviler Partizipation gekennzeichnet ist. Dieses Engagement spielt sich in der von Alexander (2006) beschriebenen „zivilen Sphäre“ ab. Im Zentrum der zivilen Sphäre steht der öffentlich-politische Raum, der den offiziellen Beziehungen zwischen Staat und Bürgern vorgeht und in erster Linie auf den Ressourcen der Bürger selbst beruht, beispielsweise deren Vertrauen untereinander. Der Diversitätsbegriff gewinnt also eine weitere Facette, indem nicht nur Rechte von Bürgern gegenüber Staaten im Sinne staatsbürgerlicher Rechte, wie in früheren multikulturellen Ansätzen (vgl. Kymlicka 1995), sondern auch die zivile Sphäre ins Spiel gebracht werden. Ohne Solidarität und Vertrauen, den zentralen Ressourcen der zivilen Sphäre, ist Demokratie nicht vorstellbar (Offe und Preuß 1991). Diese Erkenntnis spielt eine besonders wichtige Rolle für die Diversitätsdebatte, obwohl es auf den ersten Blick so scheint, als ob die Konzeptualisierung und Ausführung von Diversity-Programmen auf Organisationsebenen außerhalb der zivilen Sphäre und ungeachtet demokratischer Überlegungen stattfänden. Es gibt jedoch eine Verbindung: Nur im Handlungsraum der Organisationen und Assoziationen kann sich die zivile Sphäre effektiv durchsetzen. Das gilt sowohl für Organisationen der jeweils dominanten Gruppen als auch der Migrantengruppen.
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Transnationale Inklusion als ein multilokales Phänomen Ein Abschied vom Assimilationsparadigma der Migrationsforschung? A NNA A MELINA
Z USAMMENFASSUNG Während die klassischen Migrationstheorien internationale Migrationsströme als einmalige Wanderungsereignisse beschreiben und kulturelle Anpassungsprozesse der Einwanderer in die ‚Mehrheitsgesellschaften‘ untersuchen, analysiert dieser Beitrag die Frage, wie Prozesse der Assimilation und Akkulturation jenseits des konzeptionellen Rahmens des nationalstaatlichen Containers analysiert werden können. Dabei wird auf die Theorie der transnationalen Räume zurückgegriffen, die Migration als einen zirkulären Prozess definiert, der Sende- und Empfängerkontexte von Migration dauerhaft miteinander verbindet. Zum einen eröffnet diese Perspektive die Möglichkeit, ‚strukturelle Assimilation‘ als multilokale Inklusion von Individuen in die institutionellen Makro-Felder an unterschiedlichen nationalstaatlichen Standorten zu analysieren. Zum anderen können aus diesem Blickwinkel kulturelle Anpassungsprozesse von Migranten untersucht werden, die mit gleichzeitiger Aufrechterhaltung kultureller ‚Fremdheit‘ einhergehen.
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1. E INLEITUNG : ASSIMILATIONS - UND AKKULTURATIONSBEGRIFFE JENSEITS DES NATIONALSTAATLICHEN C ONTAINERS ? Traditionell werden Begriffe wie Integration, Assimilation und Akkulturation in migrationstheoretischen Debatten kontrovers diskutiert. Ältere Migrationstheorien (Gordon 1964; Esser 1980) bewerten kulturelle Anpassung als eine unabdingbare Voraussetzung für die soziostrukturelle Eingliederung von MigrantInnen1 in die Einwanderungsgesellschaften. Die Akkulturationsprozesse, so die Annahme, gehen dabei mit dem Verlust des „herkömmlichen“ Orientierungswissens einher. Neuere Migrationsansätze, die Theorien der transnationalen Migration (Glick Schiller et al. 2005; Lucassen 2006; Morawska 2004; Guarnizo/Portes/Haller 2003; Portes/ Guarnizo/Haller 2002), hinterfragen hingegen den einseitigen und eindimensionalen Verlauf der Assimilationsprozesse. Sie kritisieren die verbreitete Annahme, dass Migration als Austausch der nationalstaatlichen Container verstanden werden soll. Die Theorien transnationaler Migration erforschen auch die kulturellen Welten der Einwanderer und beschreiben diese als facettenreich und hybrid (Bhabha 1994; Ong 1999). Allerdings wird die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Akkulturation und Assimilation aus transnationaler Perspektive kaum theoretisiert. Dieses Kapitel wird von der Frage geleitet, ob die Akkulturations- und Assimilationsbegriffe überhaupt noch geeignet sind, um die „Eingliederungsprozesse“ von (transnationalen) Migranten zu beschreiben. Anschließend soll eine konzeptionelle Alternative zu Akkulturations- und Assimilationsbegriffen formuliert werden. Dabei wird hier mit dem Begriff der transnationalen Migration eine grenzüberschreitende Mobilität von Individuen und Kollektiven bezeichnet, die langfristig zur Herausbildung spezifischer sozialer Formationen führt. Diese transnationalen Felder und Räume spannen sich zwischen den Herkunfts- und Ankunftsregionen der transnationalen Migranten und irritieren dauerhaft die Grenzen von Nationalstaaten (Levitt/Glick Schiller 2004). Somit impliziert transnationale Migration eine konstante intensive Eingebundenheit von transnationalen Migranten und
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Im weiteren Verlauf des Textes werde ich das generische Maskulinum „Migranten“ verwenden und meine damit selbstverständlich beide Geschlechter.
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deren Nachkommen in die grenzüberschreitenden sozialen Formationen, wie Netzwerke, Organisationen, Diaspora-Gemeinden und Institutionen. Levitt/Jaworsky (2007) betonen in diesem Zusammenhang den plurilokalen Charakter von transnationaler Migration: „Migration has never been a one-way process of assimilation into a melting pot or a multicultural salad bowl but one in which migrants, to varying degrees, are simultaneously embedded in the multiple sites and layers of the transnational social fields in which they live.“ (Levitt/Jaworsky 2007, S. 130)
Die Theorien transnationaler Migration beruhen auf zahlreichen Fallstudien, die die Vielfalt transnationaler Praktiken betonen. So werden transnationale politische Aktivitäten als Strategien definiert, die Druck auf politische Entscheidungsprozesse, sowohl in Immigrationsländern, als auch in den Emigrationsländern ausüben. Beispielsweise werden auf der einen Seite spezifische Politiken der Anerkennung2 von Minderheiten in den Aufnahmestaaten betrieben, die Ressourcen für ihre „kulturelle Einzigartigkeit“ aus den Bezügen zu Herkunftsländern schöpfen (Kymlicka 2007). Auf der anderen Seite verfolgen Migranten spezifische politische Ziele in den Emigrationsstaaten und unterstützen (Wohltätigkeits-)Projekte, die signifikante Veränderungen in ihren Herkunftskontexten herbeiführen (ØstergaardNielsen 2003). Auch unterschiedliche Formen der doppelten Staatsbürgerschaft transformieren die Formen der nationalstaatlichen Inklusion (Faist 2007; Fox 2005). Darüber hinaus lassen sich Rücküberweisungen von Migranten als eine einflussreiche Form der ökonomischen Transnationalisierung interpretieren, weil sie nicht nur für die Familien, sondern auch für die Emigrationsländer als Entwicklungshilfe fungieren (Portes/ Escobar/Radford 2007). Außerdem verändern transnationale Formen der Lebensführung auch familiäre und verwandtschaftliche Strukturen. Transnationale Mutterschaft (transnational motherhood), grenzüberschreitende Mobilität der Kinder sowie Unterstützung älterer Familienmitglieder trotz geographischer Distanz verändern inter-familiäre Hierarchien erheblich und fordern patriarchale Strukturen in den Emigrationskontexten der Migranten heraus (Hondagneu-Sotelo/Avila 1997; Mazzucato 2007). Auch die grenzüberschreitenden religiösen Praktiken, die sich in transnationalen religiösen
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Zum Begriff der Politik der Anerkennung siehe Charles Taylor (1992).
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Verbänden und Netzwerken reproduzieren, senden neue Impulse an unterschiedliche Religionslandschaften. Während transnationale Migranten modifizierte religiöse Lehren, sowohl liberale als auch konservative Versionen, in ihre Herkunftskontexte transportieren, werden religiöse Felder in den Ankunftskontexten durch die Entstehung neuer religiöser Vereine und Verbände herausgefordert (Menjívar 2002; Yang 2002). Neben der Beschreibung und Klassifizierung vielfältiger sozialer Praktiken diskutieren neuere Ansätze zunehmend die Bedeutung transnationaler Aktivitäten für die Assimilationsprozesse in Einwanderungsländern. Allerdings ist eine explizite Frage nach dem Zusammenhang zwischen Akkulturationsdynamiken und Integrations- bzw. Assimilationsprozessen3 innerhalb der Transnationalisierungsforschung bis dato nicht gestellt worden. Das liegt vor allem daran, dass das primäre Forschungsinteresse der Transnationalisierungstheorien nicht in der Suche nach Determinanten für erfolgreiche Integrationsprozesse, sondern in der Ermittlung der Mechanismen und Logiken von grenzüberschreitenden Formationen liegt. Genau diesen Zusammenhang zwischen kulturellen Aneignungsprozessen und Assimilationsvorgängen, also zwischen „Kultur“ und struktureller Eingliederung, werde ich aus transnationaler Perspektive diskutieren. Als erstes werde ich analysieren, wie die klassischen Assimilationstheorien von Milton M. Gordon (1964) und Hartmut Esser (1980) die Abhängigkeit der Assimilation vom Erwerb des kulturellen Wissens konzeptualisieren. Beide Ansätze verknüpfen den Erwerb kultureller Muster und die strukturelle Inkorporation von Migranten zu inhärenten Bestandteilen eines umfassenden Assimilationsprozesses (2.). Im Gegensatz zu diesen klassischen Ansätzen diskutieren die aktuellen Studien der Transnationalisierungsforschung (Glick Schiller et al. 2005; Morawska 2004) die Frage, ob transnationale Eingebundenheit der Migranten und ihre gleichzeitigen ankunftsorientierten Assimilationsprozesse miteinander vereinbar sind (3.). Das Verhältnis zwischen kultureller und soziostruktureller Dimension der
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Lucassen bemerkt treffend in seinem Aufsatz (2006), dass der Assimilationsbegriff hauptsächlich in der englischsprachigen Diskussion dominiert, während der Integrationsbegriff für die deutschsprachige Migrationsdebatte charakteristisch ist. Weil ich mich hier größtenteils an die englischsprachige Diskussion anschließe, werde ich in diesem Kapitel den Assimilationsbegriff verwenden.
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Anpassungsprozesse wird von diesen Studien jedoch nicht behandelt. Diese Lücke soll in den nachfolgenden Abschnitten (4. und 5.) geschlossen werden. So schlage ich vor, den Assimilationsbegriff durch den Inklusionsbegriff zu ersetzen, der eine temporärere Inanspruchnahme individueller Handlungspotentiale durch gesellschaftliche Makro-Felder bezeichnet. Mit dem Konzept der transnationalen Inklusion können folglich, sowohl der methodologische Nationalismus der klassischen Migrationstheorien als auch normative Argumentationsmuster vermieden werden (4.). Außerdem werde ich im Gegensatz zu klassischen Migrationsansätzen argumentieren, dass in transnationalen Kontexten der Erwerb kultureller Muster nicht notwendigerweise mit dem Verlust kultureller Sinnschemata einhergeht. Stattdessen partizipieren transnationale Akteure4 und Kollektive5 an den sich überlappenden kulturellen Wissensordnungen6, die eine Grundlage für ihre multilokal organisierte transnationale Inklusion in institutionelle Settings bilden (5.). Um die Verknüpfung zwischen Akkulturations- und Assimilationsprozessen angemessen zu thematisieren, wird eine kultursoziologische Revision der transnationalen Ansätze vorgenommen. Ein Fazit rundet das Kapitel ab (6.).
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In diesem Kapitel wird ein ‚Kollektiv‘ als eine soziale Konstruktion verstanden: Diese Definition erlaubt es die Naturalisierung und Essentialisierung von ‚ethnischen Gruppen‘ zu vermeiden (Brubacker 2002; Wimmer 2008). Auf die Verwendung von Einführungszeichen für die Begriffe ‚Gruppe‘ und ‚Kollektive‘ wurde zugunsten der leichteren Lesbarkeit verzichtet.
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Akteure werden hier nicht als Subjekte, sondern als Träger von sozialen Praktiken definiert (Schimank 1988).
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Unter Kultur verstehe ich mit dem praxeologischen Kulturbegriff ‚(Reckwitz 2006) Sinnmuster und Wissensordnungen, die soziales Handeln anleiten.
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2. ASSIMILATIONSTHEORIEN VON M ILTON M. G ORDON UND H ARTMUT E SSER : „AKKULTURATION ALS DIE NOTWENDIGE B EDINGUNG FÜR DIE ASSIMILATION “ Die aktuellen Debatten der Transnationalisierungsforschung (Glick Schiller et al. 2005; Lucassen 2006; Morawska 2004; Guarnizo/Portes/Haller 2003; Portes/Guarnizo/Haller 2002) kreisen um die Frage nach einer möglichen Vereinbarkeit von transnationalen Praktiken mit Assimilationsdynamiken. Dabei versuchen diese Ansätze, Alternativen zum klassischen Assimilationsbegriff zu formulieren. Allerdings werden diese Versuche explizit vor dem Hintergrund der klassischen Migrationstheorien unternommen. Deshalb möchte ich in diesem Abschnitt die Kernthesen der klassischen Ansätze (Gordon 1964; Esser 1980) der 1960er und 1980er Jahre vorstellen. Sowohl der Theorie von Milton M. Gordon (1964) als auch dem Ansatz von Hartmut Esser (1980) liegt die Vorstellung zugrunde, dass mit dem Migrationsakt zwei geschlossene Sozialräume getauscht werden. An diese Vorstellung ist die Annahme gekoppelt, dass Immigrationsakte mit dem Verlust des herkömmlichen kulturellen Orientierungswissens und der Verinnerlichung neuer kultureller Orientierungsmuster einhergehen müssen. Allerdings verwenden beide Theorien zum Teil unterschiedliche Begriffe, um die Vielfalt und Formen der Anpassungsprozesse zu konzeptualisieren. So entwickelte Milton M. Gordon ein Assimilationsmodell, das prinzipiell für zwei idealtypische Fälle gilt. Der erste Assimilationsmodus setzt die Übernahme der Handlungsmuster der „Mehrheitsgesellschaft“ („core society“ oder „core group“) durch die Einwanderer voraus. Sowohl die kulturelle Angleichung an die „core culture“ als auch die strukturelle Eingliederung der Einwanderer in die Zirkel, Organisationen und Institutionen der „Mehrheitsgesellschaft“ sind erwartbare Ergebnisse dieses Prozesses. Der zweite als melting pot bekannte Assimilationsmodus sieht kulturelle und strukturelle Assimilationsvorgänge nicht nur auf der Einwandererseite, sondern auch vonseiten der „Mehrheitsgesellschaft“ vor. Welche der beiden Grundrichtungen Assimilation annimmt, hängt für Gordon vornehmlich von dem Zusammenspiel unterschiedlicher assimilato-
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rischer Teilprozesse ab.7 Generell wird von ihm jedoch der erste Assimilationsmodus präferiert. Dabei werden insbesondere zwei assimilatorische Teilprozesse - Akkulturation und strukturelle Assimilation – als zentral für die Eingliederung der Einwanderer in die „Mehrheitsgesellschaft“ eingestuft. Erstens betont Gordon, dass Akkulturation, also der Erwerb von Sprachkompetenzen und spezifischem kulturellem Vorwissen, der strukturellen Eingliederung, also der Partizipation der Immigranten an den zentralen gesellschaftlichen Feldern, Institutionen und Organisationen der „Mehrheitsgesellschaft“, vorausgeht. Zweitens ist Akkulturation zwar eine notwendige, aufgrund möglicher Diskriminierungsbarrieren jedoch nicht hinreichende Bedingung für die strukturelle Assimilation (Gordon 1964: 66; 78). Drittens hebt Gordon hervor, dass strukturelle Assimilation unvermeidlich Akkulturation nach sich ziehen muss (Gordon 1964: 81). Wenn Prozesse der Akkulturation und der strukturellen Assimilation erfolgreich verlaufen, können sich viertens nach Gordon weitere assimilative Teilprozesse wie inter-ethnische Heiratspraxis usw. anschließen. Der Erfolg der Assimilation kann an der Abwesenheit von Wertediskrepanzen und kulturellen Konflikten abgelesen werden (Gordon 1964: 71).8 Auch die Assimilationstheorie von Hartmut Esser (1980) thematisiert die Abhängigkeit der Assimilation von kulturellen Lernprozessen, d.h. von Prozessen der Aneignung des kulturellen Wissens. Seine Theorie erhebt darüber hinaus den Anspruch, ein umfassendes theoretisches Modell für die Erklärung und Beschreibung von „Eingliederungsprozessen“ der Immigran-
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Die sieben Teilprozesse des umfassenden Assimilationsprozesses sind 1) kulturelle Assimilation, 2) strukturelle Assimilation, 3) „marital assimilation“ auf der Basis der inter-ethnischen Heiratspraxis, 4) identifikative Assimilation, 5) „attitude receptional assimilation“ aufgrund der Abwesenheit von Vorurteilen gegenüber den Neuankömmlingen, 6) „behavioral receptional assimilation“, die aufgrund der Abwesenheit von Diskriminierungsversuchen zustande kommt, und 7) zivile Assimilation, die das konfliktfreie Zusammenleben der „Mehrheitsgesellschaft“ mit Minderheiten voraussetzt (Gordon 1964: 71).
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Gordon stellt beide Assimilationsmodi - Eingliederung der Minderheiten in die „core society“ oder gegenseitige kulturelle und strukturelle Durchdringung von „Mehrheitsgesellschaft“ und Minderheiten („melting pot“) - vor, um aufzuzeigen, unter welchen Bedingungen sich ethnische und schichtspezifische Formen sozialer Differenzierung überlagern.
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ten in der Aufnahmegesellschaft zu liefern. In Anlehnung an Simmel (1968 [1908]) und Alfred Schütz (1972) erhebt Esser „das Problem der DeSozialisation“ von Einwanderern zum Ausgangspunkt seiner theoretischen Überlegungen. Der Wechsel der nationalstaatlichen Kontexte versetzt Einwanderer, die in ihren Herkunftskontexten auf verlässliche Situationsdefinitionen9 zurückgreifen konnten, in den Zustand beispielloser Orientierungslosigkeit und Ambivalenz. Sie erkennen, dass kulturelle Skripte und die daran gekoppelten Handlungsroutinen im neuen Referenzrahmen keine Gültigkeit mehr besitzen. So wird das kulturelle Orientierungswissen im Allgemeinen sowie die „Situationsdefinitionen“ im Besonderen zum Gegenstand mühsamer Reflexionsleistungen (Esser 1980: 71; 107). Um den Zustand der Unsicherheit und Ambivalenz zu reduzieren, müssen unvertraute Situationen durch Aneignung des neuen Orientierungswissens in vertraute überführt werden. Ob jedoch diese Aneignungsprozesse erfolgreich verlaufen, ob also das neu gewonnene Wissen und die „Situationsdefinitionen“ „routinisiert“ und „habitualisiert“ werden können, hängt insbesondere von zwei Faktorenbündeln ab: der Variable „Person“ und der Variable „Umgebung“ (Esser 1980: 70; 75)10. Insgesamt unterscheidet Esser zwischen vier Typen der Assimilation. Während kognitive Assimilation die Übernahme der neuen kognitiven Kompetenzen („Sprache“, „Fertigkeiten“, „Situationserkennung“) durch die Einwanderer voraussetzt, bezeichnet die identifikative Assimilation die An-
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Der Begriff der „Situationsdefinition“ wurde von Erving Goffman (1976) eingeführt. Er bezeichnet Sinnmuster, die Akteure anfertigen, um Interaktionssituationen angemessen zu deuten. Während der Begriff des kulturellen Wissens sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf organisatorischer und Interaktionsebene anwendbar ist, bezieht sich der Begriff der Situationsdefinition vorwiegend auf die Situationen der interaktiven Anwesenheit.
