Menschenrechte: Philosophische und juristische Positionen 9783495996898, 9783495482827


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Einleitung
Tradition und Identität Europas. Die Menschenrechte und der Rechtsstaat als Frucht des antiken und christlichen Denkens
Globale Gerechtigkeit, Menschenrechte und korrespondierende Pflichten. Eine Skizze
Demokratie und Menschenrechte
Der Begriff des Menschenrechtes bei Hannah Arendt
Die Vernichtung der Person
Die Einheit von liberalen Freiheitsrechten und sozialen Rechten
»Menschenwürde« als ein Begriff des Rechts?
Die Autoren
Personenregister
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Menschenrechte: Philosophische und juristische Positionen
 9783495996898, 9783495482827

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Hans-Helmuth Gander (Hg.)

Menschenrechte Philosophische und juristische Positionen

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495996898

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Hans-Helmuth Gander (Hg.) Menschenrechte

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Dieser Sammelband vereint juristische und philosophische Überlegungen, die sich im Blick auf die zentrale Rolle der Menschenrechte in der internationalen Politik und Staatengemeinschaft mit folgenden Fragen beschäftigen: Inwiefern entsprechen den Menschenrechten auch Menschenpflichten? Wie kann die Einheit von liberalen Freiheitsrechten mit sozialen Rechten begründet werden? Wie lässt sich die Menschenwürde zu einem Rechtsbegriff formulieren? Welchen Beitrag leistet das antike und christliche Denken zu unserem heutigen Begriff der Menschenrechte? Ist es möglich, einem Menschen seine ureigenen Rechte abzusprechen und ihm somit seinen Personenstatus abzuerkennen? Inwieweit besteht ein Zusammenhang zwischen demokratischer Staatsform und den Menschenrechten? In welchem systematischen Verhältnis stehen Menschenrechte und bürgerliche Grundrechte? Der Herausgeber: Hans-Helmuth Gander, Dr. phil., Professor für Philosophie und Direktor des Husserl-Archivs an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte in Phänomenologie, Hermeneutik, Politischer Philosophie und Anthropologie.

https://doi.org/10.5771/9783495996898 .

Hans-Helmuth Gander (Hg.)

Menschenrechte Philosophische und juristische Positionen

Verlag Karl Alber Freiburg / München https://doi.org/10.5771/9783495996898 .

Originalausgabe Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2009 www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg ISBN 978-3-495-48282-7

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Inhalt

Hans-Helmuth Gander

Einleitung

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Ada Neschke-Hentschke

Tradition und Identität Europas. Die Menschenrechte und der Rechtsstaat als Frucht des antiken und christlichen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Georg Lohmann

Globale Gerechtigkeit, Menschenrechte und korrespondierende Pflichten. Eine Skizze . . . . . . . . . . .

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Amnon Lev

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Der Begriff des Menschenrechtes bei Hannah Arendt . . . .

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Demokratie und Menschenrechte Thomas Dürr

Verena Krenberger

Die Vernichtung der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Christian Tomuschat

Die Einheit von liberalen Freiheitsrechten und sozialen Rechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Kurt Seelmann

»Menschenwürde« als ein Begriff des Rechts?

. . . . . . . . 166 A

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Inhalt

Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

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Hans-Helmuth Gander (Hg.) https://doi.org/10.5771/9783495996898 .

Einleitung Menschenrechte – philosophische und juristische Positionen Hans-Helmuth Gander (Freiburg)

Ob man beim Nachdenken über die Menschenrechte, wie Norberto Bobbio glaubt, mit Bezug auf unsere Zeit ein »Zeichen für den moralischen Fortschritt der Menschheit ausmachen« 1 meint zu können, oder ob sich lediglich eine skeptisch sich immer wieder unterlaufende Hoffnung damit verbindet, nicht zu bestreiten ist jedenfalls, dass innerhalb eines, wie es oft im Blick auf die Spanne von 1918 bis 1989 heißt, kurzen Jahrhunderts das Konzept der Menschenrechte aus den anfänglichen Überlegungen und Ideen einiger Völkerrechtler sich im Reflex der politischen Katastrophen totalitärer Gewaltherrschaft zu rechtlich fixierten und einklagbaren Normen entwickelt hat. Obgleich die Menschenrechte jedem Menschen kraft seines Menschseins zukommen, also gar nicht erst verliehen werden müssen, vielmehr individuell wie kollektiv unveräußerliche Rechte sind, bedürfen sie hinsichtlich ihrer Verwirklichung und der politischen Durchsetzung ihrer Geltungsansprüche der Positivierung in geltendes Recht. Historisch vollzog sich dieser Prozess bekanntlich vergleichsweise spät. Als Geburtsbrief datiert die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, die völkerrechtlich gesehen und kantisch gesprochen eine Revolution der Denkungsart befördert, sofern hier der Mensch als Subjekt und nicht länger mehr nur als Objekt des internationalen Rechts gilt. Damit verändert sich im Blick auf die Position des einzelnen Menschen nachhaltig die politische wie rechtliche Selbstverständigungsgrammatik von Staaten und Gesellschaften. Entsprechend wurde in den zurückliegenden Jahrzehnten bei allen weiteren Kodifizierungen der Menschenrechte das menschliche Individuum im Anspruch der Unantastbarkeit seiner Würde zur entscheidenden Orientierungsgröße, auch wenn in der konkreten Gewährleistung des Schutzes der Menschenwürde sich die Verfahren Norberto Bobbio: Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar? Berlin 2 2007, S. 58.

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zur Um- und Durchsetzung der Menschenrechte immer wieder als brüchig erwiesen haben. Die Idee der Menschenrechte hat in der Entwicklung ihrer moralischen Gehalte eine Vorgeschichte, die man, wie der erste Beitrag des vorliegenden Bandes zeigt, bis in das Naturrechtsdenken der Antike oder auch das frühe Christentum zurückverfolgen kann. Der allgemeinen Vorstellung näher sind allerdings die Daten, die den politisch-historischen Weg der Menschenrechtsentwicklung in der Neuzeit markieren und den Menschenrechtsdiskurs der Moderne eröffnen und untrennbar mit der Gründungsgeschichte der USA wie auch mit der Französischen Revolution verknüpft sind. Doch darf man hierbei nicht übersehen, dass die zwischen 1776 und 1789 in den verschiedenen Erklärungen postulierten Rechte noch durchaus exklusiv waren, d. h. bezogen auf bestimmte Gruppen innerhalb eines fixierten Gemeinwesens, weshalb z. B. für die Sklaven oder Frauen in den USA die Staatsbürgerrechte so wenig gegolten haben wie späterhin und andernorts für die Einwohner von Kolonien. Wenn man heute von Menschenrechten spricht, geht man daher in aller Regel davon aus, dass mit der Idee der Menschenrechte eine umfassende Gerechtigkeitstheorie Gestalt annimmt. Das führt u. a. dazu, dass im Zeichen der Globalisierung nach einer weit verbreiteten Ansicht die Menschenrechte in den Rang eines normativen Grundkonsenses treten können, von dem her sich die Prozesse der Globalisierung politisch, rechtlich und moralisch evaluieren lassen. Als möglicher Ausweis für diese These kann z. B. die von den Repräsentanten von 171 Staaten abgefasste und 1993 in Wien abgegebene Erklärung der Zweiten Weltkonferenz für Menschenrechte gelten, deren Artikel 5 die Menschenrechte als universal, unteilbar, interdependent und interrelational festschreibt. Die Frage der Menschenrechte ist hinsichtlich der Steuerung politischer Prozesse heute von erheblicher Relevanz und besitzt zudem auch, wie die kontroversen Debatten um die Einhaltung von Menschenrechten zeigen, eine nicht unerhebliche Brisanz. Unbesehen der inzwischen stärker im Fokus der praktisch-politischen Aufmerksamkeit stehenden Probleme der faktischen Durchsetzbarkeit stellt die Frage des reflexiven Zugangs zu den Menschenrechten eine nach wie vor intellektuell spannende Herausforderung dar. Im weit verzweigten Feld dieser keineswegs abschließend zu behandelnden Aufgabe bietet der vorliegende Band in den philosophischen wie rechtswissenschaftlichen Facetten seiner Beiträge einige Wegmarken. 8

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Einleitung

Präsentiert wurden sie in ihrer Mehrzahl in einer Vortragsreihe, die im Verbund der universitären Institutionen Husserl-Archiv, Colloquium Politicum und Forum Recht gemeinsam mit dem CarlSchurz-Haus und der Landeszentrale für politische Bildung im Wintersemester 2005/2006 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg durchgeführt wurde. Unmittelbaren Anlass zu dem Thema der Reihe gab das von mir geleitete DFG-Projekt zu »Rechts- und Moralnormen als Sinnstrukturen gesellschaftlichen Zusammenlebens im Wandel«. Die Beiträge der Referenten der Vortragsreihe, Ada Neschke-Hentschke, Georg Lohmann, Christian Tomuschat und Kurt Seelmann, behandeln konzeptionelle Fragen der Bestimmung von Menschenrechten, sie zeigen historische und philosophische Wurzeln der Menschenrechte auf und befassen sich mit der Positivierung von Menschenrechten im Rechtskontext. Zur Abrundung der Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Menschenrechte aus philosophischer und juristischer Sicht sind die annektierten Beiträge von Verena Krenberger, Amnon Lev und Thomas Dürr zu verstehen, die sich mit spezifischen Fragestellungen der Menschenrechtsdebatte auseinandersetzen. Ada Neschke-Hentschke führt die Menschenrechte auf ihre historisch-philosophischen Wurzeln zurück. Die enge Verknüpfung von Menschenrechten und Rechtsstaat bedingt, dass beide wie zwei Seiten einer Medaille aufzufassen sind. Denn das Nachdenken über Gerechtigkeit und Recht mit dem Ziel der begrifflichen Klärung wie der entsprechenden praktischen Ausgestaltung führten zur Etablierung des neuzeitlichen Rechtsstaates. Von daher fasst die Autorin den Rechtsstaat als das Folgeprodukt einer philosophischen Anthropologie auf, die sich der römisch-christlichen Tradition des Menschenrechtsdiskurses bedient hat. Diesen Diskurs analysiert Neschke-Hentschke in seiner historischen Vielfalt und legt so die philosophischen Wurzeln all jener Begründungsmodelle von Menschenrechten offen, wie sie in den gegenwärtigen Menschenrechtsdebatten etabliert erscheinen. Dabei wird die gängige Ansicht, Menschenrechte seien ein Produkt der Moderne, mehr noch, der modernen revolutionären Umwälzungen im Westen Europas, nachhaltig in Zweifel gezogen. Stattdessen führt die Genealogie der Menschenrechte die Autorin zu dem Schluss, dass die Menschenrechte ein Erbe antiker und christlicher Rechtsphilosophie sind. Ihre faktisch politische Relevanz erhielten die Menschenrechte dann im Zuge der

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großen Revolutionen, als ihre Rolle als Schutzrechte gegen einen den Einzelnen vereinnahmenden Staat dringlich wurde. Georg Lohmann sieht in seinem Beitrag die Menschenrechte im Spannungsfeld zwischen globaler Gerechtigkeit und korrelierenden Menschenpflichten. In der Auseinandersetzung mit globaler Gerechtigkeit unternimmt Lohmann eine Unterteilung in kosmopolitische (moralische) und internationale (politische) Gerechtigkeit. Das aufgeworfene Problem der Inkongruenz beider Gerechtigkeitsformen versucht Lohmann durch die Setzung von Menschenrechten als Vermittler zwischen dem moralischen Optimum einer kosmopolitischen Gerechtigkeit und dem restringierten Konzept einer internationalen Gerechtigkeit zu lösen. Lohmann konstruiert einen Menschenrechtsbegriff, der die Spannungen zwischen moralisch begründbaren Verpflichtungen im globalen Maßstab und dem, was Menschenrechte sinnvollerweise leisten können, erträgt. Dabei plädiert der Autor dafür, die rein moralischen oder rechtlichen Deutungen der Menschenrechte zu ergänzen und durch politische Überlegungen zu beschränken. Aus dieser speziellen Struktur der Menschenrechte heraus gewinnen sie eine konstitutive und instrumentelle Bedeutung für die Debatte um globale Gerechtigkeit. Sie erscheinen dem Autor als Mittel, um durch die ihnen korrespondierenden positiven und negativen Verpflichtungen die Bedingungen und Verwirklichungschancen herzustellen, die ungerechten Verhältnisse zu beheben. Pflichten resultieren somit aus einem vom Autor hier entwickelten umfassenden Begriff von Menschenrechten. Amnon Lev behandelt in seinem Beitrag den Zusammenhang von Demokratie und Menschenrechten. Hierfür bezieht sich der Autor auf die Bestimmungen der Menschenrechte bei Hegel und Tocqueville. Ihre Ansichten erscheinen hinsichtlich der Zuschreibungen, die an Menschenrechte gestellt werden, konträr: So fasst Hegel die Menschenrechte als Normen, die gänzlich von der staatlichen Ordnung abgeleitet sind, wohingegen sie für Tocqueville unabhängig von der staatlichen Ordnung existieren. Im Ausgang dieser Auffassungsunterschiede zeigt Lev, dass nicht allein ein Sinneswandel in der Bestimmung der Menschenrechte statt gefunden hat, sondern darin zugleich auch eine Verschiebung im Verhältnis der konstituierenden Momente der modernen Demokratie. Die Entgegensetzung von Liberalismus und Antiliberalismus findet ihren gemeinsamen Bezugspunkt in der Idee des Menschen, die ein grundlegendes Recht auf Rechte begründet. Der Erfolgsweg der Menschenrechte führte dazu, 10

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Einleitung

dass ein Denken der politischen Praxis an den ureigenen Rechten nicht mehr vorbei kommt. Der Autor folgert daraus, dass eine konstatierbare Normalisierung des menschenrechtlichen Diskurses das Rechtsgebiet der Menschenrechte zu einem unter vielen hat degenerieren lassen und zu einem neuen Denken der Demokratie unabhängig vom Begriff des Menschen führen muss. Die menschenrechtliche Konzeption von Hannah Arendt ist Thema des Beitrags von Thomas Dürr. Arendts politische Theorie, wie sie in »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« expliziert wird, erhebt die Forderung nach einem politischen Prinzip, das gegen das Überflüssigmachen von Menschen, wie es totalitäre Herrschaftssysteme implizieren, Stand hält. Arendt findet und formuliert es in der Idee des Rechts, überhaupt Rechte zu haben. Gesichert werden soll dieses Recht, das von Arendt zwar praktisch gedacht, aber ohne Durchsetzungsmechanismen dargestellt wird, durch konkrete Vergemeinschaftung. Arendts Rekurs auf den augustinischen Freiheitsbegriff bezogen auf die Menschengemeinschaft macht ihre Sichtweise im Unterschied zum aristotelischen Bezug auf die Bürgerschaft deutlich und stellt von hier aus die Gleichheit der Menschen in der Natalität in den Fokus des Rechts auf Rechte. Dieses einzige Menschenrecht steht im Zentrum von Dürrs Überlegungen und wird hinsichtlich seiner Genese wie auch seiner Stellung im Gesamtwerk Arendts, aber auch im Bezug auf die erfahrene Kritik untersucht. Der Beitrag von Verena Krenberger widmet sich der Frage, wie weit die Konsequenzen einer Verletzung von Menschenrechten reichen. Die Autorin untersucht, ob die Negierung der Rechte der Person eine Negierung der individuellen Person impliziert und greift dabei Fragen nach dem Verweisungszusammenhang von Person, Würde des Menschen und Rechtspersönlichkeit auf. Mittels einer detaillierten Begriffsanalyse der Termini »Person«, »Rechtspersönlichkeit«, »Rechte der Person« und »Menschenwürde« schafft die Autorin den historischen Rahmen für ein Hinterfragen des Bedingungszusammenhangs zwischen den eine Person auszeichnenden Charakteristika und einer Verletzung der ihr eigenen Rechte. Historische Beispiele einer solchen Verletzung zeigen die Gefahr auf, die in der Möglichkeit bestünde, den Personstatus eines Individuums von den impliziten subjektiven Rechten abhängig zu machen bzw. eine Verletzung dieser Rechte als Synonym für einen Angriff auf die personelle Struktur des Einzelnen zu werten. Die Frage nach der Reichweite der Abhängigkeit des Individuums von der Anerkennung A

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durch den Anderen wird hier zum Prüfstein für die Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit einer Aberkennung des Personstatus durch die Willkür der Mitmenschen. Der Beitrag von Christian Tomuschat beschäftigt sich mit einem Wesensmerkmal der Menschenrechte, nämlich mit ihrer Unteilbarkeit. Die bisherige rechtswissenschaftliche Menschenrechtsdebatte unternahm den Versuch, die verschiedenen Menschenrechte zu klassifizieren und in Dimensionen oder Generationen aufzuteilen. Wie sich dabei gezeigt hat, wurde den so genannten klassischen Freiheitsrechten gegenüber den sekundären sozialen Grundrechten ein höherer Hierarchiegrad zugemessen. In ihren kategorialen Unterschieden lassen sie sich u. a. dadurch charakterisieren, dass Freiheitsrechte durch den Staat leichter umsetzbar erscheinen, fordern sie doch hauptsächlich ein staatliches Unterlassen, wohingegen die sozialen und wirtschaftlichen Rechte demgegenüber ein aktives Handeln des Staates zur Daseinsvorsorge seiner Bürger verlangen. Wie Tomuschat in seinem Beitrag eindrucksvoll zeigt, sollte von einer solchen Teilung der Rechte abgesehen werden und stattdessen die Einheit von Freiheitsrechten und sozialen Rechten entsprechend der inneren Struktur der Menschenrechte beibehalten werden. Dies unterstreicht Tomuschat vor allem mit dem Argument, dass Verschränkungen zwischen den beiden Rechtstypen bestehen: zum einen müssen auch zur Umsetzung der Freiheitsrechte bestimmte staatliche Strukturen geschaffen werden, die ein staatliches Handeln voraussetzen. Zum anderen besitzen auch wirtschaftliche und soziale Rechte einen Freiheitskern. So betrachtet schlägt Tomuschat vor, soziale Rechte als programmatische Staatsziele aufzufassen, um ihnen so den Weg zur Durchsetzung zu ebnen. Kurt Seelmann setzt sich mit der häufig als Konstitutionsprinzip bezeichneten Menschenwürde auseinander. Der Begriff der Menschenwürde steht im Spannungsfeld von Vagheit und Paradoxien, die sich aus den verschiedenen Begründungsmodellen ergeben. Schon in der kantischen Begründungsvariante von Menschenwürde sind Paradoxien im Zusammenhang mit der Fundierung der Menschenwürde in der menschlichen Vernunft und dem Ruf nach Natürlichkeit und Kontingenz angelegt. Der historische Hintergrund der Menschenwürde, der diese auf moralischer Ebene ansiedelt, verursacht die Schwierigkeit der Überführung dieses Begriffs der Tugendlehre auf die juristische Ebene der rechtlichen Anwendbarkeit. Der Autor unternimmt den Versuch, diese Paradoxien für die praktische Ver12

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Einleitung

wendung der Menschenwürde fruchtbar zu machen, und weist ihr dabei eine Scharnierfunktion zu. Menschenwürde wird hierfür aus dem Rahmen der bisherigen Begründungsmodelle herausgenommen und als Sicherung der Interaktionsfähigkeit des Einzelnen in der Welt etabliert. Auf diese Weise soll es dem Recht ermöglicht werden, seine Fundierung in gegenseitigen Anerkennungsprozessen deutlich werden zu lassen und das theoretische Verständnis der rechtlichen Struktur zu erweitern. * Ein erster Dank gilt den Autorinnen und Autoren, die ihre Überlegungen in Form publikationsreifer Texte zur Verfügung stellten und so das Zustandekommen des vorliegenden Buches allererst ermöglicht haben. Für die in bewährter Weise stets konstruktive Zusammenarbeit in der konzeptionellen Planung des Bandes danke ich Frau Dr. Verena Krenberger und Herrn Thomas Dürr, M.A. herzlich. Danken möchte ich für ihre sachkundige Unterstützung in der Vorbereitung der Drucklegung des Manuskripts herzlich auch Frau Sophia Obergfell. Herrn Andreas Friedrich gilt mein herzlicher Dank für die mit Umsicht und Sorgfalt geleistete Korrekturarbeit und das Erstellen des Namensregisters. Schließlich gilt mein Dank auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die die vorliegende Publikation finanziell gefördert hat.

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Tradition und Identität Europas Die Menschenrechte und der Rechtsstaat als Frucht des antiken und christlichen Denkens Ada Neschke-Hentschke (Genf)

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Einleitung

Am 17. November 2005 veröffentlichte die Neue Zürcher Zeitung ein Interview mit dem deutschen Historiker Joachim Fest. Auf seine Diagnose unserer Zeit hin befragt unterstrich Fest, dass »das heutige Europa das Produkt einer geschichtslosen und orientierungsarmen Generation sei«. Er fügte dieser Bemerkung hinzu: »Es gehört zur Identität eines Menschen, dass er weiss, woher er kommt; denn wenn er das nicht weiss, wenn er nicht weiss, welche Werte und Vorstellungen von Geschichte und Gegenwart es gibt, weiss er auch nicht, wo er hingeht«. Die Geschichtslosigkeit der heutigen Generation ist kein Fehler der Historiker; diese haben mehr denn je die Vergangenheit aufgehellt. Sie ist die Folge einer Erziehungs- und Kulturpolitik, die die Bedeutung der Geschichtskenntnis für die Bildung einer personalen und kulturellen Identität verkannt hat. Europa – auch das betonte Fest zu Recht – ist nicht eine Marktgesellschaft, sondern eine auf der gemeinsamen Vergangenheit beruhende Kultureinheit. Vergangenheit lebt allein in der Erinnerung; diese aber muss sich die kritische Prüfung der Historiker gefallen lassen. Kollektive Erinnerung ist selektiv und manipulierbar. Sie bricht häufig willkürlich ab und übt ein gezieltes Vergessen insbesondere gegenüber Gegenständen, die im Brennpunkt aktueller Diskussionen stehen. Einer dieser Gegenstände, die es nötig machen, zwecks seiner historisch kontrollierten Erinnerung »tief in den Brunnen der Vergangenheit zu steigen«, ist der Gedanke und die Sache des neuzeitlichen Rechtsstaats. 1 Dieser ist, wenn man seine Entstehung erforscht, »Rechtsstaat« ist ein vieldeutiger Begriff. Sofern er den Rechtsschutz der Bürger umfasst, kann man auch vom antiken Rechtsstaat sprechen. Siehe Adalberto Giovannini: Die Rechtssprechung im Alten Rom: Rechtsstaat oder magistratische Willkür? In: Klaus

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das Folgeprodukt einer philosophischen Anthropologie, die sich der römisch-christlichen Tradition des Menschenrechtsdiskurses bedient hat. In der ersten uns greifbaren Konzeption des neuzeitlichen Rechtsstaates sind dieser selbst und die Menschenrechte zwei Seiten einer einzigen Sache. Wir haben diese Sache anderswo die »Menschenrechtsdoktrin« genannt; 2 sie könnte aber ebenso gut die Rechtsstaatsdoktrin heißen. Gemeint ist, dass die Menschenrechte die politisch relevante Funktion erhalten, die Grenzen des Staates zu bestimmen, ihm den Schutz des Bürgers anzuvertrauen. Diesem Ziel dient dann folgerichtig die Teilung der Souveränität und die Priorität des Verfassungsrechtes im Rechtssystem. 3 In den folgenden Darlegungen wird es darum gehen, den ursprünglichen Sinn der Menschenrechts-, bzw. Rechtsstaatsdoktrin herauszuarbeiten. Dazu werden wir drei Thesen entwickeln, die im voraus angekündigt und erläutert werden sollen. Sie lauten: 1) Die Menschenrechtsdoktrin ist das Endprodukt des kontinuierlichen Nachdenkens der Europäer über Gerechtigkeit und Recht. 2) Dabei ging es nicht nur darum, Begriff und Sache von Gerechtigkeit und Recht zu klären, sondern auch in die Wirklichkeit umzusetzen. 3) Die Frucht der Bemühungen war die Konzeption des neuzeitlichen Rechtsstaates, die als eine anspruchsvolle europäische Kulturleistung zu verstehen ist. Meine erste These widerspricht dem verbreiteten, auf historischer Unkenntnis beruhenden Mythos, die Menschenrechtsdoktrin sei eine Erfindung der Französischen Revolution von 1789. Jeder Amerikaner könnte dieser Auffassung sofort mit Bezug auf die Bill of Rights of Virginia von 1776 widersprechen, jeder Engländer müsste Martin Girardet/Ulrich Nortmann (Hrsg.): Menschenrechte und europäische Identität. Die antiken Grundlagen. Stuttgart 2005, S. 49–61. 2 Ada Neschke-Hentschke: Menschenrechte – Menschenrechtsdoktrin – natürliche Gerechtigkeit. In: Klaus Martin Girardet/Ulrich Nortmann (Hrsg.): Menschenrechte und europäische Identität. Die antiken Grundlagen. Stuttgart 2005, S. 123–134, hier S. 123– 128. 3 Siehe Gerald Stourzh: Vom aristotelischen zum liberalen Verfassungsbegriff. In: Friedrich Engel-Jánosi (Hrsg.): Fürst, Bürger, Mensch. Untersuchungen zu politischen und soziokulturellen Wandlungsprozessen im vorrevolutionären Europa. München 1975, S. 97–122, hier S. 97–99. A

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an die besondere Tradition seines Landes erinnern, schon seit dem Mittelalter Grundrechte der Bürger zu kennen, die dann im 17. Jahrhundert den Status allgemeiner Rechte erhielten. 4 Eine weiterreichende Erforschung des Menschenrechtsdiskurses ergibt darüber hinaus, dass die Menschenrechte in den Kontext der Philosophie der natürlichen Gerechtigkeit gehören und gewisse Wurzeln daher bereits in der Antike haben. 5 Was dagegen die Französische Revolution als geschichtliches Ereignis hervorhebt, ist das Faktum, dass in dieser Revolution die Menschenrechte, dem amerikanischen Vorbild folgend, als Teil und Grundlage der neuen Verfassung eingeführt wurden, so dass man ihnen einen positiv rechtlichen Status verleihen konnte. Damit wurde das amerikanische Modell auch in Europa durchgesetzt und konnte allen neuen Verfassungen als Vorbild dienen. Dieser Vorgang, das heißt das Positiv-, also Praktisch-Werden der Menschenrechtsidee begründet meine zweite These. In der Tat, die Geschichte der Menschenrechte kann nicht als reine Ideengeschichte geschrieben werden, sondern nur als Geschichte des Kampfes, Ideen der praktischen Philosophie in die politische Wirklichkeit umzusetzen. Die philosophischen Väter des Menschenrechtsdiskurses folgten implizit dem schon alten Aufruf Platos, dass die Philosophen Politik betreiben sollten. Sie taten es auf die Weise, die allein dem Philosophen zur Verfügung steht: sie vertraten durch überzeugende Argumente eine Theorie wirksam in der Öffentlichkeit. So hat zum Beispiel der Urheber der Menschenrechtsdoktrin, bzw. des Rechtsstaatsgedankens, John Locke, eine politische Theorie entwickelt, die dank ihrer Argumentation für die Väter der amerikanischen Verfassungen wie George Mason und Thomas Jefferson richtungsweisend wurde.6 Gerhard Oestreich: Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriss. Berlin 1968, S. 39–44. 5 Ada Neschke-Hentschke: Platonisme politique et théorie du droit naturel. Contributions à une archéologie de la culture politique européenne. Volume II: Platonisme politique et jusnaturalisme chrétien. La tradition directe et indirect d’Augustin d’Hippone à John Locke. Leuven/Paris 2003, S. 564; dies.: Die iustitia naturalis gemäss Platos Timaios in den Deutungen der Dekretisten des XII. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der Menschenrechte. In: Thomas Leinkauf/Catherine Steel (Hrsg.): Platos Timaios als Grundtext der Kosmologie in Spätantike, Mittelalter und Renaissance (= Ancient and Medieval Philosophy I, xxxiv). Leuven 2005, S. 281–304, hier S. 292–300; dies.: Menschenrechte – Menschenrechtsdoktrin – natürliche Gerechtigkeit, S. 128 – 132. 6 Oestreich: Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 58, 62. 4

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Wenn wir schließlich die Konzeption des Rechtsstaates, bzw. der Menschenrechtsdoktrin eine Kulturleistung nennen, legen wir einen genau bestimmten Kulturbegriff zugrunde. Mit »Kultur« soll kein Epiphänomen der Zivilisation gemeint sein, das etwa nur in Kunst und Wissenschaft bestünde, sondern alle Äußerungen menschlicher Selbstformung. »Kultur« – lateinisch cultura von colere »pflegen« – ist die formende Pflege, die der Mensch sich selbst angedeihen lässt; denn der Mensch als biologische Spezies unterscheidet sich von allen Lebewesen darin, dass er sich nach dem Bild formt, das er von sich selbst verfertigt. 7 Solche Bilder waren in der Vergangenheit insbesondere das christliche Bild vom Menschen als imago Dei, als Bild Gottes, oder anschließend das Bild der Renaissance vom Menschen als Erfindergeist, als homo faber et creator, der dank seiner Erfindungsgabe selber Gott auf Erden ist. Auch im Gedanken der Menschenrechte – so unsere These – hat sich der europäische Mensch eine bestimmte menschliche Form auferlegt, die von einer hohen Selbsteinschätzung, aber auch Selbstverpflichtung des Menschen zeugt. Es wird im Folgenden darum gehen, diese vorläufigen Hinweise zu vertiefen und überzeugend zu machen. Der Weg zu diesem Ziel besteht darin, tief in die Geschichte zurückzugreifen, da es nur auf diesem Wege möglich sein wird, den Rechtsstaat als den konsequenten Ausdruck einer bestimmten Selbstdeutung des europäischen Menschen zu verstehen. Dabei soll auch gezeigt werden, dass diese Deutung eine fundamentale und universale Bedeutung besitzt; denn sie antwortet auf die Frage, wie eine friedliche Gemeinschaft rationaler Wesen möglich sein soll.

2.

Was heißt »Recht des Menschen«? Worauf hat der Mensch Rechte?

2.1. Was heißt »Recht des Menschen«? Seit dem zweiten Weltkrieg, dessen Anlass unter anderem in der massiven Verletzung des Rechts auf Leben bestand, beobachtete man in der westlichen Welt eine Inflation des Menschenrechtsdiskur7 Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. Frankfurt am Main 2 1964, S. 107–116.

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ses. Von dieser Inflation zeugt die UNO-Menschenrechtserklärung von 1948, die 27 Menschenrechte aufzählt. 8 Eine Analyse dieses Dokuments ergibt jedoch, dass hier nicht Menschen- sondern Individualrechte gemeint sind; in der Tat, die UNO-Erklärung bietet einen Katalog von Gütern, die verschiedenen Individuen wünschenswert erscheinen können, z. B. das Recht auf Teilnahme am kulturellen Leben oder das Recht auf Freizeit. Demgegenüber ist festzuhalten, dass am Ursprung des Menschenrechtsdiskurses die Menschenrechte solche Rechte bezeichneten, die dem Menschen als Gattungswesen angehören, das heißt Rechte, die alle Menschen, Geschlecht, Herkunft und individuelle Neigung beiseite gesetzt, faktisch teilen und daher beanspruchen können. Da sie in dem faktischen Menschsein verankert sind, können solche Rechte nicht zuerkannt, sondern nur anerkannt werden, es sei denn, man spreche dem Betroffenen sein Menschsein ab. Daher sind sie auf drei Bereiche hin fixiert worden: das Recht auf Leben (was das Recht auf die Unversehrtheit des Körpers einschließt, traditionell membra genannt), das Recht auf Freiheit (libertas) und das Recht auf Eigentum an Sachen (dominium). Diese Dreiteilung ist, wie ich zeigen werde, fundamental; sie ist die Frucht einer langen Entwicklung juristischen Denkens 9 und bildete dann die Grundlage des neuzeitlichen Rechtsstaates. Ich möchte daher diese Entwicklung nachzeichnen; denn sie klärt uns darüber auf, was es bedeutet, dass die Menschenrechte Rechte der biologischen Gattung Mensch im Unterschied zu Individual- oder Bürgerrechten sind. Jedoch soll die Entwicklung des Menschenrechtsdiskurses nicht chronologisch, sondern systematisch von ihrem Endpunkt, von John Lockes Theorie der Menschenrechte aus, aufgerollt werden. Zur besseren Orientierung seien aber vorerst die historischen Faktoren vorgestellt, die für die Entwicklung maßgeblich geworden sind, nämlich die griechische Philosophie, die den Gedanken einer natürlichen Gerechtigkeit in die Welt gesetzt hat, das römische Recht, das die Begriffe von Naturrecht und subjektivem Recht ausbildete, die Kommentierungsarbeit der christlichen Juristen am röFelix Ermacora: Internationale Dokumente zum Menschenrechtsschutz. Stuttgart 1983, S. 19 ff. 9 Dazu Rudolf Weigand: Die Naturrechtslehre der Legisten und Dekretisten von Irnerius bis Accursius und von Gratian bis Johannes Teutonicus. München 1967; Brian Tierney: The Idea of Natural Rights. Atlanta 1997. 8 3

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mischen und kanonischen Recht zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert, die das antike Erbe mit der christlichen Botschaft verschmolzen haben, und schließlich die rationalistischen Denker des 17. Jahrhunderts, die auf dem Boden dieses gesamten Erbes eine neue Konzeption des Staates erarbeitet haben. Unter ihnen ragt John Locke hervor, auf den die Idee des neuzeitlichen Rechtsstaates und der Menschenrechtsdoktrin zurückgeht. 2.1.1. Rom Die Menschenrechte verdanken ihren ersten Ursprung der Tatsache, dass das spätmittelalterliche Denken den Begriff des »subjekten Naturrechts« ausgebildet hat. 10 Was mit diesem Ausdruck gemeint ist, verlangt zu seiner Klärung, an das römische Recht zu erinnern. Der Gedanke des Naturrechts, eines Rechts von Natur (ius naturale) entspringt dem Denken der römischen Juristen. Ihm liegt die Rechtsquellenlehre zugrunde, das heißt die Lehre, dass das Recht (ius), das ist eine einklagbare soziale Norm (zum Beispiel »Du sollst nicht töten«), aus drei Quellen fließt: dem Gesetz (lex), der Gewohnheit (mos) und der Natur (natura). 11 Diese drei Quellen bilden den Ursprung der verschiedenen Arten des Rechts: das innerstaatliche Recht (ius civile), das Völkerrecht (ius gentium) und das Naturrecht (ius naturale). Wenn die Klassiker der Juristen sich auch uneinig waren, wie dieses ius naturale inhaltlich genau zu bestimmen sei, so handelte es sich doch immer um ein Recht, das den Menschen als biologische Gattung betraf. So galt es beispielweise als ein alle Menschen betreffendes Naturrecht, dass die Eltern ihre Kinder aufziehen. 12 Wir würden dies als eine natürliche Pflicht bezeichnen, der das natürliche Recht der Kinder entspricht, ernährt und aufgezogen zu werden. In diesem unserem Beispiel bedeutet der Name »ius« eine Rechtspflicht, ein objektives Recht. Die Römer aber kannten darüber hinaus einen weiteren Gebrauch des Terminus »ius«, Recht; denn mit diesem Namen bezeichneten sie, neben dem einklagbaren objektiven Recht, auch einen einTierney: Idea of Natural Rights, S. 207–235. Marcus Tullius Cicero: De inventione (hrsg. von E. Stroebel). Leipzig/Stuttgart 1977, II, 53, §§ 162–163. 12 Corpus iuris civilis. Band 1: Institutiones (hrsg. von P. Krüger). Digestae (hrsg. von T. Mommsen). Berlin/Zürich 17 1963, Dig., 1.1.1, 2–4 (Ulpian). 10 11

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klagbaren Handlungsspielraum des einzelnen Bürgers – später ein ius in rem genannt, das heißt ein Recht auf eine Sache. So besaß zum Beispiel der römische Bürger das »ius provocationis«, das Recht auf Anrufung des Volkstribuns, um sich, im Fall einer ungerechten Behandlung durch einen Magistrat, gegen diesen zu wehren. 13 Diese Bedeutung von ius, nämlich »das Recht auf etwas« erlaubt auch die Pluralbildung, das heißt den Ausdruck »Rechte« (iura). Die moderne Jurisprudenz spricht hier von subjektiven Rechten. In Rom selber waren die ausdrücklich formulierten subjektiven Rechte immer Rechte des Bürgers, also Teil des staatlichen Rechts Roms, ius civile genannt; das antike Rom kannte noch keine subjektiven Menschenrechte, sondern nur objektive Menschenpflichten gemäß dem Naturrecht. 2.1.2. Das christliche Mittelalter Im römischen Recht spielte das Naturrecht keine hervorragende Rolle, etwa in dem Sinne, dass ein Naturrecht ein bürgerliches Recht aufhob. Zwar sollte das bürgerliche Recht möglichst nicht dem Naturrecht widersprechen,14 die Rechtswirklichkeit war jedoch mit diesem Postulat nicht konform. Im Gegenteil: das römische Familienoberhaupt hatte dank seiner rechtlich anerkannten väterlichen Machtfülle, patria potestas genannt, das subjektive Recht zu entscheiden, ob er alle ihm geborenen Kinder aufziehen wollte. Ebenso wenig galt der Vorrang des Naturrechts in Bezug auf die Sklaverei; zwar betrachteten die römischen Juristen dem Naturrecht gemäß alle Menschen als frei, das Völkerrecht jedoch legitimierte die Sklaverei als allgemein verbreitete Institution. Das Naturrecht erhielt erst im Denken der christlichen Juristen eine ganz neue Stellung, denn es wurde das Recht, das dem positiven, staatlichen Recht Maßstab und Inhalt verlieh; mit anderen Worten: ein positives Recht, das nicht dem Naturrecht entsprach, war ungültig, konnte den Ehrentitel des Rechts gar nicht beanspruchen. Welche Ursachen führten zu dieser neuen Würde des Naturrechts? Die Forschung stößt hier auf eine komplexe Vereinigung dreier kultureller

Franz Wieacker: Römische Rechtsgeschichte (= Handbuch der Altertumswissenschaft, Abt. 10, Teil 3, Band 1). München 1989, S. 234. 14 Corpus iuris civilis. Dig. 4.5.7: »civilis ratio naturalia iura corrumpere non potest«. 13

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Traditionen: der griechischen Gerechtigkeitsphilosophie, ihrer römischen Umformung und der jüdisch-alttestamentlichen Botschaft. 15 2.1.3. Die griechische Rechtsphilosophie Der Gedanke, dass das positive Recht auf eine natürliche Norm zu gründen sei, wurde zuerst von Plato im 4. Jahrhundert vor Christus ausgesprochen. 16 Diese Norm war die natürliche Gerechtigkeit (to physei dikaion). Nach Plato ist »von Natur« gerecht, dass jedem Mitglied einer Gemeinschaft die seiner intellektuellen und moralischen Kompetenz entsprechende Stellung einzuräumen sei und dieses dann, seiner Rolle gemäß, handle (to heautou prattein). 17 Die natürliche Gerechtigkeit besteht darin, Kompetenz und Handlungsspielraum einer Person, bzw. mehrerer Personen untereinander in ein gleiches proportionales Verhältnis zu bringen. 18 Der Platoschüler Aristoteles hat diese natürliche Gerechtigkeit die distributive Gerechtigkeit genannt. Bei ihm bildet sie das Prinzip der je nach Verfassung verschiedenen Verteilung der Macht. 19 Bei dem römischen Staatsmann und Philosophen Cicero wandelt sich im 1. Jahrhundert vor Christus die distributive Gerechtigkeit zum Inbegriff von Gerechtigkeit überhaupt und wird von ihm in die konzise lateinische Formel des suum cuique, »jedem das Seine«, umgegossen. 20 2.1.4. Ulpian Diese zwischen dem 4. und 1. Jahrhundert vor Christus ausformulierten Theorien der Gerechtigkeit wurden in dem Moment für den Menschenrechtsdiskurs relevant, als am Ende des 2. Jahrhunderts nach Christus der römische Jurist Ulpian die distributive Gerechtigkeit in seine drei Gerechtigkeitsregeln aufnahm und sie wie folgt Neschke-Hentschke: Platonisme politique et théorie du droit naturel (2003), S. 68– 103. 16 Plato: Nomoi, X, 889b-898c. Zu Platos Gerechtigkeitslehre siehe Ada NeschkeHentschke: Platonisme politique et théorie du droit naturel. Contributions à une archéologie de la culture politique européenne. Volume I: Le platonisme politique dans l’antiquité. Leuven/Paris 1995. 17 Plato: Politeia, IV, 443–444. 18 Plato: Nomoi, VI, 756–757. 19 Aristoteles: Nikomachische Ethik, V, 6, 1131 a20-a29. 20 Marcus Tullius Cicero: De re publica (hrsg. von K. Ziegler). Leipzig 6 1964, III, 11, 19. 15

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definierte: »Gerechtigkeit ist der unerschütterliche und ununterbrochene Wille, jedem sein Recht zuzuteilen«. 21 An dieser Formel ist entscheidend, dass Ulpian den Ausdruck Ciceros, »jedem das Seine«, suum cuique, in ein suum cuique ius, »jedem sein ihm zukommendes Recht« verwandelte. 2.1.5. Die christlichen Juristen Ulpians Gerechtigkeitsdefinition, die, wie wir sahen, letztlich auf Plato zurückging, wurde den christlichen Juristen im 11. Jahrhundert durch den Fund einer Handschrift (der littera florentina) bekannt, die das klassische römische Recht, das Corpus iuris civilis, enthielt. Diese Kenntnis von Ulpians Formel verbanden die Juristen mit einem anderen platonischen Erbstück und gewannen aus dieser Verbindung ein Modell, den Schöpfungsbericht der Bibel neu zu deuten. Dazu muss erinnert werden, dass von allen platonischen Schriften dem frühen Mittelalter nur der Dialog Timaios, das heißt Platos Lehre von der Schaffung des Weltalls durch einen Handwerkergott, einen Demiurgen, bekannt war. 22 Diese Schrift lag in einer Teilübersetzung und Kommentierung vor, die ein gewisser Calcidius um 400 n. Chr. angefertigt hatte. 23 Die Kommentierung des Calcidius bestimmte nun tiefgreifend das Verständnis, das die mittelalterlichen Juristen von Platos Dialog gewannen. Der Kommentar kam den Juristen sehr entgegen, denn er lief darauf hinaus, das physikalische Weltall als denjenigen Ort zu deuten, an dem die natürliche Gerechtigkeit ihren manifesten Niederschlag fand. Calcidius hatte von Plato den Begriff der natürlichen Gerechtigkeit (to physei dikaion) übernommen und diesem Begriff, jetzt iustitia naturalis genannt, folgende Auslegung gegeben: die Welt als Ganze, die Erde und ihre Planeten, sind Teile einer natürlichen Ordnung, da diese Welt nach Proportionen im Sinne der distributiven Gerechtigkeit harmonisch geordnet ist. Diese natürliche Gerechtigkeitsordnung teilt jedem Element und Lebewesen einen seiner Eigenart gemäßen Platz und Rolle zu. Als Ausdruck Corpus iuris civilis. Dig. 1.1.1: »iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi«. 22 Zur Rezeption des Timaios siehe Thomas Leinkauf/Catherine Steel (Hrsg.): Platos Timaios als Grundtext der Kosmologie in Spätantike, Mittelalter und Renaissance (= Ancient and Medieval Philosophiy I, xxxiv). Leuven 2005. 23 Zu Calcidius Rolle siehe Neschke-Hentschke: Platonisme politique et théorie du droit naturel (2003), S. 83–88. 21

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vollkommener Gerechtigkeit muss daher die Naturordnung das Vorbild für die staatliche Ordnung bilden. Letztere nennt Calcidius die iustitia positiva und schafft damit den noch heute geltenden Begriff des »positiven« Rechts. Calcidius folgt somit ausdrücklich Plato, der die natürliche Gerechtigkeit, als Vernunftidee der Gerechtigkeit gefasst, zum Maßstab der staatlichen Gesetze erhoben hatte. Anders als Plato findet Calcidius aber diese natürliche Gerechtigkeit nicht in der Idee, sondern in der Ordnung der sichbaren Welt (mundus sensilis). Die Lehre von der Vorbildlichkeit des Naturrechts vor dem positiven Recht war also schon antik: sie wurde jedoch, wie wir sehen, mit Nachdruck nicht von den römischen Juristen, sondern von den griechisch-römischen Philosophen vertreten. Auch Cicero, in seinem philosophischen Werk »Über die Gesetze«, ist ihr engagierter Verteidiger und gibt diese Lehre an den jungen platonisierenden Augustin weiter. 24 Alle drei Quellen, Plato bzw. Calcidius, Cicero, und der junge Augustin, haben diese Lehre an die mittelalterlichen Juristen tradiert. Damit wurde eine Übertragung der griechischen Gerechtigkeitsphilosophie auf die biblische Botschaft möglich; denn mit der Konzeption der Ordnung der Welt als Manifest einer natürlichen Gerechtigkeit bot sich für die mittelalterlichen Juristen nun ein Modell an, wie der Schöpfungsvorgang der Welt, den die Genesis im Alten Testament beschreibt, zu deuten sei, nämlich wie folgt: die Schöpfung ist ein Akt eines Gottes, der sich von der distributiven Gerechtigkeit leiten lässt. Diese distributive Gerechtigkeit verstanden die Juristen nun gemäß der Formel des Ulpian, das heißt als die Distribution des jeweils eigenen Rechtes, des suum cuique ius; 25 denn Gott hat jedem Element und Lebewesen, dabei auch dem Menschen, im Schöpfungsvorgang seine spezifischen Kräfte (vires) und Handlungsspielräume (potestates) zugewiesen. Diese sind daher als Ausdruck der natürlichen Rechte (iura naturalia) zu deuten. 26 Die Schöpfungsordnung wird in dieser Interpretation eine große juridische Zu Cicero siehe Neschke-Hentschke: Platonisme politique et théorie du droit naturel (1995), S. 192–202; zu Augustin siehe Neschke-Hentschke: Platonisme politique et théorie du droit naturel (2003), S. 72–75. 25 Tractatus de iustitia ac iure Divinam voluntatem vocamus iustitiam: »Divinam voluntatem vocamus iustitiam, qua videlicet cuique persone tribuitur ius suum […]«. In: Weigand: Die Naturrechtslehre der Legisten und Dekretisten, S. 35, 454 ff. 26 Summa Duacensis (12. Jh.). In: Weigand: Die Naturrechtslehre der Legisten und Dekretisten, test. 403, S. 238 ff. Dazu Neschke-Hentschke: Die iustitia naturalis gemäss Platos Timaios in den Deutungen der Dekretisten des XII. Jahrhunderts, S. 293 ff. 24

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Ordnung, in der jedem Mitglied, wie es auch das römische Recht für den Bürger vorsah, bestimmte Rechte zukommen. Natur, Gerechtigkeit und Gott werden miteinander identifiziert, wie aus den Quellen hervorgeht. In der Tat, man findet folgende Formeln: »Gott, das ist die Gerechtigkeit«, aber auch: »Gott, das ist die Natur« (Deus id est aequitas, Deus id est natura.). 27

2.2. Worauf hat der Mensch Rechte? 2.2.1. Leben und Freiheit Worin besteht nun in diesem Bild von Welt und Gott das Recht, das dem Menschen eigen ist? Gott schafft die biologische Gattung Mensch. Diese Schaffung des Menschengeschlechts darf als Ausdruck des Rechts des Menschen auf Leben verstanden werden; denn Gott will das Menschengeschlecht erhalten. Von diesem Willen Gottes zeugt ja auch der Dekalog – im Diskurs der Juristen »das positive göttliche Recht« – mit dem Satz: »Du sollst nicht töten«. Die Sonderstellung des Menschen unter den Geschöpfen Gottes besteht jedoch in seiner, auf der menschlichen Intelligenz gegründeten Willens- und Handlungsfreiheit (libertas). Der Mensch ist nicht, wie die vier Elemente und die Tiere, von Gott auf eine vorgezeichnete Lebensbahn gesetzt worden, sondern erhielt die Freiheit, über seine Bahn selbst zu bestimmen. 28 Diese Freiheit beinhaltet im christlichen Denken dreierlei: zunächst, sich für ein Leben gemäß oder wider Gottes Gesetz entscheiden zu können, ferner, für diese Wahl voll verantwortlich zu sein, und schließlich, gemäß dieser Verantwortlichkeit im Jüngsten Gericht von Gott beurteilt zu werden. Die Freiheit des Menschen ist ein Grundaxiom der christlichen, später katholischen Theologie vom Mittelalter bis heute. Insbesondere wurde sie von Thomas von Aquin 29 und den spanischen Spätscholastikern geltend gemacht. Gemäß diesem Grundaxiom wird der Mensch, dessen Merkmal als bioWilhelm von Gascogne (12. Jh.). In: Weigand: Die Naturrechtslehre der Legisten und Dekretisten, test. 398, S. 232. Dazu Neschke-Hentschke: Die iustitia naturalis gemäss Platos Timaios in den Deutungen der Dekretisten des XII. Jahrhunderts, S. 284. 28 Weigand: Die Naturrechtslehre der Legisten und Dekretisten, S. 64–77. 29 Wolfgang Kluxen: Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin. Darmstadt 3 1998, S. 206–217. 27

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logische Gattung in seiner Intelligenz besteht, durch seine mit der Geburt (das heißt durch sein Geschaffensein) unmittelbar gegebene Freiheit und damit durch Verantwortlichkeit für seine Handlungen definiert. So sagt der Spätscholastiker Francisco Suarez: »die Natur (gemeint ist Gott) hat den Menschen auf positive Weise als frei geschaffen, mit einem ihm innewohnenden Recht auf Freiheit«. 30 Was gibt diese Geschichte zu erkennen? Die Menschenrechte sind als subjektive und natürliche Rechte entstanden. Zeit und Ort ist das Europa zwischen dem 12. und 17. Jahrhundert, das das Erbe der griechischen Gerechtigkeitsphilosophie und des römischen Gedankens eines subjektiven Rechts – eines ius in rem – aufgenommen und mit der christlichen Botschaft verschmolzen hat. 31 Die Deutung des objektiven und subjektiven Naturrechts als göttliches Recht verlieh dem Naturrecht, im Unterschied zu seiner Rolle in Rom, eine ganz ausgezeichnete normative Kraft. Diese musste, gemäß der schon seit Plato bestehenden Gegenüberstellung von Naturrecht und positivem Recht – letzteres ist bei Plato das geschriebene Gesetz –, dahin ausgelegt werden, dass das Naturrecht dem positiven Recht vorausgeht, ja dessen Ausmaß und Wirksamkeit bestimmen soll. Diese Auffassung wurde entschieden von allen christlichen Staatstheorien zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert vertreten. Der Verweis auf den göttlichen Ursprung und daher normativen Vorrang des Naturrechts und der Naturrechte diente den Theologen und Juristen vor allem dann als Argument, wenn es galt, die Willkür der politischen Machthaber einzuschränken. Die christlichen Fürsten sollten an das Naturrecht als Gottesrecht gebunden werden. 32 2.2.2. Das Recht auf Eigentum Wir haben damit unsere ersten zwei Fragen »Was ist ein Recht des Menschen und worauf hat der Mensch Rechte?« weitgehend beantwortet. Allerdings bleibt eine Lücke; denn als Rechte des Menschen qua Gattungswesen haben wir bislang nur zwei Rechte gefunden, das

Francisco Suarez: De legibus (hrsg. von L. Pereoa, V. Abril, P. Suoer). Madrid 1971– 1973, II, xiv, 16: »[…] quia natura fecit homines positive liberos cum intrinseco iure libertatis«. 31 Siehe auch Tierney: The Idea of Natural Rights, S. 343–348. 32 Ex.gr. Jean Bodin: Les six livres de la république (1583). Aalen 1977, S. 131: »[…] tous les princes sont subjects aux lois de Dieu et de nature […]«. 30

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Recht auf unversehrtes Leben (membra) und das Recht auf Freiheit (libertas). Wie steht es mit dem Recht auf Eigentum an Sachen? Hier waren die christlichen Denker zerstritten, gab doch die Bibel zu widersprüchlichen Deutungen Anlass. Einerseits soll Gott am Anfang den Menschen alles gemeinsam gegeben haben – die ursprüngliche Gütergemeinschaft galt als Kennzeichen der ersten Christengemeinden und war zugleich das Prinzip der Mönchsvereinigungen. Andererseits setzte der Dekalog, das heißt das positive göttliche Recht, das Eigentum als gottgewollt voraus, da er mit dem »Du sollst nicht stehlen« den Diebstahl verbot. 33 In die Reihe der drei grundlegenden Menschenrechte wurde das Eigentum daher erst im 17. Jahrhundert durch den Juristen und Humanisten Hugo Grotius aufgenommen, allerdings nicht mit dem Hinweis auf seine Natürlichkeit, das heißt Gottgewolltheit, sondern mit der Begründung der Zweckmäßigkeit; denn, wenn man den politischen Frieden wünscht, lässt es die Unvollkommenheit der moralischen Natur des Menschen empfohlen sein, die Güter dem Eigentum Einzelner zu überantworten und gemäß der römischen Eigentumsordnung von einander abzugrenzen und zu schützen. 34 So findet sich in Grotius’ großem Werk von 1625 »Zum Recht des Krieges und des Friedens« erstmals die Reihe der drei klassischen Grundrechte. Gemäß Grotius, der christlichen Tradition folgend, sind die Rechte auf Leben und Freiheit natürlich, das Recht auf Eigentum aber durch gegenseitige Abmachung, also durch Vertrag, entstanden. Wir haben somit die ursprüngliche Bedeutung des Menschenrechtsdiskurses aufgeklärt, sowohl, was den Ausdruck »Recht des Menschen« betrifft, nämlich subjektive natürliche Rechte des Gattungswesen Mensch, sowie, um welche Rechte es sich inhaltlich handelt. Damit sind wir nun vorbereitet, den Ursprung der Menschenrechtsdoktrin und des neuzeitlichen Rechtsstaatsgedankens aufzusuchen.

Zur Diskussion im 12. Jahrhundert siehe Weigand: Die Naturrechtslehre der Legisten und Dekretisten, S. 92–99; im 17. Jahrhundert siehe Suarez: De legibus, II, 14, 13. 34 Hugo Grotius: De iure belli ac pacis libri tres (1625) = Drei Bücher vom Recht des Kriegs und des Friedens. Übersetzt von Walter Schätzel. Tübingen 1950, II. ii, 2; S. 146 ff. 33

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Der Ursprung der Menschenrechtsdoktrin

Menschenrechts- bzw. Rechtsstaatsdoktrin finden sich, wie bereits unterstrichen, zuerst in den politischen Schriften des englischen Philosophen John Locke ausgearbeitet. 35 Die Menschenrechte, wie sie Locke bei Grotius vorfand, bestanden in den drei Grundrechten auf Leben, auf Freiheit und auf Eigentum. Locke geht jedoch über Grotius hinaus, indem er nachweist, dass auch das Recht auf Eigentum ein natürliches Recht darstellt; denn der Mensch, im Besitz eines nicht autarken Körpers, bedarf der Nahrung und des Schutzes vor Witterung und ist daher zur Erhaltung seines Lebens auf Arbeit angewiesen. In der Arbeit verwandelt er Rohmaterial in die für den Menschen brauchbaren Güter; da er in die Erzeugung dieser Güter seine leiblich-geistige Anstrengung steckt, besteht ein natürlicher Verteilungsschlüssel der Güter darin, dass der Mensch die von ihm durch eigenen Einsatz geschaffenen Güter als sein Eigentum betrachten kann. 36 Auch gemäß Locke gehören die drei Rechte dem Menschen als Mitglied der biologischen Gattung an; aber Locke fasst diesen Begriff philosophisch als das Wesen des Menschen. 37 Mit Wesen (ousia, essentia) bezeichnen die Philosophen seit Plato die unverwechselbare Identität einer Sache. Locke zeigt auf, dass die drei Rechte im menschlichen Wesen selbst, seiner »identity«, begründet sind; besteht doch der Mensch aus einem Körper als Träger des Lebens, aus einer Seele als Ort aller psychischen Vorgänge und so auch des Denkens, das die Freiheit begründet, und ist schließlich die menschliche Natur derart, dass der Mensch, weil auf Ernährung und Schutz vor der Witterung angewiesen, als Mensch gezwungen ist, sich Nahrung und Behausung durch Anstrengung und Arbeit als sein Eigentum zu verschaffen. Der so beschaffene Mensch besitzt nunmehr nach Locke das wesentliche Kennzeichen, Eigentümer seiner selbst zu sein; denn gemäß Locke hat der Mensch von seinem Körper, seiner Freiheit und seiner Im Folgenden handelt es sich um ideengeschichtlich bekannte Tatsachen. Eine Zusammenfassung der Forschungslage zu Locke bei Neschke-Hentschke: Platonisme politique et théorie du droit naturel (2003), S. 492–495. 36 John Locke: Two Treatises on Government (hrsg. von P. Laslett). Oxford 1960, II, v, 25–51; S. 303–320. 37 John Locke: An Essay concerning Human Understanding (hrsg. von P. H. Nidditch). Oxford 1975, II, xxvii; S. 328–348. 35

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Arbeit ein Bewusstsein (consciousness) und kann diese drei Bereiche koordinieren und kontrollieren. 38 Der Mensch ist daher dasjenige Wesen, das sich selbst besitzt, Herr seiner selbst ist. Diesen Selbstbesitz nennt Locke, mittels einer Begriffserweiterung »Eigentum«, »property«. In der Tat bedeutet bei Locke das Wort »Eigentum« nicht nur das Eigentum an Sachen im Privateigentum, sondern der Mensch ist auch Eigentümer seines Körpers und seiner moralischen Person, seiner moralischen Handlungen. 39 Mit dem Ausdruck »property« umfasst Locke also das Eigentum des Menschen an sich selber und identifiziert dieses mit den drei Grundrechten. Diese verwandeln sich aus bloßen Rechten iura in Eigentumsrechte, gemäß dem juristischen Diskurs in iura dominativa oder dominia. Der Gedanke, dass der Mensch sich selbst zum Eigentum hat, führt Locke zu einer radikalen Neukonzeption der Rolle des Staates. 40 In der Tat, ist der Mensch dank seines vernünftigen und bewussten Wesens Eigentümer seiner selbst, kann sich niemand, weder ein anderer Mensch noch auch der Staat, zum Eigentümer über den Menschen, das heißt sein Leben, seine Freiheit und sein durch Arbeit erworbenes Sacheigentum aufschwingen. Erstmalig und logisch stringent artikuliert Locke in seiner Staatsschrift die Menschenrechtsdoktrin, bzw. den Gedanken des Rechtsstaates dadurch, dass er das Eigentumsrecht des Menschen auf sich selbst zur Grundlage seiner Staatstheorie macht. 41 Die »civil society«, der Staat Lockes, hat zur Aufgabe, die Eigentumsrechte des Menschen auf sich selbst, also die drei Menschenrechte, durch eine Verfassung auf Dauer zu stellen und zu garantieren, indem er deren Verletzung von außen und von innen ahndet. Der Staat im neuzeitlichen Rechtsstaatgedanken ist der Hüter des Rechts, das heißt der Rechte seiner Bürger, die ihnen aus ihrem Menschsein wesensmäßig zugehören. In der Tat, einzig mit der Absicht, ihre Rechte zu schützen und ihr Leben zu sichern, haben sich nach Locke die Menschen zusammengefunden, um einen Staat zu gründen. Es ging ihnen darum, einen gemeinsamen Schiedsrichter zu bestellen, der imstande ist, bei Konflikten der Bürger, ohne selber Partei zu sein, die streitenden Parteien zu versöhnen. Ebd., II, xxvii, 9; S. 335. Locke: Two Treatises on Government, II, xv, 173; S. 401. 40 Neschke-Hentschke: Platonisme politique et théorie du droit naturel (2003), S. 517– 527. 41 Locke: Two Treatises on Government, II, vii-iv; S. 336–371. 38 39

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Locke betont in der Zeit, in der die absolutistische Staatsdoktrin das Handeln der Fürsten weitgehend entgrenzte, das Selbsteigentum des Menschen einerseits gegenüber dieser Wirklichkeit, andrerseits aber auch gegenüber einer philosophischen Doktrin, die den Menschen zum Eigentum (dominium) des absoluten Herrschers macht und deren radikalster Vertreter Thomas Hobbes war. Hobbes nämlich hatte von seinem Bürger verlangt, seine ursprüngliche Freiheit, die ihm ein Recht auf alles gegeben hatte, zugunsten des Staates, großer Leviathan genannt, fast vollständig aufzugeben. 42 Damit wurde der Staat absoluter Herr über die Bürger, wurde zu einem selbsterzeugten sterblichen Gott. Locke dagegen konzipiert den Gedanken des Rechtsstaates darin, dass er dem Staat allein die Rolle des unparteilichen Richters zuweist und seine Macht durch die Gewaltenteilung begrenzt. Der Staat wird in seinem Wesen als der Hüter des Rechts bestimmt; dazu erhält er sein Machtmonopol, das jedoch, in welcher politischen Verfassung es auch immer auftritt, ob monarchisch oder demokratisch, durch die Menschenrechte in unüberschreitbare Schranken verwiesen wird. Der Rechtsstaatsgedanke formuliert die Unantastbarkeit des Lebens eines jeden Menschen, seiner Freiheit und seines durch Arbeit erworbenen Eigentums gegenüber allen je denkbaren Eingriffen des Staates. 43 Daher sind Menschenrechtsdoktrin und Rechtsstaatsgedanke die zwei Seiten einer Medaille.

