Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst: Ästhetische und philosophische Positionen [1. Aufl.] 9783839418109

Der Begriff »Grenzüberschreitung« findet sich im Kunstkontext fast inflationär verwendet, um das Neue und Provokante von

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German Pages 302 Year 2014

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Inhalt
Einleitung
1. Begriffsbestimmungen: Grenzen, Grenzüberschreitungen und Grenzbewegungen
1.1 Grenzen
1.1.1 Territoriale Grenzen
1.1.2 Gesellschaftliche Grenzen
1.1.3 Grenzen des Kunstfeldes
1.2 Grenzüberschreitungen im Kunstfeld
1.2.1 Beispiele für die Verwendung des Begriffs im diskursiven Kontext
1.2.2 Acht Bewegungen von Grenzüberschreitungen
1.3 Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Grenzüberschreitungen in der Kunst
1.3.1 Konstitutive Folgen von Grenzüberschreitungen
1.3.2 Kritik an Grenzüberschreitungen
1.4 Philosophische Konzepte von (Grenz-)Überschreitungen und Grenzbewegungen
1.4.1 (Post-)strukturalistische Einzelpositionen
1.4.2 Poststrukturalistische und postkolonialistische Konzepte und Begriffe
1.4.3 Grenzräume
2. Grenzbewegungen zum Gesellschaftlich-Politischen von den Avantgarden bis zu den 90er Jahren
2.1 Kunst zwischen Autonomie und Gesellschaftsbezug
2.2 Avantgardistische Angriffe auf den autonomen Status von Kunst
2.2.1 Russische Avantgarde
2.2.2 Postavantgarden der 60er/70er Jahre: Situationismus, Konzeptkunst und Performance Kunst
2.3 Gesellschaftsbezüge in der Kunst der 90er Jahre
2.3.1 Hintergrund: Gesellschaftlicher Kontext und konstitutive Ereignisse
2.4 Stichwörter, Bewegungen und Konzepte der Kunstpraxen der 90er Jahre
2.4.1 Verknüpfungen von Kunst und Gesellschaft
2.4.2 Einbezug des Betrachters durch Kommunikation und Interaktion
2.4.3 Kunst als politische und soziale Intervention
2.5 Politisierung in den 90er Jahren
2.5.1 Die Politisierung als Paradigmenwechsel?
2.5.2 Das Verhältnis interventionistischer Kunstpraxen zum Kunstfeld
3. Veränderungen des Gesellschaftsbezugs in Theorie und Praxis seit den 90er Jahren
3.1 Was ist von den politischen Kunstpraxen der 90er Jahre geblieben?
3.2 Veränderungen im Denken des Politischen
3.2.1 Ästhetisch-theoretische Positionen von Deleuze/Guattari und Rancière
3.2.2 Politisch-theoretische Positionen: Die Auflösung des dichotomischen Denkens von Macht und Gegenmacht
3.3 Weitere (Begriffs-)Verschiebungen
3.3.1 Erweiterung der ästhetischen Erfahrung um den emanzipierten Betrachter
3.3.2 Relative Autonomie und Souveränität der Kunst
3.3.3 Institutionalisierte Institutionskritik
4. Die documenta 12 als Beispiel für eine Ausstellung als Grenzraum
5. Fazit: Von der einmaligen Überschreitung der Grenze zu permanenten Grenzbewegungen
6 Literaturverzeichnis
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Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst: Ästhetische und philosophische Positionen [1. Aufl.]
 9783839418109

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Anna-Lena Wenzel Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst

Image | Band 26

Anna-Lena Wenzel (Dr. phil.) hat Kulturwissenschaften studiert und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt »Urbane Interventionen« an der HfbK Hamburg.

Anna-Lena Wenzel

Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst Ästhetische und philosophische Positionen

Zugl.: Lüneburg, Univ., Diss., 2011. U.d.T.: Grenzüberschreitungen in der zeitgenössischen Kunst. Von der Überschreitung der Grenze zu unabschließbaren Bewegungen in Grenzräumen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Christoph T. Herrmann Lektorat & Satz: Anna-Lena Wenzel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1810-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 7 1. Begriffsbestimmungen: Grenzen, Grenzüberschreitungen und Grenzbewegungen | 23

1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3

Grenzen | 24 Territoriale Grenzen | 27 Gesellschaftliche Grenzen | 40 Grenzen des Kunstfeldes | 44 Grenzüberschreitungen im Kunstfeld | 51 Beispiele für die Verwendung des Begriffs im diskursiven Kontext | 51 Acht Bewegungen von Grenzüberschreitungen | 54 Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Grenzüberschreitungen in der Kunst | 81 Konstitutive Folgen von Grenzüberschreitungen | 81 Kritik an Grenzüberschreitungen | 86 Philosophische Konzepte von (Grenz-)Überschreitungen und Grenzbewegungen | 97 (Post-)strukturalistische Einzelpositionen | 102 Poststrukturalistische und postkolonialistische Konzepte und Begriffe | 126 Grenzräume | 133

2. Grenzbewegungen zum Gesellschaftlich-Politischen von den Avantgarden bis zu den 90er Jahren | 141

Kunst zwischen Autonomie und Gesellschaftsbezug | 142 Avantgardistische Angriffe auf den autonomen Status von Kunst | 148 2.2.1 Russische Avantgarde | 149 2.2.2 Postavantgarden der 60er/70er Jahre: Situationismus, Konzeptkunst und Performance Kunst | 152 2.3 Gesellschaftsbezüge in der Kunst der 90er Jahre | 157 2.3.1 Hintergrund: Gesellschaftlicher Kontext und konstitutive Ereignisse | 158

2.1 2.2

2.4

Stichwörter, Bewegungen und Konzepte der Kunstpraxen der 90er Jahre | 163 2.4.1 Verknüpfungen von Kunst und Gesellschaft | 166 2.4.2 Einbezug des Betrachters durch Kommunikation und Interaktion | 169 2.4.3 Kunst als politische und soziale Intervention | 171 2.5 Politisierung in den 90er Jahren | 176 2.5.1 Die Politisierung als Paradigmenwechsel? | 179 2.5.2 Das Verhältnis interventionistischer Kunstpraxen zum Kunstfeld | 180 3. Veränderungen des Gesellschaftsbezugs in Theorie und Praxis seit den 90er Jahren | 189

3.1

Was ist von den politischen Kunstpraxen der 90er Jahre geblieben? | 190 3.2 Veränderungen im Denken des Politischen | 195 3.2.1 Ästhetisch-theoretische Positionen von Deleuze/Guattari und Rancière | 201 3.2.2 Politisch-theoretische Positionen: Die Auflösung des dichotomischen Denkens von Macht und Gegenmacht | 214 3.3 Weitere (Begriffs-)Verschiebungen | 227 3.3.1 Erweiterung der ästhetischen Erfahrung um den emanzipierten Betrachter | 228 3.3.2 Relative Autonomie und Souveränität der Kunst | 233 3.3.3 Institutionalisierte Institutionskritik | 236 4. Die documenta 12 als Beispiel für eine Ausstellung als Grenzraum | 241 5. Fazit: Von der einmaligen Überschreitung der Grenze zu permanenten Grenzbewegungen | 263 6 . Literaturverzeichnis | 277

Einleitung

„Ja, ich glaube, heute ist das zentrale Thema der Kunst die Frage nach den Grenzen.“ 1 ROBERT SMITHSON

Die auffällig häufige Verwendung des Begriffs der Grenzüberschreitung im Kunstkontext, in Ausstellungstexten und -katalogen, in Kunstkritiken und kunsthistorischen sowie kunsttheoretischen Texten ist der Ausgangspunkt dieser Arbeit. Quer durch die Kunstgeschichte haben sich Künstler2 zum Ziel gesetzt Grenzen zu überschreiten, den Gegenstandsbereich, die Form und die Methodik der Kunst zu erweitern. Dementsprechend wird in der Kunsttheorie und Kunstgeschichte häufig auf die Begrifflichkeiten der Grenze und der Grenzüberschreitung zurückgegriffen, um das Neue und Einzigartige künstlerischer Praxen hervorzuheben. Besonders den Avantgardebewegungen wird zugesprochen radikale Grenzüberschreitungen in andere Disziplinen und auf das Leben hin vorgenommen zu haben, so dass nicht nur der Kunstbegriff hinterfragt, sondern auch das Wirkungsfeld von Kunst beständig erweitert wurde. Doch welche Grenzen werden genau überschritten? Was sind die Folgen von Grenzüberschreitungen? Können bestehende Grenzen tatsächlich aufgehoben werden oder geht es vielmehr um ihre Verschiebung und Sichtbarmachung? Und gelangen Überschreitungen irgendwann an ein Ende, wenn alle Grenzen überschritten sind? In den 80er Jahren zum Beispiel war von einem Ende der Grenzüberschreitung im ‚anything goes‘ der Postmoderne die Rede. Plötzlich schienen alle

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Smithson zit.n. Ursprung: Grenzen der Kunst, S. 199. Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

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Grenzen überwunden, die Kunst drohte beliebig zu werden und ihre subversive Kraft, die aus ihrer Andersheit und der Autonomie ihres Feldes hergeleitet wurde, zu verlieren. Grenzüberschreitungen wurden mit einmal negativ bewertet, weil sie dazu führten, dass der ‚Kern der Kunst‘, ihre kritische Randständigkeit, bedroht war. Der Anspruch Kunst und Leben zu verbinden sowie die andauernde Erweiterung des Kunstbegriffs durch Grenzüberschreitungen wurden zur Disposition gestellt und die negativen Folgen der Hinwendung an die Lebenspraxis und die Nähe zur Kulturindustrie hervorgehoben. Die Rückbesinnung der Kunst auf das Malerische, das Wiederaufleben des (männlichen) Künstlergenies und das Erstarken des Kunstmarktes, zu denen es in den 80er Jahren kam, revitalisierten zwar ein eher klassisches Kunstverständnis, führten aber auch zu einem Erlahmen der kritischen Wirkung von Kunst. Die interventionistischen Kunstpraxen der 1990er Jahre verfolgten dagegen erneut den Anspruch Kunst in der Gesellschaft zu verankern und den Kunstbegriff um vielfältige Methoden, konkrete Räume und theoretische Bezüge zu erweitern. Mit den Interventionen ins Soziale und Politische wurde nicht nur der Kunstbegriff in Frage gestellt, sondern auch die Rolle des Künstlers, der Ort der Kunst und ihre Wirkungsrichtung. So verlagerte sich der Ort künstlerischer Produktion verstärkt in den öffentlichen und sozialen Raum. Der Künstler agierte zunehmend als Cultural Worker und bezog den Betrachter in die Kunstproduktion ein, so dass dieser zu einem direkten Beteiligten wurde. Gesellschaftliche Grenzen wurden ebenso überschritten wie die Grenzen des Kunstfeldes. In Folge dieser vielfachen Grenzüberschreitungen wurden erneut Diskussionen über das Ende von Grenzüberschreitungen entfacht, weil Kunst sich in Dienstleistungen und Stadtverschönerung aufzulösen drohte und die Gefahr einer Instrumentalisierung unter pragmatische oder marktwirtschaftliche Interessen durch die Interventionen in diese Felder stetig stieg. In diesem kurzen Einblick in das 20. Jahrhundert wurden zum einen die unterschiedlichen Formen und Bewegungen von Grenzüberschreitungen angedeutet und zum anderen der Diskursraum aufgemacht, in dem die Vor- und Nachteile, Funktionen und Grenzen von Grenzüberschreitungen verhandelt werden. Schon hier zeichnet sich ab, wie wechselhaft die Bewertung von Grenzüberschreitungen durch die Kunsttheorie ist. Sie schwankt zwischen der Forderung nach einem Gesellschaftsbezug der Kunst, nach einer Hinwendung zum Leben und gesellschaftlicher Relevanz durch die Grenzüberschreitung und der Beschwörung der negativen Folgen dieser Überschreitungen, wie sie sich in Kommerzialisierung und umfassender Ästhetisierung darstellen. Meiner Meinung nach zeigt sich in den kontroversen Diskussionen

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über die positiven und negativen Folgen von Grenzüberschreitungen jedoch auch die Konstitutivität der theoretischen Kategorie und der künstlerischen Praxis der Grenzüberschreitungen. Durch die Verknüpfung mit anderen Feldern und Disziplinen wird das Verständnis von Kunst wiederholt zur Disposition gestellt und in Bewegung gehalten. Wird so einerseits für ein Festhalten an der Grenzüberschreitung als Kategorie und Praxis plädiert, soll andererseits das Verständnis von Grenzüberschreitungen modifiziert werden. Es geht darum, unter Grenzüberschreitungen nicht länger das tatsächliche Verlassen des Kunstfeldes, die radikale Erweiterung der künstlerischen Methoden und Verfahrensweisen als Auflösung in andere Disziplinen und Räume zu verstehen, sondern das permanente In-Bewegung-Halten des Kunstbegriffs in der Grenzbewegung. Grenzüberschreitungen werden zu unabschließbaren Oszillationsprozessen und Verknüpfungen unterschiedlicher Felder, Disziplinen und Aufteilungen des Sinnlichen. Sie ersetzen damit das Bild der Grenzüberschreitung als Überbietung und unbegrenzte Erweiterung des Vorhandenen, die irgendwann zu ihrer Erschöpfung führt. Durch ihre Dynamik und ihre Unbestimmtheit gelingt es Grenzbewegungen eine produktive Unruhe in den etablierten Disziplinen herzustellen und tradierte Wahrnehmungen und konsolidierte Meinungen zu hinterfragen. Statt diesen eine andere Meinung oder Wahrnehmungsweise entgegenzustellen, wird das Bestehende im Prozess der Grenzbewegung dynamisiert. Die Grenzbewegung wird als ein permanenter Prozess des InBeziehung-Setzens entworfen. Sie vermag unterschiedliche Felder und Dichotomien wie Politik und Ästhetik, Innen und Außen, On und Off in ihrem Beziehungsverhältnis zu sehen, statt sie in ihrer Differenz einander gegenüber zu stellen. Damit wird die Grenzbewegung zu einem potentiellen Ort des Aufeinandertreffens von Heterogenem, an dem sich Möglichkeiten des Umdeutens und Neudenkens ergeben und festgefahrene Ordnungen und Bedeutungen ins Wanken geraten. Es werden neue Diskurs- und Möglichkeitsräume eröffnet. Dabei geht es nicht um die Auflösung der Differenzen in der Grenzbewegung, sondern um das konfrontative ‚Miteinander-in-Bezug-setzen‘ von unterschiedlichen Aufteilungen des Sinnlichen. Dies gilt insbesondere für das Verhältnis von Politik und Ästhetik und die Frage des Status von Kunst zwischen Autonomie und Gesellschaftsbezug. Durch das Starkmachen der Grenzbewegung wird es möglich, Politik und Ästhetik nicht länger als zwei getrennte Felder zu betrachten, sondern ihre permanenten Bezugnahmen herauszuarbeiten. In den Fokus rücken die Aushandlungsprozesse der Möglichkeiten und Grenzen von politischen Kunstpraxen und drängen die Diskussion um ihre Unvereinbarkeit in den Hintergrund. Auch die Betonung der Autonomie und die

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parallele Forderung nach einem Gesellschaftsbezug von Kunst sind nicht länger als Entweder-oder zu denken. In der Grenzbewegung werden sie vielmehr in ihrer Gleichzeitigkeit erfahrbar. Es gilt den Status von Kunst zwischen dem Rückzug in die autonome Sphäre des Kunstfeldes und der Auflösung der Kunst in die angewandten Bereiche und Disziplinen stetig neu zu verhandeln. Mit Hilfe des Konzepts der Grenzbewegung kann eine einseitige Definition von Grenzüberschreitungen als Bewegung aus dem Kunstfeld heraus vermieden und die Beweglichkeit und Hinterfragbarkeit des Kunstbegriffs unterstrichen werden. Um die hier angedeuteten Verschiebungen des Begriffs der Grenzüberschreitung herauszuarbeiten, wird zunächst der Begriff der Grenze untersucht. Dabei wird zwischen territorialen, gesellschaftlichen Grenzen und den Grenzen des Kunstfeldes unterschieden. Entgegen dem Eindruck, Grenzen (und hier insbesondere Ländergrenzen) wären statisch, wird gezeigt, wie beweglich diese sind und beständig ihre Form und ihren Verlauf ändern. Die Beweglichkeit von Grenzen lässt sich besonders gut am Beispiel der Globalisierung herausarbeiten. Einerseits kommt es zu einem Wegfall von Grenzen und einer scheinbar grenzenlosen Mobilität. Andererseits ist eine Neuerrichtung von Grenzen auf lokaler wie nationaler Ebene zu beobachten. Der Auflösung der Grenzen steht das Bedürfnis nach klaren Einteilungen und Abgrenzungen auf räumlicher wie gesellschaftlicher Ebene gegenüber. Diese Abgrenzungsmechanismen manifestieren sich auf räumlicher Ebene in der Errichtung einer sich nach außen hin abriegelnden ‚Festung EU‘ oder in kleinerem Maßstab an ‚Gated Communities‘ in Vorstädten. Deutlich wird somit die Dialektik von Grenzen und Grenzüberschreitungen: Werden Grenzen einerseits überwunden und überschritten, werden andererseits permanent neue Grenzen errichtet. Grenzüberschreitungen tragen dazu bei, Grenzen entweder zu verhärten oder sie zu verschieben, wenn nicht sogar aufzulösen. Geht man davon aus, dass Grenzen veränderbar sind und insbesondere durch Grenzüberschreitungen in Bewegung gehalten werden, wird klar, dass weniger von einem Ende der Grenzüberschreitungen als von einer Permanentisierung von Grenzüberschreitungen gesprochen werden kann. Es findet eine zeitliche Erweiterung der Überschreitung statt, mit der eine räumliche Erweiterung der Überschreitung korrespondiert. Das Bild der Grenze als Linie, die zwei Räume voneinander trennt, wird zu einem Grenzraum. An Bedeutung gewinnt das ‚Dazwischensein‘ auf der Grenze. Die Grenze steht nicht mehr für das Trennende, sondern wird zu einer Schnittstelle oder Schwelle zwischen unterschiedlichen Bereichen. Von hier aus ist es möglich, sich in unter-