10 Entweder werden sich die Einwanderer um eine vollständige Assimilation bemühen: Als Voraussetzungen hierfür fungieren die persönliche Lernbereitschaft der Einwanderer, die Offenheit der Aufnahmegesellschaft sowie der Persönlichkeitstyp des Einwanderers. Oder sie werden in die „ethnischen Kolonien“ ausgegrenzt: Diese Entwicklung wird erstens durch die mangelnde Anpassungsbereitschaft seitens der Einwanderer, zweitens durch die Existenz von „Alternativen nicht-assimilativer Art“ und drittens durch die Schließung der Aufnahmegesellschaft gegenüber den Neuankömmlingen begünstigt (Esser 1980: 211 f.).
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gleichung des ethnischen Zugehörigkeitsempfindens und neue Formen von politischer Beteiligung der Einwanderer (Esser 1980: 230). Soziale Assimilation bezieht sich auf die Prozesse der „De-Segregation“ sowie die Zunahme der inter-ethnischen Kontakte, während strukturelle Assimilation Statusverbesserung und Einkommensanstieg voraussetzt. Esser betont explizit, dass die kognitive Assimilation der strukturellen und sozialen Assimilation vorausgeht, während die identifikative Assimilation am Ende des gesamten Eingliederungsprozesses steht. Auch „Rückwirkungen“ einzelner Assimilationstypen aufeinander sind möglich (Esser 1980: 231). Während in Essers Konzept Akkulturation notwendigerweise strukturelle Eingliederung determiniert, ist für Gordon Akkulturation eine notwendige, jedoch nicht hinreichende Bedingung für strukturelle Assimilation, wie er am Beispiel der ethnischen Differenzierung in der US-Amerikanischen Gesellschaft verdeutlicht. Beide Ansätze postulieren, dass das „herkömmliche“ kulturelle Wissen, das Immigranten „mitbringen“, eher als hinderlich für die Akkulturation und folglich für die strukturelle Assimilation einzustufen ist.11 In Gordons Theorie wird “Kultur” als „the social heritage of man“ oder als „the way of life of a society“ definiert (Gordon 1964: 32). „Kultur“ besteht demnach aus allgemeinzugänglichen, jedoch nicht notwendigerweise handlungsinstruierenden Sets von kognitiven Mustern.12 So unterscheidet Gordon zwischen der „Leitkultur“ der s. g. „Mehrheitsgesellschaft“, die vornehmlich aus weißen Mitgliedern mit protestantischen Wurzeln besteht („core culture of the dominant subsociety“) und der Subkultur („subculture“) einer „ethnischen Klasse“ („ethclass“, „the subsociety with
11 Allerdings schränkt Gordon ein, dass kulturelle Lernprozesse zum einen von der Lernbereitschaft der Einwanderer und zum anderen von der Offenheit und den Integrationspotentialen des Aufnahmelandes abhängig sind. Beispielsweise würde die räumlich-territoriale Schließung und Bildung „ethnischer Kolonien“ vonseiten der Migranten sowie Diskriminierungsversuche und Benachteiligungen aufseiten der Aufnahmegesellschaft Assimilationsvorgänge erschweren (Gordon 1964: 78). 12 Demnach ist die simultane Präsenz von mehreren kulturellen Sets im geistigen Rahmen eines Akteurs oder eines Kollektivs nur unter Bedingung der Marginalität möglich. Eine solche Ausnahme stellen nach Gordon Intellektuelle dar, die es gewohnt sind, ethnische Barrieren zu hinterfragen, und mit den daran gekoppelten kulturellen Schemata kreativ umzugehen (Gordon 1964: 57).
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the particular subculture“), die sich durch die Intersektion ethnischer und schichtspezifischer Differenzierung konstituiert (Gordon 1964: 48).13 In der Theorie von Hartmut Esser wird „Kultur“ mit der kognitiven Dimension der Assimilation gleichgesetzt. Er begreift „Kultur“, ähnlich wie Gordon, als ein einheitliches Gewebe von kognitiven Mustern. Schließlich binden beide Ansätze „Kultur“ an Kollektive und setzen kulturelle Grenzen mit den Grenzen der Nationalstaaten gleich. Mit anderen Worten wird der kulturelle Homogenisierungsdruck, der durch die Nationalstaaten nach innen verbreitet wird, von diesen Ansätzen als ein Assimilationsimperativ in die Theoriestruktur übernommen. Die Grundthesen der klassischen Migrationstheorien können nicht zur analytischen Konzeptualisierung von transnationaler Migration herangezogen werden. Erstens bleiben diese Ansätze auf nationalstaatliche „Container“ fixiert.14 Zweitens entwerfen sie eine teleologische Vision der Anpassungsprozesse von Migranten. Drittens verdeckt die dichotomische Unterscheidung in Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten die Komplexität und Heterogenität von sozialen Praktiken der mobilen und nicht-mobilen Populationen. Viertens lässt sich auch die Annahme der kulturellen Homogenität, die für die vorgestellten Theorien charakteristisch ist, nicht mehr aufrechterhalten. Die Behauptung, dass das „herkömmliche“ kulturelle Wissen der Einwanderer für die Anpassungsprozesse hinderlich ist, muss in Anlehnung an die aktuelle kultursoziologische Diskussion (Bhabha 1994; Hannerz 1996; Reckwitz 2001) in Frage gestellt werden. Diese Kritikpunkte weisen darauf hin, dass die transnationale Perspektive auf Migration, die hier präferiert wird, eine Reformulierung der Begriffe der Akkulturation und Assimilation erfordert. Im nachfolgenden Ab-
13 Im Unterschied zu den Variablen „Klasse“ und „Ethnie“ implizieren „ethnische Klassen“ sowohl Partizipationsmöglichkeiten der Einwanderer an den institutionellen Feldern der Aufnahmegesellschaft als auch deren Interaktionskontakte in Freundschaftszirkeln und informellen Netzwerken. Mitglieder einer „ethnischen Klasse“ verfügen also sowohl über eine gemeinsame ethnische Identität als auch über gleiche schichtspezifische Kultur- und Handlungsmuster (Gordon 1964: 53). 14 Zur Kritik am methodologischen Nationalismus der klassischen Migrationsansätze siehe Wimmer und Glick Schiller (2003), siehe auch Amelina und Faist (2012).
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schnitt wird jedoch zunächst die aktuelle Debatte über die Assimilationsdynamiken von transnationalen Migranten rekapituliert. In den anschließenden Abschnitten sollen die alternativen Konzepte wie Inklusion (4) und kulturelle Interferenz (5) diskutiert werden, die alternative Analyseoptionen zu den klassischen Migrationstheorien anbieten.
3. T HEORIEN TRANSNATIONALER M IGRATION : „M ÜSSEN T RANSNATIONALISIERUNG UND ASSIMILATION SICH GEGENSEITIG AUSSCHLIESSEN ?“ Wie werden Assimilationsprozesse aus transnationaler Perspektive konzeptualisiert? Stellt der Assimilationsbegriff überhaupt noch eine geeignete Denkfigur dar, um die Anpassungs- und Sozialisationsprozesse von transnationalen Miganten15 unter den Bedingungen der plurilokalen Lebensführung angemessen zu erfassen? Um diese Fragen zu beantworten, werde ich zunächst die zentralen Aspekte der aktuellen Assimilationsdebatte in der Transnationalisierungforschung vorstellen. Auf der einen Seite möchte ich die Vorteile der transnationalen Perspektive bei der Analyse von Assimilationsprozessen aufzeigen. Auf der anderen Seite dürfen die konzeptionellen Schwächen dieser Diskussion nicht unerwähnt bleiben. Schließlich möchte ich im nachfolgenden Abschnitt (4) die offenen Probleme dieser Debatte mit Hilfe eines transnational orientierten Inklusionskonzeptes adressieren. Während die klassischen Migrationstheorien (Gordon 1964; Esser 1980) familiäre und berufliche Kontakte der Migranten in ihren Heimatländern als integrationshindernd einstufen würden, betrachten die neueren Migrationstheorien diese Kontakte als eine unabdingbare Bedingung für die Entstehung transnationaler sozialer Räume wie Netzwerke, Organisationen, Verwandtschaftskollektive und Diaspora-Gemeinden. Allerdings wurde in
15 Allerdings sollen nicht alle Migranten als transnationale Migranten eingestuft werden, sondern nur diejenigen, die intensive und dauerhafte Kontakte zu Individuen, Organisationen und Institutionen in ihrem Heimatland oder einem dritten Land unterhalten (Pries 2008).
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der Entstehungsphase der Transnationalisierungsforschung die Frage nach der Co-Existenz von transnationalen Migrationskarrieren auf der einen Seite und von den Assimilationsprozessen der transnationalen Migranten in die Einwanderungsgesellschaften auf der anderen Seite weitgehend ausgeklammert. Zwei Gründe waren für diese Distanzierung ausschlaggebend: Erstens wurde auf der Grundlage empirischer Studien die normative Ausrichtung der Assimilationsansätze kritisch hinterfragt. Zweitens wurde die Orientierung der Assimilationskonzepte am s.g. „methodologischen Nationalismus“ (Wimmer/Glick Schiller 2003) scharf angegriffen. Diese Kritik attestierte den klassischen Assimilationskonzepten ein eingeschränktes Erklärungspotential in Bezug auf aktuelle grenzüberschreitende Wanderungen. Doch mit weiteren empirischen Studien (Faist 2000a; Kivisto 2001; Pessar/Graham 2001; Pries 2008; Smith 2006) verdichteten sich die Hinweise auf die Möglichkeit der gleichzeitigen Co-Existenz von transnationalen Praktiken und nationalstaatlicher Assimilation. So wird nun zunehmend die These diskutiert, dass transnationale Migration und Assimilation in den Einwanderungskontext sich nicht notwendigerweise gegenseitig ausschließen. In diesem Zusammenhang möchte ich zwei Studien vorstellen, die Kombinationstypologien von transnationalen Orientierungen und Assimilationsprozessen (s.g. A/T-Zusammenhänge) ausarbeiten. Als erstes möchte ich auf die Ergebnisse der empirischen Untersuchungen von Nina Glick Schiller et al. (2005)16 verweisen. Die Autoren vertreten die These, dass sich heute in Einwanderungskontexten solche „Inkorporationsstrategien“ von Migranten herausbilden, die klassische Migrationstheorien als integrationshindernd einstufen würden. Diese These wird anhand fünf empirischer Fallstudien plausibilisiert. So können transnational orientierte familiäre Kollektive, wie am Beispiel somalischer Einwanderer illustriert wird, aufgrund ihrer generationsübergreifenden Strukturen, insbesondere durch das Konsumverhalten von Einwandererkindern, an Facetten „westlicher“ Konsumkultur teilhaben. Auch am Beispiel der ethnischen Presse für russischsprachige Berliner explizieren die Autoren die These, dass komplexe Inhaltsstrukturen ethnischer Medien sowohl den Zugang zu
16 Insgesamt wurden mehrere Einwanderergruppen (nigerianische, kongolesische, somalische sowie russischsprachige Einwanderer) in unterschiedlichen lokalen Kontexten innerhalb Deutschlands untersucht.
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nationalen als auch zu grenzübergreifenden Medienrealitäten fördern. Schließlich können Diskriminierungserfahrungen, wie am Beispiel ghanaischer Einwanderer in Berlin gezeigt wird, eine Neu-Interpretation lokal zugänglicher (ghanaischer und deutscher) Diskriminierungsvorstellungen begünstigen. Diese kulturellen Deutungsdynamiken führen schließlich zur Entstehung neuer kosmopolitischer Deutungsmuster („vernacular cosmopolitanism“) innerhalb der Einwanderergruppe. Außerdem heben die Autoren hervor, dass die Inkorporation von transnational orientierten Migranten in den Einwanderungskontext durch die Einnahme der Rolle des „öffentlichen Fremden“ („public foreigner“) ermöglicht wird. Demnach öffnen nationalstaatliche Integrationsdiskurse zunehmend spezifische diskursive Stellen, die Artikulationsmöglichkeiten für „öffentliche Fremde“ bieten. Wie am Beispiel eines Gospelchors ghanaischer Asylbewerber aus Halle illustriert wird, können Einwanderer durch die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen als „Fremde“ inkorporiert werden. Schließlich heben die Autoren auch die assimilationsfördernde Rolle transnationaler religiöser Bewegungen hervor. Die Anerkennung neuer Religionsgemeinschaften durch staatliche Instanzen, wie am Beispiel christlicher Pfingstkirchen verdeutlicht wird, verändert die diskursiven Äußerungsmodalitäten von transnationalen Migranten, die sich nicht als Fremde, sondern als Christen im nationalstaatlichen (Integrations-)Diskurs positionieren können. Trotz Kritik am klassischen Assimilationskonzept bleibt der Inkorporationsbegriff von Glick Schiller at. al. (2005) dem Container-Modell des Nationalstaates treu, weil er die Inanspruchnahme der „ganzen“ Individuen durch die nationalstaatlichen Institutionen des Einwanderungslandes bezeichnet. Zwar räumen Glick Schiller et al. (2005) ein, dass Inkorporation mit „Bewahrung“ kultureller Eigenartigkeiten einhergehen kann. Allerdings wird nicht deutlich herausgearbeitet, welche Mechanismen kulturelle „Fremdheit“ bei gleichzeitiger Inkorporation ermöglichen. Einen weiteren Systematisierungsvorschlag für die Analyse von Zusammenhängen zwischen transnationaler Migration und Assimilation bietet Ewa Morawska (2004) an, die eine umfangreiche empirische Studie über Assimilationsprozesse von sieben Einwanderergruppen17 in den USA
17 Zu den untersuchten Gruppen zählen indische, dominikanische, jamaikanische, russisch-jüdische, polnische, kubanische und chinesische Einwanderer. Außer
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durchgeführt hat. Morawska interessiert sich generell für assimilative Effekte von Transnationalisierung. Sie analysiert jedoch sowohl Assimilationsprozesse, die mit transnationalen Orientierungen von Migranten einhergehen, als auch solche, die durch Abwesenheit von transnationalen Orientierungen gekennzeichnet sind (Morawska 2004: 1393; 1400). Die Autorin unterscheidet insgesamt drei A/T-Konfigurationen: 1) „the mainstream upward assimilation“, also kulturelle und strukturelle Angleichung der Handlungsroutinen von Einwanderern an die der Mittel- und Oberschicht der „Mehrheitsgesellschaft“, 2) „the mainstream downward assimilation“ – kulturelle und strukturelle Anpassung der Handlungsmuster von Migranten an die der Unterschicht der „Mehrheitsgesellschaft“ und 3) „the ethnic-path assimilation“ – kulturelle und strukturelle Inkorporation der Einwanderer in die „ethnischen Kolonien“ der Einwanderungsgesellschaft. Die letzte A/T-Konfiguration wird zusätzlich in vier weitere Unterkategorien aufgeteilt: Hier werden der ankunftsorientierte („host-countrycentred“), der herkunftsorientierte („home-country-centred“), der doppeltorientierte („host- und home-countries-centred“) und der intra-gruppenorientierte („inward-centred“) Assimilationspfad voneinander unterschieden (Morawska 2004: 1397). Anschließend arbeitet die Autorin die Bedingungen heraus, die die CoExistenz von „ethnischer“ Assimilation - dem dritten Typ in ihrer Typologie - und den transnationalen Orientierungen begünstigen. Hier wird auf den Verlauf der Migration sowie auf solche Variablen wie „Person“ und „Umgebung“ hingewiesen. So beeinflussen insbesondere kulturelle und soziale Kapitalformen der Einwanderer die Intensitätsgrade ihres transnationalen Engagements. Auch das Vorhandensein öffentlicher Kommunikationsräume (lokal und medial) konditioniert unterschiedliche Formen transnationaler Assimilationen. Zugleich werden transnationale Assimilationspfade von zwei nationalstaatlichen Kontexten mitgeprägt. Insbesondere die Migrationspolitik sowie Staatsangehörigkeitsformen der Herkunfts- und Ankunftsländer werden als zentrale Determinanten für die Ausdifferenzie-
den russisch-jüdischen und illegalen chinesischen Einwanderern weisen alle Gruppen mehr oder weniger stark ausgeprägt transnationale Aktivitäten auf.
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rung einzelner transnationaler Assimilationspfade18 gesehen (Morawska 2004: 1399). Stärker als die Autoren der Studie von Glick Schiller et al. betont Morawska (2004: 1375) den kontingenten und kontextspezifischen Charakter der Assimilationsprozesse. Sie unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass die Co-Existenz von Assimilation und transnationalen Bindungen nicht normativ gedacht werden darf. Im Unterschied zur Studie von Glick Schiller et al. (2005) bestimmt Morawska vielfältige Determinanten der transnational orientierten Assimilationsprozesse. Allerdings werden zu diesen Determinanten hauptsächlich soziostrukturelle Faktoren und nicht kulturelle Dynamiken gerechnet. Trotz innovativer Behandlung der Assimilationsfrage aus dem transnationalen Blickwinkel lassen sich insgesamt drei Kritikpunkte an den vorgestellten Studien hervorheben. Erstens bleibt der Assimilationsbegriff von Morawska, ähnlich wie der Inkorporationsbegriff von Glick Schiller et al., weitgehend dem Container-Modell des Nationalstaates verhaftet. Er setzt zumindest implizit die Einschließung von Individuen in die Gesamtheit von Institutionen eines Nationalstaates voraus.19 Zweitens lässt die Studie von Morawska trotz der Vorstellung einer aufschlussreichen Typologie möglicher Assimilationsformen („home-country-centred“, „host-counry-centred“, „home- and host-country-centred“ und „inward centred“) die Frage nach theoretischen Implikationen dieser Klassifikation offen. Drittens geben die Studien, wie bereits erwähnt, keinen konzeptionellen Einblick in den Zusammenhang zwischen Assimilations- und Akkulturationsprozessen. Während die älteren Migrationstheorien (Gordon 1964; Esser 1980) von einer engen Kopplung zwischen Assimilation und Akkulturation ausgehen, wird in der Transnationalisierungsforschung auf die Debatte über die Korrelation von beiden Teilprozessen verzichtet.
18 Allerdings ist die Gleichsetzung der „ethnischen“ Assimilation mit „transnationaler“ Assimilation problematisch, weil transnationale Kontakte nicht per se ethnische Dimensionen beinhalten müssen. Erst die Orientierung der Handlungsstrategien von Migranten an mehreren nationalstaatlichen Kontexten kann als transnational bezeichnet werden. 19 Obwohl neuere Assimilationstheorien (Alba/Nee 2003) Endergebnisse von Assimilation als kontingent definieren, bewegen sie sich implizit weiter im Rahmen der normativ orientierten Assimilationstheorien (Park 1928; Gordon 1964).