4.

Das autonome Subjekt

Die Menschenrechte sind ein Erbe antiker und christlicher Rechtsphilosophie. Dieses Erbe wurde in dem Augenblick politisch relevant, als es galt, die Ansprüche des absoluten Staates auf Verfügung über den Einzelnen abzuwehren; sie erhielten die Rolle der Schutzrechte und haben diese Funktion bis heute behalten. Darüber hinaus jedoch wurde die Staatstheorie John Lockes von einem bestimmten, anspruchsvollen Menschenbild getragen, in dem sich abzuzeichnen beThomas Hobbes: Leviathan (1651) (hrsg. v. R. Tuck). Cambridge 2 1996. Deutsche Übersetzung von Walter Euchner. Frankfurt am Main 4 1991, Kap. 21, S. 163–172. 43 So stellt etwa der Gedanke John Rawls (A Theory of Justice, Harvard 1971) der Egalisierung der Gesellschaft mit seinen Eingriffen in die Eigentumsverhältnisse nach Locke eine schwere Verletzung des Rechtsstaates dar. In Rawls Theorie gibt es konsequenterweise keine vorstaatlichen Rechte, da er keine Theorie der Person hat, wie längst kritisch angemerkt wurde. 42

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gann, was erst von Kant weitergedacht wurde und in die modernen Verfassungen eingegangen ist, nämlich der Gedanke des autonomen Subjekts. Daher sei nochmals zu Locke zurückgekehrt. Die Menschenrechtsdoktrin, aus dem Widerstand gegen den absolutistischen Staat geboren, lieferte der großen Revolution des 18. Jahrhunderts, die diesem Staat ein Ende machte, die ideelle Grundlage. Allerdings ging bei dieser Übernahme der Menschrechtsdoktrin durch die Revolution in Frankreich ein weiterer Gedanke Lockes verloren, nämlich, dass die natürlichen Menschrechte deswegen unveräußerliche Rechte sind, weil sie dem Menschen von Gott selber verliehen wurden. Diesen göttlichen Ursprung betont noch die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. 44 In der Französischen Revolution wurde dagegen der Menschenrechtsgedanke säkularisiert, und damit seiner Legitimationsgrundlage, die im Willen Gottes bestand, entkleidet. Wie, so fragen wir, lassen sich die Menschenrechte als unveräußerlich begründen, wenn ihre christliche Grundlage wegfällt? Man rekurriert heute auf die Würde des Menschen als eines »Rechtsbegriffs« nur mit erheblichen Schwierigkeiten. 45 Kann es eine Würde des Menschen geben, wenn der Mensch nicht, wie es immer noch die katholische Kirche lehrt, imago Dei ist? 46 Der Versuch einer Antwort auf diese Fragen verlangt daher, das Menschenbild zu entwerfen, das sich in der philosophischen Anthropologie Lockes erst andeutet und dem dann Kant seine säkularisierte Form gegeben hat. Setzen wir nämlich den christlichen Gott, wie es schon Hugo Grotius für eine laizisierte Rechtstheorie tat, in Klammern, so lässt sich die Würde des Menschen auch ohne den göttlichen Gesetzgeber aufzeigen, nämlich in dem Gedanken Kants, dass der Mensch sein eigener Gesetzgeber ist, sich als autonomes Wesen selbst konstituiert. Der zeitgenössische Rechtsstaat geht von der Vorstellung des Bürgers als eines autonomen Subjekts aus; denn der Bürger als Mit»Wir halten diese Wahrheit für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen wurden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräusserlichen Rechten begabt wurden, worunter sind Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit«. In: Angela u. Willi Paul Adams: Die amerikanische Revolution und die Verfassung. 1754–1791. München 1987, S. 214. 45 Siehe Seelmann, dieser Band. 46 Zur protestantischen Position siehe Eilert Herms: Menschenwürde. In: Klaus Martin Girardet/Ulrich Nortmann (Hrsg.): Menschenrechte und europäische Identität. Die antiken Grundlagen. Stuttgart 2005, S. 183–214, hier S. 208–212. 44

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glied des Staatsvolkes ist der Souverän, bestimmt selber die Gesetze, unter denen er leben will. Was ist aber mit dem autonomen Subjekt philosophisch gemeint? Dieser Gedanke hat die Entwicklung der philosophischen Anthropologie von Locke zu Kant zur Grundlage. In Lockes Theorie des Menschen, seiner Identität als Mensch, findet sich der Mensch in der Selbsterfahrung des Denkens als ein Wesen, das sagen kann: »Ich denke«. 47 Die innere Erfahrung des »Ich denke« und das Bewusstsein des Denkens als meines Denkens begründet die Subjektivität, die Partikularisierung des Menschen im »Ich« (Self bei Locke). Dieses denkende Ich Lockes findet nun im Gedanken seiner Selbst den weiteren Gedanken, dass das Ich sich nur denken kann, wenn es lebt. Während das Ich sich als Eigentümer seines Denkens und Bewusstseins erfährt, erfährt es sich jedoch, gemäß Locke, sofern es Leben hat, im Besitz einer Sache, derer es nicht Urheber und daher auch nicht Eigentümer ist. Urheber und daher Eigentümer des menschlichen Lebens ist allein Gott. Indem er dem Menschen, das heißt allen je lebenden Menschen, das Leben gegeben hat, hat er sein Gesetz kundgetan, das lautet: das Menschengeschlecht soll leben. Dieses Gesetz findet die natürliche Vernunft in sich vor, Locke nennt es daher the natural law; da sein Inhalt aber von Gott stammt, nennt er es auch the divine law. 48 Im Angesicht dieses fundamentalen göttlichen Imperativs des Lebens weiß der Mensch, dass ihm Gott die drei Rechte auf Leben, Freiheit und Eigentum als bloße Mittel gegeben hat, damit er seiner Pflicht nachkomme, das Gesetz Gottes zu erfüllen. Lockes These ist hier paradox; in der Tat, der Mensch ist Eigentümer seiner selbst, da er Eigentum Gottes ist. Dies entspricht dem Paradox der christlich-katholischen Lehre von der Freiheit des Menschen als Gabe Gottes. Da diese Gabe im Dienste der Erhaltung des Lebens steht, kann die Freiheit keine Willkürfreiheit, sondern muss sittliche Freiheit sein, das heißt die Freiheit der Handlungen im Dienste des Gesetzes, das das Leben aller Menschen will. Locke unterscheidet am Menschen sein Menschsein (man), das heißt seine biologische Existenz von seinem Personsein (person), seiner moralischen Existenz. Er betont, dass person (lateinisch persona)

Locke: An Essay concerning Human Understanding, IV, ix, 2; S. 619. Zur Polysemie des »Gesetzes« bei Locke siehe Neschke-Hentschke: Platonisme politique et théorie du droit naturel (2003), S. 517 ff.

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ein juridischer Begriff ist. 49 Die Würde des Menschen besteht darin, dass sich der Mensch als Person ausweist, das heißt als Wesen, das im Angesicht des allgemeinen, alle Menschen schützenden Gesetzes Gottes handelt, sich dieser Handlungen bewusst ist (conscious) und daher seine Verantwortlichkeit für diese Handlungen voll auf sich nimmt. Lockes Person erweist sich daher als verantwortlich handelndes Subjekt im Zeichen einer grundlegenden Heteronomie, nämlich verantwortlich gegenüber dem von Gott gegebenen Gesetz. Man kann dieses paradoxe Verhältnis so kennzeichnen, dass man von einer bewussten und verantwortlichen (autonomen) Selbstbestimmung des Menschen zur Fremdbestimmung, zur Heteronomie, spricht. Diese Auffassung zeigt Locke als christlichen Denker, denn bereits Thomas von Aquin hatte die Freiheit des Menschen so verstanden. 50 Erst im Denken Kants wird dagegen der Schritt von der christlichen Idee der Selbstbestimmung zur Heteronomie in Richtung auf die Selbstbestimmung zur Autonomie vollzogen. Auch bei Kant erfährt sich das Subjekt im »Ich denke«. Es findet jedoch in sich als Vernunftwesen, das heißt in sich als Wesen, das universelle Begriffe bilden kann, auch die Idee des Gesetzes. Im Begriff des Gesetzes selber liegt die Universalität: Gesetz kann nur sein, was für alle Menschen gilt. Daher muss der Mensch, sofern er Vernunftwesen, das heißt der Bildung des Gesetzesbegriffs fähig ist, auch fähig sein, als Vernunftwesen gemäß dem Gesetz zu handeln. Das aber kann nur bedeuten, dass die »Maximen seines Handelns die Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung sein sollen«. 51 In Kants berühmtem kategorischem Imperativ konstituiert sich das vernünftige Subjekt als sein eigener Gesetzgeber; der Rekurs auf den göttlichen Gesetzgeber wird dadurch überflüssig gemacht, dass Kant als Aufklärer Gott durch die Vernunft ersetzt, in deren Beschaffenheit selber die Fähigkeit zur allgemeinen Gesetzgebung beinhaltet ist. Das »autonome Locke: An Essay concerning Human Understanding, II, xxvii, 26; S. 346. Neschke-Hentschke: Platonisme politique et théorie du droit naturel (2003), S. 146– 156. 51 Kants Schriften werden nach folgender Ausgabe zitiert: Immanuel Kant: Kant’s Gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften und später v. d. Deutschen Akademie d. W. Berlin 1900 ff. – im folgenden AA, Band. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA, IV, S. 421: »handle nur nach derjenigen Maxime, durch die Du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde«. 49 50

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Tradition und Identität Europas

Subjekt« bzw. die verantwortliche, sich an das selbstgegebene Gesetz bindende Person ist somit das Produkt der Einsicht Kants, dass das Gesetz seinen Ursprung nicht in Gott, sondern in der Menschennatur als vernünftiger Natur selber hat. Damit ist erst echte Autonomie gedacht, das heißt der Mensch gibt sich selbst das Gesetz und bindet sich an das eigene Gesetz. Dieses als allgemeines kann aber nur so beschaffen sein, dass es die Koexistenz aller Menschen als Vernunftwesen möglich macht. 52 Das freie, autonome Subjekt bildet daher auch bei Kant, als Substitut des freien, aber heteronomen Subjekts bei Locke, die Grundlage des Rechtsstaates. Kant nennt diesen die Republik; in ihr ist das Volk der Souverän, ohne zugleich der Regierende sein zu müssen. Rechtsstaat und Demokratie fallen nicht zusammen. 53 Das Recht in der Republik definiert Kant in einer gleichfalls berühmten Formulierung wie folgt: »Jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann«. 54 Kant formuliert hier die Grenze der Willkürfreiheit durch das Gesetz und damit die Grundlage der rechtlichen Freiheit, gemäß derer der Mensch konform mit dem Gesetz handelt. Sofern er darüber hinaus um des Gesetzes willen handelt, wird die legale Freiheit zur moralischen Freiheit. In dem Gedanken des autonomen Subjekts als Person und Subjekt moralischer und rechtlicher Freiheit entwirft Kant ein Menschenbild, das höchste Ansprüche an den Menschen stellt, nämlich in die Beziehung zu sich selbst immer schon die Beziehung zum anderen und damit zur Menschheit aufgenommen zu haben. Das nämlich meint der Satz von der Maxime des persönlichen Handelns, die Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung sein soll. In dieser Haltung äußert sich sittliche Freiheit und der Mensch, der in diesem Sinne handelt, besitzt Würde; denn er bringt die Vernunftnatur des Menschengeschlechts in seiner Person zur Wirklichkeit. Nach Kant trägt jeder Mensch grundsätzlich diese Idee des Menschen in sich, ebenso wie im christlichen Glauben jeder Mensch ein Bild Gottes ist. Als Ergebnis unserer Darlegung ist festzuhalten, dass die aktuZu Kant siehe auch Theo Kobusch: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild. Darmstadt 2 1997, S. 134–150. 53 Kant: Zum ewigen Frieden, AA, VIII, S. 349–353. 54 Kant: Metaphysik der Sitten, AA, VI, S. 230. 52

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elle Grundlage des aktuellen Rechtsstaates, das autonome Subjekt und seine Würde, aus der Säkularisierung des Rechts- und Personenbegriffs hervorgegangen ist, die in Kants Denken zu Ende gebracht wurde. 55 Die Vernunftnatur des Menschen ist allerdings, wie Kant selber sehr deutlich sah, eine Utopie des Denkens; Kant nennt solche Utopien platonische, das heißt praktische Ideen. Aber ohne die Utopie der Vernunft des Menschen ist keine rationale Staats- und Rechtstheorie möglich, das heißt eine solche, auf die sich rationale Wesen einigen können. Den Menschen als autonomes Subjekt zu betrachten ist diejenige Utopie, die den Rechtsstaat und den Volkssouverän zuerst denkbar, dann wirklich gemacht hat. 56 Der Gedanke des autonomen Subjekts erlaubt es heute, den Rechtsstaatsgedanken, auch ohne auf dessen christlichen Ursprung zurückgreifen zu müssen, zu erhalten und zu verallgemeinern. Der Gedanke des Rechtsstaates, als praktische Idee gefasst, richtet gleichsam einen ständigen Appell an seine Bürger, der Würde des Vernunftwesens zu entsprechen, die immer schon dadurch anerkannt ist, dass die Schaffung des Rechtsstaates selber dieses Wesen voraussetzt.

Zur Geschichte der Person und der Metaphysik der Freiheit siehe Kobusch: Die Entdeckung der Person. 56 Zum Ursprung der Volkssouveränität bei F. Suarez aus dem Vernunftbegriff siehe Ada Neschke-Hentschke: Vom Staat der Gerechtigkeit zum modernen Rechtsstaat. Die Theorie der Volkssouveränität bei Francisco Suarez und das Erbe des Plato. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie (2002), S. 256–285. 55

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Globale Gerechtigkeit, Menschenrechte und korrespondierende Pflichten. Eine Skizze 1 Georg Lohmann (Magdeburg)

1.

Zum Unterschied zwischen kosmopolitischer und internationaler Gerechtigkeit

Ob die Verhältnisse der Menschen auf der Erde gerecht oder ungerecht sind, ob es also in einem allgemeinen Sinne eine globale Gerechtigkeit gibt, lässt sich im Lichte unterschiedlicher Begriffe beurteilen. Mit dem Begriff einer »kosmopolitischen Gerechtigkeit« beziehen wir uns auf die Frage gerechter Verhältnisse zwischen allen Menschen weltweit, auf die dabei als einzelne Personen Bezug genommen wird. In dieser Perspektive abstrahieren wir von den unterschiedlichen sozialen und politischen Mitgliedschaften in einzelnen Staaten oder Institutionen, in denen die einzelnen Menschen sich vorfinden oder die sie eingehen. Gerecht sind die Verhältnisse, wenn alle Menschen unparteilich berücksichtigt werden. Dabei kann zunächst offen bleiben, welche Gerechtigkeitskonzeption im Besonderen (z. B. eine utilitaristische oder vertragstheoretische oder kantianische) 2 zugrunde gelegt wird. Mit dem Begriff »internationale Gerechtigkeit« beziehen wir uns auf die Beurteilung der Verhältnisse zwischen einzelnen Staaten und internationalen Organisationen als gerecht. Bezugsgrößen sind daher zunächst soziale und politische Einheiten wie Staaten, internationale Organisationen und Kollektive, und erst vermittelt über sie wird unter Umständen auf die Auswirkungen der internationalen Verhältnisse auf die einzelnen Bürger reflektiert.

Dem Aufsatz liegen Vorträge an den Universitäten Porto Alegre, Zagreb, Freiburg und Leipzig zu Grunde. Ich danke den Diskussionsteilnehmern und Thomas Hoffmann für hilfreiche Kritik. 2 Siehe exemplarisch: Peter Singer: Praktische Ethik. Stuttgart 2 1994, S. 278 ff.; Thomas Pogge: World Poverty and Human Rights. Polity Press Cambridge/UK 2002; Stefan Gosepath: The Global Scope of Justice. In: Metaphilosophy 31 (2001), S. 145–168. 1

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Im Lichte des ersten Begriffs geht es um die unparteiliche Beurteilung einer moralischen Gerechtigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen im globalen Ausmaß; der zweite Begriff wirft die Fragen einer politischen Gerechtigkeit auf, mit der Verhältnisse zwischen Staaten bzw. internationalen Organisationen beurteilt werden. Nach dem klassischen Völkerrecht gelten internationale Beziehungen als politisch gerecht, wenn die Souveränität und unterstellte Gleichheit aller Staaten respektiert und kriegerische Angriffshandlungen unterlassen werden. Die zur Beurteilung internationaler Verhältnisse entwickelten Kriterien, die Regeln des Völkerrechts und internationale Standards, haben als Ziel eine internationale Friedens- und Sicherheitsordnung. Auf diese Weise können nach den Maßstäben des klassischen Völkerrechts Verhältnisse »gerecht« erscheinen, die es nach den Kriterien einer kosmopolitischen Gerechtigkeit keinesfalls sind. Gleichwohl ist nach der Meinung vieler die internationale Gerechtigkeit, wenn auch nicht unmittelbar, so doch letztlich im Horizont kosmopolitischer Gerechtigkeit zu situieren und zu rechtfertigen. Moralisch gesehen wäre daher der erste Begriff der umfassendere und grundlegende. Er entspricht seinem normativen Gehalt nach dem moralischen Universalismus kantianischer Ethiken, denen zufolge diejenigen Verhältnisse gerecht genannt werden können, die der gleichen und universellen Achtung und Rücksicht aller Personen entsprechen. Zwar gibt es einen moralphilosophischen Dauerstreit um die im Einzelnen angemessene Begründung dieser Moral der universellen Achtung aller, zugleich aber auch eine weitgehende Einigung über die prinzipielle Begründetheit oder Begründbarkeit dieser Moral. Soweit die Kriterien der politischen »internationalen Gerechtigkeit« daher dieser Moralkonzeption (zumindest vermittelt) entsprechen, können auch sie als prinzipiell moralisch begründet (oder vorsichtiger: als prinzipiell begründbar) gelten. Wird hingegen gezeigt, dass die internationale Gerechtigkeit den moralischen Maßstäben einer kosmopolitischen Gerechtigkeit letztlich nicht entspricht, so sind darauf zwei Reaktionen möglich: Realistische und skeptische Positionen des internationalen Rechts sehen darin kein Manko, sondern die Implikationen der These, dass die internationalen Verhältnisse gar nicht unter moralischen Gerechtigkeitskriterien zu beurteilen sind. Sofern solche Positionen beanspruchen, zugleich ein internationales Recht (oder Völkerrecht) begründen oder auch nur begreifen zu können, treffen auf sie meines Erachtens immer noch Kants Einwände gegen die Positionen der rea36

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listischen Staatsklugheit zu. 3 Ich werde Auffassungen dieser Positionen daher nicht direkt behandeln, sondern nur des Kontrastes wegen erwähnen. Moderate Positionen weisen den Anspruch einer kosmopolitischen Gerechtigkeit als überzogen zurück und plädieren für den Fall einer internationalen Gerechtigkeit für eine andere, angemessene, politische und moderatere »moralische« Gerechtigkeitskonzeption. Was den personenbezogenen Begriff der »kosmopolitischen Gerechtigkeit« an ethischer Dignität auszeichnet, scheint in der Tat zugleich auch seine Schwierigkeiten und Probleme zu begründen. Er erkauft seine moralphilosophische Stringenz und Eleganz mit einer Übervereinfachung und Eindimensionalität seiner Struktur, die dann zum Nachteil wird, wenn man nicht nur nach der Begründbarkeit von Gerechtigkeitskriterien, dem Konzept »kosmopolitischer Gerechtigkeit« an sich und einer prinzipiellen moralischen Kritik ungerechter Verhältnisse fragt, sondern weitergehende Fragen nach der Herstellung, Gestaltung und Sicherung gerechter Verhältnisse im globalen Maßstab oder nach den Möglichkeiten der praktischen und politischen Aufhebung oder Einhegung ungerechter Verhältnisse stellt. Schwierigkeiten (wenn auch nicht unüberwindliche) werfen auch Fragen einer moralischen Beurteilung der Verhältnisse zwischen kollektiven Akteuren wie Nationen und supranationalen Organisationen auf. Solche Fragen erscheinen nicht schon als beantwortet, wenn man die Kriterien einer kosmopolitischen Gerechtigkeit nennt. Das ist auf der einen Seite nicht verwunderlich, da Fragen der Anwendung und Herstellung nicht mit Fragen der Begründung und konzeptionellen Bestimmung verwechselt werden dürfen. Sie sind aber auch nicht gegeneinander zu diskutieren, sondern in ein produktives Verhältnis zueinander zu bringen. Eine Chance, zwischen dem moralischen Optimum einer kosmopolitischen Gerechtigkeit und dem restringierten Konzept einer internationalen Gerechtigkeit zu vermitteln, sehen viele in den Menschenrechten. Bieten die Menschenrechte eine theoretische (und auch praktische) Möglichkeit, die umfassende Idee einer globalen Gerechtigkeit auch für internationale Verhältnisse genauer zu fasSiehe Immanuel Kant: Über die Misshelligkeit zwischen der Moral und der Politik in Absicht auf den ewigen Frieden. In: ders.: Zum ewigen Frieden. Kant’s Gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften und später v. d. Deutschen Akademie d. W. Berlin 1900 ff., AA, VIII, S. 370 ff.

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sen? Die Menschenrechte könnten sowohl bei der Konkretisierung der Fragen einer kosmopolitischen Gerechtigkeit wie bei den Fragen der politischen Gestaltung und Sicherung und der Kritik und Aufhebung ungerechter Verhältnisse im internationalen Maßstab eine entscheidende Rolle spielen. Sie gestatten, so meine Vermutung, diese internationalen Konkretisierungs- und Anwendungsprobleme besser zu bestimmen, ohne die (interne) Verbindung zu den moralischen Fragen einer kosmopolitischen Gerechtigkeit zu verlieren. Aber sie können diese Aufgabe nur erfüllen, wenn sie selber differenzierter gesehen werden. Auch die Menschenrechte können in einer moralisierenden Maximalperspektive gesehen werden. Sie sind aber komplexe Rechte, die sowohl in ihrer moralischen, rechtlichen wie politischen Dimension begrifflich und faktisch beachtet werden müssen 4 , wie in ihren unterschiedlichen Gehalten 5 und unterschiedlichen Gewichtungen 6 gesehen werden müssen. Um diese Spannungen zwischen moralisch begründbaren Verpflichtungen im globalen Maßstab und dem, was Menschenrechte sinnvollerweise leisten können, soll es im Folgenden gehen. Dazu will ich zuerst kurz umreißen, welche moralischen Verpflichtungen sich denn aus Gerechtigkeitsforderungen ergeben (2). Dann will ich in einer begrifflichen und theoretischen Zwischenüberlegung das Verhältnis von moralischen Verpflichtungen und moralischen Rechten rekonstruieren und von daher einen Blick auf die Menschenrechte werfen (3). Schließlich will ich die Leistungen und Grenzen einer den Menschenrechten folgenden Konzeption von globaler Gerechtigkeit behandeln (4). Dass in dieser Skizze viele Fragen und Konkretisierungen offen geblieben sind, ist mir selbst sehr bewusst.

Siehe Georg Lohmann: Menschenrechte zwischen Moral und Recht. In: Stefan Gosepath/ders. (Hrsg.): Philosophie der Menschenrechte. Frankfurt am Main 1998, S. 62–95. 5 Siehe Georg Lohmann: Die unterschiedlichen Menschenrechte. In: Klaus Peter Fritzsche/ders. (Hrsg.): Menschenrechte zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Würzburg 2000, S. 9–23. 6 Georg Lohmann: Die Menschenrechte: unteilbar und gleichgewichtig? – Eine Skizze. In: ders./Stefan Gosepath/Arnd Pollmann/Claudia Mahler/Norman Weiß: Die Menschenrechte: unteilbar und gleichgewichtig? Potsdam 2005, S. 5–20. 4

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2.

Welche moralischen Pflichten entsprechen globalen Gerechtigkeitsforderungen?

Um zu umreißen, in welchen Hinsichten gemeinhin von moralischen Pflichten gesprochen wird, die zur Herstellung gerechter Verhältnisse dienen, ist es zunächst sinnvoll, die Fälle zu skizzieren, in denen wir von Ungerechtigkeit sprechen. Ungerecht erscheint uns zuvorderst eine unfaire Behandlung und eine Nichtbeachtung grundlegender Rechte; ungerecht erscheint es, wenn uns vorenthalten wird, was uns zusteht und wir dafür keine ausreichende, d. h. unparteiliche Begründung sehen. Von dieser Position aus erscheint auch eine unparteilich nicht zu rechtfertigende Verteilung von Gütern und Chancen ungerecht. Anknüpfend an Aristoteles’ Unterscheidungen unterschiedlicher Gerechtigkeitskonzeptionen können wir daher von einem allgemeinen Begriff von Gerechtigkeit sprechen, nach dem ein Verhalten gerecht ist, wenn es beachtet, was dem Einzelnen, aus einer Perspektive der Unparteilichkeit 7 geurteilt, zusteht, und von diesem Begriff aus die zwei wichtigsten Unterarten von Gerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit und Tauschgerechtigkeit, erläutern. Die wichtigste Forderung ist sicherlich die nach einer gerechten Verteilung von Gütern. Dazu hat es in jüngster Zeit eine ausführliche Diskussion gegeben, auf die ich an dieser Stelle nur hinweisen kann. 8 Auf einer ersten Stufe geht es hier um die angemessene Verteilung von Gütern nach Kriterien des Verdienstes, der Leistung, der Bedürftigkeit usw. zwischen einer bestimmten Menge von Beteiligten. Intern ungerecht erscheint eine Verteilung, wenn im Sinne einer Zweitbeurteilung diese angemessenen Verteilungen aus einer Perspektive der Unparteilichkeit den beteiligten Parteien gegenüber nicht gerechtfertigt werden können. Dabei gilt, dass wenn es keine Siehe hierzu vorerst: Georg Lohmann: Unparteilichkeit in der Moral. In: Klaus Günther/Lutz Wingert (Hrsg.): Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas. Frankfurt am Main 2001, S. 434–455; Georg Lohmann: Sympathie ohne Unparteilichkeit ist willkürlich, Unparteilichkeit ohne Sympathie ist blind. Sympathie und Unparteilichkeit bei Adam Smith. In: Christel Fricke/Hans-Peter Schütt (Hrsg.): Adam Smith als Moralphilosoph. Berlin 2005, S. 88– 99. 8 Siehe dazu statt vieler anderer Stefan Gosepath: Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus. Frankfurt am Main 2004; Wilfried Hinsch: Gerechtfertigte Ungleichheiten. Grundsätze soziale Gerechtigkeit. Berlin/New York 2002. 7

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unparteilich akzeptablen Gründe für eine Ungleichverteilung gibt, eine Gleichverteilung von Gütern gerecht erscheint. Diese Idee ist freilich nur plausibel, wenn den beteiligten Parteien, trotz ihrer Unterschiedlichkeit, in einer grundlegenden Hinsicht Gleichheit zugesprochen werden kann. 9 In der Idee der Menschenrechte wird diese Anerkennung einer basalen Gleichheit auf alle Menschen überhaupt ausgedehnt. Zwar gibt es in bestimmten Randfragen noch Unsicherheiten, ob ein Wesen als Mensch in dieser Hinsicht zählt (ob z. B. Embryonen dazugehören oder nicht 10 ), aber unabhängig davon, kann allgemein davon ausgegangen werden, dass wir keine guten Gründe mehr haben, um die Menschen in dieser grundlegenden Hinsicht nicht als Gleiche anzuerkennen. 11 Aus moralischen Gründen erscheint unter diesen Bedingungen daher eine zunächst intern angemessene Verteilung von Gütern dann in einem transzendierenden Sinne als ungerecht, wenn eine Beschränkung auf eine partikulare Menge von Adressaten parteilich vorgenommen wird. Das Prinzip der Unparteilichkeit verlangt, wenn keine unparteilichen Gründe für eine Beschränkung vorliegen, dass die Verteilung auf alle ausgedehnt wird, es generiert einen universellen Anspruch. Eine »gerechte Verteilung« impliziert daher nicht schon begrifflich eine gleiche und universelle Verteilung von Gütern, sondern nur dann, wenn es für eine ungleiche oder partikulare Verteilung keine unparteilich akzeptablen Gründe gibt. Mit Tauschgerechtigkeit ist hingegen von vornherein (begrifflich) Gleichheit impliziert. Eine (rechtliche, d. h. abstrakte) AusDas müssen auch die im Anschluss an Harry Frankfurt in Mode gekommenen Vertreter/innen einer nichtegalitären Gerechtigkeitstheorie (wenn auch manchmal versteckt) zugeben. Ihre scheinbare radikale anti-egalitäre Position erscheint mir daher im Grundsätzlichen falsch und im Besonderen oft borniert, siehe statt anderer Angelika Krebs (Hrsg.): Gerechtigkeit oder Gleichheit. Texte der neueren Egalitarismusdiskussion. Frankfurt am Main 2000. Ob freilich in dieser Hinsicht mit Kant die »Menschheit in jeder Person« oder wie im Utilitarismus die Leidensfähigkeit von lebendigen Wesen gemeint ist, das ist eine moralphilosophisch höchst umstrittene Frage, die aber große Auswirkungen für den Umfang dessen hat, in Bezug auf den eine gerechte Verteilung anzustreben ist. 10 Siehe Georg Lohmann: Die Herausforderungen der Ethik durch Lebenswissenschaften und Medizin. Zum Streit um den normativen Status des Frühembryos. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 10 (2002), S. 77–97. 11 Mit Ernst Tugendhat kann man sagen, dass wir heute, insbesondere nach den Erfahrungen der Nazi-Zeit, keine Gründe mehr anerkennen wollen, um eine »primäre Diskriminierung« von Menschen zu rechtfertigen, siehe Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt am Main 1993, S. 375 f. 9

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gangsgleichheit der beteiligten Personen wird unterstellt, für die ein Tausch von Gütern dann als gerecht gilt, wenn er unter gleichen tauschkonstitutiven Bedingungen und in einer gemeinsam geteilten Bewertung als gleich gilt. Paradigmatischer Ort von Tauschgerechtigkeit sind Marktbeziehungen, in denen Marktteilnehmer freiwillig Tauschbeziehungen eingehen. Ungerechte Tauschverhältnisse sind daher solche, in denen in den jeweils anzugebenden tauschkonstitutiven Hinsichten Ungleichheiten bestehen oder praktiziert werden. In den seltensten Fällen handelt es sich dabei um eine Ungerechtigkeit, weil direkt die geforderte Gleichwertigkeit der ausgetauschten Güter verletzt ist. Ungerechte Tauschverhältnisse sind vielmehr oft deshalb ungerecht, weil die formalen und abstrakten Gleichheitsund Freiheitsunterstellungen entweder selbst nicht verwirklicht sind oder weil sie zu abstrakt und formal sind und in Konflikt mit wesentlichen Aspekten einer umfassenden Gerechtigkeit stehen. Insbesondere die Tauschgerechtigkeit von Marktbeziehungen hängt daher von der Gerechtigkeit der institutionellen Vorkehrungen und Regeln ab, unter/nach denen getauscht wird. Unter modernen Bedingungen sind dies politisch gesatzte, rechtliche Regelungen. Dem Umfang nach erstreckt sich Tauschgerechtigkeit daher zunächst auf die Menge derjenigen, die am Tausch beteiligt sind, inhaltlich auch auf die rechtliche und politische Gestaltung der Institutionen, die den Gütertausch regeln. In globaler Hinsicht fassen wir die entsprechenden Normen unter dem Begriff eines fairen Welthandels zusammen. Ferner erscheint uns in bestimmten Gemeinschaftsbeziehungen der Nichtausgleich unverschuldeter Benachteiligungen als ungerecht, z. B. wenn jemand, der uns nahe steht, ein körperliches Gebrechen hat und dadurch im Gemeinschaftsleben benachteiligt ist. Wir sehen darin eine Verletzung der besonderen Wertschätzung, die wir dieser Person, weil sie Mitglied unserer Wertgemeinschaft ist, schulden, und das erscheint uns ebenfalls ungerecht. Die gerechte Behandlung bezieht sich hier auf besondere, gemeinsame Wertüberzeugungen, und relativ dazu wird der Nichtausgleich einer Benachteiligung als ungerecht angesehen. Die Frage ist nun, ob es auch in globaler Hinsicht solche gemeinsamen Wertschätzungen aller Menschen gibt, in Bezug auf die wir eine solche Bewertung vornehmen. Ich glaube ja; wir sehen uns, angesichts möglicher oder wirklicher globaler Katastrophen als eine Menschengemeinschaft, die sich als eine Wertegemeinschaft zwar nicht mehr, wie es eigentlich für den Begriff »Gemeinschaft« konstitutiv ist, von anderen Gemeinschaften abgrenzen A

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kann, 12 die aber gewissermaßen intern sich zu einer Gemeinschaft konstituiert, die als solche in ihren Wertstrukturen verletzbar und bedroht ist. Die entsprechenden Wertstrukturen fassen wir unter dem Begriff der Humanität zusammen, mit dem wir eine Wertgemeinschaft aller Menschen bezeichnen. Eine strittige Frage ist es nun, ob die Verweigerung von Hilfe in extremen Notsituationen (wie große Zerstörungen und Elend auf Grund unverschuldeter Naturkatastrophen) als ungerecht bezeichnet werden kann. Die Begründungen für Hilfsaktionen berufen sich nicht eigentlich auf Gerechtigkeitsforderungen, sondern es sind Verpflichtungen zu humanitärer Hilfe, die wir aus Solidarität mit allen Menschen, relativ zu gemeinsam geteilten Wertungen, begründen. Solche Hilfsverpflichtungen können daher moralisch von Gerechtigkeitspflichten unterschieden werden, so wie sie begrifflich sich auch von Hilfsaktionen und Gutes-tun unterscheiden, die freiwillig geschehen und ergänzend wirken können. Im Begriff einer humanitären Solidarität fassen wir alle diese Aspekte zusammen. Sind solche Notsituationen hingegen durch globale Prozesse, anonym oder kollektiv, verursacht, sind sie als zufällige Folgen von Kriegen, von falscher Wirtschaftspolitik, als Auswirkungen einer Korruption von Eliten oder als nicht intendierte Folgen anonymer Marktprozesse zu verstehen, so erscheinen sie, obwohl im einzelnen niemand konkret verantwortlich gemacht werden kann, gleichwohl als Gerechtigkeitsprobleme. Es erscheint uns ungerecht, Menschen, die von solchen durch Menschen letztlich verursachten Schicksalsschlägen getroffen sind, allein zu lassen. Die Anstrengungen und der Kampf gegen solche Ungerechtigkeiten erfordern aber nicht in erster Line eine gerechtere Verteilung von Gütern, sondern eine Verbesserung der politischen Strukturen; gefordert sind hier eine Verbesserung der rechtlichen und politischen Institutionen, die Forderung nach Gerechtigkeit zielt hier letztlich auf eine Institutionalisierung und Verbesserung demokratischer Selbstbestimmung. Es kann dabei, wie gleich noch zu behandeln ist, zu einem Widerstreit von Pflichten kommen, die sich aus unterschiedlichen Aspekten der Gerechtigkeit hier ergeben. Die Verpflichtung zu humanitärer Hilfe in aktuellen Notsituationen kann (muss nicht!) im Widerstreit liegen

Siehe dazu Georg Lohmann: Faktizität und »liberale Gemeinschaften«. In: Gemeinschaft und Freiheit. Studia Philosophica 53 (1994), S. 75–94.

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mit der (langfristigen) Pflicht, durch Hilfe zur Selbsthilfe eine politische Verbesserung zu erreichen. Schließlich ist noch in Erinnerung zu rufen, dass negative Verpflichtungen wie das Unterlassen von Schädigungen sich unbedingt allen gegenüber begründen lassen, während positive Verpflichtungen wie die Hilfe in Notsituationen immer von bestimmten Bedingungen abhängen und zumeist auch nur in gestaffelter Weise, auf unterschiedliche Personen(kreise) bezogen, sich begründen lassen. Bei alledem ist schließlich zu beachten, dass eine rein moralische Begründung von Gerechtigkeitspflichten auch zu dem führen kann, was man eine moralische Überlastung oder Überforderung nennen könnte. Eine moralische Betrachtung ist daher gut beraten, wenn sie auch die Begrenzungen moralischer Verpflichtungen mit thematisieren kann, sich also der Endlichkeit der Moral, wie ich das nennen möchte, bewusst ist. Eine solche Einsicht und Selbstbegrenzung erfordert meines Erachtens nun die Idee der Menschenrechte in besonderem Maße. Die Menschenrechte sind nicht einfach nur moralische Rechte, die sich aus einer automatischen oder direkten Umsetzung von moralischen Pflichten in Rechte ergeben, sondern sie erlauben gerade, wie ich nun in einer Zwischenüberlegung andeuten will, eine differenziertere Perspektive auf das Problem einer globalen Gerechtigkeit, weil sie begrifflich ein volitives, und d. h. letztlich historisch kontingentes Moment als Basis haben.

3.

Begriffliche Zwischenüberlegung: zum Verhältnis von moralischen Verpflichtungen, moralischen Rechten und Menschenrechten

Moralische Rücksichtnahmen (in einem weiten Sinne) erfordern moralische Subjekte, die in überlegter Weise moralisch tätig sind, und sie beziehen sich auf moralische Objekte, denen diese Rücksichtnahmen gelten. 13 Dass den Objekten moralischer Rücksichtnahmen, zu denen wir verpflichtet sind, auch Rechte zugeschrieben werden können, ist mit einer Reihe von Momenten verbunden, die eine Erwei-

Vgl. Georg Lohmann: Moral, »Ethik«, Recht. Zum Streit um den normativen Status des Frühembryos. In: Matthias Kaufmann/Lukas Sosoe (Hrsg.): Gattungsethik – Schutz für das Menschengeschlecht? Frankfurt am Main 2005, S. 61–81.

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terung der Moral ausdrücken. Das will ich an einer Reihe von Punkten verdeutlichen. Moralische Verpflichtungen sind unparteilich begründete oder begründbare Verpflichtungen. Sowohl der Grad der Verpflichtung (schwache Verpflichtungen oder starke Pflichten), wie der Charakter der Verpflichtungen (negative und positive), wie ihr Umfang (universell oder speziell) sind durch eine unparteiliche Begründung zu rechtfertigen. Einige der Verpflichtungen sind asymmetrisch (z. B. solche gegenüber Tieren), ein moralisch zentraler Bereich aber ist durch Wechselseitigkeit und Symmetrie der Verpflichtungen gekennzeichnet. Nur diejenigen Verpflichtungen aber können überhaupt wechselseitig sein, bei denen nicht nur das Subjekt, sondern auch das Objekt der moralischen Rücksichtnahme durch die Fähigkeit zu überlegter Selbstbestimmung bestimmt ist. 14 Ist diese Wechselseitigkeit gegeben, so können wir, ohne dass damit zunächst ein anderer Sinn impliziert ist, den Ausdruck »Recht« einführen. »A hat ein ›Recht‹ auf x gegenüber B« heißt hier zunächst nur soviel wie: A hat einen moralisch begründeten Anspruch, dass B eine korrespondierende Verpflichtung erfüllt. Für die konkreten moralischen Verhaltensweisen kommt damit insoweit nicht Neues hinzu. Man könnte aber sagen, die Interpretationsrichtung ändert sich. Ohne den Bezug auf Rechte glaubt A gegenüber B zu X verpflichtet zu sein, weil es eine bestimmte moralische Norm gibt (ein gut begründetes Gebot z. B.); B ist daher nur Objekt moralischer Verpflichtungen. Glaubt A aber, dass B ein Recht auf x ihr gegenüber hat, so weiß sie sich verpflichtet, zunächst a) weil B ein Recht dazu hat und dann b), weil dieses Recht mit Bezug auf eine bestimmte (gut begründete) Norm gerechtfertigt ist. Hier ist B daher nicht nur Objekt von moralischen Verpflichtungen, sondern spielt als Träger von Rechten eine moralische Subjekt-Rolle. Zum Beispiel könnte B sagen, dass sie in einem besonderen Fall auf ihr Recht verzichtet und damit wäre A in diesem Fall von ihrer Verpflichtung entbunden. Gleichwohl folgt aus der puren Wechselseitigkeit von moralischen Verpflichtungen noch nicht automatisch, dass die beteiligten Personen sich als Träger von Rechten ansehen. Dazu bedarf es offenbar einer willentlichen Entscheidung, das Objekt moralischer VerHier übernehme ich z. T. Ausführungen von Lohmann: Menschenrechte zwischen Moral und Recht, S. 83 ff.

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pflichtungen auch als Träger von Rechten anzuerkennen. Rechte wachsen Personen ja nicht zu wie natürliche Eigenschaften und sie werden auch nicht reflexartig geschaffen, weil A und B wechselseitig verpflichtet sind. Sie werden vielmehr von einer bestimmten Autorität gestiftet 15 und sind deshalb selbst mit einem bestimmten Machtanspruch verbunden, dem entsprechenden Recht auch Beachtung zu verschaffen. Wenn nun die Beteiligten als moralischen Verpflichtungsgrund keine dritte, »höhere Autorität« (wie Gott, Natur oder Vernunft) anerkennen, dann bleibt nur übrig, dass sie selbst sich als diese Autorität anerkennen. Das ist den einzelnen auch zumutbar, weil die Verpflichtungen wechselseitig sind. Es liegt im rationalen Selbstinteresse von A und B, sich als Träger von Rechten anzuerkennen, wenn die entsprechenden moralischen Verpflichtungen unparteilich begründet und wechselseitig sind. 16 In die Stiftung von Rechten geht daher ein volitives Moment ein, das einmal als eine willentliche, durch erläuterbare Motive bestimmte Entscheidung von A und B zu verstehen ist, sich wechselseitig als Träger von Rechten anzuerkennen und zweitens als willentliche Zustimmung (Anerkennung) gegenüber der Macht, die A und B durch ihre Rechte erhalten. Der Übergang von wechselseitigen moralischen Verpflichtungen zu wechselseitig gestifteten und eingeräumten Rechten ist – ohne Rückgriff auf eine dritte, übergeordnete Autorität – nur in der modernen Moral plausibel. Das wird auch in der Bezeichnung dieser Moral als die der universellen und gleichen Achtung aller deutlich. »Jemanden zu achten heißt, ihn als Subjekt moralischer Rechte anerkennen.« 17 »Achtung« hat hier zwei Bedeutungen: Respekt vor den Rechten des Anderen, und Hochschätzung seiner Selbstbestimmungsfähigkeit. 18 Ich wähle diesen Ausdruck und rede nicht von »verliehen« wie Tugendhat, weil damit m. E. unmissverständlicher der notwendige Setzungscharakter von Rechten bezeichnet werden kann. 16 Das heißt auch, dass das, was begründet werden muss, zweierlei ist: erstens müssen die moralischen Verpflichtungen und hier insbesondere die wechselseitigen Verpflichtungen begründet werden, und dann, darauf aufbauend, die wechselseitige »Stiftung« von Rechten. Letztere kann m. E. sich auf ein rationales Eigeninteresse stützen, ist aber nicht allein dadurch zu begründen, sondern ist motiviert durch die Erfahrungen gravierenden Unrechts. 17 Tugendhat: Vorlesungen über Ethik, S. 363. 18 Siehe hierzu ausführlicher Georg Lohmann: Universalismus und Relativismus der Menschenrechte. Zur interkulturellen Verständigung über die Menschenrechte. In: 15

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Die Menschenrechte stützen sich in ihrer moralischen Begründetheit auf diese Konzeption einer universalisierten Achtungsmoral, die freilich nach meiner Meinung mit dem »schwächeren« Begründungsprinzip der Unparteilichkeit auskommen kann (und muss). Systematisch gesprochen, sind die Menschenrechte eine Teilklasse der auf diesem Wege unparteilich begründbaren moralischen Rechte, d. h. nicht alle moralischen Rechte sind zugleich Menschenrechte. Auf Grund historischer gravierender Unrechtserfahrungen und zur Abwehr historisch erfahrener oder zu befürchtender schwerwiegender Schädigungen der Integrität 19 menschlicher Individuen werden aus der Klasse der moralisch begründbaren Rechte diejenigen (gewissermaßen) ausgewählt, die dann allen Menschen als basale und universell anzuerkennende Rechte zugeschrieben werden und von denen wir (die moralische Gemeinschaft) wollen, dass sie entsprechend verrechtlicht werden, d. h. in juridische, einklagbare Rechte transformiert werden. Dazu bedarf es unterschiedlicher Wege der Institutionalisierung, zunächst als Grundrechte in einzelstaatlichen Verfassungen und dann transnational in internationalen Rechtsregimen. 20 Menschenrechte sind daher komplexe Rechte; sie haben einmal eine moralische Dimension und sind insofern vorstaatliche, »moralisch begründete Rechte«, zum anderen haben sie erst als politisch gesatzte, juridische Rechte ihre volle Bedeutung. Ihre Analyse und Thematisierung muss daher in den Dimensionen des Moralischen, des Rechtlichen und des Politischen jeweils eigenständige Begriffe und Überlegungen berücksichtigen. Zu diesen formalen Dimensionen der Menschenrechte, die formal deshalb sind, weil sie für den Begriff und alle einzelnen Menschenrechte zu beachten sind, treten als eine inhaltliche Unterscheidung unterschiedliche Gruppierungen von einzelnen Menschenrechten. Wir können erstens die Klasse der subjektiven Freiheitsrechte nennen, die das Leben und die Freiheiten jedes einzelnen gegen staatliche Willkürgewalt und gegen Gewaltanwendung durch Dritte schützen. Wir können zweitens dann die Thomas Düllo/Jan Standke (Hrsg.): Theorie und Praxis der Kulturwissenschaften (= culture – discourse – history. Beiträge zur Theorie und Praxis der Kulturwissenschaften. Bd. 1). Berlin 2008. 19 Siehe dazu Arnd Pollmann: Integrität. Berlin 2005. 20 Siehe dazu Georg Lohmann: Menschenrechte und »globales Recht«. In: Stefan Gosepath/Jean-Christophe Merle (Hrsg.): Weltrepublik. Globalisierung und Demokratie. München 2002, S. 52–62.

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Klasse der rechtlichen und politischen Teilnahmerechte unterscheiden, die gleiche und ungehinderte Teilnahme am Rechtsprozess selbst und an den politischen Meinungs- und Willensbildungsprozessen sichern und gewähren. Und schließlich kennen wir drittens die gleichen sozialen Teilhaberechte, die für alle einen gerechten und angemessenen Anteil an den gemeinsamen Ressourcen der Lebensführung beanspruchen und zu sichern versuchen. Mit dieser inhaltlichen Klassifizierung können wir den Katalog der Menschenrechte, wie er in der UN Erklärung von 1948 vorliegt, ordnen. 21 Für die Lösung der Probleme einer globalen Gerechtigkeit scheinen nun die sozialen Menschenrechte in besonderer Weise relevant zu sein, die Frage wird sein, ob sie gewissermaßen allein und in welchem Rahmen relevant sind.

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Menschenrechte und internationale Gerechtigkeit: Verpflichtungen und Grenzen

4.1.) Die Menschenrechte brechen einen moralischen Totalitätsanspruch. Nicht alles, wozu wir moralisch gesehen, verpflichtet sind, wird mit den Pflichten abgedeckt, die den Menschenrechten korrespondieren. 22 Das hat zweierlei Gründe, die sich einmal mit Bezug auf die Rechte erläutern lassen, dann mit Bezug auf die korrespondierenden Pflichten. Hinsichtlich der Rechte sind die Menschenrechte eine Teilklasse derjenigen moralischen Rechte, die sich aus wechselseitigen moralischen Verpflichtungen durch öffentliche Meinungs- und Willensbildungsprozesse, das heißt durch Verarbeitung von politischen und historischen Erfahrungen, »ergeben«. Bezogen auf diese beschränkte Teilklasse verpflichten die Menschenrechte moralisch gesehen zunächst alle einzeln, und wenn alle einzeln diese Verpflichtungen nicht angemessen erfüllen können, dann alle gemeinsam. Dass alle gemeinsam verpflichtet sind, bedeutet, dass alle dafür zu sorgen haben, dass entsprechende gemeinsame Institutionen geschaffen werden, die den entsprechenden Pflichten nachkommen können, in erster Linie sind so Staaten und staatliche Rechtsordnungen gefordert, Siehe Lohmann: Die unterschiedlichen Menschenrechte, S. 9–23. Z. B. entfallen alle schwachen Tugendpflichten und die umfassende Verpflichtung nicht zu lügen wird auf bestimmte, institutionalisierte Kontexte eingeschränkt.

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aber auch internationale Institutionen und Rechtsregime, im Prinzip eine globale rechtliche Ordnung. Da diese aus rechtslegitimatorischen Gründen ebenfalls unter Beachtung der Menschenrechte zustande kommen muss, folgt aus der gemeinsamen Verpflichtung aller auch die Forderung nach einer politischen Weltordnung, die globales Recht legitim setzt. Aus moralischer Perspektive wird daher eine politische Gestaltung einer globalen Rechtsverfassung gefordert, in der die Menschenrechte angemessen institutionalisiert sind, so dass alle gemeinsam ihren Rechtspflichten nachkommen können. Aus rechtlicher Perspektive erscheint dieser komplexe Prozess nun gerade entgegengesetzt strukturiert: im juristischen Verständnis verpflichten die Menschenrechte zunächst alle gemeinsam, und erst, unter bestimmten Bedingungen, dann alle einzelnen. Rechtlicher Adressat der den Menschenrechten korrespondierenden Rechtspflichten ist zunächst der jeweilige Staat, und dann, über ihn vermittelt, gewissermaßen nach außen hin, die internationalen Ordnungen des Völkerrechts, und nach innen, innerstaatlich gesehen, auf dem Wege der »Drittwirkung« 23 die einzelnen Bürger in ihren Beziehungen untereinander. Durch ihre Transformation in juridische Rechte werden die Menschenrechte beschränkt auf innerstaatliche, in Verfassungen verankerte Grundrechte und auf diejenigen transnationalen verbindlichen Rechtskodierungen, die durch wechselseitige Verträge von souveränen Staaten entweder in transnationalen, regionalen Rechtssystemen wie zum Beispiel der Europäischen Gemeinschaft 24 oder im internationalen Recht in Geltung gesetzt worden sind. Achten wir bei diesen Transformierungsprozessen auf die für die Fragen einer globalen Gerechtigkeit besonders wichtigen sozialen Menschenrechte, so wird eine wichtige Veränderung in ihrem Charakter deutlich. Sie schwächen sich von in Verfassungen verankerten, subjektiv einklagbaren sozialen Grundrechten innerhalb eines Sozialstaates 25 zu in Konventionen völkerrechtlich vereinbarten proSiehe dazu Robert Alexy: Theorie der Grundrechte. Frankfurt am Main 1986, S. 475 ff. 24 Siehe Anne Peters: Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention. München 2003. 25 Siehe zu den Problemen, die sich daraus ergeben, Georg Lohmann: Soziale Menschenrechte und die Grenzen des Sozialstaats. In: Wolfgang Kersting (Hrsg.): Politische Philosophie des Sozialstaats. Weilerswist 2000, S. 351–371; Georg Lohmann: Über die Zurechnung von Pflichten bei sozialen Grund- und Menschenrechten. In: Matthias 23

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grammatischen »Zielnormen« der jeweiligen Staaten ab, die für den einzelnen nicht einklagbar sind. Im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (vom 19. 12. 1966, im Folgenden WSK-Rechte) verpflichten sich die Staaten, »Maßnahmen zu treffen, um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln, vor allem durch gesetzgeberische Maßnahmen, die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen.« 26 Die WSK-Rechte verpflichten daher nur die an der Konvention beteiligten Staaten, in ihrem Rechtsgebiet Maßnahmen einzuleiten, durch die diese Rechte zunächst für ihre jeweiligen Staatsbürger und dann für alle sich auf ihrem Staatsgebiet aufhaltenden Personen verwirklicht werden können. 27 Es gibt aber keine internationale Instanz, die die Durchsetzung und Erfüllung der entsprechenden Rechtspflichten erzwingen könnte. Lediglich ein in den Menschenrechtspakten vorgesehenes Berichtssystem 28 konfrontiert in sehr ungenügendem Maße Staaten mit möglichen Versäumnissen oder nur mangelhaften Erfüllungen ihrer Zielnormen. Rechtstechnisch wird argumentiert, dass die Staaten durch diese Menschenrechtspakte »erga omnes« Verpflichtungen 29 eingehen, ein Vertragsstaat sich daher gegenüber allen anderen Vertragsstaaten verpflichtet, die sozialen Rechte seiner Staatsbürger zu sichern und zu erfüllen. Damit, immerhin, entfällt die Möglichkeit des klassischen Völkerrechts, internationale Beschwerden über eine Nichterfüllung im eigenen Lande als unzulässige »Einmischung in die inneren Angelegenheiten« abzuwehren. Da aber internationale Exekutivorgane fehlen, kann hier nur ein öffentlicher Druck in den Arenen der internationalen Weltöffentlichkeit Staaten bewegen, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Kaufmann/Joachim Renzikowski (Hrsg.): Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung. Frankfurt am Main u. a. 2004, S. 123–134. 26 So im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (vom 19. Dez. 1966), Art. 2, u. a. abgedruckt in: Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen. Hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 1999, S. 60. Siehe auch die ernüchternde Bilanzierung der WSK-Rechte in Gerd Seidel: Handbuch der Grund- und Menschenrechte auf staatlicher, europäischer und universeller Ebene. Baden-Baden 1996. 27 Art. 2.3 räumt den Entwicklungsländern einen Entscheidungsspielraum ein, wie weit sie Nichtstaatsbürger berücksichtigen. 28 Art. 16 – 25, Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (vom 19. Dez. 1966), a. a. O., S. 66 ff. 29 Siehe dazu Brun-Otto Bryde: Verpflichtungen Erga Omnes aus Menschenrechten. Bericht der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht. BerDGV Bd. 33 (1994), S. 165 ff. A

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Die Weltöffentlichkeit ist nun aber keineswegs nur auf (völker-) rechtliche Argumentationen im engeren Sinne beschränkt, sondern sie kann und sollte durchaus alle Dimensionen und Argumentationen des Problems zur Geltung bringen. Schaut man sich daher die mit den Menschenrechten korrespondierenden Verpflichtungen an, so sind die unterschiedlichen Dimensionen und Konstitutionalisierungen und die damit verbundenen Konditionierungen und Adressierungen zu beachten. 4.2.) Moralisch gesehen ergeben sich aus den unterschiedlichen Menschenrechtsgruppen zwar ebenfalls nur Teilklassen derjenigen Pflichten, die sich aus einer rein moralischen Perspektive begründen lassen. Aber in rein moralischer Hinsicht ergeben sich aus den Menschenrechten immer noch weitreichende moralische Pflichten, die insbesondere hinsichtlich der sozialen Gerechtigkeit eine wechselseitige und universelle Verpflichtung aller Menschen zu einer gerechten Verteilung von Gütern, zu einer fairen Gleichbehandlung in Tauschbeziehungen und zu Hilfe in Notsituationen beinhalten, so dass für alle Menschen eine Minimalkonzeption eines menschenwürdigen Lebens möglich ist. Auf diese moralische Position beziehen sich kosmopolitische Auffassungen von globaler Gerechtigkeit, wie zum Beispiel diejenigen von Charles R. Beitz 30 und Thomas Pogge 31, die eine weltweite Verteilungsgerechtigkeit von Gütern zur Ermöglichung eines minimalen Lebensstandards für alle Menschen fordern. Beitz und Pogge wenden dabei Argumentationen von Rawls, die dieser ausdrücklich nur auf innerstaatliche Verhältnisse beschränkt hatte, auf die Verhältnisse der Staaten untereinander an. Der hypothetische Urzustand wird auf globale Verhältnisse ausgedehnt und der »Schleier der Unwissenheit« verdeckt auch, zu welchem Staat (arm oder reich) die rationalen Entscheider im Urzustand gehören. Die kontraktualistische Rechtfertigungsprozedur fordert dann nicht nur gleiche individuelle und politische Freiheiten für alle, sondern auch die globale Gültigkeit des Differenzprinzips, so dass eine Umverteilung von Gütern erfolgen muss, um die Position der global am schlechtesten ge-

Charles R. Beitz: Political Theory and International Relation. Princeton 1979. Pogges Aufsätze sind jetzt gesammelt und überarbeitet in: Thomas Pogge: World Poverty and Human Rights. Polity Press Cambridge/UK 2002.