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schiedlichen Ländern/Disziplinen/Sphären zu bewegen und diese miteinander in Bezug zu setzen. Obwohl diese Arbeit mit der Schilderung territorialer und gesellschaftlicher Grenzen und Grenzüberschreitungen beginnt, liegt der Schwerpunkt auf künstlerischen Grenzüberschreitungen. Im Kapitel 1.2 wird eine Kategorisierung der unterschiedlichen Bewegungsrichtungen von Kunst vorgenommen. Unterschieden wird u.a. zwischen Gattungsüberschreitungen, der Erweiterung des Kunstwerkes und des Künstlerbildes, wobei mit den historischen Avantgarden und deren vielschichtigen Erweiterungen des Kunstbegriffs begonnen wird. Die Avantgardebewegungen sind aber noch aus einem weiteren Grund interessant: Sie erweiterten nicht nur den Kunstbegriff, sondern versuchten Kunst ans Leben anzunähern und Kunst eine gesellschaftliche Relevanz zu verleihen. Der politische Anspruch der Avantgarden ist nicht nur von den Postavantgarden der 70er Jahren wieder aufgenommen worden, sondern war auch für die Re-Politisierung der Kunstpraxen der 90er Jahre zentral. Ein eigenes Kapitel widmet sich den vielschichtigen Ansätzen der 90er Jahre und legt einen Schwerpunkt auf deren Re-Politisierung. Anfang des 21. Jahrhunderts haben die politischen Ansätze der 90er Jahre an Sichtbarkeit verloren. Entgegen der Vorstellung, das Politische sei damit aus der Kunst verschwunden, soll gezeigt werden, wie sich das Verständnis des Politischen in der Kunst verändert hat. Es wird ein Umdenken des Politikbegriffs skizziert, demzufolge nicht mehr nur die intentionale Intervention und Aufklärung als politisch gilt, sondern ebenfalls Momente des Verweigerns, des Unterwindens und des Offen-Haltens von Bedeutungen und Hierarchien. Statt der kompletten Auflösung der bestehenden Ordnung werden temporäre, mikropolitische Interventionen und Verschiebungen angestrebt. Statt der Forderung nach einem ganz Anderen oder einem Außerhalb der kapitalistischen Logik oder der Macht, geht es vielmehr darum, diese Dichotomien in ihrem spannungsgeladenen Beziehungsverhältnis zu denken. Auf diese Weise wird nicht nur die Dichotomie Politik vs. Ästhetik dynamisiert, sondern auch die Gegenüberstellung von Macht vs. Gegenmacht sowie Kunst vs. kapitalistische Logik hinterfragt. Diese Beobachtung lässt sich besonders gut mit (post-)strukturalistischen und postkolonialistischen Ansätze belegen, die dichotomische Argumentations- und Klassifikationsschemata kritisieren und das Differente, Fragmentarische und Uneindeutige in den Mittelpunkt rücken sowie Konzepte der Vielschichtigkeit, Vermischung und Hybridität stark machen. Der Fokus verlagert sich auf die Zwischenzone und das, was sich in dem Grenzraum unterschiedlicher Sphären und Ländergrenzen abspielt. Hier finden Oszillations- und Diffusionsprozesse statt, über-

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lappen und verketten sich die vormals getrennten Ebenen. Es entstehen Schnittstellen und Nachbarschaftszonen, sogenannte ‚Dritte Räume‘ (Bhaba). In diesen verlieren klare Definitionen und Gesetze ihre Eindeutigkeit und weichen Zonen der Ununterscheidbarkeit (Agamben), die durch Erfahrungen der Ambivalenz geprägt sind. Grenzüberschreitungen lassen sich mit Hilfe dieser Ansätze als unabschließbaren Prozess beschreiben, in dessen Zusammenhang Grenzen und ein dichotomisches Denken in Bewegung versetzt und mikropolitische Eingriffe möglich werden. Es geht nicht mehr um das dezidierte Verlassen des Kunstfeldes, sondern um die konfrontativen wie produktiven Momente und Prozesse innerhalb von (Grenz-)Räumen. Den Veränderungen im Denken der Grenzüberschreitungen wird mit der Entwicklung der Konzepte der Grenzbewegungen und des Grenzraumes Rechnung getragen. Diese stark durch theoretische Ansätze beeinflusste Neufassung des Begriffs der Grenzüberschreitung wird mit Hilfe praktischer Beispiele verdeutlicht und anschaulich gemacht. In Form von Exkursen werden einzelne künstlerische und kuratorische Positionen ausführlich vorgestellt, die sich an der Schnittstelle von Kunst und Politik bewegen, sich jedoch nicht alle im Kunstfeld verorten. Durch die Auswahl dieser (Grenz-)Beispiele, treten die Grenzen zwischen den Feldern besonders deutlich hervor, weil sie durch die beschriebenen Praxen sichtbar gemacht und verhandelbar werden. Die Beispiele stehen aber auch exemplarisch für das erarbeitete Verständnis von Grenzbewegungen. Darunter wird eine formal wie inhaltlich bewegliche und selbstreflexive Arbeitsweise verstanden, die interdisziplinär vorgeht und künstlerische, theoretische und politische Ansätze miteinander in Bezug setzt. So wird mit dem Büro für kognitiven Urbanismus eine Künstlergruppe vorgestellt, die künstlerische Arbeiten mit sozialwissenschaftlichen und philosophischen Diskursen zum Thema Ausgrenzung, Überwachung und Warenförmigkeit von Grenzen zusammenführt. Das Projekt Park Fiction in Hamburg ist ein Beispiel dafür, wie stadtteilpolitische Anliegen mit künstlerischen Mitteln vertreten werden können und wie diese Grenzbewegung sowohl im Kunstfeld als auch auf stadtteilpolitischer Ebene für Unruhe sorgen kann. Der Exkurs zur Kommunikationsguerilla wiederum schildert politische Strategien, die sich zwar künstlerischer Ansätze bedienen, jedoch nicht als Kunst bezeichnet werden wollen, da für sie dadurch eine Einschränkung der politischen Wirksamkeit dieser Praxen verbunden ist. Ein Schwerpunkt wird auf die documenta 12 gelegt, eine Ausstellung, die als Grenzraum beschrieben wird, weil sie sich durch die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Setzungen auszeichnet und Einteilungen in Politik/Formalismus, on/off, Kanon/Anti-Kanon unterläuft.

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Die Ausstellung wird als Raum des Unbestimmten beschrieben, in dem Erfahrungen der Verunsicherung ebenso angeregt werden wie Momente der subjektiven Aneignung des Gesehenen. Die Ausstellung wird so zu einem Verhandlungs- und Möglichkeitsraum unterschiedlicher Meinungen und Zugänge. Das Politische der Kunst und des Ausstellungsmachens wird nicht mehr nur wie in den 90er Jahren in Information, Intervention und Impulsgebung verortet, sondern in der Gleichzeitigkeit scheinbar widersprüchlicher Inszenierungen. Werden die Arbeiten u.a. nach formal-ästhetischen Kriterien präsentiert, wird gleichzeitig großen Wert auf die lokalpolitische Verankerung der Ausstellung in der Stadt Kassel gelegt. Es gibt kein übergeordnetes (politisches) Thema, aber eine Reihe von gesellschaftspolitischen Fragen zur Anregung von öffentlichen Aushandlungsprozessen. Die Ausstellung entzieht sich einer klaren Positionierung und hält sich damit an der Grenze gängiger Zuordnungen auf. Sie nimmt eine Reihe von Grenzbewegungen vor, ohne sich für eine Seite zu entscheiden. Vielmehr geht es ihr um das In-der-Schwebe-halten von Einteilungen und Interpretationen.

Forschungsstand Dem häufigen Gebrauch des Begriffs der Grenzüberschreitung in Texten über und zu Kunst, der durch diese Arbeit dokumentiert wird, steht ein Mangel an theoretischen Auseinandersetzungen mit diesem Terminus gegenüber. Zu unterscheiden wäre zwischen dem Gebrauch des Begriffs in der Kunsttheorie (in der Kunstwissenschaft, Kunstgeschichte und Ästhetik) sowie dem Gebrauch in der Sozialwissenschaft und Philosophie (Migrationsforschung, Border Studies, Post-ColonialStudies).Neben kunsthistorischen Untersuchungen künstlerischer Praxen überwiegen in der Kunsttheorie Ansätze, die sich Grenzüberschreitungen aus Perspektive der Ästhetik annähern. Untersucht werden zum Beispiel ästhetische Erfahrungen, die mit Grenzüberschreitungen einhergehen, aber auch die Folgen der Entgrenzungstendenzen für die Definition und die Bestimmung von Kunst. Beidem widmet sich der Sonderforschungsbereich Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste an der Freien Universität Berlin. Den Ausgangspunkt für die einzelnen Forschungsvorhaben bilden zwei Grenzbewegungen: Zum einen die zunehmende intermediale Vernetzung der Künste untereinander und zum anderen die Tendenz zur Aufhebung der Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst im Zuge der Ästhetisierung der Lebenswelt.3

3

Vgl. http://www.sfb626.de/konzept/index.html, Stand: 17.06.2009.

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Daneben gibt es eine Reihe von philosophisch-ästhetischen Ansätzen und Publikationen, die der Überschreitung der Grenzen des Ästhetischen kritisch gegenüberstehen. Dazu gehören der von Hans Robert Jaußʼ herausgegebene Sammelband Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen (1968), Wolfgang Welsch Grenzgänge des Ästhetischen (1995), Karl Heinz Bohrers Die Grenzen des Ästhetischen (1998) sowie Robert Stockhammers Grenzwerte des Ästhetischen (2002). Diese Ansätze gehen zumeist von einem ‚Kern des Ästhetischen‘ (Bohrer) aus, der bedroht ist – durch das Anästhetische oder die umfassende Aktualisierung des Ästhetischen. So untersucht Jauß Sammelband das Dilemma einer ‚Ästhetik des Unästhetischen‘ in der kunstphilosophischen und literaturwissenschaftlichen Diskussion. Darunter werden jene Ansätze verstanden, die aus dem Kanon des Schönen ausgeschlossen oder an den Rand verwiesen wurden und das Ästhetische zu einem Grenzphänomen machen, wie z.B. das Hässliche, das Obszöne, das Unbewusste oder der Kitsch. Auf ähnliche Weise untersucht der von Stockhammer herausgegebene Band Phänomene wie Chaos, Ekel, Trauma oder Wahnsinn. Besonders Bohrer hält an einem Kern des ästhetischen Diskurses fest und kritisiert jegliche Form einer Erweiterung oder Grenzüberschreitung, sei sie moralischphilosophisch, sozial-emanzipatorisch oder hedonistisch-kulturell. Welsch dagegen stellt ebenfalls eine Ästhetisierung der Lebenswelt fest, verfällt jedoch nicht in den negativen Grundtenor Bohrers, obwohl auch er kritisiert, dass es durch die Ästhetisierung zu einer Abstumpfung gegenüber dem Ästhetischen und seinen störenden Momenten kommt. Abgesehen von diesen Schriften, die sich auf die Verteidigung der Ästhetik konzentrieren, ist auffällig, dass es aus philosophischer Perspektive relativ wenige Publikationen zum Begriff und der Bewegung der Überschreitung gibt, obwohl diese gerade für die (post-)strukturalistische und postkolonialistische Theorie so zentral ist. Als Begriff taucht er lediglich in dem George Bataille gewidmeten Sammelband Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung (1999) auf und wird dann von Foucault in einem gleichnamigen Aufsatz aufgegriffen. Gleichwohl versammelt der Tagungsband Grenzen und Grenzüberschreitungen (2004), anlässlich des XIX. Deutschen Kongresses für Philosophie erschienen, Beiträge verschiedener Disziplinen und bietet einen Überblick über die unterschiedlichen Formen und Funktionen von Grenzüberschreitungen. Es fehlt jedoch weiterhin eine fundierte Übersicht über die unterschiedlichen Formen und Bewegungsrichtungen von Grenzüberschreitungen. Mit seinem Buch Ästhetik einer Grenzüberschreitung (1999) füllt Gerald Raunig diese Lücke, ist in mancher Hinsicht jedoch zu einsei-

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tig. Er schildert (politische) Kunstpraxen des 20. Jahrhunderts und deren Versuche, die Enden des eigenen Feldes auszuloten, wobei er sich auf die interventionistischen Kunstpraxen der 90er Jahre konzentriert, die sich eher dem politischen als dem künstlerischen Feld zuordnen lassen. Dennoch ist seine Erarbeitung unterschiedlicher Kategorien für die Beschreibung von (Grenz-)Bewegungen besonders für diese Arbeit wertvoll. Zudem nimmt er die Erweiterung der Grenzüberschreitungen zu Grenzbewegungen und Grenzräumen vorweg, wenn er vom Aufbrechen und Ausdehnen der Grenzlinie zu temporären Grenzräumen spricht. Dabei greift er – ähnlich wie diese Arbeit – auf theoretische Positionen und Raumkonzepte von Benjamin, Foucault und Deleuze/Guattari zurück. Neben Raunig gibt es weitere Publikationen, die Grenzüberschreitungen aus theoretischer Perspektive analysieren und sich dabei auf zeitgenössische künstlerische Praxen stützen. So kombiniert die Publikation Last Minute. Zur Warenförmigkeit von Grenzen (2006) des Büros für kognitiven Urbanismus, erschienen zur gleichnamigen Ausstellung in der Galerie für zeitgenössische Kunst in Leipzig, Ausführungen zur Beschaffenheit von Grenzen und Grenzorten mit dort gezeigten künstlerischen Arbeiten. Der Sammelband Grenzbespielungen (2005), herausgegeben von Beatrice von Bismarck, ist das Ergebnis einer Tagung in Leipzig. Er widmet sich den ‚visuellen Politiken in der Übergangszone‘, womit künstlerische und politische Praxen gemeint sind, die sich selber als Grenzpraxen bezeichnen, da sie zwischen Kunst und Politik oszillieren oder sich mit territorialen und gesellschaftlichen Grenzziehungen beschäftigen. Schon an diesen wenigen Beispielen lässt sich erahnen, wie unterschiedlich ästhetische Grenzüberschreitungen und Grenzen im Kunstfeld definiert werden und wie sie sich im Laufe der Zeit verändert haben. Ist es zunächst die Hinwendung zum Nicht-Schönen, die als Überschreitung bezeichnet (und kritisiert) wird, sind es später vor allem die Überschreitungen ins Leben und in den Alltag, die kontrovers diskutiert werden, bevor in den 90er Jahren die Überschreitungen ins Soziale und Politische erneut virulent werden. Eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema Grenzen und Grenzüberschreitungen findet aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Sicht statt.4 Insbesondere die sich gerade erst entwickelnden Border

4

Gestrich/Krauss sprechen sogar davon, dass der Begriff in den letzten Jahren zu einem zentralen Gegenstand der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung geworden ist (vgl. Gestrich/Krauss: Migration und Grenze, S. 9).