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Diese Kritikpunkte deuten darauf hin, dass sowohl der Assimilationsbegriff als auch der neu erfundene Inkorporationsbegriff nicht in der Lage sind, dem Zusammenhang zwischen der Verteilung der Zugangschancen zu Organisationen und Institutionen an unterschiedlichen nationalstaatlichen Standorten und der plurilokalen Lebensführung der Individuen angemessen Rechnung zu tragen. Die Gleichzeitigkeit von Inkorporationsmöglichkeiten von transnationalen Migranten in institutionelle Felder an verschiedenen nationalstaatlichen Standorten könnte im Rahmen eines Inklusionsbegriffs konzeptualisiert werden, der, so mein Vorschlag, Assimilations- und Inkorporationsbegriffe ersetzen soll (4). Im nachfolgenden Abschnitt wird deshalb die Frage nach Vorteilen eines plurilokal orientierten Inklusionsbegriffs diskutiert.
4. T RANSNATIONALE I NKLUSION ALS E RÖFFNUNG MULTILOKALER Z UGANGSCHANCEN ZU „ IDENTISCHEN “ INSTITUTIONELLEN S ETTINGS Die normative Ausrichtung des klassischen Assimilationsbegriffs (Gordon 1964; Esser 1980) wurde oben deutlich hervorgehoben. Obwohl der Inkorporationsbegriff, wie oben vorgestellt, keinen teleologischen Charakter hat, bezeichnet er, ähnlich wie der Assimilationsbegriff, die Inanspruchnahme der „ganzen“ Individuen durch die institutionellen Settings eines Einwanderungsstaates. Beide Begriffe, Assimilation und Inkorporation, versperren den Blick darauf, dass transnationale Migranten in der Regel zu ähnlichen institutionellen Bereichen (Wirtschaft, Politik, Recht, Medizin, Religion usw.) an unterschiedlichen nationalstaatlichen Standorten Zugang gewinnen. Beide Begriffe können durch ein Inklusionskonzept ersetzt werden, das die Dichotomie zwischen „Mehrheitsgesellschaft“ und eingewanderten „Minderheiten“ konzeptionell überwindet. Mit dem Inklusionsbegriff finden wir eine geeignete Denkfigur, die weder die Bindung der „ganzen“ Individuen noch die der „ganzen“ Kollektive an die nationalstaatlichen Container voraussetzt. Dieser in der soziologischen System- und Differenzierungstheorie prominent gewordene Begriff (Bom-
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mes 1999; Luhmann 1999; Stichweh 2005) bezeichnet die individuellen Zugangsvoraussetzungen zu den Subsystemen der (Welt-) Gesellschaft20 wie Ökonomie, Politik, Recht, Wissenschaft, Erziehung, Kunst, Sport, Medien, Medizin usw. Dabei sind territorialstaatliche Grenzen primär nur für das politische System, das intern in Nationalstaaten differenziert ist, relevant. Dieser Ansatz betont, dass jedes der Makro-Felder individuelle Zugangschancen zu feldspezifischen Kommunikationszusammenhängen selbst bestimmen kann. Entscheidend für meine Argumentation ist, dass ein Individuum potentiell über Inklusionsmöglichkeiten in alle Makro-Systeme wie Wirtschaft, Politik, Medien, Recht, Religion, Bildung, Familie etc. verfügt. Diese Möglichkeiten werden durch die temporäre Inanspruchnahme individueller Handlungspotentiale realisiert (Luhmann 1999; Stichweh 2005). Dieses Konzept der mehrfachen simultanen Inklusion findet seinen Ursprung in Simmels (1968 [1908]) berühmten Überlegungen zur modernen Individualität, die auf den gleichzeitigen Kombinationsmöglichkeiten vielfältiger sozialer Rollen beruht (Schimank 2000: 48). Mit anderen Worten bezeichnet der Inklusionsbegriff immer temporäre Arrangements, temporäre Praktiken des Zugangs: Es werden nicht die „ganzen“ Personen in organisationelle und institutionelle Kontexte eingeschlossen, sondern nur die Teilausschnitte ihrer Handlungsroutinen. Der Inklusionsbegriff wurde in der migrationssoziologischen Forschung vor allem durch Michael Bommes (1999) eingeführt, der die internationale Migration als eine kommunikative Strategie zur Verbesserung der Inklusionsmöglichkeiten in die gesellschaftlichen Makro-Systeme bzw. MakroFelder definiert. Allerdings betont Bommes, dass trotz Globalisierung und
20 Die Annahme der Weltgesellschaft besagt, dass aufgrund weltweiter kommunikativer Erreichbarkeit heute nur noch eine Gesellschaft existiert. Diese charakterisiert sich durch die Differenzierung in Funktionssysteme, die weltweite Kommunikationssequenzen organisieren (Stichweh 2000; Heintz/Münch/Tyrell 2005). Im Unterschied zum Feldbegriff (Bourdieu 2001) zeichnet sich der Begriff des Funktionssystems jedoch stärker durch ahistorische und universalisierende Konnotationen aus. Deshalb werde ich, um systemtheoretische Begrifflichkeiten zu vermeiden, von Makro-Diskursen bzw. Makro-Feldern sozialer Praxis sprechen. Der Vorteil dieser Begriffswahl besteht vor allem darin, dass es die diskurs- und feldtheoretische Sprache erlaubt, Makro-Felder als nichtuniverselle und historisch spezifische Konfigurationen zu definieren.
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kommunikativer Ausdehnung von Makro-Systemen Nationalstaaten, als Einheiten des globalen politischen Systems, nach wie vor als ein unhintergehbarer Regulator von Inklusionschancen in die Makro-Systeme fungieren, indem sie den Zutritt zum Arbeitsmarkt und zu wohlfahrtsstaatlichen Institutionen vorgeben (Bommes 1999: 122). Der These von der unentbehrlichen Bedeutung der nationalstaatlichen Apparate für die Regulierung der Zugangschancen von Individuen zu den Makro-Feldern schließen sich auch die Vertreter transnationaler Migrationstheorien (Pries 2008; Weiß 2008) grundsätzlich an. Sie betonen jedoch, dass in transnationalen Kontexten nicht die einzelnen Einwanderungsstaaten, sondern Konfigurationen aus institutionellen Strukturen der Emigrations- und Immigrationsstaaten die Inklusionschancen konditionieren. Aus transnationaler Perspektive bleibt die system- und differenzierungstheoretische Perspektive auf Migration trotz des anspruchsvollen Inklusionsbegriffs dem Container-Modell eines Nationalstaates treu. Denn die im Herkunftskontext erworbenen Inklusionsmöglichkeiten müssen, so die Annahme des Inklusionsansatzes von Michael Bommes, zwangsläufig nach dem Migrationsakt verfallen. Mein Vorschlag ist nun, den anspruchsvollen Inklusionsbegriff für die Diskussion über Assimilation und Transnationalisierung (A/T) fruchtbar zu machen. Allerdings muss der Inklusionsbegriff, der als individuelle, temporäre, nicht exklusiv-orientierte Praxis des Zugangs zu Makro-Systemen bzw. Makro-Feldern definiert wird, auch von seiner engen Bindung an einen einzigen Nationalstaat, die Michael Bommes als entscheidend einstuft, gelöst werden. Stattdessen muss in Anschluss an die Transnationalisierungsforschung angenommen werden, dass der Einwanderungsstaat nicht a priori über die Exklusivität der Verteilung von Zugangschancen in MakroFeldern verfügt. Mit anderen Worten ist die Inklusion der Handlungspotentiale der transnationalen Migranten in die „identischen“ Makro-Felder an unterschiedlichen nationalstaatlichen Standorten simultan denkbar. Die Situationen der multilokal organisierten transnationalen Inklusion möchte ich anhand von drei Studien kurz illustrieren. Die erste Studie beschreibt politische Aktivitäten von „türkischen“ und „kurdischen“ Migrantenverbänden, die sowohl in Einwanderungs- als auch in Auswanderungskontexten stattfinden (Østergaard-Nielsen 2003). Auf der einen Seite können Migranten, die über die doppelte Staatsangehörigkeit verfügen, durch ihr Wahlverhalten Einfluss auf politische Entscheidungs-
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prozesse in beiden Staaten ausüben. Auf der anderen Seite werden Migrantenorganisationen gegründet, die spezielle politische Projekte in Deutschland und in der Türkei verfolgen. Auf diese Weise findet Inklusion individueller und organisationeller Handlungspotentiale in das politische MakroFeld an zwei verschiedenen nationalstaatlichen Standorten statt. Die zweite relevante Studie untersucht transnationale ökonomische Aktivitäten von „kolumbianischen“, „dominikanischen“ und „salvadorianischen“ transnationalen Migranten (Portes/Guarnizo/Haller 2002). Demnach nutzen die in den USA ansässigen Unternehmer mit Migrationshintergrund spezifische soziale und kulturelle Kapitalien, um den Einkauf „ethnischer“ Produkte im Emigrationsland und ihren Verkauf im Immigrationsland aufzubauen. Die Autoren der Studie arbeiten Strategien heraus, die Unternehmern Anschlüsse an ökonomische Märkte an zwei verschiedenen nationalstaatlichen Kontexten ermöglichen. Somit handelt es sich hier um die Inklusion von ökonomischen Aktivitäten der transnationalen Migranten in das Makro-Feld der Ökonomie an verschiedenen nationalstaatlichen Standorten. Eine dritte Studie beschreibt die transnationalen Inklusionspfade innerhalb des religiösen Feldes (Levitt 2007). Zum einen portraitiert diese empirische Untersuchung organisationelle Karrieren der religiösen Führer, die sich in religiösen Einrichtungen an mehreren nationalstaatlichen Standorten engagieren. Zum anderen veranschaulicht sie die Zugangsmöglichkeiten der transnationalen Migranten zu religiösen Leistungen in Emigrations- und in Immigrationskontexten. Auch in diesem Fall können wir von einer gleichzeitigen Inklusion der Handlungsausschnitte von transnationalen Migranten in das religiöse Feld an mehreren nationalstaatlichen Standorten sprechen. Für das Konzept der transnationalen Inklusion ist allerdings nicht nur die Antwort auf die Frage entscheidend, ob transnationale Migranten Zugang zu Makro-Feldern an unterschiedlichen geographischen Orten haben, sondern auch auf die Frage, welche Positionen sie innerhalb dieses institutionellen Settings besetzen. Denn im Anschluss an das differenzierungstheoretische Inklusionskonzept behaupte ich, dass die gesellschaftlichen Makro-Felder durch eine besondere interne Asymmetrie charakterisierbar sind: eine Asymmetrie zwischen Leistungs- und Publikumsrollen (Luhmann
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1999).21 Als Beispiele für feldinterne Asymmetrien können die Unterscheidungen zwischen Politikern und Wählern im Feld der Politik, Unternehmern und Konsumenten im ökonomischen Feld sowie religiösen Leistungserbringern (Pfarrer, Prediger) und Gläubigern im religiösen Feld angeführt werden. Während die Inhaber der Leistungsrollen über notwendiges Expertenwissen, Ressourcen sowie Definitions- und Entscheidungsmacht verfügen, sind Publikumsrollen auf den Empfang feldspezifischer Leistungen ausgerichtet. Ihr Wissen über zentrale Relevanzkriterien der Feldpraxis ist beschränkt. Die Frage nach Rollen bzw. Positionen von transnationalen Migranten innerhalb sozialer Makro-Felder würde eine entscheidende Auskunft über transnationale Inklusionspfade geben (Tab. 1). Tabelle 1: Multilokale Inklusion in das Makro-Feld der Ökonomie unter Berücksichtigung der Differenzierung zwischen Leistungs- und Publikumsrollen Inklusion in das ökonomische Feld Nationalstaat A (Einwanderungsland)
Nationalstaat B (Heimatland)
Pfad 1
Leistungsrolle (Unternehmer)
Leistungsrolle (Unternehmer)
Pfad 2
Leistungsrolle (Unternehmer)
Publikumsrolle (Konsument)
Pfad 3
Publikumsrolle (Konsument)
Leistungsrolle (Unternehmer)
Pfad 4
Publikumsrolle (Konsument)
Publikumsrolle (Konsument)
Tabelle: Eigene Ausarbeitung
21 Ähnlich unterscheidet Pierre Bourdieu in seiner Feldtheorie zwischen Experten und Laien innerhalb der jeweiligen sozialen Felder wie Ökonomie, Politik, Kunst und Bildung (Ebrecht/Hillebrandt 2004).
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Insgesamt lassen sich vier idealtypische Inklusionsformen in Bezug auf ein Makro-Feld unterscheiden. Ich möchte das am Beispiel des wirtschaftlichen Feldes erläutern. Die erste Möglichkeit bezieht sich auf den gleichzeitigen Zugang eines transnationalen Migranten zu den Leistungsrollen, hier zur Rolle des Unternehmers an zwei nationalstaatlichen Kontexten. Der zweite Inklusionspfad zeichnet sich durch den gleichzeitigen Zugang eines transnationalen Migranten zu der Leistungsrolle (Unternehmer) im Emigrationsland und durch die Inhaberschaft der Publikumsrolle (Konsument) im Einwanderungsland aus. Eine dritte Möglichkeit ist genau spiegelverkehrt: Ein transnationaler Migrant besitzt die Leistungsrolle (Unternehmer) im Einwanderungsland und die Publikumsrolle (Konsument) im Emigrationsland. Schließlich würde die vierte Inklusionsform den gleichzeitigen Zugang zu den Publikumsrollen (die Rolle des Konsumenten) innerhalb eines MakroFeldes sowohl in Emigrations- als auch in Immigrationsländer voraussetzen. Ähnliche Situationen wären für Politik, Religion, Recht, Gesundheitssystem und weitere Makro-Felder denkbar. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Inklusion der Handlungspotentiale von transnationalen Migranten in Makro-Felder nicht durch den territorialen Rahmen des Einwanderungsstaates beschränkt ist. „Identische“ institutionelle Strukturen, wie mediale, familiäre, ökonomische, politische, rechtliche, künstlerische, medizinische und religiöse Felder, nehmen Teile ihres Handlungspotentials an unterschiedlichen nationalstaatlichen Standorten in Anspruch. Dieses Phänomen wird hier mit dem Begriff der transnationalen Inklusion bezeichnet. Dabei eröffnet dieser Ansatz mehrere Vorteile. Erstens bezeichnet der Inklusionsbegriff nicht die Einschließung der „ganzen“ Individuen in die Institutionen und Organisationen, sondern nur temporäre Zugangspraktiken. Zweitens kann der Gleichzeitigkeit der individuellen Teilnahme an Institutionen in unterschiedlichen nationalstaatlichen Kontexten Rechnung getragen werden. Drittens kann der Inklusionsbegriff, im Unterschied zum Assimilations- und Inkorporationsbegriff, sowohl auf mobile als auch auf relativ immobile Populationen angewendet werden. Abschließend möchte ich festhalten, dass der transnationale Inklusionsansatz eine Reformulierung der Frage nach der Co-Existenz zwischen nationalstaatlicher Assimilation und Transnationalisierung erlaubt. Statt Assimilationsprozesse und Transnationalisierungspraktiken zu quantifizieren, legt er die Komplexität der simultanen Zugänge der Handelnden zu institu-
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tionellen Komplexen bzw. Makro-Feldern an unterschiedlichen nationalstaatlichen Standorten offen. Die empirische Vorgehensweise, die aus dieser Perspektive folgt, würde die vielfältigen Formen und Pfade der transnationalen, multilokalen Inklusionen herausarbeiten sowie die Bedingungen ihrer Entstehung und Stabilisierung untersuchen. Aber vor allem soll der vorliegende Ansatz die Vorstellung überwinden, dass es sich bei Assimilations- bzw. Integrationsprozessen um die Eingliederung der „ganzen“ Individuen in die „Einwanderungsgesellschaften“ handelt. Allerdings ließ das vorgestellte Konzept bis jetzt die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Inklusion und „Akkulturation“ offen. Diese Frage soll nun im nächsten Abschnitt diskutiert werden.
5. T RANSNATIONALE P ERSPEKTIVE AUF „AKKULTURATION “: K ULTURELLE I NTERFERENZEN ALS R ESSOURCE FÜR MULTILOKALE Z UGANGSCHANCEN ZU „ IDENTISCHEN “ INSTITUTIONELLEN M AKRO -F ELDERN Die klassischen Migrationstheorien gehen davon aus, dass Akkulturation eng mit dem Prozess der strukturellen Assimilation zusammenhängt. Während Akkulturation von Gordon (1964) als eine notwendige, jedoch nicht als eine hinreichende Bedingung für strukturelle Assimilation eingeschätzt wird, wird sie von Esser (1980) als eine unabdingbare Voraussetzung für strukturelle Eingliederungsprozesse von Migranten aufgefasst (Abschnitt 2). Die Problematisierung von „De-Sozialisation“ und „Re-Sozialisation“ von Einwanderern erlaubt Esser, die These von einer engen Kopplung zwischen struktureller und kultureller Assimilation zu begründen. Im Unterschied zu klassischen Migrationstheorien ist der Zusammenhang zwischen Akkulturationsdynamiken und Assimilationsprozessen innerhalb der Transnationalisierungsforschung bis jetzt nicht diskutiert worden. Obwohl mit dem Verweis auf die Hybridisierungs- und Kreolisierungsprozesse (Bhabha 1994; Hannerz 1996) der inkonsistente, hybride und historisch spezifische Charakter kultureller Phänomene in der Transnationalisierungsliteratur weitgehend anerkannt ist, wurde diese Überlegung bis dato nicht im Zusammenhang mit Assimilationsdebatten berücksichtigt.
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Diese Lücke soll in diesem Abschnitt geschlossen werden. Zunächst werde ich darstellen, wie „Kultur“ im Zusammenhang mit transnationaler Migration von den Vertretern der neueren Migrationsansätze konzeptualisiert wird. Am Beispiel von zwei Ansätzen – dem Konzept der transnationalen sozialen Räume von Thomas Faist (2000a; 2000b) und dem Konzept des transnationalen Feldes von Peggy Levitt und Nina Glick Schiller (2004) – werde ich Gründe für die Vernachlässigung der Variable „Kultur“ für die Erklärung komplexer Assimilationsphänomene aufzeigen. Anschließend werde ich die These der kulturellen Interferenzen als eine mögliche Alternative zum Akkulturationsbegriff vorstellen und sie mit dem zuvor vorgestellten Inklusionsansatz in Verbindung bringen. Wie wird „Kultur“ in transnationalen Ansätzen beschrieben? Sowohl im Konzept der transnationalen Räume als auch im Konzept des transnationalen Feldes wird „Kultur“ als ‚symbolische“ Dimension des Sozialen konzipiert. So bezeichnet Thomas Faist die kulturelle Sphäre mit dem Begriff der symbolischen Bindungen. Diese Bindungen fungieren in transnationalen Kontexten als Ressource für die Konstitution kollektiver Deutungsschemata und „Repräsentationsmuster“ (Faist 2000b: 35). Peggy Levitt und Nina Glick Schiller verwenden den Begriff „ways of belonging“, um Identitätsstrategien zu benennen, mit deren Hilfe transnationale Akteure sowohl „Zugehörigkeiten“, als auch Gruppenloyalitäten zum Ausdruck bringen (Levitt/Glick Schiller 2004: 1010). Thomas Faist weist symbolischen Repräsentationen und Deutungsmustern neben sozialen Handlungssequenzen eine spezifische Rolle in der Konstitution von transnationalen Formationen bzw. Räumen zu. Sie bringen Mechanismen wie fokussierte und diffuse Solidarität hervor, die, neben sozialen Mechanismen der spezifischen und generalisierten Reziprozität, für die Entstehung transnationaler, familiärer und diasporischer Kollektive von entscheidender Bedeutung sind (Tab. 2).