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stellten Personen zu verbessern. 32 Auch wenn Pogge betont, dass er die Menschenrechte so versteht, dass die ihnen korrespondierenden Pflichten an eine internationale institutionelle Ordnung adressiert sind, so entsprechen doch die sich für diese internationale Ordnung ergebenden Pflichten einer rein moralischen Betrachtungsweise. Zwar unterscheidet er sich mit diesem vermittelnden institutionellen Ansatz von Peter Singer, nach dem die Menschen weltweit unmittelbar wechselseitig zur Hilfe und Umverteilung verpflichtet sind, 33 aber im Resultat ist es allein eine moralische, kontraktualistische Überlegung, die den Inhalt und Umfang der sich aus den Menschenrechten ergebenden Pflichten bestimmt. 34 Damit aber wird die vermittelnde Instanz, die internationale Rechtsordnung, meines Erachtens nach nicht in ihrem rechtlichen und politischen Eigengewicht gesehen. Recht und Politik erscheinen als Umsetzung moralischer Forderungen, 35 nicht als eigensinnige Sphären, die ihrerseits der Moral Beschränkungen abverlangen können. Gleichwohl halte ich Pogges Überlegungen für wichtig und aufschlussreich, weil er aus einer rein moralischen Perspektive durchspielt, zu welcher Art von Verteilungsgerechtigkeit wir verpflichtet wären, wenn die Menschenrechte rein moralisch zu verstehen wären. Diese moralischen Argumente sind ihrerseits von großer politischer Bedeutung, denn sie geben die Richtung an, in die politische und rechtliche Anstrengungen in einer engagierten Öffentlichkeit, die mit Gründen über ihre Optionen streitet, geführt werden sollen. Meine These ist daher nicht, dass solche moralischen Überlegungen zu einer den Menschenrechten folgenden kosmopolitischen Gerechtigkeit falsch sind, sondern dass sie einseitig und nicht das Ganze sind. 4.3.) Ebenso bedenkenswert wie dann einseitig ist aber auch John Rawls eigener Gegenvorschlag, den er in seinen letzten Veröffentlichungen zum Völkerrecht ausgeführt hat. Rawls hatte schon in Eine Theorie der Gerechtigkeit die Anwendung des Differenzprinzips

Siehe Thomas Pogge: Rawls and Global Justice. In: Canadian Journal of Philosophy 18 (1988), S. 233. 33 Siehe statt anderer Stellen Singer: Praktische Ethik, S. 278 ff. 34 So auch die Kritik von Wolfgang Kersting: Globale Rechtsordnung oder weltweite Verteilungsgerechtigkeit? In: Politisches Denken. Jahrbuch 1995/96, S. 226 f. 35 Wie auch in dem, auch für Recht und Politik, erhellenden Buch von Ottfried Höffe: Demokratie im Zeitalter der Globalisierung. München 1999. 32

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auf innergesellschaftliche Verhältnisse beschränkt. 36 In seinen Schriften zum »Recht der Völker« 37 verteidigt er nun diese Beschränkung, und schlägt für das internationale Recht, das er Law of People nennt, mit Bezug auf ideale und nicht-ideale Bedingungen eine »realistische Utopie« vor. Die völkerrechtlichen Beziehungen zwischen »liberalen« und »nichtliberalen« »Völkern«, zwischen »achtbaren Staaten«, die die Menschenrechte in einer sehr beschränkten Interpretation intern beachten, und »Schurkenstaaten«, die dies nicht tun, sollen in einer fairen Weise geregelt werden. Auf einzelne Fragen seiner Konzeption kann ich hier nicht eingehen. Es fällt aber auf, dass er die »Menschenrechte« erstens grundsätzlich aus ihrer rechtlichen Verfasstheit versteht, das heißt als Forderungen nicht an alle einzelnen Menschen, sondern an den jeweiligen Staat, dessen Bürger der jeweilige Mensch ist. Und zweitens beschränkt er den Kanon der Menschenrechte, deren Beachtung »völkerrechtlich« (im Rawlsschen Sinne) von allen Völkern und Staaten gefordert werden kann, auf eine gegenüber dem gängigen Verständnis sehr reduzierte Klasse von »besonders dringliche[n] Rechte[n]«, die Rawls aber nur vage und unbegründet umschreibt. 38 Eine Folge dieser (kritisierbaren) Beschränkung der Menschenrechte auf einen nur »notwendigen, aber nicht hinreichenden Standard für die Achtbarkeit heimischer politischer und sozialer Institutionen« 39 ist, dass die Forderung nach einer globalen »distributiven Gerechtigkeit zwischen den Völkern« von ihm abgelehnt wird. 40 Stattdessen behauptet er eine Unterstützungspflicht, die »wohlgeordnete Völker« gegenüber »belasteten Völkern« haben. 41 Rawls ersetzt also eine mögliche völkerrechtliche Anwendung des Differenzprinzips durch eine beSiehe John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main 1975, §§ 18, 58 u. 69. 37 Ich zitiere nach den dt. Übersetzungen: John Rawls: Das Völkerrecht. In: Stephen Shute/Susan Hurley (Hrsg.): Die Idee der Menschenrechte. Frankfurt am Main 1996 (Original: 1993); John Rawls: Das Recht der Völker. Berlin/New York 2002 (Original 1999). 38 In Rawls: Recht der Völker, nennt er: »zum Beispiel die Freiheit von Sklaverei und Leibeigenschaft, die Freiheit (aber nicht die gleiche Freiheit) des Gewissens und die Sicherheit ethnischer Gruppen vor Massenmord und Genozid«, S. 96; siehe aber auch S. 80. 39 A. a. O., S. 97. 40 Siehe seine Kritik an den kosmopolitischen Auffassungen von Beitz und Pogge. In: Rawls: Recht der Völker, S. 143 ff. 41 Siehe Rawls: Recht der Völker, S. 132 ff. 36

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schränkte und hinsichtlich ihres Verpflichtungscharakters auch vage Unterstützungspflicht zur Selbsthilfe für »belastete Gesellschaften«, die sich in Notlagen befinden. Sie sollen durch angemessene Hilfsund Unterstützungsaktionen in die Lage versetzt werden, »ihre eigenen Angelegenheiten in vernünftiger und rationaler Weise selbst regeln zu können«, bis sie »zu Mitgliedern einer Gesellschaft wohlgeordneter Völker werden.« 42 Das Ziel der Unterstützungspflicht ist daher nicht ein an Gerechtigkeitskriterien oder an der Beachtung der sozialen Menschenrechte orientierter Ausgleich im Wohlstandsgefälle der Völker, sondern nur, dass die oben erwähnten minimalen Menschenrechte beachtet und der Lebensstandard relativ akzeptabel erscheint. An Rawls Vorschlag scheinen mir zwei Punkte für unsere Fragestellung interessant: 4.3.1.) Zunächst einmal ist zu fragen, wie denn diese Unterstützungspflicht sich begründet. Die anfänglich pure Behauptung, dass wohlgeordnete Gesellschaften diese Pflicht haben, wird von ihm im späteren Text in drei Schritten einer geschichtsphilosophischen Spekulation erläutert. Als erstes gibt er zu erkennen, dass es im rationalen Eigeninteresse der wohlgeordneten Völker liegt, belasteten Gesellschaften zu helfen. Diese könnten sich zu aggressiven Schurkenstaaten entwickeln oder auf andere Weise die Verfolgung der jeweiligen Eigeninteressen der Wohlhabenden behindern. Eine Verpflichtung zur Hilfe ergibt sich aus diesem Selbstinteresse freilich nicht, wohl aber eine an dieses gebundene relative Motivation. 43 Auf einer zweiten Stufe entsteht nach Rawls zwischen den ungleichen Völkern nun in einer Phase länger andauernder Beziehungen eine »gegenseitige Sorge für ihre jeweiligen Lebens- und Kulturformen, und sie entwickeln die Bereitschaft, füreinander Opfer zu bringen.« 44 . Auch auf dieser Stufe kann man nicht von einer moralischen Verpflichtung sprechen. Es handelt sich um relativ zu gemeinsamen Wertüberzeugungen begründbare, freiwillige und wechselseitige Rawls: Recht der Völker, S. 137. Siehe Rawls: Recht der Völker, S. 139. Rawls erläutert die Unterstützungspflicht mit Hinweisen auf seine Theorie der Pflicht zu »gerechten Ersparnissen«, aber diese erläutern nur die Begrenzungen dieser Pflicht, nicht den Pflichtcharakter selbst; vgl. Rawls: Recht der Völker, S. 132 f. 44 Ebd. Ob diese Sorge wirklich »gegenseitig« ist, wird man bezweifeln können. Die »Opfer«, die die armen Staaten bringen, sind ihnen wohl eher abgepresst, als dass sie freiwillig erbracht wären. 42 43

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Fürsorge, das heißt eigentlich um eine, freilich beschränkte Version der oben (in II) erläuterten humanitären Hilfe. Zu ihr wären wir durch eine Wertschätzung aller Menschen angehalten, aber in Rawls Konzept ist es offen, ob diese Wertüberzeugungen notwendig alle Menschen einschließen oder ihnen allen den gleichen Wert zusprechen. Die Unterstützungshilfe auf dieser Stufe kann daher auch partikular und diskriminierend sein. Rawls nimmt nun an, dass der »heutzutage vergleichsweise enge Kreis wechselseitig fürsorglicher Völker in der Welt […] sich ausweiten« kann, 45 und er skizziert als dritte Stufe nun ein »Recht […] aller zivilisierten Völker«. Auf dieser Stufe könnte nun in der Tat von einer Unterstützungspflicht gesprochen werden, aber warum? Weil in einem Recht aller Völker Unparteilichkeit herrscht46 und genau diejenigen Wertprämissen anerkannt wären, auf die sich eine weltbürgerliche Vereinigung aller Menschen, wie sie sich in den Deklarationen der Menschenrechte und den völkerrechtlichen Menschenrechtskonventionen ausdrükken, festgelegt hat. Es ist, wie wir oben ausgeführt haben, Rawls durchaus zuzustimmen, dass dies nicht einfach nur Resultat einer moralphilosophischen Überlegung ist, sondern die politische und rechtliche Verarbeitung historischer Erfahrungen. Die Menschenrechte gibt es, weil wir Menschen des 21. Jahrhunderts uns so verstehen wollen, dass alle Menschen den moralisch begründbaren, gleichen rechtlichen Anspruch auf Wertschätzung, Berücksichtigung und Achtung haben. Obwohl Rawls daher explizit einen menschenrechtlichen Status für seine Argumentation auf der globalen Ebene ablehnt, muss er sich implizit auf genau diese Position beziehen, wenn seine Rede von einer Unterstützungspflicht der wohlgeordneten Gesellschaften gegenüber den belasteten Völkern einen klaren Sinn haben soll. Er hätte sonst, wie es ja üblich war, nur von einer rein humanitären Hilfe, die freiwillig erfolgt, reden können.

A. a. O., S. 140. Rawls drei Stufen folgen so der Rekonstruktion einer universalistischen Moral wie ich sie im Anschluss an Adam Smith vorgeschlagen habe: Sie beginnt mit subjektiven eigeninteressierten Werturteilen, erschließt anteilnehmend in der sympathetischen Einfühlung das bewerte Wohl des anderen und ist so zu Hilfe und Fürsorge motiviert, aber gelangt erst durch eine reflexive unparteiliche Beurteilung der sympathetischen Anteilnahme zu universellen und egalitären Verpflichtungen, siehe Lohmann: Sympathie und Unparteilichkeit bei Adam Smith, S. 88–99.

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4.3.2.) Rawls Vorschlag ist aber noch in einer weiteren Hinsicht interessant. Bei der Diskussion der Fragen, welche Arten von Unterstützungsleistungen denn für belastete Völker sinnvoll sind, wehrt Rawls eine rein monetäre oder auf zu verteilende Güter reduzierte Hilfe als ungeeignet ab. Und dies nicht nur deshalb, weil er eine internationale distributive Gerechtigkeit für unangemessen hält, sondern aus gewissermaßen sachlichen Gründen. Die Ursachen für Hunger, Armut und Elend in belasteten Völkern haben höchst unterschiedliche, wirtschaftliche, politische, kulturelle und soziale Gründe und lassen sich daher nicht mit einer Verteilung von Gütern bekämpfen, sondern nur langfristig durch eine Umorganisation der sozialen, politischen und kulturellen Strukturen. Eine Richtschnur für solche komplexen, eine ganze Lebensform verändernden Forderungen oder Projekte kann nun nicht die liberale politische Kultur eines wohlhabenden liberalen Staates sein, das würde als Paternalismus und Kulturimperialismus gedeutet. Eine Richtschnur können aber die Menschenrechte sein, insbesondere die politischen und kulturellen Menschenrechte, weil sie es ermöglichen, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft gleichberechtigt an der Umwandlung ihrer Kultur aktiv beteiligt werden. Diese Auffassung kann man aber nur vertreten, wenn man die Menschenrechte selbst nicht für ein exklusives Projekt der liberalen Kultur hält, sondern ihren universellen Anspruch auch gegenüber anderen Kulturen begründen kann. Da Rawls seine eigene Konzeption als Explikation eines politischen Liberalismus versteht, ist ihm diese Auffassung verwehrt. Er führt daher kein prinzipielles Argument für die Stärkung der politischen Menschenrechte an, sondern ein empirisches. 47 Das freilich ist von großer Bedeutung und auch für eine prinzipielle Argumentation für die Rolle der Menschenrechte relevant. 4.4.) Die Menschenrechte erscheinen so, aus unterschiedlichen Ansätzen gesehen, als besonders relevant für die Bekämpfung von Weltarmut und Hungersnöten und der Verwirklichung einer globalen Gerechtigkeit. Aber ihre rein moralischen oder rechtlichen Deutungen sind zu ergänzen und zu beschränken durch politische Überlegungen. In politischer Hinsicht wird darüber gestritten, welche Strategien, mit denen man die gravierenden Zustände der Weltarmut bekämpfen Rawls stützt sich auf Amartya Sens »Arbeiten über Hungersnöte«, siehe Rawls: Recht der Völker, S. 135, auf die ich gleich ausführlicher zu sprechen komme.

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kann, angemessen und Erfolg versprechend sind. Es geht hier nicht so sehr um das, was moralisch gesehen richtig ist, sondern um das, was unter den gegenwärtigen Bedingungen politisch sinnvoll und durchsetzbar erscheint. Paradigmatisch kann man das am Streit um die Entwicklungshilfepolitik sehen. Ihre Geschichte und ihr gegenwärtiger Zustand sind höchst ambivalent zu beurteilen. 48 Die Reflexionen auf die Erfahrungen mit der internationalen Entwicklungshilfepolitik zeigen, dass die Bekämpfung gravierender Armut in vielen (Entwicklungs-) Ländern der Welt nicht nur und nicht in erster Linie eine Frage der internationalen Umverteilung von Gütern und damit eine Frage der globalen Gerechtigkeit im Sinne von Rawls Differenzkriterium ist. Indirekte politische und plurale kulturelle Strategien der Armutsbekämpfung scheinen mehr Erfolg zu bringen. Insbesondere Amartya Sen hat gezeigt, dass Hunger, Armut und Elend vielfältige Ursachen haben, und ihre Bekämpfung keineswegs nur eine Frage der gerechten Verteilung von Grundgütern ist, sondern (auch) von den jeweiligen Konzeptionen politischer Freiheit, kultureller Identitäten und politischer Entscheidungsstrukturen abhängen. 49 Deshalb erscheinen plurale Strategien angemessener, die nach einem Vorschlag von Sen bei den vielfältigen nationalen wie transnationalen Identitäten und Institutionen ansetzen können, die Menschen prägen. 50 Im Gegensatz zu Rawls beschränkt Sen die Forderungen nach Gerechtigkeit und die Beachtung der sozialen Menschenrechte aber nicht auf innerstaatliche Bereiche und er ignoriert auch nicht die transnationalen Kooperationen, in die die Länder der Welt durch die vielschichtigen Globalisierungsprozesse gerissen wurden oder in die sie sich gebracht haben. Und im Gegensatz zu Pogge und Beitz moralisiert er auch die Forderungen einer globalen Gerechtigkeit nicht, indem er nur eine Konzeption distributiver Gerechtigkeit (à la Rawls) gelten lässt. Er beachtet vielmehr die vielfältigen und unterschiedlich dicht und weit sich erstreckenden Siehe dazu die kritische Analyse bei Thomas Kesselring: Ethik der Entwicklungspolitik. München 2003, besonders S. 203 ff. 49 Siehe Amartya Sen: Well-being, Agency and Freedom. The Dewey Lectures 1984. In: Journal of Philosophy 82, S. 169–224; ders.: Inequality Reexamined. New York/Cambridge, Mass. 1992; ders.: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. München 2000. 50 Siehe dazu Amartya Sen: Globale Gerechtigkeit. Jenseits internationaler Gleichberechtigung. In: Christoph Horn/Nico Scarano (Hrsg.): Philosophie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main 2002, S. 472 ff. 48

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Verflechtungen und Kooperationen der sich globalisierenden Welt und schlägt eine differenzierte und plurale Strategie einer globalen Gerechtigkeit vor. 51 Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist eine bestimmte Deutung von Freiheit. Er versteht sie gemäß den Bewertungen und Gewährleistungen der »Verwirklichungschancen, die Art von Existenz zu führen, welche wir für uns vorziehen«. 52 Man kann diesen Ansatz so verstehen, dass in ihm alle inhaltlichen Gruppen der Menschenrechte für eine gerechte Regelung der Verwirklichungschancen von Freiheiten von konstitutiver und von instrumenteller Bedeutung sind. 53 Sie sind konstitutiv, weil das Verständnis und die öffentlich zu führenden Auseinandersetzungen um eine angemessene Bestimmung gerechter Verwirklichungschancen von Freiheit die Ausübung, Beachtung und Gewähr sowohl der Freiheitsrechte wie der sozialen und politischen Menschenrechte voraussetzt und fordert. In dieser Hinsicht betont Sen, dass es ja kein schlicht universales Verständnis von Freiheit, Verwirklichungschancen, Fähigkeiten oder von Grundgütern gibt und daher jede gerechte Regelung von jeweils bestimmten, kulturellen Bewertungen abhängig ist. Deshalb sind »elementare Bürgerrechte und politische Freiheiten für das Herausbilden sozialer Wertvorstellungen unerlässlich«. 54 Der gemeinsame globale Maßstab für diese Rechte sind die Menschenrechte. Sie sind daher einerseits konstitutiv und vorauszusetzen, wenn man über Fragen einer globalen Gerechtigkeit diskutiert. Sie sind aber anderseits auch von instrumenteller Bedeutung, wenn ungerechte Verhältnisse als solche namhaft gemacht werden sollen und bekämpft werden sollen. Die Menschenrechte erscheinen hier als Mittel, um durch die ihnen korrespondierenden Verpflichtungen die Bedingungen und Verwirklichungschancen herzustellen, die ungerechten Verhältnisse zu beheben. Sie geben dabei zugleich, insbesondere in ihren rechtlichen Fixierungen, eine Festlegung und Begrenzung vor, wer welche Pflichten wie weit erfüllen muss. Die rechtlichen Fixierungen sind dabei, wie oben ausgeführt, von politischen Entscheidungen abhängig und können deshalb, im Lichte des Siehe Sen: Globale Gerechtigkeit, S. 475 f. Siehe Sen: Globale Gerechtigkeit, S. 338 f. 53 Sen sagt diesen wichtigen Punkt eher beiläufig in Sen: Ökonomie für den Menschen, S. 341 f., wohl weil es ihm hier nicht so sehr um die Bedeutung der Menschenrechte für eine globale Gerechtigkeit geht. 54 Sen: Ökonomie für den Menschen, S. 341. 51 52

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konstitutiven Verständnisses der Menschenrechte auch verändert werden. Vor dem Hintergrund dieses komplexen Modells könnten die oben (in II) genannten unterschiedlichen Verpflichtungen nun spezifiziert werden. Das kann hier im Einzelnen nicht mehr durchgeführt werden. 55 Es ging mir in dieser Skizze darum, den Ansatz, die Schwierigkeiten und vielleicht auch die Leistungsfähigkeit einer Konzeption von globaler Gerechtigkeit auszuführen, die sich konstitutiv und instrumentell an den Menschenrechten orientiert.

Einen in dieser Hinsicht akzeptablen und bedenkenswerten Vorschlag macht für »entwicklungspolitische Prioritäten« Thomas Kesselring. In: Kesselring: Ethik der Entwicklungspolitik, S. 249 ff.

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Demokratie und Menschenrechte Amnon Lev (Kopenhagen)

Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 scheint keine Zweifel zu lassen an der Bedeutung der Menschenrechte für die moderne Demokratie. Schon in den ersten Zeilen geben die Vertreter des französischen Volkes, als Nationalversammlung konstituiert, kund, dass »die Unkenntnis, das Vergessen oder die Missachtung der Menschenrechte die alleinigen Ursachen für die öffentlichen Missstände und die Verderbtheit der Regierungen sind.« Die Menschenrechte sind das einzig mögliche Fundament dieser neuen politischen Organisation, die sich in der Französischen Revolution durchsetzt. Aber was für eine Bewandtnis hat es eigentlich mit den Menschenrechten? Mit der Revolution rücken sie in den Vordergrund unseres Verständnisses einer ganzen Reihe von politischen und rechtlichen Kategorien – Staat, Demokratie, Bürger und Souverän –, aber welche Rolle haben die Menschenrechte in der Grundlegung der Demokratie gespielt und welche Rolle spielen sie heute? Ich werde versuchen, diese Fragen zu beantworten, indem ich einen Vergleich unternehme zwischen zwei Bestimmungen der Menschenrechte, der von Hegel und der des französischen Juristen Alexis de Tocqueville. Die Zusammenstellung von Hegel und Tocqueville ist aus zwei Gründen interessant: 1) Beide sind in ihrem politischen Denken durchgehend von der Französischen Revolution bestimmt. In einer Zeit, die noch von den Nachwirkungen der Revolution bewegt ist, versuchen sie, die gesellschaftliche Form des zukünftigen menschlichen Zusammenlebens – im wesentlichen auch das unsere – auf einen Begriff zu bringen. 2) Sie machen gewissermaßen die Extreme jeder möglichen Bestimmung der Menschenrechte aus: Menschenrechte als Normen, die unabhängig von der staatlichen Ordnung existieren (Tocqueville), und Menschenrechte als Normen, die gänzlich von der staatlichen Ordnung abgeleitet sind (Hegel). Diese Verbindung bietet uns daher eine Perspektive, in der wir anschaulich machen können, wie sich der Sinn der Menschenrechte in A

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der Geschichte der modernen Demokratie gewandelt hat. Ich werde zeigen, dass dieser Sinneswandel einer fundamentalen Verschiebung im Verhältnis der konstituierenden Momente der modernen Demokratie, Zivil-Gesellschaft und Staat, entspricht. Das Menschenrecht kann daher als ein Index dieses Verhältnisses verstanden werden: bei Tocqueville als die äußerste Grenze der Souveränität des Volkes, bei Hegel als Werte, die für den Staat zwar nicht verbindlich sind, aber deren Bewahrung der Staat sich dennoch auferlegt hat. Eine Untersuchung der Menschenrechte verspricht daher, einen wichtigen Beitrag zu leisten zu einem Verständnis desjenigen, das Zivil-Gesellschaft und Staat zusammenhält und das die Art des menschlichen Zusammenlebens, die wir eine Demokratie nennen, überhaupt ausmacht.

1.

Das Problem: Die Grundlegung der Demokratie

Tocqueville und Hegel erblicken beide in der Französischen Revolution den Anfang einer neuen weltgeschichtlichen Epoche, die mit dem Aufkommen einer neuen politischen Organisation auf das Innigste verknüpft ist, nämlich dem auf Freiheit gegründeten Staat. Der junge Hegel war von einer glühenden Begeisterung für die revolutionären Ideale erfüllt, aber Robespierres Terrorregime ließ ihn diese Umwälzung der traditionellen Ordnung in einem anderen Lichte sehen. 1 Aber selbst gegen Ende seines Lebens – und im selben Atemzug, in dem er den Wunsch ausspricht, die politische Unruhe möchte nun endlich ein Ende finden – grüßt Hegel die Französische Revolution als »ein[en] herrliche[n] Sonnenaufgang« in der Geschichte der Menschheit. Hegel und Tocqueville verstehen aber beide diesen Sonnenaufgang auch als einen Bruch mit dem antiken politischen Denken. Das Politische lässt sich nicht länger von der antiken Polis her, von der Einheit des Einzelnen und der Kollektivität verstehen. Die politischen Erfahrungen der Antike lassen sich nicht auf die Moderne übertragen. Diese Unmöglichkeit der Übertragung gilt Hegel erblickt im Terror eine notwendige Konsequenz der reinen Negativität, die dem Denken der Aufklärer eigen ist. Als reine Negativität nimmt dieses Denken eine absolute Freiheit in Bezug auf das Bestehende in Anspruch und zeigt sich demnach als unfähig, eine feste politische Organisation entstehen zu lassen; es ist die »Furie des Verschwindens«, siehe Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hamburg 1952, S. 418.

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auch für die ursprüngliche Grundlegung einer demokratischen Organisation in den griechischen Stadtstaaten. In Tocquevilles Worten waren die »angeblichen Demokratien« der Antike, »deren Bürger sich rosenbekränzt auf den Marktplatz und fast ihre ganze Zeit bei Tanz und Schauspiel verbrachten […] völlig anders geartet […] als die unsrigen und ›hatten‹ mit diesen nichts als den Namen gemeinsam […].« 2 Der moderne Mensch sieht sich daher vor die Aufgabe gestellt, eine neue Art des menschlichen Zusammenlebens zu begründen, die erste eigentliche Demokratie, und wie Hegel in seiner Rechtsphilosophie bemerkt, versucht man in der Französischen Revolution zum ersten Mal, »die Verfassung eines großen wirklichen Staates mit Umsturz alles Bestehenden und Gegebenen ganz von vorne und vom Gedanken anzufangen.« 3 Der Gedanke, der dieser neuen politischen Form als Grundlage dienen soll, ist der, dass die Menschen – wie es im Artikel 1 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte steht – frei und gleich an Rechten geboren werden und es bleiben. Der traditionellen Ordnung und den traditionellen Prinzipien müssen jetzt ein Ende gemacht werden, weil sie mit dem rationalen Aufbau des Staates unvereinbar sind. Dies geht einher mit einer fundamentalen und durchgehenden Veränderung der Weise, in der das Recht zum Austrag kommt und die menschliche Gesellschaft zusammenhält. Gerade weil die Demokratie im Gedanken der rechtlichen Gleichheit aller Bürger gründet, bedeutet der Übergang zur demokratischen Verfassung eine Entbindung der Rechtsordnung von der gesellschaftlichen Hierarchie. Eine der Erscheinungsweisen dieser Entbindung ist die Sonderung des öffentlichen und privaten Rechts als selbständige Bereiche des Rechts oder Disziplinen. Die traditionelle Rechtsordnung kennt diese Differenzierung nicht, weil Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika (DA). Berlin 1962 (1835– 1840), II, 3, 15, S. 241. 3 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (GPR). Hamburg 1995, § 258, S. 210. Es muss hier hinzugefügt werden, dass Hegel mit der Zeit nicht nur den starren Formalismus und die blinde Negativität der Revolution erkennt, sondern ihr auch weniger Bedeutung zumisst. Der junge Hegel versteht die Revolution als Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit; für den alten Hegel geschieht die entscheidende Wende in der Geschichte mit der Reformation, weil die Subjektivität hier zum Durchbruch kommt. Die Französische Revolution erscheint demnach nicht länger als ein weltgeschichtliches Ereignis, sondern als ein lokales, »katholisches« (sic) Phänomen – und als ein Mangel des Katholizismus, siehe Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (VPW). Hamburg 1976, IV, S. 923–925. 2

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die Rechtsordnung nicht für sich, sondern nur als das Gefüge einer gesellschaftlichen Hierarchie begriffen wurde, die Gott mit dem Bürger verband und für die Spaltung der Totalität in Staat und Zivil-Gesellschaft keinen Raum ließ. Die rechtliche Kompetenz einer Person war durch die Stellung, die sie in dieser Hierarchie innehatte, wesentlich mitbestimmt. Das Recht des Mittelalters kann insofern als ein personales Recht bezeichnet werden, als die Summe der Rechte, die einem Vertragspartner innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie – und durch sie – zukam, Teil des Vertrages war. 4 Die Taten des Königs waren auch die Taten des Landes, und die Person des Königs konnte deswegen über die königliche Domäne rechtlich verfügen. 5 Es ist diese Mischung von privatem und öffentlichem Recht, die Hegel so scharf in seiner Ständeschrift kritisiert: die Weigerung der Stände einzusehen, dass es nach der Revolution ein staatliches Recht über dem personalen (künftig als privates bezeichneten) Recht gebe. 6 Die Französische Revolution zeitigt aber nicht nur eine Differenzierung der nationalen Rechtsordnung. Durch sie kommt es auch zu einer fundamentalen Veränderung der Weise, in der das Recht das Verhältnis der Menschen untereinander vermittelt. Die rechtliche Gleichschaltung der traditionellen hierarchischen Verhältnisse der Bürger untereinander, die einer Grundlegung der demokratischen politischen Organisation gleichkommen soll, geht nicht einher mit der Abschaffung der faktischen sozialen Ungleichheit. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte scheint vielmehr eine solche Ungleichheit vorauszusetzen, insofern Artikel 1 nur davon spricht, dass 4 Christian-Friedrich Menger: Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit. Heidelberg 1975, S. 31. 5 Die Entwicklung des Feudalstaates ist in den europäischen Ländern unterschiedlich vonstatten gegangen, aber wir können mit Sicherheit sagen, dass die Hoheitsrechte des Souveräns seit dem hohen Mittelalter einen solchen privaten und persönlichen Charakter angenommen hatten, siehe Heinrich Mitteis: Der Staat des hohen Mittelalters. Bonn u. a. 1974, S. 426. 6 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Württemberg im Jahr 1815 und 1816 (Verhandlungen). In: Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel (Hrsg.): Hegel. Werke, Band IV. Frankfurt am Main 1986, S. 479, 499, 504. Siehe Gertrude Lübbe-Wolff: Über das Fehlen von Grundrechten in Hegels Rechtsphilosophie. In: Hans-Christian Lucas/Otto Pöggeler (Hrsg.): Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Stuttgart 1986, S. 427–429, 434–435; Hans-Christian Lucas: Wer hat die Verfassung zu machen, das Volk oder wer anders. In: op.cit., S. 201–202, 205.

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die Menschen gleich an Rechten sein sollen. Die Ungleichheit ist demnach aus dem Wesen der Gesellschaft verbannt, aber nicht aus der Welt. Sie ist also nicht länger legal, zumindest nicht ohne weiteres. In den Demokratien sind die Diener nicht nur unter sich gleich; man kann sagen, sie haben in gewisser Weise die gleiche Stellung wie ihre Herren […]. Der Diener kann jederzeit Herr werden, und er strebt danach, es zu werden; der Diener ist also kein anderer Mensch als der Herr. Weshalb hat der erste das Recht zu befehlen, und was zwingt den zweiten zu gehorchen? Das zeitwillige und freie Übereinkommen ihrer beiden Willen. Von Natur aus ist keiner dem anderen untergeordnet, und sie werden es nur vorübergehend durch die Wirkung des Vertrages. Innerhalb der Grenzen dieses Vertrages ist der eine der Diener, der andere der Herr; außerhalb davon sind sie zwei Bürger, zwei Menschen. 7

Wie aus dem obigen Zitat erhellt, soll die Wiederherstellung eines Gleichgewichtes in den ungleichen Machtverhältnissen durch das Recht erfolgen. Die faktische Ungleichheit kann in der Demokratie fortbestehen, aber im Prinzip – und das heißt von Rechts wegen – muss der Diener zu jeder Zeit auch selbst Herr werden können. Wie Tocqueville in Das alte Staatswesen und die Revolution bemerkt, lässt sich die Stabilität des englischen Systems größtenteils dadurch erklären, dass die Umgrenzung der englischen Aristokratie so nebelhaft war, dass »man es nicht wusste, wenn man ihr Mitglied ward; so daß ein jeder, der sich ihr näherte, glauben konnte, ihr anzugehören, sich an ihrer Regierung zu betheiligen oder einigen Glanz und einigen Vortheil von ihrer Macht zu ziehen.« 8 Entscheidend ist mit anderen Worten, dass die Abgrenzung von rechtlicher Gleichheit und faktischer Ungleichheit sich nicht so verfestigt, dass sie als unumstößliche, natürliche Tatsache erscheint. Die Erkenntnis, dass die Ungleichheit nichts Naturhaftes ist, ist ein Aspekt des Bruches mit der antiken politischen Philosophie. Bei Aristoteles ist die Sklaverei damit begründet, dass der Sklave von Natur aus (physei) ein Sklave sei, während die politische Herrschaft, die Selbstherrschaft der Bürger, einer Rechtfertigung bedarf. 9 Nach der Französischen Revolution kann das politische Denken nicht länger die tradierten Vorstellungen dessen, was naturhaft oder natürlich ist, ohne weiteres übernehmen. 7 8 9

Tocqueville: DA, II, 3, 5, S. 199. Alexis de Tocqueville: Der alte Staat und die Revolution (AR). Leipzig 1867, S. 95. Aristoteles: Politik, I, 2, 1253b 15–1255b 40. A

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Die Revolution ist ja gerade dafür ein Zeugnis, dass auch gesellschaftliche Strukturen, die als ewig und unveränderlich – als Natur – erscheinen, sich ändern lassen. Dies nährt den Verdacht, dass alles, was wir in der Gesellschaft unhinterfragt als notwendig hinnehmen, anders sein könnte. Mit Tocquevilles Worten: »[…] je mehr ich den früheren Zustand der Welt erforsche […] um so mehr neige ich zu der Meinung, daß die sogenannten notwendigen Einrichtungen häufig nur Einrichtungen sind, an die man sich gewöhnt hat, und daß die Möglichkeiten auf dem Gebiete der Gesellschaftsordnung viel zahlreicher sind, als die Menschen, die in einer bestimmten Gesellschaftsordnung leben, sich vorstellen.« 10 Was in der Französischen Revolution gestiftet wird, ist die Möglichkeit der totalen Veränderung der Gesellschaft. Was früher als Unveränderliches dastand, erscheint jetzt als das Ergebnis eines historischen Prozesses; ein Ergebnis, an das wir uns dermaßen gewöhnt haben, dass wir es nicht länger als historisch auffassen, und sich deshalb auch nicht rückgängig machen lässt durch (revolutionäre) Praxis. Die Gesellschaft wird durch die Revolution gewissermaßen denaturiert: Natur (die Ungleichheit ist naturhaft) wird in Geschichte überführt (die Ungleichheit ist Menschenwerk). Aber diese Möglichkeit bleibt eine offene: Der Sinn der Revolution ist, dass die Veränderung, die vollständige Veränderung, möglich ist, und es ist deshalb unmöglich, eine Grenze des revolutionären Vorganges auch nur skizzenhaft anzugeben. Jede Grenzziehung zwischen rechtlicher Gleichheit und faktischer Ungleichheit ist insofern nur eine provisorische, als sie ständig der Möglichkeit einer Revision anheimgegeben ist. Es stellt sich also heraus, dass die Grundlegung der Demokratie unlösbar verknüpft ist mit der Frage, wie eine Demokratie überhaupt möglich ist. In gewisser Weise sind die Revolution und die Grundlegung der Demokratie nicht als historische Ereignisse, die sich irgendwann und irgendwo ereigneten, sondern als neue Bedingungen des Politischen zu verstehen. Die Revolution kehrt in jeder Grundlegung der Demokratie zurück, 11 nur ist die Vorstellung von Freiheit und Alexis de Tocqueville: Erinnerungen. Stuttgart 1954, II, 2, S. 126. Das Zitat von Tocqueville betrifft die Julirevolution von 1848, aber Tocqueville erblickt in ihr die Fortsetzung der Revolution von 1789. Siehe FN 12. 11 Ein resignierter Tocqueville bringt diesen Gedanken zum Ausdruck nach der Julirevolution in 1848: »Auf das Ancien Régime war die konstitutionelle Monarchie gefolgt, auf die Monarchie die Republik, auf die Republik das Kaiserreich, auf das Kaiserreich die Restauration; dann war die Julimonarchie gekommen. Nach jeder dieser 10

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Gleichheit, die bis 1789 eben eine Vorstellung war, mit dieser Revolution in die Geschichte hineingetreten. War die Ungleichheit vor der Revolution von 1789 gefährlich, so war sie es nachher umso mehr. Ein Zeugnis dafür sind die ständigen und immer gewaltsameren politischen Umwälzungen, die Frankreich von 1789 bis zum Fall der Pariserkommune 1871 erschütterten.12 Die Grundlegung einer festen politischen Organisation ist also nicht nur ein theoretisches Problem, sondern sie ist mit Hegels Worten das wesentliche Problem der neuen Zeit. 13 Die Vorstellung von dem Menschen als Rechtssubjekt rückt nun kaum merklich in den Vordergrund des politischen Denkens. Der Mensch wird zum Kernpunkt des Versuches, zwischen der rechtlichen Gleichheit und der faktischen Ungleichheit zu vermitteln, und in diesem Sinne können wir sagen, dass der Mensch erst in der Moderne erfunden wird. In der aristokratischen Gesellschaft war der Mensch nirgendwo zu finden. Es gab nur verschiedene Klassen von Menschen. 14 Wie Tocqueville bemerkt, glaubte man nicht dem Menschen, sondern dem Vasallen oder dem Herren die Hilfe schuldig zu sein. In der Demokratie aber erscheint die Ungleichheit, die nicht durch das Privatrecht vermittelt ist, das heißt, die nicht einem Vertrag entspringt, als eine Ungleichheit zwischen Menschen. Die Demokratie muss sich deshalb ständig die Frage stellen, welche Ungleichheit(en) noch fortbestehen können und welche als verfassungswidrig aufgehoben werden müssen. Das Menschenrecht ist das Element, in dem diese ständige Grundlegung der Demokratie umgesetzt wird. 15 Wir werden sehen, wie TocquevilWandlungen hatte man erklärt, dass die französische Revolution das, was man voll Dünkel als ihre Aufgabe bezeichnete, erfüllt habe und nun beendet sei: man hatte es gesagt und geglaubt. Leider hatte auch ich diese Hoffnung gehegt, unter der Restauration und noch nach ihrem Sturze. Jetzt lebte die französische Revolution wieder neu auf, denn sie ist immer dieselbe. Je mehr sie fortschreitet, um so mehr entfernt und verdunkelt sich ihr Ziel.« op.cit., II, 1, S. 113. 12 Die Julirevolution lässt Tocqueville erkennen, dass die Revolution ein Klassenkampf ist, dessen Ziel nicht die bloße Auswechslung der politischen Elite, sondern die Erschaffung einer neuen Gesellschaft ist. Siehe op.cit., II, 2, S. 124–125. 13 Hegel: VPW, IV, S. 933. 14 Tocqueville: DA, II, 3, 1, S. 182. 15 Das Primat, das hier der Französischen Revolution zukommt, ist mit historisch orientierten Darstellungen der Menschenrechte unvereinbar, zum Beispiel Michel Villey: Le droit et les droits de l’homme. Paris 1983. Ich streite selbstverständlich nicht ab, dass der Gedanke der Menschenrechte nicht erst mit der Französischen Revolution auf die Welt gekommen ist und dass die vorherigen Stufen dieser Geschichte für die Gestaltung des modernen Begriffes von Menschenrecht von Bedeutung sind. Dennoch bin ich nicht A

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le und Hegel die gesellschaftliche Ordnung, die sich aus den Ruinen der traditionellen Gesellschaft erhebt, denken und welche Rolle den Menschenrechten dabei zukommt. Es wird sich herausstellen, dass sie in ihrer Analyse weitgehend übereinstimmen. Dennoch sind es zwei deutlich unterschiedene Bilder dieser Gesellschaft, die uns begegnen werden: Bei Tocqueville eine bürgerlich-liberale Demokratie, bei Hegel eine Skizze des modernen Wohlfahrtsstaates. 16 Dieser Unterschied wird in seinem Zusammenhang mit dem Verständnis von der Relation zwischen Vertragspartner und Mensch aufgezeigt, und die zwei gesellschaftlichen Gestalten, denen wir bei Tocqueville und Hegel begegnen, werden sich als zwei Weisen, die Funktion des Rechts zu verstehen, zeigen.

2.

Tocqueville: Menschenrecht als Grenze der Souveränität

Dem Liberalismus kommt ein besonderer Platz in der Geschichte des Menschenrechts zu: Der Kampf, die Rechte des Einzelnen gegen den Souverän zu sichern, wurde unter seinem Banner geführt. Nichtsdestoweniger scheint es auf den ersten Blick nicht, dass Tocqueville überhaupt den Gedanken fasst, dass der Mensch als solcher Rechte hat. In Übereinstimmung mit der antiken politischen Philosophie versteht Tocqueville Rechte als etwas einer Mehrheit von Personen zukommendes, einer Polis oder einem Staat. Rechte sind für Tocqueville – wie für den frühen Liberalismus von Benjamin Constant – überzeugt, dass diese Historik die modernen praktischen und theoretischen Bestrebungen, die wir insgesamt als Menschenrecht bezeichnen, erklären kann. Die Weigerung, die Neuartigkeit der Französischen Revolution innerhalb der Geschichte der Menschenrechte anzuerkennen, und die damit verbundene Behauptung, dass eine Historik der Menschenrechte gleichberechtigte Beiträge zu einem Verständnis ihrer heutigen Erscheinungsformen enthält, stellen sich einem angemessenen Verständnis der positiven Bedeutung der Menschenrechte in den Weg und führen dazu, dass man die moderne Entwicklung auf diesem Gebiet als Sündenfall versteht (was in der Tat der Fall bei Villey zu sein scheint. Siehe op.cit., S. 154). 16 Zur Behauptung, Hegels Philosophie sei eine Philosophie des Wohlfahrtsstaates, muss hinzugefügt werden, dass dies nur ein Aspekt seines Denkens ist und dass es eine offene Frage bleibt, wie Hegel sich zur faktischen Entwicklung des Wohlfahrtsstaates gestellt hätte. Nicht umsonst haben sowohl Lorenz von Stein als auch Carl Schmitt von ihm gelernt. Siehe Jean-François Kervégan: Hegel. Carl Schmitt. Le politique entre spéculation et positivisme. Paris 1992, S. 141–145; Norbert Waszek: Aux sources de l’État social à l’allemande: Lorenz von Stein – et Hegel. In: Revue Germanique Internationale 15/2001, S. 211–238, bes. S. 225–231.

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nicht in erster Linie Rechte des Menschen, droits de l’homme, sondern politische Rechte, droits du citoyen. Diese Gleichsetzung von Mensch und Bürger ist durch die Auffassung gewährt, dass es die Aufgabe des Staates ist, die Freiheit des Einzelnen zu bewahren; eine Auffassung, die Tocqueville mit Benjamin Constant teilt. 17 In dem Maße, in dem diese Auffassung sich faktisch bewährt, ist der Status des Einzelnen als Subjekt der »Menschenrechte« im Status des Bürgers als Subjekt der politischen Rechte aufgehoben. Der bürgerliche Staat betreut die Interessen des Menschen, indem er die des Bürgers handhabt. Der Begriff »Menschenrecht« kommt – soviel ich weiß – nicht bei Constant vor, und die Passagen, in denen Tocqueville den Begriff erwähnt, richten sich gegen die französische Vorliebe für generelle und wirklichkeitsfremde Bestimmungen der Wirklichkeit, zum Beispiel gegen den Versuch der Revolutionäre, nicht nur »das besondere Recht des französischen Bürgers […], sondern […] die allgemeinen Pflichten und Rechten der Menschen« in politischen Dingen zu bestimmen. 18 Vereinzelt scheint Tocqueville doch einem menschenrechtlichen Gedankengang nahe zu kommen. Er sagt zum Beispiel von der Vereinigungsfreiheit, dass sie für die Menschen etwas »natürliches« sei. 19 Die Natur, der Tocquevilles Interesse gilt, erweist sich auf den zweiten Blick nicht als die des Menschen, sondern die der Gesellschaft. Es ist nämlich nicht nur – und vielleicht nicht in erster Linie – der Mensch, sondern die Gesellschaft, die des Schutzes würdig ist. Wie Tocqueville hervorhebt, kann der Gesetzgeber die Vereinigungsfreiheit »nicht aufheben wollen, ohne die Gesellschaft selber zu treffen«. Das eigentliche Ziel der Bewahrung der zivilen und bürgerlichen Rechte ist also in der Gesellschaft zu suchen. Aber obwohl Tocqueville der Auffassung zu sein scheint, dass dem Einzelnen nur als Bürger Rechte zukommen, muss er fast gegen seinen Willen zugeben, dass es Situationen gibt, in denen es nicht zu einer vollkommenen Deckung von Bürger und Mensch kommen kann und dass das Individuum also nicht vollends durch die Ausübung seiner bürgerlichen Rechte gesichert ist. Dieses Eingeständnis Benjamin Constant: Principes de Politique (PP). In: Marcel Gauchet (Hrsg.): Benjamin Constant. Écrits politiques. Paris 1997, S. 483; Tocqueville: DA, I, 2, 9, S. 364; II, 4, 7, S. 346. Siehe hierzu J.-C. Lamberti: Tocqueville et les deux démocraties. Paris 1983, S. 95, 101. 18 Tocqueville: AR, I, 3, S. 22; siehe auch III, 1, S. 143–144. 19 Tocqueville: DA, I, 2, 4, S. 221. 17

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macht er im Zusammenhang mit der Frage nach den Grenzen der Souveränität in der Demokratie. Er sieht sich hier mit einer Aporie konfrontiert: »Ich halte den Grundsatz, dass die Mehrheit des Volkes in Bezug auf die Regierung das Recht hat, alles zu tun, für ruchlos und verabscheuungswürdig, und dennoch ist für mich der Wille der Mehrheit der Ursprung aller Gewalten.« 20 Er weist auf ein Problem hin, mit dem sich der Liberalismus von jeher auseinandergesetzt hat, ja das als Anstoß des Liberalismus gelten kann: Wie können der Souveränität Grenzen gesetzt werden? Diese Frage lässt sich unter zwei verbundenen Aspekte betrachten: als die Frage, wie die Souveränität institutionell zu begrenzen ist, und als die Frage nach dem normativen Grund einer solchen Begrenzung. Die für die Geschichte des politischen Denkens folgenreichste Antwort ist zweifelsohne die Lehre der Gewaltenteilung, die Montesquieu im Kapitel über die englische Verfassung in Vom Geist der Gesetze entwickelt: Die Begrenzung der Souveränität soll durch eine Verteilung der Gewalten erzielt werden, so dass keine Person oder Körperschaft (corps) der Obrigkeit mehr als eine Art der Gewalt auf sich vereint. Durch diese institutionelle Einbindung soll die Begrenzung nicht der Souveränität selber, sondern deren Ausübung erfolgen. Montesquieu scheint überhaupt nicht die Möglichkeit einer normativen Begrenzung der Souveränität zu erwägen – und das mit Gründen. Seine institutionelle Lösung des Souveränitätsproblems fußt nämlich auf der unausgesprochenen Annahme, dass eine solche normative Begrenzung unmöglich ist: Die Gewaltenteilung stellt die einzige Möglichkeit dar, die politische Freiheit zu sichern, weil die Macht in der Freiheit nur eine noch nicht überwundene Einschränkung ihrer selbst sehen kann. Wie Montesquieu bemerkt, wird alle Macht der grundlegenden Gewalt des Staates, der gesetzgebenden, zufließen, wenn ihr nicht eine Grenze gesetzt wird. 21 Die Position von Tocqueville ist komplexer. Er wechselt zwischen dem institutionellen und dem normativen Aspekt. Der Gedanke einer institutionellen Begrenzung der persönlichen Ausübung der Macht, die sogenannten cercles de pouvoir, spielt eine entscheidende Rolle in seinen Analysen der amerikanischen Demokratie und scheint hier dem Einzelnen einen zureichenden Schutz zu gewähren. 22 Aber als er zu der Mehrheitstyrannei übergeht, wendet er sich 20 21 22

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op.cit., I, 2, 7, S. 289. Montesquieu: Vom Geist der Gesetze (1891), XI, 6, S. 137. Siehe zum Beispiel, Tocqueville: DA, I, 1, 5, S. 79–80; I, 1, 8, S. 182–183.

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dem Gedanken einer normativen Begrenzung der Souveränität des Volkes zu: Institutionelle checks and balances greifen gegenüber der Mehrheit in einer Demokratie zu kurz; das Prinzip der Begrenzung muss auf einer höheren Ebene gefunden werden als das zu Begrenzende. 23 Tocqueville verortet diese Begrenzung in der Idee einer Gerechtigkeit, die jenseits der politischen Ordnung liegt: Die Gerechtigkeit bildet also die Schranke für das Recht eines jeden Volkes. Das Volk ist wie ein Geschworenengericht, das die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu vertreten und die Gerechtigkeit als ihr Gesetz anzuwenden hat. Soll das Gericht, das die Gesellschaft vertritt, mehr Recht besitzen, als die Gesellschaft selbst, deren Gesetze es vollzieht? Verweigere ich also einem ungerechten Gesetz den Gehorsam, so bestreite ich der Mehrheit keineswegs das Recht, zu befehlen; ich berufe mich nur gegenüber der Souveränität des Volkes auf die Souveränität der Menschheit. 24

Wie wir sehen, ist es die Idee einer supra-politischen Gerechtigkeit, die es Tocqueville ermöglicht, der Souveränität des Volkes eine äußerste Grenze zu setzen. Tocqueville scheint sich des problematischen Charakters dieser transzendenten Instanz bewusst zu sein; jedenfalls eignet seiner Behauptung, die Berufung auf die Souveränität der Menschheit komme einer Bestreitung des Rechts der Mehrheit zu befehlen nicht gleich, ein Hauch von Sophismus. Denn es ist genau die Annahme der Existenz einer solchen höheren Instanz, die in einem demokratischen Zeitalter verdächtig erscheinen muss. Tocqueville schreibt in dem obigen Zitat nicht ausdrücklich dem Menschen als solchem Rechte zu, aber gerade dies ist eine notwendige, gleichwohl unausgesprochene Voraussetzung für die Begrenzung der Macht der Mehrheit, die er anstrebt. Nur weil es ein Drittes gibt, das den Einzelnen und die Mehrheit in sich fasst, ist das Urteil der Mehrheit nicht endgültig. Dieses Dritte ist die Menschheit. Damit leuchtet auch ein, dass das rechtliche Phänomen, das wir als Menschenrecht bezeichnen, für Tocqueville ein Grenzphänomen ist. Die Rechte des Menschen markieren die äußerste Grenze der Souveränität des Volkes und kommen dort zur Geltung, wo die bürgerlichen

Siehe hierzu Michael Drolet: Tocqueville, Democracy and Social Reform. Basingstoke 2003, S. 86–88. Ossewaarde scheint nicht diese Doppelheit in Tocquevilles Übernahme von Montesquieus Lehre der Gewaltenteilung erfasst zu haben, siehe M. R. R. Ossewaarde: Tocqueville’s Moral and Political Thought. London 2004, S. 94, 118–119. 24 Tocqueville: DA, I, 2, 7, S. 289. 23

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Rechte nicht ausreichen, um die Sicherheit des Einzelnen zu schützen. Die Notwendigkeit, Gesetze anzunehmen, die für die Menschheit gelten und die als solche die Verweigerung, dem Befehl der Mehrheit zu gehorchen, gewährleisten können, ist ein Zeichen dafür, dass das harmonische Verhältnis von Bürger und Mensch, das als Ideal der liberalen Demokratie gilt, aus den Fugen geraten ist. Um dieser Notwendigkeit näher auf den Grund gehen zu können, müssen wir einen Blick auf die Gesellschaft der post-revolutionären Welt werfen. Was wir sehen, ist, dass die Demokratie eine fundamentale Veränderung der rechtlichen Struktur der Macht mit sich bringt. In einer aristokratischen Gesellschaft sind die Machtverhältnisse immer durch eine Hierarchie vermittelt, die sowohl sozial als auch verfassungsmäßig gesichert ist. Die gewöhnliche Auffassung ist, dass die Revolution dieser Hierarchie ein Ende gemacht hat. Es ist diese Auffassung, der sich Tocqueville zunächst anschließt, aber mit der Zeit sieht er die Ereignisse von 1789 anders; nämlich nicht als Grund sozialen Ausgleichs, sondern als Ergebnis einer Bewegung, die auf immer stärkeren Ausgleich abzielt. Und wie er sagt, ist es diese Bewegung, in die alle Revolutionen und Gegenrevolutionen eingehen, die Europa seit 1789 erschüttert haben, insofern sie alle dazu beigetragen haben, die gesellschaftlichen Instanzen der Vermittlung der Macht zu zerstören. 25 Diese Nivellierung des verfassungsmäßigen Raumes ist eine Vorbedingung dafür, dass der Mensch den Feudalherrn als den Inbegriff des Anderen ersetzen kann, wie wir es oben gesehen haben. In dieser Ersetzung werden die Bürger von der Verpflichtung gegeneinander entbunden. Anstatt der rechtlichen Normierung ihrer gegenseitigen Verhältnisse entsteht ein allgemeines Mitgefühl, das zwar von weniger verbindlichem Charakter ist, aber dagegen alle Angehörigen des Menschengeschlechts (l’espèce humaine) umfaßt: »Haben alle in einem Volke fast den gleichen Rang, so kann, da alle Menschen ungefähr gleich denken und fühlen, jeder sofort die Empfindung aller anderen erschließen; er wirft einen raschen Blick auf sich selbst; das genügt ihm.« 26 Es entsteht so eine paradoxale Situaop.cit., II, 4, 5, S. 328. Dieses Verständnis der modernen Demokratie, insbesondere die Bedeutung der Zentralisierung und der immer stärker ausgeprägten sozialen Gleichheit als politischer Triebkraft, findet sich schon bei Hegel. Siehe hierzu Shlomo Avineri: Hegel’s Theory of the Modern State. Cambridge 1972, S. 49, 145, 165. 26 op.cit., II, 3, 1, S. 184. Tocqueville wird diese Analyse vertiefen in Der alte Staat und die Revolution, wo er den Übergang zur Demokratie als das Ergebnis einer immer stär25

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tion, die für die Demokratie kennzeichnend ist: Auf der einen Seite sind die Menschen durch eine ausgeprägte Gleichheit – die Tocqueville als »eingebildet« bezeichnet, weil sie trotz der faktischen Ungleichheit behauptet wird 27 – vereint, und auf der anderen Seite ist der einzelne Mensch vollkommen vereinzelt, weil die Gleichheit, die die Demokratie zusammenhält, nicht ausreicht, um ihre Bürger zusammenzuhalten. Der Andere ist der Mensch, nicht ein Mensch. Das ist für die Erscheinung und Entfaltung der Souveränität im demokratischen Zeitalter von entscheidender Bedeutung. Die Souveränität geht jetzt aus einer Gemeinschaft von Gleichen hervor, eine eingebildete oder imaginäre Gemeinschaft. Es gibt nicht länger einen König oder einen Adel, die auf die Macht besonderen Anspruch erheben können. In der Demokratie hat keiner die Macht, insofern wir alle in gleichem Maße ihrer teilhaftig sind. Diese Verflüchtigung der Macht geht einher mit ihrer radikalen Konzentration. Tocqueville wiederholt hier die Analyse von Montesquieu: In einer repräsentativen Volksregierung wird alle Macht notwendigerweise der gesetzgebenden Macht zufließen als der Macht, die am direktesten aus dem Volke hervorgeht. 28 Der Übergang zu einer demokratischen politischen Organisation ist so durch eine immer stärkere Entgegensetzung des vereinzelten, machtlosen Individuums und der allmächtigen, imaginären Gemeinschaft von seinesgleichen gekennzeichnet. Diese Entgegensetzung kommt in der Entfaltung der Souveränität zum Austrag: Das Individuum wird ab jetzt ein direktes Objekt einer gesellschaftlichen Macht, die bei weitem die Macht eines jeden Königs oder Feudalherren übersteigt. In der Demokratie holt »der Arm der Regierung jeden gesondert aus der Menge [heraus], um ihn einzeln den gemeinsamen Gesetzen zu unterwerfen.« 29 Die Ambivalenz, die für Tocquevilles Auffassung der Demokratie so charakteristisch ist, hat hier ihren Grund: Auf der einen Seite ist er fest davon überzeugt, dass die Bewegung hin zur Demokratie nicht nur unaufhaltbar, sondern auch gerecht ist, weil die Demokratie die einzige politische Organisation ist, die der Freiheit des Einzelnen Rechnung ker ausgeprägten sozialen Gleichheit, die schon in der Zeit der absoluten Monarchie (und durch sie) ein Faktum war, siehe Tocqueville: AR, II, 8, S. 89–90. Siehe hierzu François Furet: Penser la Révolution française. Paris 1985, S. 45–46, 224–227; J.-C. Lamberti: La notion d’individualisme chez Tocqueville. Paris 1970, S. 56–58. 27 op.cit., II, 3, 5, S. 200. 28 op.cit., I, 1, 8, S. 174–175. 29 op.cit., II, 3, 8, S. 212. A

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trägt. Auf der anderen Seite ist er sich bewusst, dass der Übergang zur Demokratie die Gefahr einer bisher unbekannten Unterjochung eben dieser Freiheit mit sich bringt. 30 Wir haben oben gesehen, dass der Vertrag der Ort oder das Element wurde, in dem die Ungleichheit der demokratischen Gesellschaft ihre Vermittlung fand. Was Tocqueville jetzt erkennt, ist, dass die Idee der rechtlichen Gleichheit, die in dem Vertrag verkörpert ist, nicht nur unfähig ist, die Freiheit des Einzelnen zu sichern, sondern auch eine durch die Abkommen einzelner Bürger zusammengehaltene Sphäre innerhalb des Staates zu umgrenzen und aufrechtzuerhalten. Die Vorstellung des Primats der Zivil-Gesellschaft im Verhältnis zum Staat ist seit Locke ein liberaler Kerngedanke – vielleicht der einzige, der die mannigfaltigen Erscheinungen des Liberalismus auf einen gemeinsamen Nenner bringen kann. Was bei Tocqueville Schiffbruch leidet, ist der Glaube an die Möglichkeit einer solchen (relativen) Unabhängigkeit in einer modernen Gesellschaft. Als Tocqueville 1856 auf die Französische Revolution zurückblickt, sieht er ihr eigentliches Wesen in einem ökonomischen Denken ausgedrückt, das »eigentlich […] keine Privatrechte […], sondern nur Gemeinnützigkeit« anerkennt. 31 Er kann sich deshalb der Einsicht nicht verweigern, dass die damals durchgeführte Grenzziehung zwischen rechtlicher Gleichheit und faktischer Ungleichheit nicht ein festes politisches Fundament bilden kann. Das Recht eines jeden, über sein Eigentum zu verfügen, kann in einer Demokratie weder unbedingt noch unantastbar sein. Die Gesetzgebung zum Erbrecht, die zu Tocquevilles Zeit noch in ihren Anfängen war, lässt ihn erkennen, dass der Gesetzgeber bereit ist, weitgehende Eingriffe in das private Eigentumsrecht zu erlauben. Schon 1835 macht Tocqueville die Vorhersage, dass die staatliche Regelung des privaten Eigentumsrechts eine durchgehende Veränderung der sozialen Struktur der Gesellschaft zur Folge haben wird. Wie er zu bedenken gibt, verleiht das Erbrecht dem Gesetzgeber eine »Waffe einer fast göttlichen Gewalt über die Zukunft seiner Mitmenschen,« und er sieht in Frankreich schon den Beitrag, den die zum Teil durchgeführte Ersetzung des Prinzips der Erstgeburt durch eine gleichmäßige Erbteilung zur Abschaffung der Macht der Aristokratie geleistet hat. 32 Der Vergleich mit den Vereinigten Staaten, in 30 31 32

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op.cit., II, 4, 2, S. 314; AR, III, 3, S. 166. Tocqueville: AR, III, 3, S. 162. Tocqueville: DA, I, 1, 3, S. 55–56.

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deren Erbrecht das Prinzip der gleichmäßigen Erbteilung gänzlich durchgeführt war, lässt ihn die gesellschaftlichen Umwälzungen, die den kontinentalen Demokratien noch bevorstehen, erahnen. 33 Die Notwendigkeit der Berufung auf die Gesetze der Menschheit leuchtet jetzt ein: Sie sollen eine äußerste Grenze der Souveränität in einer Demokratie, die sich von ihrer liberalen Herkunft gelöst hat, bilden; die Menschenrechte sollen als Bollwerk dienen gegen die politische Dimension, die die bürgerlich-liberale Gesellschaft zu verschlingen droht. Tocquevilles Analysen deuten somit auf den Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhundert mit seiner weitgehenden Regelung des privaten Eigentumsrechts hin. Wir werden sehen, warum Tocqueville dennoch nicht im Stande ist, ihn auf den Begriff zu bringen.

3.