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Studies konzentrieren sich auf territoriale Grenzen, wie die folgende Bestimmung von Camilla Kanafa nahe legt. Sie bezeichnet mit Border Studies die wissenschaftliche Untersuchung von Grenzen und Grenzregionen und erläutert: „Der Ansatz entwickelte sich aus der politischen Geographie (Geopolitik) und ist zu einem internationalen und interdisziplinären Forschungsfeld angewachsen, an dem eine Reihe von Disziplinen beteiligt ist“5 – wie zum Beispiel die Wirtschafts- und Sozialgeographie, Raumforschung, Verwaltungslehre, Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft, Kulturwissenschaft, Soziologie oder Stadtplanungstheorie. Eine hilfreiche Einführung in das Thema Grenze liefert Markus Schroer mit seiner Publikation Räume, Orte, Grenzen (2006), in der er den Begriff im Zusammenhang mit Raumkonzepten erläutert und Auswirkungen aktueller Phänomene wie der Globalisierung untersucht. Thomas Geisen und Allen Karcher versammeln in ihrem Sammelband Grenze (2003) Aufsätze, die das Verständnis territorialer Grenzen um gesellschaftliche Aspekte erweitern und sich sozialen, politischen und kulturellen Grenzen widmen. Dabei ist besonders der Aufsatz von Christel Bartes-Löhr hervorzuheben, der sich aus diskursanalytischer und dekonstruktivistischer Perspektive mit Theoriekonzepten zum Begriff Grenze auseinandersetzt und die Konstruktionsprozesse von Grenzen betont. Auch der Aufsatz von Geisen ist aufschlussreich, da er die Ambivalenzen in den Prozessen der Grenzsetzung und Grenzüberschreitung herausarbeitet. Die Auswirkungen von Grenzüberschreitungen auf politischer und individueller Ebene werden insbesondere im Zusammenhang mit dem Thema Migration untersucht. So versammeln Andreas Gestrich und

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Kanafa: Grenznavigator, S. 14. Kanafa ist Mitglied des Forschungsvorhabens ‚Städteregion Ruhr 2030‘, das an der Fakultät Raumplanung der Universität Dortmund angesiedelt ist. Untersucht wird darin das Ruhrgebiet als eine ‚Region der 1000 Grenzen‘, womit historische Grenzen, unterschiedliche Raumnutzungen für Industrie, Landwirtschaft, Wohnen und Erholen sowie ein Nebeneinander von Menschen unterschiedlicher Herkünfte und kulturellen Hintergründen gemeint sind. Ausgehend von diesen vielfältigen Grenzziehungen findet eine intensive interdisziplinäre Beschäftigung mit Grenzen und Grenzüberschreitungen statt. Zu den beteiligten Disziplinen zählt Kanafa u.a. die Wirtschafts- und Sozialgeographie, Raumforschung, Amerikanistik, Verwaltungslehre, Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft, Kulturwissenschaften, Soziologie, Geschlechterforschung oder Stadtplanungstheorie (vgl. www.ruhr-2030.de, Stand: 15.11. 2008).

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Marita Krauss in ihrem Buch Migration und Grenze (1998) Beiträge einer Tagung, dessen Ziel es war, „die Zusammenhänge zwischen Grenzen und Migrationsbewegungen auszuleuchten. Migration bedeutet immer Überschreiten einer Grenze. Grenzen können jedoch zwischen ganz unterschiedlichen Einheiten (Ethnien, Gemeinden, Staaten, Kulturen, Konfessionen etc.) bestehen, und sie können ganz verschieden markiert und wahrgenommen werden.“6

Egal ob Migration freiwillig oder unfreiwillig geschieht, hat sie Folgen auf die Konstruktion von Identitäten und Nationen. In diesem Sinne untersuchen Eva Horn, Stefan Kaufmann und Ulrich Bröckling die subversiven und politischen Folgen von Grenzverletzer(n) (2002) auf (Länder-)Grenzen, während sich Avtar Brah in Cartographies of Diaspora (1996) auf den Zusammenhang von Grenzen und transnationalen Identitäten im Raum der Diaspora konzentriert. Gebündelt werden verschiedene Diskurse zum Thema Migration im Ausstellungskatalog Projekt Migration (2005), der zur gleichnamigen Ausstellung im Kölnischen Kunstverein erschienen ist. Ein Schwerpunkt wird dabei auf den aus- bzw. einschließenden Charakter von Grenzen gelegt.

Methode In dieser Arbeit wird eine transdisziplinäre Untersuchung des Forschungsgegenstandes vorgenommen, die als spezifisch kulturwissenschaftliche verstanden wird, denn laut Fauser funktionieren die Kulturwissenschaften wie eine multiperspektivische Vernetzung von Einzelergebnissen aus Disziplinen, die normalerweise nicht ohne weiteres zusammenfinden würden.7 Der Terminus Kulturwissenschaft fungiert als ‚fächerübergreifendes Regulativ‘ und „Kulturwissenschaft ist dann die Bezeichnung für eine bestimmte Praxis, die sich an bestimmten Problemstellungen orientiert“8 – oder wie in diesem Fall einem bestimmten Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven nachgeht. Ansätze aus Kunstwissenschaft und Kunstgeschichte, Philosophie und ästhetischer Theorie sowie sozialwissenschaftlichen Disziplinen werden zusammengeführt und eine Begriffsbestimmung aus unterschiedlicher Perspektive vorgenommen. Durch den Einbezug heterogener Disziplinen lassen sich die jeweiligen Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Verständnis von Grenzen und Grenzüberschreitungen herausarbei6 7 8

Gestrich/Krauss: Migration und Grenze, S. 7. Vgl. Fauser: Kulturwissenschaft, S. 9. Vgl. Fauser: Kulturwissenschaft, S. 9.

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ten. Mit Hilfe von poststrukturalistischen und postkolonialistischen Ansätzen wird dann ein neues Verständnis entwickelt. Dabei wird sowohl auf der begrifflichen Ebene als auch der Praxisebene nach diesen Veränderungen gesucht. Wird einerseits von Texten ausgegangen, also der Gebrauch und die Verwendung des Begriffs in theoretischen Texten, Katalogtexten, Ausstellungskonzepten und Rezensionen analysiert, wird zugleich auch auf aktuelle praktische Beispiele zurückgegriffen. Geschildert werden künstlerische und kuratorische Praxen wie das border project von Ursula Biemann, die Ausstellung Kultur | Natur in Hamburg-Wilhelmsburg oder die kuratorischen Konzepte der letzten berlin biennalen. Die Frage was Grenzüberschreitungen sind und wofür sie stehen, wird ergänzt durch die Frage wie diese Grenzüberschreitungen gedacht und gebraucht werden. Die kulturwissenschaftliche Methodik wird demnach um eine diskursanalytische Untersuchung des Begriffs Grenzüberschreitungen ergänzt. Als Diskursanalyse wird nach Foucault eine Methode der Untersuchung historischer Bedingungen von Begriffsbildungen und Diskursformationen bezeichnet. Ausgangspunkt dieses Ansatzes ist die Beobachtung, dass Aussagen ihren Sinn ändern, je nachdem, ob sie in einem gesellschaftlichen, politischen oder historischen Kontext gebraucht werden. Die Diskursanalyse oder ‚Archäologie‘, wie Foucault diese auch bezeichnet hat, dient dazu, „sichtbar zu machen, wie Wahrheiten jeweils historisch ‚erfunden‘ und wie sie innerhalb gesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Hegemonie wirksam werden.“9 Aufgezeigt wird demnach die enge Verknüpfung von Diskurs- und Machtformationen. Aus diesem Grund wird nicht nur die Aussage, sondern ebenfalls der (Diskurs-)Kontext untersucht, also die überindividuelle symbolische Ordnung der Diskurse, in der diese stehen. Diese Ordnung ist laut Hannelore Bublitz für „die diskursiv-soziale und symbolischer Herstellung von Gegenständen [sowie] deren Materialisierung in einer komplexen gesellschaftlichen Praxis [verantwortlich]“10 und deswegen von besonderer Relevanz, wenn es um die Untersuchung von Begriffen und deren Gebrauch geht. Im Unterschied zu Foucault liegt der Schwerpunkt der Untersuchung jedoch nicht auf dem gesellschaftsanalytischen und -kritischen Fokus der Diskursanalyse. Vielmehr wird ihre Aufgabe damit bestimmt, die ‚scheinbaren Wahrheiten‘ und eindeutigen Konnotationen des Begriffs der Grenzüberschreitung zu hinterfragen und ihre zeitliche Gebundenheit an den jeweiligen gesellschaftlichen Kon-

9 Bublitz: Das Wuchern der Diskurse, S. 13f. 10 Bublitz: Diskursanalyse als Gesellschafts-‚Theorie‘, S. 24.

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text zu unterstreichen. Betont wird damit die Variabilität von Begriffen, die zugleich die Möglichkeit für eigene Begriffsschöpfungen und Neufassungen eröffnet. Weder die Kulturwissenschaft noch die Diskursanalyse werden als strenges Regelwerk und Analyseinstrument angewendet, sondern „als eine theoretische, vielleicht sogar philosophische Haltung“11 verstanden. Dies entspricht dem Verständnis von Kulturwissenschaften von Cornelia Vissmann. Ihrer Meinung nach zeichnen sich diese weder durch eine Methode noch durch einen Themenkatalog aus, sondern durch die wissenschaftliche Praxis des Fragens, die auch für diese Arbeit konstitutiv ist.12 Folgt man diesem Verständnis, ist das Ziel dieser Arbeit eine umfassende wie kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Grenzüberschreitung. Es geht nicht um das bedingungslose Festhalten, sondern um die Anregung eines Prozesses des beständigen kritischen Hinterfragens, InBewegung-haltens und Neuerfinden des Begriffs. Die Betonung der Offenheit und Dynamik von Bedeutungen und Begriffen findet sich auch in der Bestimmung der Kulturwissenschaft als offenem Prozess wieder, die Christian Gerbel und Lutz Musner in ihrem Einführungstext zum Sammelband Kulturwissenschaften (2002) vornehmen. Sie arbeiten heraus, wie sich im letzten Jahrzehnt die Kulturwissenschaft als Forschung etabliert hat, die verschiedene theoretische und methodische Ansätze aus den Geisteswissenschaften und den Sozialwissenschaften zueinander in Bezug setzt und damit ein Gegengewicht zur voranschreitenden Spezialisierung der Fächer bildet. Die Kulturwissenschaft sorgt damit für eine produktive Unruhe in den etablierten Disziplinen und formuliert die disziplinären Ränder und Grenzen neu. In Folge dessen kommt es zu Ambivalenzen in den Begriffen und Theorien, zu instabilen Wertigkeiten und Rangordnungen sowie zu einer neuen Multiperspektivität auf die Gegenstände.13 Es entsteht ein Relationsraum des Wissens14, der vom Vor- und Zurückgehen, Wiederaufgreifen und Neu-in-Verbindung-setzen von Gedanken, Begriffen und theoretischen Ansätzen lebt. Im Rückgriff auf Deleuze/Guattari

11 Sarasin: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, S. 8. 12 Vgl. Vissmann: Wozu Kulturwissenschaft?, S. 15. 13 Vgl. Held/Schneider: Kunstwissenschaft, S. 17. Der Ansatz der Autoren zeichnet sich darüber hinaus durch den Versuch aus, die traditionellen Theorien und Methoden, Gegenstände und Institutionen der Kunstgeschichte nicht aufzugeben, sondern neu zu lesen und damit einen Perspektivwechsel anzuregen. Statt das Eine durch das Andere zu ersetzen, sollen Alt und Neu in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden. 14 Vgl. Ott: Wider die Interdisziplinarität, S. II.

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ließe sich diese Arbeit demnach auch als rhizomatisches Geflecht bezeichnen. Es umfasst unterschiedliche, nicht-hierarchisch geschichtete Wissensfelder, die durch Transversalen verbunden sind.15 Im Mittelpunkt steht daher die Verknüpfung verwandter Fragestellungen und Ansätze diesseits ihrer disziplinären Herkunft. In den Worten Michaela Otts gilt es „quer zu den Disziplinen […] unterbelichtete Wechselbeziehungen und differente Artikulationsprozesse zu profilieren“16 – um auf diese Weise eine „spiralförmige Intensivierung des Gesagten [zu erzielen]“.17 Dies trifft auf den Begriff der Grenzüberschreitung ebenso zu wie auf die Frage des Gesellschaftsbezuges von Kunst und das Verhältnis von Ästhetik und Politik. Es betrifft aber auch Begriffe wie Autonomie oder ästhetische Erfahrung, die man aufgrund ihrer gewichtigen Bedeutung im Schreiben und Sprechen über Kunst im Rückgriff auf Helmut Draxler auch als Substanzbegriffe bezeichnen kann. Letztlich wird ein Dreischritt vorgenommen: Geht es erstens um das Aufzeigen der Bedeutungsvielfalt des Begriffs Grenzüberschreitung, wird zweitens eine Verknüpfung mit theoretischen Konzepten von Grenzbewegungen vorgenommen. Im dritten Schritt wird eine Neubestimmung des Begriffs entwickelt. Diese Intervention in die begriffliche Praxis der Theorie bzw. Kritik18 entspricht der Bestimmung der Philosophie als „Kunst der Bildung, Erfindung und Herstellung von Begriffen“19 durch Deleuze/Guattari. Sie verstehen darunter jedoch weniger die Neuerfindung von Begriffen und Begriffspersonen, als den Versuch, Begriffe zu entleeren und sie in andere Kontexte zu versetzen ohne dass die bisherigen Bedeutungen gänzlich abgelöst werden. Ihr Ziel ist es die Begriffe in Schwingungen zu versetzen und die Antagonismen und Substanzialisierungen in der eigenen Sprache zu überwinden, die in den meisten Begriffen vorhanden sind. In anderen Worten sollen die ‚Spaltungen und Verschiebungen‘ von Begriffen

15 Vgl. Ott: Deleuze, S. 45. 16 Vgl. Ott: Wider die Interdisziplinarität, S. III. 17 Vgl. Ott: Deleuze, S. 27. Sie bezieht sich hier auf die Methode der ‚Differenz und Wiederholung‘ von Deleuze/Guattari, die darunter die Wiederholung von Ideen und Ansätzen verstehen, die aufgrund ihrer Wiederaufnahme in jeweils anderen Kontexten eine Verschiebung bzw. eine Differenz erfahren. 18 Vgl. Rebentisch, die in ihrem Buch Ästhetik der Installation ebenfalls von einer Intervention in die begriffliche Praxis spricht, um ihre Neufassung von ästhetischer Autonomie zu bezeichnen (vgl. S. 19). 19 Deleuze/Guattari: Was ist Philosophie?, S. 6.

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herausgearbeitet werden, wie Draxler festhält.20 Auf diese Weise entsteht ein Spannungsfeld verschiedener Bedeutungen, die den Leser und Betrachter verunsichern und zugleich auffordern, in den Prozess der Bedeutungsgebung einzusteigen. In den Blick rücken die Prozesse der Bedeutungsverschiebung und -konstruktion und sensibilisieren für einen kritischen Gebrauch der Kategorien. Eine Neubestimmung des Begriffs Grenzüberschreitung ist demnach weniger ein kompletter Neuentwurf, als die Dynamisierung und Verschiebung des bestehenden Konzepts von Grenzüberschreitung. Nicht der Gegenentwurf ist das Ziel, sondern der reflektierte und kritische Umgang mit den bestehenden Bedeutungen.

20 Vgl. Draxler: Gefährliche Substanzen, S. 20.

1. Begriffsbestimmungen: Grenzen, Grenzüberschreitungen und Grenzbewegungen

Das erste Kapitel dient der Bestimmung der für diese Arbeit zentralen Begriffe Grenze, Grenzüberschreitung und Grenzbewegungen. Dabei überlagern sich die Zugänge aus unterschiedlichen Disziplinen. Die breit angelegte Schilderung der Begriffe dient dazu, einerseits die Vielschichtigkeit des Begriffs herauszuarbeiten und zugleich auf Gemeinsamkeiten des Begriffs in den unterschiedlichen Disziplinen aufmerksam zu machen. Dazu werden künstlerische Praxen seit den Avantgardebewegungen ebenso herangezogen wie Ausstellungen, die sich dem Thema Grenzen widmen oder Texte, in denen von Grenzüberschreitungen die Rede ist. Im ersten Teil steht der Begriff der Grenze im Vordergrund, wobei zwischen territorialen, gesellschaftlichen Grenzen und den Grenzen des Kunstfeldes unterschieden wird. Im zweiten Teil wird untersucht, was für Formen und Bewegungsrichtungen von Grenzüberschreitungen es gibt. Es werden acht Kategorien entwickelt, um diese Bewegungsrichtungen zu kategorisieren, wobei die Vorstellung künstlerischer Praxen mit der Untersuchung des Gebrauchs des Begriffs zusammenfällt. Im dritten Teil wird der Frage nachgegangen, worin die konstitutive Funktion von Grenzüberschreitungen besteht und wo die Grenzen der Grenzüberschreitungen verlaufen. Es werden unterschiedliche Beweggründe von Überschreitungen zusammengefasst und gleichzeitig auf die Vorbehalte gegenüber Grenzüberschreitungen hingewiesen. Im Anschluss daran werden philosophische Einzelpositionen und Konzepte vorgestellt und deren Grenzbewegungen im Denken herausgearbeitet. Gemeinsam ist diesen Positionen die Ablösung eines dichotomischen Denkens durch ein Denken des Dazwischen und des Sowohl-auch-auch, was der hier zu erarbeiteten Neufassung von Grenzüberschreitungen entspricht.