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Tabelle 2: Typen von kollektivem Handeln in transstaatlichen Räumen Grad der Formalisierung
gering (Netzwerke)
hoch (Organisationen)
Kontaktfelder:
Kleingruppen:
Massenhandeln
Spezifische Reziprozität und fokussierte Solidarität
Themenzentrierte Netzwerke:
Gemeinschaften und Organisationen:
Reziprozität als Tausch
Generalisierte Reziprozität und diffuse Solidarität
Potential für Dauerhaftigkeit Kurzlebiger
Langlebiger
Quelle: Faist 2000b: 35.
Levitt und Glick Schiller weisen, ähnlich wie Faist, darauf hin, dass die kulturelle Dimension („ways of belonging“) neben der sozialen Dimension („ways of being“) ein konstitutiver Aspekt komplexer grenzüberschreitender Konfiguration ist. Im Anschluss an Bourdieus Feldbegriff wird diese Konfiguration als ein transnationales Feld bezeichnet, das als „set of multiple interlocking networks of social relationships through which ideas, practices, and resources are unequally exchanged, organized, and transformed“ definiert wird (Levitt und Glick Schiller 2004: 1009). Die begriffliche Unterscheidung zwischen transnationalen Handlungsstrategien („ways of being“) und transnationalen Identitätsstrategien („ways of belonging“) soll, so die Autorinnen, die Analyse komplexer empirischer Situationen ermöglichen. Während ältere Migrationstheorien, insbesondere Essers Ansatz (Esser 1980), die Frage nach den Bedingungen von „De-Sozialisation“ und „ReSozialisation“ von Migranten und den darin eingebetteten Prozessen von Verlust und Erwerb des kulturellen Orientierungswissens in den Vordergrund stellten, interessieren sich die aktuellen Transnationalisierungsansät-
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ze, wie oben erörtert, für die Mechanismen des kontinuierlichen multilokal orientierten Handelns. Die kulturelle bzw. symbolische Dimension wird in diesem Zusammenhang als Ressource begriffen, die sowohl die Partizipation an transnationalen Formationen wie Familien, Organisationen, Diaspora-Gemeinden usw. begünstigt, als auch eine identitätsstiftende Funktion für transnationale Kollektive erfüllt. So ermöglichen symbolische Ressourcen ethnische und religiöse Grenzziehungen und somit die Konstitution „imaginärer“, kommunikativ hergestellter, transnationaler Gemeinschaften.22 Ein solcher Zugang zur „Kultur“, der „Kultur“ als eine Quelle des Partikularen betrachtet, verhindert weitgehend die Aufnahme kultursoziologischer Argumente in die Assimilationsdebatte der neueren Migrationstheorien (siehe Abschnitt 3). Auf der einen Seite kann positiv hervorgehoben werden, dass im Unterschied zu klassischen Migrationstheorien die neueren Ansätze die normative Annahme der notwendigen Abwertung des kulturellen Wissens im Prozess der Migration verneinen. Auf der anderen Seite muss hier jedoch kritisch angemerkt werden, dass diese neueren Migrationstheorien nicht genau auf die Frage eingehen, wie sich transnationale Akteure neue Sinnmuster aneignen. Sie vermitteln eher den Eindruck, dass das „herkömmliche“ kulturelle Wissen von transnationalen Migranten im Prozess der Migration dauerhaft erhalten bleibt, ohne dass neue Sinnmuster hinzukommen. Mit anderen Worten beinhalten Transnationalisierungsansätze implizite Homogenitätsannahmen über die Beschaffenheit der kulturellen Dimension. Dass „Kultur“, also kollektive Deutungsmuster und Wissensordnungen, in der Regel als gruppenbildend fungieren kann, möchte ich nicht infrage stellen. Allerdings müssen die Grenzen der Kollektive nicht notwendigerweise mit den Grenzen von Wissensordnungen übereinstimmen. Gerade im Zusammenhang mit transnationalen Kollektiven liegt die Vermutung nahe, dass diese Gruppen über den Zugang zu vielfältigen, uneinheitlichen Wissensmustern verfügen. Der Grund, warum transnationale Kollektive als einheitlich wahrgenommen und beschrieben werden, liegt nicht selten an der vereinheitlichten Repräsentationsform dieser Gruppen. Deshalb nehme ich in Anlehnung an Andreas Reckwitz (2001) an, dass transnationale Kollektive an mehreren Kulturskripten partizipieren und zugleich sich selbst
22 Zur konstruktivistischen Definition von transnationalen Kollektiven siehe Sökefeld (2006).
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als einheitliche „Gemeinschaften“ mit gemeinsamer Zukunft und Vergangenheit öffentlich darstellen. Weil „Kultur“ in transnationalen Ansätzen vor allem als eine der Quellen für Gruppenbildungsprozesse konzeptualisiert wird, wird in diesen Ansätzen die Partizipation von transnationalen Migranten an mehreren Wissensordnungen bzw. kulturellen Sinnmustern nicht in den Vordergrund geschoben. Aber gerade diese Frage ist wichtig, um die Bedeutung der kulturellen Dimension innerhalb transnationaler Inklusionsprozesse zu konzeptualisieren. Mit welchen konzeptionellen Mitteln lassen sich die impliziten Homogenitätsannahmen der Transnationalisierungsforschung überwinden? Auf Grundlage welcher Konzepte kann die Frage nach „De-Sozialisation“ und „Re-Sozialisation“ für transnationale Kontexte reformuliert werden? Um diese Fragen zu beantworten, möchte ich an die kultursoziologische Praxistheorie (Reckwitz 2006; Schatzki 1996) anschließen, die „Kultur“ als Deutungsmuster (Schütz 1932) und diskursive Selbst-Problematisierungen (Foucault 1991; 1993) definiert, die in spezifische Felder der sozialen Praxis inkorporiert sind und diese instruieren.23 Die praxeologische Perspektive auf „Kultur“ formuliert eine These von möglicher Interferenz kultureller Skripte in Hinblick auf identische Situationen oder Objekte.24 Die kulturellen Interferenzen bzw. Überlappungen sind in transnationalen Kontexten wahrscheinlich, weil die Zirkulation von Waren, Personen und Sinnmustern über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg eine Intensivierung kultureller Transfer-, Austausch- und Transformationsdynamiken begünstigt. Mit anderen Worten erhöht sich die Wahrscheinlichkeit des Zusammentreffens von unterschiedlichen Sinnmustern durch regelmäßige Akte der Überschreitung von territorial-politischen Grenzen.25 Mein Argument ist nun,
23 Sowohl innerhalb der hermeneutisch-orientierten Kulturanalyse (Schütz 1932) als auch innerhalb der poststrukturalistisch orientierten Kulturtheorien (Foucault 1991; Foucault 1993; Bourdieu 1987) wurde ein Begriffsapparat entwickelt, der kollektive Sinnmuster (Deutungsschemata, diskursive Selbst-Problematisierungen oder Habitus) als entscheidend für die Herausbildung spezifischer Handlungspraktiken bewertet (Bachmann-Medick 2007). 24 Entscheidend ist, dass sowohl die „Identität der Situation“ als auch Differenz der Sinnmuster durch Akteure selbst konstruiert wird. 25 Es wird hier also nicht behauptet, dass es zu kulturellen Überlappungen ausschließlich in transnationalen Kontexten kommt. Kulturelle Interferenzen sind
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dass das Phänomen der gleichzeitigen Inklusion individueller Handlungspotentiale an unterschiedlichen nationalstaatlichen Standorten erst durch die Verknüpfung mit der Interferenzen-These greifbar wird. Deshalb werde ich als Erstes die Interferenzen-These genauer vorstellen. Als Zweites werde ich diese Idee mit dem zuvor vorgestellten Konzept der multilokal organisierten transnationalen Inklusion in Verbindung setzen. (ad 1) Der praxeologische Kulturansatz, der hier präferiert wird, betont, dass „Kulturen“, also Wissensordnungen und Sinnmuster, inhomogen sind und nicht notwendigerweise an Personen, Kollektive oder an Nationalstaaten gebunden sein müssen. Eine Konsequenz aus dieser Argumentation ist die Annahme, dass ein Akteur oder ein Kollektiv unter bestimmten Umständen gleichzeitig an mehreren Sinnmustern bezüglich eines identischen Objekts oder einer identischen Situation „partizipieren“ kann (Reckwitz 2006: 626).26 Allerdings betont der Interferenzen-Ansatz, dass die Aneignung kulturellen Wissens nicht mit dem Verzicht auf bereits verfügbare Wissensmuster hinsichtlich identischer Situationen einhergehen muss. In diesem Sinne kann „Akkulturaltion“ nicht mehr als ein einseitiger Prozess des Wissenserwerbs bei gleichzeitigem Wissensverlust verstanden werden. Stattdessen kommt es zu Prozessen der Interpenetration und Überlagerung verschiedener Sinnmuster und Wissensordnungen hinsichtlich identischer Situationen im mentalen Rahmen eines Akteurs oder Kollektivs. Somit können transnationale Migranten nicht als „kulturell Entwurzelte“ bezeichnet werden, die das herkömmliche kulturelle Wissen aufgeben müssen, eher sind sie „Manager“ der kulturellen Ambivalenz, die aufgrund des Handlungsdrucks angehalten sind, kulturelle Überlagerungen zu re-signifizieren. Kulturelle Interferenzen ermöglichen also beides, sowohl die „kognitive
genauso „innerhalb“ der nationalstaatlichen Kontexte möglich. Allerdings unterscheiden sie sich von den kulturellen Interferenzen in transnationalen Kontexten durch ihre besondere Verknüpfung mit nationalstaatlichen Regierungstechnologien, die auf der Basis des Bürgerschaft-Dispositivs und auf der Grundlage von Integrationsdiskursen die grenzüberschreitende Mobilität problematisieren. 26 Allerdings existieren kulturelle Apparate und Machtdispositive, wie nationalstaatliche Bildungseinrichtungen, Expertennetzwerke sowie religiöse und mediale Kommunikationsformen, die explizitere Definitionsmacht haben und ihrer Logik nach die vorübergehende Vereinheitlichung der Sinnmuster anstreben (Laclau/Mouffe 1991).
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Assimilation“ von transnationalen Migranten (um Begriffe der klassischen Migrationsforschung zu verwenden) als auch das Aufrechterhalten „herkömmlicher“ Sinnmuster im mentalen Rahmen eines Akteurs oder Kollektivs. (ad 2) Die praxeologisch begründete These der kulturellen Interferenz ersetzt die Akkulturationsthese der klassischen Migrationstheorien und ermöglicht eine kultursoziologische Plausibilisierung des Konzeptes der transnationalen Inklusion. Zum einen verzichtet der praxeologische Blickwinkel auf „Kultur“ auf die Analyse mentaler Vorgänge subjektiver Bewusstseinssysteme: „Kultur“ besitzt demnach immer eine kollektive Dimension. Zum anderen lehnt dieser Ansatz es ab, soziale Makro-Felder und Diskurse als universelle, von den Interpretationsleistungen der Akteure unabhängige, Entitäten zu modellieren. Stattdessen betont er, dass „Kultur“, also Sinnmuster und Wissensformen, Handlungsvorgänge instruieren, zugleich aber in kollektiv verankerten Verhaltenssequenzen, also Handlungsroutinen, inkorporiert sind.27 Die entscheidende migrationssoziologische Konsequenz dieser Annahme ist die These einer engen Kopplung zwischen kulturellen Interferenzen und simultanen Zugangsprozessen zu den institutionellen Makro-Feldern an verschiedenen nationalstaatlichen Standorten. Mit anderen Worten gehe ich in Anlehnung an die praxeologische Kulturtheorie von einer engen Verbindung zwischen interferierenden kulturellen Sinngebungsprozessen und transnationalen Inklusionsprozessen aus. Weil „Kultur“ und soziale Praxis miteinander eng verknüpft sind (und nur analytisch auseinandergehalten werden können), kann die transnationale Inklusion nur vor dem Hintergrund der Überlagerungen spezifischen kulturellen Wissens im geistigen Rahmen eines Akteurs oder Kollektivs analysiert werden. Die enge Verbindung zwischen multilokal organisierter transnationaler Inklusion und kulturellen Interferenzen sollte abschließend am Beispiel
27 Insgesamt identifiziert Reckwitz vier Typen des kulturellen Wissens: 1) die „allgemeinen kulturellen Unterscheidungen und Modelle“ („knowing-that“Wissen), 2) das „prozedurale Wissen“ über die kontextspezifischen Anwendungskriterien dieser Modelle („knowing-how“-Wissen) (Goffman 1976; auch Garfinkel 1976), 3), das motivationale Wissen, das Handlungsziele und – strategien mit einschließt, sowie 4) das evaluative Wissen, das die Bewertung von Situationen und Handlungen erlaubt (Reckwitz 2006: 578 ff.).
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transnationaler Inklusionspfade (Abb. 1) erläutert werden. Im Abschnitt 4 diente die Unterscheidung in Leistungs- und Publikumsrollen als eine Ausgangsbasis für den idealtypischen Entwurf wahrscheinlicher transnationaler Inklusionssituationen in ein ausgewähltes Makro-Feld. Der Bezug zur Rollendifferenzierung erlaubt es zusätzlich genauere Aussagen über die Voraussetzungen des Auftretens von kulturellen Interferenzen zu formulieren (siehe Tab. 3). Tabelle 3: Überlagerung der Sinnmuster im Kontext von multilokaler Inklusion in das ökonomische Makro-Feld unter Berücksichtigung der Differenzierung zwischen Leistungs- und Publikumsrollen
Inklusion in das ökonomische Feld
Kulturelle Überlagerungen hinsichtlich „identischer“ Situationen
Nationalstaat A
Nationalstaat B
Perspektive eines transnationalen Migranten
Pfad 1
Leistungsrolle (Unternehmer)
Leistungsrolle (Unternehmer)
Überlagerungen des Expertenwissens
Pfad 2
Leistungsrolle (Unternehmer)
Publikumsrolle (Konsument)
–
Pfad 3
Publikumsrolle (Konsument)
Leistungsrolle (Unternehmer)
–
Pfad 4
Publikumsrolle (Konsument)
Publikumsrolle (Konsument)
Überlagerungen des Laienwissens
Quelle: Eigene Ausarbeitung
Kulturelle Überlappungen treten, so meine Hypothese, sowohl in der ersten (Pfad 1) als auch in der letzten (Pfad 4) idealtypischen Situation auf. Im ersten Fall resultiert die Überlagerung des Expertenwissens aus dem multi-
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lokalen Zugang zu feldspezifischen Leistungsrollen. Migrationssoziologische Studien über das „ethnische“ Unternehmertum könnten auf der Grundlage der Überlagerungsthese Strategien des Interferenzen-Managements „ethnischer“ Unternehmer erforschen. Auch im Feld der Politik, Medizin oder Wissenschaft können Prozesse der Überlagerung von Wissensordnungen, die aus der professionellen Stellung der transnationalen Migranten resultieren, unter die Lupe genommen werden. Die zweite idealtypische Situation bezieht sich auf den multilokalen Zugang zu feldspezifischen Publikumsrollen. Im Falle des ökonomischen Makro-Feldes würde es sich um kontinuierliche Konsumpraktiken sowohl in Emigrations- als auch in Immigrationskontexten der transnationalen Migration handeln. Auch hier wären die Handelnden, die feldspezifische Leistungen in Anspruch nehmen, angehalten, diverse Wissensskripte dauernd zu re-signifizieren. Diese Verknüpfung von Interferenzen- und Inklusionsansatz wäre zum Beispiel für die Untersuchungen politischer und religiöser Praktiken von transnationalen Migranten relevant, weil politische Partizipation und Empfang religiöser Leistungen in transnationalen Kontexten dauerhafte kulturelle Ambivalenzen mitproduzieren (Levitt 2007; Østergaard-Nielsen 2003). Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass das Erklärungspotential beider Ansätze – des Inklusions- und des Interferenzen-Ansatzes – in weiteren empirischen Studien unter Beweis gestellt werden sollte. Die oben geschilderten idealtypischen Situationen bieten sich als eine hilfreiche Ausgangsbasis dafür an.