Hegel und die humanistische Bestimmung des Menschenrechts

Die Stellungnahme zur Idee eines Menschen-Rechts wird für Hegel unumgänglich im Zusammenhang mit seiner Auseinandersetzung mit der rechtsphilosophischen Tradition von Rousseau bis zu seiner Gegenwart. Der Begriff des Menschenrechts, auf den Hegel sich bezieht, ist daher nicht in erster Linie der eines politischen Liberalismus, wie wir ihm bei Constant und Tocqueville begegnen, sondern der einer philosophischen Anthropologie, die in der Rechtsfähigkeit die Subjektivität des Menschen verortet und demnach das Recht als die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens herausstellt. Diese Verknüpfung von Recht und Mensch erhielt ihre maßgebliche Formulierung bei Rousseau im Gesellschaftsvertrag: »Auf seine Freiheit verzichten, heißt auf seine Menschheit, die Menschenrechte, ja selbst auf seine Pflichten verzichten […]. Eine solche Entsagung ist mit der Natur des Menschen unvereinbar, und man entzieht, wenn man seinem Willen alle Freiheit nimmt, seinen Handlungen allen sittlichen Wert.« 34 Wie Hegel bemerkt, erscheint das Recht (als die Selbstbestimmung des freien Willens) damit als das, was Menschen zu Hegel befürwortet die teilweise Einführung eines Gleichheitsprinzips in das Erbrecht, weil nur dieses mit der Anerkennung der Gültigkeit des Rechts vereinbar ist, siehe Hegel: GPR, § 180, S. 161–164. Hegel lässt jedoch der Willkür, die mit des Testators Vorlieben notwendigerweise verbunden ist, einen gewissen Spielraum, der jedoch notwendigerweise beschränkt ist, »um das Grundverhältnis nicht zu verletzen«. 34 Jean-Jaques Rousseau: Der Gesellschaftsvertrag. Frankfurt am Main 2005, S. 34. 33

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Menschen macht. Hegels Einwand gegen diese Bestimmung des Rechts ist, dass sie eine nur formale ist, die es geradezu unmöglich macht, zu erklären, wie das Recht sich als faktisches System entfaltet. Diese Unmöglichkeit kommt erst richtig zum Vorschein in der kantischen Rechtsphilosophie, in der Hegel die eigentliche Entfaltung von Rousseaus Bestimmung des Rechts erblickt. 35 In der Metaphysik der Sitten wird die Freiheit dementsprechend von Kant als das einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende (weil angeborene) Recht bestimmt. 36 Aber diese Freiheit wird stets als Freiheit von den natürlichen und historischen Bedingungen des Einzelnen verstanden und das Recht demnach nur am Menschen im allgemeinen festgemacht. Recht ist notwendigerweise Recht des Menschen, Menschenrecht. Es ist diese formale Bestimmung des Rechts, gegen die Hegel sich in den Grundlinien wendet, indem er zeigt, wie das Recht erst innerhalb einer konkreten politischen Totalität entsteht. Dies kommt einer Umkehrung der humanistischen Bestimmung des Rechts gleich: Das Politische wird nicht länger vom Recht her gedacht, und die Rechtssubjektivität erscheint somit nicht länger als die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens, sondern als eine politische und soziale Konstruktion: Im Rechte ist der Gegenstand die Person, im moralischen Standpunkt das Subjekt, in der Familie das Familienglied, in der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt der Bürger (als bourgeois) – hier auf dem Standpunkte der Bedürfnisse ist es das Konkretum der Vorstellung, das man Mensch nennt; es ist also erst hier und eigentlich nur hier vom Menschen in diesem Sinne die Rede. 37

Hegels Gedanke ist der, dass die Vorstellung des Menschen erst in der ökonomischen Sphäre zu seiner konkreten Gestalt gelangt. Nur in dem Maße, in dem der Einzelne als ökonomischer Akteur sich auf dem Markt betätigt, in der Produktion von Bedürfnissen und Mitteln und in der darauf folgenden Befriedigung und Ausbildung der konHegel: GPR, § 29, S. 45; Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. In: Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel (Hrsg.): op.cit., Band XX, S. 331, 365; Hegel: VPW, IV, S. 921–922. Siehe hierzu Jacques D’Hondt: Le veil Hegel et la critique des idées abstraites de Rousseau. In: Hans-Heinrich Fulda/RolfPeter Horstmann (Hrsg.): Rousseau, die Revolution und der junge Hegel. Stuttgart 1991, S. 78–79. 36 Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten. In: Kant’s Gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften und später v. d. Deutschen Akademie d. W. Berlin 1900 ff., AA, VI, S. 237. 37 Hegel: GPR, § 190, Anm., S. 171. 35

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kreten (und als natürlich erlebten) Bedürfnisse können wir von ihm als einem Menschen im eigentlichen Sinne des Wortes sprechen. 38 Hegel, der sein Leben lang mit großem Interesse die Schriften von Constant las, übernimmt in gewisser Weise seine Bestimmung (und die der liberalen politischen Ökonomie) von der Freiheit des Menschen als der uneingeschränkten Freiheit, die eigenen ökonomischen Interessen zu verfolgen, ohne sich um das Gemeinwohl zu kümmern. Diese Freiheit wird jedoch von Hegel in entscheidender Weise eingeschränkt: Die bürgerliche Gesellschaft macht nicht das Ganze des Staates aus, und der Zweck des Staates erschöpft sich nicht in der Sicherung der persönlichen Sicherheit und des persönlichen Eigentums. 39 Der Staat verkörpert eine höhere Idee. Diese Rechtsgüter haben nur innerhalb des Staates ihren Bestand, und erst mit dem Aufkommen des modernen Staates ist nach Hegel die Verwirklichung der Freiheit gelungen. Weder im antiken Stadtstaat der Griechen, wo die unendliche Subjektivität des Einzelnen nicht anerkannt war und alle deshalb nicht frei waren, noch in der christlichen Religion, in der die Freiheit der Seele mit der Sklaverei des Körpers vollends vereinbar ist, ist die Freiheit verwirklicht worden. Nur in dem modernen Staat kann der Einzelne eigentlich frei sein und seine Bestimmung als Mensch entfalten. Die Menschlichkeit des Menschen wird erst durch seinen Status als Bürger möglich; der Einzelne ist Bürger eines Staates, ehe er sein Recht als Mensch geltend machen kann. Das heißt, dass die Menschenrechte an das politische System, nicht an den einzelnen Menschen gebunden sind. 40 Sie sind politische Werte, loc.cit. op.cit., §§ 258, Anm., 270, Anm., 324, Anm., S. 208, 228, 280. 40 Dies ist ein Beitrag zur Erklärung, warum die Grundlinien, obwohl einige ihrer Artikel die klassischen Freiheitsrechte schützen, keinen Katalog der Grundrechte enthalten, was sonst gewöhnliche Verfassungspraxis zu Hegels Zeiten war. Gertrude LübbeWolff erklärt diese Auslassung damit, dass Hegel in den Grundrechten eine Reminiszenz an feudale Zustände sah, in denen verschiedene Gruppen Rechte und Privilegien besitzen, die gegen den Staat gerichtet waren; siehe dies.: Über das Fehlen von Grundrechten in Hegels Rechtsphilosophie, S. 425–426. Diese Auslegung scheint jedoch nicht vereinbar zu sein mit der Huldigung, die Hegel König Friedrich II. in der Ständeschrift entgegenbringt, weil er in seinem Verfassungsentwurf »ausdrücklich« (kursiv im Original) seinen Untertanen eine Reihe von Grundrechten zugesichert hat; siehe Hegel: Verhandlungen, S. 492. Hegels Einwand gegen die Grundrechtskataloge, die in früheren Verfassungen enthalten waren, ist der, dass diese an »partikuläre und äußerliche Umstände«, anstatt generelle Prinzipien geknüpft sind. Dies scheint darauf hinzudeuten, dass seine Abneigung nicht den Grundrechten als solchen gilt, sondern der Bestrebung, sie in einem Katalog zu verfestigen. Diese Katalogisierung, die notwendigerweise etwas 38 39

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deren Verwirklichung der Staat fördern muss, 41 nicht weil er dazu verpflichtet ist, sondern weil er sich damit erst recht als Staat bewährt. 42 In seiner Ständeschrift bezeichnet Hegel somit die Menschenrechte als »[bleibende] Regulatoren, auf welche sich eine Revision sowie eine Erweiterung des bereits Bestehenden gründen muß.« 43 Diese Umformulierung der Idee eines Menschenrechts kann nach Belieben als ein Verrat an ihr oder als ihre eigentliche Verwirklichung verstanden werden: Auf der einen Seite wird den Menschenrechten ihr verbindlicher (und somit im engeren Sinne rechtlicher) Charakter genommen. Auf der anderen Seite nimmt der Staat es auf sich, die politische Praxis gemäß der Menschenrechte zu gestalten. In diesem Zusammenhang ist dieses zweite Moment entscheidend: Es zeigt an, dass der Staat künftig eine aktive Rolle spielen wird in der Förderung der Menschenrechte. Hegel geht somit über das liberale Denken hinaus, das – wie wir bei Tocqueville gesehen haben – an der Grenze der bürgerlich-liberalen Gesellschaft stehengeblieben ist und diese durch die Errichtung von Menschenrechten gegen eine Politisierung abzusichern versucht hat. Der Staat, wie er in Hegels Denken verfasst ist, ist auch in der Zivil-Gesellschaft bei sich. Das bedeutet, dass die Kluft zwischen rechtlicher Gleichheit und faktischer Ungleichheit, die sich im Übergang zur Demokratie auftut, nicht länger jenseits des Bereiches des Staates liegt. Für die liberale politische Ökonomie ist diese Kluft kein Problem. Die faktische soziale Ungleichheit ist zwar ein Übel, jedoch ein notwendiges, weil es einem noch größeren Gut entspringt, nämlich dass die Individuen frei sind und somit auch frei, ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Für Hegel ist die faktische Ungleichheit dagegen nicht nur ein Übel, das man beseitigen muss. Sie ist ein Problem für die Gültigkeit des Rechts. In den Grundlinien warnt er, dass Individuen durch die Verarmung mit Beliebiges hat, stellt, absichtlich oder nicht, einen Versuch dar, dem Staat ein rechtliches Joch aufzuerlegen und seinen politischen Spielraum einzuengen. 41 Hegel: GPR, §§ 141, 257, S. 139–140, 207–208. 42 Bernard Bourgeois: La philosophie et les droits de l’homme. Paris 1990, S. 76. Joachim Ritter scheint mir die Bedeutung der Menschenrechte für Hegel demnach zu hoch anzusetzen, wenn er behauptet, dass »das Recht – jetzt prinzipiell als Menschenrecht« sich nicht einschränken lässt; siehe ders.: Hegel und die französische Revolution. Opladen 1967, S. 27. Diese Auslegung scheint zudem nicht mit § 324 vereinbar zu sein, in dem Hegel zu verstehen gibt, dass das Recht und die Interessen des Einzelnen ein »verschwindendes Moment« sind, zu dessen »Aufopferung« der Einzelne verpflichtet ist, um die Unabhängigkeit und Souveränität des Staates zu erhalten. 43 Hegel: Verhandlungen, S. 492.

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den Bedürfnissen der modernen Welt belastet werden, ohne dass sie die Vorteile der Mitgliedschaft des Staates genießen, unter anderem Zugang zur Rechtspflege. 44 Dieses Problem stellt sich mit besonderer Dringlichkeit bei der Frage des Notrechts des Einzelnen, also das Recht, das Eigentumsrecht zu verletzen, um das Leben zu erhalten. In den Jahren nach der Französischen Revolution erhoben plebejische Kreise Anspruch auf ein sogenanntes Recht auf Leben, und Forderungen nach sozialen Maßnahmen zur Linderung der allgemeinen Not wurden immer wieder erhoben. Was bereits hier zur Diskussion steht, ist die Unantastbarkeit des Eigentumsrechts und die Möglichkeit seiner Regelung durch den Staat. Die französischen Liberalisten haben sich geweigert, ein solches Recht anzuerkennen. 45 Tocqueville war keine Ausnahme. Als Politiker kämpfte er gegen die Einführung eines eigentlichen Rechts auf Unterstützung (charité légale) und plädierte stattdessen für private Wohltätigkeit in der Annahme, dass sie ein geeignetes Mittel sei, um die Nutznießer an die Gesellschaft zu binden. 46 Hegel sah die Sache anders: Wo der Einzelne – in der Kollision mit dem rechtlichen Eigentum eines anderen – der äußersten Gefahr ausgesetzt ist, hat er »ein Notrecht (nicht als Billigkeit, sondern als Recht) anzusprechen, indem auf der einen Seite die unendliche Verletzung des Daseins und darin die totale Rechtlosigkeit, auf der anderen Seite nur die Verletzung eines einzelnen beschränkten Daseins der Freiheit steht […].« 47 Die Verfassung, die Hegel uns in den Grundlinien vorlegt, enthält zudem eine Reihe sozialer Maßnahmen, die darauf zielen, der allgemeinen Not abzuhelfen, zum Beispiel § 241 (staatliche Versorgung von Notleidenden), § 252 (Versorgung durch die Korporation) und § 217, der eine durch das Notrecht gewährte Einschränkung des Vollstreckungsrechts des Gläubigers enthält. Diese Regelungen sind aber nicht Ausdruck rechtlicher Ansprüche, sondern Weisen, durch die der Staat die Menschenrechte in politische Praxis umsetzt.

Hegel: GPR, §§ 241, 244, S. 199, 201. Anthony Arblaster: The Rise and Decline of Western Imperialism. Oxford 1984, S. 210–211. 46 Drolet: Tocqueville, Democracy and Social Reform, S. 109–110, 141–147. 47 Hegel: GPR, § 127, S. 114–115. 44 45

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Wohlfahrtsstaat und Zivil-Gesellschaft

Wir haben gesehen, wie in Hegels Rechtsphilosophie die klassische liberale Problematik in eine andere umgewandelt worden ist: Nicht das Verhältnis von Souverän und Subjekt, sondern die politische Regelung der Zivil-Gesellschaft wird jetzt das menschenrechtliche Thema par excellence. Dementsprechend verändert sich die Aufgabe der Grundlegung der Demokratie. Es wird nicht länger gefragt, wie die Freiheit des Einzelnen in einer modernen Demokratie geschützt werden kann, sondern wie es möglich ist, die Bedingungen eines Zusammenlebens zu schaffen, in dem der Einzelne sich als Mensch entfalten kann. Wir haben schon gesehen, dass Hegel die liberale Abgrenzung einer autonomen Sphäre innerhalb des Staates aufgehoben hat. Dennoch kommt es bei ihm zu einer Freisetzung der Zivil-Gesellschaft, die das modernste aber auch das ambivalenteste Moment seines politischen Denkens ausmacht. Dieser Freisetzung der zivilen Sphäre eignet nämlich notwendigerweise ein strategischer Charakter. Sie schafft einerseits den Raum für eine Entfaltung der »persönlichen Besonderheit« des Einzelnen, aber zielt andererseits auf eine Affirmation der Souveränität des Staates: Hegel befürwortet zum Beispiel die Verleihung von bürgerlichen Rechten an Juden, weil dies – und nicht ein Pochen auf das bessere formelle Recht des Staates – die beste Methode ist, ihre Zurückführung zur substantiellen Einheit des Staates und die damit verbundene »Ausgleichung der Denkungsart und Gesinnung« zu erlangen. 48 Die Freisetzung der Zivil-Gesellschaft, die durch die Korporationen – Zünfte oder, moderner gesprochen, Interessenorganisationen 49 – erfolgt, geht demnach einher mit deren Politisierung. Die von Hegel gedachte soziale Verwirklichung der Menschenrechte zeigt sich als ein Mittel, den normativen Vorrang des Staates zu unterbauen, und lässt sich so ganz verschieden verstehen, je nachdem was man hervorhebt: die beabsichtigte Stärkung der staatlichen Einheit 50 oder die faktische Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft. 51 Hegel: GPR, § 270, S. 225–226. Auch eine religiöse Gemeinde kann nach den Umständen eine Korporation sein, siehe Hegel: GPR, § 270, S. 254. 50 Siehe in dieser Richtung Jean-Claude Pinson: Hegel. Le droit et le liberalisme. Paris 1989, S. 215; Ludwig Siep: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Freiburg 1979, S. 291–292. 51 Siehe in dieser Richtung Bernard Bourgeois: La raison moderne et le droit politique. Paris 2000, S. 173; Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 42–44, 79. 48 49

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Demokratie und Menschenrechte

Mit den Korporationen scheint Hegel aber einen Schlüssel zum »Knoten, an dem die Geschichte steht und den sie in künftigen Zeiten zu lösen hat« gefunden zu haben. In den Korporationen wird die traditionelle Gesellschaftsordnung in gewisser Weise wiederhergestellt, aber auf einer Basis, die mit dem Grundprinzip eines modernen Staates – der Freiheit – vereinbar ist. Die Korporation hat »unter der Aufsicht der öffentlichen Macht« das Recht über die Aufnahme von neuen Mitgliedern zu entscheiden, innere Angelegenheiten zu regeln, die Interessen der Mitglieder zu handhaben, etc. Die Korporation gleicht mit anderen Worten einem Staat im Staate. Dass sie dennoch nicht nur geduldet wird, sondern dass Hegel sogar bereit ist, ihr »Privilegien« – ein Wort, das mit der aristokratischen Gesellschaft unlösbar verknüpft ist und eigentlich mit ihr untergegangen ist – zuzugestehen, erklärt sich dadurch, dass die Korporation zwischen der Allgemeinheit des Staates und dem Grundprinzip der liberalen Ökonomie, dem Eigeninteresse, vermittelt, indem sie eine Verallgemeinerung der Eigeninteressen bewirkt: »Indem solches in sich Gleiche der Besonderheit als Gemeinsames in der Gemeinschaft zur Existenz kommt, fasst und betätigt der auf sein Besonderes gerichtete, selbstzüchtige Zweck zugleich sich als allgemeinen.« 52 Die Korporation schafft mit anderen Worten Bedingungen für ein menschliches Zusammenleben, die dem freien Willen des Einzelnen entspringen und dennoch von beständigem Charakter sind. Somit geschieht in ihr die Grundlegung einer festen sittlichen Organisation auf der Basis der Freiheit. Und obwohl Hegel kein Demokrat war, bekommen wir vielleicht in dieser freien-beständigen Verbindung, die er aufgezeigt hat, – eine Verbindung, die sich notwendigerweise innerhalb des Staates ereignet – eine Ahnung dessen, was eine reine Demokratie wäre. Diese Wiederherstellung der Sittlichkeit, die in der bürgerlichen Gesellschaft in ihren Extremen fast verloren gegangen war, geschieht durch die Anerkennung des Einzelnen als Person. Diese Funktion ist vielleicht noch wichtiger als die soziale Fürsorgefunktion, die von der Korporation wahrgenommen wird, indem sie dafür sorgt, dass die Familien etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf haben. Kraft seiner Mitgliedschaft hat der Einzelne die Möglichkeit, sein Bedürfnis nach persönlicher Anerkennung zu befriedigen: »In der Korporation hat die Familie nicht nur ihren festen Boden als die durch Befähigung bedingte Sicherung der Subsistenz, ein festes Vermögen, 52

op.cit., § 251, S. 204. A

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sondern beides ist auch anerkannt, so dass das Mitglied einer Korporation seine Tüchtigkeit und sein ordentliches Aus- und Fortkommen, dass er etwas ist, durch keine weitere äußere Bezeugungen darzulegen nötig hat.« 53 Die Mitgliedschaft erübrigt, wie Hegel sagt, jede weitere äußere Bezeugung. Das Mitglied ist schon durch sein tägliches Tun mit den Kriterien bekannt, auf Grund derer die Entscheidung über seinen Wert als Bürger getroffen wird. Und diese Anerkennung von seinesgleichen befähigt ihn, sich in der Gesellschaft als Person zu behaupten. Anders stehen die Dinge für denjenigen, der nicht Mitglied einer Korporation ist: Er muss die Anerkennung seiner Tüchtigkeit durch äußere Bezeugungen erwirken, weil es ihm an einer angemessenen, allgemeineren Lebensweise fehlt, nämlich jenem Mechanismus zur sozialen Befriedigung des Bedürfnisses nach Anerkennung. Und wie Hegel betont, sind diese äußeren Bezeugungen »unbegrenzt«, weil es außer der vom Markt beherrschten und gedachten Wertsetzung, das heißt der des Geldes – Hegel spricht deswegen auch von der Verschwendungssucht der gewerbetreibenden Klassen – keine gesellschaftlichen Kriterien und keine Instanz gibt, von deren Seite er diese Anerkennung erlangen könnte. In diesen kursorischen Bemerkungen Hegels finden wir eine formale Anzeige der Situation des vereinzelten Individuums in der modernen Gesellschaft, wie Tocqueville sie in seinen Analysen entfaltet hat. Kraft seiner abstrakten Bestimmung als Mensch ist das Individuum Mitglied einer imaginären Gemeinschaft, aber dennoch ohne Beziehung zu irgendeinem anderen Menschen und ohne Möglichkeit, mit anderen in Beziehung zu treten. Es ist gesichtslos und indifferent. Dieses Bild der kommenden Demokratie lässt Tocqueville nicht ruhen, insbesondere im zweiten Teil von Über die Demokratie in Amerika: »In dem Grade wie in einem Volke die gesellschaftliche Einebnung fortschreitet, erscheinen die Einzelnen kleiner und die Gesellschaft größer, oder vielmehr verschwindet jeder Bürger, allen andern gleichgeworden, in der Menge […]. Das gibt natürlich den Menschen der demokratischen Zeitalter eine sehr hohe Meinung von den Vorrechten der Gesellschaft und einen sehr bescheidenen Begriff von den Rechten des Einzelnen.« 54 Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Tocqueville die Bedeutung von vermittelnden gesellschaftlichen Instanzen in Ländern mit einer demokratischen Ver53 54

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op.cit., § 253, S. 205. Tocqueville: DA, II, 4, 2, S. 314.

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Demokratie und Menschenrechte

fassung so sehr hervorhebt: »In keinem Lande sind die Gruppenbildungen nötiger als da, wo die Gesellschaftsordnung demokratisch ist, wenn man die Tyrannei der Parteien oder die Willkürsherrschaft des Fürsten verhindern will«. 55 Auch hier treffen sich die Analysen von Hegel und Tocqueville: Die Möglichkeit des Politischen in der Moderne ist vom Sozialen abhängig. 56 Und wie wir gesehen haben, war es gerade durch eine strategische Freisetzung und Ermächtigung der Zivil-Gesellschaft, dass Hegel die staatliche Macht auf eine sichere Basis gestellt hat. Tocqueville gelingt ein solches bedingtes Herüberretten der traditionellen Gesellschaftsordnung in die Moderne nicht. Obwohl er von der Notwendigkeit einer solchen sozialen Vermittlung der politischen Macht fest überzeugt ist, findet er nicht die Begriffe, die politische Entäußerung des Staates in die Zivil-Gesellschaft zu denken, weil die sozialen Voraussetzungen einer solchen Entäußerung in seinen Augen nur der gesellschaftlichen Auflösung, gegen die er sich wehrt, Vorschub leistet. In dem Gedanken, dass der Mensch erst in der ökonomischen Sphäre zu seiner konkreten Gestalt gelangt, sieht er einen simplen Materialismus, der die Bürger veranlasst, sich ihren Eigeninteressen zuzuwenden und das politische Leben zu vernachlässigen, 57 und in der politischen Inangriffnahme der bürgerlich-liberalen Gesellschaft sieht er nur eine Zentralisierung, die dem Einzelnen die Möglichkeit nimmt, am politischen Leben teilzunehmen. Er kann deshalb nicht wie Hegel sein Heil in der Modernität der modernen Welt finden.

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Menschenrecht: Ein demokratisches Projekt?

Wir haben gesehen, dass die Französische Revolution die Gleichheit zum Prinzip des modernen Staates macht. Armut und soziale Not werden jetzt als politische Probleme verstanden; sie drohen die formelle Gleichheit als leere Hülse bloßzustellen. Das demokratische Problem par excellence ist demnach die Grenzziehung zwischen der op.cit., I, 2, 4, S. 220. Siehe in dieser Richtung Jean-François Kervégan: Tocqueville et Hegel: Un dialogue silencieux sur la modernité politique. In: ders./Heinz Mohnhaupt (Hrsg.): Wechselseitige Beeinflussungen und Rezeptionen von Recht und Philosophie in Deutschland und Frankreich. Frankfurt am Main 2001, S. 138–141. 57 Siehe hierzu François Bourricaud: Les convictions de Tocqueville. In: The Tocqueville Review Vol. VII, 1985–1986, S. 110–111. 55 56

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rechtlichen Gleichheit und der faktischen Ungleichheit, eine Grenzziehung, in der die Grundlegung der Demokratie sich fortsetzt. Weil die Ungleichheit jetzt zwischen Einzelnen, nicht zwischen Ständen oder Klassen, ihren Ort hat, wird die Idee des Menschen ein Bezugspunkt sowohl für Liberale als auch für Anti-Liberale in dem Bestreben, die jeweilige Grenzziehung zu sichern beziehungsweise zu verschieben. Es ist diese Entgegensetzung von Liberalismus und Antiliberalismus, die sich im Begriff des Menschenrechts sedimentiert hat und für die er sich als sehr aufnahmefähig erwiesen hat. Es ist wahrscheinlich diese Aufnahmefähigkeit – die als demokratisch zu bezeichnen, geradezu auf der Hand liegt –, der die Menschenrechte ihren erstaunlichen Erfolg verdanken. Es gibt wohl kaum einen juristischen Begriff, der in gleichem Maße unser gemeinsames politisches Bewusstseins geprägt hat. Die Frage muss jedoch gestattet sein, inwiefern es heute dieses demokratische Bedürfnis tatsächlich gibt. Die Erhebung der Menschenrechte zur politischen Praxis scheint unleugbar auch ihre Aufhebung als politisches Element mit sich gebracht zu haben. Als etwas ganz Neuartiges hat die Debatte über die Menschenrechte in Europa heute einen eher technischen Charakter. Die erörterten Fragen und die Entscheidungen betreffen zwar politische Interessen, aber sind wahrscheinlich von begrenzter politischer Bedeutung und – wichtiger noch – um die prinzipielle Geltung der Menschenrechte im Ganzen wird heute kaum mehr gestritten, jedenfalls nicht innerhalb der europäischen Demokratien, wo die Vorstellung der Menschenrechte groß geworden ist. Dies entspricht einer Konsolidierung der Menschenrechte, aber auch deren Normalisierung. Im europäischen Zusammenhang ist das Menschenrecht heute eine Rechtsdisziplin wie andere Rechtsdisziplinen geworden und verflechtet sich demgemäß immer stärker mit anderen Gebieten des Rechts. Etwas zugespitzt könnte man sagen, dass sich der rechtliche Begriff des Menschen in Auflösung befindet. Was heute unter dem Namen Menschenrecht geschützt wird, ist nicht nur der Mensch, sondern sind Rechtspositionen und rechtliche Werte, deren Verbindung mit dem Menschen als solchem nicht auf der Hand liegen. Die Menschenrechte sind zunehmend von einer systeminternen Logik beherrscht; sie sind zu einer Technik geworden. Das heißt, dass sie von den Positionen, die die politische Topographie strukturieren und auch von jeder prinzipiellen Fragestellung zur Zukunft der modernen Demokratie entbunden worden sind. Es sollte uns nicht überraschen, dass diese Entwicklung einhergeht mit einer immer weiter verbreite82

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Demokratie und Menschenrechte

ten Ausbreitung der Menschenrechte im politischen Diskurs. Die Etablierung von einem außergewöhnlich erfolgreichen regionalen judiziellen System zur Sicherung der Menschenrechte entspringt zweifelsohne dieser Depolitisierung der Menschenrechte und leistet ihr zugleich Vorschub. Wir müssen uns deshalb die Frage stellen, ob es an der Zeit ist, uns nach anderen Begriffen als dem des Menschen umzusehen, um die Demokratie zu denken und zu begründen. Oder wir sollten uns vielleicht eher darüber freuen, dass wir solche Grundlegungen nicht mehr nötig haben. So können wir uns vielleicht frei machen für die die Menschheit bedrohenden Herausforderungen, die uns bevorstehen, und die so bedrohend sind, gerade weil sie sich weder innerhalb einer demokratischen politischen Organisation stellen noch als rechtliche Fragen begreifen lassen.

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Der Begriff des Menschenrechtes bei Hannah Arendt Thomas Dürr (Freiburg)

Die Engländer sind in dieser Hinsicht merkwürdig engstirnig; es fällt ihnen einfach gar nicht ein, Eingeborene als Menschen zu betrachten … Tania Blixen, Briefe aus Afrika

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Überflüssigkeit und das Recht auf Rechte

Hannah Arendts Versuch,1 die für ihre Begriffe neue Staatsform totaler Herrschaft zu verstehen, bemüht sich darum, die Ursprünge totaler Herrschaft »in dem Niedergang und Zerfall des Nationalstaates« (EU, 14) aufzusuchen und die Elemente totaler Herrschaft zuerst in ihrer Entstehungsgeschichte im Zuge des Untergangs des Nationalstaates aufzuweisen und dann ihren Formwandel in der totalen Herrschaft zu beschreiben. Was vorliegt, ist daher weniger eine Theorie des Totalitarismus, sondern die Analyse einer historischen Konstellation und ihrer Entstehung, die als ganze (nach Arendt notwendige, aber nicht hinreichende) Bedingung des Ereignisses totaler Herrschaft war. Die beiden ersten Teile des Buches dienen der Aufgabe, anhand der geschichtlichen Phänomene des Antisemitismus Ich verwende folgende Ausgaben der Werke Arendts, auf die im Text mit den angegeben Siglen verwiesen wird: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München 1986 (= EU); dies.: Vita activa oder vom tätigen Leben. München 1996 (= VA); dies.: Die menschliche Natur steht auf dem Spiel: Hannah Arendts »Vorwort« und »Abschließende Bemerkungen« zur ersten Auflage von The Origins of Totalitarianism (1951). In: Über den Totalitarismus. Texte Hannah Arendts aus den Jahren 1951 und 1953. Hrsg. v. Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann. Dresden 1998, S. 11–31 (= MN); dies.: Vor dem Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher. Beiträge für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung »Aufbau« 1941–1945. Hrsg. v. Marie Luise Knott. München 2000 (= A).

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und des Imperialismus diejenigen Momente herauszuarbeiten, die als Ursprünge totaler Herrschaft gelten können. Arendt strebt weder eine ausgefeilte Theorie noch eine erschöpfende geschichtswissenschaftliche 2 Darstellung der genannten Phänomene noch eine – auch nicht vergleichende 3 – Totalitarismustheorie an. Es geht um ein tieferes Verständnis für die Struktur der modernen Gesellschaft und die Gefahren für das gemeinsame Leben und das politische Handeln der Menschen, die sich aus diesen strukturellen Merkmalen ergeben. Das Buch ist eine »Besinnung« (VA, 13) auf die ambivalenten Strukturen am sachlichen wie historischen Grund der modernen Gesellschaft, die zwar »im Bereich des Denkens und Nachdenkens« (VA, 13) verbleibt, jedoch den Bezug auf das tatsächliche, freiheitlich-politische Handeln von Menschen nie aufgibt. 4 In dieser Herangehensweise an die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft besteht auch nicht jener Unterschied zwischen der amerikanischen Originalausgabe von 1951 und der deutschen Erstausgabe von 1955, demzufolge sich Arendt 1955 die »Genese und Struktur einer neuen Staatsform« im Blick auf Nationalsozialismus und Bolschewismus vorgenommen habe, während sie 1951 trefWeil es Arendt um die Kristallisation der totalen Herrschaftselemente geht, trägt die von Historikern gern wiederholte, aber darum nicht weniger unpassende Kritik wenig aus, Arendt arbeite nicht historisch korrekt. Wer ihr etwa vorhält, dass ihre Beispiele aus dem britischen und französischen Imperialismus stammten, der britische (im Unterschied zum deutschen) aber keine totale Herrschaft nach sich gezogen habe und von einem Staat »mit relativ demokratischer Verfassung« ausgegangen sei, misst ihrem systematischen Anliegen nur wenig Bedeutung bei. Es geht fehl, Arendt eine »nicht schlüssige […] Ableitung des Totalitarismus aus dem Imperialismus« vorzuwerfen. Eine solch naive Deduktion liegt weder vor, noch hat Arendt sie je beabsichtigt, siehe Benedikt Stuchtey: Herrschen und Verwalten. Hannah Arendt über den Imperialismus. In: Saeculum 54 (2003), S. 301–328, hier S. 314 und 315 f., unter anderem verweisend auf Golo Mann: Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland. Frankfurt am Main 1986, S. 320 f. 3 Die wenigen Hinweise auf die stalinistische Form totaler Herrschaft rechtfertigen kaum das Etikett »vergleichende Theorie«. Kurze, eher tastende und bezeichnenderweise nicht weiter verfolgte Versuche, eine Vergleichsperspektive zu eröffnen, finden sich erst im Vorwort zum dritten Teil aus dem Jahr 1966. 4 Arendts Beschreibung ihres Vorgehens in VA ist eine Charakterisierung ihres Denkstils im Allgemeinen. Besinnung fragt bei Arendt nach den Bedingungen des (politischen) Handelns und seinen vergangenen und gegenwärtigen Möglichkeiten und Gefährdungen. Die Analyse der modernen Gesellschaft im Blick auf die totale Herrschaftsform macht in dieser Hinsicht keine Ausnahme, ist doch deren entscheidendes Kennzeichen und deren eigentliches Verbrechen die Zerstörung der Spontaneität (siehe EU, 696), das heißt der Fähigkeit zu handeln. 2

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fender von »der Analyse der Genese des nazistischen Terrors aus einem gesellschaftsgeschichtlich einzigartigen Amalgam von Antisemitismus, Rassismus und Imperialismus« gesprochen habe. Das deutsche Vorwort von 1955 verdecke deswegen das Schlüsselmotiv des Buches, nämlich die noch 1951 angestrebte Analyse, unter der Ankündigung eines »totalitarismuskritischen Vergleich[es] von Nazismus und Stalinismus«. 5 Von einem solchen Vergleich ist aber im Vorwort zur deutschen Erstausgabe, geschrieben im Juni 1955 (vgl. EU, 13–14), genau genommen ebenso wenig die Rede wie im Vorwort zum amerikanischen Original, geschrieben im Sommer 1950 (MN, 11–13). 6 Die Perspektive eines Vergleiches macht Arendt erst im Vorwort zum dritten Teil des Buches über die totale Herrschaft auf, geschrieben anlässlich der Einzelveröffentlichung der drei Teile im Juni 1966 (EU, 473–494), – und auch hier nur in Ansätzen und mit Skepsis in Bezug auf die Durchführbarkeit eines solchen Unternehmens. Im deutschen Vorwort von 1955 spricht sie im erläuterten Sinn von den Elementen und Ursprüngen im Unterschied zu einer Geschichte des Antisemitismus oder des Imperialismus (EU, 14), ohne dadurch in einen Widerspruch zum amerikanischen Vorwort von 1951 zu geraten, in dem sie vier Phänomene »ins Auge […] fassen und […] verstehen« (MN, 13) will: nicht nur den Antisemitismus als Katalysator für Nationalsozialismus, Weltkrieg und Vernichtungslager, sondern zweitens auch die Verwandlung des Politischen nach den wirtschaftlichen Maßgaben des Imperialismus, drittens den Widerspruch zwischen zynischem Realismus und Wirklichkeitsverachtung der totalen Herrschaft und viertens die irritierende Unvereinbarkeit zwischen der tatsächlichen Macht des modernen Menschen (die größer ist als je zuvor, ja so groß, daß er an einen Punkt gelangen könnte, die Existenz seines eigenen Universums überhaupt in Frage zu stellen) und der Unfähigkeit von modernen Menschen, in einer Welt, die sie mit ihrer eigenen Kraft errichtet haben, zu leben und deren Sinn zu verstehen. (MN, 13) Siehe Waltraud Meints: Globalisierung und Menschenrechte. Zur Aktualität der Krisendiagnose von Hannah Arendt. In: Mittelweg 36, Heft 5/2003, S. 53–68, hier S. 53 f. 6 An der fraglichen Stelle spricht Arendt von der totalen Herrschaft als neuer Staatsform, wie sie im Dritten Reich und im Bolschewismus kennen zu lernen gewesen sei (EU, 13), und von der Frage, wie sich dazu deren Ursprünge verhalten, die Gegenstand der historischen ersten beiden Teile des Werkes seien (siehe EU, 14). Ein Vergleich wird nicht angekündigt und im dritten Teil auch nicht durchgeführt, wie zudem ein Blick auf die Arendt verfügbaren Quellen nahelegt. 5

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Dieser vierfache Anspruch, der jenseits bloß akademischen Interesses »die Last, die unser Jahrhundert uns auferlegt hat, untersuchen und bewußt tragen« (MN, 12) will, unterscheidet sich von den Ausführungen im deutschen Vorwort von 1955 also dadurch, dass das analytische Interesse an den drei genannten historischen Phänomenen ausdrücklich zusammengebunden wird durch das nicht allein wissenschaftliche, sondern existentielle Interesse an den Bedingungen des Menschseins in einer als prinzipiell prekär erfahrenen, aber darum doch nicht verworfenen modernen Gesellschaft: Der Antisemitismus (nicht lediglich der Haß auf die Juden), der Imperialismus (nicht lediglich die Eroberung), der Totalitarismus (nicht lediglich die Diktatur) […] haben gezeigt, daß die menschliche Würde eine neue Garantie braucht, die nur in einem neuen politischen Prinzip gefunden werden kann, in einem neuen Recht auf Erden, dessen Gültigkeit sich diesmal auf die ganze Menschheit zu erstrecken hat, während seine Macht eindeutig begrenzt bleiben muß, in neu definierten territorialen Einheiten verwurzelt und von ihnen kontrolliert. (MN, 14)

Ich möchte im Folgenden die umstrittene Idee eines einzigen Menschenrechtes in diesen Zusammenhang einer neuen Garantie für die menschliche Würde rücken, denn wenn es in den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft eine Bestimmung jenes gesuchten politischen Prinzips gibt, dann ist es die Idee eines Rechtes, überhaupt Rechte zu haben. Dass Arendt selbst sich bedeckt hält in Bezug auf die Möglichkeiten der Umsetzung jenes Rechtes in fassbare politische Wirklichkeit und dass dieses Recht bei Arendt mit systematischen Unstimmigkeiten belastet ist, ist bekannt, sollte aber nicht von der ausgezeichneten Stellung ablenken, die Arendt ihm im amerikanischen Vorwort von 1951 gibt und die der Sache nach in den späteren Ausgaben des Werkes beibehalten wird. Die Notwendigkeit einer neuen Garantie menschlicher Würde angesichts der vielfältigen Formen des Ausschlusses von Menschen aus den verschiedensten Formen von Gemeinschaft ist daher der »Ausgangspunkt […] des politischen Denkens« Arendts. 7 Der Gedanke des Rechtes auf Rechte ist ihre Antwort auf eine grundlegende, auch nach dem Ende der beiden totalen Herrschaftsformen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fortbestehende Gefahr der modernen Gesellschaft: Sidonia Blättler: Zwischen Universalismus und Nationalstaatskritik. Zum ambivalenten Status des Nationalstaates bei Hannah Arendt. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48 (2000), Heft 5, S. 691–706, hier S. 691.

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Die von den Leichenfabriken und Höhlen des Vergessens ausgehende Gefahr besteht darin, daß heute, wo Bevölkerung und Heimatlosigkeit überall wachsen, unaufhörliche Volksmassen überflüssig werden, wenn wir unsere Welt unter Nützlichkeitserwägungen begreifen. Politische, gesellschaftliche und ökonomische Geschehnisse sind mit den totalitären, für die Überflüssigmachung von Menschen erdachten Instrumenten überall eine stillschweigende Verschwörung eingegangen. […] Die Nazis und die Bolschewiken können sicher sein, daß ihre Vernichtungsfabriken, die die rascheste Lösung für das Problem der Überbevölkerung, der wirtschaftlich überflüssigen und sozial wurzellosen Menschenmassen darstellen, gleichermaßen eine Attraktion wie eine Warnung sind. (MN, 21–22)

Die Überflüssigmachung von Menschen hat sich keineswegs mit dem Ende des Nationalsozialismus oder der kommunistischen Diktaturen erledigt. Dass auch die Vernichtung der Überflüssigen eine reale Option geblieben ist, darf jedoch nicht von anderen Formen der Überflüssigmachung und den vielfältigen Weisen ihrer Verwaltung ablenken. Daher soll auf die Darstellung des einen Menschenrechts bei Arendt und eine kurze Diskussion seines Für und Wider die Aufmerksamkeit auf das grundlegende Charakteristikum der modernen Gesellschaft gelenkt werden, das Arendt zu der Überzeugung von der Notwendigkeit jenes Rechtes geführt hat. Dabei geraten auch dessen Grenzen in den Blick, die sich nicht nur aus menschenrechtstheoretischen Erwägungen ergeben, sondern auch aus der kritischen Betrachtung ihrer Analyse der totalitären Elemente des Imperialismus.

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Hauke Brunkhorst hat darauf hingewiesen, dass sich Arendt dem modernen Nationalstaat auf zweierlei Weise nähert. Zum einen ist er handlungstheoretisch ein Prinzip der Beruhigung und Verlässlichkeit gegenüber der Unabsehbarkeit und Dynamik des Handelns überhaupt und historisch die »Verbindung von Republikanismus und Menschenrechtsuniversalismus, der klassischen Idee der Republik mit der modernen subjektiver Rechte.« 8 Zum anderen gerät der Nationalstaat ins Zentrum ihrer Kritik der Moderne. Historisch betrachtet gehe der Nationalstaat am Gegensatz zwischen Staat und Hauke Brunkhorst: Hannah Arendt. München 1999, S. 59; vgl. S. 80. Siehe zu diesem Abschnitt insgesamt ebd., S. 84–106.

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Gesellschaft und deren alles absorbierenden Prinzips der Expansion um der Expansion willen zugrunde. Schon von Beginn an sei er ein widersprüchliches Projekt. In dieser Sicht der Dinge erscheint die wechselseitige Garantie von Volkssouveränität und Menschenrechten nicht mehr als Selbstverständlichkeit oder historische Leistung, sondern als »Fragwürdigkeit« (EU, 454). Es stehen sich also zwei Perspektiven auf den Nationalstaat bei Arendt gegenüber, von denen die zweite dominiert. Das Kernproblem ist für sie »[d]er verborgene Konflikt zwischen Staat und Nation« (EU, 371), der von Beginn an dem modernen Nationalstaat innewohne, weil bereits in der Französischen Revolution die universalistische Erklärung der Menschenrechte mit der Erklärung nationaler Souveränität zusammenfalle: »Die gleichen Grundrechte wurden einmal als das unveräußerliche Eigentum alles dessen, was Menschenantlitz trägt, erklärt, um im selben Atemzug als die spezifisch nationalen Rechte eines souveränen Volkes […] hingestellt zu werden.« (EU, 371) Die politische Folge dieses Widerspruches sei die Anerkennung und Garantie der »Menschenrechte nur als spezifische, nationale Rechte« (EU, 371). Was in diesem Vorgang untergehe, sei die alte staatliche Funktion des rechtlichen Schutzes aller seiner Einwohner. Erst der moderne Nationalstaat erkenne als Bürger nur den an, der »durch Abstammung und Geburt dem wesentlich homogen angenommenen Körper der Nation« angehöre: »Die Nation setzte sich an die Stelle des Gesetzes.« (EU, 370) Unschwer lässt sich diese Behauptung von der unausweichlichen Niederlage des Gesetzes gegen die Nation widerlegen. Es hat moderne Nationalstaaten gegeben und gibt sie noch, die ihr Staatsbürgerrecht an völkische Homogenität gebunden haben, wie es auch moderne Nationalstaaten gegeben hat und gibt, die ihre staatliche Einheitlichkeit über die Geltung derselben Rechtsordnung und nichtvölkischer Regelungen über den Erwerb der Staatszugehörigkeit hergestellt haben. Arendts Kurzschluss der Volkssouveränität (der Französischen Revolution) mit dem ethnischen Selbstbestimmungsrecht der Völker nach dem Ersten Weltkrieg ist begrifflich wie historisch irreführend. Nur der auf ethnischen Prinzipien aufbauende Nationalstaat kann in ihrem Sinne als ein Ursprung der totalen Herrschaft gelten. 9 Dass sie ihre These wenig überzeugend auf das Projekt des Siehe Hauke Brunkhorst: Sind Menschenrechte Aporien? Kritische Bemerkungen zu einer These Hannah Arendts. In: Kritische Justiz 29 (1996), S. 335–343, hier S. 338.

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modernen Nationalstaates überhaupt ausdehnt, darf jedoch nicht davon ablenken, dass sie in der unheilvollen Verbindung von Volkssouveränität und Selbstbestimmungsrecht der Völker eine strukturelle Gefahr der Moderne benennt, die sich auf die Möglichkeiten der Garantie und des Schutzes der Menschenrechte folgenschwer auswirkt und als Verhältnis von Inklusion und Exklusion jede Analyse des modernen Nationalstaates anleiten muss. Auf dem Hintergrund ihres Frontalangriffes gegen den modernen Nationalstaat erhebt Arendts Kritik gegen die naturrechtliche Konzeption der Menschenrechte wie der Menschenwürde im Grunde denselben Vorwurf: Beide Gedanken fußen auf einer weltlosen Vorstellung des Menschen. Die angeblich unveräußerbaren Menschenrechte operieren mit einem ›Menschen überhaupt‹ […], den es nirgends gab, da ja selbst die Wilden in irgendeiner Form menschlicher Gemeinschaft leben, ja, daß dieses Recht der Natur selbst förmlich zu widersprechen schien, da wir ja ›Menschen‹ nur in Form von Männern und Frauen kennen, also der Begriff des Menschen, wenn er politisch brauchbar gefaßt sein soll, die Pluralität des Menschen stets in sich einschließen muß. (EU, 454)

Pluralität muss sich also in politischer Vergemeinschaftung konkretisieren und wird für Menschen nur dann Lebenswirklichkeit, wenn sie Teil einer Gruppe von Menschen sind. Und Menschenrechte lassen sich nur dann zum Bestandteil des politischen Lebensvollzuges machen, wenn sie durch eine solche Gemeinschaft garantiert werden. Arendts Demonstrationsobjekt für diese These der Hinfälligkeit bloß abstrakter Menschenrechte sind die Flüchtlinge und Staatenlosen, die das 20. Jahrhundert – und das 21. Jahrhundert steht ihm nicht nach – in bis dahin unbekanntem Ausmaß produziert hat. An ihnen entsteht die Frage, »ob es überhaupt so etwas wie unabdingbare Menschenrechte gibt, das heißt Rechte, die unabhängig sind, von jedem besonderen politischen Status und einzig der bloßen Tatsache des Menschseins entspringen.« (EU, 457) Die modernen Flüchtlinge haben ihre Heimat und den Schutz einer Regierung verloren und leben in einem Zustand der Rechtlosigkeit. Weil sie keiner Gemeinschaft von Menschen mehr angehören, haben sie ihren »Standort in der Welt« (EU, 461) verloren, »durch den allein [ein Mensch] überhaupt Rechte haben kann und der die Bedingung dafür bildet, daß seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen von Belang sind.« (EU, 461 f.) Wenn Men90

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schen nicht mehr an den gemeinsamen Angelegenheiten beteiligt sind und sich nicht mehr in Wort und Tat in die Regelung derselben einbringen dürfen, dann zeigt sich der Verlust ihres Standortes in der Welt als je persönliche Bedeutungslosigkeit. Ihre Überzeugungen und Taten zählen nicht mehr, finden keinen Widerhall im Handeln ihrer – ehemaligen – Mitmenschen. Sie sprechen und handeln in einem luftleeren Raum und dürfen keinen Anteil an der von ihnen mit anderen Menschen gemeinsam errichteten Welt mehr nehmen. 10 Den »Verlust der Sprache« und den »Verlust der öffentlich gesicherten Gemeinschaft« fasst Arendt zusammen als »Verlust einiger der essentiellen Charaktere menschlichen Lebens überhaupt« (EU, 463). Im Vergleich mit den antiken Sklaven wird das ganze Ausmaß des Ausgestoßenseins deutlich. Anders als dem Sklaven, der in der Beziehung zwischen Ausbeuter und Ausgebeutetem seinen persönlichen, politischen und ökonomischen Platz in der Welt einnimmt, ist ihnen »das, was macht, daß ein Mensch ein Mensch ist,« (EU, 463) von der Gemeinschaft der Anderen genommen worden: die »›Menschenwürde‹«, die ein Mensch nur verlieren kann, »wenn man ihn aus der Menschheit überhaupt, und das heißt konkret aus jeglicher politischen Gemeinschaft, entfernt.« (EU, 464). Arendt bindet also die Menschenwürde an politische Gemeinschaft. Ihre Skepsis gegen eine vermeintlich angeborene und unverlierbare Menschenwürde wird auch in ihrer Gleichsetzung des modernen Flüchtlings mit dem Naturzustand deutlich. Das »bloße Auch-ein-Mensch-sein« zeitigt weder substantielle Rechtspositionen noch verwirklicht es eine wie auch immer begründete Menschenwürde, sondern ist in ihren Augen ganz im Gegenteil die – wie sich nicht nur in der totalen Herrschaft zeigen sollte – größte Gefahr dafür, dass dieser von Arendt sogenannte Rückfall bloßer Menschen in den Naturzustand, also in die Barbarei (siehe EU, 466 f.), tatsächlich zu

Arendt entwickelt in ihrer Analyse des Phänomens der Staatenlosen Gedanken weiter, die sie erstmals in den Artikeln für den Aufbau gefasst hat. Dort spricht sie nicht vom Verlust des Standortes in der Welt, sondern von einem »politisch wie sozial wie rechtlich […] ständig sich vergrößernden Vakuum«, in dem sich diese zu »Freiwild« gewordenen Menschen aufhalten müssen und in dem sie jederzeit ermordet werden dürfen und auch werden (A, 172–176, Zitate 173,175; vgl. ebd., 24–28). Siehe auch Arendts Bericht von der Verzweiflung am Flüchtlings-Dasein und dem Leid des Ausgestoßen-Seins: Hannah Arendt: Wir Flüchtlinge. In: dies.: Zur Zeit. Politische Essays. Hrsg. v. Marie Luise Knott. Hamburg 1999, S. 7–22. 10

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einem realen Anlaß ihrer Überflüssigmachung für diejenigen wird, in deren Augen sie eben Barbaren sind. Die mangelnde Berücksichtigung des für das Politische entscheidenden Elementes der conditio humana, der Pluralität, betrifft auf diese Weise auch den fundierenden Begriff der Menschenwürde. Allerdings ist der Ausschluss der modernen Flüchtlinge aus der Menschheit nicht so ausschließlich, wie er in manchen Formulierungen Arendts daherkommt – zumindest nicht im Blick auf den Zusammenhang von Arendts Kritik an der Idee der Menschenrechte. Denn hier nimmt sie Bezug auf den Ausschluss aus den Formen politischer Vergemeinschaftung, auf den abstrakt zugesprochene Menschenrechte keine taugliche Antwort sind. Die politische Exklusion von Menschen ist das Problem: »Sie waren politisch (aber natürlich nicht personal) der Fähigkeit beraubt, Überzeugungen zu haben und zu handeln.« (EU, 462) Dass die politische auch die persönliche Exklusion von Menschen bewirken oder in sich einschließen kann, hat die totale Herrschaft nachgewiesen und wird von Arendt im dritten Teil der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft analysiert. Um aber die verschiedenen Exklusionmechanismen auseinanderhalten zu können, ist der Ausschluss aus der Menschheit überhaupt erst dann zu konstatieren, wenn die Überzeugungen und Taten eines Menschen auch in seinem privaten Lebensbereich keine Bedeutung mehr für irgendjemanden haben. Ein Mensch, der aus allen Formen politischer Vergemeinschaftung ausgestoßen ist, ist darum nicht notwendig aus aller Gemeinschaft ausgestoßen wie er ebenso wenig notwendig seine Würde eingebüßt hat. Aus der Tatsache des Ausschlusses von Menschen und der Antastbarkeit der Menschenrechte zieht Arendt den Schluss, dass es nur ein einziges angeborenes Recht geben kann (EU, 457), von dem sie sich fern aller Dilemmata des modernen Nationalstaates und naturrechtlicher Begründungen von Menschenrecht und Menschenwürde die angemessene Berücksichtigung der Pluralität erhofft. Was an den modernen Flüchtlingen deutlich wird, ist »ein Recht, Rechte zu haben – und dies ist gleichbedeutend damit, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man auf Grund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird«. (EU, 462) Aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und seiner massenweisen Produktion von Flüchtlingen und Staatenlosen zieht Arendt den Schluss, dass Edmund Burke mit seiner Kritik an den abstrakten und daher folgenlosen Menschenrechten eines Menschen überhaupt 92

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und seinem Votum für die einzig substantiellen Rechte eines Engländers, das heißt für die Rechtes eines Staatsbürgers, den richtigen Weg gewiesen habe. Es habe sich gezeigt, dass der Verlust nationaler Rechte den Verlust der sogenannten Menschenrechte nach sich gezogen habe und deren Wiederherstellung an die Etablierung nationaler Rechte gebunden gewesen sei. Das werde am Fall des Staates Israel und der Menschenrechte der Juden einsichtig. Menschenrechte entbehrten genau dann jeglichen Sinnes, wenn sich Menschen nicht mehr im selben Atemzug auf nationale Rechte, das heißt auf ihre gesellschaftlichen und politischen Bindungen berufen könnten (EU, 466). Was an Arendts übereilter Identifikation von Volkssouveränität und Selbstbestimmungsrecht der Völker und ihrer Kritik an den Begriffen des Menschenrechtes und der Menschenwürde gleichwohl überzeugt, ist das Beharren darauf, dass in den zusammengehörigen Erklärungen universaler Menschenrechte und nationaler Souveränität ein Exklusionsmechanismus steckt, auf den eine politische Antwort gefunden werden muss, wenn die bloß postulierte Universalität der Menschenrechte auch jenseits des Nationalstaates politische Realität werden soll. Wenn sich keine effektiven Mittel zu ihrer Durchsetzung finden lassen oder die Dinge am mangelnden politischen Willen scheitern, dann wird die – in unseren Zeiten vehement betriebene – Erweiterung des Menschenrechtskataloges 11 zu einer fragwürdigen Angelegenheit, 12 die nicht nur ein Erhebliches zur Beschädigung der normativen Ansprüche der Menschenrechte beiträgt, Siehe zu diesen m. E. in vielerlei Hinsicht fragwürdigen Erweiterungen die instruktiven Beiträge zur Unterscheidung zwischen sozialen und liberalen Menschenrechten von Christian Tomuschat in diesem Band und Stefan Gosepath: Zur Begründung sozialer Menschenrechte. In: ders./Georg Lohmann (Hrsg.): Philosophie der Menschenrechte. Frankfurt am Main 1998, S. 146–187. 12 Ein Beispiel aus der Gegenwart ist der Völkermord an den Tutsi in Ruanda, über den der damalige Kommandeur der UN-Truppen, Roméo Dallaire, schreibt: »What I have come to realize as the root of it all, however, is the fundamental indifference of the world community to the plight of seven to eight million black Africans in a tiny country that had no strategic or resource value to any world power« und der einen politischen Beobachter zitiert: »›We will recommend to our government not to intervene as the risks are high and all that is here are humans.‹« Siehe Roméo Dallaire: Shake Hands with the Devil. The Failure of Humanity in Rwanda. London 2004, S. 6; vgl. als wissenschaftliche Bestätigung dieser Erfahrungen eines Augenzeugen an exponierter Stelle des Geschehens Alison Des Forges: Kein Zeuge darf überleben. Der Genozid in Ruanda. Hamburg 2002, bes. S. 36–49. 11

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sondern in der Tat vor dem Hintergrund eines auf diese Weise weiter verschärften Zurückbleibens der Realität hinter den wohlfeilen Forderungen den Erfahrungen der Opfer von Menschenrechtsverletzungen Hohn spricht: Diese anscheinend humanitären Anstrengungen, wenigstens auf dem Papier jedem Menschen so viel Rechte wie nur möglich zuzusprechen, diskreditieren nicht nur die Idee der Menschenrechte als eine Utopie; sie sind selbst nur eines der vielen Symptome für die sich überall durchsetzende Tendenz, die wirkliche Situation der Staatenlosigkeit, die Unmöglichkeit, ihnen die Menschenrechte innerhalb des Systems souveräner Staaten zu sichern, zu ignorieren. (EU, 457)

In diesem Sinne können Arendts problematische Beiträge zu einer Theorie der Menschenrechte der notwendige Stachel im Fleisch sein, den Gegenbeweis gegen ihr harsches – für sie durch ihre eigene Lebens- wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts im allgemeinen erhärtetes – Verdikt anzutreten, »daß solche Dinge wie unveräußerbare Menschenrechte bloßes Geschwätz« und der »Inbegriff eines heuchlerischen oder schwachsinnigen Idealismus« seien (EU, 426). Ihre Polemik sollte nicht davon ablenken, ihre Gedanken als denjenigen politischen Appell zu verstehen, der diese vielmehr sind als eine ausgefeilte Theorie der Menschenrechte. Denn Arendts Antwort auf die Frage nach der Garantie ihres einen Menschenrechtes überzeugt nicht. So steckt im Recht auf Rechte zunächst einmal das begriffliche Problem, das sie den abstrakten Menschenrechten anlastet: Entweder es legitimiert positive Bürgerund Freiheitsrechte und ist als solches eine abstrakte Vorbedingung der jeweiligen nationalstaatlichen oder andersartigen Gewährung dieser Rechte. Oder aber es formuliert konkrete Rechtspositionen und gehört somit selbst zu den abgeleiteten Rechten, die es zuallererst begründen soll. 13 Das Vorwort zur ersten amerikanischen Ausgabe aus dem Jahr 1951 weist eher auf die erste Möglichkeit hin, spricht es doch von der Geltung jenes neuen politischen Prinzips, Zu diesem Ergebnis – wie Brunkhorst, auf den ich mich hier berufe, – kommen auf anderen Wegen auch Christoph Menke: The »Aporias of Human Rights« and the »One Human Right«: Regarding the Coherence of Hannah Arendt’s Argument. In: Social Research 74 (2007), S. 739–762, hier S. 750, und Stefan Gosepath: Hannah Arendts Kritik der Menschenrechte und ihr»Recht, Rechte zu haben«. In: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Hannah Arendt. Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität? Berlin 2007 (= Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 16), S. 279–288, hier S. 282– 285.