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1.1 Grenzen „Grenzen sind viel mehr als das, was man an Schlagbäumen, Zäunen und Mauern sehen kann. Sie bestehen aus sichtbaren und unsichtbaren Trennlinien. In aller Regel sind sie mythologisch und ideologisch aufgeladen. [...] Grenzen sind mehrfach codierte Gebilde, ein Gemisch aus militärischen, ökonomischen, pragmatischen und weit über alle Pragmatik hinausreichenden Interessen.“ 1 HENNING OTTMANN

Grenzen stehen für eine Vielzahl von sichtbaren wie unsichtbaren Trennlinien. Sie markieren politisch-administrative Staats- und Regionalgrenzen, Nationen- und Zollgrenzen, treten aber auch im sozialen und kulturellen Bereich auf. Mit sozialen Grenzen werden Unterschiede zwischen Gesellschaftsklassen, Milieus und Geschlechtern markiert. Kulturelle Grenzen verlaufen z.B. entlang von Sprachgrenzen und ethnischen Grenzen. Sie sind sowohl real-manifest als auch fiktiv und informell. In diesem Sinne nennt Foucault weitere Grenzen, die räumlichen Einteilungen folgen, „zwischen dem privaten Raum und dem öffentlichen Raum, zwischen dem Raum der Familie und dem gesellschaftlichen Raum, zwischen dem kulturellen Raum und dem nützlichen Raum, zwischen dem Raum der Freizeit und dem Raum der Arbeit“2. Häufig sind Grenzziehungen an die Konstruktion von Gegensätzen gekoppelt: zwischen Kultur und Natur, Kunst und Wissenschaft, Rationalität und Irrationalität, Subjektivität und Objektivität, Innen und Außen, Gut und Böse. Diese Gegensätze werden häufig als quasi natürliche und statische Gegebenheiten akzeptiert.3 Entgegen der Vorstellung, Grenzen und Gegensätze wären naturgegeben und unver-

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Ottmann: Grenzen, S. 335. Foucault: Andere Räume, S. 37. Vgl. Foucault: Andere Räume, S. 37. Vgl. auch Barthes Ausführungen zur Naturalisierung von Mythen, in seinem Buch Mythen des Alltags, in dem es ihm ebenfalls darum geht, die Mechanismen aufzuzeigen, die dazu führen, dass bestimmte Mythen als gegeben hingenommen werden, obwohl sie gesellschaftlichen Ideologien entspringen.

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rückbar, sollen diese jedoch in ihrer Beweglichkeit dargestellt und als gesellschaftliche und politische Konstrukte gekennzeichnet werden. Dies unterstreicht Brah, wenn sie von Grenzen als willkürlichen Trennlinien und arbiträren Konstruktionen spricht.4 Markus Bauer und Thomas Rahn gehen soweit, in der Einleitung zu ihrem Buch Grenze. Begriff und Inszenierung (1997) Grenzen sogar als Projektionen und Einbildungen zu bezeichnen.5 Kanafa entwirft das Bild von Grenzen als Konventionen, um zu unterstreichen, dass Grenzen einem historischen und kulturellen Wandel sowie kulturellen Normierungen unterworfen sind.6 Grundsätzlich gilt: Grenzen sind beweglich, sie verschieben sich und lösen sich auf, zugleich entstehen neue Grenzen, werden bestehende Grenzregime verschärft. Sie befinden sich in einem permanenten Prozess der Auflösung und Neukonstruktion, der Überschreitung und Verschiebung, was sich insbesondere im Zusammenhang mit der Globalisierung beobachten lässt. Mit Deleuze/Guattari kann von einer permanenten De- und Reterritorialisierung von Grenzen gesprochen werden, die nie an ein Ende zu gelangen scheint, sondern sich in einem permanenten Werden befindet. Dies gilt für territoriale und gesellschaftliche Grenzen ebenso wie für die Grenzen des Kunstfeldes. Das heißt, „anzuerkennen, dass die Grenze selbst immer bestehen bleibt, sich nur ihr Verlauf ständig ändert, unabhängig davon welche Tabuverletzungen, Grenzüberschreitungen, Auf- oder Abwertungen auch immer erfunden werden.“7 Statt zu behaupten, die Avantgarden am Anfang des 20. Jahrhunderts hätten schon alle Grenzen überschritten, soll gezeigt werden, dass die Möglichkeiten von Grenzüberschreitungen unerschöpflich sind, weil sich stets neue Grenzen und Grenzverläufe bilden. Entgegen dem Verständnis von Grenzen als Symbol des Trennenden sollen Grenzen darüber hinaus als Schnittstellen beschrieben werden, als Orte, an denen unterschiedliche Zonen, Ordnungen, Vorstel-

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Vgl. Brah: Diaspora, S. 35. Vgl. Bauer/Rahn: Grenze und Inszenierung, S. 8. Die Autoren vereinigen aus diesem Grund in ihrem Sammelband Beiträge zu einer Phänomenologie der Grenze. Sie untersuchen die Grenze als eine ‚wahrnehmungs-, reflexions- und verhaltensleitende Kategorie‘. Ihre These: „Die Grenzen (als territoriale Grenze, Besitzgrenze, Individualinstanz, Grenze zum Transzendenten etc.) sind zentrale Merkgegenstände eines kollektiven Gedächtnisses, das Denkbares und Undenkbares auseinandersortiert und Übertretungsverbote oder Übertretungsregeln archiviert.“ (Ebd.) Vgl. Kanafa: Grenznavigator, S. 6. Zwirner: Au-delà de cette limite, S. 188.

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lungen miteinander in Bezug gesetzt werden. Schon Martin Heidegger arbeitete diese Dialektik von Grenzen heraus, sah in ihnen Orte der Ruhe und Bewegtheit: „Die Grenze im griechischen Sinne riegelt nicht ab, sondern bringt als hervorgebrachte selber das Anwesende erst zum Scheinen. Grenze gibt frei ins Verborgene. [...] Die festigende Grenze ist das Ruhende – nämlich in der Fülle der Bewegtheit.“8 Die festigende Grenze ist somit alles andere als statisch gedacht. Als Ort des Streits bildet sie die Grundlage für die Prozesse, die laut Heidegger Kunstwerke konstituieren.9 Es entsteht ein produktiver Zwischenraum, wie Christel Baltes-Löhr feststellt: „In der Spannung des Ein- und Ausschlusses selbst liegt die Chance zur Überwindung dichotomer Dualismen, es zeigen sich Grenzräume, Schwellen, Orte der Begegnung.“10 Dabei werden sowohl nationalstaatliche als auch kulturell definierte Grenzen zusehends unscharf, verlieren ihre Exaktheit und Klarheit.11 Doch die Dualismen lösen sich nicht auf, sondern werden dynamisiert und diffundieren zwischen diversen Bedeutungen und Möglichkeiten. Grenzen erweitern sich zu Schwellen- und Möglichkeitsräumen, wie Fischer-Lichte ausführt: „Die Grenze wird zur Schwelle, die nicht voneinander trennt, sondern miteinander verbindet. An die Stelle unüberbrückbarer Gegensätze treten graduelle Differenzen.“12 Statt einem Entweder-oder wird die Schwelle zu einem Ort des Sowohl-als-auch. Baltes-Löhr ergänzt: „Dadurch, dass die Grenze das Eine vom Anderen trennt, kreiert sie das Eine und das Andere, schließt das Eine aber auch mit dem Anderen zusammen. [...] Das Verbindende von Grenzen ist ein Geschehen, ein Prozess, der sich in Grenzräumen, an den Schwellen, an den Übergängen zeigt.“13 Dies macht Grenzräume für sie nicht nur zu einem Ort der Begegnung im räumlichen, sondern auch sozialen Sinn.14 Deutlich wird die Ambivalenz von Grenzen, die sich als grundlegendes Charakteristikum herausarbeiten lässt: Sie grenzen Dinge voneinander ab und setzen diese gleichzeitig in Beziehung zueinander, sie bieten Sicherheit und begrenzen zugleich die Freiheit. Grenzen sind

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Heidegger: Ursprung des Kunstwerks, S. 88. Vgl. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 255. Baltes-Löhr: Grenzverschiebungen, S. 88. Vgl. Schroer: Räume, S. 180. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 356. Vgl. auch ihren Aufsatz Ästhetische Erfahrung, indem sie die ästhetische Erfahrung als eine Art Schwellenerfahrung (oder liminale Erfahrung) beschreibt. 13 Baltes-Löhr: Grenzverschiebungen, S. 96. 14 Vgl. Baltes-Löhr: Grenzverschiebungen, S. 96f.

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somit nicht nur in ihrer destruktiven Rolle zu betrachten, sondern ebenso in ihrer konstruktiven. Sie sind es, die Unterschiede zumeist erst sichtbar machen und (konfrontative) Begegnungen stiften. Zudem wirken sie in die Subjekte und den die Grenzen umgebenen Raum hinein. Die Wirkungen von Grenzen und Grenzüberschreitungen werden im folgenden Kapitel ausführlich am Beispiel von Migrationsbewegungen erläutert. An ihnen lassen sich Prozesse der Ein- und Ausgrenzung, ebenso wie Prozesse der Auflösung, Verschiebung und (Neu-)Errichtung von Grenzen beobachten. Dabei wird den Migranten das Potential zugesprochen, den Raum des Nationalstaates zu durchlöchern und Grenzen neu zu verlegen, wie Tom Holert und Mark Terkessidis in ihrem Buch Fliehkraft (2006) festhalten.15 Der Versuch, Migrationsbewegungen subversives Potential zuzuschreiben, muss jedoch immer vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Realität betrachtet werden, der zufolge Migration aus wirtschaftlicher oder politischer Not heraus entsteht und oftmals mit hohen Risiken verbunden ist. 1.1.1 Territoriale Grenzen Territoriale Grenzen markieren meist räumliche Einheiten, die durch natürliche Begrenzungen wie Berge, Flüsse oder Seen gekennzeichnet sind. Sie dienen dazu, diese Einheiten als abgegrenzte und abgrenzbare Gebiete erscheinen zu lassen und politische Entscheidungen zu naturalisieren.16 Oft folgt die Grenze dem Bild einer Linie, „die irgendwo gezogen wird um zu markieren, dass an dieser Grenze irgendwas endet und jenseits dieser Linie etwas anderes beginnt. Ein Blick auf territoriale Grenzziehungen bestätigt diese Politik der Linien.“17 Historisch gesehen ist die Konzeption linearer Grenzverläufe aufs engste verknüpft mit der Formierung einer politischen Herrschaft. „Historisch ist die Staatsgrenze von der Gewalt her zu denken, von einer Zentralgewalt, die sich territorial gegen im gleichem Maße souveräne Feinde nach außen abgrenzte und zugleich im Inneren das Monopol an sich zog, zwischen legaler und illegaler Gewalt zu unterscheiden.“18 Das war jedoch nicht immer so. Die Veränderungen der Bedeutung von Staatsgrenzen lassen sich an den unterschiedlichen Begriffen nach-

15 Vgl. Holert/Terkessidis: Fliehkraft, S. 254. 16 Das hat zur Folge, dass „auch das Land und dessen politische oder kulturelle Machtstrukturen wie ein der Natur entsprungenes Vermächtnis [erscheinen].“ (Büro für kognitiven Urbanismus: Last Minute, S. 26.) 17 Büro für kognitiven Urbanismus: Last Minute, S. 26. 18 Horn/Kaufmann/Bröckling: Grenzverletzer, S. 14.

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vollziehen, die zur Bezeichnung von Grenzen benutzt wurden. Horn/ Bröckling/Kaufmann verweisen auf die französischen Begriffe fins, limite und frontière, die nicht nur die unterschiedliche Konzeption von Grenzen aufzeigen, sondern auch die sich wandelnden Funktionen andeuten, denen Grenzen unterlegen waren.19 So ist ‚Fins‘ der Name für französische Landesgrenzen im 14. Jahrhundert, die nur in den seltensten Fällen vertraglich festgelegt wurden. Mit ihnen wurden Geländestreifen und Randzonen eines Landes bezeichnet, die eher als breiter Streifen, denn als klare Linie konzipiert waren. Erst im Zuge des 16. Jahrhunderts bildeten sich in Frankreich zwei Begriffe für Landesgrenzen heraus. Wurde der Begriff ‚limite‘ eher im juristischen Sinne verwendet, diente der Begriff ‚frontière‘ im militärischen Kontext dazu, zwischen zwei gegenüberstehenden Armeen zu differenzieren; mit der Zeit wurde er verstärkt dafür verwendet, die Grenzen zweier Staaten zu kennzeichnen. Erst nach 1800 wird die Staatsgrenze in Europa zum wichtigsten Schritt für die staatliche Kontrolltätigkeit und Definitionsmacht und prägt noch heute das Verständnis von Grenzen, wie folgende Bestimmung im Rahmen der Ausstellung Zoll/Douane deutlich macht: „Staatsgrenzen sind künstliche Gebilde, im juristischen Sinne ‚vorgestellte Linien‘, die das Gebiet zweier Staaten trennen. Jene regeln und kontrollieren besonders im Pass- und Zollrecht den Personen- und Warenverkehr über ihre Grenzen. [...] Seit der kapitalen Marktwirtschaft wurden Grenzen zunehmend benutzt, um Waren- und Menschenströme zu Gunsten der Wirtschaft zu regulieren. Mit nationalen Grenzen entstanden nationale Identitäten, Reisedokumente sind deren wichtigstes Indiz. Doch mit Grenzziehungen waren auch immer Streitigkeiten verbunden, Instabilität scheint ihnen inne zu wohnen.“20

Noch heute sind die meisten Kriege eine Folge von ungeklärten Grenzverläufen und territorialen Besitzansprüchen. Verwiesen sei hier auf die Grenzkonflikte im Balkan im Anschluss an das Auseinanderbrechen Jugoslawiens sowie das Ringen um die Grenzen Israels. In beiden Fällen sind Grenzverschiebungen bzw. eine Vervielfältigung

19 Vgl. Horn/Kaufmann/Bröckling: Grenzverletzer, S. 12-14. Zur etymologischen Herleitung des Grenzbegriffs vgl. auch Raunig: Kunst und Revolution, S. 224-231. 20 www.zoll-douane.net, Stand: 30.11.2004. Die Ausstellung Zoll/Douane im Hamburger Hafen, 2004, widmete sich ausgehend von der durch Zollgrenzen umgebenden Speicherstadt nationalen, kulturellen und sozialen Grenzsetzungen und ihren Überschreitungen.

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von Grenzverläufen zu beobachten.21 Nur selten kann wie beim Fall der Mauer in Deutschland von der Auflösung von Grenzen gesprochen werden (und oftmals bestehen dann die Grenzen in den Köpfen der Menschen fort). Die Ausstellung Grenzgänge/Borderlining im Kunstverein Wolfsburg (2003/04) versammelt Arbeiten, die die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen von territorialen und informellen Grenzen thematisieren. Die Arbeiten gehen den Wirkungen dieser Grenzen auf individuelles Verhalten ebenso nach wie den Veränderungen in der Vorstellung von Nation und Nationalität. Zusammenfassend lassen sich unterschiedliche Funktionen von Grenzen unterscheiden:22 1. Sie sind zunächst Grenzmarkierungen des Staates und markieren einen Raum des Inneren und der Souveränität, in dem Güter und Personen kontrolliert und Steuern eingenommen werden. 2. Sie sind zudem befestigte Verteidigungslinien gegen feindliche Streitkräfte und dienen der wirtschaftlichen Abgrenzung durch die Errichtung von Zollgrenzen bzw. zollfreien Zonen. 3. Als Demarkationslinien kommt ihnen die politische Funktion der Ein- und Ausgrenzung zu. ‚Klare Grenzen‘ sollen die Unterscheidungen zwischen Innen und Außen, Eigenem und Fremden wiederherstellen und damit eine Oase der Übersichtlichkeit und Sicherheit schaffen.23 Dieser Einund Ausschluss von Personen, Waren etc. dient der Konstruktion einer kollektiven Identität und hilft den Zusammenhalt nach Innen zu si-

21 Am Grenzkonflikt in Israel lassen sich sogar zwei unterschiedliche Phänomene beobachten: Wird die Grenze zu Palästina einerseits durch den Bau einer Mauer zementiert, werden andererseits durch jede Siedlung auf palästinensischem Gebiet die Grenzen/Grenzzonen vervielfältigt. Aufgegriffen wurde dieses Thema in der Ausstellung Grenzräume in der Galerie für zeitgenössische Kunst, Leipzig, 2007. Sie widmete sich den spezifischen Grenzsituationen Jerusalems und thematisierte die räumlichen und mentalen Frontlinien, die den Alltag im Nahostkonflikt prägen. Grenzen sind hier Orte radikaler ethnischer Segregation, aber auch Begegnungsund Kommunikationszonen, was die Ambivalenz von Grenzen unterstreicht. 22 Vgl. Walters: Genealogien der Kontrolle, S. 799. 23 Vgl. Schroer: Räume, S. 180. Er präzisiert: „Selbst wenn sich diese Schließungsszenarios und Abschottungsstrategien als Illusion erweisen, so sind sie doch überaus gebräuchliche und wirkungsmächtige Illusionen, die gerne von konservativen und rechtsgerichteten Politikern gebraucht werden.“ (S. 179) Vgl. auch S. 204, wo er davon spricht, dass sich die Souveränität des Staates darauf gründet, den Bürgern Sicherheit zu garantieren.