6. D ER
TRANSNATIONALE I NKLUSIONSANSATZ ALS EINE O FFENSIVE GEGEN DEN METHODOLOGISCHEN N ATIONALISMUS
Dieses Kapitel leistet einen Beitrag zur Debatte über die Vereinbarung von Assimilation und Transnationalisierung. Der Ausgangspunkt meiner Argumentation war die Frage nach der Möglichkeit der Konzeptualisierung von Assimilations- und Akkulturationsdynamiken aus der transnationalen Theorieperspektive. Durch den Vergleich zwischen den älteren (Gordon 1964; Esser 1980) und neueren (Glick Schiller et. al 2005; Morawska 2004) Migrationsansätzen legte ich die jeweils spezifische Verwendung der Assimilations- und Akkulturationsbegriffe offen. So betonen zum einen die
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klassischen Migrationsansätze den engen Zusammenhang zwischen Assimilations- und Akkulturationsprozessen. Zum anderen implizieren die Assimilations- und Akkulturationsbegriffe dieser Theorien eine Eingliederung des „ganzen“ Individuums in die Institutionen und in eine homogene Kultur des Einwanderungsstaates. Aus dieser Perspektive muss der „Wanderungsakt“ mit dem Verzicht auf die „herkömmlichen“ Kulturskripte einhergehen und kontinuierliche Integrationsbemühungen der Einwanderer sowie der Einwanderungsstaaten voraussetzen. Dauerhafte transnationale Praktiken von Migranten sowie Aufrechterhaltung des „fremden“ kulturellen Wissens würden demnach das Scheitern der Assimilationsprozesse begünstigen. Im Gegensatz zu dieser Position argumentieren die neueren Migrationsansätze (Glick Schiller et al. 2005; Morawska 2003) für eine mögliche, jedoch nicht normativ vorgegebene, Co-Existenz der transnationalen Orientierungen von Migranten und gleichzeitigen Assimilationsprozessen in die Organisationen und Institutionen der Einwanderungsstaaten. Allerdings implizieren auch die Assimilations- und Inkorporationsbegriffe dieser Ansätze die Vorstellung der Inanspruchnahme von „ganzen“ Personen durch die Institutionen des Einwanderungslandes. „Kultur“ wird von neueren Migrationsansätzen als Quelle der Gruppenbildung von transnationalen Gemeinschaften theoretisiert. Akkulturationsprozesse werden deshalb nicht in die Assimilationsdebatte einbezogen (Faist 2000b; Glick Schiller/Levitt 2004). Beide, klassische und neuere, Verwendungsweisen des Assimilationsbegriffes verschleiern die Komplexität der multilokalen Zugangspraktiken von transnationalen Migranten zu gesellschaftlichen Makro-Feldern. Deshalb plädiere ich für die Verwendung des Inklusionsbegriffes, der die sozialen Praktiken des Zugangs zu institutionellen Makro-Settings bezeichnet (Bommes 1999; Stichweh 2005). Dieser hebt hervor, dass Handlungspotentiale eines Individuums und nicht das Individuum selbst in diverse soziale Makro-Kontexte involviert werden. Dieser Gedanke ist äußerst wertvoll für die Konzeptualisierung der Zugangspraktiken zu institutionellen MakroSettings, die auf den Territorien verschiedener Nationalstaaten lokalisierbar sind. Unter der Berücksichtigung der Differenzierung zwischen Leistungsund Publikumsrollen innerhalb eines sozialen Makro-Feldes entwarf ich idealtypische transnationale Inklusionspfade. Somit wird das ältere Assimilationskonzept durch den flexibleren Inklusionsansatz ersetzt, der sowohl auf mobile als auch auf nicht-mobile Populationen angewendet werden
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kann. Somit kann die normative Unterscheidung zwischen „Mehrheitsgesellschaft“ und „Minderheiten“, die häufig in der Migrationsforschung verwendet wird, aufgegeben werden. Schließlich wurde der transnationale Inklusionsansatz durch die kultursoziologische Perspektive bereichert. In Anlehnung an die praxeologische Kulturtheorie (Schatzki 1996; Reckwitz 2006) habe ich aufgezeigt, dass auch der Akkulturationsbegriff der älteren Migrationsansätze in Frage gestellt werden muss. Ich argumentiere in diesem Zusammenhang, dass „Kultur“ nicht nur als Ressource für die Konstitution transnationaler Kollektivbildungen fungieren kann, sondern auch die fortlaufende Pluralisierung von Sinnmustern erlaubt. Mit poststrukturalistischen Denkern (Laclau/Mouffe 1991) nehme ich an, dass kulturelle Transformationen prinzipiell nicht abschließbar sind: Sie können nur vorläufig durch Wissensregimes, Machthegemonien und Machtdispositive angehalten werden. Da Kultur nicht endgültig stabilisiert werden kann, ist sie weder an die „ganzen“ Individuen, noch an die „ganzen“ Kollektive oder Nationalstaaten gekoppelt (Reckwitz 2006). Folglich können Individuen und Kollektive unter bestimmten Bedingungen an mehreren Wissensskripten bezüglich eines Objekts oder einer Situation partizipieren. Kulturelle Sinngebungsprozesse von transnationalen Migranten können demnach nicht mehr als Prozesse des Verlusts „ihres“ kulturellen Wissens konzeptualisiert werden. Stattdessen können sie als Pluralisierung des kulturellen Wissens beschrieben werden, die beides, den Verlust und den Gewinn kultureller Sinnskripte beinhaltet. Diese kulturellen Interferenzen, so meine These, ermöglichen grenzüberschreitende Inklusionen transnationaler Migranten in Makro-Felder, Organisationen und Institutionen. Somit erlaubt das praxeologisch orientierte Inklusionskonzept die Aufgabe des methodologischen Nationalismus, das bis jetzt vielfach in der Migrationsforschung kritisiert wurde (Wimmer/Glick Schiller 2003; Amelina et al. 2012). Denn zum einen wird die Inklusion als ein multilokales Phänomen beschrieben, womit die Konzeption der nationalen ContainerGesellschaft überwunden wird. Zum anderen wird die Fragmentiertheit der Kulturskripte betont und somit eine Perspektive eröffnet, die den statischen Kultur-Begriff nivelliert. Schließlich zeigt das Konzept der transnationalen Inklusion auf, wie beide Dimensionen – die grenzüberschreitende Einbettung der Handlungsausschnitte in die institutionellen Settings und die kulturellen Überlagerungsprozesse – aneinander gekoppelt sind.
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Schauplätze und Verhandlungen von Integration und Diversität
Das strittige Kollektiv im Kontext eines Repräsentationsregimes Kontroversen auf der Deutschen Islam Konferenz (2006-2009)
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Z USAMMENFASSUNG In der integrationspolitischen Debatte hat seit Mitte 1990er Jahre eine deutliche Wende in der Gegenstandsbestimmung stattgefunden. Um die Integration der Muslime, noch vor zwei Jahrzehnten kein relevantes Stichwort, hat sich inzwischen ein regelrechter gesellschaftlicher Diskurs entfaltet, an dem Einwanderer respektive muslimische Gruppen, Kirchen, Wissenschaftler, mediale Berichterstattung, und vor allem politische Instanzen aktiv mitwirken. Dabei wird die ganze Aufmerksamkeit auf die Art und Weise gerich-
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Der Autor hat an der ersten Phase der DIK (2006-2009) in der AG1 als Wissenschaftler teilgenommen. Die vorliegenden Ausführungen basieren auf der Analyse von eigenen Beobachtungen und den offiziellen Protokollen aus dieser Phase. Auf die zweite Phase, die 2010 startete, gehe ich nicht ein. Das zu bearbeitende Material ist zweifellos weitaus reichhaltiger als hier konsultiert. Das kürzlich erschienene Buch von Gabriele Hermani (2010) stellt einen Teil dieses Materials zur Verfügung. Im Rahmen meiner zuletzt erschienenen Monographie Das muslimische Subjekt – Verfangen im Dialog der Deutschen Islam Konferenz (Tezcan 2012) befasse ich mich noch ausführlicher mit diesem Thema.
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tet, wie die Gruppe der Muslime am besten zu integrieren ist bzw. wie sie sich bereits auf verschiedene Weise integriert. Die Problematik kulminiert dann in der Frage nach Repräsentation der Muslime. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand jedoch bisher nie der Prozess der Kollektivbildung selbst. Als selbstverständlich nimmt man es offenbar an, dass Muslimsein automatisch ein politisches Kollektiv namens Muslime konstituiert, das nun gemäß seiner Natur nach entsprechender Repräsentation sucht. Die gegenwärtige Lage, in der die ethnische Bestimmung der Einwanderer vom religiös bestimmten Kollektiv („Muslime“) zusehends, jedoch sehr kontrovers, überlagert wird, bietet eine geeignete Gelegenheit, die Prozesse der Produktion vom muslimischen Kollektiv gerade im Moment des Umbruchs zu beschreiben, da der Gegenstand selbst noch nicht weitgehend stabilisiert ist. Der vorliegende Beitrag nimmt die Gruppe der Muslime als kollektiven Akteur nicht einfach als gegeben an, sondern beschreibt die Kontroversen um die Gruppenbildung am Beispiel der Deutschen Islam Konferenz (DIK), die erstmals 2006 vom Bundesinnenministerium als Dialog zwischen Regierung und Muslimen initiiert wurde. Dabei wird die DIK als ein Experiment betrachtet, die Religion als ein zentrales Element in die Integrationspolitik einzuführen und somit gestalterischen Einfluss auf das Einwanderermilieu zu nehmen.
EINLEITUNG Integration des Islam, Integration der Muslime, das sind inzwischen geläufige Formulierungen, die bereits von sich aus Plausibilität beanspruchen, ohne dass sie weitere Erläuterungen bedürften. Wer würde denn das Problem, die dringliche Aufgabe bestreiten wollen, dass der Islam integriert werden soll, dass die Muslime mit Islamophobie zu kämpfen haben, im Vergleich zu christlichen Kirchen unterprivilegiert sind, der Islam bisher aus der politischen Repräsentation ausgeschlossen war etc. Andererseits wird man auch nicht mehr ohne Weiteres bestreiten können, dass das Thema Islam sich inzwischen doch großer Aufmerksamkeit erfreut, dass das Interesse nicht alleine von Islamophobie, Verdacht, Feindseligkeit motiviert ist, dass sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaft, in einer engen Interaktion miteinander, Islam zu einem prominenten Gegenstand im integrationspolitischen Feld avanciert ist. Die Regierungsinitiative Deutsche Is-
D AS
STRITTIGE
K OLLEKTIV IM K ONTEXT
EINES
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lam Konferenz (DIK), die 2006 begann, legt ein beredtes Zeugnis davon ab. Sie ist die erste konzertierte Aktion in der Bundesrepublik Deutschland, den Islam in die integrationspolitische Debatte einzubringen. Ich betrachte die Islamkonferenz als eine Initiative zur Gruppenbildung, zur Schaffung eines spezifischen, nämlich repräsentablen Kollektivs der Muslime. Mit der Gruppenbildung, für deren Analyse ich weitgehend die Akteur-NetzwerkTheorie von Latour zu Hilfe nehmen werde, ziele ich nicht auf die Muslime überhaupt als eine prä-existente Gruppe. Noch bezeichnet sie einfach die bereits existierenden Moscheeverbände, die mit spezifischen Erwartungen und Notwendigkeiten in die DIK gegangen sind. Es handelt sich um die Konstruktion einer spezifischen Gruppe, nämlich des gesellschaftlich repräsentablen muslimischen Subjekts, das legitim im Namen der Muslime sprechen darf und dessen Konstruktion im Fokus diverser Programme steht. Im Folgenden werde ich mich zunächst mit den diskursiven Verschiebungen in der Thematisierung der „Fremden“ befassen (1). In einem zweiten Schritt folgen Informationen über die Geschichte und Struktur der DIK (2). Im Hauptteil der Beschreibung präsentiere ich die Kontroversen um die Gruppenbildung mit Hilfe der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) (3). Anschließend geht es um Kontroversen bei der Deutung der Integrationsprobleme (4) und Gewichtsverteilungen (5). Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung ab (6).
1. V OM „G ASTARBEITER ZUM „M USLIM “. Z UR DISKURSIVEN R EISE DER „F REMDEN “ Will man die Geschichte der Migration und damit die Geschichte der Migrationsforschung schreiben, wird man zunächst mit einer einfachen Frage beginnen müssen: Integrieren, aber wen: den Gastarbeiter, den Ausländer als den Türken/Italiener/Griechen, den Einwanderer, und schließlich den Muslim? Diese Bezeichnungen schließen sich nicht notwendigerweise, jedenfalls nicht kategorisch aus, sondern überlappen sich partiell. Gastarbeiter, Türke, Ausländer gehörten von Anfang an zusammen, Muslim dabei als unauffälliger Kumpan, der eher als Beiwort zur Verstärkung des Fremdheitseffektes heranzitiert wurde. In ihren diskursiven Formationen bilden sie bisweilen verschiedene Paare.
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Der Ausdruck Einwanderer paart sich ebenfalls gerne mit ethnischer Bezeichnung (türkische Einwanderer) und seit einiger Zeit mit religiöser Zugehörigkeit (muslimische Einwanderer), sperrt sich jedoch, eine Verbindung mit dem Gastarbeiter einzugehen. Diese beiden befanden sich tatsächlich in einem Existenzkampf um Bezeichnungshoheit, wobei der Einwanderer inzwischen den Sieg davon getragen hat. Die Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland bzw. Zuwanderungsland ist, betrifft unmittelbar die Bestimmung der Fremden als Gastarbeiter oder Einwanderer. Der Einwanderer ist allerdings auch gegenüber dem Ausländer nicht gut zu sprechen, akzeptiert ihn nicht als allgemein gültige Kategorie, duldet ihn aber für beschränkte, wohl definierte Sachverhalte wie die Frage der Staatsbürgerschaft oder in Teilen der empirischen Forschung, die dann jedoch schnell veraltet wirken kann. Der Ausländer als Bezeichnung für die Gesamtheit der Hinzugekommenen hat sich inzwischen weitgehend in den Volksmund zurückgezogen, wo der Begriff schon immer zu Hause war, während sich der Einwanderer sukzessive in der offiziellen Verfassung der Politik, Wissenschaft und Medien einrichtet. Muslim und Türke pflegen eine recht komplizierte Beziehung zueinander. Man könnte hier die Forderung aufstellen, dass beide Begriffe eigentlich klar voneinander geschieden werden müssen. Türke bezeichnet demnach die ethnische Herkunft von Personen, die aus der Türkei stammen,2 während mit Muslim unmissverständlich die Glaubenszugehörigkeit eben dieser Menschen angesprochen wird. Es gibt außerdem auch die Konvertiten, deutsche Muslime. Dieser Einwand wäre in Gänze berechtigt, wenn wir davon ausgehen könnten, dass die sozialen Konstrukte gehorsam dem begrifflichen Reinheitsgebot folgen würden. Das ist jedoch weder empirisch nachzuweisen noch theoretisch zwingend. Gruppenbildungen erfolgen in konfliktbeladenen Kontexten geschichtlich spezifischer Selbst- und Fremdbeschreibungen. Weder in der Selbstbeschreibung noch in der Fremdbeschreibung spielte diese Unterscheidung zwischen Religion und Ethnie lange Zeit eine besondere Rolle und noch immer ist eine saubere Unterscheidung in der Praxis schwer zu treffen. Andererseits scheint sich die Gewichtung derzeit mehr zugunsten der religiösen Beschreibung zu verschieben. Auch dies
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Die Bezeichnung Kurde hat sich davon zum Teil separiert und tritt inzwischen mit Eigenanspruch auf.
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versteht sich nicht von selbst, ist also nicht einfach so zu verstehen, dass eine missliche Vermischung von Ethnie und Religion nun endlich ihre gebührende Trennung erführe. Die Gewichtsverlagerung und Umdefinition des Milieus ist selber Produkt von verschiedenen Aktivitäten, von denen die DIK eine spezifische und die politisch prominenteste darstellt. Muslim steht aber auch in dieser neueren Situation nicht alleine für den Glaubensaspekt oder Kultus einer Bevölkerungsgruppe, wie eine saubere Trennung es vorsähe. Vielmehr definiert Kultus nunmehr die Bevölkerungsgruppe und übernimmt damit die Funktion einer ethnischen Bezeichnung. Keineswegs gestaltet sich die Beziehung zwischen Türke und Muslim ohne Spannungen zwischen den beiden. Obwohl sie zwar personell gesehen zum größten Teil identisch miteinander3 sind, eröffnet sich je nachdem, ob Türke oder Muslim das Objekt/Subjekt des Diskurses abgibt, jeweils ein anderer Raum für die Integrationsdebatte mit einer anderen Rahmung, anderen Akteurskonstellationen und auch unterschiedlichen thematischen Schwerpunktsetzungen. Wir können also nicht theoretisch vorab bestimmen, ob Muslim nur den Glaubensaspekt bezeichnet und damit lediglich eine bestimmte Gruppe von Forderungen enthält, oder als eine neue Rahmung zur Designation einer von der spezifischen Art von Forderungen relativ unabhängig bestehenden Bevölkerung namens Muslime fungieren wird. In diesem Sinne transformiert sich Muslim zu einer ethnischen Kategorie. Wenn Muslim nicht einfach den Glaubensaspekt (also den thematischen Gehalt) der Angelegenheiten einer Einwandererbevölkerung bezeichnet, sondern zugleich eine Re-definition der zu integrierenden Gruppe bedeutet, dann kann es durchaus sein, dass zum Teil auch die gleichen „Integrationsprobleme“ wie Bildung, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Sprache etc. die thematischen Gegenstände der Verhandlungen bilden, nur diesmal als die „Integrationsprobleme der Muslime“ adressiert werden. Diese performative Dimension kommt in einem Satz vom Innenminister Wolfgang Schäuble, dem Initiator und Hausherr der Konferenz, anschau-
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Ich bin mir dessen bewusst, dass der Muslim sich nicht nur aus Türken rekrutiert, sondern auch aus Arabern, Persern, Pakistanern etc. Das ändert allerdings nichts an meiner Argumentation, denn man kann sie ebenso gut auf die anderen ethnischen Gruppen ausweiten. Der Einfachheit und Gewohnheit halber spreche ich hier von Türken.
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lich zur Sprache, mit dem er sein Resümee der DIK auf der 4., also vorläufig letzten Plenumssitzung am 25. Juni 2009 in Berlin, abschließt. „Die Sprachlosigkeit und Distanz, die es in unserem Land lange zwischen der einheimischen Bevölkerung und den so genannten Gastarbeitern und ihren in Deutschland geborenen Kindern gegeben hat, ist überwunden. Ihre Eltern kamen meist in übervollen Zügen aus ihrer Heimat hier in Deutschland an. Heute, in diesem besonderen, der Kultur gewidmeten Bahnhofsgebäude können wir sagen: Sie sind bei uns, sie sind in unserer Mitte angekommen. In der neuen Heimat. Und gehören dazu.“ (Schäuble 2009)
Das Bahnhofgebäude ist ein symbolträchtiger Ort, um eine offizielle Geburtsanzeige für dieses Subjekt aufzugeben. Die Beschreibung von Schäuble drückt dabei nicht alleine die Reise der Wanderer aus, sondern auch die Reise der eingangs besprochenen Bezeichnungen, mit denen ihre Existenz jeweils markiert wurde. Die Reise beginnt als Gastarbeiter und ihre Kinder kommen als Muslime in der neuen Heimat an (vgl. Ezli 2011; Sowie Ezli in diesem Band: 190). So lautet das Motto der DIK: „Muslime in Deutschland – deutsche Muslime“ – darin ist zugleich die normative Zielvorgabe im Rückblick mit artikuliert. Im Folgenden werde ich die Kontroversen um die Konstruktion des gesellschaftsfähigen muslimischen Subjekts beschreiben, die im Rahmen der ersten Phase der DIK zwischen 2006 und 2009 stattgefunden haben. Die Repräsentation des Islam ist dabei nicht etwas, was sich auf das bestehende juridische Regime der Beziehungen zwischen dem Staat und den Religionen beschränkt. Nicht um die Repräsentation einer fertigen Gruppe geht es dabei, sondern um die Bildung dieser Gruppe überhaupt, was von vornherein ein erklärtes politisches Projekt war. Diese Entscheidung für die Analyse der Gruppenbildung anstatt der Gruppe4 greift auf die Annahme der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) zurück, dass nicht Ordnung die Regel ist, sondern Performanz, also die Arbeit an der Ordnung.
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Bei Latour und der ANT allerdings sind mit Gruppe nicht alleine die sozialen Bindungen gemeint, wie es hier der Fall ist, sondern jede Art von Assoziation von Dingen, Wissensgegenständen, und/ oder Personen. Im vorliegenden Text beschränke ich mich primär auf die Gefahr der Bagatellisierung der ANT, auf die „menschlichen Aktanten“.
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„Für Soziologen der Assoziationen ist die Regel Performanz, und das zu Erklärende, die erstaunlichen Ausnahmen, besteht in jeglicher Art von Stabilität über einen längeren Zeitraum hinweg und einem größeren Maßstab.“ (Latour 2007: 63).
Die Kernfrage der ANT bildet folglich den Ausgangspunkt der hier vorzunehmenden Fallanalyse der Assoziationen, die zur Herausbildung des muslimischen Kollektivs in dieser politischen Initiative hergestellt wurden: „How actors and organisations mobilise, juxtapose and hold together the bits and pieces out of which they are composed; how they are sometimes able to prevent those bits and pieces from following their own inclinations and making off; and how they manage, as a result, to conceal for a time the process of translation itself from a heterogeneous set into something that passes as a punctualised actor.“ (Law 1999: 6).
Um dies herauszustellen, muss man den Beteiligten folgen. Sie haben während der drei Jahre genügend Spuren in etlichen AG-Sitzungen, vier Plenumssitzungen und öffentlichen Erklärungen hinterlassen.