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dessen Geltungsanspruch sich auf die gesamte Erde beziehen müsse, dessen Macht aber der Begrenzung in bestimmten Territorien und entsprechender Kontrolle bedürfe (siehe MN, 14). 14 Das Problem der Garantie und Einklagbarkeit der Menschenrechte auch für Menschen, die nicht den Schutz eines Staates genießen, ist gleichwohl bei Arendt nicht gelöst. 15 Diese offene Flanke in der Theorie verstärkt wiederum den Eindruck, dass es weniger auf die Kritik an den naturrechtlichen Begründungen ankommt, für die Arendt keinen legitimatorischen Ersatz anbieten kann, sondern auf ihre Forderung nach grundsätzlicher Berücksichtigung der Pluralität in Formulierung und Umsetzung der Menschenrechte. Wenn gilt, dass wir in einer globalen Welt leben, in der die Menschheit als Ganzes zu einer politischen Tatsache geworden ist, dann zeigt sich ihr Recht auf Rechte als ein intersubjektiver Anspruch, den sich die Menschen immer wieder neu und wechselseitig im gemeinsamen Handeln und Sprechen bestätigen müssen. Diese Lesart der Dinge lässt sich auch durch den Hinweis auf Arendts Vorschläge zur Lösung der Palästinafrage aus den vierziger Jahren erhärten: »eine Art Mittelmeerförderation«, eingebunden in »eine noch größere Förderation europäischer Nationen« unter Einschluss des Nahen Ostens und Nordafrikas (A, 124). Das Recht auf Rechte, das ist das Recht auf Pluralität, spricht sie den Juden zu als »das Recht eines jeden Menschen auf die Früchte seiner Arbeit« (A, 103), die im Unterschied zu den Arabern das Land kultiviert und bewohnbar gemacht hätten, während es den Arabern zukommt im Blick auf die »großen und dauerhaften Leistungen«, »die das arabische Volk einst zur abendländischen Kultur beigesteuert hat.« (A, 124). 15 Siehe zu der Frage, wie auf der Grundlage von Arendts Recht auf Rechte das Problem der Zugehörigkeit von Menschen zu nichtstaatlichen Vergemeinschaftungsformen im Blick auf die Idee eines allgemeinen Menschentums angegangen werden könnte, ohne jedoch die Vagheit Arendtscher Lösungsansätze substantiell zu überschreiten, Heiner Bielefeldt: Wiedergewinnung des Politischen. Eine Einführung in Hannah Arendts politisches Denken. Würzburg 1993, S. 102–103; Gabriel Motzkin: Hannah Arendt: Von ethnischer Minderheit zu universeller Humanität. In: Gary Smith (Hrsg.): Hannah Arendt Revisited: »Eichmann in Jerusalem« und die Folgen. Frankfurt am Main 2000, S. 177–201; Christina Schües: Das »Recht, Rechte zu haben« im Zeitalter der Globalisierung. In: Heike Kahlert/Claudia Lenz (Hrsg.): Die Neubestimmung des Politischen. Denkbewegungen im Dialog mit Hannah Arendt. Königstein/Taunus 2001, S. 240–263, hier S. 254–260. Kürzlich hat Peg Birmingham Arendts Begriffe des Rechts auf Rechte und der Würde auf ihren augustinischen Begriff der Natalität zurückgeführt, aber auch bei ihr ist nicht ersichtlich, wie jene neue Garantie der Würde, die Arendt sich erhoffte, vom Recht auf Rechte übernommen werden kann; siehe dies.: Hannah Arendt and Human Rights. The Predicament of Common Responsibility. Bloomington/Indianapolis 2006, hier S. 4–34; vgl. die Kurzfassung des Gedankens unter dem Titel: The An-Archic Event of Natality and the »Rights to Have Rights«. In: Social Research 74 (2007), S. 763–776. 14

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Es ist ein Recht auf Zugehörigkeit, nicht einfach zur Menschheit, sonder auf das Sein-mit-anderen. Das Mensch-unter-Menschen-Sein soll der Maßstab für die Menschenrechte sein und nicht eine a-politische und a-soziale Vorstellung des Menschen. Es geht um das Recht eines jeden Menschen, an der auch von ihm mit errichteten Welt politischen Anteil und Einfluss zu nehmen. Genau darauf zielte ja ihr Begriff der Menschenwürde ab, der sich von naturrechtlichen Vorstellungen verabschiedet und die politische Existenz des mit anderen sprechenden und handelnden Menschen zum Kriterium der menschlichen Würde erhob (siehe EU, 463 f.). 16 Wie die Staatsangehörigkeit kein hinreichender Schutz vor Ausschluss und Verlust der Menschenrechte sein kann, so gilt für diese intersubjektive Charakterisierung der Menschenrechte jedoch, dass sie die Gefahr willkürlicher Aberkennung und des Ausschlusses aus der Gemeinschaft aller eher steigert denn bannt. Schließlich trägt auch Arendts Skepsis gegenüber einer aus dieser Tatsache folgenden Garantie des Rechtes auf Rechte durch die Menschheit als Ganzes dazu bei, dass ihre entsprechenden Ausführungen im Ungewissen enden. Richtig ist – ein Blick in die Geschichte des 20. und auch des 21. Jahrhundert bestätigt das –, dass auch eine vereinte Menschheit vor dem totalitären Ausschluss von Menschen nicht gefeit ist (siehe EU, 465). Arendt hat also Anlass, die von ihr präsentierte Lösung gleich wieder zu relativieren, obwohl es gerade der mangelnde Schutz vor dem Verlust der Menschenrechte durch bloße Staatszugehörigkeit ist, der sie an die Menschheit als Ganzes denken lässt, aber ohne dass sie anzugeben wüsste, wie sich diese zu einer wirkungsvollen politischen Schutzmacht für die Menschenrechte machen ließe. Weder zwischenstaatliche Abkommen oder Verträge noch eine trans-nationale Sphäre oder eine Weltregierung sind für sie reale Optionen (siehe EU, 465). Diese Beurteilung der Dinge wiederum hätte zu einer differenzierteren Einschätzung der emanzipatorischen, freiheitlichen Potentiale des modernen Nationalstaates führen müssen, wofür sich in der Geschichte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges neben all den pessimistisch stimmenden auch – zugegebenermaßen weniger – optimistisch stimmende Beispiele auffinden lassen. Brunkhorst verweist auf den normativen Gehalt und die wirklichkeitsverändernde Kraft erklärter Menschenrechte, auf das enger werdende Netz des Rechtssystems im globalen Maß16

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Vgl. Menke: Aporias, S. 753.

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stab und die Trennung zwischen Staatsbürgerschaft und dem personalen Rechtssubjekt: »Auch ohne Staatsbürgerschaft sind mittlerweile alle Menschen Rechtspersonen, und das hat die einst abstrakten Menschenrechte in ganz konkrete ›Türöffner zu geschlossen Gesellschaften‹ verwandelt.« 17 Man kann über die Angemessenheit solcher zeitdiagnostischen Urteile trefflich streiten, dass sie aber aus Sicht der Betroffenen die Lage der Dinge verfehlen und ein Anlass zu Arendts heftiger Kritik sein können (siehe EU, 426, 453), ist keinesfalls erstaunlich. Wer der Meinung ist, dass heute niemand mehr auf der Welt befürchten muss, wie ein rechtloser Fremder behandelt zu werden, oder wer in der Gewissheit lebt, dass die zahlreichen und massiven Menschenrechtsverletzungen heute nach positiven Rechtsregeln verfolgt werden, und in dieser Hinsicht Steuer-, Straf- und Menschenrecht für vergleichbar hält oder wer eben Menschenrechte für Türöffner hält, 18 dem gilt Arendts Anfrage, ob er nicht die Menschenrechte auf dem Papier für bare Münze nimmt und dadurch die Wirklichkeit der beständigen Menschenrechtsverletzungen verkennt. Die Behauptung, dass alle Menschen in ihrer Eigenschaft als Rechtspersonen den Schutz ihrer Menschenrechte genießen, muss den Menschen außerhalb der Inseln der Glückseligkeit namens Europa und Nordamerika zweifelhaft erscheinen. Denn ihre Lebenserfahrungen offenbaren tagtäglich, dass sich hinter den normativen Ansprüchen nicht einfach faktisch einklagbare Rechtsansprüche verbergen. Das in seiner Schärfe nicht abklingende Phänomen der Flüchtlinge und Staatenlosen zeigt, dass »das bloße Auch-ein-Menschsein« (EU, 466) bis auf den heutigen Tag nicht ausreicht. Wenn die Aporie der Menschenrechte bei Arendt darin besteht, dass man Staatsbürger sein muss, um als Träger von Menschenrechten gelten zu können, dann wird man nicht umhinkommen, den fortwährenden Ausschluss von Menschen aus staatlicher Vergemeinschaftung auch als Bestätigung dieser Aporie zu begreifen. Das »Unglück der Rechtlosen«, dass die Menschenrechte auf Leben, Freiheit, Glück, GleichBrunkhorst: Arendt, S. 96, der hier Lutz Wingert: Unpathetisches Ideal. Über den Begriff eines bürgerschaftlichen Wir. In: Hauke Brunkhorst (Hrsg.): Demokratischer Experimentalismus. Politik in der komplexen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1998, S. 33–43, zitiert, allerdings die falsche Seite angibt: Nicht auf S. 35, sondern auf S. 36 findet sich das Wort von den Türöffnern. Vgl. Hauke Brunkhorst: Sind Menschenrechte Aporien?, S. 343. 18 Brunkhorst: Arendt, S. 96; vgl. Wingert: Unpathetisches Ideal, S. 35 f. 17

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heit vor dem Gesetz und dergleichen mehr nicht länger für sie Bestand haben, weil sie »keiner irgendwie gearteten Gemeinschaft« angehören (EU, 460), hat allein aus dem Grunde weiterhin Bestand, weil es noch keine substantielle Schutzmacht gibt, die an die Stelle des Nationalstaates oder einer anderen Gemeinschaftsform treten könnte. Brunkhorsts Argument der Unterscheidung von Staatsbürgerschaft und personalem Rechtssubjekt läuft ja darauf hinaus, dass es die Menschheit als Ganze ist, zu der jeder einzelne Mensch gehört, die in Bezug auf die Menschheitlichkeit jedes Einzelnen diesem die Menschenrechte garantiert. Die gegenwärtigen Zustände lassen eine solche Beurteilung der Lage der Dinge wenig plausibel erscheinen und verdecken die von Arendt geforderte Einlösung, jedem einzelnen Menschen die Verwirklichung der in ihm angelegten politischen – und nicht nur privaten – Pluralität zu ermöglichen 19 und bestätigen ihre Skepsis ob der Tauglichkeit der Idee der Menschheit in dieser Hinsicht. 20 Dass die Menschheit im Blick auf die Menschenrechte eine politische Realität mit greifbaren Folgen für alle Menschen geworden ist, wird um so fragwürdiger, richtet man das Augenmerk auf die gegenwärtig eher zunehmenden denn abnehmenden Exklusionspraktiken von Menschen aus Politik, Gesellschaft und Wirtschaft im nationalen wie globalen Maßstab, die auf einen Ausschluss von Menschen in der Weise hinauslaufen, wie ihn Arendt mit der Verweigerung von Pluralität, des Mensch-unter-Menschen-Seins, beschrieben hat. BeispieSiehe dazu Bielefeldt: Wiedergewinnung des Politischen, S. 100; Meints: Globalisierung, S. 66; Schües: Das Recht, Rechte zu haben, S. 251; Jeffrey C. Isaac: Hannah Arendt on Human Rights and the Limits of Exposure, or Why Noam Chomsky Is Wrong about the Meaning of Kosovo. In: Social Research 69 (2002), S. 505–537, hier S. 513–515. 20 Siehe Brunkhorst: Arendt, S. 96, 102. Aus diesen Gründen verfangen m. E. auch Stefan Gosepaths Überlegungen darüber nicht, wie man den von Arendt namhaft gemachten Schwierigkeiten der Menschenrechte begegnen könnte. Er hält die heutige Menschenrechtsauffassung positiv-rechtlich und begründungstheoretisch gegenüber der klassisch vernunftrechtlichen Auffassung, die Arendts Kritik zu Recht treffe, für überlegen. Tatsächlich aber bringt er als Argument einen »globalen, minimalen und übergreifenden Konsens unterschiedlicher Moralauffassungen« in Anschlag, der »den enormen politischen Vorteil der Menschenrechte« auf den Punkt bringe und erklärtermaßen ohne »die richtige moralische Begründung« auskomme. Ich sehe darin, auch wegen der Wandelbarkeit moralischer Überzeugungen, die eben auch rechtliche und politische Folgen hat und die These von der Überlegenheit heutiger Menschenrechtstheorien von einer weiteren Seite aus in Frage stellt, ein politisches Argument, aber kein begründungstheoretisches; siehe Gosepath: Hannah Arendts Kritik, S. 285–288, alle Zitate S. 287. 19

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le dafür lassen sich viele finden. Abgesehen von der endgültigen Vernichtung von Menschen 21 und dem schon erwähnten Phänomen der Flüchtlinge ist zu denken an Überbevölkerung, 22 die aller Verhältnismäßigkeit Hohn sprechende Verteilung der Verantwortung für den und das Leiden an den Folgen ökologischen Raubbaus 23 oder die Arbeitslosigkeit. 24 Menschen scheiden aus dem Erwerbsleben aus und verlieren infolgedessen ihre ökonomische, soziale und politische Stellung, in den schlimmsten Fällen auch ihre private und körperliche Integrität. Entstanden sind generationenübergreifende Karrie-

Der Völkermord an den Tutsi in Ruanda ist ein Beispiel dafür, wie Menschen von der Weltgemeinschaft und deren politischer Führung als überflüssige Menschen begriffen werden, weil an ihnen und ihrem Land kein ökonomisches Interesse besteht, und eine Bestätigung von Arendts Überzeugung, dass das bloße Mensch-Sein noch niemandem die Garantie und den Schutz seiner Menschenrechte eingebracht hat; vgl. dazu die in FN 13 angegebene Literatur. Auch in anderen Fällen könnten in der Weltgemeinschaft die Neigungen obsiegen, Menschen »wirklich als Überflüssige zu behandeln und zu handhaben.« (EU, 702). 22 Begreift man »Überbevölkerung« in Abhängigkeit von der Lebensweise, dann liegt eher die Feststellung auf der Hand, dass die Erde ein weiteres Anwachsen der Menschen nicht verkraften kann, die der Lebensweise der sogenannten entwickelten Welt fröhnen, als die Behauptung, dass die Erde überhaupt überbevölkert ist, die allzu oft als Rechtfertigung exzessiver Gewalt herhalten musste, seit Europa begonnen hatte, sich den Rest der Erde zu unterwerfen. Siehe Zygmunt Bauman: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Hamburg 2005, S. 11–12 und 55–64; vgl. EU, 249–266. 23 Siehe dazu Jared Diamond: Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen. Frankfurt am Main 2005, bes. S. 544–648; Bauman: Verworfenes Leben, S. 11–12. Dass Exklusion auch eine ökologische Dimension hat, die in der Form der Konkurrenz etwa um Energieträger oder Wasser besteht, ist ein Aspekt der Überflüssigmachung von Menschen, der bei Arendt und in der mehrheitlich von Soziologen geführten Debatte keinen oder nur wenig Platz hat. 24 Arbeitslosigkeit ist nicht nur in der Perspektive ihrer sozialen Folgen ein Thema für denjenigen, der sich mit Exklusionsmechanismen beschäftigt, sondern auch im Blick auf die ökonomische Funktionsweise der modernen Gesellschaft, in der aufgrund des technischen Fortschritts immer mehr Arbeitsstellen und ganze Berufe aus dem Erwerbssektor verschwinden, während immer deutlicher wird, dass der technische Fortschritt diese freigesetzten Kräfte gerade nicht in neue Sektoren entlässt. Siehe Gerhardt Schildt: Das Sinken des Arbeitsvolumens im Industriezeitalter. In: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 119–148; Dirk Konietzka/Peter Sopp: Arbeitsmarktstrukturen und Exklusionsprozesse. In: Heinz Bude/Andreas Willisch (Hrsg.): Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige. Hamburg 2006, S. 314–341; vgl. Bauman: Verworfenes Leben, S. 18–20, 34–50. Arendt hat diese Zusammenhänge bereits zu Beginn des zweiten Teils von EU über den »Imperialismus« untersucht, wo sie in Anlehnung an Marx ökonomisch bedingte Überflüssigmachung von Menschen als Teil der Grundstruktur der modernen Industriegesellschaft benennt. 21

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ren sozialer Exklusion. 25 In anderer Hinsicht ist die Abschottung ganzer Gesellschaften oder Staatenverbünde zu beobachten. Dafür ist die frontera zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko das medial skandalisierte Sinnbild, charakteristisch sind die Bemühungen der Europäischen Union, ihr Gebiet zu einer regelrechten Festung auszubauen. Der Mittel sind viele: eine immer restriktiver werdende Asylpolitik; ein Informationssystem zur Speicherung der Daten von unerwünschten Personen; verschärfte Grenzkontrollen und Befestigung der Grenzen wie in den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla auf nordafrikanischem Boden. Auch die Bildung eines Ringes von Schutzzonen rund um die Europäische Union auf dem Boden vor allem der osteuropäischen Anrainerstaaten ist im Gespräch. 26 All die genannten Dinge sind nur einige aus der Fülle möglicher Beispiele, wie weit entfernt eine zur Wirklichkeit gewordene Idee der Menschheit als Garant gleicher Menschenrechte für alle Menschen ist.

3.

Die Menschheit als Ganzes und das Menschenrecht auf Zugehörigkeit

Anhand Arendts Ausführungen kann man in Ergänzung zu den vorgestellten Exklusionsmechanismen beobachten, wie Menschen auch auf eine ganz andere Weise Gefahr laufen, ausgeschlossen zu werden. Ihre unzureichende Definition des Rechtes auf Rechte führt dazu, dass außer der Partizipation überhaupt an welcher politischen Gemeinschaft auch immer nicht erkennbar wird, was sie im Sinn hat. Der bloße politische Standort in der Welt kann jedoch für verschiedene Menschen auf verschiedene Weisen gesichert werden. Das war schon zu sehen an der Vorzusgwürdigkeit des Sklaven-Daseins geSiehe dazu die Beiträge in Sebastian Herkommer (Hrsg.): Soziale Ausgrenzungen. Gesichter des neuen Kapitalismus. Hamburg 1999, besonders ders.: Deklassiert, ausgeschlossen, chancenlos – die Überzähligen im globalisierten Kapitalismus, ebd., S. 7– 34; und in Bude/Willisch (Hrsg.) (siehe FN 24); vgl. pointierter und mit Bezug auf eine der Gruppen von Ausgeschlossenen, die derzeit neu entdeckte »Unterschicht«, Heinz Bude: Abhanden gekommen. Was ist los mit der Unterschicht? In: Süddeutsche Zeitung vom 18. Oktober 2006, S. 13. 26 Siehe dazu Bauman: Verworfenes Leben, S. 88–89, 97, der zudem den Blick auf die zugehörige Ausbildung einer »Mentalität einer ›belagerten Festung‹, der körperlichen Bedrohung und des gefährdeten Privatbesitzes« lenkt; ebd., S. 128. Vgl. Mike Davis: Die Große Mauer des Kapitals. In: Die ZEIT Nr. 42/2006 vom 12. Oktober 2006, S. 49–50. 25

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genüber der Existenz des modernen Staatenlosen. Wenn man wie Arendt im Gefolge von Edmund Burkes Kritik an der Französischen Revolution gegen die Abstraktionen der naturrechtlichen Begründung der Menschenrechte vorzugehen sucht und zugleich den Nationalstaat für unfähig hält, das postulierte Recht auf Rechte zu sichern, dann aber eine Präzision dieses intersubjektiv zu gewährenden Menschenrechtes unterlässt und zudem seinen Verwirklichungschancen skeptisch gegenübersteht (siehe EU, 465), ist es ein Leichtes, den abstrakten Charakter der modernen Menschenrechtserklärungen als Verwandlung der tradierten Rechte europäischer Bürger in Rechte, die diese mit »›nackten Wilden‹« (EU, 467) teilten, zu denunzieren. Die »Tragödie« (EU, 467) dieser Wilden, auf deren barbarische Lebensumstände alle zurückgeworfen würden, die sich nur noch auf ihre natürlich-abstrakten Menschenrechte und nicht mehr auf staatliche Zugehörigkeit berufen können, hat in Arendts Augen ihren entscheidenden Makel darin, dass diese Wilden »in einer Natur wohnen, in der sie sich nicht haben einrichten können und die daher übermächtig geblieben ist, daß sie leben und sterben, ohne eine gemeinsame Welt errichtet zu haben, in der jeder seine Spuren hätte hinterlassen können und die insgesamt der menschlich verständliche Ausweis ihrer Existenz hätte sein müssen«. (EU, 467 f.) Ihre »Naturverhaftetheit und die mit ihr verbundene Flüchtigkeit« (EU, 468) seien exakt die Kennzeichen des Naturzustandes, in den auch die modernen Staatenlosen und Flüchtlinge zurückgezwungen würden. Die umstrittenen Passagen über den »Schrecken vor den Menschen Afrikas« (EU, 322) müssen in diesem Zusammenhang gelesen werden. Die Bedeutung von Joseph Conrads Erzählung Heart of darkness erschöpft sich nicht darin, Arendts methodisches Mittel zur Erläuterung der europäischen Erfahrung des afrikanischen Kontinents zu sein, sondern formt ihre inhaltliche Interpretation der kolonialen Erfahrungen. 27 Was zu diesen von sachlicher, das heißt: historischer Siehe die maßgebliche Textstelle bei Joseph Conrad: Herz der Finsternis. Stuttgart 1991, S. 63: »Das, müßt ihr wissen, war das Schlimmste dabei – dieser Verdacht, daß es auch Menschen waren. Das dämmerte einem nur langsam. […] aber was einen erschauern ließ, war der Gedanke, daß es Menschen waren – grade so wie man selbst –, daß man mit diesem wilden und leidenschaftlichen Aufruhr entfernt verwandt war. Scheußlich.« Vgl. bes. EU, 316, 322; siehe auch Kathryn T. Gines: Race Thinking and Racism in Hannah Arendt’s ›The Origins of Totalitarianism‹. In: Richard H. King/Dan Stone (Hrsg.): Hannah Arendt and the Uses of History. Imperialism, Nation, Race and Genocide. New York/Oxford 2007, S. 38–53, bes. 49–51.

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und afrikanistischer, Unkenntnis dominierten Abschnitten wesentlich beiträgt, ist die ihr die Sicht verstellende Überzeugung, dass Mensch nur sein kann, wer sich über Naturverhaftetheit und Flüchtigkeit des Lebens erhoben hat – und zwar unter der zusätzlichen Bedingung, dass er sich gemeinsam mit anderen eine Welt von der Art erschaffen hat, in der sein Handeln und Sprechen über sein eigenes Ableben hinaus dauerhaften Wert hat. In diesem Sinne schreibt sie über die historische Lage der Buren: In ihnen lebt vermutlich heute noch der erste grauenhafte Schrecken, der ihre Vorväter in die Barbarei gezwungen hatte, der Schrecken vor den Menschen Afrikas – die tiefe Angst vor einem fast ins Tierhafte, nämlich wirklich ins Rassische degenerierten Volk, das doch trotz seiner absoluten Fremdheit zweifellos eine Spezies des homo sapiens war. Denn was auch immer die Menschheit an Schrecken vor wilden barbarischen Stämmen gekannt hat, das grundsätzliche Entsetzen, das den europäischen Menschen befiel, als er Neger […] kennenlernte, hat nirgends seinesgleichen. Es ist das Grauen vor der Tatsache, daß dies auch noch Menschen sind, und die diesem Grauen unmittelbar folgende Entscheidung, daß solche ›Menschen‹ keinesfalls unseresgleichen sein durften. Aus dieser Angst und dieser Entscheidung, denen beide der Zweifel und vielleicht die Verzweiflung an dem Faktum des Menschseins überhaupt zugrunde lag, entstand die neue unchristliche Religiösität der Buren, deren wesentliches Dogma […] die Auserwähltheit der weißen Haut ist. (EU, 322)

Bis zu diesem Punkt der Überlegungen ist die Sache unentschieden, denn auch die Angehörigen einer Rasse, welche eine Gruppe von geschichts- und tatenlosen Menschen sein soll, die sich weder eine Welt errichtet noch die Natur in ihren Dienst gezwungen habe und folglich noch unterhalb der Barbaren auf der Stufe von Tieren anzusiedeln sei, sollen als Menschen gelten, was die Abgrenzungsbewegungen der Buren um so heftiger habe ausfallen lassen. Die folgenden Gedanken setzen den Akzent noch deutlicher auf das Kriterium der gemeinsam errichteten Welt als Ausweis von Menschlichkeit (siehe EU, 468) und benennen die Vernichtung aufgrund des Ausbleibens dieser Kulturleistung als die der Natur eigene und darum die diesen natur-unterworfenen Menschen angemessene Umgangsweise: Was sie [die Menschen Afrikas, T. D.] von anderen Völkern unterschied, war nicht die Hautfarbe; was sie auch physisch erschreckend und abstoßend machte, war die katastrophale Unterlegenheit oder Zugehörigkeit zur Natur, der sie keine menschliche Welt entgegensetzen [sic] konnten. Ihre Irrealität, ihr gespenstisch erscheinendes Treiben ist dieser Weltlosigkeit geschuldet. Da

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sie weltlos sind, erscheint die Natur als die einzige Realität ihres Daseins; und sie gibt sich dem Beobachter als eine so überwältigende Realität – mit weltlosen Menschen kann die Natur nach Belieben umspringen –, daß an ihr gemessen die Menschen etwas Imaginäres, Schattenhaftes, ganz und gar Unwirkliches annehmen. Das Unwirkliche liegt darin, daß sie Menschen sind und doch der dem Menschen eigenen Realität ganz und gar ermangeln. Es ist diese mit ihrer Weltlosigkeit gegebene Unwirklichkeit der Eingeborenenstämme, die zu den furchtbar mörderischen Vernichtungen und zu der völligen Gesetzlosigkeit in Afrika verführt hat. (EU, 323)

Die Menschen Afrikas bleiben auch in diesem Textabschnitt Menschen, aber sie sind defizitäre Menschen, die sich wegen ihrer Weltlosigkeit nicht als Menschen zu erkennen geben. Der nicht nur um eine wissenschaftliche Erklärung bemühte, sondern auch erkennbar apologetische Duktus 28 dieser Sätze lässt sich nicht mit der bloßen Missverständlichkeit dieser Passagen erledigen, 29 liest man, was sich Arendt unter der Verführung zur Vernichtung vorstellt: Das sinnfälligste Zeichen für die Angleichung eines weißen Volkes an die es umgebenden schwarzen Rassenstämme liegt vielleicht darin, daß die furchtbaren Metzeleien […] sich gewissermaßen in die Tradition des schwarzen Kontinents selbst ohne Schwierigkeit einfügen. Ausrottung feindlicher Stämme war von eh und je das Gesetz afrikanischer Eingeborenenkriege gewesen. […] Disziplin und organisatorische Leistung können die Vernichtung der Menschen durch die unbezwungene Natur beschleunigen, aber keinesfalls eine Welt aufbauen, in der Menschen leben können. Und da ihre einzige Macht die Vernichtung ist, können sie nicht anders, als sich an diesem Werk ihrer Hände erfreuen. Die Vernichtung selbst aber nimmt sofort die Gestalt des Schemenhaften und Schattenhaften an, da sie in keiner Welt sich ereignet, in der Menschen sich erinnern und etwas Bestand haben kann. Über dem

Einer der wenigen, die diese Färbung der Ausführungen Arendts klar benennen, ist Micha Brumlik: Das Jahrhundert der Extreme. In: Jahrbuch 2004 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hrsg. v. Fritz Bauer Institut. Frankfurt am Main 2004, S. 19–36, hier S. 25. 29 Will man an Arendts These festhalten, dass Weltlosigkeit als Nichtzugehörigkeit zu politischer Gemeinschaft immer eine Form von Barbarei ist, dann muss man erstens erläutern, warum Arendts Analogie dieser Barbarei mit der Lebensweise wilder Volksstämme, »prekär« sein soll, womit auf die Missverständlichkeit dieser Analogie gezielt wäre, die dann zweitens ihrerseits erklärungsbefürftig wäre. Drittens müsste eine Lesart angeboten werden, die Arendt zur Hilfe käme und die Sache klarstellte, worin das Missverständnis bestehe und welches die korrekte Lesart einer dann nicht mehr »prekären« Analogie sei; siehe Meints: Globalisierung, S. 66. 28

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ganzen Land […] lag die Unheimlichkeit des ganz und gar Imaginären, das Grauen des Irrsinns. (EU, 324)

In einem vorangehenden Kapitel des zweiten Teils über den Imperialismus (Kapitel 5 Die politische Emanzipation der Bourgeoisie, EU, 217–266) hat Arendt beschrieben, wie das kapitalistische Wirtschaftssystem in der Moderne immer mehr Menschen aus dem Produktionsprozess verdrängt, sie ihrer gesellschaftlichen Stellung beraubt und zu Überflüssigen macht und wie diese Überflüssigen zusammen mit dem überschüssigen Kapital in den außereuropäischen Gebieten Kolonien gründen. Die entscheidende Frage muss daher lauten, wie sie trotz ihres Sensoriums für die Exklusionsmechanismen der modernen Gesellschaft, die sich den Rest der Erde unterwarf, die Bewohner dieses Restes der Erde nicht als Überflüssige begreifen konnte. Weshalb also stehen wir vor dem Befund eben auch apologetischer Wendungen wie der Verführung zur Vernichtung oder der »Not«, aus der heraus der Rassismus der Europäer entstand (EU, 308), der sich in seinem Vernichtungswillen in die Tradition des afrikanischen Kontinentes eingepasst habe? 30 Zu bedenken ist dabei der Unterschied zwischen Arendts Einnahme der burischen Perspektive zu dem analytischen Zweck, die Verbindung von Imperialismus, Rassismus und »scramble for africa« zumindest in Ansätzen als Forschungsaufgabe zu etablieren, 31 und ihrer Verurteilung von »systematischer Ausrottung ganzer Rassen« (EU, 308) und ihrer Überzeugung von der Unmöglichkeit jeder »Rechtfertigung des Rassewahnes« (EU, 309). Noch unverständlicher wird Arendts Unvermögen, die Bewohner der von den europäischen Imperialisten eroberten Gebiete der Erde als Überflüssige zu begreifen, wenn man bedenkt, dass sie wenige Kapitel zuvor klar benennt, welche fatalen Konsequenzen die Produktion von überflüssigen Menschen haben musste, war erst einmal die Begrenztheit der Erde zu einem politischen Faktum geworden (EU, 249). 31 Das Verhältnis von Kolonialismus, Sklaverei und Rassismus mit der Frage nach der Bedeutung der gewalttätigen Kolonisation Afrikas durch die europäischen Nationalstaaten für die totale Herrschaft in Europa in Zusammenhang gebracht zu haben, ist das Verdienst Arendts. Ebenso geht auf ihre Unterscheidung zwischen (englischem) überseeischen und deutschem (kontinentalen) Imperialismus die Erkenntnis zurück, dass nicht Südwestafrika, sondern vielmehr Ost- und Mitteleuropa das deutsche Gegenstück zu Indien, Amerika und Australien waren. Siehe zu »Arendt’s pathbreaking attention to the larger historical relations of colonial genocide« Tony Barta: On Pain of Extinction. Laws of Nature and History in Darwin, Marx, and Arendt. In: King/Stone (Hrsg.) (siehe FN 27), S. 87–105, Zitat S. 97; Brumlik: Das Jahrhundert, S. 28; Andreas Eckert: Missing link. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Mai 2006, N 3. 30

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Der Grund für die schillernden und bisweilen entgleitenden Formulierungen Arendts liegt darin, dass sie nicht nur nachvollziehen, sondern auch nachfühlen kann, dass durch den »Zwang des Zusammenlebens mit schwarzen Stämmen« für die europäischen Eroberer die »Idee der Menschheit und des gemeinsamen Ursprunges des Menschengeschlechtes, wie die christlich-jüdische Tradition des Abendlandes sie lehrt, […] ihre zwingende Überzeugungskraft« (EU, 308) verloren habe. 32 Was Arendt in Anschlag bringt, ist ihre Idee von der Menschheit, die sie nicht als eine ganz bestimmte Idee der Menschheit einer historisch klar benennbaren Kultur oder Zivilisationskreises erkennt und auszeichnet. Mensch ist bei Arendt in einem emphatischen Sinne nur, wer den Niederungen der selbsterhaltenden Arbeit und der Herstellung einer dauerhaften Welt der Dinge entkommen ist und frei von diesen Notwendigkeiten und Lasten sich handelnd und sprechend unter seinesgleichen als Mensch, und das heißt: als politischer Mensch erweist. Dass hier die spezifischen Begriffe der Welt- und Geschichtslosigkeit dazu dienen, den afrikanischen Völkern dieses spezifische Menschsein abzusprechen, muss der entscheidende Ansatzpunkt der Kritik sein, weil so die Idee einer universalen Menschheit verfehlt wird. Arendt sitzt ihren kulturellen und theoretischen Vorbehalten auf, 33 in deren Folge sie den Begriff der Menschheit aufbricht mit Abgesehen von der schillernden Weise, in der Arendt den vermeintlichen Zwang zum Zusammenleben mit dem resultierenden »Notbehelf« (EU, 308) der Vernichtung in Zusammenhang bringt, führt es m. E. nicht weiter, zur Rechtfertigung dieser Textstellen auf ihre Abstandnahme von der unzulässig verallgemeinernden Kategorie »Afrika« oder dem Gefühl weißer Überlegenheit oder der panafrikanistischen Ideologie hinzuweisen, weil diese Arendts »Schrecken vor den Menschen Afrikas« (EU, 322) weder erläutern noch rechtfertigen kann; siehe Seyla Benhabib: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne. Erw. Ausgabe. Frankfurt am Main 2006, S. 141–146. 33 Dass Arendt zwischen verschiedenen afrikanischen Ländern und Regionen zu unterscheiden wisse (siehe EU, 310 ff.), man ihr daher politisches Differenzierungsvermögen und Kulturblindheit im Sinne einer positiven, alle Menschen einschließenden Eigenschaft attestieren könne, besäße erst dann weiterreichende Erklärungskraft, wenn man es mit ihrem spezifischen und kulturell vorgeprägten Begriff der Menschheit vermittelte, der zu ihrer Ausgemeindung der Menschen Afrikas aus der Menschheit als solcher führt. Benhabib scheint diesen Aspekt des Menschheitsbegriffs bei Arendt nicht ausreichend zu gewichten, eher schreibt sie deren Sichtweise fort: »Was aber […] das europäische Bewusstsein für immer veränderte und Europa mit den beunruhigenden Erfahrungen rassischer Differenz konfrontierte, was der ›scramble for africa‹. Die europäische Kolonisierung Afrikas führte zu einem Bruch zwischen den weißen Völkern Europas und den schwarzen Völkern.« Selbst wenn »Bruch« das angemessene Wort für das Ge32

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fatalen Auswirkungen auf ihr fundamentales Recht auf Rechte, dem ohne eine universal verstandene Menschheit die ohnehin dünne begriffliche Basis wegbricht. Arendt steigert aristotelische Gedanken zu einem Gegensatz zwischen politischen Menschen und unpolitischen Tieren. 34 So gesehen macht die Kritik an der idealistischen Konzeption universaler Menschenrechte Sinn, weil der kulturell vorbestimmte Begriff des Menschen selbstredend alle Menschen, die nicht diesen spezifischen Ansprüchen an das Menschsein genügen, ausschließt. Genau das zu verhindern, war aber der Zweck des Rechtes auf Rechte, das jeden einzelnen Menschen umfassen und mit der Menschheit als Ganzes Ernst machen sollte. 35 Man kann von Arendt zwar die Sensibilität für die Aufgabe der beständigen Bewahrung und Sicherung der Menschenrechte durch konkrete Vergemeinschaftung lernen, aber genauso gut kann man an ihr begreifen, wie leicht mit der Idee der Menschheit unter der Hand ein neuer Exklusionsmechanismus begründet werden kann – eine Gefahr, auf die sie selbst hinweist (EU, 465 f.). Insofern ist sie selbst ein Beispiel dafür, mit welchen Problemen die politische Realität der Menschheit als Ganzer und die daraus folgende Verantwortlichkeit für alle Menschen auf der Erde zu kämpfen hat. Aber die Ausgemeindung großer Teile der Menschheit aus dem, was sie unter freien Menschen versteht, ist – das gilt es mit Brunkhorst ausdrücklich festzuhalten – nicht ihr letztes Wort zum Begriff der Menschheit und der Frage nach der Gleichheit aller Menschen. Die Elemente und schehen wäre, fehlt zumindest die Vermittlung dieser Arendt-Affirmation mit deren Hinweis, dass die Europäer den Afrikanern den Status des Mensch-Seins verweigert hätten (EU, 308), und dem Umstand, dass Arendt den Grund dafür in der selbstverschuldeten Unkenntlichkeit der Afrikaner als Menschen sah (EU, 468); siehe Benhabib: Arendt, S. 141. 34 Siehe Brunkhorst: Arendt, S. 104. 35 An diesem Punkt werden die Grenzen von Menkes Vorschlag erkennbar, Arendts Recht auf Rechte so auf ihren Begriff einer aus der politischen als der wahrhaft menschlichen Existenzweise stammenden Würde zu gründen, dass sich daraus kein Recht auf etwas ergebe, sondern dass Arendt lediglich auf eine dem Menschen angemessene Lebensweise abhebe, nämlich die politische oder die gemeinschaftliche, und nicht auf ein bestimmtes So-Sein, das allein das Prädikat Mensch rechtfertige. Entgeht man so elegant den Tücken von Arendts Menschenrechtsbegriff, nimmt man jedoch auf diese Weise ihre Begriffe der Würde und des Menschenrechtes aus ihrem politisch-zeitdiagnostischen und die moderne Gesellschaftsformation kritisch analysierenden Entstehungs- und Argumentationszusammenhang heraus, in den Arendt selbst sie – nicht nur in den erwähnten Vorworten zu den Elementen und Ursprüngen – stellt; siehe Menke: Aporias, bes. S. 753–756.

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Ursprünge totaler Herrschaft enden mit dem augustinischen Freiheitsbegriff des Anfangs, den Arendt unterschiedslos auf alle Menschen bezieht. Die Freiheit, das Anfangen-Können, das durch die Geburt eines jeden Menschen immer wieder von neuem in die Welt kommt, sprengt die aristotelisch inspirierte Engführung der Menschheit auf die Bürgergemeinschaft. Zwei Perspektiven auf den Menschen treffen bei ihr zusammen: die Gleichheit der Bürger und die Gleichheit der Menschen in der Natalität: dem Geboren-Sein und dem Anfangen-Können. In diesem Sinne lassen sich Arendts Schrekken über die Menschen Afrikas nicht in Wohlgefallen auflösen, aber der Bezug auf Augustin zeigt, dass Menschsein bei ihr nicht in der Gleichheit freier Bürger aufgeht, sondern in der Freiheit des Anfangen-Könnens alle Menschen umfasst: 36 Dieser Anfang ist immer und überall da und bereit. Seine Kontinuität kann nicht unterbrochen werden, denn sie ist garantiert durch die Geburt eines jeden Menschen. (EU, 730)

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Die Vernichtung der Person Verena Krenberger (Freiburg)

So lebe und so bin ich, und so bin ich unveränderlich, fest, und vollendet für alle Ewigkeit; denn dieses Sein ist kein von außen angenommenes, es ist mein eignes, einiges wahres Sein, und Wesen. 1

Der Begriff der »Person« ist in der abendländischen Kultur seit der Antike ein Grundbegriff des menschlichen Selbstverständnisses. 2 Seit der Neuzeit ist er eng mit den Begriffen der »Menschenwürde« und der »Rechtspersönlichkeit« verbunden. Letzterer ist ein eher junger Terminus der Rechtswissenschaft und heute als »Recht auf Rechtspersönlichkeit« in menschenrechtlichen Dokumenten und Verträgen positiviert. In der Geschichte der letzten Jahre hat sich jedoch gezeigt, dass die Rechte der Person grundlegend verletzt werden können. Es soll im Folgenden untersucht werden, ob die Negierung der »Rechte der Person« eine Negierung der individuellen »Person« impliziert. Es stellt sich die Frage nach dem Verweisungszusammenhang zwischen der »Person«, der Würde des Menschen und der »Rechtspersönlichkeit«. Der Beitrag gliedert sich in fünf Teile und eine Schlussfolgerung. In den ersten vier Teilen werden die Grundbegriffe der »Person« (1), der »Rechtspersönlichkeit« (2), der »Rechte der Person« (3) und der »Menschenwürde« (4) hinsichtlich ihrer historischen Entwicklung und der Möglichkeit des Verlusts dargestellt. Mithilfe der historischen Beispiele des Nationalsozialismus und der Strafe im All1 Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen. Hamburg 1962 (1800), 3. Buch, S. 155. 2 So auch Georg Mohr: Der Personbegriff in der Geschichte der Philosophie. In: Dieter Sturma (Hrsg.): Person: Philosophiegeschichte, theoretische Philosophie, praktische Philosophie. Paderborn 2001, S. 24. Ebenso: Dieter Sturma: Person und Philosophie der Person. In: ders. (Hrsg.): Person: Philosophiegeschichte, theoretische Philosophie, praktische Philosophie. Paderborn 2001, S. 12.

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Die Vernichtung der Person

gemeinen (5) wird die Brisanz einer Möglichkeit der Vernichtung des Personstatus verdeutlicht. Im Laufe der Diskussion kommt als Folgeproblem zur Sprache, inwieweit die Existenz der menschlichen »Person« von der Anerkennung durch Andere abhängt. Wie abhängig ist demnach das Individuum als »zoon sociale« von den Mitmenschen in der Gemeinschaft?

1.

Die »Person«

Zum Verständnis der aufgeworfenen Frage ist eine Begriffsklärung nötig, da der Begriff der »Person« eine erstaunlich wechselvolle Geschichte hat. Zudem ist für das Verständnis der Konflikthaftigkeit des Begriffs »Person« ein Ausweis des historischen Kontextes seiner Entstehung hilfreich. 3 Aristoteles, der die Stoa maßgeblich beeinflusste, gebraucht den Begriff »persona« zwar einerseits wie im damaligen Sprachgebrauch üblich im Sinne der sozialen Rolle, doch spricht er andererseits durchaus schon von Eigenschaften der handelnden oder urteilenden Person. 4 Cicero erläutert mit der Rollentheorie (auch: Theorie der vier »personae«) seiner Schrift De officiis, was die »natura« dem Gattungswesen Mensch vorschreibt: Im Mittelpunkt steht hierbei das System der vier Masken (personae), die jeder Mensch gleichzeitig trage und die synonym für vier Gesichtspunkte der sittlichen Beurteilung menschlichen Handelns stehen. 5 Seit der Antike bis zur Neuzeit können drei einflussreiche philosophische Definitionen ausgemacht werden: Die erste Definition kam von Boethius, die zweite von Richard von St. Viktor und die dritte von Alexander von Hales. Den Versuch einer Vereinigung der beiden gegensätzlichen christologischen Lehren des »Monophysitismus«, der vom Grundsatz »eine Person, eine Natur« ausging, und des »Dyophysitismus«, der davon ausging, dass eine Person zwei Naturen haben könne, unternahm Boethius mit seiner ersten umfassenden Definition: »Person ist die unteilbare Substanz einer verstänEbenso Rainer Forst: Die Würde des Menschen und das Recht auf Rechtfertigung. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (DZPh) 4/2005, S. 589–596, hier: S. 589. 4 Gustav Nass: Person, Persönlichkeit und juristische Person. Berlin 1964, S. 10. 5 Marcus Tullius Cicero: De officiis. 1. Buch: 1) Gattungsmerkmal der allgemeinen Vernunftfähigkeit, 2) spezifischer Konstitutions- und Charaktertyp der individuellen Person, 3) Milieu und Zeitumstände, 4) eigene Entscheidung und Lebenswahl. 3

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digen Natur.« 6 »Persona« diente ihm als Bezeichnung für vernunftbegabte Individuen und zudem als ein Ding im geschlossenen (Natur-)Kosmos der Substanzen. 7 In seiner Kritik an Boethius verteidigte dagegen Richard von St. Viktor die These, dass die Person ein »habens naturam« sei, was Richard zur zweiten umfassenden Definition führte: »Person ist die nichtmitteilbare Existenz einer intellektuellen Natur [und] durch sich allein existierend gemäß einer einzigartigen Weise vernünftiger Existenz.« 8 Auch wenn diese Definition nicht kritiklos angenommen wurde, entfaltete sie doch vor allem Einfluss auf die Theologie der Franziskanerschule und gelangte so zu Alexander von Hales. Dieser unterscheidet eine dreifache Seinsordnung, der jeweils ein anderer Personbegriff zugehört. 9 Diese Überlegungen führten Alexander zur dritten umfassenden Definition des Personbegriffs: »Person ist eine Hypostase, die durch eine die Würde betreffende Eigentümlichkeit unterschieden ist.« 10 Hier wird mithin die Verknüpfung zwischen Würde und Person erstmalig in die Definition aufgenommen: Gerade diese Dignität als herausragende Proprietät (»excellens proprietas« 11 ) macht die Person aus. 12 Der entscheidende Umbruch in der Begriffsgeschichte von »Person« vollzieht sich in John Lockes Ausdifferenzierung der Begriffe 6 Anicius Manlius Severinus Boethius: Die theologischen Traktate. Tractatus V: Contra Eutychen et Nestorium, IV, 8–9: »Persona rationabilis naturae individua substantia est.« Den innigen Zusammenhang von Natur und Person verdeutlichend: »Denn jenes wenigstens ist offensichtig, daß nämlich der Person die Natur zugrunde liegt, und daß Person nicht außerhalb von Natur ausgesagt werden kann.« A. a. O., II, 9–11. 7 Mohr: Der Personbegriff in der Geschichte der Philosophie, S. 27. 8 Richard von St. Viktor: De Trinitate. Lib. IV, Cap. XXI-XXV. 9 Alexander von Hales: Glossa. Lib. I, Cap. XXV, 4 f. Dem Bereich des natürlichen Seins wird das »subiectum« zugeordnet, dem des rationalen das »individuum« und dem des moralischen Seins wird die »persona« zugeteilt: »[…] persona, individuum, subiectum, quod ›persona‹ ad mores refertur et est nomen moris […].« 10 Alexander von Hales: Glossa. Lib. I, Cap. XXIII, 9b: »Persona est hypostasis distincta proprietate ad dignitatem pertinente.« 11 Alexander von Hales: Glossa. Lib. III, Cap. V, 20: »[…] sed substantia in qua est proprietas excellens est persona.« 12 Vergleiche auch Historisches Wörterbuch der Philosophie (HWPh), Band 7, »Person«, II., Basel 1974, S. 288 f.: Bonaventura, ein Schüler Alexanders, kommt das Verdienst zu, den Personbegriff auf jedes menschliche Individuum ausgeweitet zu haben. Da Vernunftnatur an sich eine Würde ist, die jedem Menschen als solchem zukommt, ist »Person« kein Gattungs- oder Artbegriff, sondern ein »in sich gegründetes Ganzes«, das sowohl auf Gott, als auch auf Engel, aber vor allem auf jedes einzelne Individuum zutrifft. HWPh, a. a. O., S. 289.

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»Substanz«, »Mensch« und »Person«. Dass das Ich zu einem späteren Zeitpunkt weiß, dass es in einem früheren Zeitpunkt eine Handlung begangen hat, konstituiert die Identität der Person. 13 Somit ist die Person keine der religiösen und moralischen Qualität des einzelnen Menschen vorausliegende Bestimmung seiner Würde mehr, sondern das Ergebnis eines subjektiven Prozesses. 14 Angelehnt an die (Leistungs-)Theorie des angelsächsischen Empiristen entwickelte Christian Wolff eine Definition, die sich am Selbstbewusstsein des Menschen orientiert, wenn er schreibt: »[…] hingegen weil die Menschen sich bewusst sind, dass sie eben diejenigen sind, die vorher in diesem oder jenem Zustande gewesen; so sind sie Personen.« 15 In Kontrast dazu steht die Anthropologie Immanuel Kants. Sie ist dualistisch geprägt von der menschlichen Zugehörigkeit sowohl zur Sinnen- wie zur intelligiblen Welt; Person ist das Subjekt, das beiden Welten zugehört. Die Person ist durch ihr Dasein an sich selbst ein absoluter Wert, mithin ein Zweck an sich selbst und erreicht durch die freie Selbstgesetzgebung des moralischen Gesetzes Autonomie. 16 Nur ein Zweck an sich selbst kann ein objektives Prinzip des Willens begründen; da die Person selbst ein Zweck an sich ist, entwickelt Kant die zweite Ausprägung des kategorischen Imperativs zur Pflicht der unbedingten Achtung der Würde der Person in ihrer bloßen Existenz zum einen in der eigenen, zum anderen in der fremden Person. 17 Im moralischen Handeln des Menschen geht es demnach darum, ein Interesse an der Person als Person zu entwickeln. Die Würde des MenDieter Sturma: Person und Menschenrechte. In: ders. (Hrsg.): Person: Philosophiegeschichte, theoretische Philosophie, praktische Philosophie. Paderborn 2001, S. 340. 14 »Es ist zwar das Recht des Menschen, Person werden zu können, er kann es aber auch verspielen, wenn er nämlich gegen die Gesetze Gottes handelt.« HWPh, Band 7, »Person«, III., Basel 1974, S. 304 f. Das Menschenrecht spielt bei Locke eine staatsbegründende Rolle, der Schutz dieser stellt den einzigen Staatszweck dar. John Locke: On Civil Government. Book II, Kap. 2, §§ 4, 5; Kap. 19, § 224. 15 Christian Wolff: Vernünftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen. I. Abt. Bd. 2, § 924; vergleiche auch: ders.: Psychologia rationalis. II. Abt. Bd. 6, Sect. VI, Cap. II, § 741. 16 Kants Schriften werden nach folgender Ausgabe zitiert: Immanuel Kant: Kant’s Gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften und später v. d. Deutschen Akademie d. W. Berlin 1900 ff. – im folgenden AA, Band. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. AA, IV, S. 428: Es werden »vernünftige Wesen Personen genannt […], weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin so fern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist).« 17 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA, IV, S. 429. 13

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schen gehört in dieser Theorie genuin zur Konstitution des Menschen als Person. 18 Die Zuschreibung moralischer Dignität liegt nach Kant in der Möglichkeit vernünftiger Selbstbestimmung und der Achtung vor dem Sittengesetz. Hierin gründen die Selbstzweckhaftigkeit und die Würde des Menschen; diese nennt Kant »Persönlichkeit«, und aus dieser folgt unmittelbar die Pflicht der wechselseitigen Achtung. 19 Der kantische Begriff der »Person« ist die Brücke, die über den Graben von der Innenwelt zur Außenwelt führt: die natürliche Person mit ihren wahrnehmbaren Funktionen ist eine Realität; die moralische Person ist die natürliche Person wie sie sein soll. 20 Der Aspekt des konstitutiven »Anderen« findet seinen schärfsten Ausdruck in der freiheitszentrierten 21 Persontheorie von Johann Gottlieb Fichte. Er fixiert die Unablösbarkeit des Menschen aus interpersonalen Bezügen nicht nur als empirisches Faktum, sondern als apriorische Struktur, da gemäß seiner Theorie das Ich-Bewusstsein nur unter einer »Aufforderung des Subjekts zum Handeln« durch eine andere Person, »ein vernünftiges Wesen außer sich«, entstehen kann. 22 Dies ist der Ursprung der Sphäre des Rechts, 23 das Gegenüber wird konstitutiv für die eigene Personwerdung: »Der Inbegriff aller Rechte ist die Persönlichkeit; und es ist die erste und höchste Pflicht des Staats, diese an seinen Bürgern zu schützen. […] eine Pflicht, die so heilig und unverletzlich ist, als die, das Leben der Bürger zu schützen.« 24 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. AA, VII, S. 127: »Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person […], d. i. ein von Sachen […] durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen […].« 19 Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten. AA, VI, Tugendlehre, § 38, S. 462 f. Georg Mohr: Der Begriff der Person bei Kant, Fichte und Hegel. In: Dieter Sturma (Hrsg.): Person: Philosophiegeschichte, theoretische Philosophie, praktische Philosophie. Paderborn 2001, S. 115. 20 Vergleiche auch Nass: Person, Persönlichkeit und juristische Person, S. 35. 21 »Die Person ist frei.« Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre. I. Teil, 2. Hauptstück, § 5, IV. 22 Fichte: a. a. O., 1. Hauptstück, § 3, III; Fichte: a. a. O., V »Einer allein kann sich nicht als frei erfahren.« Mohr: Der Begriff der Person bei Kant, Fichte und Hegel, S. 126. Vgl. auch Fichte: Die Bestimmung des Menschen, 3. Buch, S. 299 und S. 259. 23 Das Recht wird aus dem »bloßen Begriffe der Person, als einer solchen« deduziert; es ist der Inbegriff dessen, was dazugehört, »daß jemand überhaupt frei, oder Person sei.« Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, I. Teil, 3. Hauptstück, § 8, I; Mohr: Der Begriff der Person bei Kant, Fichte und Hegel, S. 129. 24 Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, I. An18

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G. W. F. Hegels Personbegriff ist wie der Fichtes in eine Theorie interpersonaler Anerkennung eingebunden. Er ist allerdings der erste, der den Personbegriff definitorisch in die Sphäre des Rechts verlegt. 25 Nach seiner Theorie erfolgt eine wechselseitige Anerkennung, indem die Person Subjekt von Rechten wird. 26 Zum Wesen der Person gehört die Rechtsfähigkeit, d. h. die abstrakte Möglichkeit einer Willensäußerung, die sich im Rechtsgebot wechselseitiger Respektierung der Personen niederschlägt: »Das Rechtsgebot ist daher: sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.« 27 Die Rechtsfähigkeit wird zudem universal gefasst: »Es gehört der Bildung, dem Denken als Bewußtsein des Einzelnen in Form der Allgemeinheit, daß Ich als allgemeine Person aufgefaßt werde, worin Alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist […].« 28 Der »Wertpersonalismus« Martin Schelers beinhaltet sowohl die These der Selbstzwecklichkeit der Person, wie auch ihre Sozialität, aufgrund derer sie zu Solidarität mit den Mitpersonen aufgerufen ist, was ihren Status im Reich einer universalen Liebesgemeinschaft begründet. 29 Die Person ist für Scheler der Wert aller Werte, der die Forderung mit einschließt, die gesellschaftlichen Verhältnisse so zu gestalten, dass sie zur Bedingung der Wirklichkeit von Personen werden. 30 hang, 2. Abschnitt, § 10. Zudem enthält Fichtes Theorie bereits den Gedanken eines angeborenen Menschenrechts (Urrecht): »Der Begriff der Freiheit […] gibt den Begriff des Urrechts, desjenigen Rechts, das jeder Person, als einer solchen, absolut zukommen soll.« Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, I. Teil, 1. Kapitel, § 10. Die Person ist nach Fichte ein »durch seinen Willen in der Sinnenwelt wirksames, leibhaft-vernünftiges Individuum, das sich eine begrenzte Sphäre der Freiheit im Handeln zuschreibt, in reziproken Anerkennungsbeziehungen mit anderen Personen steht und diesen nach einem allgemeinen Rechtsgesetz ebenso jeweils begrenzte Freiheitssphären einräumt.« Mohr: Der Begriff der Person bei Kant, Fichte und Hegel, S. 119. 25 Mohr: Der Begriff der Person bei Kant, Fichte und Hegel, S. 132. 26 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer Systementwürfe. Band III, Philosophie des Geistes, I. b.: »In dem Anerkennen hört das Selbst auf, dies einzelne zu sein, es ist rechtlich im Anerkennen, d. h. nicht mehr in seinem unmittelbaren Dasein.« 27 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 36. 28 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 209. 29 Martin Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. In: Gesammelte Werke. Band 2. Bern 4 1954, S. 502 und 509. Zur Liebesgemeinschaft der Einzel- und Gesamtperson, vgl. S. 550. 30 Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, S. 508. HWPh, a. a. O., S. 316. A

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In neuerer Zeit vertritt Peter Strawson die These, dass die Rede von der Person nur in gesellschaftlichen Handlungszusammenhängen sinnvoll sei: »[E]s [ist] einfacher zu begreifen, wie wir einander und uns selbst als Personen betrachten können, wenn wir an erster Stelle die Tatsache bedenken, daß wir handeln, und zwar in Beziehung aufeinander und im Einklang mit einer allgemeinen menschlichen Natur.« 31 Dahingegen spricht sich Charles Taylor für die stärkere Variante aus, dass eine Person zu sein nicht »be understood simply as exercising set of capacities I have as an individual […]. On the contrary […]: I become a person and remain one only as an interlocutor.« 32 Diese Ansicht setzt mithin ein Gegenüber für das eigene Personsein voraus; es kann zudem nur sicher angenommen werden, dass in einer spezifischen Situation das Gegenüber eine Person ist, wenn diese Entität selbst auch in der Lage ist, einem Anderen Personalität zuzuschreiben. 33 Ein so verstandener Begriff der Person verweist mithin immer auf eine »Mitwelt« 34 , bzw. eine geteilte Lebenswelt. 35 Das Gegenüber als Handlungspartner wird vor allem in Vergemeinschaftungen sozialer Natur, mithin im Rechtsstaat relevant. Der Umgang mit dem Anderen als Handlungspartner macht aus ihm notwendig auch einen Rechtspartner. Aus der »Person« wird die »Rechtsperson«. 36

2.

Die »Rechtspersönlichkeit«

Die Verengung des Personbegriffs auf den Menschen im Rechtsleben erfolgte erst im 16. Jahrhundert. Seit Donellus begann ein spezifisch Peter Frederick Strawson: Einzelding und logisches Subjekt. Übers. v. Freimut Scholz. Stuttgart 1972, S. 144. 32 Charles Taylor: The Person. In: Michael Carrithers, u. a. (Hrsg.): The Category of the Person – Anthropology, Philosophy, History. Cambridge 1985, S. 257–281, hier: S. 276. 33 Sandra Ausborn-Brinker: Person und Personalität. Tübingen 1999, S. 165. 34 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin 2 1965, S. 293 ff. und 302 ff. 35 Ausborn-Brinker: Person und Personalität, S. 165. 36 Ähnlich schreibt auch Günter Jakobs: Norm, Person, Gesellschaft. Berlin 1997, S. 38: »Die Person wird […] durch ihr Verhältnis zu anderen Personen, also durch ihre Rolle bestimmt. Eine einzige Person ist ein Widerspruch in sich; Personen gibt es nur in einer […] Gesellschaft.« Sowie S. 39: »Allerdings gibt es nun einmal nur in einer normativen Ordnung Personen und Subjekte.« 31

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juristischer Sprachgebrauch, da bei ihm der Begriff der »persona« in technisch-juristischer Bedeutung den Menschen bezeichnet, der aufgrund der drei »status« des römischen Rechts (status libertatis, civitatis, familiae) zur Rechtspersönlichkeit erhoben wird und am Rechtsleben teilnimmt. 37 So wurde während der ganzen Zeit der so genannten Pandektenwissenschaft an der römischen Statuslehre festgehalten. 38 Der bedeutendste Naturrechtslehrer der Aufklärung, Samuel Pufendorf, verknüpft nun in seinem Personbegriff die rechtliche mit der moralischen Sphäre, indem er von der »persona moralis« als dem einzelnen Menschen inmitten eines Netzes rechtlich bedeutsamer moralischer Beziehungen zu seinen Mitmenschen entsprechend seines bestimmten, aber wechselnden »status« sprach, so dass der Mensch nicht aufgrund seines Menschseins sondern aufgrund der Inhabe verschiedener »status« rechtsfähig bzw. Rechtssubjekt war. 39 Mit der einflussreichen Theorie von Christian Wolff begann die naturrechtliche Verknüpfung von Personbegriff und genuin rechtlicher Verbindlichkeit: »Ohne Recht im Sinne einer Berechtigung keine Person und ohne Person kein Recht.« 40 Nach Wolffs Annahme folgt aus dem Wesen bzw. der Natur des Menschen unmittelbar eine objektive, konkrete und vor allem universale rechtliche Verpflichtung, aber auch Berechtigung, so dass jeder Mensch im »status naturalis« Person des Rechts ist. 41 Somit hat Wolff hinter den einzelnen »status« eine allgemeine Rechtsfähigkeit als das entscheidende Kriterium erkannt, das den Menschen zur Person macht, so dass das von H. Doneau: Commentarii de Jure civili II (1595). 9, §§ 1 ff. Helmut Coing: Der Rechtsbegriff der menschlichen Person und die Theorie der Menschenrechte. In: ders. (Hrsg.): Zur Geschichte des Privatrechtsystems. Frankfurt am Main 1962, S. 56–76, hier: S. 64 f. 39 Samuel Pufendorf: De Jure Naturae et gentium. Band 1. Lausanne 1744, Libr. I, Cap. I, § 12: »[…] personas morales, quae sunt homines singuli, aut per vinculum morale in unum systema connexi considerati cum statu suo […].«. 40 Zitiert nach: Martin Lipp: »Persona moralis«, »Juristische Person« und »Personenrecht« – Eine Studie zur Dogmen-Geschichte der »Juristischen Person« im Naturrecht und frühen 19. Jahrhundert. In: Quaderni Fiorentini per la Storia del Pensiero Giuridico Moderno. Heft 11/12 (1982/1983), Tomo I, S. 217–262, hier: S. 239. Vgl. auch: »Den homo moralis nennt Wolff eine fictio. Sie erfaßt den Menschen ausschließlich als normativ geprägte, genuin rechtlich verfaßte Person […].« Ebd., S. 240. 41 Christian Wolff: Institutiones Juris naturae et gentium. II. Abt., Bd. 26, Pars I, Cap. III, § 96: »Atque hinc status ejus moralis dicitur, qui per obligationes et jura determinatur.« 37 38

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Wolffs System beeinflusste »Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten« von 1791 in § 1 bestimmte: »Der Mensch wird, insofern er gewisse Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft genießt, eine Person genannt.« 42 Es erfolgte mithin eine klare Einschränkung der Personzuschreibung auf die Inhaber eines bestimmten »status«, der Rechte begründet. In Abgrenzung zur Wolffschen Philosophie hat Immanuel Kant seine bereits angesprochene Persontheorie entwickelt. Diese führt durch ihre Erweiterung zu einer Theorie der Rechtspersönlichkeit dazu, dass Kant genuine (Freiheits-)Rechte des Menschen aus dem Wesen des Menschen heraus, unabhängig von einem »status« proklamiert. Aus dem Faktum der Vernunft, der Person als Zweck an sich und der Selbstgesetzgebung des moralischen Imperativs folgt mithin die sittliche Grundlegung des Rechtsverhältnisses: »Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden anderen verbunden.« 43 Dem Menschen im Rechtsverhältnis kommt aufgrund des Personseins die Qualität als Rechtspersönlichkeit zu, die aufgrund des einzigen angeborenen »Rechts der Menschen« auf Freiheit 44 volle Rechtsfähigkeit besitzt. Allerdings nimmt Kant eine Möglichkeit des Verlusts der Rechtspersönlichkeit an, wie sie auch hier zur Debatte steht: Es ist ihm zufolge denkbar, dass jemand »sich durch ein Verbrechen seiner Persönlichkeit verlustig gemacht hat« und daraufhin »zum Eigentum eines anderen« gerechnet werden kann. 45 Das subjektive Recht ist nach Hegel Ausdruck der Freiheit der Person: die Rechtspersönlichkeit als die Fähigkeit subjektive Rechte zu besitzen, wird jetzt notwendiges Attribut des Menschen als sittlicher Person. 46 Ist der Mensch zu autonomem Handeln berufen, muss die Rechtsordnung ihn als Rechtspersönlichkeit anerkennen, ihm subjektive Rechte zuerkennen – Person im rechtlichen Sinne ist

Zitiert nach HWPh, Band 7, »Person«, IV, Basel 1974, S. 325. Hervorhebung durch Verfasserin. 43 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA, IV, S. 429. 44 Kant: Metaphysik der Sitten, AA, VI, Rechtslehre, S. 237 f. 45 Kant: Metaphysik der Sitten, a. a. O., S. 283 f. und 330. Vergleiche hierzu die späteren Ausführungen über die Strafe. 46 Coing: Der Rechtsbegriff der menschlichen Person und die Theorie der Menschenrechte, S. 70. 42

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der Mensch, der rechtsfähig ist. 47 Der Besitz und die Zuerkenntnis subjektiver Rechte wird somit konstitutiv für die Begriffe der »Person« und der »Rechtspersönlichkeit«; die Bedeutung dieser Rechte als »Recht der Person« soll nun untersucht werden.