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chern.24 Grenzen und Normen liefern Übersicht und Halt in einer zunehmend komplexen und unüberschaubaren Welt und befriedigen das Bedürfnis nach Chronologisierung, Homogenisierung und Ordnung der Dinge.25 Schroer stellt die These auf, dass abgeschlossene Räume eine Art ontologischer Sicherheit zu verbürgen scheinen, da sie Übersicht versprechen und Komplexität reduzieren. Der abgeschlossene Raum fungiert in diesem Moment als Bewahrer nationaler Identität und Geschlossenheit. Er resümiert: „Gewissermaßen als Antwort auf die Grenzauflösungen, für die das schillernde Wort Globalisierung wohl vor allem steht, können wir einen verstärkten Bedarf an Grenzbildungen beobachten, der in der Tendenz zur Abkapselung, zum Einigeln, zum Cocooning kulminiert, die sich an räumlichen Gegebenheiten ebenso beobachten lässt wie an bestimmten Körperpraktiken.“26

Grenzen werden hiermit als politisches wie gesellschaftliches Konstrukt charakterisiert.27 Das bedeutet, dass Grenzziehungen politischen (und ökonomischen) Entscheidungen unterliegen und beweglich sind. „Was als eine Grenze erscheint, bleibt im Wesen nur eine temporäre Variable: eine Behauptung mit Ablaufdatum.“28 Grenzen sind aber nicht nur als Konstrukte zu verstehen, die von gesellschaftspolitischen Entscheidungen abhängig sind, sondern nehmen ebenso konstitutiv Einfluss auf die Gesellschaft. Sie rufen spezifische Verhaltens- und Subjektivierungsweisen sowie die Unterscheidung von Innen und Außen hervor. Sie markieren nach Außen die Trennlinie eines Raumes, der Souveränität und Verfügungsmacht besitzt und definieren nach Innen die Konstitutionsbedingungen für einen geschlossenen Raum. Laut dem Büro für kognitiven Urbanismus behaupten Grenzen, „dass es eine Differenz gibt zwischen dem Diesseits und dem Jenseits einer Grenze. Abhängig vom Standpunkt teilen sie die Bereiche diesseits und jenseits in ein Innen und Außen. Tendenziell werden Grenzen aus einem imaginä-

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Vgl. Schroer, Räume, S. 190f. Vgl. Baltes-Löhr: Grenzverschiebungen, S. 96. Schroer: Räume, S. 292. Vgl. Baltes-Löhr: Grenzverschiebungen, S. 83. Sie arbeitet diese Konstruiertheit im Rückgriff auf Deleuze und Derrida heraus, da diese „umfassende, sehr eingängige und radikale Hinweise auf die umfassende Konstruiertheit, den performativen ‚Charakter‘ von Worten, Begriffen, Ereignissen und damit auch Grenzen [geben].“ (S. 92) 28 Büro für kognitiven Urbanismus: Last Minute, S. 65.

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ren Innen heraus gezogen, um ein imaginäres Außen davon abzusetzen. Sinngemäß folgen Grenzziehungen einer Struktur von Ein- und Ausschlussmechanismen.“29

An Grenzen wird zwischen legalem und illegalem Grenzübertritt unterschieden und der Grenzübergang auf bestimmte Personen beschränkt. Grenzen können somit als Barrieren oder durchlässige Membranen wahrgenommen werden. Sie sind immer auch Ausdruck von Machtverhältnissen und Orte von Aus- und Abgrenzungen, die zwischen „Bürgern und Fremdlingen, Untertanen und Ausländern unterscheiden“.30 Indem sie diese Unterscheidungen treffen und sowohl den Zugang als auch den Austritt regulieren, haben Grenzen „einen prägenden und bestimmenden Einfluss auf die Persönlichkeit und die sozialen Beziehungen derjenigen, die diese passieren und überschreiten – oder dies gerade nicht tun können“31. Insbesondere die Figur des Grenzverletzers wird durch die Grenze zuallererst hervorgebracht, wie Horn/Kaufmann/Bröckling ausführen: „Grenzen produzieren nicht nur Staatsbürger und Ausländer, Immigranten und Emigranten, Ausgewiesene und Abgewiesene, sondern auch Grenzverletzer.“32 Mit Hans Medick lässt sich festhalten: „Grenzen prägen die Struktur und die Dynamik der Gesellschaften, deren Rand sie bilden. Die Grenze eröffnet den in ihrer Nähe lebenden Individuen und Gemeinschaften Handlungsspielräume; sie bedingt aber als ein herrschaftlich kontrollierter Raum auch besondere Verhaltensweisen.“33 Im Folgenden sollen die Auswirkungen von Grenzverschiebungen bzw. Grenzauflösungen auf politischer, ökonomischer wie subjektiver

29 Büro für kognitiven Urbanismus: Last Minute. S. 64. 30 Horn: Über Grenzen, S. 41. Die ausgrenzende und politisch problematische Funktion von Grenzen, die unterschiedlichen Abschiebepraxen, die Rolle von Schleuserbanden und die Umstände von Fluchtversuchen werden u.a. von politisch engagierten Künstler-Gruppen, wie kein Mensch ist illegal, dem noborder-Netzwerk oder der Volxtheaterkarawane aufgegriffen und kritisiert. Zum noborder-Netzwerk siehe Raunig: Kunst und Revolution, S. 221-240. Zu den Projekten Fluchthilfe und Schleuser.net siehe von Bismarck: Grenzbespielungen, S. 50-60 und S. 103-117. 31 Geisen/Karcher: Grenze, S. 9. Die Autoren bezeichnen Grenzen mithin als Regulatoren für den Zugang zu gesellschaftlichen Ereignissen und Orten, bei denen nach Alter, Vermögen und Funktion derjenigen unterschieden wird, die die Grenzen passieren wollen. 32 Horn/Kaufmann/Bröckling: Grenzverletzer, S. 7. 33 Medick: Grenzziehungen, S. 223.

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Ebene am Beispiel der Globalisierung geschildert werden. Diese steht in besonderem Maße für eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit und grenzenlose ‚uneingeschränkte‘ Mobilität.34 Nach Schroer bedeutet Globalisierung die „Ausweitung und Intensivierung von Kommunikationsbeziehungen über nationale Grenzen hinweg. Der weltweite Austausch von Geld, Dienstleistungen, Technologien, Waren, Kapital, Menschen und Informationen nimmt zu und entzieht sich zunehmend der Steuerung und Gestaltung durch den Nationalstaat.“35 Sie verdankt sich der Deregulierung, Liberalisierung, Flexibilisierung, Verflüssigung und der ungehemmten Entwicklung von Finanz-, Immobilienund Arbeitsmärkten, auf Grund derer man von einer ökonomischen Globalisierung spricht.36 Sie hängt eng mit neuen Transporttechnologien zusammen, die die Auslagerung der Produktion ermöglichen, aber auch mit neuen Medien- und Datentechnologien, die mühelos Grenzen überwinden.37 Das Bild weltumspannender Kommunikation und Bewegung wird durch den Tourismus und die globale (Arbeits-)Migration noch unterstützt, die trotz verstärkter Überwachung und Sicherung auch nationale Grenzen überwindet. Parallel kann von einer politischen Globalisierung gesprochen werden, da sich auch die Macht zunehmend frei entfaltet und sich dem Geltungsbereich einzelner Staaten

34 Vgl. Bauman, der in seinem Buch Flüchtige Moderne die Auswirkungen der Mobilität auf das Verständnis von Emanzipation, Individualität, Zeit/Raum, Arbeit und Gemeinschaft beschreibt. Er zeigt hier die stete Verflüchtigung ehemals stabiler sozialer Beziehungen, die immer stärkere Individualisierung innerhalb der westlichen Kultur und die Verschiebung der Politik von den globalen Schauplätzen der Macht. Interessant ist sein Hinweis auf die ungleiche Verteilung der Mobilität: Sie gelte für Touristen wie für Vagabunden, Global Players und Flüchtlinge, aber weniger für eine große Mittelschicht, die weitgehend immobil sei, bzw. sich vor der Bewegung – als sozialer Abstieg – fürchtet. Er weist zudem auf die verstärkten Restriktionen für Migranten hin, bei gleichzeitig steigendem Bedarf an Arbeitsmigration. 35 Schroer: Räume, S. 195. 36 Vgl. Schroer: Räume, S. 166. 37 Vgl. Schroer: Räume, S. 199f. Diminescu erläutert die Folgen dieser Verflüssigung der Daten für das Verständnis von Grenzen: „Während Grenzen lange Zeit in die Landschaften eingeschrieben waren, haben sie heute die Karten physischer Geographie verlassen. In Form von Datensätzen sind die Grenzen heute allgegenwärtig, sie erscheinen in Botschaften, in Amtsstellen oder auf dem Laptop eines Polizisten, der in der Nähe einer Mautstelle auf der Autobahn steht.“ (Diminescu: Das System D, S. 829.)

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entzieht. Laut Bauman verflüchtigt sich die Macht hin zu überstaatlichen Strukturen und damit ins ‚Niemandsland der globalen Exterritorialität‘: „Der globale Raum ist jener Bereich, in dem die Macht frei von politischen Einschränkungen agieren kann.“38 Mitverantwortlich für diese Entwicklung ist der zunehmend deregulierte und ungehinderte Freihandel, der dazu führt, dass der Staat aller Ressourcen und Vorrechte entledigt wird, mit denen er effektiv Macht ausüben kann. Das hat zur Folge, dass der Nationalstaat zunehmend nur noch zu reagieren, statt zu agieren scheint.39 Seine Macht und Souveränität verlagern sich auf multinationale Organisationen oder lokale Bündnisse wie die Europäische Union. Hardt/Negri bezeichnen diese nationalen und supranationalen Organismen auch als Empire. Im Gegensatz zu Nationalstaaten, deren Zentrum der Macht von Grenzen umschlossen ist, etabliert das Empire kein territoriales Zentrum der Macht, noch beruht es auf von vornherein festgelegten Grenzziehungen und Schranken. „Es ist dezentriert und deterritorialisierend. [...] Das Empire arrangiert und organisiert hybride Identitäten, flexible Hierarchien und eine Vielzahl von Austauschverhältnissen durch modulierende Netzwerke des Kommandos.“40 Am Beispiel des Empires wird deutlich, dass sich (nationale) Grenzen und Machtverhältnisse nicht auflösen, sondern verschieben und neue Formen annehmen. Es ließe sich von einer fließenden Bewegung des Wegfallens und der gleichzeitigen Neuerrichtung von Grenzen sprechen. Dies gilt insbesondere auch für Europa. Wurde durch die Gründung der EU und das Schengener Abkommen ein grenzenloser Raum für EU-Mitglieder geschaffen, kann zugleich von einer ‚Festung Europa‘ gesprochen werden, die sich vehement nach außen abschottet. Etienne Balibar spricht in ihrem Katalogbeitrag zu der Ausstellung Migration von einem ‚Europa als Grenzland‘, das den politischen Raum Europas als sich überschneidende offene Region konzipiert, dessen Außengrenzen jedoch alles andere als offen sind. Europa ist nach Innen ein Ort, an dem nationale Grenzen und Unterschiede nivelliert werden, nach Außen hin jedoch eine Festung, die mit massiven Kontroll- und Ausgrenzungsmechanismen verbunden ist. Diese Mechanismen materialisieren sich einerseits in Form von hochgesicherten Grenzübergängen, existieren aber auch in Form von Vorurteilen und Pauschalisierungen z.B. gegenüber Roma und Sinti, Muslimen oder

38 Globaler Porzellanladen, Interview mit Bauman, S. 19. 39 Vgl. Schroer: Räume, S. 205. 40 Hardt/Negri: Empire, S. 11.

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Flüchtlingen aus Afrika.41 Hier deutet sich an, wie das Grenzproblem von politisch-militärischen Abgrenzungen um kulturelle, religiöse und ethische Abgrenzungen ergänzt wird. Diese orientieren sich oftmals an Kriterien wie Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit, was sich u.a. in gesteigerten Rassismus und einer verstärkten Nationalstaatlichkeit ausdrückt. Wie die Ausführungen zur Globalisierung und der Entwicklung in Europa gezeigt haben, folgt auf die Auflösung und Aufweichung von Grenzen zumeist ihre Neukonstruktion und Verschärfung. Dem von Bauman beschworenen ‚Raum der Ströme‘, der durch Offenheit und Mobilität gekennzeichnet ist,42 steht die Errichtung immer strengerer Grenzregimes an den Rändern Europas oder an der Grenze der USA zu Mexiko entgegen. Pessimistisch formuliert, scheinen sich die Grenzen tatsächlicher Lebensräume damit eher zu verfestigen als aufzuweichen.43 Diese These lässt sich anhand von zwei Beobachtungen festmachen: Es kommt zu einer räumlichen Ausdehnung und Vervielfältigung von Grenzen, die wiederum eine Zunahme von Kontroll- und Zugangsmechanismen bedingt, denn Grenzziehungen sind eng an ihre Überwachung gekoppelt. Nehmen diese zu, gibt es auch vermehrt Kontrollmechanismen, die diese Grenzen schützen. Zu einer Zunahme von Grenzen kommt es aufgrund der deutlichen Tendenz zu privaten, wirtschaftlichen und sicherheitstechnischen Grenzziehungen. Diese sind z.B. auf die Umwandlung von öffentlichen in privaten Raum zurückzuführen. Sie manifestieren sich aber auch in den territorialen Segregationsentwicklungen innerhalb von Städten. So werden in Dubai künstliche Inseln errichtet und damit abgetrennte Räume konstruiert. In Caracas zeigt sich die soziale und territoriale Segregation am krassen Kontrast von städtischen Ghettos und abgeriegelten Wohnkomplexen.44 Die harten territorialen und nationalen Grenzziehungen werden um ein Netz von Grenzzonen ergänzt, in denen z.T. eigene Gesetze gelten. Hier deutet sich die räumliche Aus-

41 Vgl. Hall: Europas anderes Selbst, S. 804. 42 Vgl. Bauman: Verworfenes Leben, S. 15. 43 Vgl. Bunk: Neue Räume, S. 16. Bunk verwahrt sich aus diesem Grund in ihrem Text vor einem inflationären Gebrauch des postkolonial geprägten Konzepts der Hybridität und des Dritten Raumes, die ebenso wie der Begriff Globalisierung eine globale Beweglichkeit suggerieren. 44 Vgl. die Ausstellung Islands & Ghettos, die Ein- und Ausgrenzungsprozesse am Beispiel von Dubai, Caracas und Berlin untersucht. Die Ausstellung wurde im Heidelberger Kunstverein (2008), in der NGBK und dem Künstlerhaus Bethanien (2009) gezeigt.

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dehnung von Grenzen hin zu Grenzzonen und -räumen an. Parallel zur räumlichen Vervielfältigung von Grenzen kommt es zu einer Ausweitung von Grenz- und Zugangskontrollen hin zu immateriellen Formen der permanenten digitalen Zugangskontrolle. Diese werden mit Hilfe von Handys oder GPS-Systeme nicht mehr nur an nationalen Grenzen, sondern an verschiedenen Kontrollorten wie Flug- und Seehäfen und im Eingangsbereich von Shopping-Malls und Diskotheken durchgeführt.45 Ein extremes Beispiel für die Ausweitung der Grenzkontrollen stellen die Überlegungen der EU dar, die Kontrolle der Flüchtlinge und die Verhinderung ihrer Flucht in die Herkunftsländer der Flüchtlinge zu verlagern.46 Zu einer Erweiterung der Kontrolle kommt es zudem durch eine massiv zunehmende Überwachungspolitik, die sich an Überwachungskameras im öffentlichen wie privaten Raum und an der gestiegenen Präsenz von Sicherheitskräften festmachen lässt. Wie eine Grenze wahrgenommen wird, hängt entscheidend davon ab, in welcher Situation man sich befindet und welchen Status man innehat: Es macht einen Unterschied, ob man als Migrant, als Flüchtling, als Botschafter oder als Tourist eine Grenze überschreitet.47 Je nach Status gelten unterschiedliche Regularien, müssen unterschiedliche Hürden überwunden werden. Gleichzeitig lassen sich die Erfahrungen der Grenzgänger vergleichen, wenn man ihre Mobilität als gemeinsamen Ausgangspunkt nimmt und die produktive Seite ihrer Grenzübertretung untersucht. Dann verschwinden die Grenzen zwischen Arbeitsmigranten, Flüchtlingen, Soldaten im Auslandseinsatz, Austauschstudenten und Touristen.48 Für alle gilt: Durch die Überquerung wird die Grenze zu einer sozialen Tatsache, die Auswirkungen sowohl auf die Überquerenden und die Grenze hat, als auch auf die Bereiche

45 Vgl. Büro für kognitiven Urbanismus: Last Minute, S. 24. 46 Vgl. Horn/Kaufmann/Bröckling: Grenzverletzer, S. 22 und Büro für kognitiven Urbanismus: Last Minute. S. 14. 47 Vgl. Schroer: Räume, S. 224 und Gestrich/Krauss: Migration und Grenze, S. 7. 48 Ein Vergleich von Migranten und Touristen wird sowohl von Holert/ Terkessidis in ihrem Buch Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen sowie in der Publikation Last Minute des Büro für kognitiven Urbanismus (vgl. S. 150f. und S. 118-121) vorgenommen. Ähnlichkeiten dieser Gruppen ergeben sich durch ihre Neigung, sich im Gastgeberland in Vorstadtsiedlungen oder Hotelburgen zu verschanzen und mit Hilfe der neuesten Kommunikationstechnologien den intensiven Austausch mit ihrer Heimat pflegen, statt sich mit den Gegebenheiten vor Ort auseinander zu setzen.