2. G ESCHICHTE
UND
S TRUKTUR DER DIK
„Es geht darum, die Zukunft miteinander zu gestalten“, betonte Dr. Wolfgang Schäuble, Initiator der Deutschen Islam Konferenz, im November 2006 zum Start der DIK. Dazu müssten Alltagsprobleme gelöst werden, gemeinsam islamistischer Terror bekämpft werden und es gehe auch darum, Arbeitslosigkeit und Bildungsbenachteiligung zu verringern. Genau diese Kombination zwischen Integration, Sicherheit und Religion macht es aus, dass, wie die Initiatoren des Öfteren wiederholen werden, es sich bei dieser Initiative nicht einfach um eine juridische Inklusion handelt, die dem Islam als Religionsgemeinschaft, sofern dieser die Bedingungen erfüllt, im Prinzip zustehe. Demnach ist die Zurückweisung der Identität, die zu Gewalt und Terrorismus führt, das, was man vermeiden sollte. Das durch die DIK präferierte Angebot ist im Grunde kompatibel mit der Wende, die sich in weiteren europäischen Ländern ebenfalls abspielte und mit ähnlichem Motiv unterlegt wurde: „Stärkung der muslimisch-deutschen Identität als
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Präventionsmoment“.5 Gleichwohl war man sich dessen bewusst, dass der Eindruck entstehen könnte, die DIK fände primär aus sicherheitspolitischen Motiven statt. Ohne hier verschiedene Motive voreilig in eine Hierarchie zu bringen, kann man sagen, dass die DIK zugleich eine Integrationsinitiative ist, wie sie ihren Ausdruck in dem zeitgleich ins Leben gerufenen Nationalen Integrationsgipfel gefunden hat. Warum neben dem Integrationsgipfel ein zusätzliches Programm benötigt wurde, bleibt eine wichtige Frage, die ausführlicher untersucht werden sollte, als ich hier anreißen kann. „Ich verbinde mit der Eröffnung des Dialogs mit den Muslimen die Hoffnung, dass alle verstehen, dass Muslime in Deutschland willkommen sind. [...] Zu den Wirkungen, die diese Konferenz haben soll, gehört natürlich auch, dass unsere Gesellschaft stärker zur Kenntnis nimmt, dass Muslime Teil dieser Gesellschaft sind. [...] Ich hoffe, dass es mit der Deutschen Islam Konferenz gelingt, nicht nur praktische Lösungen zu finden, sondern auch mehr Verständnis, Sympathie, Friedlichkeit, Toleranz und vor allen Dingen mehr Kommunikation und Vielfalt zu schaffen und damit zur Bereicherung in unserem Land beizutragen.“ (Schäuble 2006)
Unter dieser Zielsetzung fand 2006 die allererste Sitzung der DIK statt. Eine bunte Gruppe von Menschen war eingeladen, deren gemeinsamer Nenner allein der Islam war. Dazu gehörten erwartungsgemäß zunächst einmal muslimische Verbände. Dazu kam eine Reihe von Teilnehmern, die sich bisher nicht über glaubensbezogene Aktivitäten hervorgetan hatten, sondern sichtbar von Herkunft her mit dem Islam zu tun hatten, wie z.B. auch die Schriftsteller Zafer ùenocak und Feridun Zaimo÷lu, der Filmemacher Fatih Akın, der Unternehmer ùahin etc. Bereits in der Vorphase wurde die Muslimität nicht alleine vom Glauben (Islam a), sondern von der Herkunft aus (Islam b) definiert. Aus dem Kreise dieser ersten Kennenlernsitzung wurde
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Diese Politik geht vollauf konform mit der stärkeren Betonung sicherheitspolitischer Sorgen in der Integrationsdebatte auch anderswo, wie z.B. in Großbritannien (Tezcan 2007). Mark Chalil Bodenstein (2010) macht zurecht auf die längerfristigen institutionellen Strukturen und Konzeptionen staatlichen Umgangs mit kulturellen Minderheiten und Religion respektive Religionsgemeinschaften aufmerksam, behandelt aber die Verknüpfung von Prävention, Identität und Integration, wenn auch wichtig, doch eher als sekundär. Beide Faktorengruppen müssen dabei nicht notwendigerweise in Opposition zueinander stehen.
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dann eine Reihe von Teilnehmern ausgesucht. Die Entscheidungshoheit über die Auswahl oblag unmissverständlich dem Bundesinnenministerium (darunter auch dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BAMF). Diese Vorherrschaft, die zum Teil auch in der Themenwahl und Auswahl der Referenten ausgeübt wurde, wird vor allem von Seiten der „organisierten Muslime“ immer wieder kritisiert werden. Abbildung 1: Gesamtstruktur der DIK (2006-2009)
Quelle:http://www.deutsche-islam-konferenz.de/nn_1319016/SubSites/DIK/DE/ DieDIK/Struktur/struktur-node.html?__nnn=true (letzter Zugriff: 04.09.2009)
Die Struktur der DIK in der ersten Phase setzte sich aus zwei Teilen zusammen. Der eigentliche repräsentative Körper der DIK, der dann auch öffentlich auftritt, war das Plenum, das innerhalb der drei Jahre viermal tagte. Im Plenum wurden die Ergebnisse aus den Arbeitsgruppen präsentiert. Im Plenum saßen 15 staatliche Vertreter aus Bund, Ländern und Kommunen 15 muslimischen Vertretern gegenüber. In Plenumssitzungen erklärte sich die DIK der Öffentlichkeit, weshalb sie medialen Ereignissen gleichkamen. Dort wurden auch die Ergebnisse, also Vereinbarungen, Absichtserklärungen, Konsenspapiere, vorgestellt. Die Hauptarbeit und damit auch die Auseinandersetzungen fanden vorrangig in den Arbeitsgruppen statt.
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Abbildung 2: Struktur des Plenums
Quelle:http://www.deutsche-islam-konferenz.de/cln_117/nn_1319016/SubSites/ DIK/DE/DieDIK/Teilnehmer/teilnehmer-node.html?__nnn=true (letzter Zugriff: 04.09.2009)
Die Arbeitsgruppen6 beschäftigten sich mit den Fragen 1) Deutsche Gesellschaftsordnung und Wertekonsens, wobei vornehmlich die Ausarbeitung eines Kommuniqué zum Wertekonsens in Angriff genommen wurde; 2) Religionsfragen im deutschen Verfassungsverständnis, wobei vor allem der rechtliche Aspekt des Dialogs mit den Muslimen (Status der Religionsgemeinschaft, Religionsunterricht), aber auch praktische Empfehlungen (Schwimmunterricht, Moscheebauprojekte) verhandelt wurden; 3) Wirtschaft und Medien als Brücke, wobei einerseits das Islambild der Medien thematisiert, andererseits Vorschläge bezüglich Bildung, Ausbildung, Arbeitsmarkt entwickelt wurden. Neben diesen drei Arbeitsgruppen gab es einen Gesprächskreis zum Thema Sicherheit und Islamismus, der sich mit der „Bedrohung Deutschlands durch Islamismus und Terrorismus“ beschäftigte. Die Zusammensetzung der Arbeitsgruppen erfolgte ebenfalls vom Ministerium aus. Das Ministerium ließ sich zu keiner Zeit das Zepter aus der Hand nehmen. Aber auch die daraus entstandenen Konflikte über die Legitimität der Teilnehmer begleiteten die Konferenzen von Anfang an. In den AGs saßen 1) muslimische Dachverbände: Das sind zunächst die vier füh-
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In der zweiten Phase der DIK gibt es diese dauerhaften Arbeitsgruppen nicht mehr. Stattdessen sind „flexible Projektgruppen“ vorgesehen, die zu einem bestimmten Thema einberufen werden.
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renden konservativen Verbände: DITIB (Türkisch-Islamische Union), IRD (Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland), ZM (Zentralrat der Muslime) und VIKZ (Verband islamischer Kulturzentren). Hinzu kommt der AABF (Alevitenverband); 2) „nichtorganisierte Muslime“: Unternehmer wie ùahin, Publizisten wie Necla Kelek, Anwälte wie Seyran Ateú, Publizisten/Islamwissenschaftler wie Navid Kermani, nichtreligiöse Verbände wie TGD (Türkische Gemeinde in Deutschland) etc.; 3) staatliche Vertreter und nicht zuletzt 4) Wissenschaftler.
3. E LEMENTE
DER
G RUPPENBILDUNG
Die Deutsche Islam Konferenz als eine institutionalisierte Kontroverse über die Konstruktion des staatlich anerkannten muslimischen Kollektivs hat in ihrer relativ kurzen Laufzeit eine enorme Masse an Daten hervorgebracht, die sortiert werden muss. Um diese Aufgabe zumindest in einem ersten Zugang einigermaßen bewältigen zu können, möchte ich quasi schematische Anleihen von der ANT-Theorie machen. Wenn die Einheit bzw. Stabilität der Gruppe nicht von sich aus verbürgt wird, sondern auf Integrationsleistungen beruht, dann muss man diese Arbeit an Einheit aufzeigen können. Latour selbst hat dafür eine Minimalliste von Merkmalen, die in jeder Gruppenbildung mitwirken, zusammengestellt. Ich sortiere das Material entlang dieser Merkmale. 3.1 Vermehrung der muslimischen Stimmen „Um eine Gruppe abzugrenzen, ganz gleich ob sie ganz neu geschaffen oder bloß erneuert wird, braucht man Sprecher, die für die Existenz der Gruppe ‚sprechen’ […].“ (Latour 2007: 57)
Zunächst einmal ist die DIK nichts anderes als ein gewaltiges Unternehmen, dem Islam eine Stimme zu geben, ihn zum Sprechen zu bringen. Wie Latour es an gleicher Stelle vermerkt, sind Gruppen ein provisorisches Produkt eines „ständigen Lärms von Millionen widersprüchlichen Stimmen, die zum Ausdruck bringen, was eine Gruppe ist und wer zu ihr gehört“ (a.a.O.: 58). Auch der Islam existiert als der gemeinsame Referenzrahmen konkurrierender Angebote verschiedener Gruppen, die sich wiederum eben-
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falls aus vielen anderen konkurrierenden Stimmen zusammensetzen. Eine Regierung, die die multikulturelle Gesellschaft regieren will, kann sich mit dem „Stimmengewirr“ nicht abfinden. Nur, wen einladen, wer darf als legitimer Vertreter der Muslime sprechen, unter welchen Gesichtspunkten soll die Auswahl vorgenommen werden?7 Die Antwort scheint beim ersten Blick recht einfach zu sein: Wohl die muslimischen Dachverbände, die sich dezidiert über die Religion definieren, mit ihren Moscheen religiöse Dienstleistungen verrichten, mit der Forderung auftreten, bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht an den Schulen anzubieten etc. Von Anfang an war denn auch ihr Anspruch unmissverständlich, die Regierung möge doch mit ihnen als dem legitimen Vertreter der Muslime in Deutschland verhandeln, wie z.B. Köhler vom ZM es in einem internen Papier formulierte. Das wäre eventuell eher gegangen, wenn die DIK sich auf den Islam (a) beschränkt hätte. Ob und wie das überhaupt möglich ist, bleibt eine wichtige Frage, die jedoch bisher kaum8 gestellt worden ist. Gewöhnlich gehen denn auch Forscher, die über die Integration des Islam sprechen, von diesen Organisationen aus, wenn sie sich mit der Frage nach muslimischer Repräsentation befassen. Das Ministerium hat hier einen anderen Weg genommen. Es wollte die Stimmen des Islam vermehren, die öffentlich zu Wort kommen sollen. Damit ist nicht gemeint, dass die Regierung bzw. das Ministerium sich neue Muslime zusammenzimmerten,9 sondern anderen Stimmen zusätzlich zu öffentlichem Gehör verhalf – dies sicher nicht ohne strategische Absichten. Nicht nur die Moscheeverbände,
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Interessanterweise dreht sich die Debatte stets um die Frage nach dem „Wer“ der Repräsentation, obwohl immer schon auch die Frage nach dem „Worin“ der Repräsentation unausgesprochen mit klingt und mindestens genauso bedeutsam ist. Dass diese zweite Frage nicht explizit gestellt wird, liegt m. E. daran, dass der Muslim letztlich als eine ethnische Kategorie gebraucht wird. Es geht also nicht um themenbezogene Interessenvertretung, sondern um eine generelle Minderheitenvertretung.
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Das war jedenfalls meine Frage an die DIK in der AG1, wie sie sich begrenzen kann.
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Dieser Vorwurf kam z.B. von Köhler (eigene Notizen aus der Klausurtagung vom 26/27 März 2009 in Pommersfelden).
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sondern auch, wie es dann in der DIK genannt werden sollte, „Individualisten“ bzw. „nichtorganisierte Muslime“ wurden eingeladen.10 Zwei Gründe gaben dafür den Ausschlag: a) Die spezifische Verfasstheit des Islam erzeugt in den Staaten, die in Auseinandersetzung mit christlicher Kirchlichkeit ihre Religionsregime entwickelt haben, Kompatibilitätsprobleme; b) Politisches Kalkül der Organisatoren. a) Im Christentum war Heil und Repräsentation schon früh miteinander organisatorisch verbunden, diese Eigenart kam in der Gestalt der Kirche zum Ausdruck. In der bisherigen islamischen Geschichte hingegen war Repräsentation und individuelles Heil nicht organisatorisch verbunden. Dafür war und ist weiterhin Religion partiell in den Staatsapparat eingebunden. Eine Vielzahl von religiösen Gruppierungen existierte und strebte nach Macht und Einfluss ohne körperschaftlichen Status. In den europäischen Ländern hat der Islam seine Strukturen an das für ihn neue Religionsregime adaptieren müssen. Bereits die Form Moscheeverein, will man es in den Begriffen der Integrationssoziologie ausdrücken, zeugt von einer „strukturellen Assimilation“ auf der Ebene der „Systemintegration“ (nach dem Modell von Esser 2009). Es ist eine unspektakuläre Assimilation, die niemanden ärgert, sondern sich einfach quasi-natürlich vollzieht. Die Moscheen, die bislang keine repräsentative Funktion im politischen Sinne hatten, müssen nun als repräsentative Körperschaften im Namen des Islam auftreten. Moscheen unterscheiden sich voneinander fortan qua religiös-weltanschaulicher Orientierung. Das tun sie denn auch und streben seit längerem den Status der Religionsgemeinschaft an, und darüber hinaus wollen sie schließlich als Körperschaft des öffentlichen Rechts (Status der Kirchen und des Zentralrats der Juden) anerkannt werden. Dieser rechtliche Status ist übrigens das, was sich die Moscheeverbände von der DIK versprachen. Sie wollten über die DIK dem Ziel einer staatlichen Anerkennung näher kommen. In der Abschlusserklärung erging dann auch tatsächlich eine Empfehlung der DIK an die Adresse der Bundesländer. Zu mehr reichte es vorerst nicht, da ja eigentlich nicht der Bund, sondern die Länder für die rechtliche Anerkennung des Islam, also auch für staatskirchenrechtliche Verträge zuständig sind. Allein schon dieser Um-
10 Dieser Gruppe habe ich mich in einem später erschienen Beitrag ausführlich gewidmet (Tezcan 2011).
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stand macht auf die spezifische Form des Integrationsprozesses aufmerksam. In jedem Fall hat die DIK die muslimischen Verbände dazu angestoßen, sich zusammenzutun, um einen gemeinsamen Ansprechpartner aufzustellen. Kurz nach dem Start der DIK haben die vier konservativen Dachverbände sich unter dem Dach „Koordinierungsrat der Muslime“ (KRM) zusammengefunden. b) Der zweite Grund für die spezifische Konstruktion der DIK betrifft die politische Orientierung der muslimischen Organisationen, die im Namen des Islam sprechen wollen. Sie sind allesamt bekannt als konservativ in ihrer Orientierung, vertreten jedenfalls eine bestimmte islamische Religiosität, die denn auch mehr oder weniger in die verschiedenen Konflikte wie um Kopftuch, Nichtteilnahme am Sport- und Schwimmunterricht, an der Klassenfahrt etc. verwickelt ist. Die Regierung versprach sich hier Moderation der Konflikte durch Stellungnahmen, die den konservativen Verbänden abgerungen werden sollten, welche wiederum durch die Individualisten (auch diese sind äußerst heterogen) kritisch flankiert wurden. Neben der spezifischen Religiosität spielte außerdem die politische und personelle Herkunft der Organisationen eine Rolle, wie z.B. die Diyanet Türkisch-Islamische Union (DITIB), die strukturell verbunden mit der türkischen Religionsbehörde ist, und die Milli Görüs aus einer islamistischen Tradition in der Türkei hervorgegangen ist. Im Zentralrat der Muslime sitzen wiederum mehrheitlich arabischstämmige Gruppierungen. Um aus dieser Zwickmühle zwischen dem Bedarf an Repräsentanten einerseits und dem Mangel an Strukturen sowie der Erwünschtheit der Repräsentanten andererseits herauszufinden, hat sich das Ministerium bei der Auswahl der Teilnehmer von einer doppelten Repräsentationslogik leiten lassen: Einmal geht es um die klassische Repräsentation nach Zahl bzw. Größe. Gemäß Schätzungen ist ein geringer Teil aller Muslime Mitglied in den Organisationen.11 Darum erhielten sie denn auch 5 von den 15 muslimischen Mandaten für das Plenum. Für den Rest der Teilnehmer, etwa 10 an der Zahl, folgte das Ministerium allerdings einer anderen Repräsentationslogik. Diese sollten die „schweigende Mehrheit“ der „nichtorganisierten Muslime“ repräsentieren. Die Überlegung scheint recht einfach zu sein: Die organisierten Muslime werden von den Organisationen vertreten, die nicht-
11 Darauf deutet auch der Befund der Studie Muslimisches Leben, hrsg. vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2009: 167ff.
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organisierte Mehrheit soll von den nicht-organisierten Individuen vertreten werden. Wie sich aber später herausstellen sollte, besteht die Schwierigkeit nun darin, dass, während die Beziehung zwischen den Mitgliedern und ihren religiösen Organisationen überprüfbar ist, die Beziehung der nichtorganisierten Muslime zu der „schweigenden“ breiten Masse nur auf Mutmaßung basiert. Besonderes Aufsehen erregten unter diesen vor allem Teilnehmer wie Necla Kelek und Seyran Ates, die in der Öffentlichkeit eigentlich lange als „Islamkritikerinnen“ beehrt worden waren – sie selber beschreiben sich eher als „kritische Muslima“.12 Die Schwierigkeit rührt nun daher, dass die Regierung die Muslime repräsentiert wissen, dabei eine breite Palette von Stimmen erreichen will, darunter auch die „schweigende Mehrheit“. Damit treibt die Regierung, um es polemisch auszudrücken, im Grunde eine Art „Politisierung von Religion“. Dabei erhält community representation immer stärker die Gestalt religiöser Repräsentation. Wenn diese Mehrheit vertreten werden soll, muss sie sich zu Wort melden, also sich irgendwie organisatorisch verfassen und damit den Schweigestatus verlassen. Seyran Ateú selbst hat es in ihrer Rede auf dem Abschlussplenum formuliert, dass die nichtorganisierten, so paradox es auch klingen mag, sich doch organisieren müssen.13 Dennoch: Wer sich gegenwärtig als Sprecher gemäß einer konventionellen Repräsentationslogik anbietet, sind die Organisationen.