3.

Das »Recht der Person«

Das »Recht der Person« oder auch das »Recht auf Persönlichkeit« entwickelte sich aus dem seit dem Deutschen Idealismus anerkannten Verständnis der Person mit der primären Qualität der Freiheit, aus der die Fähigkeit, subjektive Rechte zu besitzen und auszuüben, resultiert. Diese Freiheit wurde zu Zeiten der Französischen Revolution und der amerikanischen Bürgerkriege vor allem als Freiheit gegenüber einem übermächtigen Staat verstanden. Das »Recht der Person« beinhaltete somit primär die dem staatlichen Einfluss entgegen gesetzten Freiheitsrechte, deren Beachtung durch den Staat in den ersten menschenrechtlichen Katalogen mit Nachdruck gefordert wurde. 48 Das »Recht der Person« wurde somit zum allgemeinen »Menschenrecht«. Durch die Rezeption des Deutschen Idealismus in der Rechtswissenschaft wurde das Verständnis von der Rechtsperson im Sinne der notwendig allgemeinen Rechtsfähigkeit jedes Menschen zur herrschenden Meinung. Der Zusammenhang von »Recht der Person« und Personbegriff wurde sogar als reziprok angesehen: So bestimmte § 16 des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs von 1811: »Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte und ist daher als eine Person zu betrachten.« 49 Hier wird das Bedingungsverhältnis umgekehrt, da erst aus der Inhabe von spezifischen Rechten die Akzeptanz als Person Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 36; Coing: Der Rechtsbegriff der menschlichen Person und die Theorie der Menschenrechte, S. 57 und S. 70. Coing: ebd., S. 59, vertrat jedoch die damals noch herrschende Auffassung, dass ein allgemeines Persönlichkeitsrecht, verstanden als ein »subjektives Recht des einzelnen Menschen, von seinen Mitbürgern in seiner Würde als sittliche Person und seinem Eigenwert als individuelle Persönlichkeit geachtet zu werden«, von Rechtsprechung und Doktrin nicht anerkannt werde. 48 Virginia Bill of Rights (1776), Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen (1789), bemerkenswert auch: Déclaration des Droits de la Femme et de la Citoyenne (1791). 49 Zitiert nach HWPh, a. a. O., S. 328. 47

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resultiert. Diese Auffassung verfocht auch der damals einflussreichste Rechtsgelehrte, Friedrich Carl von Savigny. Dieser stellt fest, dass der ursprüngliche Begriff der »Person« synonym mit den Begriffen »Rechtssubjekt« und »Mensch« sei, woraus die Formel folge: »Jeder einzelne Mensch, und nur der einzelne Mensch, ist rechtsfähig.« 50 Diese Rechtsfähigkeit ist jedoch nicht uneingeschränkt gültig oder angeboren, denn das positive Recht »kann nämlich […] manchen einzelnen Menschen die Rechtsfähigkeit ganz oder theilweise versag[en].« 51 Es liegt mithin in der Kompetenz des positiv gesetzten Rechts, das Recht der Person wie auch die ursprüngliche Person des Menschen nicht nur einzuschränken sondern auch zu vernichten. 52 Der Rechtspositivismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts begründete die Qualität der Rechtspersönlichkeit nicht mehr philosophisch durch Bezug zum Personbegriff, der vermehrt durch den Begriff der »Rechtsfähigkeit«, als der Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten zu sein, verdrängt wurde, sondern mittels der faktischen Verleihung subjektiver Rechte durch die staatliche Rechtsordnung, so dass die »Person« ausschließlich hinsichtlich ihrer Leistung im Rahmen der Rechtsordnung bewertet wurde. Die »Person ist somit nicht ein Mensch, sondern die personifizierte Einheit der ein und denselben Menschen verpflichtenden und ermächtigenden Rechtsnormen« und ist insofern eine »juristische, von der Rechtswissenschaft geschaffene Konstruktion, ein Hilfsbegriff in der Darstellung rechtlich relevanter Tatbestände.« 53

Der Personbegriff wird zu dieser Zeit ausschließlich juristisch gefasst, er ist einschränkbar durch juristische Hoheitsakte; ein »Recht der Person« als solches existiert nur in dem Sinne, dass ein Mensch nur durch Rechte Person sein kann: »Person zu sein ist das Ergebnis eines Personifikationsakts der Rechtsordnung.« 54 Diese Entwicklung spitzte sich während der Zeit des NationalFriedrich Carl von Savigny: System des heutigen Römischen Rechts. Berlin 1840, Band 2, 2. Buch, 2. Kap., § 60, S. 2. 51 von Savigny: System des heutigen Römischen Rechts, ebd. 52 Vergleiche auch Georg Friedrich Puchta: Corporationen. In: Julius Weiske (Hrsg.): Rechtslexikon. Band 3. Leipzig 1841, S. 66: »Person ist der Mensch nur durch das Recht.« 53 Hans Kelsen: Reine Rechtslehre. Wien 2 1960, Nachdruck 2000, S. 178. 54 Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie. Studienausgabe. Hrsg. v. Horst Dreier/Stanley Paulson. Heidelberg 2 2003 (1932), S. 125 (128). Vergleiche auch, ebd.: »Niemand ist Person von Natur oder von Geburt […].« 50

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sozialismus auf groteske Weise zu. Die Person im Recht definierte sich vor allem über die »konkrete Gliedstellung des Einzelnen im Ganzen der konkreten Ordnung des lebendigen deutschen Volksrechts«, wodurch zwischen »Rassegenossen« als Rechtssubjekten und »Rassefremden« quasi als »Rechtsobjekten« unterschieden werden konnte, was dazu führte, dass der Personbegriff alsbald als »undeutsch« im Entwurf des Volksgesetzbuches von 1942 durch den Begriff des »Volksgenossen« ersetzt wurde. 55 Erst mit der Erarbeitung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1948 und 1949 wurde erneut klar, dass das Wesen des Menschen als Person und Rechtsperson und die damit einhergehenden Rechte der Person grundlegend reflektiert werden müssen. Das Fundament der deutschen Verfassung bildet die Würde des Menschen, die explizit als Achtungs- und Schutzauftrag an den Staat herauszustellen, das große Verdienst der Mitarbeiter des Parlamentarischen Rates zur Erstellung des Grundgesetzes ist. Die verbürgten Rechte der Person im Grundgesetz richten sich demnach an die Person, die als genuin würdige Rechtspersönlichkeit gefasst wird. Der Rechtsphilosoph Coing fasst die Auffassung der damaligen Zeit in Worte: »Weil der Mensch berufen ist, sittliche Person zu sein, muß er Rechtsperson sein und Rechte haben, um seine sittliche Freiheit in freiem Tun zu verwirklichen.« 56 Ein explizites »Recht auf Rechtspersönlichkeit« wurde schon kurz vorher in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) der Vereinten Nationen im Jahr 1948 festgeschrieben. Artikel 6 der AEMR verbürgt: »Jeder hat das Recht überall als rechtsfähig anerkannt zu werden.« Das Recht der Person auf Rechtspersönlichkeit, mithin Rechtsfähigkeit, ist seitdem fest mit dem Personbegriff verbunden, bzw. resultiert erst aus diesem. Die Systematik der verbürgten Rechte der AEMR verdeutlicht zudem, woher diese Rechte der Person stammen: Artikel 1 deklariert: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.« Die Wurzel aller folgenden Rechte liegt somit in der angeborenen Würde des Menschen. Der Glaube »an die Würde und den Wert der menschlichen Person«57 Zitiert nach HWPh, a. a. O., S. 333 f. Coing: Der Rechtsbegriff der menschlichen Person und die Theorie der Menschenrechte, S. 201. 57 Präambel, Abs. 5 der AEMR: »[…] da die Völker der Vereinten Nationen in der Charta ihren Glauben an die grundlegenden Menschenrechte, an die Würde und den Wert der menschlichen Person und an die Gleichberechtigung von Mann und Frau erneut 55 56

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brachte den Wunsch nach einer Festschreibung der hieraus resultierenden Rechte hervor. Der hier vorliegende apriorische Zusammenhang von Menschenwürde und Person ist somit evident. 58

4.

Die »Menschenwürde«

Hinsichtlich der Definition der Menschenwürde, die als Bestandteil der Person angetroffen wurde, lassen sich zwei wichtige Ansätze unterscheiden: Zum einen der definitorische und zum anderen der indefinitorische Ansatz. Der erstgenannte Ansatz nimmt prima facie an, dass die Würde des Menschen definitorisch fassbar ist, auch wenn die Begründungsansätze stark differieren. Es zählen hierunter so unterschiedliche Modelle wie jene, die die Würde als Mitgift oder Potential ansehen, als Eigenschaft werten, über Leistung zu erringen ansehen, oder in Form von Selbstdarstellungsakten bzw. als Repräsentation des Individuums verwirklicht sehen. Interne Unterschiede zeigen diese Theorien jeweils hinsichtlich der Graduierbarkeit des Besitzes der Würde, hinsichtlich des kategorischen oder kontingenten Schutzes, sowie hinsichtlich einer apriorischen Anerkennung oder aposteriorischen Zuschreibung. 59 In diesen Ansätzen wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass die Würde genuin eine Würde des Menschen ist; »[d]amit ist der Mensch der höchste Wert, der Grundwert.« 60 In moralischen Sätzen wird mit dem Prädikat »Würde« auf jeden Menschen Bezug genommen. 61 Auch wenn der Begriff »Würde« im allgemeinen Sprachgebrauch durchaus als individuelle Charaktereigenschaft gebraucht werden kann und in seiner Evolution weitgehend in diesem Sinne verwendet wurde, wird er von den Vertretern der Anbekräftigt und beschlossen haben, den sozialen Forschritt und bessere Lebensbedingungen in größerer Freiheit zu fördern, […].« 58 Es gibt allerdings auch Theorieansätze, die versuchen, den Menschenwürdebegriff unabhängig von seiner Verbindung zum Personbegriff zu fassen. Vergleiche hierzu Bernd Ladwig: Das Recht auf Leben – nicht nur für Personen. In: DZPh 1/2007, S. 17– 40. 59 Ähnlich auch Arnd Pollmann: Menschenwürde nach Maß. In: DZPh 4/2005, S. 611– 619. 60 Arno Baruzzi: Europäisches »Menschenbild« und das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Freiburg/München 1979, S. 105. 61 Thomas Rentsch: Die Konstitution der Moralität – Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie. Frankfurt am Main 1999, S. 254.

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sicht, dass Menschenwürde begrifflich zuordenbar sei, in seiner egalisierenden und nur selten in seiner differenzierenden Bedeutung verwendet. 62 In egalisierender Bedeutung wird für den Begriff »Würde« klar, dass er nur im Singular gebraucht werden kann, da er den »Anspruch des Menschseins schlechthin« 63 bezeichnet. Die nicht nur individuelle, sondern auch soziale Komponente der Menschenwürde jedes Menschen darf zudem in einer Definition nicht außer Acht gelassen werden. Der Mensch für sich allein kann kein würdiges Leben führen, wenn er dies nicht ebenso allen anderen zugesteht. 64 Aus diesem Grund sieht auch Peter Häberle in der definierten Menschwürde den »Du-Bezug« von vornhinein mitgedacht, da die Anerkennung der »gleichen Menschenwürde des Anderen« die »dogmatische Brücke zur Du-bezüglichen Einbettung der Menschenwürde des Einen« bildet. 65 Auf der anderen Seite der Debatte wird der Begriff der »Würde« als »vieldeutiges, schwer faßbares Allerweltswort«, 66 als »Einfallstor für Partikularethiken« 67 oder als »Wunschbegriff« 68 und »absolute Metapher« 69 bezeichnet und somit seine Gefährdung, beziehungsweise Unfassbarkeit ausgedrückt. Franz Josef Wetz führt hierzu aus, dass dem Würdebegriff von mehreren Seiten die Zersetzung drohe: während der »weltanschauliche Neutralitätsanspruch des säkularen Staates« den Ausdruck Menschenwürde gänzlich zu entleeren drohe, Zur näheren Unterscheidung siehe auch Wolfgang Huber: Unantastbare Menschenwürde – Gilt sie von Anfang an? In: Eckart Klein, u. a. (Hrsg.): Menschheit und Menschenrechte – Probleme der Universalisierung und Institutionalisierung. Berlin 2002, S. 221–238, hier: S. 223 f. 63 Heiner Bielefeldt/Winfried Brugger/Klaus Dicke: Einleitung. In: Heiner Bielefeldt (Hrsg.): Würde und Recht des Menschen. Festschrift für Johannes Schwartländer. Würzburg 1992, S. 7–11, hier: S. 7. 64 Rentsch: Die Konstitution der Moralität – Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, S. 254. Zu beachten ist allerdings, dass vor allem Leistungstheorien auf eine gegenseitige Anerkennung der gleichen Würde verzichten. 65 Peter Häberle: Europäische Verfassungslehre. Baden-Baden 2001/2002, S. 287. 66 Franz Josef Wetz: Die Würde des Menschen ist antastbar – Eine Provokation. Stuttgart 1998, S. 277. 67 Horst Dreier: Grundgesetz. Kommentar. Band I. Tübingen 2 2004, Art. 1 Abs. I, Rn. 49. 68 Niklas Luhmann: Grundrechte als Institution – Ein Beitrag zur politischen Soziologie. In: Schriften zum Öffentlichen Recht. Band 24. Berlin 1965, S. 68 f. 69 Susanne Baer: Menschenwürde zwischen Recht, Prinzip und Referenz. In: DZPh 4/ 2005, S. 571–588, hier: S. 573, im Hinblick auf die Tatsache, dass eine Referenz auf die Menschenwürde nicht begründet werden muss, sondern etwas als unstreitig stellt. 62

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würde der starke »Anthropozentrismus der abendländischen Geistesgeschichte« dazu neigen, die Würdeidee zu überspannen, wohingegen wiederum die »modernen Naturwissenschaften und der philosophische Naturalismus« im Begriff seien, das »stolze Wort Würde« zu zerstören. 70 Es finden sich zudem einige weitere Vertreter, die aus der Nichtdefinition zudem eine Unbestimmbarkeit des Schutzbereichs der Würdenorm ableiten. Wolfgang Huber geht sogar soweit, dass er proklamiert, dass »eine abschließende Definition der Menschenwürde […] eine angemaßte Herrschaft über die Menschen mit den Mitteln des Begriffs« darstellen würde 71 und stattdessen gerade die Begründungsoffenheit des Menschenwürdebegriffs eine notwendige Voraussetzung dafür sei, dass »die Menschenwürde zur Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt« werden konnte. 72 Nichtsdestotrotz wird die Würde unisono als elementarer Bestandteil des Menschen angesehen, der entweder aufgrund seiner spezifischen Begründbarkeit oder aufgrund seiner spezifischen Unbegründbarkeit den Wert der menschlichen Person ausmacht. In der Diskussion um die Fassbarkeit der Menschenwürde stellt sich des Weiteren noch die Frage nach der Erlangung der Würde. Wird sie teilweise als dem Menschen angeboren 73 und als notwendig kausale Bedingung der Verwirklichung des menschlichen Seins angesehen, 74 gibt es dagegen auch Vertreter der gegenteiligen Ansicht, die Würde müsse verliehen werden. Die letztgenannte Ansicht vertritt Ernst Tugendhat, wenn er schreibt, dass wir einem Menschen Würde und einen »absoluten Wert« »verleihen«, indem wir »einen Menschen als ein Rechtssubjekt achten und das heißt als ein Wesen, demgegenüber wir absolute Pflichten haben«. 75 Mit dieser Auffassung wird ein besonderer, da reziproker Zusammenhang von Rechtsperson und Menschenwürde vertreten: Erst die Anerkennung als RechtsperWetz: Die Würde des Menschen ist antastbar – Eine Provokation, S. 146. Huber: Unantastbare Menschenwürde – Gilt sie von Anfang an?, S. 226. 72 Huber: Unantastbare Menschenwürde – Gilt sie von Anfang an?, S. 227. 73 Vergleiche z. B. die Präambel und Artikel 1 der AEMR. 74 U. a. Günther Dürig: Artikel 1 GG. In: Theodor Maunz/Günther Dürig (Hrsg.): Kommentar zum Grundgesetz. Band I, Art. 1–11. München 2003, in der Fassung der ersten Auflage, Art. 1 Abs. 1, Rn. 17 f. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die Würde des Menschen war unantastbar. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 03. 09. 2003, Nr. 204, S. 33. Ebenso: Carlos Nino: The Ethics of Human Rights. Oxford 1991, S. 34. 75 Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt 1993, S. 145. 70 71

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son verleiht menschliche Würde und nicht umgekehrt. Dies könnte dahingehend verstanden werden, als ob die Möglichkeit eines Verlusts der Menschenwürde bestehe, in einem Fall, in dem einem Wesen die Achtung als Rechtssubjekt versagt bliebe und die »absoluten Pflichten« diesem Wesen gegenüber nicht anerkannt und übernommen würden. Die Geschichte vor allem des 20. Jahrhunderts zeigt, dass einer Person faktisch die Achtung als Rechtssubjekt verweigert werden, der Mensch durch Hoheitsakte seiner Mitmenschen all seiner (Menschen-)Rechte verlustig gehen kann. Es stellt sich allerdings die Frage, wie weit der Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Menschenwürde geht, ob der Verlust der fundamentalen angeborenen Rechte gleichzeitig zu einem Verlust der angeborenen Menschenwürde führt? Diese Problematik wurde in der Literatur eingehender diskutiert, als die weitergehende und hier relevante Frage nach der Möglichkeit einer Vernichtung des Personstatus. Der essentielle Zusammenhang von Menschenwürde und »Person« lässt es plausibel erscheinen, die Diskussion zum Verlust der Menschenwürde beispielhaft zu betrachten. Dass ein Verlust der Menschenrechte einer Person nicht zwingend den gleichzeitigen Verlust ihrer wesentlichen menschlichen Qualität, ihrer Menschenwürde, bedeutet, konstatiert unter anderem Hans-Richard Reuter. 76 Er erläutert seine Ansicht anhand der in Artikel 1 Absatz 1 des deutschen Grundgesetzes gewählten Formulierung: »Die Würde des Menschen ist unantastbar«, die zum Ausdruck bringe, dass »[…] diese Würde in einer Sphäre gründet, die dem Dualismus von Sein und Sollen vorausliegt: besagt sie doch sowohl, daß die Menschenwürde nicht angetastet werden darf, wie auch, daß sie in einer bestimmten Hinsicht gar nicht angetastet werden kann.« 77 Diese Ansicht war jedoch nicht herrschende Meinung zu Zeiten der Erstellung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat. Der Abgeordnete im Ausschuss für Grundsatzfragen und Berichterstatter des Hauptausschusses, Hermann von Mangoldt, äußerte sich zur Bedeutung der Menschenwürde in Artikel 1 Grundgesetz konkret: »Ich bin mir ganz klar darüber, daß es Menschenwürde nicht Hans-Richard Reuter: Relativistische Kritik am Menschenrechtsuniversalismus? In: ders. (Hrsg.): Ethik der Menschenrechte (= Zum Streit um die Universalität einer Idee, Band 1; Religion und Aufklärung, Band 5). Tübingen 1999, S. 75–102, hier: S. 83. 77 Reuter: Relativistische Kritik am Menschenrechtuniversalismus?, S. 100. 76

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ohne Anerkennung von Menschenrechten und Freiheiten gibt. Ohne die Anerkennung einer verantwortungsbewußten und in sich freien Persönlichkeit gibt es keine Menschenwürde.« 78 Es ist für diese Debatte allerdings unbedingt zu beachten, dass hier ein unterschiedlicher Begriff der Menschenwürde vorliegt. Reuter fasst die Menschenwürde des Grundgesetzes als ein ideales Prinzip, das als ethisches Fundament der Rechtsordnung dient und diese in sich legitimiert. Von Mangoldt dagegen sieht in der Menschenwürde des in der Entstehungsphase befindlichen Grundgesetzes eine tatsächliche Qualität des Menschen, die durch Anerkennungsprozesse der Person zukommt. Es herrscht hier eine Differenz zwischen Sein und Sollen, zwischen realer Verletzung oder Aberkennung der Menschenwürde und idealer Bedeutung der Menschenwürde. Die Möglichkeit einer Verletzung der Menschenrechte wie auch der Menschenwürde schließt ihre Stellung als ethisches Fundament der Beziehung zwischen Individuum und Staat jedoch nicht aus. Insofern muss auch dem zeitgenössischen Kritiker des Grundgesetzes widersprochen werden, der konstatiert: Unmöglich kann man ferner behaupten, daß die Anerkennung jener »ewigen Rechte« die Grundlage aller menschlichen Gemeinschaft bilde. Es gab in der Vergangenheit und es gibt leider in der Gegenwart sehr fest gefügte menschliche Gemeinschaften, welche die Menschenrechte und die Menschenwürde der von ihnen unterjochten oder bekämpften oder verfolgten Menschen mißachten. 79

Ebenso argumentiert auch der Provokateur Wetz, der die Antastbarkeit der Menschenwürde vertritt, wenn er behauptet, dass zwar die Würde unzerstörbar aber durchaus verletzlich sei, da nur dies den Grund liefern würde, sie als unverletzlich zu normieren, 80 wie dies Hermann von Mangoldt, in der 22. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 18. 11. 1948. In: Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle. Band 5/II: Ausschuss für Grundsatzfragen. Bearb. v. Eberhard Pikart/Wolfram Werner, hrsg. von Kurt Wernicke für den Deutschen Bundestag und das Bundesarchiv. Boppard am Rhein 1993, S. 590. Vergleiche auch Verena Krenberger: Anthropologie der Menschenrechte – hermeneutische Untersuchungen rechtlicher Quellen. Würzburg 2008. 79 Richard Thoma: Kritische Würdigung des vom Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rates beschlossenen und veröffentlichten Grundrechtskatalogs vom 25. 10. 1948. In: Der Parlamentarische Rat, Band 5/I: Ausschuss für Grundsatzfragen, a. a. O., S. 362. 80 Wetz: Die Würde des Menschen ist antastbar – Eine Provokation, S. 74. Wetz scheint in diesem Sinne die Menschenwürde als eigenständiges Recht aufzufassen, wenn er sie 78

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im Grundgesetz geschehen ist. Allein die Möglichkeit einer Verletzung der Menschenwürde wird hier in ungerechtfertigter Weise (dazu ausgiebiger in der Schlussfolgerung) zur Legitimation der Ablehnung eines Ideals herangezogen. Zur Auseinandersetzung mit dieser Kritik soll nun ein Rekurs auf faktische historische Beeinträchtigungen stattfinden.

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Historische Beispiele

Es finden sich in der Geschichte der Menschheit viele Beispiele für die faktische Verletzung jeglicher Rechte des Menschen. Ob diese Verletzung auch als solche erkannt wird, hängt von der jeweiligen historischen Situation, dem jeweilig herrschenden Ethos und Menschenbild ab. War in der Antike ein bestimmter Kreis von Personen a priori von der Möglichkeit, Rechte inne zu haben und somit auch von einer Verletzung dieser ausgeschlossen (Sklaven, Unfreie, Frauen, Kinder), weitete sich der Personbegriff bis heute zu einem universal gültigen Qualitätsmerkmal jedes Menschen. Somit wurden auch Rechtsverletzungen, die in früherer Zeit nicht als solche bezeichnet wurden, heute zu schwerwiegenden Angriffen auf den Kernbereich der Person. Als Beispiel sei die Todesstrafe genannt, die noch in ausgeprägten Theorien wie dem Talionsprinzip Kants 81 moralisch legitimiert wurde und heute in der Mehrzahl der Länder als verbannungswürdig angesehen wird und abgeschafft wurde. 82 Die zeitliche Wandelbarkeit des Menschenbildes und der der Person zugeschriebenen Rechte darf nicht unterschätzt werden. Doch die hier gestellte Frage nach der Möglichkeit der Negierung der Personqualität verlangt eine Auseinandersetzung mit den Folgen einer faktischen Verletzung der fundamentalen Rechte des Menschen. Es soll hinterfragt werden, ob die Absprache der Menals verletzbar konzipiert. Dies widerspricht der im Schlusskapitel ausformulierten Auffassung, nach der die Menschenwürde der allgemeine Legitimationsgrund für den Menschen ist, Rechte zu haben, da nicht nur vom nationalstaatlichen Konstrukt des Art. 1 Abs. 1 GG ausgegangen werden soll. 81 Vergleiche hierzu das berühmte Inselgleichnis, Kant: Metaphysik der Sitten, AA, VI, S. 331. 82 Laut Amnesty International praktizierten 2006 noch 69 Länder die Todesstrafe, 128 Länder haben sie abgeschafft; Amnesty International, Zahlen und Fakten zur Todesstrafe, http://www.amnesty.de (Stand Juli 2007). A

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schenrechte eine Verneinung der Qualität einer Person mit sich führt. Die von fundamentalen Verletzungen der Menschenrechte geprägte Epoche des Dritten Reiches (a), wie auch das Problem von staatlicher Strafe allgemein und der aktuellen Entwicklungen des Strafvollzugs (b) sollen als Anschauungsobjekte des Umgangs mit den Rechten der Person dienen. 5.1. Der Nationalsozialismus Der Nationalsozialismus beinhaltete schon durch die ihm zugrunde liegende xenophobe Theorie eine Ausgrenzung Anderer. Der Wunsch nach »Reinhaltung« der eigenen Rasse führte zu grotesker Argumentation hinsichtlich »Rassefremden« und »Volksgenossen«. 83 Der Personbegriff war von vornherein auf Angehörige der »richtigen Rasse« beschränkt. Die Geschehnisse während des Dritten Reiches insgesamt, aber insbesondere in den Konzentrationslagern waren geprägt von einer eklatanten Missachtung der Personqualität ganzer Menschengruppen. Insbesondere die Konzentrationslager waren zudem darauf angelegt, Menschen aufgrund einer bestimmten Eigenschaft, die wider die nationalsozialistische Ideologie war, zu vernichten. Dies hatte zum einen nicht nur zur Folge, dass die Inhaftierten zu Nummern degradiert in ihren ureigensten Rechten verletzt wurden, sondern zum anderen, dass sie an sich nicht als Menschen mit spezifischen Rechten, mithin als Personen, anerkannt wurden. Ihnen wurde mit der Absprache der fundamentalen Rechte zugleich die Akzeptanz als Rechtspersönlichkeit versagt. 84 Zitiert nach HWPh, a. a. O., S. 333 f. »Die Verletzung der Menschenwürde hat unter dem Nazi-Regime eine große Rolle gespielt. Worin hat sie bestanden? Sie hat gelegen in der Verletzung der Rechtspersönlichkeit des Menschen, in der Verletzung des Mindeststandards an Rechten, die die Rechtspersönlichkeit ausmachen.« Hermann von Mangoldt in der 4. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 23. 09. 1948. In: Der Parlamentarische Rat, Band 5/I, a. a. O., S. 71. Jedoch muss hier wiederum zwischen Sein und Sollen, zwischen realer Negation der Personqualität der Häftlinge und idealer tatsächlicher Unverletzbarkeit der Personqualität unterschieden werden. Wenn auch die faschistischen Ideologen eine Anerkennung bestimmter Volksgruppen und Minderheiten als Personen verweigerten, ist damit über deren tatsächliche Personqualität noch nichts ausgesagt. Es bleibt die im Schlusskapitel zu beantwortende Frage bestehen, ob durch das Verhalten der Nationalsozialisten in den Konzentrationslagern nur vermeintlich oder auch tatsächlich die Personqualität der Inhaftierten verneint wurde.

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In Reaktion auf die Gräuel des Dritten Reiches entstand bei den Alliierten und anderen Staaten der Welt der Wunsch nach einem staatenbindenden Dokument, das solche Geschehnisse künftig verhindere. 85 Es war allen Beteiligten klar, dass der Zweite Weltkrieg und vor allem die Konzentrationslager nicht nur ein Beispiel dafür geliefert haben, wozu Menschen fähig sind, sondern dass hier an den Grundfesten der Menschheit gerüttelt wurde. Der Umstand, dass in den Konzentrationslagern Menschen unter Missachtung ihrer menschlichen Würde eliminiert wurden, erschütterte das »Gewissen der Menschheit«. 86 Die Erfahrung der nationalsozialistischen Gräuel machte es darum nötig, für die Menschenrechte nach einem sicheren, absoluten Grund zu suchen, der als in der Menschenwürde gegeben angesehen wurde. 87 Wäre es möglich, die Würde des Menschen, den Kernbereich seiner Persönlichkeit zu zerstören, wäre eine gesellschaftliche Moral nicht mehr möglich. Mit den Worten des Friedensnobelpreisträgers und »Vaters« der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR), René Cassin, französischer Delegierter und Berichterstatter der Commission on Human Rights: The recent example of Hitler, who had shown it was possible to impose the concept that a whole class of individuals could be deprived of a large part of their elementary civil rights, made it all the more essential that these fundamental rights should be guaranteed. That was quite a different matter from

Leela Damodara Menon, indische Delegierte in der Commission on Human Rights zur Erstellung der AEMR: »The universal declaration of human rights was born from the need to reaffirm those rights after their violation during the war.« United Nations General Assembly, Third Session, First Part, Official Records, A/PV. 136–187, 182nd plenary meeting, 10. 12. 1948, 118th Continuation of the discussion of the Draft Universal Declaration of Human Rights, report of the Third Committee (A/777), S. 893 f. Ebenso: Charles Malik, libanesischer Delegierter und stellvertretender Chairman der Commission on Human Rights: »In recent years, men had arisen who embodied the worst aspects of human nature and had trampled on the dignity of the human being. That was the reason for the present desire to make the future safe against the recurrence of such monstrosities.«; E/CN.4/AC.1/SR.21, Summary record of the twenty-first meeting, 04. 05. 1948, Commission on Human Rights (CHR), Drafting Committee, second session, S. 6. 86 »[…] da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen […].« Präambel, Absatz 2, AEMR. 87 Stefan Gosepath/Christoph Menke: Stichwort Menschenwürde. In: DZPh 4/2005, S. 567–569, hier: S. 569. 85

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a mere denial of the juridical personality, which in fact amounted to telling the individual that he was non-existent. 88

Mit der Aufnahme der Menschenwürdenorm in den Grundrechtsteil des Grundgesetzes im Anschluss an die Diskussionen um die Entstehung der Allgemeinen Erklärung wurde der nationalsozialistischen Lehre vom »lebensunwerten Leben« mit ihrer Annahme von »Ballastexistenzen« verfassungsrechtlich der Boden entzogen. 89 Doch ebenso gefährlich wie die genannten eklatanten Verletzungsvorgänge sind die heimlichen »Wertperversionen«, die den Menschen als Person entmachten und dem unpersönlichen »Ding«, dem »Es« unterordnen, den »Personwert« demnach unter den »Sachgüterwert« stellen. 90 Diese schleichende Objektivierung kann auch und vor allem im Umfeld einer totalen Institution wie der Strafanstalt auftreten. 5.2. Der Umgang mit Straftätern Der Ausschluss bestimmter Personengruppen vom Genuss der Menschenrechte ist ein widersprüchliches Kapitel der Entstehungsgeschichte der AEMR. Gründet sich doch die gewünschte Universalität der Erklärung gerade auf den Rekurs auf den Menschen an sich und seiner Rechte, ist der Ausschluss einer Personengruppe äußerst widersinnig, ja willkürlich und widerspricht dem Wunsch nach Allgemeingültigkeit und Schutz des Individuums vor dem übermächtigen Staat. 91 Die unisono vorherrschende Überzeugung, dass einige Rechte der AEMR nicht für Straftäter zu gelten hätten, 92 kann sich nur aus dem Wunsch heraus erklären, ein Wiederaufflammen der E/CN.4/AC.1/SR.37, 18. 05. 1948, CHR, Drafting Committee, second session, Summary record of the thirty-seventh meeting, discussion of the Draft Declaration of Human Rights, S. 6. 89 Dreier: Grundgesetz. Kommentar, Art. 1 Abs. 1, Rn. 65. 90 Maunz/Dürig (Hrsg.): Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1, Rn. 33 (in der Fassung der 1. Auflage). 91 Dieser Widerspruch wurde erstaunlicherweise hinsichtlich der Religionsfrage auch aufgedeckt: Valery Bogomolov, sowjetischer Delegierter: »He also reminded the Representatives [that the declaration] was meant for mankind as a whole, whether believers of unbelievers.«; E/CN.4/SR.37, 13. 12. 1947, CHR, second session, Summary record of the thirty-seventh meeting, S. 12. 92 »The Chairman said that criminals had no right of asylum.« E/CN.4/AC.2/SR.5, 08. 12. 1947, CHR, second session, Summary record of the fifth meeting, S. 5. 88

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Gräuel des Zweiten Weltkrieges für immer zu verhindern, da zu Beginn unter »Straftäter« genuin der faschistische Straftäter verstanden wurde. 93 So wurden einige Textvorschläge insbesondere zum Asyl- und Nationalitätenrecht unterbreitet, die von vornherein Straftäter ausschlossen: Everyone shall have the right to seek and be granted asylum from persecution. This right shall not be accorded to criminals nor to those whose acts are contrary to the principles and aims of the United Nations. 94

Die Erklärung garantiert der Menschheit Rechte, doch nach Auffassung der Delegierten konnten diese Rechte individuell verwirkt werden, wenn eine Person gegen den Geist der AEMR verstößt, indem sie die Menschenrechte anderer verletzt. 95 Im Sinne dieser generalisierenden Formulierung hinsichtlich »criminals«, wäre es denkbar, dass unabhängig von der Art der Verurteilung bestimmte Rechte legal und von vornherein abgesprochen werden. 96 Diese zur Basis der AEMR in der Natur des Menschen so widersprüchlichen Formulierungen lassen sich wohl ausschließlich über die anzutreffende UnterEleanor Roosevelt, Chairman of the CHR: »[She] thought that the Group, when drafting the present Article, should not have in mind the elimination of fascists, as they were to be regarded as criminals, and as such, did not come within the present definition.« E/CN.4/AC.2/SR.2, 05. 12. 1947, CHR, second session, Summary record of the second meeting, S. 5. 94 Diese Formulierung wurde angenommen. E/CN.4/AC.2/SR.5, 08. 12. 1947, CHR, second session, Summary record of the fifth meeting, S. 8. Ähnlich: »Everyone has the right to a nationality. All persons who do not enjoy the protection of any Government shall be placed under the protection of the United Nations. This protection shall not be accorded to criminals nor to those whose acts are contrary to the principles and aims of the United Nations.« E/CN.4/60, 13. 12. 1947, Belgian Amendment to Article 18 of draft Declaration on Human Rights. 95 Charles Malik (Libanon): »The Declaration granted all kinds of rights to mankind. Persons who were opposed to the spirit of the Declaration or who were working to undermine the rights of men should not be given the protection of those rights.« E/ CN.4/SR.41, 16. 12. 1947, CHR, second session, Summary record of the fourty-first meeting, S. 7. 96 »The second part seems to say that criminals and persons who have acted ›contrary to the principles and aims of the United Nations‹, are not to be granted asylum from persecution. This would mean that once convicted of a crime or once having acted contrary to those principles and aims the offender forfeits his right to asylum, on whatever ground he may be persecuted.« E/CN.4/85, 01. 05. 1948, CHR, third session, collation of the comments of governments by the secretariat, General Comments on the Declaration by the Union of South Africa on Article 11, S. 24. 93

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scheidung von Individuen und Gruppen verständlich machen. Das Menschenbild der Delegierten war geprägt von der Vorstellung des sozialen Menschen, der sich von Geburt an ausschließlich in sozialen Bezügen bewegt. Insofern wurde eine Person als Individuum fast undenkbar ohne ihren Bezug zu einer Personengruppe. 97 Diese Praxis der AEMR entspricht der in Deutschland lange Zeit vorherrschenden »Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis« des Straftäters zum Staat. 98 Strafe als hoheitlicher Akt im institutionellen Sinn ist die staatliche Maßregelung eines Individuums, das gegen die Normen der Gesellschaft verstoßen hat. Das Ziel und der Zweck der Strafe in Deutschland haben sich im Laufe der Zeit gewandelt: von der früheren Vergeltungsstrafe 99 zum heutigen Behandlungsvollzug. 100 Diese Entwicklung hing vor allem mit der Änderung des Menschenbildes des von der und durch die Gesellschaft abgesonderten Inhaftierten zusammen. Zwar finden sich auch heute noch Verfechter der These, dass ein Straftäter ab einem bestimmten Grad der Schwere der Schuld »ein Unmensch, ein Nichtmensch und damit ein ›Niemand‹« sei, 101 der Einschränkungen seiner subjektiven Rechte zu Vergleiche hierzu: Charles Malik (Libanon): »He maintained that society was not composed of individuals, but of groups, of which the family was the first and most important unit; in the family circle the fundamental human freedoms and rights were originally nurtured.« E/CN.4/SR.37, 13. 12. 1947, CHR, second session, Summary record of the thirty-seventh meeting, S. 11 f. Ebenso: René Cassin (France): »He did not think it was possible to disregard human groups and to consider each person only as an individual.« E/CN.4/AC.1/SR.38, 18. 05. 1948, CHR, DC, second session, Summary record of the thirty-eighth meeting, S. 7. 98 BVerfGE 57, 170 ff. (183). Diese Lehre ließ es zu, aufgrund der besonderen Situation, in der sich der Strafgefangene dem Staat gegenüber befindet, »die Grundrechte des Strafgefangenen in einer unerträglichen Unbestimmtheit zu relativieren.« BVerfGE 33, 1, 10. 99 Zur Diskussion der einzelnen Straftheorien vergleiche auch Wolfgang Kersting: Zur philosophischen Begründung der Strafe. In: Hans-Helmuth Gander/Monika Fludernik/ Hans-Jörg Albrecht (Hrsg.): Ethik des Strafens. Würzburg 2008, S. 3–46. 100 Vergleiche zur Entwicklung moderner Therapieansätze im Behandlungsvollzug: Verena Krenberger: Psychoanalyse im modernen deutschen Strafvollzug: Untersuchung der Geeignetheit unter philosophischen Gesichtspunkten. Stuttgart 2003. 101 Zitat von Andreas Ohlsen (Richter am Landgericht Berlin) in einem Leserbrief an den Berliner Tagesspiegel vom 19. 12. 2004 im Zusammenhang mit der Aufhebung des Folterverbots nach Art. 13 EMRK für »Entführer und Mörder«, mit dem Zusatz: »Und ›Niemand‹ darf bekanntlich der Folter unterzogen werden.« Zitiert aus: Uwe Wesel: Das Fiasko des Strafrechts. In: Die Zeit, Nr. 49 vom 01. 12. 2005, Zeitläufe, S. 96. Eine Vernichtung der Person des Straftäters wäre nach dieser Auffassung von Staats wegen sogar angezeigt. 97

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erdulden habe, doch sind dies heute nur vereinzelte Ausnahmen. Wurde der Straftäter und Inhaftierte früher primär als Gesetzesbrecher und Außenseiter der Gesellschaft angesehen, wird er heute weiterhin als zwar gestraucheltes Mitglied der Gemeinschaft anerkannt, dem aber mit geeigneten Maßnahmen der Weg zurück zur vollwertigen Teilhabe an der Sozialität geebnet werden soll. 102 Nicht Vergeltung, Besserung oder Erziehung, sondern die Resozialisierung, bzw. primäre Sozialisation des Straftäters ist das Ziel des heutigen (Erwachsenen-)Strafvollzugs. 103 Hierbei sollen dem Gefangenen »Fähigkeit und Willen zu verantwortlicher Lebensführung vermittelt werden, er soll es lernen, sich unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft ohne Rechtsbruch zu behaupten […].« 104 Das Sozialisationsziel des Strafvollzuges folgt heute den beiden zentralen Verfassungsgrundsätzen: dem Gebot der Achtung der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip. 105 Als Träger der aus der Menschenwürde folgenden und ihren Schutz gewährleistenden Grundrechte muss der verurteilte Straftäter die Chance erhalten, sich nach Verbüßung seiner Strafe wieder in die Gemeinschaft einzuordnen. 106 Strafe im modernen Behandlungsvollzug wird so zu einer auf Achtung der Person ausgerichteten Hilfe zur Wiedereingliederung in die verantwortliche Gesellschaft. Dieser revolutionäre Wandel des Vollzugsziels begann mit dem Grundsatzurteil des Bundesverfas-

102 Zur Entwicklung des Behandlungsvollzugs vergleiche u. a. Frieder Dünkel: Vom schuldvergeltenden Strafvollzug zum resozialisierenden Justizvollzug. In: Ulrich Sievering (Hrsg.): Behandlungsvollzug. Frankfurt am Main 1987, S. 158–223; Rudolf Egg: Die Entwicklung des Behandlungsgedankens im Strafvollzug in der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis heute. In: Helmut Kury (Hrsg.): Gesellschaftliche Umwälzung. Freiburg 1992, S. 485–495. 103 Zur Paradoxie der Re-sozialisation bei offensichtlich nicht sozialisierten Straftätern, vergleiche Klaus Laubenthal: Strafvollzug. Berlin u. a. 3 2003, S. 53, Rn. 123: »Zum Ziel des Vollzugs der Freiheitsstrafe wird damit häufig erst das Bemühen um ein Nachholen der Sozialisation – eine Ersatz-Sozialisation.« Bezüglich des Unterschiedes im Vollzugsziel des Jugendstrafvollzugs: Laubenthal: Strafvollzug, S. 337 f., Rn. 744; Ellen Schlüchter: Plädoyer für den Erziehungsgedanken. Berlin u. a. 1994. Zur aktuellen Diskussion über die Aufnahme des Schutzes der Allgemeinheit als weiteres Vollzugsziel in das Strafvollzugsgesetz: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes durch die hessische Landesregierung, BR-Drs. 910/02 vom 20. 12. 2002. 104 BVerfGE 35, 202 ff. (235). 105 Ersteres aus Art. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz, letzteres aus Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 Grundgesetz. 106 BVerfGE 35, 202 ff. (235 f.).

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sungsgerichts zum Fall »Lebach«. 107 Wurde zuvor der Gefangene wie geschildert in einem »besonderen Gewaltverhältnis« gegenüber den Institutionen des Staates befindlich angesehen, das aus einem spezifischen Unterwerfungsverhältnis des Bürgers zum Staat den Inhalt und Umfang von (Grund-)Rechtsbeschränkungen unmittelbar aus den Zwecken und Aufgaben der Institution ableitete, wird nun eine Einschränkung der Rechte von Inhaftierten nur unter denselben normativen Bedingungen wie auch derer von freien Bürgern als zulässig akzeptiert. Dies resultiert aus dem konkreten Menschenbild des Grundgesetzes, das seit dem »Lebach-Urteil« auch auf Gefangene ausgeweitet wurde.108 Aus Obigem wird klar, dass innerhalb des Strafvollzugs in Deutschland mithilfe gesetzlicher Regelungen versucht wird, einer Verletzung der Rechte der Person und somit der Menschenwürde entgegenzuwirken. Ein so verstandener, auf eine Moral der Achtung der Menschenwürde zentrierter Strafvollzug kann immerhin die Grundlagen für die Resozialisierung schaffen; entscheidend ist jedoch neben der Bereitschaft des Straffälligen auch die Bereitschaft der Gesellschaft selbst zur Wiederaufnahme des Straftäters. 109 Hier geht die Anerkennung des vormalig stigmatisierten Straftäters als wiederum freier und gleichwertiger Bürger einer tatsächlichen Wiedereingliederung voraus. Die Menschenwürde des Inhaftierten und somit sein Personsein, werden nach den Vollzugszielen während der gesamten Haftzeit idealiter geachtet. Doch die vollwertige Akzeptanz dieser straffällig gewordenen Person als ebenbürtiger Teil der Sozietät hängt vom »goodwill« der Sozialkonformen ab.

BVerfGE 33, 1 ff. vom 14. 03. 1972. »Das Grundgesetz ist eine wertgebundene Ordnung, die den Schutz von Freiheit und Menschenwürde als den obersten Zweck allen Rechts erkennt; sein Menschenbild ist allerdings nicht das des selbstherrlichen Individuums, sondern das der in der Gemeinschaft stehenden und ihr vielfältig verpflichteten Persönlichkeit. […] Eine Einschränkung [der Grundrechte im Strafvollzug] kommt nur dann in Betracht, wenn sie zur Erreichung eines von der Wertordnung des Grundgesetzes gedeckten gemeinschaftsbezogenen Zweckes unerlässlich ist […].« BVerfGE 33, 1 ff. (11). 109 BVerfGE 35, 202 ff. (235). 107 108

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6.

Schlussfolgerungen für die Möglichkeit einer Vernichtung der Person

Die vorliegende Auffassung der Menschenwürde ist eine universalistische im Sinne einer Person-Würde. Die Menschenwürde stellt den formalen Wert des Menschen im Range eines Ideals dar, der von faktischen Beeinträchtigungen nicht tangiert wird, sondern eine modale Grenze standardisiert, die dem Achtungsanspruch der Menschenrechte eine bestimmte Richtung vorgibt. In diesem Sinne wird die Menschenwürde weder auf ihre Referenzfunktion 110 beschränkt, noch als unantastbares Grundrecht 111 oder Prinzip zur Optimierung von Grundrechten 112 eingeengt oder als Rücknahme der Subjektivität 113 verstanden. Ihre Bedeutung wird insbesondere darin gesehen, dass sie den Wertcharakter des Menschen benennt, aus dem heraus sich ein allerdings zwingend historisch überformbarer Grundkonsens ergibt, der den unantastbaren Kernbereich menschlicher Individualität umfasst. Die Menschenwürde stellt somit keine bloße Fiktion sondern ein anthropologisches Apriori 114 dar und formt die Basis einer materialen Ethik, die sich in den modernen Menschenrechtsdokumenten, wie auch dem Grundgesetz ausprägt. Hierbei wird aber keine starre Konzeption des Guten ausgebildet, sondern ein sich ver110 Mit einer Referenz auf den appellativen Charakter der Menschenwürde wird eine skandalisierende Wirkung erzeugt, mit der in dogmatisch-autoritativer Weise definiert wird, welche Verletzungen als Würdeverletzungen zu gelten haben. Vergleiche auch Baer: Menschenwürde zwischen Recht, Prinzip und Referenz, S. 581. 111 Der Grundrechtscharakter der in Art. 1 Abs. 1 GG normierten Menschenwürde wird in der deutschen Verfassungsdogmatik gespalten beurteilt. Vgl. die Gegenüberstellung der Ansichten in Dreier: Grundgesetz. Kommentar, Art. 1 Abs. I, Rn. 124, Fn. 418. Hier soll es aber nicht nur um die nationalstaatliche Ausprägung der Menschenwürde gehen. 112 So Baer: Menschenwürde zwischen Recht, Prinzip und Referenz, S. 582 ff. Diese Ansicht ist der vorliegenden sehr nah, doch beschränkt sie sich auf die Menschenwürde als verfassungsrechtliches »Prinzip, um Gleichheit und Freiheit besser achten zu können« und bleibt somit in der rein normativen Ebene stehen, während hier ein Prinzip konstruiert wird, das die Achtung der Menschenrechte überhaupt erst bedingt und nicht nur in der faktischen Durchsetzung optimiert. 113 So Robert Spaemann: Über den Begriff der Menschenwürde. In: Ernst-Wolfgang Böckenförde/ders. (Hrsg.): Menschenrechte und Menschenwürde, Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis. Stuttgart 1987, S. 295–313, hier: S. 303. 114 So der Begriff von Hans-Ludwig Schreiber: Die Würde des Menschen – eine rechtliche Fiktion? In: Norbert Elsner/Hans-Ludwig Schreiber (Hrsg.): Was ist der Mensch? Göttingen 2 2003, S. 231–247, hier: S. 245 f.

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ändernder Auslegung unterliegendes Menschenbild des Trägers gleicher Würde und der potentiellen Anlage des vernünftigen Freien. Das Faktum des unantastbaren spezifischen Wertes des Menschen bedingt dessen Qualitätsmerkmal des Personseins. Der Mensch wird durch die Menschenwürde zur Person. Aufgrund dieses genuinen und universalen Wertes der Person kommen dieser Rechte zu, die ihren Wert, ihre Würde schützen sollen. Alle Menschenrechte, sofern sie nötig sind, unsere Integrität als selbstbewusst wertende und handelnde Lebewesen zu wahren, müssen als Minimalbedingungen vernünftiger moralischer Zustimmung gelten, und in diesem Sinne auch als Gehalte der Menschenwürde. Diese wird so zum Inbegriff der generellen Rechte, die dem Menschen im Rahmen einer Moral gleicher Achtung zukommen. 115 Die Würde des einzelnen Individuums bedingt insofern die universalen Menschenrechte der gesamten Menschheit. Das Recht Rechte zu haben bzw. das Recht der Person resultiert aus diesem spezifischen Wert der menschlichen Person. Die Angeborenheit dieser Menschenwürde ist hierbei als reine Metapher und nicht im temporalen Sinn zu denken, denn sie impliziert ausschließlich die genuine und apriorische Syntax von Person und Würde. Aus der Bedeutung dieser Syntax als Nukleus der Humanität erwächst eine besondere Wertigkeit beider Teile. Aus der werthaften Dimension des Personseins resultiert somit zum einen ein Anspruch auf Achtung der eigenen Würde durch die Anderen als auch zum anderen eine Verpflichtung zur Achtung sowohl der fremden wie der eigenen Würde. 116 Dieser Anspruch manifestiert sich auf moralischer Ebene, doch prägt er sich auch auf einen Achtungsanspruch in rechtlicher Sphäre aus. Der Anspruch zur Achtung der Menschenwürde impliziert somit einen Anspruch der Anerkenntnis als Person, mithin den Anspruch auf Schutz der ureigensten Rechte der Person. Diese Anerkenntnis setzt keinen faktischen Zuschreibungsprozess voraus, sondern präsentiert sich in einer sozialen Ethik des »würdigen« Umgangs miteinander. Die Menschenwürde impliziert einen 115 Ähnlich Bernd Ladwig: Ist »Menschenwürde« ein Grundbegriff der Moral gleicher Achtung? Mit einem Ausblick auf Fragen des Embryonenschutzes. In: Ralf Stoecker (Hrsg.): Menschenwürde – Annäherung an einen Begriff. Wien 2003, S. 35–60, hier: S. 47. 116 Vergleiche zu einem Versuch einer deontologischen Ethik mit der Menschenwürde als oberster Instanz: Verena Krenberger: Das Sein-Sollen-Problem in den Menschenrechten. In: Zeitschrift für Rechtsphilosophie, Heft 2 (2005), S. 61–68.

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spezifischen Gestaltungsauftrag an ein potentiell menschenwürdiges Leben. 117 Die Koppelung der Personqualität des Menschen an die »angeborene« Menschenwürde 118 im Rahmen dieser Variante einer Mitgifttheorie der Person-Würde scheint den naturrechtlichen Theorien ähnlich, die sich auf das »Wesen des Menschen«, die »Natur der Sache« oder die »Rationalität« beziehen. 119 Bei der Ableitung überpositiver Normen wie der Menschenrechte oder des Rechts der Person aus dem »Sein« des Menschen, oder wie hier aus dessen Menschenwürde, stellt sich immer die Gefahr der illegitimen Überhöhung zu einem Sollen, das heißt die Gefahr des naturalistischen Fehlschlusses. 120 Doch liegen den gemachten Aussagen über die Menschenwürde notwendigerweise bereits Wertungen, wie auch ein – allerdings überformbares – Menschenbild zugrunde, so dass diese keine rein empirische Faktizität darstellt. Die vorliegende Fassung von Menschenwürde und Person als eigene Ausprägung einer sozialen Ordnung fügt sich demnach in die immanenten Ordnungen von Lebensverhältnissen ein. 121 Problematisch an Ansätzen, wie den aufgezeigten von Strawson oder Taylor, die die Fähigkeit der Interaktion mit Mitmenschen voraussetzen, ist vor allem die Tatsache der Vielzahl an Menschen, denen eine solche Kontaktaufnahme im technischen wie auch theoreti117 Vergleiche hierzu die Warnung vor Risiken wie der bevormundenden Verpflichtung zu einem würdigen Verhalten, die mit »empiristischen oder auf individuelle Leistungen setzenden Erklärungen der Menschenwürde einhergehen.« In: Baer: Menschenwürde zwischen Recht, Prinzip und Referenz, S. 572. 118 Die Verflechtung der Termini »Mensch«, »Menschenwürde«, »Person« und »Menschenrechte« dahingehend, dass der Mensch als würdiges Wesen anerkannt wird, was ihn in den Status einer Person versetzt und ihm angeborene Rechte zuspricht, wird von Sturma: Person und Menschenrechte, S. 341, so nicht geteilt: »Während der Begriff des Menschen die angeborene biologische Natur anspricht, bewegen sich die Bestimmungen des semantischen Felds von ›Person‹ im Bereich der kulturellen Lebensform.« Hier wird dagegen sowohl die Menschenwürde, als auch die Person als Ideal gefasst, das nicht kulturspezifisch zu denken ist. 119 Für den Begründungstyp »Wesen des Menschen« u. a. Thomas Hobbes: Leviathan. Hier u. a. Kap. 13; oder: David Hume: A treatise of human nature. Book III, Part. III, Sect. VI. Für den Begründungstyp »Natur der Sache« u. a. Radbruch: Rechtsphilosophie, S. 13, wo er seine Theorie früherer Werke revidiert. Für den Begründungstyp »Rationalität« u. a. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA, IV, S. 29 ff. 120 George Moore: Principia Ethica. Cambridge 1959, Chapt. I, Sect. B. 121 Vergleiche zur Sein-Sollen-Problematik im Naturrecht: Kurt Seelmann: Rechtsphilosophie. München 3 2004, § 8.

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schen Sinne versagt bleibt. Jede Theorie der Person, die zur Zuschreibung der Qualität des Personseins eine bestimmte Fähigkeit, Vernünftigkeit, Interaktion voraussetzt, scheitert notwendig an dem Umstand, dass so einem Großteil der Menschheit die Personqualität versagt bliebe. An eben diesem Punkt setzt auch die Kritik an den häufig in der juristischen Literatur vertretenen Mitgifttheorien der Person-Würde an: Dass die Person vornehmlich als Rechtssubjekt gefasst würde, somit das Rechtsverhältnis zwischen Individuen darstellt und ihre besondere Würde eben diesem Darstellungsakt verdankt, in dem die Person eine Rolle spielt, hinter der ihre individuellen Eigenschaften zurücktreten und die bestimmte, vor allem geistig behinderte Individuen nicht spielen können. 122 Nach dieser Argumentation wäre eine Verletzung der Menschenwürde genau dann gegeben, wenn die Aberkennung des Personseins, die Demütigung, in der Ausklammerung Einzelner aus dem allgemeinen rechtlichen Gleichheitsverhältnis besteht; wenn also eine Ungleichbehandlung stattfindet, die den Einzelnen als ein Kompetenzzentrum zum Innehaben von Rechten und Pflichten in Frage stellt. 123 Somit gehen die in diesem Sinne arbeitenden juristischen Theorien in eine andere Richtung als die hier vorgestellte: Weder verleiht erst die Personhaftigkeit dem Menschen eine Eigenwertigkeit, 124 noch ist es die Rechtsfähigkeit des Menschen als Mensch, die ihm Menschenwürde verleiht. 125 Stattdessen wird hier die Auffassung vertreten, dass die Würde den Eigenwert des Menschen an sich wie auch des Individuums selbst ausmacht und damit zur Person erhebt, sowie, dass die Würde der Person die Inhabe von ureigenen Rechten, den Rechten der Person oder Menschenrechten, bedingt, die ihn zu einer Rechtsperson werden lassen. Der hier vertretene Ansatz versucht die Möglichkeit gemein122 So auch Kurt Seelmann: Repräsentation als Element von Menschenwürde. In: Studia philosophica. Menschenwürde – la dignité de l’être humaine. Vol. 63 (2004), S. 141– 158, hier: S. 146. 123 Kurt Seelmann: Menschenwürde zwischen Person und Individuum. Von der Repräsentation zur Selbst-Darstellung? In: Dieter Dölling (Hrsg.): Jus Humanum. Grundlagen des Rechts und Strafrecht. Festschrift für Ernst-Joachim Lampe zum 70. Geburtstag. Berlin 2003, S. 301–316, hier: S. 302. 124 Klaus Stern: § 108. Idee der Menschenwürde und Positivität der Grundrechte. In: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Band V, 8. Teil. Heidelberg 1992, Rn. 5. 125 Christian Enders: Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung. Zur Dogmatik des Art. 1 GG. Tübingen 1997, S. 503.