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jenseits der Grenze. Sandro Mezzadra führt diesen Aspekt in seinem Beitrag zum Katalog des Projekts Migration aus: „Migrationsbewegungen berühren und verändern die verschiedenen Dimensionen, in denen mindestens zwei gesellschaftliche Systeme (nämlich das der Herkunft und das der Ankunft der Migranten) zusammenhängen; tatsächlich ziehen sie neue Verbindungs- und Trennungslinien auf den Landkarten unseres Planeten und beziehen eine Vielzahl verschiedener Bereiche mit ein, die öffentliche Debatte, rechtliche und soziale Normen, Zugehörigkeiten, Identitäten, die Form der Klassenherrschaft, die Geschlechterbeziehungen – und werden ihrerseits durch all das entscheidend beeinflusst.“49

Auf diese Weise können die Erfahrungen von Grenzgängern Verschiebungen von Grenzen und von gesellschaftlichen Normen und Vorstellungen bewirken. Die produktive Seite dieser Erfahrungen fassen Holert/Terkessidis zusammen: „An den Orten des Transits, auf den Wegen von Migration und Tourismus entstehen neue Kollektive, neue Lebensstil- und Schicksalsgemeinschaften.“50 Diesen neuen Gemeinschaften werden im positiven Sinne Veränderungsmöglichkeiten zugeschrieben, die besonders von postkolonialistischen Ansätzen betont und herausgearbeitet werden. So schreibt Bourriaud über sie: „Sie sind immer weniger Ausdruck eines Territoriums, sondern immer mehr einer Bewegung, einer Bahn, eines Rückpralls. Die Kulturen werden portabel. Sie schlagen fern ihrer Heimat Wurzeln. Sie erzeugen neue Kreuzungen und befruchten die Böden, die sie aufnehmen.“51 Boutang geht soweit, in der selbstbestimmten Mobilität der Menschen die einzige regulierende Grenze zu sehen, die der Zirkulation des Kapitals und der Waren nicht rein defensiv entgegen tritt.52 Ähnlich argumentieren Hardt/Negri in ihrem Buch Empire. Ihre revolutionären Hoffnungen auf eine neue Weltordnung liegen auf der Menge, die sich aus postkolonialen Helden, Migranten und anderen beweglichen Bevölkerungsströmen zusammensetzt: „Als die wahren Helden der Befreiung dürfen heute die Emigranten und die Bevölkerungsströme gelten, die alte und neue Grenzen zerstört haben. Und so

49 Mezzadra: Blick der Autonomie, S. 794. 50 Holert/Terkessidis: Fliehkraft, S. 15. 51 Altermodernität, Bourriaud im Gespräch, S. 34. Er bezeichnet die globale Migration deshalb auch als ‚wichtigstes kulturelles Phänomen‘ der Zeit. 52 Vgl. Boutang zit.n. AutorInnenkollektiv/kein Mensch ist illegal: Ohne Papier in Europa, S. 7.

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ist denn der postkoloniale Held derjenige, der fortwährend territoriale und rassistische Grenzen überschreitet, der Partikularismen zerstört und auf eine gemeinsame Zivilisation verweist.“53

Kaufman/Bröckling/Horn verwahren sich in ihrem Buch Grenzverletzer jedoch vor einer allzu optimistischen Einschätzung der Grenzgänger. Sie warnen vor einer Verklärung illegaler Grenzgänger als romantische Anti-Helden und verweisen darauf, dass jeder Grenzübertritt nicht nur zur Perforation, sondern auch zur immer perfekteren Absicherung von Grenzen führt. Denn: „So wie jeder Gesetzesbruch das Gesetz ins Bewußtsein ruft, so erweitert jede illegale Grenzüberschreitung das Wissen um Lücken und Schwächen in der Überwachung und Kontrolle.“54 In den Worten Horns sind Grenzen „Gebilde, die sich gerade durch ihre Verletzung und Beschädigung immer weiter perfektionieren und stabilisieren.“55 Das bedeutet: „Ein Ende der Kontrollen ist nicht in Sicht, aber auch die Versuche, sie zu umgehen, werden nicht aufhören.“56 Grenzen sind somit weder statisch noch unverrückbar. Im Gegenteil wurde gezeigt, wie sich diese verschieben, ausdehnen und neu konstituieren, was bedeutet, dass permanent neue Anknüpfungspunkte für Grenzüberschreitungen geschaffen werden. Exkurs: Büro für kognitiven Urbanismus Mit dem Büro für kognitiven Urbanismus wird nun eine Künstlergruppe vorgestellt, die sich intensiv mit Grenzen, ihren Funktionen und Veränderungen auseinander gesetzt hat. In ihrem Projekt Last Minute, das im Folgenden ausführlich beschrieben wird, bündeln sie interdisziplinäre Ansätze und Fragestellungen zum Thema. Ihre Auseinandersetzung mit der Warenförmigkeit von Grenzen sowie der Ausdehnung von Grenzen durch omnipräsente Überwachungsmechanismen bietet eine anschauliche Ergänzung und inhaltliche Erweiterung der hier herausgearbeiteten Erkenntnisse über Grenzen. Das Büro, das 1999 von Andreas Spiegl, Karoline Streeruwitz und Christian Teckert in Wien gegründet wurde, arbeitet interdisziplinär an der Schnittstelle von Stadtplanung, Architektur, Kunst und Theorie. Ihr Projekt Last Minute umfasste neben einer Ausstellung in der Galerie für zeitgenössische Kunst in Leipzig (2006) zwei Publikationen zum Thema, in denen eine Verknüpfung von theoretischen und künst-

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Hardt/Negri: Empire, S. 370. Horn/Kaufmann/Bröckling: Grenzverletzer, S. 9. Horn: Über Grenzen, S. 44. Horn/Kaufmann/Bröckling: Grenzverletzer, S. 22.

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lerischen Herangehensweisen vorgenommen wird. In der Ausstellung selber waren großformatige Zeichnungen aus zarten Bleistiftlinien zu sehen, die direkt auf den Wänden angebracht waren. Sie zeigten verschiedene Situationen der Last Minute Kultur, die für das Gefühl der permanenten Fluchtmöglichkeit durch die Überwindung von räumlichen wie zeitlichen Grenzen steht. Zu erkennen waren ein Reisebüro mit seinen Last Minute Angeboten und der Option auf sofortigen Ortswechsel sowie ein Callcenter, das unbegrenzte Kommunikation ermöglicht. Zu sehen waren aber auch Überwachungskameras und Stacheldrahtzäune, die die Begrenzungen der Last Minute Kultur symbolisieren. Diese Wandzeichnungen wurden ergänzt durch drei weitere künstlerische Positionen, die sich dem Thema auf unterschiedliche Weise annäherten. In der Videoarbeit Framing Location von Sabine Bitter und Helmut Weber verschwinden Grenzen zwischen Räumen zugunsten einer nahtlosen Wegführung durch verschiedene Zeit- und Aufenthaltszonen. Hier werden Innen- und Stadträume ineinander verschachtelt, überlagern sich und konstruieren auf diese Weise neue Räume. Die Grenzen zwischen Innen und Außen werden fließend. Die beiden anderen Positionen beschäftigen sich mit ‚Raumplacebos‘, Nachbauten von berühmten Gebäuden, die einen Konsum von Raum und Raumerlebnissen offerieren. Christian Mayer zeigt Fotos von einem der ersten Themenparks im Wiener Prater, in dem 1895 berühmte Paläste Venedigs nachgebaut wurden. Er aktualisiert diese Illusion von Räumlichkeit, indem er in Venedig Fotografien dieses Themenparks zeigt und Touristen die Möglichkeit bietet, sich vor diesen doppelten Fake fotografieren zu lassen. Auch Kamen Stoyanov hält in ihren Fotos Stadt- und Landschaften fest, auf denen Nachbauten historischer oder berühmter Gebäude zu sehen sind. Die theoretische Auseinandersetzung mit Grenzen fand vor allem in den zur Ausstellung erschienenen Publikationen statt. Der Last Minute Guide enthält kleinformatige Fotografien und kurze, prägnante wie provokante Sätze über die Beschaffenheit und die Funktion von Grenzen (z.B. „Telekommunikation übersetzt territoriale Grenzen in ökonomische.“ „Grenzen evozieren ein Innen und Außen.“ „Grenzen sind da, um überwunden zu werden.“) Der umfangreichere Katalog umfasst dagegen einen Dialog über Grenzen und kurze theoretische Texte zur Last Minute Kultur und der Warenförmigkeit von Grenzen aus unterschiedlichen Perspektiven und disziplinären Hintergründen, wobei man eine Vorliebe für poststrukturalistische Ansätze beobachten kann. Die Verschachtelung der Texte entspricht der in den Theorieteilen angedeuteten Auflösung eindeutiger Grenzen hin zu einem Geflecht aus unterschiedlichen Grenzverläufen und -formen. Ergänzt wird das Buch durch Anzeigen von Überwachungsfirmen und Integra-

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tionsvereinbarungen, die das Themenspektrum um Überwachung, Migration und Abschiebung erweitern. Entworfen wird ein kompaktes wie disparates Bild der Auseinandersetzung mit Grenzen. Mit den Formaten Ausstellung und Publikation untersucht das Büro für kognitiven Urbanismus eine gesellschaftliche Entwicklung, in der die Menschen ständig auf der Flucht sind – indem sie spontan in den Last Minute Urlaub fahren, mit der ‚Heimat‘ telefonieren, sich in architektonische Themenparks oder mediale Phantasiewelten begeben. Unabhängig davon, ob es sich um eine reale oder virtuelle Reise handelt, findet ein Umgang mit Grenzen unter dem Zeichen der Verwertungslogik statt.57 Deutlich wird: wenn es um die Überschreitung der Grenzen für Urlaubs- oder Telekommunikationszwecke geht, wird der Handel mit Grenzen profitabel. Die Grenze wird zu einer Ware, die im Akt der Überwindung konsumiert wird. Das Ziel der Überwindung liegt nicht jenseits der Grenze, sondern in der Überwindung selbst.58 Signifikant für diesen Grenzübertritt ist die Konzentration auf den Augenblick der Überwindung und das vergleichbare Desinteresse an dem Raum jenseits der Grenzen. Problematisiert wird von den Autoren, dass auf diese Weise die sozialen und politischen Implikationen von Grenzen ausgegrenzt werden und das Subjekt entpolitisiert wird, da die Last Minute Haltung dazu verleitet, das Hier und Jetzt mit einem touristischen Blick wahrzunehmen und sich jeglichem (politischem oder nachbarschaftlichem) Engagement zu entziehen. Grenzen zeichnen sich laut Büro für kognitiven Urbanismus aber nicht nur durch ihre Warenförmigkeit aus, sondern auch durch ihre Variabilität und räumliche Ausdehnung. „Die Grenze wird variabel. Unbestimmbar bleiben nicht nur ihr zeitliches Erscheinen, sondern auch ihre räumlichen Koordinaten. Im deleuzianischen Kontext würde man sagen, diese Grenze ist von virtueller Natur, die sich zu jeder Zeit und an jedem Ort aktualisieren kann.“59 Das Ergebnis ist „eine unüberschaubare Anzahl von Grenzen, die je nach Beschreibung und Perspektive variieren und je nach Kontext an Bedeutung gewinnen oder verlieren.“60 Zudem kommt es zu einer Verlagerung der Grenzen in die Subjekte: diese entscheiden darüber, wann und wo Grenzen aktiviert oder überschritten werden bzw. wo die Grenze des Erträglichen liegt. „Die Frage, wie lange man wo verweilen will oder darf, wird an das Subjekt delegiert. Seine ökonomische oder politisch-kulturelle Identi-

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Vgl. Büro für kognitiven Urbanismus: Last Minute, S. 65. Vgl. Büro für kognitiven Urbanismus: Last Minute, S. 12. Büro für kognitiven Urbanismus: Last Minute Guide, Umschlag. Büro für kognitiven Urbanismus: Last Minute, S. 114.

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tät definiert und aktiviert erst die Grenzen des möglichen Zutritts.“61 Die politisch-kulturelle Identität wird dabei bestimmt durch Faktoren wie Alter, Einkommen oder Geschlecht, so dass die Grenze zu einem „virtuellen Prinzip im Subjekt [wird], das allein von diesem aktualisiert wird...oder auch nicht.“62 1.1.2 Gesellschaftliche Grenzen „Programmatisch formuliert geht es darum, Grenzen niederzureissen, die von Signifikationswächtern und proteushaften Machern bestimmt werden.“ 63 PAOLO BIANCHI

Unter gesellschaftliche Grenzen lassen sich sowohl religiöse, moralische als auch ethische Grenzen, Konventionen und Regeln zusammenfassen. Laut Ludwig Siep ist es traditionell Aufgabe der Ethik, Grenzen zu setzen. „Dabei geht es nicht nur um die Grenzen gegenüber anderen Menschen, sondern auch gegenüber der Menschheit als ganzer und gegenüber dem Übermenschlichen“.64 Siep nennt drei Gründe für das Verlangen nach Grenzen: psychologische, soziale und kulturgeschichtliche. Meist geht es um die Bewahrung der Identität des Einen vor dem Anderen, seiner Psyche, seines Körpers und seines Eigentums aber auch um die Abgrenzung von anderen Gruppen. Grenzen haben zudem eine Entlastungsfunktion: „Grenzen als soziale Verhaltensregeln sichern Erwartungen, schützen vor Enttäuschungen und Konflikt, garantieren Kommunikation und Kooperation.“65 Wiechens zu Folge übernehmen Verbote eine für die Gesellschaft lebenswichtige Schlüsselfunktion: Sie grenzen bedrohlich erscheinende Ereignisse, Personen oder Dinge aus und verhindern gewalttätige Handlungen, „wodurch sich die relative, stabile, alltägliche Lebenswelt konstituiert.“66 Ähnlich wie territoriale bieten ethische Grenzen Orientierung. Mit Hilfe von Grenzen können „bestimmte Möglichkeiten des Handelns [...] als 61 Büro für kognitiven Urbanismus: Last Minute, S. 71. 62 Büro für kognitiven Urbanismus: Last Minute, S. 124, vgl. auch S. 21 und S. 128f. 63 Bianchi: Lebenskunstwerke, S. 46. 64 Siep: Ethische Grenzen, S. 120. 65 Siep: Ethische Grenzen, S. 120. 66 Wiechens: Bataille, S. 25f.