12 Der Schriftsteller Feridun Zaimo÷lu trat demonstrativ unter Protest zurück, da keine muslimische Frau mit Kopftuch vertreten war. 13 „Ich habe gelernt, dass eine Regierung, die Politik, Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen benötigt. Die säkularen Muslime sind aber nicht organisiert. Das stimmt! Weil es dem Verständnis, dem Selbstverständnis der säkularen, fortschrittlichen, modernen, zeitgemäßen – wie auch immer sie sich bezeichnen oder bezeichnet werden – Muslime und Musliminnen widerspricht. […] Nichtsdestotrotz sehen immer mehr säkulare Muslime, dass sich daran etwas ändern muss. Denn der Islam kann und darf nicht den existierenden Verbänden überlassen werden.“ (Ates, 2009: 2).
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3.2 Die religiöse oder die ethnische Stimme? „Wenn irgendeine Bindung betont wird, so erfolgt stets ein Vergleich mit anderen konkurrierenden Bindungen.“ (Latour 2007: 59).
Zunächst einmal steht fest, dass das zum Sprechen zu bringende Kollektiv als ein muslimisches sprechen soll. Wir haben gesehen, dass es der DIK nicht einfach darum zu tun ist, den Islam als einen weiteren thematischen Interessensbereich einer Migrantenbevölkerung einzubringen (bekannte religiöse Fragen wie Moscheebau, Religionsunterricht etc., die denn auch primär in der AG2 behandelt wurden), sondern zugleich der Migrantenbevölkerung abverlangt wird, mit einer muslimischen Stimme zu sprechen. Die Umdefinition der Gruppe erfolgt in Abgrenzung zu anderen „Sprachen“. Dabei geht es zunächst einmal um die ethnische Stimme, die zum Schweigen gebracht, vielleicht skandalisiert werden muss, damit die Teilnehmer überhaupt als Muslime, und zwar als deutsche Muslime sprechen können. Beanstandet wird deshalb, dass wir hier mit einem türkischen, arabischen, persischen Islam zu tun hätten, was wiederum die Integration hindere. Erst ein deutscher oder ein (wie Tibi zuvor auf einer Sitzung der AG 1 betonte) europäischer Islam sei imstande, ein Teil dieser Gesellschaft zu sein. Somit ergibt sich auch der erste Hinweis auf die in der DIK kursierenden Integrationskonzepte: Eine identifikative Integration möge demnach den Weg über Religion nehmen, um am Ende als „deutsche Muslime“ anzukommen, die endgültig den Gastarbeiterstatus abgelegt haben. Hier können wir das Ausmaß, das die Wende im Multikulturalismusdiskurs genommen hat, genauestens beobachten. Es geht nicht mehr um Türken, Araber oder Perser, sondern um die Gruppe der „Muslime“. Es ist übrigens eine normative Orientierung, die von keiner der beteiligten Gruppen explizit in Frage gestellt wurde. Auch dann nicht, als bspw. Bassam Tibi in seinem Vortrag vor der AG 1 so offensiv den positiven Bezug der Türken auf ihre ethnische Zugehörigkeit als das größte Integrationshindernis identifizierte (Ergebnisprotokoll der 2. Sitzung vom 15.01.2007).14 Ernsthaft müsste man
14 Seine Einsicht resultiert aus einem Gespräch mit einem türkischen Taxifahrer. Auf diese Weise kann man sich offenbar die allzu aufwendige Integrationsforschung sparen.
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fragen, ob nicht die ethnische Herkunft quasi die Rolle eines „Sündenbocks“ erhielt, der geopfert werden muss, damit die neu imaginierte, national integrierte Gemeinschaft ihre Einheit zelebrieren kann. Auch wenn diese Umschreibung den Eindruck vermittelt, dass sich hier zwei reine Kategorien für zwei Typen von Bindungen (Türke vs. Muslim) gegenüberstünden, bekommt man beim genaueren Hinsehen ein anderes, weitaus komplexeres Bild. Dabei erscheint allerdings die ethnische Bindung (hier ist die DIK pragmatischer als Bassam Tibi) nur insofern problematisch, als dass sie die religiöse Zugehörigkeit in ihrer spezifischen, aus der Sicht der Regierung problematischen Formation mit impliziert. Problematisch ist demnach eine muslimische Religion, die ihre Wurzeln, Orientierung und organisatorische Bindung in der Türkei oder woanders hat, insofern sie ein türkischer oder arabischer Islam ist, der sich darum zu einem deutschen Islam transformieren soll. Auch aus der Sicht der einzelnen Teilnehmer(-gruppen) existieren diesbezüglich komplexe Verhältnisse. So müsste im Grunde die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD) sich als qua ethnischer Identität definierte Organisation in Existenzwidersprüche verstricken. Der Islam von Kenan Kolats TGD (Türkische Gemeinde in Deutschland) oder der private Islam von der Individualistin Ezhar Cezairli begründen jedoch kein Misstrauen. Es ist deshalb bei aller groben Gegenüberstellung von Ethnie und Glauben nicht einfach ihre ethnische Orientierung, die mit Blick auf Religion mit einer erklärt säkularen Selbstbeschreibung zusammengehört, sondern die konservative religiöse Orientierung der Moscheeverbände, deren transnationaler Bezug eben wegen der inhaltlichen Orientierung ihrer Lehre zum Problem wird. Bei diesen scheinen eher die konservative Religiosität und die fremde Herkunft sich gegenseitig in der Erzeugung des Misstrauens zu verstärken. Die DITIB (Türkisch-Islamische Union) führt tatsächlich das Türkische nicht nur im Namen, sondern ist auch organisatorisch verbunden mit der Türkei durch Konsulate. Einige Individualisten (z.B. Necla Kelek) kritisieren an muslimischen Dachverbänden deshalb, diese würden einem nicht europäischen, nicht aufgeklärten, nicht deutschen Islam anhängen. Die Sache wird aber noch eigentümlicher, wenn Beziehungen zum Ausland nicht mehr nur vom Ministerium oder von den Individualisten kritisiert werden, sondern umgekehrt gerade von einem muslimischen Verband dem Ministerium vorgeworfen werden. Denn anders als bei der offiziellen Ziel-
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vorgabe (Muslime made in Germany), kooperiert die DIK und auch das Ministerium durchaus mit dem ausländischen Islam. So warb Schäuble auf einer Auslandsreise nach Ägypten und Syrien am 20. Juni 2009, wenige Tage vor dem 4. Plenum, für seine Islamkonferenz (Hermani 2010: 100). Ebenfalls gilt das für die Zusammenarbeit mit der Diyanet, der türkischen Religionsbehörde. Mit dieser Form der Gruppenbildung ist aber nicht jeder Verband einverstanden; die Betonung auf „deutsche Muslime“ kann sogar von Teilen der Teilnehmer gegenüber den Initiatoren selbst in Anschlag gebracht werden. Der Zentralrat der Muslime verdächtigte genau in diesem Sinne den Innenminister, mit der türkischen Religionsbehörde zu liebäugeln, um der DITIB bei dem Repräsentationswettbewerb Vorzug zu gewähren. „Wir sollten uns auch über die Entwicklung des Islams und der Muslime in Deutschland Sorgen machen. Wünschenswert wäre wohl für alle in Deutschland ein (ohne den Islam zu verbiegen) vom Ausland – ausländischen Regierungen oder im Ausland gewachsenen Ideologien – unabhängiger, eigenständiger Islam. Schon die Bevorzugung einer der vier hier vertretenen islamischen Religionsgemeinschaften, wie Innenminister Schäuble in einem taz-Interview angedeutet hat, wäre in diesem Entwicklungsprozess kontraproduktiv – ganz abgesehen davon, dass damit die erreichte Einheit der Muslime zerstört wird.“ (Köhler 2009)15
Hier können wir zusammenfassend drei Ergebnisse präsentieren: 1) Wir sehen, wie die Vermehrung der Stimmen auf der einen Seite (Muslime unterschiedlicher Orientierung) dazu tendiert, die ethnischen Stimmen zu entwerten oder zumindest zu neutralisieren. Die DIK verschiebt die Ebene des legitimen Sprechens von der ethnischen bzw. (alten) nationalen Bindung hin zu einer religiösen, die wiederum in der (neuen) nationalen Orientierung („deutsche Muslime“) legitimiert wird. 2) Die ethnische Bindung wird jedoch insofern explizit problematisiert, als sie sich mit der Variante des konservativen Islam trifft, und nicht die ethnische Stimme der Individualisten betrifft, wobei diese sich inzwischen gezwungen sehen, stärker in dem auf die Religion hin verschobenen Diskurs mitzumachen. 3) Allerdings wird man auch diesbezüglich nicht von einem Prinzip sprechen können. In
15 Redebeitrag auf dem 4. Plenum. Köhler hatte diese Sorge auch an die Bundeskanzlerin Merkel bei dem Empfang im Kanzleramtgebäude herangetragen.
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der Praxis wird die Regierung, das macht wohl die gouvernementale Rationalität aus, die weniger ideologisch als vielmehr experimentell operiert, entsprechend dem Handlungsbedarf erheblich variationsreich auch auf die türkische oder arabische Karte setzen. 3.3 Abgrenzungen „Wenn Gruppen gebildet oder umverteilt werden, suchen ihre Sprecher ziemlich verzweifelt nach Wegen, sie zu definieren, das heißt abzugrenzen.“ (Latour 2007: 60)
Auf welche Weise definieren nun die einzelnen Akteure ihrerseits dieses intendierte muslimische Kollektiv und wie markieren sie ihre Differenzen innerhalb der intendierten Gruppe selbst? Zunächst einmal muss erwähnt werden, dass ohne die Regierungsinitiative die verschiedenen Akteure nicht als dieses muslimische Kollektiv zusammengekommen wären.16 Auch während der DIK wurde eine Semantik gepflegt, die die Legitimität der anderen anzweifelt. „Islamkritiker“, gar bisweilen „Islamfeinde“ sind jedenfalls Bezeichnungen aus den Reihen des ZM und IRD für einige nichtorganisierte Muslime. Für diese wie Kelek oder den Alevitenverband wiederum sind die Moscheeverbände Teil des Problems, und diese wollten sich lediglich auf die Position „Gesetzestreue“ zurückziehen, was jedoch für eine echte Integration nicht reiche. Schließlich verdichtete sich die Frage nach dem Gemeinsamen in der Ausarbeitung des Wertekonsenses, der ein explizites Ziel der AG 1 war. Für die Regierungsseite steht zunächst einmal fest, dass der freiheitlichdemokratische Staat mit seiner säkularen Ausrichtung in die inhaltliche Bestimmung der Religion nicht eingreifen kann. Ein Gläubiger kann innerhalb des gesetzlichen Rahmens sogar einen fundamentalistischen Islam pflegen.17 Ob der Staat mit ihm verhandeln will, ist eine andere Frage. Dennoch lud das Ministerium möglichst viele religiöse Richtungen ein, darunter
16 Als Leistung der DIK würdigt daher Seyran Ateú auf der 4. Plenumssitzung, dass sie und Ali Kizilkaya vom Islamrat nebeneinander sitzen (2009: 3). 17 Eigene Notizen aus der Klausurtagung vom 26./27. März 2009 in Pommersfelden.
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selbst die Milli Görüs, die von ihrem Verfassungsschutz als extremistisch eingestuft wird und unter Beobachtung steht. Vor allem in der AG 1 sollten die Grundlagen der deutschen Rechts- und Werteordnung den Muslimen vermittelt werden. In diesem Sinne ist die DIK ein Aufklärungsprojekt, das durch die Regierung an die Muslime herangetragen wird. 18 Vertreter der säkularen Muslime19 bzw. kritische Muslime (Kelek) gehen mit dieser Forderung konform. Das „formelle Bekenntnis“ zum Grundgesetz reiche hier keineswegs aus. Über die „Rechtstreue“ hinaus müsse man die im Grundgesetz verankerten Werte auch in seinem Leben praktizieren. Auch vonseiten der Aleviten wird unterstrichen, dass mehr als nur Gesetzestreue gefordert sei: „Wir Aleviten sind nicht nur rechtstreu, sondern wir stehen auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.“ In der Stellungnahme der AABF werden noch Verbände aufgefordert, „aktiv gegen antiwestliche, antisemitische Tendenzen vorzugehen“.20 Demgegenüber ziehen sich Moscheeverbände auf eine spezifische Variante des Verfassungspatriotismus zurück. Ein Bekenntnis zur Werteordnung des GG und tatsächliche Gesetzestreue müssten demnach ausreichend für Vertrauenswürdigkeit sein. In der Stellungnahme des IRD wird ausdrücklich betont, dass „der gesamtgesellschaftliche Konsens ausschließlich ein Verfassungskonsens sein (kann)“.21 Wir können hier jedenfalls festhalten, dass der Definitionskampf primär über Bekenntnis zu Rechts- und Werteordnung ausgetragen wird. Gleichwohl sind die jeweiligen Ausschließungswünsche nicht symmetrisch: Die
18 Das scheint wiederum die These von Asad zu unterstützen: „Europe cannot integrate the Muslims as they are. It can include them only by transforming them into European” (2003: 171). Dabei ist das, was Asad, nicht ohne einen enthüllenden Gestus, in analytischer Manier rekonstruiert, ein erklärtes, positiv gemeintes Programm in Europa. 19 Obwohl die Formulierung in sich paradox ist, da diese ihren Glauben als privat verstehen und sich auch in der vorrangigen Behandlung der Religion nicht wohl gefühlt haben, verwende ich sie hier. Sie sind tatsächlich mit dieser Vertretungsfunktion präsent in der DIK. 20 Stellungnahme der Alevitischen Gemeinde Deutschland, internes Papier vom 17.06.2008: 2. 21 Stellungnahme des Islamrats für die Bundesrepublik Deutschland, internes Papier vom 15.08.2008: 7.
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Aleviten und Individualisten setzen eher auf Selbstkritik vonseiten der konservativen Verbände, dass nämlich die Ideologie von Verbänden durchaus für Missstände mit verantwortlich sei. Dennoch wollen und können sie nicht auf die Teilnahme der konservativen Verbände verzichten. Eine Islamkonferenz ohne die größten muslimischen Verbände, die auch den Namen Islam führen, wäre sicherlich nicht denkbar. Umgekehrt lassen die Moscheeverbände keinen Zweifel daran, dass sie mit der Teilnahme der (oder mancher) Individualisten nicht einverstanden sind. Die Ausschließungsbedürfnisse sind daher unterschiedlich. 3.4 Die Wissenschaft sitzt mit im Boot! „Viertens gehören zu den vielen Sprechern, welche die dauerhafte Definition von Gruppen ermöglichen, ebenfalls Sozialwissenschaften, Sozialstatistiken und Journalismus.“ (Latour 2007: 61)
Bei diesem Punkt möchte ich mich auf die Rolle der Sozialwissenschaften in der Konstruktion des muslimischen Kollektivs beschränken. Wissenschaft war auf unterschiedliche Weise von Anfang an in dem Prozess beteiligt: a) Zunächst einmal sind Wissenschaftler ein struktureller Teil der AGs. So griffen sie mit ihren Klärungen und Konzepten, die mit dem Gewicht der „Wissenschaft“ auftreten, unmittelbar in die Verhandlungen ein, selbst wenn sie sich bei Abstimmungen oder Beschlüssen zurückhielten. Bspw. das Integrationskonzept von Professor H. Esser und die Migrationsforschung von K. Bade wurden von den Moscheeverbänden aufgegriffen, da hier statt von Religion „soziale Ursachen“ wie Bildung, Ausbildung, Arbeit in den Vordergrund gerückt werden. Entsprechend kam auch Kritik von der anderen Seite (s. nächstes Kapitel in diesem Beitrag). Für N. Kelek war, wie sie es in ihrer Rundmail an die Teilnehmer der AG 1 vom 11. Januar 2007 formulierte, gerade die von Bade vertretene Migrationsforschung mit verantwortlich dafür, dass der schlechte Integrationsstand vieler Türken bisher nicht entsprechend thematisiert werden konnte. b) Wissenschaft war auch beteiligt durch die Arbeitsform, da die Sitzungen weitgehend wie wissenschaftliche Konferenzen durchgeführt wurden, wo Beiträge von den eingeladenen Referenten, meistens Wissenschaftlern, zu spezifischen Themen gehalten wurden.
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c) Allein über die wissenschaftlichen Teilnehmer ex officio ist das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Praxis nicht zu entwirren. Auch die „authentischen“ Akteure sind wissenschaftlich nicht unbeleckt. Viele von ihnen haben studiert, nicht wenige tragen einen Doktortitel, manch einer ist Islamwissenschaftler. Selbst die „Praktiker“ (wie z.B. ein Schuldirektor), die dann aus dem „realen Leben“ berichten sollten, hielten mitunter Vorträge (selbstverständlich mit PowerPoint), die auf erziehungswissenschaftliche Ansätze zurückgriffen. d) Zudem holten sich die Verhandlungspartner jeweils wissenschaftlichen Sachverstand ein. Die Regierungsseite besitzt ohnehin einen immensen Apparat von Beratern. Aber auch Verbände und die Individualisten zogen da rasch mit. Ihre Stellungnahmen vermitteln inzwischen ebenfalls den Eindruck von professioneller Aufbereitung. e) Auch auf der Produktseite ist die Wissenschaft auf eine prominente Weise vertreten. Mit der von der DIK in Auftrag gegebenen Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ sollte überhaupt erst genaue Auskunft über den Gegenstand erhalten werden. So wurde wiederum der Befund, dass nur ein geringer Teil Mitglied der Organisationen ist, als Argument dafür in die Debatte zurückgeholt, dass die Dachverbände nicht alleinigen Vertretungsanspruch erheben dürften. f) Die kategoriale Generalisierung und Homogenisierung durch wissenschaftliche Konzepte bzw. Studien, nämlich die Versammlung von Arabern, Türken, Persern, Pakistanern, Bosniern etc. unter dem Dach Muslime, geht nicht nur konform mit der Identitätszuschreibung, die von der DIK aus geht, sondern verstärkt diese geradezu.