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schaftlicher Ausschlüsse einzelner Personen aus der Gemeinschaft der Handlungsfähigen zu verhindern. Über die Qualität als »Person« kann nicht nur nach dem individuellen subjektiven Vermögen entschieden werden. 126 Wie Sturma zutreffend erläutert, geht es bei der Zusprechung des Personstatus in ethischer und rechtlicher Hinsicht gerade nicht um alles oder nichts: Auch die Menschen, denen wesentliche Eigenschaften und Fähigkeiten von Personen nicht zur Verfügung stehen, gehören keineswegs in die große Klasse der Nicht-Personen. 127 Vielmehr verbleiben sie im engen Umfeld der ethischen Anerkennungskultur, die sich um das epistemisch und moralisch aktive Subjekt herum aufbaut. Personen müssen nicht zu jedem Zeitpunkt ihre Eignung im Raum der Gründe und Handlungen beweisen. Selbst als mögliche oder vergangene Person bleiben sie der Anerkennungskultur verbunden und werden nie zu Nicht-Personen degradiert. 128 Es wurde gegenüber den Theorien der Person-Würde der Vorwurf laut, dass gerade die von allen individuellen Besonderheiten abstrahierte Person als dasjenige Subjekt betont würde, dem die identische Würde aller Menschen zukomme. 129 Der Ruf nach »Individualisierung des Menschenwürde-Subjekts« 130 will den Menschen schützen, »wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewußt wird.« 131 Hier wird von der Relevanz des Selbstbildes für die Menschenwürde ausgegangen, da Beeinträchtigungen des Selbstbildes, das von einem Anerkanntwerden von auSchreiber: Die Würde des Menschen – eine rechtliche Fiktion?, S. 240. Sturma: Person und Philosophie der Person, S. 13. Die Betonung der »Möglichkeit […] Bewohner im semantischen Raum der Gründe und Handlungen« zu sein, impliziert bei Sturma ebenfalls den Einschluss all jener, die eben nicht in der Lage sind anderen Personen und sich selbst Handlungen und Gründe zuzuschreiben, oder analoge Verletzlichkeiten und Aktivitätspotentiale aufzuweisen. Sturma: Person und Philosophie der Person, S. 19. Allerdings geht Sturma: Person und Menschenrechte, S. 359, davon aus, dass man als Mensch eine »Anlage, sich zur Person zu entwickeln« besitzt, die durch die »Politik der Menschenrechte« gesichert und gewährleistet werden muss. Entfällt diese Gewährleistung durch mangelnde Bildungs- oder Entwicklungschancen, wird damit Individuen der Personstatus versagt, sie existieren als »verhinderte, mögliche oder vergangene Personen.« (a. a. O., S. 356) 128 So auch Sturma: Person und Philosophie der Person, S. 20. 129 So die Kritik bei Seelmann: Menschenwürde zwischen Person und Individuum. Von der Repräsentation zur Selbst-Darstellung?, S. 301. 130 Seelmann: Menschenwürde zwischen Person und Individuum. Von der Repräsentation zur Selbst-Darstellung?, S. 306. 131 BverfGE 49, 286 (298). 126 127

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ßen abhängt, ab »einer gewissen Intensität« die Selbstachtung verringern könnten, was zu einer (Eigen-)Verletzung der Würde führen könne. 132 Doch führt genau diese Verquickung von Selbstbild und Menschenwürde zu der vermeintlich abgewendeten Gefahr des Ausschlusses zum Beispiel geistig Behinderter, indem die »Repräsentation der je unterschiedlichen Individualität zum Gegenstand der Achtung« gemacht werden soll. 133 Denn die Vernetzung des formalen Ideals der Menschenwürde mit subjektiv geprägten, materialen Empirika des Menschen führt zu einer Relativierung der Würde, was einer Entmachtung ihres hohen Stellenwertes gleichkommt. Die Individualisierung der Menschenwürde auf einer subjektiven Ebene wird der Bedeutung und der Aufgabe der Menschenwürde nicht gerecht: Primäres Ziel der Fokussierung auf die Menschenwürde im 20. Jahrhundert war die Erreichung eines rechtlichen Schutzes der Individualität der Person. Die Menschenwürde stellt in diesem Sinne sicher, dass jegliche Ausprägung der Individualität, auch in ihrer vermindert nach außen transportierten Form bei geistiger Behinderung, einen intensiven Schutz vor negierenden Eingriffen erfährt. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die freie und gleiche Ausübung der Grundrechte, die Darstellung des individuellen Selbstbildes und die Repräsentation der eigenen Individualität nach außen, erfahren ihren angemessenen Schutz erst durch die »Errichtung« der Menschenwürde als immanenter Schranke in der menschlichen Person. Das Festhalten an dem Ideal der Menschenwürde und der Person verhindert dennoch nicht die Akzeptanz der Würde als modaler Grenze: Kulturell und epochal überformbar bleibt die spezifische Ausprägung des Schutzbereichs der aus der Menschenwürde erwachsenden Rechte der Person. Ein Ausschluss aus der Mitte der Gemeinschaft, wie er in den genannten historischen Beispielen, wie auch im faktischen Vollzug der Strafe geschieht, verhindert mithin nicht das theoretische Ideal des Personseins. Der moderne Behandlungsvollzug hat sich in ebendiesem Sinne auch zu einer Achtung der Person des Straftäters bekannt und somit eine Ethik des menschenwürdigen Umgangs einzuführen versucht. Eine tatsächliche Verletzung wie auch der Wunsch einzelner Akteure zur Negation der Personqualität bestimmter Individuen oder Gruppen mag zwar die Rechte der Person 132 133

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Seelmann: Repräsentation als Element von Menschenwürde, S. 152 f. Seelmann: Repräsentation als Element von Menschenwürde, S. 157.

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einschränken oder marginalisieren. Die Menschenwürde ist den Menschenrechten jedoch ein bedingendes Apriori. Menschenwürde wie auch das Personsein gelten als idealer, unfassbarer Wert, der einer Disposition entzogen ist. 134 Dieser muss definitorisch auch solchen Personen zugesprochen werden, die sich aufgrund individueller Umstände quasi selbst der Gemeinschaft entziehen oder aus dieser ausgeschlossen sind. Mit dem Bezug auf die unantastbare Menschenwürde ist ganz allgemein die Herabstufung bestimmter Personengruppen zu Menschen zweiter Klasse oder zu »Untermenschen« negiert. 135 Der würdige Mensch ist Person. Hierfür ist keine Zuschreibung geboten, auch eine Anerkennung durch Andere ist für das Personsein nicht von Nöten sondern ist als apriorisch anzusehen. Der Personstatus ist ein universales Qualitätsmerkmal des Menschen an sich, weswegen der Andere zwar nicht konstitutiv, aber dennoch definitorisch mitgedacht ist. Der Andere ist hinreichende, aber nicht notwendige Bedingung des Personseins. Der nicht-graduierbare Besitz der Menschenwürde ist unter kategorischem Schutz zu denken. Aufgrund der Unantastbarkeit und ideellen Struktur der Menschenwürde als Fundament des Personseins, ist eine Nicht-Person nicht denkbar, die Vernichtung der Person unmöglich.

134 Joza Vilfan, jugoslawischer Delegierter im Committee of Human Rights zur Erstellung der AEMR: »The abuse of a right in no way detracted from the inherent value of the right; nor did it militate against the defence of that right.« E/CN.4/SR.73, 15. 06. 1948, Commission on Human Rights, third session, Consideration of the Draft International Declaration of Human Rights (E/CN.4/95/Annex A), S. 9. 135 Dreier: Grundgesetz. Kommentar, Art. 1 Abs. 1, Rn. 59. Der Normierung als unantastbar in Art. 1 Abs. 1 GG kann zudem nach Dreier: Grundgesetz. Kommentar, Art. 1 Abs. 1, Rn. 131, die verfassungskräftige Statuierung entnommen werden, dass die Nichtachtung der Menschenwürde die Integrität der betroffenen Person unberührt lässt.

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1.

Einleitung

Die Einheit der Menschenrechte hat eine geradezu mystische Überzeugungskraft. Viele einprägsame Worte und schlagende Bilder sind für diese Idealvorstellung gefunden worden. Klassisch ist der Ausspruch des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, nach dem Ende des II. Weltkrieges gelte es, »freedom from want and fear« sicherzustellen, 1 also Mangel an existentiellen, lebensnotwendigen Gütern zu beseitigen wie auch Furcht vor staatlicher Repression aufzuheben. Mehr ins Pittoreske geht die drastische Formulierung von Anatole France, es sei den Reichen wie den Armen in gleicher Weise verboten, unter den Brücken zu schlafen. 2 In dieselbe Richtung bewegt sich die immer wieder anzutreffende recht flapsige, bei Diktatoren beliebte Feststellung, dem Hungerleider nütze wohl kaum das Recht, die New York Times zu lesen. In der Tat, es trifft zu, dass in Hunger und Kälte, in Armut und ohne ausreichenden medizinischen Beistand ein menschliches Leben in Würde und persönlicher Zufriedenheit wohl kaum geführt werden kann. Die leiblichen Bedürfnisse des Menschen lassen sich von seiner geistig-seelischen und seiner intellektuell-politischen Existenz nicht abtrennen. Geradezu selbstverständlich ist daher das Leitbild für die Menschenrechtsbewegung das Individuum, das von äußerlichen Bedrängnissen frei ist. Für den Juristen allerdings reicht diese von der ganzheitlichen Bedürfnisstruktur des Menschen entwickelte Betrachtungsweise nicht aus. Er muss sich fragen, ob und inwieweit das staatliche Ordnungssystem, an das sich ja die Grund- und MenRede vor dem US-Kongress, 6. 1. 1941. »La majestueuse égalité des lois interdit aux riches comme aux pauvres de coucher sous les ponts, de mendier dans la rue et de voler du pain.« Für dieses häufig gebrauchte Zitat gibt es aber leider keine verlässliche Quellenangabe.

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schenrechte richten, in der Lage ist, weitreichende Verheißungen zu erfüllen. Was dem Bürger als Rechtstitel versprochen wird, muss auch eingelöst werden. Vor allem eine Verfassung darf sich nicht als hohle Phrasendrescherei erweisen, will sie als Grundordnung des gesellschaftlichen Lebens ernst genommen werden. Wenig kann die Legitimität einer Verfassung stärker untergraben als die Entdeckung, dass ihre Aussagen die Qualität bloßer Luftschlösser haben. Für gelernte Juristen ist der Hinweis, dass das Grundgesetz in Bezug auf wirtschaftliche und soziale Rechte 3 durch äußerste Kargheit gekennzeichnet ist, nichts Neues. Einige Formulierungen, welche Schutzpflichten des Staates festlegen, finden sich in Art. 6, der Bestimmung die von Ehe und Familie, von Müttern und Kindern handelt. Genannt werden darf auch Art. 7, der vom Schulwesen handelt, allerdings nicht im Zusammenhang mit einem Recht auf Schulbildung, das von den Verfassern des Grundgesetzes als Selbstverständlichkeit betrachtet wurde. Im Übrigen begnügt sich das Grundgesetz in den Art. 20 und 28 mit einem kurz angebundenen Hinweis auf die Sozialstaatlichkeit. Im Zeitpunkt der Wiedervereinigung sahen zahlreiche Politiker der linken Seite des politischen Spektrums den geeigneten Zeitpunkt für eine Behebung dieses Defizits gekommen. Hätte man für die verfassungsrechtliche Bewältigung der Integration des Gebiets der DDR in den westlichen Teilstaat den Weg des Art. 146 GG gewählt, anstatt auf Art. 23 GG zurückzugreifen, so hätte man in der Tat ein neues Verfassungsinstrument konzipieren müssen. Als Kandidaten für neue Grundrechte wurden ganz offen vor allem das Recht auf Arbeit und das Recht auf Wohnung genannt, allerdings in der abgeschwächten Form einer Staatszielbestimmung. 4 Zu einer solchen Verfassungsrevision ist es indes nicht gekommen. Bekanntlich wurde das Grundgesetz als Verfassung auch für das erweiterte Deutschland beibehalten. Und dennoch ist damit das Bild nicht vollständig nachgezeichnet. In ihren internationalen Beziehungen hat die Bundesrepublik Deutschland mutige Schritte unternommen, die in der Öffentlichkeit bisher nur vereinzelt wahrgenommen worden sind. Insbesondere ist Die dunkle Bezeichnung »Teilhaberechte«, fast eine Deutschtümelei, wird im Folgenden bewusst vermieden. 4 Vgl. den Hinweis bei Christian Tomuschat: Deutschlands aktuelle Verfassungslage. In: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 49 (1990), S. 70, 83. 3

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von deutscher Seite aus neben der Europäischen Sozialcharta, 5 die freilich ein Instrument höchster Schwäche bildet, 6 der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (nachfolgend Sozialpakt oder IPWSKR) 7 ratifiziert worden, gleichzeitig mit dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (nachfolgend Politischer Pakt oder IPBPR), 8 dessen Lektüre vertraute Vorstellungen erweckt: Schutz des Lebens, Schutz der persönlichen Freiheit, Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit – das alles steht auch im Grundgesetz und gleichzeitig in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und klingt weder umstürzlerisch noch besorgniserregend, sondern zieht ganz offensichtlich für die uns wohlbekannten Freiheiten einen neuen Stützpfeiler ein. Ganz anders der Sozialpakt, der mit dem Recht auf Arbeit (Art. 6), dem Recht auf einen angemessenen Lebensstandard (Art. 11), dem Recht auf Gesundheit (Art. 12) und dem Recht auf Bildung (Art. 13), um nur einige der Rechte zu nennen, geradezu ein Füllhorn von köstlichen Gaben bereithält und damit Fragen nicht nur nach Machbarkeit und Finanzierbarkeit, sondern auch nach dem dahinter stehenden Menschenbild aufwirft. Mit der Grundrechtecharta der Europäischen Union, die als Teil des bisher missglückten Europäischen Verfassungsvertrages 9 noch nicht in Kraft steht, ist ein Versuch unternommen worden, nun auch für Deutschland wirtschaftliche und soziale Rechte verfassungsrechtlich zu verankern, allerdings unter dem abgeschwächten Titel: Solidarität (Art. II-87 bis II-95). 10 Welche Bedeutung den dort aufgeführten Rechten in dem zukünftigen Verfassungsgebäude zukommen soll und kann, hat sich in der bisherigen Debatte nicht vollständig klären lassen 11 und müsste wohl letzten Endes der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften anvertraut werden. Ursprüngliche Fassung vom 18. 10. 1961, CETS Nr. 35. Die revidierte Fassung vom 3. 5. 1996, CETS Nr. 163, ist von Deutschland bisher nicht ratifiziert worden. 6 Zu der revidierten Fassung der Sozialcharta, die eine gewisse Stärkung der Schutzbestimmungen enthält, vgl. die amtlichen Erläuterungen, http://conventions.coe.int/ Treaty/EN/Reports/HTML/163.htm. 7 BGBl. 1973 II, S. 1570. 8 BGBl. 1973 II, S. 1534. 9 ABlEU C 310, 16. 12. 2004. 10 Andere soziale Rechte finden sich auch unter dem Titel »Gleichheit« (Art. II-80 bis II-86). 11 Vgl. etwa Christoph Grabenwarter: Auf dem Weg in die Grundrechtsgemeinschaft? In: EuGRZ 2004, S. 563, 565; Thorsten Kinggreen. In: Dirk Ehlers (Hrsg.): Europäische 5

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2.

Einige geschichtliche Bemerkungen

Ein Blick zurück in die Geschichte der europäischen Verfassungsbewegung vermag Licht auf die traditionelle Bevorzugung liberaler Freiheitsrechte zu werfen. Die ersten Grundrechtskodifikationen auf dem amerikanischen Kontinent, die Virginia Bill of Rights aus dem Jahre 1776 ebenso wie die ersten zehn Zusätze (»Amendments«) zur amerikanischen Verfassung (1787) aus dem Jahre 1791 sind weit davon entfernt, in irgendeiner Weise das Thema wirtschaftlicher und sozialer Rechte anklingen zu lassen. Von den Verfassungszusätzen handelt der erste von Religionsfreiheit und Freiheit der Meinungsäußerung, der zweite vom Recht, Waffen zu tragen, Zusatz vier schützt die Wohnung durch die Garantie der Freiheit von »search and seizure« (Durchsuchung und Beschlagnahme), die nächsten drei enthalten Prozessgarantien, und Amendment acht verbietet »grausame und ungewöhnliche Strafen«, eine Bestimmung, die für das heutige Amerika eine ungewohnte Bedeutung gewonnen hat. Die französische Déclaration des droits de l’homme et du citoyen aus dem Jahre 1789 nennt in ihrem Art. 2 als »natürliche und unveräußerliche Rechte des Menschen« – auf französisch »homme« mit seinem Doppelsinn – »Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung«, in den Art. 7 bis 9 ist von prozessualen Garantien die Rede, und in den Art. 10 und 11 erscheinen Meinungsäußerungsfreiheit und Religionsfreiheit. Wiederum ist keine Spur von wirtschaftlichen und sozialen Rechte zu entdecken. Ein Gleiches gilt im Übrigen für die ersten deutschen Verfassungen, die nach den napoleonischen Kriegen in Baden (1818), 12 Bayern (1818) und Württemberg (1819) entstanden. Was erklärt diese Dürre, die auf den ersten Blick als Einseitigkeit und Engstirnigkeit einer besitzbürgerlichen Klasse erscheint? Von den denkbaren Erklärungsversuchen muss der erste, da eher Grundrechte und Grundfreiheiten. Berlin 2 2005, S. 498–500; Hans-Werner Rengeling/ Peter Szczekalla: Grundrechte in der Europäischen Union. Charta der Grundrechte und Allgemeine Rechtsgrundsätze. Köln u. a. 2004, S. 790–795; Eibe Riedel. In: Jürgen Meyer (Hrsg.): Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union. BadenBaden 2003, S. 332–337; Thomas Schmitz: Die Grundrechtecharta als Teil der Verfassung der Europäischen Union. In: EuR 2004, S. 691, 705. 12 So lautete etwa die Überschrift des Abschnitts II. dieser Verfassung (§§ 7–25): »Staatsbürgerliche und politische Rechte der Badener, und besondere Zusicherungen«. A

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technischer Natur, sofort einleuchten. Niemand konnte gegen Ende des 18. Jahrhunderts oder noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts davon ausgehen, dass ein Staatswesen rein faktisch gesehen in der Lage sein könnte, eine Fülle von Fürsorgeleistungen für seine Bürger zu erbringen. Gewiss, der Policey- und Wohlfahrtsstaat des ausgehenden 18. Jahrhunderts hatte sich in den deutschen Territorien nach besten Kräften bemüht, die wirtschaftlichen Kräfte zu mobilisieren und damit auch die Steuereinnahmen zu steigern. 13 Aber die wirtschaftlichen Produktivkräfte waren durchweg im Besitz gesellschaftlicher Gruppen, die Fürsten hatten nur einen beschränkten Einfluss auf Landwirtschaft, Gewerbe und Handel wie auch die Industrie in ihrem ersten Entwicklungsstadium. Es fehlte daher allein schon an den tatsächlichen Voraussetzungen, um Rechte wie ein Recht auf Arbeit, auf Wohnung, auf soziale Sicherheit zu proklamieren. Erst die technologischen Fortschritte zu Ende des 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert haben den Boden für solche Zielvorstellungen bereitet. Der zweite Erklärungsversuch drängt sich weniger stark auf, ist aber dennoch einsichtig. Die ersten Verfassungsdokumente auf dem amerikanischen Kontinent und in Westeuropa waren Antworten auf Unrechtserfahrungen, die Menschen über Jahrzehnte und Jahrhunderte hatten erdulden müssen. Beschneidung der Meinungsfreiheit und willkürliche Kerkerhaft, irreguläre Gerichtsverfahren waren alltägliche Vorkommnisse. Nachdem die absolutistischen Herrschaftsverhältnisse gebrochen oder zumindest zurückgeschnitten worden waren, war es den neuen bürgerlichen Führungsschichten ein dringendes Bedürfnis, die neu gewonnenen Freiheiten verfassungsrechtlich verankern zu lassen. Es versteht sich von selbst, dass auch damals schon die Menschen Auswege aus der Armseligkeit ihrer Lebensverhältnisse suchten. Krankheit, Ernährungsmängel, miserable Wohnbedingungen und Altersarmut wurden durchaus als Problem empfunden, ohne dass man freilich dafür dem Staat die Verantwortung zugeschoben hätte – soweit nicht die Armut wie in Frankreich oder in einigen deutschen Fürstentümern auf die massive Verschwendung bei Hofe

13 Dazu etwa Johann Heinrich Gottlob von Justi: Grundsätze der Policey-Wissenschaft. Göttingen 1756; in der Rückschau Hans Maier: Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre. München 2 1980, S. 159–164.

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zurückgeführt werden konnte. 14 Dennoch gab es Versuche, mit staatlichen Mitteln gegenzusteuern. So wurden während der Französischen Revolution von 1789 zahlreiche soziale Notmaßnahmen ins Werk gesetzt, 15 und während der Revolution von 1848 kam es zur Errichtung sogenannter »ateliers nationaux«, Volkswerkstätten, über die Arbeitslosen ein bezahlter Arbeitsplatz verschafft werden sollte. Aber dieser Versuch scheiterte. Schon nach vier Monaten mussten die »ateliers« wieder geschlossen werden. Genannt sei auch das Kommunistische Manifest aus dem Jahre 1848. Die Logik des Manifests lief allerdings dem üblichen Verfassungsdenken entgegen. Karl Marx und Friedrich Engels versprachen sich nichts von dem bourgeoisen Staat, sondern forderten die Übernahme der politischen Macht durch das Proletariat, um auf diese Weise der Verelendung der Massen abzuhelfen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts änderte sich das gesamte wirtschaftliche und politische Umfeld. Im Gleichklang mit der rasch voranschreitenden Industrialisierung wuchs auch die Macht des Staates an. Man wurde sich der Tatsache bewusst, dass die in der Staatsorganisation gebündelten politischen Kräfte in der Lage waren, das Sozial- und Wirtschaftsleben nach bestimmten Gerechtigkeitsvorstellungen weitergehend als nur durch die Setzung allgemeiner Rahmenbedingungen 16 zu gestalten. Damit war die Grundlage für Bismarcks Sozialgesetzgebung gelegt, die zwar in erster Linie dazu bestimmt war, den Aufstieg der Sozialdemokraten zu hemmen, die dann aber doch im Ergebnis zu einem echten Reformwerk wurde, das in der ganzen Welt maßstabsetzende Wirkungen entfaltete. 17 Der Prozess begann mit der Verabschiedung des Gesetzes über die Kran-

Zu der Verschwendungssucht der württembergischen Herzöge vgl. etwa Peter Lahnstein: Ludwigsburg. Aus der Geschichte einer europäischen Residenz. Stuttgart 1968, S. 36 f. 15 Vgl. etwa Colin Jones: Picking up the pieces: the politics and the personnel of social welfare from the Convention to the Consulate. In: Gwynne Lewis/Colin Lucas (Hrsg.): Beyond the Terror. Essays in French Regional and Social History, 1794–1815. Cambridge 1983, S. 53 ff. 16 Dazu gehörten in Preußen vor allem die Stein-Hardenbergschen Reformen; Überblick darüber von Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. München 1983, S. 33 ff. 17 Dazu die Darstellung von Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, Band 1. München 1990, S. 337–346; Michael Stürmer: Das ruhelose Reich. Deutschland 1866–1918. München 1983, S. 221–228. 14

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kenversicherung der Arbeiter 18 im Jahre 1883, setzte sich ein Jahr später fort mit einem Gesetz über die Unfallversicherung 19 und gelangte zu seinem Höhepunkt im Jahre 1889 mit dem Gesetz über die Invaliditäts- und Altersversicherung. 20 Aber diese Sozialgesetzgebung fand keinen verfassungsrechtlichen Niederschlag, zumal die Reichsverfassung von 1871 ohnehin bei den Grundrechten eine Leerstelle aufwies. Erst nach dem Ende des I. Weltkrieges wurden die verfassunggebenden Körperschaften wagemutiger. Die sowjetische Verfassung von 1918 postulierte ein Recht auf Bildung, die kostenfrei gewährt werden sollte, und bekanntlich folgte im Jahre 1919 die Weimarer Reichsverfassung mit umfangreichen Katalogen von wirtschaftlichen und sozialen Rechten. Einen klugen Mittelweg schlug im Jahre 1937 die Irische Verfassung mit der Statuierung von »Directive Principles of Social Policy« ein (Art. 45). Nach dem II. Weltkrieg nahm – mit Ausnahme von Deutschland, wo die wenig überzeugenden Erfahrungen mit der Weimarer Reichsverfassung zu einer gewissen Vorsicht anmahnten – die Neigung, wirtschaftliche und soziale Rechte verfassungsrechtlich zu verankern, noch weiter zu. Die Verfassung der IV. Französischen Republik vom 27. Oktober 1946 verwies in ihrer Präambel auf bestimmte politische, wirtschaftliche und soziale Grundsätze, die »particulièrement nécessaires à notre temps« sein sollten – wie jedermanns »devoir (!) de travailler et le droit d’obtenir un emploi«. Pathetisch heißt es gleich im ersten Artikel der Italienischen Verfassung von 1948: »L’Italia è una Repubblica democratica, basata sul lavoro«. Den Höhepunkt erreichte die Großzügigkeit in der Statuierung von wirtschaftlichen und sozialen Rechten mit der portugiesischen Verfassung von 1976, die einen Grundrechtsteil mit über 50 Rechten umfasste, von denen nicht weniger als 29 – gleichzeitig ausgeflaggt als staatsbürgerliche Pflichten – der Kategorie der wirtschaftlichen und sozialen Rechte zuzurechnen waren. Will man ein kurzes Fazit aus diesem kursorischen historischen Überblick ziehen, so lässt sich an erster Stelle die schlichte Feststellung treffen, dass wirtschaftliche und soziale Rechte Spätkömmlinge der Grundrechtsbewegung sind. Das mindert nicht ihre grundsätzli18 19 20

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Vom 15. 6. 1883, RGBl. S. 73. Vom 6. 7. 1884, RGBl. S. 69. Vom 22. 6. 1889, RGBl. S. 97.

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che Bedeutung. Aber die Frage bleibt bis zum heutigen Tage offen, ob sie echte subjektive Rechte in gleicher Weise wie die traditionellen Freiheitsrechte verkörpern können.

3.

Die Grundrechte in der politischen Auseinandersetzung

Als Einleitung zu diesem Abschnitt seien einige Worte zu der gängigen Bemerkung vorausgeschickt, »der Westen« habe sich stets gegen die Gewährleistung wirtschaftlicher und sozialer Rechte gesträubt, die man demgemäß als Beitrag des sozialistischen Ostens zur Entfaltung der Menschenrechte in den modernen Gesellschaften zu verstehen habe. Plakative Auffälligkeit bedeutet indes nicht zwangsläufig auch sachliche Richtigkeit. Ein Blick auch nur in die Tageszeitungen lehrt, dass in den westlichen Demokratien wirtschaftliche und soziale Themen die zentralen Gegenstände der Politik sind. Arbeitsplätze, Sicherheit der Renten und Umfang der staatlichen Gesundheitsfürsorge – das sind die Probleme, mit denen täglich aufs Neue die Auseinandersetzung stattfindet. Sie stehen auf der Tagesordnung ganz oben, wie es auch nicht anders sein kann in einem Gemeinwesen, das sich als Jedermanns-Demokratie, als echte Demokratie der Bürger begreift. Die Kontroverse geht allein um die Frage, ob wirtschaftliche und soziale Leistungen als echte Rechtspositionen in der Verfassung verbürgt oder jeweils nach Maßgabe der einfachen Gesetzgebung gewährleistet werden sollten – aus der Sorge heraus, dass die Verfassung ihre Glaubwürdigkeit verlieren könnte, wenn sie hohle Versprechungen macht. Genau diese Überlegung ist es, welche die Väter und Mütter des Grundgesetzes in den Jahren 1948/49 davon abgehalten hat, das Grundgesetz im Übermaß mit solchen Versprechungen anzureichern. 21 In den sozialistischen Ländern von Mittel- und Osteuropa gab es solche Skrupel nicht. Die Verfassungen der kommunistischen Staaten waren reichlich mit Glücksverheißungen gesegnet. Einigermaßen treu blieb man dem Versprechen, jedermann einen Arbeitsplatz zu verschaffen, was freilich vielfach nur bedeutete, dass man Leute ohne Rücksicht auf ihre Verwendbarkeit und den objektiv bestehenden Bedarf in die Betriebe stopfte. Die größten Defizite gab es beim Vgl. die kursorische Wiedergabe der Beratungen im Parlamentarischen Rat. In: JöR N.F. 1 (1951), S. 43 f.

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Recht auf Wohnung, das in einem total überforderten staatlichen System der Zwangsbewirtschaftung von Wohnraum unterging. Sarkastisch äußerte mein serbischer Kollege Vojin Dimitrijevic, der »Westen« habe die von ihm gepriesenen Freiheitsrechte verraten, weil er sich vielfach skrupellos mit den schlimmsten Diktaturen verbündet habe, während es dem »Osten« niemals gelungen sei, die von ihm in den Mittelpunkt seiner Staatsideologie gerückten wirtschaftlichen und sozialen Rechte zu verwirklichen. 22 Ganz offensichtlich reicht die Grundrechtsdiskussion bis in das Vorstellungsbild von der richtigen Gestalt des Staates hinein. In der verfassungsrechtlichen Auseinandersetzung in Deutschland ist dies stets gesehen worden. Ernst Forsthoff hat vor vielen Jahren die Vereinbarkeit von Rechtsstaat und Sozialstaat verneint, weil der Sozialstaat zwangsläufig ein interventionistischer Staat sein müsse. 23 Diese These ist allgemein abgelehnt worden, und auch in der Praxis hat sich der Staat des Grundgesetzes als Mischgebilde mit starken sozialstaatlichen Zügen fest etabliert. 24 Auf der völkerrechtlichen Ebene ist hingegen die Fernwirkung wirtschaftlicher und sozialer Rechte auf die Qualität des vorausgesetzten Staatswesens kaum thematisiert worden. Einen gewissen Nachhall davon kann man vor allem in der Kontroverse zwischen Ernst-Ulrich Petersmann und Philip Alston über die Bedeutung der wirtschaftlichen Grundrechte erkennen. 25

Vgl. auch Vojin Dimitrijevic: Human Rights and Peace. In: Janusz Symonides (Hrsg.): Human Rights: New Dimensions and Challenges. Unesco 1998, S. 47–69. 23 Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates. In: VVDStRL 12 (1954), S. 8, 19. 24 Zur Diskussion vgl. etwa Dietrich Murswiek: Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte. In: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts, Band V. Heidelberg 1992, S. 243, 255 ff. 25 Ernst-Ulrich Petersmann: Time for a United Nations ›Global Compact‹ for Integrating Human Rights into the Law of Worldwide Organizations: Lessons from European Integration. In: European Journal of International Law 13 (2002), S. 621–650; Robert Howse: Human Rights in the WTO: Whose Rights, What Humanity? Comments on Petersmann. In: European Journal of International Law 13 (2002), S. 651–659; Philip Alston: Resisting the Merger and Acquisition of Human Rights by Trade Law: A Reply to Petersmann. In: European Journal of International Law 13 (2002), S. 815–844; ErnstUlrich Petersmann: Taking Human Dignity, Poverty and Empowerment of Individuals More Seriously: Rejoinder to Alston. In: European Journal of International Law 13 (2002), S. 845–851. 22

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4.

Unterschiede und Ähnlichkeiten – genauer betrachtet

Nachfolgend soll die Problematik stärker unter strukturellen und juristischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Hierbei geht es zunächst um die Unterschiede, während in einem weiteren Abschnitt von den Ähnlichkeiten zwischen den beiden Gruppen von Rechten die Rede sein soll. Was die klassischen Freiheitsrechte angeht, wie sie im Grundgesetz, in der EMRK wie auch im Politischen Pakt erscheinen, so stellen sie ihrem Idealtypus nach Abwehrrechte dar. Das BVerfG hat diese Charakterisierung in seinem berühmten Lüth-Urteil aus dem Jahre 1958 26 übernommen. Vom Staat wird – unbeschadet seiner Rolle als Garant für Sicherheit und Ordnung – erwartet, dass er die freie gesellschaftliche Betätigung seiner Bürger respektiere. Deren »angeborene« Rechte soll er achten: Meinungsäußerungen sollen nicht unterbunden werden, es darf keine Zensur geben, niemand soll seiner religiösen Überzeugungen oder politischen Ansichten wegen verfolgt werden. Selbstverständlich gehört vor allem der Schutz der körperlichen Freiheit zu den Kernelementen des klassischen Grundrechtskonzepts. Die Rechtsregel des Habeas corpus bildet gleichsam den Urgrund der Menschenrechte. Der Staat muss sich grundsätzlich jeden Eingriffs in die Freiheit seiner Bürger enthalten. Festnahme und Haft sind nur zu legitimen öffentlichen Zwecken unter richterlicher Aufsicht zulässig, insbesondere aus Gründen der Strafverfolgung. Unter allen Umständen hat die Misshandlung von Häftlingen zu unterbleiben. Der Idealtypus (im Sinne von Max Weber) besitzt somit klare Konturen. Von den staatlichen Organen wird lediglich ein Unterlassen verlangt – ein Unterlassen, zu dem jeder Staat, selbst der schwächste, in der Lage ist. Nun zu dem Idealtypus der wirtschaftlichen und sozialen Rechte. Der Staat erscheint hier als eine Art von Dienstleistungsunternehmen, das materielle Bedürfnisse der Bürger befriedigt. Der Begriff der Daseinsvorsorge, von Ernst Forsthoff wenn auch nicht erfunden, so doch in die juristische Begrifflichkeit eingeführt, 27 entspricht diesem Handlungsmuster, auch wenn Forsthoff selbst die Daseinsvorsorge wohl in einem engeren Sinne verstanden hat (als Be26 27

BVerfGE 7, 198, 204. Ernst Forsthoff: Der Staat als Leistungsträger. Stuttgart 1938. A

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lieferung mit materiellen Gütern). 28 So umschließt das Recht auf Arbeit in seiner umfassendsten – unjuristischen – Bedeutung auch das Recht des Einzelnen, mit einem Arbeitplatz versehen zu werden. Das Recht auf soziale Sicherheit bedeutet, dass der Einzelne gegen die unvorhergesehenen Widrigkeiten der Existenz abgefedert werden und dass ihm nach Abschluss seines Arbeitslebens eine Rente zustehen soll. Auf Grund des Rechts auf Erziehung/Bildung haben Kinder und Heranwachsende einen Anspruch darauf, in ein staatliches Schulsystem aufgenommen zu werden. Die unleugbaren strukturellen Unterschiede zwischen klassischen Freiheitsrechten auf der einen Seite und wirtschaftlichen und sozialen Rechten auf der anderen haben auf der internationalen Ebene zu deutlich erkennbaren Unterschieden in der rechtlichen Regelung geführt. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, dem Rechtsinstrument, mit dem die Menschenrechtsbewegung nach dem II. Weltkrieg ihren ersten großen Schub erhielt, finden sich die beiden Gruppen von Rechten noch in schöner Eintracht beieinander. Die Erklärung beginnt mit einer Beschwörung der »angeborenen Würde« des Menschen, 29 proklamiert in Art. 3 den Schutz des menschlichen Lebens und listet dann bis Art. 21 alle aus den klassischen Kodifikationen bekannten Rechte auf. Mit Art. 22 beginnt dann die Aufzählung der Rechte des neuen Typs, wobei man keinerlei Ängstlichkeit an den Tag legt. Vom Recht auf Arbeit (Art. 23) bis hin zum Recht auf Erholung und Freizeit Vgl. Ernst Forsthoff: Lehrbuch des Verwaltungsrechts. München 10 1973, S. 368–373, 567 f. Dazu Jens Kersten: Die Entwicklung des Konzepts der Daseinsvorsorge im Werk von Ernst Forsthoff. In: Der Staat 44 (2005), S. 543, 554. In der Europäischen Union ist der Begriff der Daseinsvorsorge seit einer Mitteilung der Kommission aus dem Jahre 1996 (»Die Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa«, ABlEG C 281, 26. 9. 1996) im Zusammenhang mit einer Neudefinition der Ziele der europäischen Integration nach Maastricht zu einem zentralen Thema geworden. Vgl. dazu jetzt das Weißbuch der Kommission zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, 12. 5. 2004, KOM (2004) 374 endg. Aus dem Schrifttum vgl. etwa Siegfried Broß: Daseinsvorsorge – Wettbewerb – Gemeinschaftsrecht. In: JZ 2003, S. 874–879; Marc Lehr: Europäisches Wettbewerbsrecht und kommunale Daseinsvorsorge. In: DÖV 2005, S. 542–551; Hans-Jürgen Papier: Kommunale Daseinsvorsorge im Spannungsfeld zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht. In: DVBl. 2003, S. 686–697; Alexander Schink: Kommunale Daseinsvorsorge in Europa. In: DVBl. 2005, S. 861–870. 29 Die Bestimmung hat, was vielen Juristen in Deutschland nicht bekannt ist, als Vorlage für den Art. 1 GG gedient. 28

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(Art. 24) ist dort alles vertreten, was es an Wünschbarkeiten gibt – mit Ausnahme allerdings des Rechts auf Glück, das ja bekanntlich auch in den amerikanischen Verfassungsdokumenten nicht verankert ist, sondern stattdessen das Recht auf »pursuit of happiness« (Declaration of Independence, 1776). Ursprünglich sollte die Erklärung in Form eines einzigen Vertrages in rechtliche Verbindlichkeit umgesetzt werden: die Erklärung selbst hat ja bekanntlich als Resolution der UN-Generalversammlung lediglich den Charakter einer Empfehlung. Aber diese Einheit wurde im Zuge der Redaktionsarbeiten aufgegeben. Die UN-Generalversammlung beschloss im Jahre 1952, 30 dass zwei getrennte, wenn auch weitgehend parallellaufende Vertragsinstrumente erarbeitet werden sollten. Im Schrifttum der sozialistischen Staaten ist dieser Trennungsbeschluss noch Jahrzehnte später als schwerer Sündenfall gebrandmarkt worden, nicht zuletzt von Bernhard Graefrath, 31 der zu DDR-Zeiten vor dem Verfasser dieser Zeilen an der Humboldt-Universität Völkerrecht lehrte. 4.1. Unterschiede Aber hinter dem Trennungsbeschluss standen durchaus handfeste, gut zu rechtfertigende Gründe. Die entscheidende Überlegung war, dass die Gewährleistungsmodalitäten in den zukünftigen beiden Menschenrechtspakten nicht dieselben sein könnten. Dies kommt heute sehr deutlich in dem jeweiligen Art. 2 der beiden Pakte zum Ausdruck. Während Art. 2 IPBPR kompromisslos die volle Einhaltung der nachfolgenden Rechte fordert (»Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, die in diesem Pakt anerkannten Rechte zu achten […].«), lässt der Text des Art. 2 Abs. 1 IPWSKR viele Bedenken und Zögerlichkeiten erkennen: Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, einzeln und durch internationale Hilfe und Zusammenarbeit, insbesondere wirtschaftlicher und technischer Art, unter Ausschöpfung aller seiner Möglichkeiten Maßnahmen zu treffen, um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln, vor allem durch gesetzgeberi-

Resolution 543 (VI). Bernhard Graefrath: Menschenrechte und internationale Kooperation. 10 Jahre Praxis des Internationalen Menschenrechtskomitees. Berlin 1988, S. 43.

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sche Maßnahmen, die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen.

Ausdrücklich wird also festgehalten, dass die Verwirklichung der Rechte des Paktes ein gestreckter Prozess ist, dessen Abschluss nicht von heute auf morgen erwartet werden kann – im Einklang mit der schlichten Erkenntnis, dass die Leistungskraft eines jeden Gemeinwesens beschränkt ist und von vielen Faktoren abhängt, die der souveränen Macht des staatlichen Leviathans weitgehend entzogen sind. Es gilt also nicht nur der Satz: habent sua fata libelli, sondern auch der Satz: habent sua fata res publicae, wie man gerade in Deutschland zur Genüge weiß. Ganz im Einklang mit dieser Weichenstellung haben sich die Verfasser des Sozialpaktes entschlossen, als einzige Kontrollmodalität ein Berichtsprüfungsverfahren zuzulassen, an dem die begünstigten Bürger selbst nicht beteiligt sind. Ganz anders hingegen die Leitentscheidungen im Politischen Pakt. In Art. 2 Abs. 3 (a) wird vorgeschrieben, dass jedem, der in seinen Rechte aus dem Pakt verletzt worden ist, 32 im innerstaatlichen Rechtsraum eine wirksame Beschwerde zur Verfügung stehen müsse. Überdies wird der Politische Pakt von einem Fakultativprotokoll begleitet, das ein Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Kein Staat ist verpflichtet, das Protokoll zugleich mit dem Pakt anzunehmen. Eine erstaunlich hohe Zahl von Staat hat sich gleichwohl diesem Kontrollmechanismus unterworfen. Von den 154 Vertragsparteien des Paktes sind nicht weniger als 105 gleichzeitig auch Vertragsparteien des [Ersten] Fakultativprotokolls. 33 Prominent unter den Ländern, die zwar eine materielle Bindung eingegangen sind, aber eine Überprüfung ihres Handelns durch den Menschenrechtsauschuss im Wege der Individualbeschwerde ablehnen, stehen die USA. Ganz bewusst haben sich die Schöpfer der beiden Vertragswerke dafür entschieden, eine Individualbeschwerde für die wirtschaftlichen und sozialen Rechte nicht vorzusehen. Vorstöße, diese Lücke zu schließen, sind vor vielen Jahren unternommen worden und haben ein förmliches Verfahren in Gang gesetzt, haben aber bis heute bei den Staaten wenig Gegenliebe gefunden, obwohl die Mehrzahl Richtig müsste es natürlich heißen, dass eine Beschwerde für jeden gegeben sein muss, der sich in seinen Rechten verletzt fühlt. 33 Stand: 13. Dezember 2005 nach Angaben des UN-Hochkommissars für Menschenrechte. 32

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der Menschenrechtsaktivisten das Vorhaben vorbehaltlos unterstützt. 34 Der Unterschied zwischen den beiden Gruppen von Rechten kommt auch in den Formulierungen der Einzelrechte zum Vorschein. Im Pakt über bürgerliche und politische Rechte heißt es durchweg klar und bündig, jedermann habe ein bestimmtes Recht, oder niemand dürfe zum Beispiel misshandelt oder gefoltert werden (Art. 7). Die englische Sprache ist hier übrigens unter dem Gesichtspunkt der political correctness im Vorteil, da die Formulierungen lauten: everyone, oder: no one. Vom textlichen Befund her ist also kein Zweifel daran erlaubt, dass es sich um echte subjektive Rechtspositionen handeln soll. Ganz anders steht es bei den Artikeln des Sozialpaktes. Dort wird zwar jeweils in Abs. 1 ein Recht formuliert, das sich als Recht individuellen Zuschnitts verstehen lässt, aber in Abs. 2 wird dann anschließend des Näheren definiert, welchen Inhalt das Recht hat – jeweils mit einer einschneidenden Verengung. So heißt es zum Beispiel in Art. 6 Abs. 1 betreffend das Recht auf Arbeit: Die Vertragsstaaten erkennen das Recht auf Arbeit an, welches das Recht jedes einzelnen auf die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt durch frei gewählte oder angenommene Arbeit zu verdienen, umfasst, und unternehmen geeignete Schritte zum Schutz dieses Rechts.

Aber in Abs. 2 wird die individualistische Deutung sogleich wieder zurückgenommen, indem erklärend hinzugefügt wird: Die von einem Vertragsstaat zur vollen Verwirklichung dieses Rechts zu unternehmenden Schritte umfassen fachliche und berufliche Beratung und Ausbildungsprogramme sowie die Festlegung von Grundsätzen und Verfahren zur Erzielung einer stetigen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung und einer produktiven Vollbeschäftigung unter Bedingungen, welche die politischen und wirtschaftlichen Grundfreiheiten des einzelnen schützen.

Damit erst steht fest, was eigentlich den Staaten als Verpflichtung aufgegeben wird bzw. was sie als Verpflichtung übernommen haben. Sie müssen alles tun, damit ein wirtschaftliches Umfeld entsteht, das Vgl. dazu jüngst Michael J. Dennis/David P. Stewart: Justiciability of Economic, Social, and Cultural Rights: Should There Be an International Complaints Mechanism to Adjudicate the Rights to Food, Water, Housing, and Health? In: AJIL 98 (2004), S. 462– 515; Christian Tomuschat: An Optional Protocol for the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights? In: Klaus Dicke (Hrsg.): Weltinnenrecht. Liber amicorum Jost Delbrück. Berlin 2005, S. 815–834.

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jedermann die Chance gibt, einen Arbeitsplatz zu finden. Von einem echten Recht auf Arbeit, einem Recht, von Staats wegen mit einem Arbeitsplatz versorgt zu werden, ist man damit Längen entfernt. In der Europäischen Sozialcharta mit einem ganz ähnlichen strukturellen Aufbau sind die Formulierungen noch vorsichtiger gefasst. Das »Recht auf Arbeit« wird dort in Art. 1 von Teil II wie folgt umschrieben: Um die wirksame Ausübung des Rechtes auf Arbeit zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien: zwecks Verwirklichung der Vollbeschäftigung die Erreichung und Aufrechterhaltung eines möglichst hohen und stabilen Beschäftigungsstandes zu einer ihrer wichtigsten Zielsetzungen und Aufgaben zu machen.

Ein Recht auf Arbeit als solches wird also gar nicht genannt. Auch hier also beschränkt sich die konkrete Verpflichtung der Staaten auf die Schaffung von Rahmenbedingungen, die jedermann den Zugang zu einer adäquaten Beschäftigung erleichtern. Zusätzlich stellt Art. A in Teil III des Vertragswerkes klar, dass die in Teil I genannten »Rechte« bloße Zielverpflichtungen darstellen.

4.2. Ähnlichkeiten Und dennoch täuscht die schroffe Gegenüberstellung. Trotz der unleugbaren Unterschiede gibt es einige verbindende Merkmale, die sich dem Auge des Betrachters freilich nicht auf den ersten Blick erschließen. Begonnen sei mit einer Reihe von politischen Erklärungen, die gleichsam in Überwindung der Trennungsstruktur, die von den beiden Weltpakten eingeführt worden ist – die übrigens ihrerseits in der jeweiligen Präambel den materiellen Gleichklang betonen –, die Einheit der Menschenrechte beschwören. Genannt sei zunächst die Proklamation von Teheran aus dem Jahre 1968, Produkt einer ersten Weltmenschenrechtskonferenz noch zu Zeiten des Schahs, wo festgestellt wurde (§ 13): Since human rights and fundamental freedoms are indivisible, the full realization of civil and political rights without the enjoyment of economic, social and cultural rights is impossible.

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Förmlich aufgenommen wurde die Thematik wieder einige Jahre später in der Resolution 32/130 der UN-Generalversammlung vom 16. Dezember 1977, die von der sozialistischen Staatenwelt immer als großer Erfolg gefeiert wurde. Es heißt dort wiederum mit fast identischen Formulierungen (§ 1. (a)): All human rights and fundamental freedoms are indivisible and interdependent; equal attention and urgent consideration should be given to the implementation, promotion and protection of both civil and political, and economic, social and cultural rights […].

Ganz ähnliche Formulierungen finden sich in der Abschlusserklärung der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz von 1993, 25 Jahre nach Teheran, sowie auch in der sog. Millenniumserklärung der UNGeneralversammlung vom September 2000, 35 die im Beisein einer hohen Anzahl von Staats- und Regierungschefs aus aller Welt die strategischen Ziele der Weltorganisation für das neue Jahrhundert definieren sollte. Damit ist die Betrachtung wieder am Ausgangspunkt dieses Vortrags angelangt. 4.3. Verbindende Elemente Obwohl die vorangegangenen Überlegungen eher die Trennungselemente dieses Vortrags betont haben, hat die Sehnsucht nach der Einheit des Rechtsregimes doch auch gewisse reale Fundierungen. Von ihnen soll jetzt die Rede sein. 4.3.1. Freiheitsrechte mit Leistungspflichten des Staates Offensichtlich ist zunächst im Hinblick auf die Schutzgarantien für das gerichtliche Verfahren, dass es hier nicht mit einem bloßen Unterlassen der Staaten getan ist. Wenn Grundgesetz, EMRK und Politischer Pakt unisono fordern, dass jegliche Freiheitsentziehung unter gerichtlicher Kontrolle stehen muss, so bedeutet dies, dass eine Gerichtsorganisation überhaupt bestehen muss. Gerichte müssen geschaffen, Richter müssen ernannt werden, all dies verursacht Kosten, die aus dem staatlichen Budget bestritten werden müssen. Aber dies ist nie ein Hindernis für die Einstufung prozessualer Grundrechte als 35

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echter subjektiver Grundrechte gewesen. Nie hat man hier den Einwand erhoben, die Abhängigkeit von staatlicher Finanzierung verbiete die Annahme eines individuell durchsetzbaren Rechtsanspruchs. Dass hier nie Zweifel laut geworden sind, beruht offensichtlich auf der Tatsache, dass man bei der Abfassung der genannten Rechtsinstrumente stets ein bestimmtes Bild von Staatlichkeit vor Augen gehabt hat. Einem Gebilde, das kein funktionierendes Gerichtssystem zu schaffen vermag, fehlt es an elementaren Konstitutionselementen der Staatlichkeit. Grob ausgedrückt: ein Gebilde ohne Gerichte ist eigentlich gar kein Staat, denn es ist nicht in der Lage, die essentielle Aufgabe eines Staatswesens erfolgreich wahrzunehmen, nämlich Rechte und Ordnung zu sichern. Es ist also nicht allein die Unterscheidung zwischen Unterlassungs- und Handlungspflichten bestimmend, vielmehr kommt es auch darauf an, ob bestimmte Menschenrechte, die auf ihrer Kehrseite immer staatliche Verpflichtungen sind, einer Kernaufgabe des Staates entsprechen. Dies wird auch sichtbar in der Lehre von den staatlichen Schutzpflichten, die sich in großer inhaltlicher Übereinstimmung mehr oder weniger gleichzeitig im System des Grundgesetzes unter dem Einfluss des Bundesverfassungsgerichts, innerhalb der EMRK nach Maßgabe der Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs und im Rahmen des Politischen Paktes nach konzeptionellen Vorgaben des Menschenrechtsausschusses entwickelt hat. 36 Auch im Wortlaut und nicht nur kraft juristischer Deduktion erscheint die Schutzpflicht in der EMRK in Art. 2 Abs. 1, 37 im Politischen Pakt in Art. 6 Abs. 1. 38 Beide Male heißt es, das Recht auf Leben sei »gesetzlich« (»by law«) zu schützen. Aber es versteht sich von selbst, dass der bloße Erlass von Gesetzen nicht ausreicht. Das Recht auf Leben muss effektiv geschützt werden, was heißt, dass die GesetFür den Menschenrechtsausschuss nach dem Politischen Pakt vgl. General Comment 4 (13), angenommen am 28. 7. 1981. In: Yearbook of the Human Rights Committee 1981–1982. Volume II, S. 299, Nr. 2: »[…] prevention of discrimination […] requires not only measures of protection but also affirmative action designed to ensure the positive enjoyment of rights«; vgl. auch den General Comment zum Recht auf Leben. In: Yearbook of the Human Rights Committee 1981–1982. Volume II, S. 382, Nr. 2: »[…] States have the supreme duty to prevent wars, acts of genocide and other acts of mass violence causing arbitrary loss of life.« 37 »Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt […]«. 38 »Jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Leben. Dieses Recht ist gesetzlich zu schützen […]«. 36

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ze zum Schutz des Lebens auch durchgesetzt werden müssen, durch Polizei, durch Gerichte, gegebenenfalls auch durch weiterreichende Maßnahmen. Der Europäische Menschenrechtshof fordert etwa, dass in allen Fällen, wo Menschen von staatlichen Organen festgenommen und verschleppt worden sind oder wo sie in der Hand staatlicher Organe den Tod gefunden haben, eine genaue Untersuchung durchgeführt wird. 39 Die verantwortliche Behörde kann sich nicht damit begnügen, den Angehörigen einfach den Totenschein zuzusenden. In seinem Tschetschenien-Urteil vom 24. Februar 2005 40 fordert er, dass militärische Operationen sorgfältig geplant und kontrolliert werden, damit das Risiko eines Verlusts menschlichen Lebens auf ein Minimum hinabgedrückt wird. Im System des Politischen Paktes erreichte das Schutzpflichtkonzept seinen Höhepunkt mit dem »general comment« des Menschenrechtsausschusses vom 2. November 1984 mit der Aussage, dass die Herstellung, die Erprobung, der Besitz, die Aufstellung und der Einsatz von Atomwaffen verboten und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt werden sollten (»should«). 41 Hier liegt freilich eine erhebliche konzeptionelle Schwierigkeit. Wie weit ist der Lebensschutz auszudehnen, um auch Gefährdungen des Lebens vorbeugend auszuschließend? Bernhard Graefrath, von dem bereits die Rede war, pflegte in seiner Zeit als Mitglied des Menschenrechtsausschusses den anwesenden Staatenvertretern bei einer Berichtsprüfung stets die Frage zu stellen, welche Schritte sie unternehmen würden, um die Kindersterblichkeit in ihrem Lande zu senken. 42 Damit ist man ganz unmissverständlich bei dem Recht auf Gesundheit angelangt, das einen festen Bestandteil des Sozialpaktes bildet (Art. 12) und zu dessen Konkretisierung die Teilregel stipuliert ist, die Staaten seien gehalten, Maßnahmen zur »Senkung der Zahl der Totgeburten und der Kindersterblichkeit sowie zur gesunden Entwicklung des Kindes zu ergreifen«. Insgesamt verlangt das Recht auf Gesundheit von den Vertragsstaaten, ein Gesundheitssystem einzurichten, das geeignet ist, jedermann wirksamen Gesundheitsschutz Vgl. etwa aus jüngster Zeit die Urteile in den Sachen Gongadze v. Ukraine, 8. 11. 2005, § 164; Mordeniz v. Turkey, 10. 1. 2006, §§ 92–95. 40 Isayeva v. Russia, § 175. 41 General Comment 14 (23). In: Yearbook of the Human Rights Committee 1985– 1986. Volume II, S. 413, Nr. 6. 42 Vgl. etwa die an den bulgarischen Vertreter am 13. 4. 1979 gerichteten Fragen. In: Yearbook of the Human Rights Committee 1979–1980, Volume I, S. 40, Nr. 3. 39

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zu leisten; es ist also bewusst nicht als subjektives Recht des Einzelnen ausgestaltet. Kann man dennoch einzelne Bestandteile des Rechts auf Gesundheit nach dem Sozialpakt dem Recht auf Leben nach dem Politischen Pakt zuschlagen? Es ist schwierig, hier die richtige Trennlinie zu ziehen. Offenbar gibt es einen gewissen Grenzbereich, in dem sich beide Gruppen von Rechten überschneiden. Für die Frage der Zulässigkeit einer Individualbeschwerde nach den drei genannten Rechtsinstrumenten Grundgesetz, EMRK und Politischer Pakt ist es von entscheidender Bedeutung, wo sich ein erhobener Anspruch auf die Gewährung bestimmter Leistungen verorten läßt. Für die Überwachungsinstanzen eines Systems klassischer Freiheitsrechte ist es eine große Versuchung, nicht nur als Wächter zum Schutze des Einzelnen gegen staatliche Eingriffe aufzutreten, sondern gleichzeitig auch darüber hinaus Leistungen zu gewähren. So hat der Menschenrechtsausschuss nach dem IPBPR vor kurzem in einem gegen Deutschland gerichteten Fall das Verbot der Zwangsarbeit mit seiner Ausnahme für Pflichtarbeit in einer Haftanstalt (Art. 8 Abs. 3 IPBPR) als mögliche Quelle für Ansprüche auf ein Arbeitsentgelt gewertet. 43 Ähnliche Tendenzen lassen sich in der Rechtsprechung des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs ausmachen, indem staatliche Wohlfahrtsleistungen als geschützte Eigentumspositionen etikettiert werden. 44 Ein kurzer Blick sei noch auf das Misshandlungs- und Folterverbot nach Art. 3 EMRK und Art. 7 IPPBR geworfen. Auch hier liegt auf der Hand, dass es mit dem bloßen Erlass von Vorschriften nicht getan ist, die sich darauf beschränken, das Verbot zu wiederholen. Jeder Vertragsstaat ist gehalten, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, damit es tatsächlich in den Einrichtungen unter seiner Verantwortung nicht zu irgendwelchen Verstößen kommt. Das bedeutet Schulung der zuständigen Beamten, Einrichtung von Überwachungsmechanismen, Bestrafung von Zuwiderhandlungen usw. Auch hier ist also der Staat aufgerufen, aktiv tätig zu werden, er kann sich nicht darauf beschränken, sich nach dem Erlass entsprechender Verbotsbestimmungen einfach zurückzulehnen. 45 Damit kann eine VerletEntscheidung vom 5. 8. 2005, Radosevic, Mitteilung 1292/2004, UN-Dok. CCPR/C/ 84/D/1292/2004, Ziff. 7.2. 44 Vgl. die Urteile Gaygusuz/Österreich, 16. 9. 1996, Reports of Judgments and Decisions 1996-IV, S. 1129, 1142 § 41; Koua Poirrez/Frankreich, 30. 9. 2003, § 37. 45 Dazu jetzt auch das Urteil des House of Lords (Lord Bingham) vom 8. 12. 2005, A 43

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zung des Folterverbots selbst durch bloßes Unterlassen begangen werden. 46 Selbst in einer Notstandslage muss das Folterverbot eingehalten werden. 47 4.3.2. Wirtschaftliche und soziale Rechte mit einem Freiheitskern So wie die Analyse der klassischen Freiheitsrechte eine gewisse Ausdehnung in den Bereich der typischen Leistungsrechte hinein zeigt, lässt sich auf der anderen Seite auch erkennen, dass die letzteren in den sachlichen Geltungsbereich der klassischen Freiheitsrechte hineinragen. Dies wird vor allem bei einem Vergleich der beiden Weltpakte sichtbar – ein Vergleich, der sich beim Grundgesetz »mangels Masse« gar nicht anstellen lässt. Eine erste Feststellung ist banal: das Recht der Vereinigungsfreiheit in der besonderen Spielart der Gewerkschaftsfreiheit findet sich in beiden Weltpakten (Art. 22 IPBPR, Art. 8 Abs. 1 IPWSKR). Die Vereinigungsfreiheit gehört zum hergebrachten Bestand der Freiheitsrechte. Man hat sie offenbar deswegen auch in den Sozialpakt aufgenommen, weil sie mit den übrigen dort genannten Rechten eine sachliche Einheit bildet. Der Sachzusammenhang sollte auch in der Textgestalt zum Ausdruck kommen. Das Beispiel zeigt, dass im Einzelfall die Zuordnung von politischen Erwägungen abhängig sein kann, die mit Inhalt und Struktur des jeweiligen Rechts wenig zu tun haben. Bei anderen Rechten fragt man sich, weshalb sie in den Sozialpakt »degradiert« worden sind, obwohl sie klassischem liberalem Gedankengut entstammen. Das gilt für das Recht der Eltern, über die Erziehung ihrer Kinder im Einklang mit ihren eigenen Überzeugungen zu bestimmen (Art. 13 Abs. 3), wie auch das Recht, eigene Unterrichtsanstalten (Privatschulen) zu gründen (Art. 13 Abs. 4). Beide Rechte entsprechen dem herkömmlichen Bild eines Freiheitsrechts: dem Staat wird lediglich aufgegeben, sich jeden beschränkenden Eingriffs zu enthalten. Er braucht von seiner Seite aus keinerlei Leistungen zu erbringen. Dennoch hat man diesen beiden Rechten durch die (FC) and others (FC) v. Secretary of State for the Home Department, ILM 44 (2005), S. 654, §§ 40, 41. 46 Vgl. Europäischer Menschenrechtsgerichtshof (EMRGH), McGlinchey v. UK, 29. 4. 2003, §§ 57, 58. 47 EMRGH, Chahal v. UK, 15. 11. 1996, Reports of Judgments and Decisions 1996-V, S. 1831, 1855 § 79. A

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Einstufung in den Sozialpakt eine wichtige Eigenschaft genommen, nämlich diejenige, durch Individualbeschwerde verteidigt werden zu können. Mag man angesichts der beiden genannten Beispiele noch sagen, hier sei einfach aus politischen Gründen bewusst eine Fehlzuordnung vorgenommen worden, so liegt eine weitere Argumentationslinie auf einer qualitativ anderen Ebene. Der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hat in seinen »Allgemeinen Bemerkungen« zum Sozialpakt eine Trias der Gewährleistungsverpflichtungen entwickelt. Seiner Auffassung nach haben die Vertragsparteien des Paktes durchweg eine dreifache Verpflichtung, nämlich to respect, to protect and to fulfil, also die Paktrechte zu achten, sie zu schützen und zu erfüllen. 48 Es lässt sich im Rahmen dieses Vortrags nicht im einzelnen darlegen, ob diese Lehre insgesamt richtig ist. Beim Recht auf Arbeit bringt die Zergliederung sinnvolle Ergebnisse, wenn man davon ausgeht, dass dieses Recht grundsätzlich eben doch (auch) ein individuelles Recht darstellt. Achten heißt: niemanden mit einem Arbeits- oder Berufsverbot belegen; schützen heißt: dafür sorgen, dass niemand durch einen gesellschaftlichen Boykott oder andere gesellschaftliche Diskriminierungen von privater Seite daran gehindert wird, seine Arbeitskraft zu entfalten; erfüllen: das kann, wie dargelegt, nur heißen, dass der Staat Maßnahmen allgemeiner Art trifft, um die Nachfrage nach Arbeit zu stimulieren. 49 Methodisch heißt dies, dass durch genaue Analyse einzelner Rechte nach dem Dreischritt Elemente klassischer Freiheitssubstanz freigelegt werden. Das Recht auf Arbeit eignet sich für eine solche Analyse besonders gut. Bei anderen Rechten lässt sich das Dreierschema kaum mit Gewinn anwenden. Was soll die gebotene Achtung, the duty to respect, bei einem Recht wie dem auf soziale Sicherheit bedeuten? Was andererseits das Recht auf Gesundheit angeht, so ergibt die erste Dimension des Achtens gegenüber dem Schutz des Lebens und dem Verbot der Misshandlung in den Art. 6 und 7 IPBPR kaum neue Erkenntnisse, jedenfalls dann nicht, wenn man den sachlichen Geltungsbereich dieser beiden Vorschriften einigermaßen weit interpretiert. Auch hinsichtlich des Rechts auf Wohnung ist die erste General Comment Nr. 12, The Right to Adequate Food, 12. 5. 1999, UN-Dok. E/C.12/ 1999/5, 12. 5. 1999, § 15. 49 Dazu jetzt auch der General Comment Nr. 18 des Committee on Economic, Social and Cultural Rights, 24. 11. 2005, UN-Dok. E/C.12/2005, 24. 11. 2005. 48