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moralisch falsch bezeichnet und ihre Übertretung mit Sanktionen versehen werden.“67 Wurden die Grenzen zunächst durch göttliche Gebote gesetzt, wurden sie später durch Imperative der Vernunft abgelöst. Übertretungen wurden durch (juristische) Sanktionen oder zumindest durch die Erregung von Schuldbewusstsein bestraft. Siep macht zudem auf Grenzen zwischen verschiedenen Sitten-, Werte- und Rechtsgemeinschaften aufmerksam, die auf die Vielfalt der Gruppen, Völker, Staaten und Kulturen zurückzuführen sind. Um Grenzüberschreitungen in Form von Verstößen gegen diese unterschiedlichen Werte- und Rechtsordnungen vorzubeugen, haben sich Tabuethiken, Verbots- und Gebotsethiken sowie Pflichtenethiken entwickelt, die auf das Verhaltens- und Handlungsweisen der Menschen einwirken und ihm Grenzen setzten. Als besonders einflussreiche religiöse Ethiken lassen sich sowohl die zehn Gebote als auch die Scharia nennen. Doch nicht alle Ethiken und Regeln sind schriftlich fixiert, oftmals spricht man von ungeschriebenen Gesetzen, die dennoch gesellschaftliche Wirkung entfalten. Als solch ungeschriebenes Gesetz gilt die ‚Kraft der normierenden Ordnung‘. Diese wirkt weniger über Regeln und Gesetze als durch Normierungsprozesse. So wird durch die dominante Präsenz eines bestimmten Frauentyps in den Medien und in der Werbung das Bild der Frau geprägt und normiert. Abweichungen davon können im positiven wie negativen Sinn Aufmerksamkeit erregen. Schon in den Ausführungen zu territorialen Grenzen wurde gezeigt, dass Grenzen als gesellschaftliche Konstrukte aufzufassen sind, die Veränderungen unterliegen. Auch für gesellschaftliche Grenzen gilt, dass sie sich in einem ständigen Prozess der Auflösung und Neukonstitution befinden. Trotz einer zu beobachtenden Liberalisierung in der westlichen Welt kann man nicht von einem Verschwinden von Aus- und Abgrenzungsmechanismen sprechen. Zu stark scheint das Bedürfnis nach stabilen Unterscheidungsmerkmalen zu sein, die die Ordnung garantieren und Gemeinschaft konstituieren. Das Bedürfnis nach Halt und Orientierung lässt sich auch in der gestiegenen Bedeutung der Religion in der Gesellschaft nachvollziehen. Zu beobachten ist eine größere Sicht- und Sagbarkeit der religiösen Sittenwächter, seien es die Islamisten, die Evangelikaner in den USA oder die orthodoxen Juden in Israel. Hinzu kommt eine konservative Wende, die sich am Beispiel von Papst Benedikt XIV personifizieren lässt. Dieser stößt u.a. längst überwunden geglaubte Diskussionen über die angemessene Verwendung religiöser Symbole durch Künstler und Musiker an. Künstler überschreiten demnach gesellschaftliche Grenzen, wenn sie

67 Siep: Ethische Grenzen, S. 121.

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Tabus brechen und Moral- und Schamgrenzen verletzen.68 Sie machen dabei moralische, ethische und religiöse Konventionen und Regeln sichtbar und verhandelbar. Häufig werden provokante Themen wie Tod, Religion und Sexualität aufgegriffen. Besonders die Verwendung religiöser Symbole sowie pornographischer und obszöner Motive ruft regelmäßig Kontroversen hervor. Meist entsteht aufgrund der künstlerischen Grenzüberschreitung eine intensive öffentliche Debatte, die einhergeht mit einer Neubestimmung der Grenzen. Die Übertretung gesellschaftlicher Grenzen steht dabei dem Beharren auf der Freiheit der Kunst gegenüber. Ein prominentes Beispiel für eine von Künstlern ausgelöste internationale politische Kontroverse ist der sogenannte Karikaturenstreit, der durch Mohammed-Karikaturen 2006 in Dänemark ausgelöst wurde und weltweite Proteste hervorrief, aber auch die Frage nach der Freiheit der Kunst zum öffentlichen Thema machte. Die Künstler setzen ihre Kunst hier als Mittel ein, um gesellschaftliche Diskussionen anzustoßen und ‚in Wunden zu bohren‘. Es entsteht das Bild des Künstlers als Grenzgänger, der sich gesellschaftlichen Konventionen und Regeln widersetzt, in dem er bewusst gesellschaftliche Tabus bricht und provoziert. Am Beispiel der Arbeiten von drei Künstlern werden nun Überschreitungen gesellschaftliche Grenzen geschildert, die besonders kontrovers diskutiert wurden. Der spanische Künstler Santiago Sierra engagiert für seine Installationen Personen, die entweder körperliche Arbeit verrichten oder direkt zum Objekt der künstlerischen Aktion werden. In der Aktion Person bezahlt, um 30 cm lange Linie auf sie zu tätowieren deutet schon der Titel an, worum es geht: Ein Mann wird dafür bezahlt, dass er sich eine Linie tätowieren lässt. „Für diese Arbeit suchte ich eine Person, die nicht tätowiert war und auch nicht vorhatte, sich tätowieren zu lassen, die jedoch, da sie Geld brauchte, einwilligte, zeit Lebens ein Zeichen zu tragen. Der Mann erhielt 50 Dollar.“69 Der Künstler lässt sozial Schwache gegen geringste Bezahlung für das System Kunst arbeiten – und verlagert so das Ausbeutungssystem der weltweiten Ökonomie in den Kunstkontext. Die gleichzeitige Nutzung und Entlarvung des Systems provoziert – und grenzt an Respektlosigkeit. Heftige Reaktionen rief auch seine Aktion 245 Kubikmeter hervor, für die er 2006 eine Synagoge in Pulheim-Strommeln bei Köln zu einer betretbaren Gaskammer umfunktionierte. Hierfür leitete er das giftige Kohlenmonoxid vor der Synagoge parkender Autos in die Synagoge um, die dar-

68 Zu Skandalen und Tabubrüchen siehe auch Kapitel 1.2.2.8. 69 Sierra zit.n. Felix/Hentschel/Luckow: Art & Economy, S. 185.

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aufhin nur mit Atemmaske betreten werden konnte, von vielen aber aufgrund der Drastik der gewählten Mittel boykottiert wurde. Öffentlich umstritten sind auch die Arbeiten von Gregor Schneider. War es zunächst sein Haus u r, das vor allem räumliche Beklemmungen auslöste, berührte ein von ihm entworfener schwarzer Kubus religiöse Grenzen, denn es handelte sich um einen Nachbau der Kabaa in der muslimischen Pilgerstätte Mekka. Wurde diese Installation in Venedig, wo sie 2005 errichtet werden sollte, abgelehnt – weil sein religiöser und kultureller Gehalt als zu provokant erschien –, sorgte die Installation vor der Hamburger Kunsthalle zwar für Gesprächsstoff aber nicht für Provokationen. (Ein Beispiel für die nationalen Unterschiede im Verlauf von kulturellen und gesellschaftlichen Grenzen.) Umso mehr Aufsehen erregten seine Pläne, menschliche Leichen für seine Rauminstallationen zu verwenden, um die Schönheit des Todes zu zeigen. Ähnlich wie der Leichenpräparator Gunther von Hagens wollte er Freiwillige suchen, die bereit wären, sich als Leiche ausstellen zu lassen. Nach massiven Protesten kam die geplante Ausstellung im Haus Lange in Krefeld jedoch nicht zustande. Für viele wären damit die Grenzen eines respektvollen Umgangs mit Toten und des ethisch Angemessenen überschritten worden. Ebenso provozierend wie verstörend sind die Videoarbeiten von Artur Zmijewski. In ihnen dokumentiert er Situationen, Begegnungen und Gespräche, die auf unterschiedliche Weise gesellschaftliche Tabuthemen aufgreifen und zur Disposition stellen. Er schafft wiederholt Konstellationen, in denen Menschen an ihre Grenzen und an die Grenzen des Ertragbaren gehen. So zeigt er nackte, Fangen spielende Menschen im Konzentrationslager, interviewt ein todkrankes Mädchen oder erneuert einem ehemaligen KZ-Häftling dessen tätowierte KZNummer in dem Film 80064. Obwohl diese Erneuerung vorher scheinbar abgesprochen war, merkt man dem Mann das Unbehagen an, die Nummer tatsächlich zu erneuern. Doch lässt er sich vom Künstler umstimmen. Die Verwunderung über diesen Schritt steigert sich mit dem Unbehagen ob des direkten Eingriffs auf den Körper durch die Tätowiernadel. Die Versuchsanordnungen, die Zmijewski in seinen Filmen festhält, sind dabei durch eine Spannung zwischen der Vorgabe der Handlung und des Settings durch den Künstler und der Offenheit des Ablaufs geprägt. Der Künstler gibt Handlungsanweisungen und lässt den Protagonisten gleichzeitig so viel Freiheit, dass deutlich wird, dass diese aus eigenem Antrieb handeln. Damit verraten die Arbeiten viel über gesellschaftliche Strukturen und Mechanismen. Beim Film 80064 drängen sich z.B. Parallelen zwischen dem passiven Verhalten des Mannes im damaligen Konzentrationslager und dem seltsam anmutenden Geschehen-lassen bei der Frage nach der Erneue-

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rung der KZ-Nummer auf. Jan Verwoert bringt die Ambivalenz dieser Arbeiten auf den Punkt: „The strength of Zmijewskis approach lies in his readiness to incorporate conflict into his work and to expose the premises of social antagonism by stirring up controversy. Moreover, his analysis of the subcutaneous violence inflicted on bare life as a means by which power structures are constituted seems highly accurate.”70

Für Verwoert überschreitet Zmijewski jedoch die Grenzen zum Nihilistischen, ebenso wie Sierra und Schneider mit einigen ihrer Arbeiten die Grenzen des Respekts und der Geschmacklosigkeit überschritten haben. Deutlich wird hier, wie schwer es ist gesellschaftliche Grenzen zu bestimmen, da diese oftmals nicht klar definiert sind und sich stetig verschieben. Deutlich wird aber auch, wie schmal der Grat zwischen der Anregung einer kritischen Auseinandersetzung und der Offenlegung gesellschaftlicher Mechanismen durch künstlerische Arbeiten auf der einen Seite und dem Unbehagen gegenüber Aufmerksamkeitshascherei und gezielter Provokation durch den Künstler andererseits ist. 1.1.3 Grenzen des Kunstfeldes Neben territorialen und gesellschaftlichen Grenzen sollen nun die Grenzen des Kunstfeldes bestimmt werden. Dabei werden weniger die Abgrenzungen dieses spezifischen Feldes zu anderen Feldern untersucht, als die feldinternen Ein- und Ausgrenzungen thematisiert, die sich in diesem ästhetischen Regime (Rancière) herausgebildet haben. Es handelt sich um ein spezifisches Feld, das durch vielseitige eher subtil als real manifeste Grenzziehungen charakterisiert wird, die den Zugang zum Feld ebenso bestimmen, wie die Sicht- und Sagbarkeit der Kunst und Künstler. Ebenso wie für die territorialen und gesellschaftlichen Grenzen gilt auch hier, dass sich die Grenzen verschieben können. So gab es einen dominanten (traditionellen oder bürgerlichen) Kunstbegriff, der seit den ersten Angriffen der historischen Avantgarden einem stetigen Wandel unterliegt.71 Diese Angriffe auf den Kunstbegriff werden im ersten Moment jedoch als Grenzüberschreitungen wahrgenommen. Ihre Bewegungsrichtungen sind vielseitig: Es handelt sich um Überschreitungen der Grenzen von Kunst und anderen Kunst70 Verwoert: Game Theory, S. 167. 71 So entstand der Impressionismus in Frankreich explizit durch die Abgrenzung vom offiziellen Akademiestil, der als traditionell und konservativ empfunden wurde.

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gattungen und Disziplinen, von Kunst und Leben, Kunst und NichtKunst. So findet beim Surrealismus, Primitivismus und Art Brut eine Hinwendung zu spontanen, unreflektierten und aus dem Unbewussten stammenden künstlerischen Ausdrucksformen statt, die vom naturalistischen, rationalen Malstil abweichen und neue Themen erschließen. Zusehends werden nicht-künstlerische Materialien verwendet sowie Alltagsgegenstände in das Bild integriert, was in der Verwendung von Ready-Mades gipfelt. In den 60er Jahren löst die Überschreitung der Grenze von Hoch- zu Massenkultur durch die Pop-Art Kontroversen aus. Gleichzeitig sorgt der verstärkte Einbezug von Medien wie Fotografie und Video für eine Erweiterung der Materialien und Wahrnehmungsweisen von Kunst. In den 70er Jahren werden die Grenzen des Kunstwerks noch weiter aufgelöst, indem das Kunstwerk zur Idee wird und sich auf die Kommunikation, die Aktion oder Performance verlagert. Verstärkt geht es darum, heterogene Öffentlichkeiten anzusprechen und zu involvieren. Durch Kunstformen wie Land Art und Public Art wird der Kunstraum zudem um den Landschafts- bzw. den öffentlichen Raum erweitert. Letztlich kann von materiellen, räumlichen, zeitlichen und personalen Entgrenzungen der Kunst gesprochen werden. Die Vielzahl der als Grenzüberschreitung wahrgenommenen künstlerischen Strategien zeigt, dass der Kunstbegriff variabel ist und je nach Definition des Kunstbegriffes auch das Verständnis von Grenzüberschreitungen variiert. Dabei wird die Frage evident, wer die Definitionsmacht über den Begriff der Kunst hat, also darüber bestimmt, was z.B. als Kunst und was als Kitsch gilt. Wie lassen sich die Mechanismen des Kunstfeldes erklären, das Guattari auch als ‚kollektiven Wirkungszusammenhang‘ bezeichnet?72 Wer bestimmt darüber, wo die Grenzen des Kunstfeldes verlaufen und wie Kunst definiert wird? Zur Beantwortung lassen sich verschiedene Ansätze hinzuziehen. Zunächst sei auf Bourdieus soziologische Untersuchungen des Kunstfeldes verwiesen. Ihm zufolge setzt sich die Definitionsmacht des Feldes aus der Gesamtheit der Beziehungen zusammen, die Künstler mit anderen Künstlern verbindet oder die Künstler zu Kunsthändlern und zu Kritikern unterhalten.73 Bourdieu arbeitet diese Gesamtheit der Bezie-

72 Vgl. Über Maschinen und Menschen, Interview mit Guattari, S. 91. Dort heißt es: „Es gibt keinen Tätigen und keinen Gegenstand der Operation, sondern einen kollektiven Wirkungszusammenhang, der individuell den Künstler, sein Publikum und alle Institutionen um ihn herum, Kritiken, Galerien, Museen etc. mit sich zieht.“ (Ebd.) 73 Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 273.

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hungen und die damit einhergehenden kunstfeldinternen Grenzziehungen in seinem Buch Die Regeln der Kunst (1992) heraus. Er zeigt auf, wie das Feld der Kunst von internen Kämpfen um die Definitionsmacht von Kunst geprägt ist und spricht dabei vom „Kampf um die Grenzen der Gruppen und die Zugehörigkeitsvoraussetzungen“74 zum Feld. Weniger der Künstler, dessen Autonomie radikal in Frage gestellt wird, als das direkte ‚Um-Feld‘, das Gefolge von Kommentaren und der Komplex von Institutionen, ist laut Bourdieu für die Entwicklungen der Kunst verantwortlich.75 Das bedeutet: „Was innerhalb des Feldes geschieht, ist folglich immer stärker an die spezifische Geschichte des Feldes gebunden, also immer weniger aus dem Zustand der gesellschaftlichen Welt zu einem gegebenen Zeitpunkt einfach abzuleiten.“76 Mit Bourdieu wird in diesem Zusammenhang auch die Bewegung der Überschreitung, die er als eigentliches Charakteristikum der Avantgarde darstellt, zum Ergebnis einer ganzen Geschichte vorangegangener Überschreitungen. Er versteht damit unter Überschreitung weniger die Bewegung über die Grenzen des Kunstfeldes hinaus, als die internen Überschreitungen dessen, was gerade angesagt ist oder was als neu gilt. Rancière dagegen spricht von einem Regime zur Beschreibung der internen Mechanismen des Kunstfeldes. Er unterscheidet zwischen ethischem, repräsentativem und ästhetischem Regime der Künste, die sich historisch grob einteilen, aber nicht gänzlich voneinander trennen lassen.77 Diese Regime definieren das Verständnis von Kunst sowie das Verhältnis von Kunst und Politik. Sie bestimmen über die Aufteilungen des Sinnlichen, machen sie sichtbar und sagbar. Sie werden deshalb auch als Identifikations- und Bedeutungsregime beschrieben, die mit der Etablierung eines Systems von Normen oder Gewohnheiten einhergehen, welches die Weise der Teilhabe am Gemeinsamen, als auch das Sprechen über Kunst vorbestimmt. In seinem Buch Das Unbehagen der Ästhetik (2007) führt er diesen Gedanken aus: „Das Gebäude der Kunst gründen bedeutet, ein bestimmtes Identifizierungsregime von Kunst zu definieren, das heißt ein spezifisches Verhältnis zwischen Praktiken, Formen der Sichtbarkeit und Weisen der Ver-

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Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 355. Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 275. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 385. Eine grobe Einführung in den Begriff des Regimes von Rancière findet sich in: Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 35-49.