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4. K ONTROVERSEN UM DIE N ATUR DER I NTEGRATIONSPROBLEME : S OZIALE ODER RELIGIÖSE U RSACHEN ? In meinen bisherigen Ausführungen wurden bereits erste Hinweise auf die zirkulierenden Integrationskonzepte gegeben. Wissenschaftliche Konzepte waren Teil der Auseinandersetzungen und fanden auch je nach Bedürfnis entsprechende Rezeption. Die von Hartmut Esser vorgetragene These, dass sich die moderne Gesellschaft nicht über Werte integriert, wurde besonders von den konservativen Verbänden freudig aufgenommen, deren Kompatibilität mit der Moderne von den Individualisten und Aleviten grundsätzlich in Frage gestellt wird. Hier sieht man noch einmal, warum eine empirische Forschung sich auf alle Fälle lohnt, um die Vielfalt der Positionen, aber auch Überraschungen in den Blick zu bekommen. Die konservativen Verbände unterstreichen gewöhnlich ihre organisatorische Legitimität durch den Rekurs auf Wertevermittlung; überhaupt messen sie der Moral eine zentrale Rolle bei der Integration der Gesellschaft zu. Genau mit dieser Moralfixierung wird auch in den muslimisch geprägten Ländern die Pluralisierung der Lebenswelten mit religiöser Begründung beargwöhnt. Diese Beobachtung übrigens steht m. E. hinter den Vorwürfen der Individualisten und Aleviten gegenüber den konservativen Verbänden; dasselbe befürchten sie in den Migrantenmilieus in Deutschland. Unsere Analyse muss diese Befürchtung als einen weiteren Materialbefund in dem Prozess der umstrittenen Kollektivbildung registrieren, sie darf ihr aber selbst nicht folgen. Für unsere Beschreibung ist die Beobachtung von besonderer Relevanz, dass die Akteure sich je nach der Verkettung von Beziehungen anders positionieren bzw. gewissermaßen andere Akteurszusammensetzungen eingehen - und dadurch zu diesen spezifischen Akteuren werden. Konservative muslimische Verbände finden in der Integrationsdebatte zwar sicher auch partiell Anschlüsse an die konservative Wertedebatte (vor allem wenn es um Familie geht). Andererseits kann man hier nicht einfach von einer automatischen Passung sprechen, da die konservativen Gruppen bei anderen Belangen wie hier bei der DIK durchaus eher an die Konzepte anschließen, die gerade dezidiert von der Werteproblematik absehen. Dies will ich kurz anhand eines konkreten Beispiels darstellen. Im Rahmen der DIK hatte die AG 1 einer Berliner Schule, wo die Schülerschaft mehrheitlich aus Einwandererfamilien stammt, einen gemeinsa-
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men Arbeitsbesuch abgestattet. Bei dem Besuch hatten die Lehrer über den Zustand in der Schule geklagt. Zur von ihnen als dramatisch geschilderten Situation gehörte u.a., dass muslimische Schüler u.a. die englische Sprache als „Christensprache“ beschimpften, Sportunterricht- und Schwimmunterricht nicht besuchten, sich weigerten, in der Mensa zu essen, und antisemitische Sprüche klopften. Die AG 1-Mitglieder wurden anschließend vom Ministerium aufgefordert, Stellung zu den Erkenntnissen aus dem Besuch zu nehmen. Auch hier gingen die Positionen weit auseinander. Während man auf der einen Seite (primär die Moscheeverbände) von den „typischen Integrationsproblemen“ sprach, die mit der Religion nichts zu tun hätten, und dabei den Lehrern Inkompetenz anlastete, pflichtete die andere Seite den Lehrern vollauf bei und sah in den dargestellten Problemen gar die Mitschuld der konservativen Verbände bzw. ihrer Version des Islam. Hiermit wiederholte sich die integrationssoziologische Debatte nun um die Frage, ob es sich um soziale Konflikte oder religiöse Konflikte handelt. Selbstverständlich war die Ursachenzurechnung mit Schuldzuweisung verbunden: Sofern es dabei um „soziale Probleme“ geht, handelt es sich um Versagen oder zumindest mangelnde Angebote seitens der Mehrheitsgesellschaft. Wenn aber Religion konfliktfördernde Effekte hätte, wären demnach Organisationen haftbar zu machen. Auch hier sieht man den tiefen Graben, der die Teilnehmer der DIK trennt.
5. ABHÄNGIGKEITEN , G EWICHTE , WIDERWILLIGE F ÜGUNG Die DIK war in ihrer Kombination sicher keine Liebesehe zwischen den Teilnehmern. Was sie zusammenbrachte, war zunächst einmal die Initiative des Ministeriums. Es wurde ein Impuls gegeben, mit dem eine diskursive Rahmung geschaffen wurde, in der die Verhandlungen um Integration und Religion zusammengeführt wurden. Dem konnte sich keiner, der öffentlich mitsprechen wollte, ohne Weiteres entziehen. Für die relevante Subjektform, die für Türken, Araber und Perser in Frage kommen sollte, war damit zugleich die religiöse Identität vorteilhaft ausgestattet. Wer eine Sprecherposition in dem auf Muslime zugespitzten Integrationsdiskurs besitzen wollte, durfte sich dem Regierungsdialog nicht entziehen. Innerhalb dieses
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zusammengefügten Kollektivs waren allerdings Gewichte und Abhängigkeiten unterschiedlich verteilt. Prinzipiell kann jeder Muslim (das ist gewissermaßen auch innerislamisch zu rechtfertigen) auf den Islam rekurrieren, aber weder innerhalb des religiösen Diskurses noch im öffentlichen Diskurs über die Repräsentation des Islam mit der gleichen Macht. Necla Kelek kann bspw. niemand absprechen, als „kritische Muslima“ zu sprechen. Und diese Position des kritischen Muslims kann sich im öffentlichen Diskurs Chancen einrechnen, Gehör zu finden, die auf diese Art und Weise z.B. Ali Kizilkaya von der Milli Görüs nicht zur Verfügung stehen. Andererseits bringt Kizilkaya etwas mit in die DIK, was seine Kritiker nicht besitzen. Dies ist deshalb so, weil der Islam nicht einfach eine Identität ist, auf die sich jeder mit gleichem Recht berufen kann und die sich in den Worten und Programmen niederschlägt. Islam ist auch schlicht und einfach ein Gebäude, der physische Raum, wo sich Menschen versammeln. Moscheeverbände sind deshalb für die Politik Ansprechpartner, weil sie zugleich Moscheeverbände sind. Dies verleiht ihnen eine besondere Gewichtung in der Zusammensetzung der DIK. Ohne die Moscheen hätte es eventuell keine DIK gegeben. Sie sind Versammlungsorte, wo Mensch, rituelle Praxis und Idee zusammenkommen. Aus der Perspektive der Gouvernementalitätsforschung betrachtet, eignen sie sich besonders dafür, dem ‚diffusen‘ Milieu der Muslime (als Bevölkerung) eine transparente, darum regierbare Struktur zu verleihen, die das Sicherheitsdispositiv als politische Technologie erfordert. Einerseits werden dort Risiken vermutet, andererseits kann man diese Risiken dort lokalisieren und präventiv gegen sie mit Hilfe der klaren Autoritätsinstanzen wie der Moscheeleitung und der Imame (angedacht als Instanzen von Pastoralmacht) operieren. In der Sprache der ANT ausgedrückt, gehören sie als Gebäude und Orte unmittelbar in die Konstitution des muslimischen Kollektivs. Damit ist wiederum nicht schon gesagt, dass diese Strategie auch gemessen an eigenen Zielen tatsächlich aufgeht. Natürlich gibt es auch andere Plätze wie z.B. die Schule, die ja bei der DIK eine zentrale Rolle spielte. Aber auch sie ist mit der Moschee verbunden, da es offenbar um den besorgniserregenden Zustand der Schüler geht, die die Moscheen besuchen. Da sie, zumindest so der Verdacht, auch Negatives aus der Moschee bringen, soll nun die Politik an der Moschee ansetzen, um die Menschen dort zum Guten hin zu versammeln. Mit ihren schweren Bauten, den vielen Räumen, erkennbaren Zeichen wie Minarett
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und Gebetsruf, sitzt die Moschee exakt im Zentrum der DIK. Jedoch nicht alleine! Ihr gegenüber sitzen die Gebäude des Innenministeriums und des BAMF mit ihren strengen Ausweiskontrollen. Man muss erst eine Einladung besitzen, um an der Konstruktion des Kollektivs mitarbeiten zu dürfen. Man muss an der Tür seine Identität nachweisen. Alle anderen Bestandteile des Kollektivs gruppieren und positionieren sich gewissermaßen um diese Entitäten. Dies war übrigens auch in der eingespielten Sitzordnung der AG1-Sitzungen zu beobachten. Obwohl keine zwingende Sitzordnung bestand, hatte sich eine solche schnell etabliert, sodass meistens die drei Mitglieder der KRM (ZM, IRD, DITIB, manchmal auch VIKZ) als Verhandlungspartner exakt gegenüber der Diskussionsleitung aus dem Innenministerium und dem BAMF saßen. Die anderen verteilten sich im Raum. Der eigenen Zentralität bewusst drängten die Moscheen darauf, als die alleinigen oder zumindest wichtigsten Verhandlungspartner betrachtet zu werden. Bei allem Unmut, den sie gegenüber anderen Teilnehmern zeigten, zogen sie sich jedoch aus der DIK nicht zurück. So hätten sie nämlich den Vorwurf bestätigt, dass sie die Pluralität des Islam nicht akzeptieren wollten. Hätten sie außerdem das Integrationsangebot nicht angenommen, stünden sie dann als „Integrationsverweigerer“ im Kreuzfeuer der Kritik. Und schließlich waren sie zum ersten Mal zu einer einmaligen Regierungsinitiative eingeladen, die sich mit Islam befasste. Damit waren sie denn auch ein Stück weiter in ihrem Weg gekommen, als offizieller Ansprechpartner anerkannt zu werden. Die Position von Aleviten bestand analog zu den nichtorganisierten Muslimen hauptsächlich darin, ein kritischer Kontrast zu den Stellungnahmen der konservativen Verbände zu sein. Ob sie von sich aus eine Islamkonferenz benötigten, mag man zu Recht bezweifeln. Sie besitzen bereits den Status der Religionsgemeinschaft, dürfen bekenntnisorientierten Religionsunterricht erteilen. Schließlich haben sie denn auch die gemeinsame Abschlusserklärung nicht unter dem Namen „Muslime“ mit unterschrieben, sondern den auch von ihnen mit beschlossenen Text übernommen, wohl mit dem Unterschied, dass der Text statt „Wir Muslime“ nun mit „Wir Aleviten“ beginnt. Die Individualisten, jedenfalls diejenigen, die sich dann infolge des von der DIK ausgegangenen Repräsentationsdrucks als „säkulare Muslime“ formiert haben, wären von sich aus kein Grund gewesen, eine Islamkonfe-
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renz auszurichten. Ihr Glaube zielt nicht auf Repräsentation: sie pflegen eine Version von Islam, die eben ohne Repräsentation auskommt. Ihr paradoxes Schicksal besteht darin, dass sie repräsentieren müssen, was ohne Repräsentation auskommt – zumindest solange kein Regierungsdialog mit dem Islam ansteht. Von da an werden sie auch in ein Repräsentationsregime hineingezogen. Sie sehen dann nämlich, dass ihr Glaube von konservativen Verbänden repräsentiert wird. Selbstverständlich ist auch die Non-Group der Nichtorganisierten heterogen und einige unter ihnen kamen eventuell mit der Situation leichter zurecht. Im Laufe der DIK kamen einige säkularen Muslime immer mehr zu der Einsicht, sich als nichtorganisierte Gruppe der Muslime zu organisieren – das war übrigens genau die Forderung vom Innenminister. Dieses Paradox war den Nichtorganisierten durchaus bewusst, doch ist die Alternative, „das Feld alleine den Konservativen zu überlassen“, für sie nicht hinnehmbar. Die DIK war in der Tat performativ in ihren Effekten, sodass auch diejenigen Personen wie Gruppen, die sich nicht über die Religion definierten, sich auf den Diskurs „Dialog mit Muslimen“ einlassen mussten.
6. ABSCHLIESSEND Die Islamkonferenz ist eine konzertierte Initiative zur Bildung eines muslimischen Kollektivs über die juridische Inklusion einer hinzugekommenen Religion hinaus. In ihr kommen folglich zum einen unterschiedliche Gruppierungen, Personen, Orientierungen, physische Räume etc. zusammen. Zum anderen bringt sie vor allem, und das zeichnet die DIK gegenüber allen anderen kleinformatigen Regelungen den Islam betreffend aus, zwei Ebenen zusammen, die sich bisher gewissermaßen nur partiell überlappten: a) Islam erscheint auf der einen Ebene als der Name für eine Reihe von Forderungen. Sie betreffen entweder ausschließlich Kultusangelegenheiten wie Religionsunterricht, Moscheebau, Friedhofsplätze, islamische Feiertage, Status religiöser Organisationen etc., oder moralische Vorstellungen, die zu Konflikten führen könnten, wie im Falle der Ablehnung der Teilnahme am Schwimmunterricht und an der Klassenfahrt. Einige von der ersten Gruppe dieser Fragen wurden bereits vielerorts partiell und unspektakulär (außer Moscheekonflikten und dem Rechtsstatus religiöser Organisationen) gelöst.
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b) Islam steht aber auch für eine Bevölkerungsgruppe, deren Integrationsprobleme als Fragen der Integration des Islam erscheinen. Diese beiden Ebenen, die zuvor relativ abgekoppelt voneinander waren, sind in den letzten Jahren immer stärker zusammengerückt. Die Deutsche Islam Konferenz bildet in dieser Entwicklung einen besonderen Meilenstein. Indem die Regierung durch das Innenministerium neben dem Nationalen Integrationsgipfel einen Dialog mit den Muslimen startete, hat sie das Feld der Konkurrenz neu bestimmt. Sicher auch aus strategischen Gründen, um etwa die Organisationen kritisch zu flankieren, oder auch aus der eigentümlichen nichtkorporatistischen Verfasstheit des Islam, ergab es sich für das Ministerium, den Dialogkreis breit anzulegen. Von nun an ging es darum, wer mit welchen Inhalten auf der höchsten politischen Ebene den Islam, d.h. die muslimischen Migranten, repräsentieren wird. Diesem Druck zur Kollektivbildung wollte und konnte sich kaum jemand entziehen. Mit nahezu gleichen Problemen, gleichwohl einer anderen Besetzung und Struktur, ist die zweite Runde der DIK gestartet. Es ist abzuwarten, um zu sehen, wie weit das intendierte muslimische Kollektiv nach dieser Phase gediehen sein wird.
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Narrative der Integration und Assimilation im Film1 Ö ZKAN E ZLI
Z USAMMENFASSUNG Wir schreiben das Jahr 1987 und der Hauptdarsteller Jan (Uwe Bohm) hat sich in Hark Bohms bekanntem Film Yasemin in die Hauptdarstellerin, in die 17-jährige Deutsch-Türkin Yasemin (Ayúe Romey) verliebt. Er wird irgendwann gegen Ende des Films Türkisch lernen, um ihr näherzukommen, um sie besser zu verstehen. Jedoch weiß bis dahin jeder aufmerksame Filmzuschauer, dass dieses Vorhaben nicht wirklich nötig ist, denn Yasemin spricht im Film kaum Türkisch, dafür aber ein akzentfreies perfektes Deutsch, trägt kein Kopftuch, ist im Judoverein aktiv, will Kinderärztin werden und verhält sich, diese Attribute zusammengenommen, selbstbewusst und modern. Man könnte sie kognitiv und strukturell als assimiliert bezeichnen. Warum Jan unter diesen Umständen Türkisch lernt, ist entweder als eine rein symbolische Geste gegenüber Yasemin zu verstehen oder aber sie hängt mit einer Form der Kulturalisierung und Folklorisierung zusammen, die weit über die Bedürfnisstruktur der Beziehung, aber auch über die der dargestellten türkischen Familie in Yasemin hinausgeht.
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Siehe grundlegend zum Ansatz, gesellschaftspolitische Debatten und soziologische Modelle und Konzepte in ihren Prägungen und Wirkmächtigkeiten als Narrative zu lesen: Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M.: Fischer 2012.
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Knapp zwanzig Jahre später verliebt sich der Hauptdarsteller Götz (Florian David Fritz) in der preisgekrönten Multi-Kulti-Komödie Meine verrückte türkische Hochzeit in die Deutsch-Türkin Aylin (Mandala Tayde). Ebenso wird er einen Zugang zur anderen Kultur finden, jedoch ist es diesmal nicht die Sprache, sondern wir sehen Götz nach knapp der Hälfte des Films einen Spiegelartikel zu Osama bin Laden lesen. Grund hierfür ist, dass Götz nach Auffassung von Aylins Familie zum Islam konvertieren muss, will er sie heiraten. Auch wenn wie im Film Yasemin die weibliche Hauptdarstellerin weder als eine traditionell-türkische Frau, noch als eine überzeugte Muslima gezeigt wird, kann das kulturelle Bemühen von Götz nicht einfach als eine symbolische Geste interpretiert werden. Vielmehr folgt es komödiantisch-parodistisch der aktuellen bundesrepublikanischen Politik des Forderns und Förderns, die zum einen Assimilation und Kultur an gesetzgeberischen Praktiken festmacht, zum anderen den Islam als zentralen anzuerkennenden Bestandteil der Integration begreift (Deutsche Islam Konferenz). Zwei Dekaden trennen diese beiden Filme voneinander und sie zeigen differente Narrative der Assimilation, Integration und Diversität auf, die aus höchst unterschiedlichen deutsch-deutschen und deutsch-türkischen Konstellationen hervorgegangen sind. Zwischen dem klassischen Integrationsnarrativ, das auf eine ziel- und prozessorientierte Form der Assimilation setzte und der aktuellen kulturalisierenden Erzählung vom angekommenen deutschen Muslim (Schäuble 2009), gibt es ein dazu querstehendes und vielschichtiges Feld von Prozessen, die ich mit der vergleichenden Analyse der Filme Yasemin und Meine verrückte türkische Hochzeit mit ihren jeweiligen gesellschaftspolitischen Rahmungen skizzieren möchte. Im Vordergrund der Analyse wird die Beobachtung stehen, welche ähnlichen und unterschiedlichen Nah- und Distanzbeziehungen die Akteure zu kulturellen Kennzeichen in den 1980er und heute unterhalten und wie kohärent oder inkohärent diese Verhältnisse in Narration und Rezeption sind (vgl. Ezli 2012a: 9-13; Koschorke 2012: 38-44). Darauf aufbauend werde ich der Frage nachgehen, wohinein die Akteure sich eigentlich integrieren wollen und sollen? Welches Feld und welche Form der möglichen oder unmöglichen Ankunft wird in den filmischen Narrativen konstituiert, die mit den jeweiligen politischen Integrationsnarrativen korrelieren und auch über sie hinausweisen.
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A SSIMILATION
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E INLEITUNG Die muslimischen Einwanderer „können nicht gegen ihre Religion, sondern nur mit dieser in eine westliche Gesellschaft integriert werden“, resümiert Jürgen Habermas in seinen Überlegungen zur Dialektik der Säkularisierung (Habermas 2008: 41). Mit dem Fokus auf aktuelle europäische Integrationspolitiken hält er auch vor, dass es einen bestimmten Denk- und staatlichen Konstitutionsfehler in der langen Geschichte der europäischen Säkularisierung und Modernisierung gab, nämlich Religion als Partizipations- und Sinnstifter aus dem öffentlich-politischen Raum ausgeschlossen zu haben. Den Anfang nahm diese Trennung mit den Konfliktschlichtungen nach den europäischen Konfessionskriegen im 16. und 17. Jahrhundert, in denen die Staatsgewalt „zu weltanschaulich neutralem“ Handeln genötigt war. „Sie musste die streitenden Parteien entwaffnen, Arrangements für ein friedlich-schiedliches Zusammenleben der verfeindeten Konfessionen erfinden und deren prekäres Nebeneinander überwachen. In der Gesellschaft konnten sich die gegnerischen Subkulturen dann so einnisten, dass sie füreinander Fremde blieben.“ (Habermas 2008: 39) Dieser Modus Vivendi überdauerte auch die grundlegend säkularistische Neuordnung des Staates in Europa im späten 18. Jahrhundert und hat mitunter dazu geführt, dass die katholische Kirche sich „bekanntlich erst mit dem zweiten Vaticanum im Jahre 1965 zu Liberalismus und Demokratie bekannt hat“ (Habermas 2008: 44).2 Diese Ordnung des Nebeneinander und des „einnisten lassens“ zeige sich aber auch im „falsch verstandenen“ Multikulturalismus der 1980er und 1990er Jahre, in dem man von einer „>>Inkommensurabilität>geblieben sei