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Dimension schon voll durch das Verbot von Eingriffen in Privatleben, Familie und Wohnung nach Art. 17 IPBPR abgedeckt. Als richtige Erkenntnis bleibt, dass soweit der Sozialpakt wichtige individuelle Rechtsgüter identifiziert, diese auch gegen Eingriffe geschützt werden sollten. Die zweite Argumentationslinie nimmt ihren Ausgang von der existentiellen Bedeutung mancher Rechte des Paktes. Sie postuliert die Existenz sog. »core rights«, von Kernrechten, die auf jeden Fall situationsunabhängig geschützt werden müssten. 50 Zu diesen Rechten darf man wohl auch das Recht auf Grundschulbildung nach Art. 13 Abs. 2 (a) IPWSKR rechnen. Es unterliegt gar keinem Zweifel, dass ein menschliches Wesen, dem die Fähigkeit abgeht, zu lesen und zu schreiben, in seiner ganzen Entwicklung schwerwiegend gehemmt ist. Der Betroffene wird sich niemals über komplexe politische Zusammenhänge informieren können; das Studium eines philosophischen Werkes wird ihm sein Leben lang verschlossen bleiben. In seiner beruflichen Laufbahn wird er zwangsläufig auf der untersten Stufe hängen bleiben. Insgesamt erfährt er eine strukturelle Diskriminierung, die einem Angriff auf seine Würde gleichkommt, jedenfalls in einer Gesellschaft, wo die Fähigkeit des Lesens und Schreibens sonst Allgemeingut ist. Es spricht daher vieles dafür, auf das Recht auf Grundschulbildung die Logik anzuwenden, die auch für die prozessualen Grundrechte gilt. So wie der Staat gehalten ist, Gerichte zu schaffen und dem Einzelnen den Rechtsweg zu eröffnen, sollte er auch gehalten sein, unter allen Umständen konjunkturunabhängig Schulen einzurichten und Unterricht zu erteilen. Auch beim Recht auf Ernährung lässt sich eine plausible Argumentation aufmachen. Generell lässt sich dieses Recht, das auf seiner Kehrseite als Verpflichtung des Staates definiert ist, nicht als ein subjektives Recht umdeuten. Jeder muss zunächst selbst für seinen eigenen Unterhalt sorgen. Nur diese Deutung entspricht der Würde eines selbstbestimmten menschlichen Wesens. Aber wenn der Hungertod droht, wenn ein Mensch aufgrund Kräfteverfalls handlungsunfähig wird, sollte ihm ein Recht auf rettende Hilfe zustehen 51 – wahrVgl. UN Committee on Economic, Social and Cultural Rights, General Comment Nr. 3, 14. 12. 1990, § 10. 51 Dazu der General Comment Nr. 12 des Committee on Economic, Social and Cultural Rights, The Right to Adequate Food (Fn. 48), §§ 15, 17, sowie jüngst José Martínez Soria: Das Recht auf Sicherung des Existenzminimums. In: JZ 2005, S. 644–652. 50

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scheinlich ein eher theoretisches Konzept, da in solchen Lagen in aller Regel dem Staat selbst keinerlei Ressourcen bleiben. 4.3.3. Der Gleichheitssatz als Maßstab Die dritte Argumentationslinie nimmt ihren Ausgang von Gleichheit und Nichtdiskriminierung. Nach dem Grundgesetz wie auch nach der EMRK und den beiden Weltpakten ist es unstatthaft, jemanden ohne sachlichen Grund zu benachteiligen oder zu bevorzugen. Da der Gleichheitssatz des Grundgesetzes ganz allgemein gilt, ganz ohne Rücksicht auf das Sachgebiet, in dem sich die staatliche Tätigkeit entfaltet, wird der Bürger in Deutschland auch dann durch Art. 3 Abs. 1 GG geschützt, wenn es sich um die Statuierung von wirtschaftlichen und sozialen Rechten durch die einfache Gesetzgebung und deren praktische Anwendung geht. Hingegen ist der Gleichheitssatz des Art. 14 EMRK streng akzessorisch und gilt nur, wo in der Hauptsache eines der sonstigen materiellen Rechte der EMRK zur Debatte steht. Ein Reformvorhaben, das den Gleichheitssatz aus dieser thematischen Einengung herauslöst, hat vor kurzem im Zusatzprotokoll Nr. 12 zur EMRK 52 seinen Niederschlag gefunden und ist auch schon mit bis heute 11 Ratifikationen in Kraft getreten, hat aber bei den traditionellen Vertragsparteien – außer den Niederlanden – keine Gnade gefunden. 53 Im Wesentlichen hat es also der Europäische Menschenrechtsgerichtshof nach wie vor nur mit den in der EMRK niedergelegten Rechten zu tun, die wie die Grundrechte des Grundgesetzes auch – hier mit Ausnahme des Art. 2 Abs. 1 GG – jeweils nur bestimmte Handlungsfelder oder Rechtsgüter unter Schutz stellen. Anders ist die Lage beim Politischen Pakt. In einer kühnen Interpretation hat der Ausschuss sich zu der Auffassung bekannt, dass in dem Art. 26 des Paktes ein allgemeiner Gleichheitssatz niedergelegt sei, der auch zur Rüge einer Verletzung der im Sozialpakt niedergelegten Rechte herangezogen werden könne. 54 Damit hat er sich Vom 4. 11. 2000, CETS 177. Erstaunlich die Liste der Vertragsparteien, meistens osteuropäische Staaten, die wohl sämtlich der Meinung waren, sie schuldeten es als Neuankömmlinge im Europarat ihrer Reputation, zu einer Ratifikation zu schreiten: Albanien, Armenien, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Finnland, Georgien, Niederlande, San Marino, Serbien und Montenegro, Mazedonien, Zypern. 54 Entscheidungen zu Individualbeschwerden in den Fällen Broeks, Danning und 52 53

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zur Entscheidungsinstanz auch für die Rechte des Sozialpaktes aufgeworfen, dessen Schutzsystem ja eben bisher keine Individualbeschwerde kennt. 55 Abgesehen von dieser institutionellen Unstimmigkeit ist es gewiss nicht unvernünftig, Fragen der Gleichheitswidrigkeit von der allgemeinen Frage der Sanktionsfähigkeit des Paktes abzukoppeln. Denn Gleichheitsprobleme tauchen auf, wenn der betroffene Staat tätig geworden ist, wenn er bestimmte Leistungen tatsächlich erbringt und damit manifestiert, dass es tatsächlich in seiner Macht liegt, die wirtschaftliche Bürde auf seine Schultern zu nehmen. Das Argument, auf die staatliche Leistungsfähigkeit müsse schonend Rücksicht genommen werden, schlägt also unter solchen Umständen nicht durch. Den Vertragstaaten wird lediglich aufgegeben, gleichheitsgerecht zu handeln, wenn sie in der Lage sind, die vom Sozialpakt erhofften und angestrebten Wohltaten zu verteilen. Nicht das Ob, sondern nur das Wie steht zur Debatte. Unter dem Grundgesetz stellte sich in ähnlicher Weise vor vielen Jahren, auf dem Höhepunkt wirtschaftlicher Euphorie, in ähnlicher Weise die Frage, ob sich aus Art. 12 Abs. 1 GG ein Anspruch auf die Schaffung von Studienplätzen der gewünschten Art ergeben könne. In weiser Zurückhaltung hat sich letzten Endes das BVerfG dafür entschieden, solche budgetrelevanten Entscheidungen den zuständigen parlamentarischen Gremien zu überlassen, dafür aber die Zulassungspraxis am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG zu überprüfen. 56 Abschließend sei demgemäß die Feststellung getroffen, dass der Gleichheitssatz sich als Querschnittsrecht gut eignet, sowohl den Umgang mit liberalen Freiheitsrechten wie auch den mit wirtschaftlichen und sozialen Rechten zu überprüfen. Die Frage stellt sich nur, in wessen Hände eine solche Kontrolle gelegt werden sollte. Gremien, deren besondere Kompetenz auf dem Gebiet der FreiheitsrechZwaan-de-Vries/Niederlande, 9. 4. 1987. In: Yearbook of the Human Rights Committee 1987. Volume II, S. 293, 297 und 300. 55 Dazu – im wesentlichen billigend – Nisuke Ando: The Evolution and Problems of the Jurisprudence of the Human Rights Committee’s Views concerning Article 26. In: ders. (Hrsg.): Towards Implementing Universal Human Rights. Festschrift for the 25th Anniversary of the Human Rights Committee. Leiden/Boston 2004, S. 205 ff., und – eher kritisch – Christian Tomuschat: The Human Rights Commmittee’s Jurisprudence on Article 26 – A Pyrrhic Victory? In: Nisuke Ando (Hrsg.): Towards Implementing Universal Human Rights. Festschrift for the 25th Anniversary of the Human Rights Committee. Leiden/Boston 2004, S. 225 ff. 56 BVerfGE 33, 303, 333–335. A

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te liegt, sind nicht automatisch auch dafür qualifiziert, sich verbindlich über das richtige Verständnis von wirtschaftlichen und sozialen Rechten auszusprechen.

5.

Schlussbemerkungen

Fünf Hauptergebnisse schälen sich aus den vorstehenden Ausführungen heraus. 1) Klassische Freiheitsrechte auf der einen Seite, wirtschaftliche und soziale Grundrechte auf der anderen Seite sind nicht wie durch eine Brandmauer voneinander getrennt, obwohl sie dem Idealtypus nach unterschiedliche Anforderungen an den verpflichteten Staat stellen. Die Trennungslinie wird nicht allein durch die Kategorisierung als Abwehrrecht oder als Leistungsrecht gezogen, vielmehr stützt sich die Unterscheidung in weitem Umfang auch auf pragmatische Erwägungen der Verfassungstradition. 2) Eine Überbetonung wirtschaftlicher und sozialer Rechte beschwört die Gefahr herauf, dass der Gesetzgeber seiner politischen Gestaltungsaufgabe enthoben wird und dass stattdessen weichenstellende Entscheidungen mit nachhaltigen Auswirkungen auf den Staatshaushalt durch die Gerichte oder auf der internationalen Ebene durch keiner demokratischen Rechenschaftspflicht unterliegende Kontrollorgane getroffen werden. In der Tat lassen sich die beiden Weltpakte als ein umfassendes Handlungsprogramm für Regierungshandeln auffassen. Ganz offensichtlich kann insoweit richterlicher oder quasi-richterlicher Aktionismus zu Spannungen mit dem demokratischen Prinzip führen. 3) Während bürgerliche und politische Rechte von einem Staatsapparat mit geringem Aufwand eingehalten werden können, führt der Versuch der Durchsetzung wirtschaftlicher und sozialer Rechte in Grenzbereiche des Rechts hinein, wo sich die Steuerungskraft des Rechts gegenüber der Entwicklung der tatsächlichen Gegebenheiten nur schwer behaupten kann. Der normativen Struktur der meisten wirtschaftlichen und sozialen Rechte wird es eher gerecht, sie als programmatische Staatsziele aufzufassen. 164

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4) Gleichheitssatz und Diskriminierungsverbot vermögen auch in Verbindung mit wirtschaftlichen und sozialen Rechten ihre Wirkung sinnvoll zu entfalten. Bei der Planung von gerichtlichen oder quasigerichtlichen Kontrollverfahren sollte dieser rechtliche Gesichtspunkt im Vordergrund stehen. Ein Individualbeschwerdeverfahren, das sich über die ganze Breite der im Sozialpakt ausgewiesenen Rechte erstreckt, wird kaum erfolgreich sein können. 5) Obwohl Juristen im allgemeinen individuelle Rechtsdurchsetzungsverfahren für die Krönung der Verrechtlichung eines Gebots oder Verbots halten, dürfen die Augen nicht vor der Tatsache verschlossen werden, dass andere Verfahren wie insbesondere ein Berichtsprüfungsverfahren in bestimmten Sachfeldern sachgerechter und vielleicht sogar effektiver sein können.

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»Menschenwürde« als ein Begriff des Rechts?* Kurt Seelmann (Basel)

1.

Paradoxien

Moderne Verfassungen formulieren in der Regel an prominenter Stelle den Auftrag an die Staatsmacht, die Menschenwürde zu achten und zu schützen. So tut es, beispielgebend für eine Reihe anderer Verfassungen, schon seit 1949 das deutsche Grundgesetz. Obwohl damit der Begriff der Menschenwürde, quasi die gesamte Verfassung tragend, an deren Spitze in Art. 1 Abs. 1 erscheint, war seine verfassungstheoretische Interpretation nicht immer unumstritten. Und seit in der öffentlichen Debatte die moderne Biotechnologie eine herausgehobene Rolle einnimmt, bestimmen Streitigkeiten über die juristische Bedeutung der Menschenwürde auch die Praxis. Das ist nicht verwunderlich. Das Thema »Menschenwürde« leidet nämlich unter Paradoxien. 1 Die erste Paradoxie: Will man das Individuum als Vernunftwesen schützen, das sich selbst Gesetze gibt und Zwecke setzt, so holt man sich die Begründung für den Schutz bei einer die Gattung Mensch als Regelzustand kennzeichnenden Eigenschaft. Postuliert man aber deshalb die Abhängigkeit der Menschenwürde im Einzelfall vom Vorliegen des Gattungsmerkmals der Vernunft, so beeinträchtigt man den Schutz gerade derer, die wegen psychischer Krankheit oder geistiger Behinderung besonders schutzwürdig erscheinen. 2 Verzichtet man, zur Vermeidung dieser Konsequenz, für den Schutz * Eine frühere auf die spezielle Situation in Österreich abstellende kürzere Fassung dieses Textes ist unter dem Titel »Menschenwürde: ein Begriff im Grenzgebiet von Recht und Ethik« erschienen in: Michael Fischer (Hrsg.): Rechtsethik (= Ethik interdisziplinär. Bd. 6). Frankfurt am Main 2006. 1 Zu einigen dieser Paradoxien Kurt Bayertz: Die Idee der Menschenwürde: Probleme und Paradoxien. In: ARSP 81 (1995), S. 465 ff. 2 Volker Neumann: Menschenwürde und psychische Krankheit. In: KritV 1993, S. 276 ff., 283.

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»Menschenwürde« als ein Begriff des Rechts?

der Würde auf das Vorliegen von Vernunft im Einzelfall, so setzt man sich dem Verdikt eines begründungslosen »Speziezismus«, eines Schutzes der Gattung Mensch letztlich ohne Begründung aus. Und die zweite Paradoxie: unterstellt man als Gegenstand der Würde das, was jeder sozialen Anerkennung vorausliegt, so nimmt man der Würde in der Suche nach dem »puren menschlichen Leben« 3 die soziale Dimension, um sich dadurch die Unverfügbarkeit von Würde zu erkaufen. Stützt man Würde umgekehrt auf das Faktum sozialen Respekts, so macht man sie zu einer beliebig zuweisbaren und – noch wichtiger – auch wieder aberkennbaren Größe. Keine der benannten Begründungsvarianten befriedigen wirklich. Zu diesen traditionellen Schwierigkeiten des Begriffs, die man schon seit der Mitte des 20. Jahrhunderts kennt, sind in den letzten Jahren weitere hinzugetreten. Bedeutungsschattierungen wie »Recht auf Natürlichkeit« oder »Recht auf Kontingenz« werden neuerdings dem Würdebegriff zugewiesen, führen aber dadurch zu der weiteren, einer dritten Paradoxie: die Würde des Menschen wird in der Moderne auf seine Vernunft und seine Fähigkeit, sich selbst Zwecke zu setzen, gestützt – was als Überwindung von Natur und Kontingenz gilt. Will man demgegenüber gerade »Natürlichkeit« und »Kontingenz« zum Gegenstand des Würdeschutzes erklären, so fragt sich, worin das Besondere der Würde des Menschen liegt, der doch Natürlichkeit und Kontingenz mit allen Lebewesen – und darüber hinaus mit allen Naturgegenständen – teilt. Zudem macht der Schutz von Natürlichkeit und Kontingenz den Einzelnen, der sich von eben dieser Natürlichkeit und Kontingenz lösen will, zum Pflichtenträger gegenüber seiner eigenen von ihm selbst gar nicht so definierten Würde.

2.

Kantisches Erbe

Meine Ausgangsthese ist nun, dass wir uns über derlei Paradoxien und Unschärfen selbst im Begriffskern von Menschenwürde nicht allzu sehr verwundern dürfen, zeigen sie sich doch schon dort, wo die neuere Wirkungsgeschichte des Begriffs im Verfassungsrecht anzuknüpfen sucht, nämlich in Kants praktischer Philosophie. 3 Hasso Hofmann: Die versprochene Menschenwürde. In: Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) 118 (1993), S. 353, 354, S. 4. Vgl. auch S. 9: »Biologistisch-kurzschlüssige Gleichsetzung von Würde und Leben.«

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Die Würde des anderen zu achten, ihn nicht bloß zum Mittel zu machen, ist in Kants »Metaphysik der Sitten« keine notfalls mit Gewalt durchsetzbare Rechtspflicht, sondern eine Tugendpflicht 4 , inhaltlich freilich auf halbem Weg zwischen einer Rechtspflicht und der anderen Tugendpflicht, der zur Nächstenliebe. 5 Auf halbem Weg, weil diese Tugendpflicht der Achtung wie eine Rechtspflicht eine »negative Pflicht« ist. In gewisser Parallele zum »neminem laede«, zum Verletzungsverbot des Rechts, ist sie nämlich die Pflicht, sich nicht über den andern zu erheben. 6 Ganz anders steht es um die positive Hilfspflicht des Liebesgebots, die eine tätige Zuwendung zum anderen fordert. Was für Kant diese Pflicht zur Achtung aber von einer Rechtspflicht unterscheidet und den Ausschlag für ihre Einordnung als Tugendpflicht in Parallele zur Liebespflicht gibt, ist der Umstand, dass sie nicht denkbar ist, ohne dass man sie sich selbst zur Maxime des Handelns macht, dass sie mithin eine äußere, erzwingbare Pflicht aus Kants Sicht gar nicht sein kann. 7 Damit aber ist diese Pflicht zur Achtung des Mitmenschen in der Terminologie schon der vorkantischen Tradition eine »unvollkommene Pflicht«, deren Verletzung wegen ihrer auch innere Haltungen umfassenden Seite nicht einmal eindeutig festgestellt werden kann. Ihre Bedeutung ist außerdem schlicht zu vage, als dass man sie als Rechtspflicht durchsetzen könnte. Über die Eignung zur Rechtspflicht bei der anderen kantischen Tugendpflicht, der zur Hilfe aus Nächstenliebe, entstand im Zusammenhang mit der Strafbarkeit unterlassener Hilfeleistung in den 50er Jahren eine lebhafte Debatte. 8 Viele, die sich in der Tradition Kants sahen, lehnten eine derartige rechtliche Hilfspflicht insbesonKants Schriften werden nach folgender Ausgabe zitiert: Immanuel Kant: Kant’s Gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften und später v. d. Deutschen Akademie d. W. Berlin 1900 ff. – im folgenden AA, Band. Kant: Die Metaphysik der Sitten (zuerst erschienen 1797), AA, VI, S. 462: »Von den Tugendpflichten gegen andere Menschen aus der ihnen gebührenden Achtung«. 5 Kant: Metaphysik der Sitten, AA, VI, S. 448: »Von der Liebespflicht gegen andere Menschen«. 6 Kant: Metaphysik der Sitten, AA, VI, S. 449. 7 Ausführlich zu diesem Verhältnis Joachim Hruschka: Rechtsstaat, Freiheitsrecht und das »Recht auf Achtung von seinen Nebenmenschen«. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 1 (1993), S. 193 ff., bes. 199 ff., 202 f. 8 Vgl. nur Wilhelm Gallas: Zur Revision des § 330c StGB. In: JZ 1952, S. 396; Hans Welzel: Zur Dogmatik der echten Unterlassungsdelikte, insbesondere des § 330c StGB. In: NJW 1953, S. 327. 4

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dere wegen des damit verbundenen zu großen Freiheitseingriffs ab. Parallele Vorbehalte gegenüber der Verrechtlichung einer Pflicht zur Achtung der Menschenwürde gab es – auch unter Kantianern – nicht. Das Entsetzen über die Nazigräuel ließ Menschenwürde als Verfassungsbasis zu einem selbstverständlichen Postulat auch der Rechtsordnung werden. Aber nicht nur die Vagheit als Problem der Verrechtlichung einer Tugendpflicht, auch die zu Beginn aufgeführten Paradoxien gehören zur kantischen Tradition der Menschenwürde und sind kein Resultat jüngster Entwicklungen. Schon Mitte der 80er Jahre ist – in Zusammenhang mit der aktuellen Menschenwürdedebatte zur Biotechnik – darauf hingewiesen worden, »dass die Verwendung eines Prinzips der Moralität im Reiche der Legalität freilich zwangsweise zu gewissen Schwierigkeiten führt«. 9 Ist die Vernunft Grundlage der Würde, so kann die Würde des Nichtvernünftigen nur gerettet werden, wenn man hinsichtlich der Vernunft ein in der Praxis gar nicht durchhaltbares Zuschreibungsverbot erlässt. 10 Und weiter: Ist das Achtungsgebot Folge der Erklärung des autonomen Vernunftsubjekts zum Selbstzweck, so bleibt dieser intrinsische Wert des Menschen der sozialen Welt immer vorausgesetzt und ist für sie unerreichbar: Kant geht aus von dem einer näheren Begründung weder bedürftigen noch fähigen »Faktum der Vernunft« im Bewusstsein des Sittengesetzes. 11 Und schließlich: Bedeutet Subjektivität Selbstgesetzgebung unter universalisierbaren Normen, so ist es gerade nicht der Mensch als Naturwesen, der sich der Vergegenständlichung durch die Normen der Vernunft entgegenstellen könnte. Gibt es die Pflicht gegen sich selbst, die Würde der Menschheit in der eigenen Person zu achten, so ist jenes janusköpfige Würdekonzept vorgegeben, das dem Einzelnen gegen andere das moralische Recht auf Achtung zuerkennt, aber eben diesem Einzelnen auch die Würde als GeHofmann: Die versprochene Menschenwürde, S. 260. Nach Robert Spaemann: Über den Begriff der Menschenwürde. In: Ernst-Wolfgang Böckenförde/ders. (Hrsg.): Menschenrechte und Menschenwürde. Stuttgart 1987, S. 295 ff., 305, würde die Definitionsmacht anderer Menschen den Gedanken der Menschenwürde selbst aufheben. Ähnlich Ralph Alexander Lorz: Modernes Grund- und Menschenrechtsverständnis und die Philosophie der Freiheit Kants. Stuttgart u. a. 1993, S. 290. Vgl. aber auch zu anderen, ontologischen Versuchen der Lösung des Dilemmas Spaemann: a. a. O. und Neumann: Menschenwürde und psychische Krankheit, S. 284. 11 Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft (zuerst erschienen 1788), AA, V, S. 31, 47. 9

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bot entgegenhält. 12 Neben der Vagheit sind es also auch die Paradoxien im Konzept, die eine Verrechtlichung von Menschenwürde erschweren, ja in der klassischen Moderne bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts verhindern. Auch in noch früheren Traditionen war Menschenwürde kein Rechtsbegriff. Wenn Autoren seit dem Hochmittelalter die Würde der Person als »ens morale« zuweisen, dann meinen sie das zwar noch nicht in einem Gegensatz zum Recht. Sie umschreiben damit vielmehr ein Gebiet, das als Brückenschlag zwischen Natur und Vernunft, also im damaligen Verständnis zwischen Subjekt und Individuum, den sozialen und damit auch Verantwortung einfordernden Aspekt unseres Menschseins kennzeichnet. Aber innerhalb des Rechts begegnen uns eben Fragen der Würde auch damals noch nicht.

3.

Schwierigkeiten mit Menschenwürde als Rechtsbegriff

Dieser historische Hintergrund der Konzeption der Menschenwürde dürfte einen guten Teil der Schwierigkeiten verursachen, denen wir uns heute auch nur bei der Bestimmung des Trägers von »Menschenwürde« gegenüber sehen. Die Stammzell- und Embryonenforschung wird unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde debattiert und man streitet darüber, ob einem frühen Embryo schon Menschenwürde zukommen kann. Beim Klonieren oder beim Handeltreiben mit menschlichen Organen sehen wir die Menschenwürde verletzt, sind aber dann doch ziemlich verlegen auf die Frage, um wessen Würde es da geht. Etwa die der menschlichen Gattung? Aber nicht nur die Frage nach dem Träger der Würde macht uns rechtlich zu schaffen, sondern auch ihr Verhältnis zum anderen – und diesmal traditionellen – Grundwert des Rechts, nämlich zur Gerechtigkeit. Bei den Grundfragen des Sozial- und Wirtschaftsrechts, besonders an den Nahtstellen zur Sozial- und Wirtschaftsethik, aber auch im Recht der internationalen Beziehungen, eröffnen sich geradezu neue Paradigmen der Auseinandersetzung. Schulden wir einander vielleicht gar nicht Gerechtigkeit in einem egalitären Sinn, sondern nur Respekt im Sinne eines Anstands-Minimums? Oder fordert gerade der Respekt gegenüber der Würde des anderen von uns Zur »Menschenwürdepflicht« Alexander Blankenagel: Gentechnologie und Menschenwürde. In: KritJ 1987, S. 379 ff., 385 f. und unten FN 34.

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sehr viel mehr als Gerechtigkeit, können wir den anderen etwa gerade auch bei gerechter Verteilung von Gütern noch fundamental verletzen? Oder verlangt umgekehrt gerade die Würde des anderen von uns, ihn gerecht und in der einen oder anderen Weise auch gleich zu behandeln? Die Entscheidung über die Trägerschaft der Würde und den Bezug der Würde zur Gerechtigkeit sind also umstritten. Im Streit ist aber ebenso das Voraussetzungsverhältnis der Menschenwürde gegenüber der Rechtsordnung. Teilweise wird die Menschenwürde als etwas verstanden, das die Rechtsordnung geradezu naturrechtlich vorfindet und deshalb unabhängig von ihren eigenen system-immanenten Erfordernissen achten und schützen muss. Man spricht insoweit gern von einer »angeborenen Menschenwürde«. Teilweise aber wird Menschenwürde als das Ergebnis eines Anerkennungsaktes innerhalb der Rechtsordnung begriffen. Beides bringt fundamentale Schwierigkeiten mit sich. Ist Menschenwürde schlicht vorausgesetzt und einfach an die Spezies-Zugehörigkeit gebunden, so fehlt dafür eine Begründung, die gleichermaßen rational und säkular ist – eigentlich ein dringendes Erfordernis im pluralistischen Rechtsstaat. Wird Menschenwürde dagegen zum Resultat von wechselseitiger oder gar wechselseitig bedingter Anerkennung, so haben wir Mühe mit der Begründung des Anerkanntseins von Menschen, die ihrerseits eines Anerkennungsaktes nicht fähig sind, wie etwa die vorhin schon angeführten geistig Schwerstbehinderten. Ein Begriff der Tugendlehre, so erneut unser Eindruck, eckt an beim Versuch, ihn zum Rechtsbegriff zu machen.

4.

Vorzüge einer Scharnierfunktion?

Aber könnte die schwierige Lokalisierung des Begriffs der Menschenwürde zwischen Recht und Moral nicht auch seine positiven Seiten haben? Sind die Paradoxien vielleicht sogar fruchtbar? Als Einstieg in ein solches Verständnis könnte dienen, dass man das eben angesprochene Voraussetzungs-Verhältnis aus der beschriebenen unzulänglichen Alternative herausholt. Vorzugswürdig ist möglicherweise eine Position, die das Voraussetzungsverhältnis zwar festhält, dabei aber auf naturrechtliche Anleihen verzichtet. Sie würde Achtung und Schutz der Menschenwürde dann begreifen als Voraussetzung für die Rechtsordnung, oder noch vorsichtiger, einer A

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rechtsstaatlichen Rechtsordnung. Menschenwürde hätte dann zwar als Resultat eines Anerkennungsprozesses zu gelten. Aber dieser Anerkennungsprozess wäre nicht einfach kontingenter Art, so dass man ihn auch unterlassen könnte, sondern er wäre für diesen Zweck der Existenz eines Rechtsstaates unverzichtbar. Der Vorgang des wechselseitigen Anerkennens würde münden in ein die Rechtsordnung konstituierendes wechselseitiges und immer auch auf Dritte sich erstreckendes Anerkennungsverhältnis. Die wechselseitige Zuerkennung der Kompetenz zum Innehaben von Rechten wäre Voraussetzung eben des geschützten Innehabens von Rechten. In einer gewissen Parallele zu Hans Kelsens hypothetischer Grundnorm als Geltungsgrund einer jeden Rechtsordnung könnte man insoweit von einem vorauszusetzenden Grund-Rechtsverhältnis sprechen. Ist Menschenwürde also vielleicht ein Scharnier zwischen Moral und Recht? Und könnte eine solche Scharnier-Vorstellung nicht doch kompatibel sein auch mit einem modernen Rechtspositivismus – so wie eben auch Kelsens Konzept einer Grundnorm damit kompatibel ist? Elemente einer solchen Scharnier-Funktion finden wir bei der Suche nach dem geschützten Subjekt der Menschenwürde (im Folgenden 1.) ebenso wie bei der Betrachtung der Struktur des Würdeschutzes unter dem Gesichtspunkt der Repräsentation (im Folgenden 2.). 4.1. Menschenwürde und Subjekttyp Betrachtet man die Menschenwürdediskussion der Nachkriegszeit, so steht zunächst der Schutz der Person, verstanden im Sinne der für alle gleichen Rechtssubjektivität, eindeutig im Vordergrund. Als Reaktion auf eine nicht nur in Einzelfällen, sondern systematisch betriebene Ungleichbehandlung von Menschen, etwa in den Nürnberger Rassegesetzen, als Gegenbewegung gegen ein Erklären bestimmter Menschen zu »Unpersonen« oder »Untermenschen« galt es zunächst herauszustellen, dass Grundlage jeder Achtung von Menschenwürde das Verständnis eines jeden Menschen als »Person«, also als rechtlich gleich mit allen anderen Menschen, zu gelten hatte. Verletzung der Menschenwürde war damit die Aberkennung dieses Personseins. Sie war die Demütigung, die in der Ausklammerung Einzelner aus dem allgemeinen rechtlichen Gleichheitsverhältnis be172

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stand. Menschenwürde verstanden die Autoren und Gerichtsentscheidungen der Nachkriegszeit somit als Personwürde. Diese Personwürde wurde zwar noch nicht durch jede willkürliche Diskriminierung, wohl aber durch eine solche Ungleichbehandlung verletzt, die den Einzelnen als ein Kompetenzzentrum zum Innehaben von Rechten und Pflichten in Frage stellte. Sehr stark in dieser Tradition steht eine Definition des Bundesverfassungsgerichts, die den Schutz der Menschenwürde als Schutz vor »Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw.« 13 beschreibt. Sie liegt aber auch einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs zugrunde, die für die Verletzung der Menschenwürde darauf abstellt, ob jemandem sein ungeschmälertes Lebensrecht als Bürger in der staatlichen Gemeinschaft bestritten wird oder ob man jemanden gar »zu einem unterwertigen Glied jener Gemeinschaft« stempelt. 14 Wenn demgegenüber in neueren Stellungnahmen der Einzelne in seinen natürlichen und kulturellen Unterschieden, ja in seinen fundamental von jedem anderen unterschiedenen Schicksal Subjekt des Würdeschutzes sein soll, so ist die Situation verglichen mit der Personwürde doch deutlich verändert. Aus einem Begriff für das Rechtssubjekt wird einer, der in dieser klassischen Dichotomie eher Aspekte der Moral aufgreift, Aspekte des konkreten menschlichen Individuums. In diese Richtung weist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wonach es eine Frage der Menschenwürde sei, den bei Strafgefangenen drohenden charakterlichen Deformationen entgegenzuwirken. 15 Auch fordere die Menschenwürde, dass generell die grundlegenden Voraussetzungen individueller und sozialer Existenz des Menschen erhalten bleiben. 16 Der Mensch wird nach diesen neueren Konzepten in seiner Würde so geschützt, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewusst wird. Gegenüber der im klassischen Rechtsverständnis als typische Leistung des Rechts verstandenen Generalisierung wird durch diesen konkretisierenden Begriff der Menschenwürde auch eine Individualisierung im Recht relevant, wie sie schon Sozialrechtstheoretiker in BVerfGE 1, 97, 104. BGHSt 21, 371, 373. 15 BVerfGE 45, 187, 238 ff.; 64, 261, 272 f., 277 f. 16 Ausführlich hierzu mit weiteren Nachweisen: Kurt Seelmann: Menschenwürde zwischen Person und Individuum. In: Dieter Dölling (Hrsg.): Ius humanum. Festschrift für Ernst-Joachim Lampe zum 70. Geburtstag. Berlin 2003, S. 301 ff. 13 14

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den 30er Jahren gefordert haben: Die spezielle soziale Rolle des Menschen ist danach zu beachten, darüber hinaus aber auch seine Persönlichkeit im Sinne seiner unverwechselbaren und kontingenten Individualität. Der Begriff der Menschenwürde in dieser Interpretation ermöglicht es so dem modernen Recht, das Spannungsverhältnis von Generalisierung und Individualisierung zusammenfassend aufzugreifen. Erst diese im modernen Recht vorgenommene Individualisierung des Begriffs der Menschenwürde gibt überhaupt die Gelegenheit, auch das traditionelle Würdeverständnis in seiner rechtlichen Bedeutung aufzugreifen: Die Individualisierung macht nämlich eine Position verständlich, welche die Würde gerade in einer Rücknahme von Subjektivität sieht und somit in einem individuellen Akt, der keineswegs von allen in gleicher Weise vorgenommen wird, der also nicht die Person, sondern die Persönlichkeit angeht. Für Robert Spaemann setzt Würde voraus, dass der Träger der Würde »zu sich selbst als natürlichem Wesen Distanz gewonnen hat.« 17 Der Mensch als »das Wesen, das sich selbst zurücknehmen, relativieren kann«, werde gerade auf Grund dieser Möglichkeit »zum absoluten Selbstzweck« 18 . Wir finden dieses Verständnis auch bei Aurel Kolnai als Element, das in der englischsprachigen Diskussion gleichermaßen verankert ist: »Humility qua self-transcendent surrender and submission to ›What is higher than ourself‹ is the very idiom or at any rate the crowning act of Dignity«. 19 Da dieses Sich-einordnen offenbar nur als freier, nicht erzwingbarer Akt Würde hervorbringt, scheint auf den ersten Blick ein solches Verständnis von Menschenwürde für das mit der Befugnis zu Zwingen verbundene moderne Recht am wenigsten Bedeutung zu haben. Doch dieser Eindruck täuscht. Es handelt sich zwar um eine Leistung, die mit Rechtszwang von niemandem gefordert werden kann, deren Ermöglichung aber eine besonders wichtige Aufgabe des modernen Rechts gerade im Menschenwürdeschutz sein kann. Das zeigt sich besonders deutlich, wenn wir ein zweites Scharnierelement im Verhältnis von Recht und Moral betrachten, nämlich die Problematik der Menschenwürde als Repräsentation. Spaemann: Begriff der Menschenwürde, S. 300. Spaemann: Begriff der Menschenwürde, S. 303. 19 Aurel Kolnai: Dignity. In: Robin S. Dillon (Hrsg.): Dignity, Character and Self-Respect. New York 1995, S. 53 ff., 72. 17 18

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4.2. Menschenwürde als Repräsentation 20 Es ist bereits die eben erwähnte Selbstbeschränkung, welche auf die Struktur der Repräsentation verweist. Wer sich um etwas Höheren willen zurücknimmt, repräsentiert damit dieses Höhere und erhöht sich damit paradoxer Weise in der Beschränkung. Aber das Repräsentationsverhältnis ist auch von vornherein beim individualisierenden Würdebegriff gegenwärtig. Es zeigt sich am deutlichsten dort, wo das Individuum sich anders darzustellen sucht, als es seinem eigenen Selbstbild entspricht und wo es gerade insoweit Würdeschutz genießt. Würdeschutz muss nämlich auch in der Chance bestehen, sich nach außen anders zu geben, als einem im Inneren zumute ist. Die Gesellschaft hat geradezu die »Aufgabe, ein solches Verfahren nicht nur zu tolerieren, sondern sogar zu unterstützen, z. B. indem sie den Menschen intime Freiräume zugesteht oder sie nur in Ausnahmefällen in peinliche, weil entlarvende Situationen bringt.« 21 Das in vielen Rechtsordnungen bestehende Verbot des »Lügendetektors«, das Polygraphenverbot, ebenso wie der seit langem bekannte Schutz vor einer Verpflichtung zur Selbstbelastung etwa vor Gericht und der seit mehreren Jahren international immer ernster genommene Datenschutz zumindest in einigen seiner Aspekte zeigen: Der einzelne soll nach verbreiteten Vorstellungen in der Bevölkerung ein Darstellungsmonopol für sich selbst in Anspruch nehmen dürfen. Aber auch die Aufrechterhaltung des bestehenden Selbstbildes und nicht nur eine von der Selbstsicht abweichende Darstellung genießt Menschenwürdeschutz. Neuere Würdekonzepte gehen von der Relevanz des Selbstbildes für die Würde aus, weil Beeinträchtigungen des Selbstbildes ab einer gewissen Intensität die Selbstachtung verringern können und weil diese Verringerung der Selbstachtung in der Lage ist, die Würde zu beeinträchtigen. 22 Zu schützen ist danach die Würde des Menschen, »wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewusst wird«, 23 stellt wieder das Ausführlich zu diesem Aspekt: Kurt Seelmann: Repräsentation als Element von Menschenwürde. In: Studia Philosophica, Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft 63 (2004), S. 141 ff. 21 Ralf Stoecker: Die Würde des Embryos. In: Dominik Gross (Hrsg.): Ethik in der Medizin in Lehre, Klinik und Forschung. Würzburg 2002, S. 53 ff., 64. 22 Vgl. etwa Harry Frankfurt: Equality and Respect. In: ders.: Necessity, Volition and Love. Cambridge 1999, S. 150 ff. (155). 23 BVerfGE 49, 286, 298. 20

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Bundesverfassungsgericht fest. Insbesondere aber in der philosophischen Literatur wird Würde mit Selbstachtung in Verbindung gebracht, ja Würdebeeinträchtigung als Schmälerung der Selbstachtung begriffen: »Jemand ist erniedrigt, wenn er sich in Umständen befindet, in denen er sich nicht selbst achten kann.« 24 Auch jenes Buch, das Ende der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts in der Philosophie international eine verstärkte Neigung zur Befassung mit dem Problem der Menschenwürde ausgelöst hat, Avishai Margalits »The decent Society«, legt die Würdeverletzung entsprechend fest. 25 Doch wie sollte dies geschehen, auf welche Weise vermag ein Eingriff von außen meine Selbstidentität in Frage zu stellen? Insbesondere zwei Möglichkeiten dazu bestehen: Zum einen kann ein äußerer Eingriff mich dazu verleiten, meine eigenen Prinzipien aufzugeben und dadurch die Maßstäbe meines Selbstverständnisses zu verfehlen. 26 Beispiele bilden das »freiwillige« Geständnis im Schauprozess oder der »freiwillige« Arbeitseinsatz. 27 Zum anderen tritt möglicherweise, auch dies als Folge eines äußeren Eingriffs, ein Kontrollverlust ein, zum Beispiel durch die Applikation bestimmter Psychopharmaka, der wiederum gemessen an meinem Selbstbild, für mich selbst als fundamentales Versagen interpretierbar ist. 28 Beides sind würdeverletzende Eingriffe auf dem Weg über eine Verletzung der Selbstachtung. Eine solche Verletzung aber ist nur denkbar unter der Voraussetzung, dass der Würdebegriff an eben dieser individuellen Identität ansetzt, eben an meiner »Identität« und den Entfaltungsmöglichkeiten meines Charakters. Wenn die Selbstachtung, wenn das Selbstbild diesen Bezug zur Würde hat, dann deshalb, weil es einen Außenbezug hat. Die Realität des Selbstbildes besteht gerade in der Kommunikation nach außen und im Anerkanntwerden von außen. Wenn wir für unser Selbstbild die Bestätigung, zumindest aber das Fehlen einer Infragestellung durch unsere Mitmenschen brauchen, dann muss dieses Selbstbild Philipp Balzer/Klaus-Peter Rippe/Peter Schaber: Menschenwürde vs. Würde der Kreatur. Begriffsbestimmung, Gentechnik, Ethikkommissionen. Freiburg/München 1998, S. 28. 25 Avishai Margalit: The decent Society (1997). Dt. Übers.: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung. Frankfurt am Main 1999, S. 148 f. 26 Dazu Margalit: The decent Society, S. 69 ff. 27 Dazu Niklas Luhmann: Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie. Berlin 2 1974, S. 73. 28 Dazu Margalit: The decent Society, S. 143 f. 24

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in erster Linie nach außen dargestellt werden, dann ist Würdeschutz der Schutz eben dieser Darstellung nach außen. Nicht nur die vom Selbstbild abweichende Darstellung, sondern die Aufrechterhaltung des Selbstbildes hat notwendig Repräsentationscharakter. Das Individuum ist nicht dieses ganz konkrete Individuum ohne seine ebenso ganz konkreten sozialen Beziehungen und sein Netz von wechselseitigem Respekt. Wieder zeigt sich an diesem Aspekt der Repräsentation die Scharnierfunktion, die das Konzept des Menschenwürdeschutzes zwischen Recht und Moral ausübt: Im traditionellen Verständnis, in der klassischen Moderne, assoziiert man das Recht mit dem »außen« und die Moral mit dem »innen« – äußere Handlungen und nicht innere Motive sind konstitutiv für rechtlich erhebliches Verhalten. In der Vorstellung vom Würdeschutz als Schutz der Repräsentation des »Innen« im »Außen« und damit im Schutz des zu repräsentierenden »Innen« bemerken wir eine Auflösung dieses so klar erscheinenden Verhältnisses.

5.

Differenz von Recht und Moral geschliffen?

Wird damit aber im Würdebegriff die Differenz von Recht und Moral geschliffen? Geht die rechtsstaatliche Errungenschaft, die den Einzelnen jenseits seiner rechtlichen Personalität für das Recht unerreichbar gemacht hat, durch den gegenüber Recht und Moral janusköpfigen Begriff der Würde wieder verloren? Der Begriff der Würde formuliert zunächst einmal die Erkenntnis, dass das Recht eine Grundlage hat und von einer Grundlage lebt, die es selbst nicht schafft, die aber auch nicht von ihm getrennt, sondern sein eigener Anfang ist. Allem Innehaben von Rechten geht ein Innehaben einer Kompetenz zum Innehaben von Rechten voraus, ein »Recht auf Rechte«. Dass es Grundlagen des Rechts gibt, die nicht aus dem Recht selbst, sondern nur aus der Moral zu beziehen sind, ist aber kein prinzipiell neuer Gedanke. Auch die kantische These von der Autonomie als direkter Grundlage für die Moral und indirekter Grundlage für das Recht war in der Struktur der Herleitung nicht anders. Und auch in Hegels Vorstellung vom Anerkennungsverhältnis als Konstituens des Rechts und dennoch schon Element auf früheren systematischen Ebenen, etwa bei der Begründung eines Bewussteins seiner selbst, begegnet uns dieses Verhältnis. A

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Gefährlich für liberale Freiheitsgarantien wird das Changieren der Würde zwischen Recht und Moral dann, wenn sie aus diesem Rahmen der Grundlegung ausbricht und sich als verfassungsrechtliche Pflichtenebene neben die Ebene der Grundrechte begibt. Bezeichnend hierfür ist etwa die Debatte über die »Gattungswürde«. 29 Gelegentlich hat man nämlich den Schutz der Würde auch als eine Pflicht gegen sich selbst gesehen. Eine solche Position kann sich sogar auf den Beginn der neueren Tradition der Würdediskussion um die Mitte des letzten Jahrhunderts, nämlich auf Günter Dürigs Rezeption des Gedankens vom Menschen als Selbstzweck berufen: Da der allgemein menschliche Eigenwert der Würde unabhängig von der Verwirklichung beim konkreten Menschen ist, kann ein staatlicher Angriff die Menschenwürde als solche auch verletzen, selbst wenn der konkrete Mensch mit einem Angriff auf seine Fähigkeit, sich frei zu entscheiden, einverstanden ist. 30

Diese Sicht der Würde-Garantie steht in der Tradition bis zum 18. Jahrhundert, als dem Gedanken subjektiver Rechte, der einer Pflicht des Menschen zur Selbstperfektionierung vorausgesetzt war, etwa im Gefolge von Leibniz und Pufendorf besonders ausführlich dargelegt bei Christian Wolff. Halten lässt sich ein solcher Gedanke einer rechtlichen Verpflichtung zur Wahrung der eigenen Würde im modernen Recht aber wohl so direkt kaum. Die Menschenwürde verstanden als Grundpflicht eines jeden Menschen würde Gefahr laufen, die Grundrechte insgesamt in ihr Gegenteil zu verkehren. Aber »Gattungswürde« ließe sich auch als Pflicht gegenüber anderen verstehen. Es gibt tatsächlich Versuche, die »Gattungswürde« als etwas zu verstehen, das dem Schutz der Würde bei anderen dient. Die Vorstellung, man schulde den anderen nicht nur Achtung und Schutz ihrer individuellen Menschenwürde, kann in verschiedenen Varianten auftreten. Eine Möglichkeit ist, dass man der Gattung selbst unmittelbar eine Würde zuerkennt, die unabhängig ist von der eigenen Einschätzung der Würde durch den Betroffenen und die vom einzelnen auch Übersicht bei Thomas Gutmann: »Gattungsethik« als Grenze der Verfügung des Menschen über sich selbst? In: Wolfgang van den Daele (Hrsg.): Biopolitik. Sonderheft Leviathan. Wiesbaden 2005, S. 235 ff. 30 Günter Dürig: Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde. Entwurf eines praktischen Wertsystems der Grundrechte aus Art. 1 Abs. I in Verbindung mit Art. 19 Abs. II des Grundgesetzes. In: AöR 1956, S. 117 ff., 126. 29

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in seiner eigenen Person verletzt werden kann. Vor allem in der bioethischen Debatte ist die Auffassung verbreitet, bestimmte Handlungen verletzten zwar nicht die Menschenwürde von Individuen, wohl aber die der gesamten menschlichen Gattung. Wenn entweder ein Individuum seine eigene individuelle Würde gar nicht tangiert sieht oder aber die Existenz eines individuellen Trägers von Menschenwürde umstritten ist, und wenn man das Vorgehen gleichwohl für unerträglich hält, scheint der Hinweis auf eine Verletzung der Menschenwürde der Gattung als solcher nahe zu liegen. Forderungen, den Schutz der Menschenwürde »auf die Menschheit überhaupt, das ›Menschengeschlecht‹« auszudehnen, finden sich deshalb vielfältig. Es überwiegt aber bei weitem die Skepsis gegenüber einem solchen Konzept. Geschichte und Wortlaut moderner Verfassungen geben keinerlei Anhaltspunkt für einen Schutz der »Gattungswürde«. 31 Mit der Rede von der »Gattungswürde« könnte aber auch gemeint sein, dass man den Schutzgegenstand stärker subjektiviert und nicht mehr »die Gattung« als solche glaubt schützen zu können, sondern ein gemeinsames Interesse aller (individuellen) Menschen auf Erhaltung ihres »Menschenbildes«. Eine solche Orientierung am Menschenbild wird mitunter insbesondere in der Literatur 32 gefordert, stößt aber doch überwiegend auf Ablehnung. Der Begriff des Menschenbildes enthält hauptsächlich deshalb Gefahren, weil er eine »Einheitlichkeit und Einheit suggeriert«, 33 die er im pluralistischen Staat der Weltanschauungsfreiheit nicht einhalten kann. Aber vielleicht ist zum Schutz dessen, was man mit »Gattungswürde« meint, gar kein einheitliches »Menschenbild« nötig. Geschützt sein könnten auch konkrete Gefühle und Interaktionen bei Individuen oder Gruppen. Eine Verletzung individueller Gefühle und Interaktionsmöglichkeiten mit der Qualität einer Würdeverletzung liessen sich u. a. im Bruch alter oder neuer Tabus – Inzest und Der Hinweis von Dieter Birnbacher: Gefährdet die moderne Reproduktionsmedizin die menschliche Würde? In: Anton Leist (Hrsg.): Um Leben und Tod. Moralische Probleme bei Abtreibung, künstlicher Befruchtung, Euthanasie und Selbstmord. Frankfurt am Main 1990, S. 266 ff. (268) auf Rolf-Peter Horstmanns Wörterbuch-Artikel »Menschenwürde« (Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 5. Basel 1980, Sp. 1124) bezieht sich auf eine andere Differenzierung des Würdebegriffs. 32 Vgl. etwa Peter Häberle. In: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts. Heidelberg 1987. Band 1, § 20, Rn. 54, 92 (»Höchstpersönliche, eigen-artige Person-Werdung«, »schicksalhaft-natürliche Gleichheit«). 33 Horst Dreier: Kommentierung zu Art. 1 Abs. 1 GG. In: ders.: Grundgesetz. Kommentar. Tübingen 2 2004, Rn. 168 m. Nachw. 31

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Klonen können dafür Beispiele sein – oder in der Störung von Identitätsgefühlen etwa durch das sogenannte Auschwitz-Leugnen sehen. Erkennt man das diesen Verletzungen Gemeinsame darin, dass die Orientierungssicherheit von Menschen in der Welt in Frage gestellt wird, so ist zu fragen, unter welchen Voraussetzungen diese Orientierungssicherheit so weit geschädigt ist, dass der einzelne in seinem berechtigten Anspruch auf Anerkennung durch die anderen verletzt wird. Will man hier eine beliebige Moralisierung des Rechts verhindern, so kann eine Orientierungsstörung erst dann rechtlich relevant sein, wenn sie den Charakter einer Störung der Orientierungskompetenz erreicht, den einzelnen also in seiner Interaktionsfähigkeit überhaupt, und das heisst: als Rechtssubjekt, beeinträchtigt. Das aber bedeutet: Scharnierfunktion der Menschenwürde darf nicht bedeuten, dass Errungenschaften des Rechtsstaats aufgegeben werden und die Würde als Trojanisches Pferd zusätzliche moralische Pflichten ins Recht transportiert. 34 Scharnierfunktion darf nur bedeuten: Das Recht muss sich seine eigenen Voraussetzungen deutlich machen in einem Grund-Rechtsverhältnis wechselseitiger Anerkennung. In dieser Funktion aber kann das Konzept des Würdeschutzes zum theoretischen Verständnis des Rechts beitragen und, praktisch gesehen, den Grundrechtsschutz stärken.

Dazu Ulfried Neumann: Die Menschenwürde als Menschenbürde – oder wie man ein Recht gegen den Berechtigten wendet. In: Matthias Kettner (Hrsg.): Biomedizin und Menschenwürde. Frankfurt am Main 2004, S. 42 ff.

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Die Autoren

Thomas Dürr ist wissenschaftlicher Angestellter am Husserl-Archiv der Universität Freiburg. Studium der Philosophie und der Neueren und Neuesten Geschichte an den Universitäten Halle-Wittenberg und Freiburg. Veröffentlichungen: Schopenhauers Grundlegung der Willensmetaphysik. In: Schopenhauer-Jahrbuch 84 (2003), S. 91– 119; Mythische Identität und Gelassenheit in Thomas Manns Joseph und seine Brüder. In: Thomas Mann Jahrbuch 19 (2006), S. 125–157. Hans-Helmuth Gander ist Professor für Philosophie an der Universität Freiburg und Direktor des Husserl-Archivs Freiburg. Studium der Philosophie, Psychologie, Kunstgeschichte, Germanistik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Köln, Saarbrücken und Freiburg. Lehrtätigkeiten an den Universitäten Stuttgart, Tübingen und Freiburg. Veröffentlichungen: Positivismus als Metaphysik. Voraussetzungen und Grundstrukturen von Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaften. Freiburg 1988; (Hg.) Europa und die Philosophie. Frankfurt am Main 1993, Ital. Übers. 1999; Selbstverständnis und Lebenswelt. Gründzüge einer phänomenologischen Hermeneutik im Ausgang von Husserl und Heidegger. Frankfurt am Main 2001, 2. Auflage 2006; (Hg.) Anerkennung. Zu einer gesellschaftlicher Praxis. Würzburg 2004; (Hg.) Ethik des Strafens. Würzburg 2007. Verena Krenberger ist wissenschaftliche Angestellte am Husserl-Archiv der Universität Freiburg. Studium der Philosophie, Kriminologie und Romanistik an der Universität Würzburg. Veröffentlichungen: Psychoanalyse im modernen deutschen Strafvollzug. Untersuchung der Geeignetheit unter philosophischen Gesichtspunkten. Frankfurt 2003; Das Sein-Sollen-Problem in den Menschenrechten. In: Zeitschrift für Rechtsphilosophie, Heft 2 (2005), S. 61–68.

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Die Autoren

Amnon Lev, cand. iur. et phil., Doktorand. Studium der Philosophie und der Rechtswissenschaften an der Universität Kopenhagen. Georg Lohmann ist Professor für Praktische Philosophie an der Universität Magdeburg. Studium der Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft an den Universitäten Bochum, Frankfurt, München und Heidelberg. Mitglied der ›Arbeitsstelle Menschenrechte‹ der Universität Magdeburg. Veröffentlichungen: Indifferenz und Gesellschaft. Eine kritische Auseinandersetzung mit Marx. Frankfurt am Main 1991; (Hg. zus. mit Stefan Gosepath) Philosophie der Menschenrechte. Frankfurt am Main 2 1999; (Hg. zus. mit Klaus Peter Fritzsche) Menschenrechte zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Würzburg 2000; (Hg. zus. mit Stefan Gosepath, Arnd Pollmann, Claudia Mahler und Norman Weiß) Die Menschenrechte: unteilbar und gleichgewichtig? Potsdam 2005. Ada Neschke-Hentschke ist Professorin für Antike Philosophie und Geschichte der Philosophie an der Universität Lausanne. Studium der Philosophie und Klassischen Philologie an den Universitäten Frankfurt und Heidelberg. Veröffentlichungen: Politik und Philosophie bei Platon und Aristoteles. Die Stellung der Nomoi im platonischen Gesamtwerk und die politische Theorie des Aristoteles. Frankfurt am Main 1971, Nachdruck 2004; Platonisme politique et thêorie du droit naturel. Contributions à une archéologie de la culture politique européenne. Vol. 1: Platonisme politique dans l’antiquité. Louvain/Paris 1995; Vol. 2: Platonisme politique et jusnaturalisme chrétien. La tradition directe et indirecte d’Augustin d’Hippone à John Locke. Louvain/Paris 2003. Kurt Seelmann ist Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Basel. Studium der Rechtswissenschaft und Philosophie an der Universität München. Mitglied der ›Forschungsstelle für Rechtsgeschichte‹ der Universität Basel. Veröffentlichungen: Rechtsphilosophie. München 1994, 4. Auflage 2007; Theologie und Jurisprudenz an der Schwelle zur Moderne. Die Geburt des neuzeitlichen Naturrechts in der iberischen Spätscholastik. Baden-Baden 1997; Kollektive Verantwortung im Strafrecht. Berlin 2002; (Hg.) Menschenwürde als Rechtsbegriff. Stuttgart 2004; (Mithg.) Nationen und Gerechtigkeit. Frankfurt am Main 2007. 182

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Hans-Helmuth Gander (Hg.) https://doi.org/10.5771/9783495996898 .

Die Autoren

Christian Tomuschat ist em. Professor für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht und ehem. Direktor des Instituts für Völkerund Europarecht an der Humboldt-Universität Berlin. Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Heidelberg und Montpellier. Mitglied des UNO-Menschenrechtsausschusses nach dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1977– 1986), Mitglied der UNO-Völkerrechtskommission (1985–1996) und deren Vorsitzender (1992/1993), Unabhängiger Sachverständiger der UNO-Menschenrechtskommission zur Lage der Menschenrechte in Guatemala (1990–1993), Mitglied der KSZE/OSZE-Delegation zur Bewertung der Lage der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit in Albanien (1991), Mitglied des EG- bzw. EUSachverständigenausschusses für das Mehrjahresprogramm zur Förderung der Menschenrechte in Zentralamerika (1992–1998). Veröffentlichungen: Menschenrechtssicherung in der internationalen Praxis. Saarbrücken 1984; (Mithg.) Charta der Vereinten Nationen. Kommentar. München 1991; (Hg.) Menschenrechte. Eine Sammlung internationaler Dokumente zum Menschenrechtsschutz. Bonn 1992, 2. Auflage 2002; Human Rights. Between Idealism and Realism. Oxford 2003.

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Personenregister

Alexander von Hales 109 f. Alston, Philip 148 Arendt, Hannah 11, 84–101, 103–107 Aristoteles 21, 39, 63, 109 Augustin 23, 107 Boethius 109 f. Brunkhorst, Hauke 88 f., 94, 96 ff., 106 f. Burke, Edmund 92, 101 Calcidius 22 f. Cicero 19, 21 ff., 109 Coing, Helmut 115 ff., 119 Conrad, Joseph 101 Donellus 114 Dürig, Günter 122, 128, 178 Engels, Friedrich 145 Fest, Joachim 14 Fichte, Johann Gottlieb 112 f. Forsthoff, Ernst 148 ff. France, Anatole 140 Frankfurt, Harry 40, 175 Graefrath, Bernhard 151, 157 Grotius, Hugo 26 f., 30 Häberle, Peter 121, 179 Hegel, G. W. F. 10, 59–62, 65 f., 70, 73–81, 113, 116 f., 177 Hobbes, Thomas 29, 135 Huber, Wolfgang 121, 122 Jefferson, Thomas 16

Kant, Immanuel 30–34, 36 f., 40, 74, 111 f., 116, 125, 135, 167 ff. Kelsen, Hans 118, 172 Kolnai, Aurel 174 Leibniz, Gottfried Wilhelm 178 Locke, John 16, 18 f., 27–33, 72, 110 f. Mangoldt, Hermann von 123 f., 126 Margalits, Avishai 176 Marx, Karl 99, 145 Mason, George 16 Montesquieu 68, 71 Petersmann, Ernst-Ulrich 148 Plato 16, 21 ff., 25, 27 Pufendorf, Samuel 115, 178 Reuter, Hans-Richard 123 f. Richard von St. Viktor 109 f. Robespierre, Maximilien de 60 Roosevelt, Franklin D. 140 Rousseau, Jean-Jaques 73 f. Savigny, Friedrich Carl von 118 Scheler, Martin 113 Schmitt, Carl 66 Smith, Adam 54 Spaemann, Robert 133, 169, 174 Strawson, Peter 114, 135 Sturma, Dieter 135, 137 Suarez, Francisco 25 f., 34 Taylor, Charles 114, 135 Thomas von Aquin 24, 32 Tocqueville, Alexis de 10, 59 ff., 63–73, 76 f., 80 f. A

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Personenregister Tugendhat, Ernst 40, 45, 122 Ulpian 19, 21 ff.

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Weber, Max 149 Wetz, Franz Josef 121 f., 124 Wolff, Christian 111, 115 f., 178

ALBER PHILOSOPHIE

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