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ständlichkeit, die ihre Erzeugnisse als zur Kunst oder zu einer Kunst gehörig zu identifizieren erlauben.“78 Etwas konkreter benennt Draxler vier Säulen des Kunstfeldes, die über das Schicksal der Kunst entscheiden und die er als Quadriga der Kunstschicksale bezeichnet.79 Dies sind neben den Institutionen und der Kunstgeschichte auch die Kunstkritik und der Kunstmarkt. Er versteht darunter die Selektion der Kunst durch die Kritik, die Legitimation durch die Geschichte, die Nobilitierung durch die Ästhetik und die Bildungs- und Ewigkeitsweihe durch das Museum.80 Diese Quadriga vermag nicht nur den Diskurs über Kunst zu bestimmen, sondern auch zu steuern, was als sichtbar und sagbar, als ausstellbar und kaufbar gilt. Sie bestimmt in Form von Ankäufen, Ausstellungen und Rezensionen erstens über die Sichtbarkeit künstlerischer Arbeiten, zweitens über den Diskurs (das Sagbare) und die Kriterien zur Beurteilung von Kunst. Dabei kommt es zu Ein- und Ausgrenzungen, zur Ausrufung von Wellen, turns oder Paradigmenwechsel. Deutlich wird, dass sich diese Definitionen jederzeit wieder verschieben und verändern können. Begriffskonnotationen und Grenzsetzungen sind somit Ausdruck ihrer Zeit und der jeweiligen Ideologie. Sie sind gekoppelt an Regime der Sichtbarkeit und Machtverhältnisse, die den symbolischen und institutionellen Rahmen bilden, mit dem Unterscheidungen und Grenzen gesetzt werden können.81 Eine der dominantesten Säulen des Kunstfeldes ist der Kunstmarkt. Dieser fördert durch seine Ausrichtung auf Kriterien wie Verkäuflichkeit und Anschaulichkeit einen bestimmten Kunstbegriff, während kritische und performative Arbeiten kaum Sichtbarkeit erlangen. Für Sichtbarkeit sorgen zwar auch Kunstinstitutionen, doch hat sich der wirtschaftliche Druck auf Kunstinstitutionen zunehmend erhöht und dazu geführt, dass die Institutionen auf besucherorientierte Blockbuster-Ausstellungen oder Sammlerbestände angewiesen sind. Die Kuratorin Melitta Kliege fragt nicht umsonst nach den Grenzen des Machbaren: „Ich wollte sehen, was die Grenzen des Ortes waren, wo die Ausstellungen beginnen können, wozu die Verantwortlichen ja sa-

78 Rancière: Das Unbehagen in der Ästhetik, S. 39. 79 Die Quadriga der Kunstschicksale ist ein Aufsatz Draxlers von 1987, der den Ausgangspunkt für sein Buch Gefährliche Substanzen von 2007 darstellt, indem er sich dem Verhältnis von Kunst und Kritik zuwendet. Er ist als Anhang dem Buch beigefügt. 80 Vgl. Draxler: Quadriga der Kunstschicksale, S. 202. 81 Vgl. Diederichsen: Die Politik der Aufmerksamkeit, S. 70.

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gen, wozu nein.“82 Aus einer anderen Perspektive nimmt der Künstler Robert Smithson die Grenzen im Kunstfeld wahr. Für ihn setzt der ‚Wärter-Kurator‘ der freien Entfaltung der Künstler Grenzen. Smithsons harsche Kritik an den Kuratoren bezieht sich auf deren Tendenz, durch die Vorgabe von Themen und Kategorien für Ausstellungen die Freiheit der Künstler einzuschränken. „Die Wärter-Kuratoren sind immer noch auf die Trümmer metaphysischer Prinzipien und Strukturen angewiesen, weil sie es nicht besser wissen.“83 Er spricht in diesem Zusammenhang von ‚Kulturbeschränkung‘. Diese „findet statt, wenn ein Kurator eine Kunstausstellung thematisch eingrenzt, statt die Künstler zu bitten, ihre eigenen Grenzen zu setzen.“84 Smithson kritisiert aber nicht nur den Kurator, ‚der es nicht besser weiß‘, sondern auch die Kunstkritiker, die ebenfalls zu oft dem Wunsch nach Kategorisierung und starker Determinierung nachgeben und das Grenzenlose nicht denken können. Die Künstlerin Andrea Fraser bringt das Paradox von Freiheit und Beschränkung durch die verschiedenen Institutionen des Kunstfeldes auf den Punkt: „Ein durchgängiges Thema ist stets der Widerspruch zwischen Freiheiten, die wir als Künstler haben, Kritik zu üben und Grenzen zu überschreiten, und den Bedingungen, die durch die Institutionen und die Geschichte der Kunst, aber auch durch die Festlegung dieser Freiheiten selbst vorgegeben werden.“85 Damit weist Fraser noch einmal auf die kunstfeldimmanenten Mechanismen hin, die auf unterschiedliche Weisen das künstlerische Schaffen beeinflussen und begrenzen. Neben der Frage, wer die Sichtbarkeit und Sagbarkeit im Kunstfeld bestimmt, wird mit Bourdieu die Frage nach den soziokulturellen Grenzen des Zugangs zum Kunstfeld gestellt. Wer geht ins Museum? Wer kauft Kunst? Wer nutzt Kunst als Distinktionsobjekt? Diese Fragen untersucht Bourdieu in seiner Studie Die feinen Unterschiede (1979). Er arbeitet heraus, dass sich Gesellschaft und Milieus vornehmlich über Unterschiede konstituieren und weist darauf hin, dass sich die eindeutigen Klassenunterschiede (zwischen Unter- und Überbau, zwischen Proletariat und Bourgeoisie) heute in eine Vielzahl ‚feinerer Unterschiede‘ aufgelöst und um Kategorien wie kulturelles Kapital und Lebensstil erweitert haben. Kulturelles (und ökonomisches) Kapital ist ihm zufolge eine der Voraussetzungen für die Beschäftigung mit Kunst. Daraus lässt sich schließen, dass der Zugang zur

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Kliege: Engagierte Kunstformen, S. 21. Smithson: Kulturbeschränkung, S. 1168. Smithson: Kulturbeschränkung, S. 1167. Samba und Sex mit dem Sammler, Interview mit Fraser, o.S.

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Kunst nur denjenigen vorbehalten ist, die dieses Kapital besitzen – was traditionell ein bürgerliches Publikum ist, das auch heute noch die größte Publikumsgruppe in Museen darstellt. Trotz der vielzähligen (avantgardistischen) Versuche, Kunst auch anderen Schichten zugänglich zu machen und das Publikum zu erweitern, muss eingestanden werden, dass der Zugang zum Feld weiterhin begrenzt ist, was nicht nur für das Publikum, sondern genauso für die Kunstschaffenden selber gilt. So weist Eva Sturm in ihrem Buch Im Engpass der Worte (1996) im Rückgriff auf Bourdieu darauf hin, dass das Museum als soziale Scheide fungiere, das soziale Ab-, Aus- und Eingrenzungen vornimmt.86 Sturm untersucht das Museum als einen sprachlich distinguierten sozialen Raum, in dem über Sprache Ein- und Ausschlüsse vorgenommen und soziale Hierarchien reproduziert werden. So gibt es im Museum unbefugte und befugte Sprecher. Da sich die Besucher von Kunstmuseen zum größten Teil aus Akademikern zusammensetzt, könnte man diese auch als Sprach-Be-Herrscher bezeichnen, die hier den Diskurs über Kunst bestimmen, genauso wie die Museen als reales und architektonisches Zeichenarrangement und als Text definieren, was Kunst ist.87 Bourdieu nennt diese offizielle Sprache die Sprache der symbolischen Herrschaft. Sie ist in ihrem Entstehen untrennbar verquickt mit dem Bürgertum und der offiziellen Sprache des Staates, realisiert durch dessen Institutionen und autorisierte Diskursproduzenten. Damit wird sie zu einer Sprache der Herrschenden, die diese auch kontrollieren. Museumsbesucher, die diese Sprache nicht beherrschen und keinen Zugang zu dem Wissen haben, das den Zugang zur Kunst ermöglicht und bereichernd macht, werden abgeschreckt und ausgegrenzt. Diese manifestieren sich räumlich (durch die Präsentation von Kunst in den als White Cube gekennzeichneten Ausstellungshäusern, Museen und Galerien) oder in Form von soziokulturellen Beschränkungen des Zugangs zur Kunst, der zumeist einer bestimmten (bürgerlichen) Schicht vorenthalten bleibt. Der herausgearbeiteten Begrenzung des Zugangs zu Kunst – ihren soziokulturellen Grenzen – entsprechen sozialräumliche Grenzen. Auch hier gelten Zugangsbeschränkungen und werden Ein- und Ausschlüsse vorgenommen, sei es über Eintrittsgelder oder Szenecodes.

86 Vgl. Sturm: Engpass der Worte, S. 26. 87 Vgl. Sturm: Engpass der Worte, S. 60. Sturm zitiert an anderer Stelle Behnke und Wuggenig, die festgestellt haben, dass die Beschäftigung mit Kunst nach wie vor eine Domäne von Klassenfraktionen mit höherem Bildungsniveau in gehobenen beruflichen Positionen ist. Die genannten Eliten sind damit vor allem Bildungseliten (vgl. S. 36).

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Dass dabei soziale Ordnungen reproduziert werden, zeigt sich im Begriffspaar Zentrum/Peripherie. Während sich im Zentrum gesellschaftliche Macht ballt, örtlich sichtbar gemacht durch die Ansiedelung von Museen im Zentrum, gruppieren sich subkulturelle Gruppen in der Peripherie.88 Während sich das Zentrum nach Holger Kube Ventura durch seine Konzentration auf Hochkultur und die Ausklammerung massenkultureller und populärer Entwicklungen auszeichnet,89 sind die Versuche der 90er Jahre in die Peripherie zu intervenieren, eine Aktualisierung des Wunsches nach gesellschaftlicher Relevanz und einer konkreten lokalen Anbindung der künstlerischen Arbeiten. Auf internationaler Ebene setzen sich diese Grenzziehungen fort: Im Zentrum der Macht und den Institutionen befinden sich westliche, weiße, männliche Künstler, während Frauen und nicht-westliche Künstler weiterhin unterrepräsentiert sind.90 Trotz des gewachsenen Interesses an Subkulturen und einer Öffnung des Kunstmarkts auf nicht-westliche Künstler, kann festgehalten werden, dass sich diese Grenzen zwischen Zentrum und Peripherie weiterhin nur langsam aufbrechen lassen.

88 Vgl. Babias: Im Zentrum der Peripherie, S. 17. Babias beobachtet jedoch eine Verschiebung der Einteilung in Zentrum und Peripherie. Er spricht davon, dass die Peripherie das Zentrum aushöhlt und zum Ort ‚zentraler Kulturarbeit‘ wird. Auch Graw möchte die Dichotomie von Zentrum/ Peripherie aufbrechen, in dem sie behauptet, Kunstzentren können durchaus periphere Zonen in ihrem Inneren herausbilden. „Kunstzentren wären somit als Grenzorte anzusehen, in denen Zentrales und Peripheres eng beieinander liegen.“ (Graw: Die bessere Hälfte, S. 108.) Gleichwohl ist diese Umwertung nur von kurzer Dauer, da sowohl die Off-Spaces der Peripherie schnell in die Nähe der Institutionen geraten, die sie kritisieren wollen, als auch die klassischen Institutionen (im Zuge der Gentrification) ihre Standorte in urbane Gegenden verlagern, „die gerade ob ihrer problematischen ökonomischen und sozialen Konfiguration für eine ästhetische Referenzfläche und Legitimität ihrer künstlerischen Agenden bürgten.“ (Büro für kognitiven Urbanismus: Last Minute, S. 53.) 89 Vgl. Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 81f. Für ihn besteht das Zentrum aus arrivierten Intellektuellen, die die Grenzziehungen zum Laien pflegen. 90 Warnke plädiert aus diesem Grund für eine Ausweitung des Gegenstandsbereiches über die Grenzen des westeuropäischen Raumes hinweg. Er kritisiert, dass die räumlichen Grenzen des kunstgeschichtlichen Gegenstandsfeldes in den letzten Jahren kaum erweitert worden, während die sachlichen und zeitlichen Grenzen in Bewegung gekommen sind (vgl. Warnke: Gegenstandsbereiche der Kunstgeschichte, S. 25f).

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1.2 Grenzüberschreitungen im Kunstfeld In diesem Kapitel wird der Schwerpunkt auf künstlerische Grenzüberschreitungen gelegt. Bevor Kategorien entwickelt werden, um die zentralen Bewegungsrichtungen von Grenzüberschreitungen zu benennen und einzuordnen, werden zunächst Textbeispiele untersucht und auf den vielfältigen Gebrauch und die verschiedenen Synonyme für Grenzüberschreitungen hingewiesen. 1.2.1 Beispiele für die Verwendung des Begriffs im diskursiven Kontext Die Auseinandersetzung mit dem Begriff Grenzüberschreitung basiert auf der Beobachtung, dass in vielen Beschreibungen von Kunst, seien es Zeitungs- oder Zeitschriftenartikel, Aufsätze oder Museumstexte, Ausstellungen oder Symposien, von Grenzüberschreitungen gesprochen wird. Oftmals dient der Begriff dazu, auf Verbindungen von Kunst mit anderen Disziplinen, Gattungen und Feldern zu verweisen. Dies drückt sich u.a. in der beliebten Formel ‚Kunst und…‘, die laut Draxler ein wichtiges rhetorisches Element des Kunstbegriffs darstellt.91 Im Folgenden werden einige Beispiele für den Gebrauch des Begriffs in unterschiedlichen Kontexten gegeben, bevor im nächsten Kapitel versucht wird, diese zu kategorisieren. Sichtbar wird dabei die Vielfalt an Synonymen und Metaphern für den Begriff der Grenzüberschreitung, die oftmals an ein (post-)strukturalistisches Vokabularium angelehnt sind. In der Kunstzeitung widmete sich bspw. die Serie Zum Stand der Dinge Korrespondenzen zwischen Kunst und Literatur, Film, Mode, Design oder Wissenschaft und begründet dies mit folgender Einleitung: „Den Elfenbeinturm hat die Kunst längst verlassen. Einmischung in den Alltag, Engagement für soziale Brennpunkte, Interventionen im öffentlichen Raum, nicht zuletzt der Blick über den eigenen Tellerrand, auf die Nachbarsdisziplinen – all das zeichnet die Gegenwartskunst aus, die kaum etwas so sehr zu fürchten scheint wie die Abkapselung im angestammten Terrain. Nahe liegend deshalb, die Allianzen mit anderen Kunst- und Kulturformen aufzuspüren und deren Intensität zu bewerten.“92 91 Vgl. das Kapitel Kunst und…., in: Draxler: Gefährliche Substanzen, S. 5965. 92 Groos: Kunst und Musik, o.S. Weitere Beispiele für die Formel Kunst und… sind die Ausstellungen zum Thema Kunst und Mode, die in mehre-

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Konzentriert sich die Kunstzeitung auf Allianzen mit anderen Kunstund Kulturformen untersucht Marie-Louise Lange „Oszillierungsprozesse […] zwischen Ästhetik, Kunst, Wissenschaft, Philosophie, Ökonomie, Pädagogik, Jugendkulturen und dem Alltag“.93 Die Ausstellung Windstöße im Kunsthaus Dresden (2004) wiederum zeigt eine „künstlerische Praxis der Gegenwart, die zu den Lebensumständen unseres Alltags Verbindungen herstellt: Politik, Natur, Freundschaft und Liebe sowie die Unterhaltungsindustrie, das Fernsehen.“94 Spezieller wird es bei folgenden Ausstellungen: Backjumps im Künstlerhaus Bethanien in Berlin (2005) befasst sich mit den interdisziplinären Schnittstellen von Street art, Aerosol Kultur und Hip Hop. Die Ausstellung on difference #2: Grenzwertig im Württembergischen Kunstverein (2006) wiederum widmet sich der Differenz und verschiedenen Formen ihrer Übersetzung, die in Form von Grenzüberschreitungen vonstattengehen. So wird zwischen Kunst, Aktivismus und Institutionen, aber auch zwischen lokalen Bezugsfeldern und Realitäten vermittelt. Auch die berlin biennalen von 1998 und 2004 verfolgen einen interdisziplinären Ansatz und zielen auf die Verknüpfung verschiedener Institutionen sowie die lokale Anbindung der Ausstellung an die Stadt Berlin. „Angelehnt an die komplexe zeitgenössische Kultur, die sie zu repräsentieren versucht, folgt diese Ausstellung einem interdisziplinären Ansatz, der Künstler, Kunstkollektive, Architektur, Mode, Design, Musik, Literatur, Performance und Film zu einem vielschichtigen Mikrokosmos dieser Stadt verweben will. [...] Wenn die Kunst in dieser Ausstellung ihre Grenzen überschreitet (und sie wird es, vergegenwärtigt man sich die Arbeiten der 90er Jahre) geschieht dies durch eine absichtliche Hybris, eine Zusammenführung der Disziplinen, die den Austausch zwischen Künstlern, Musikern, Choreographen, Filmemachern, Architekten, Clubbesitzern, Modedesigner und ähnlichen anregt. Berlin/Berlin

ren Institutionen in Hannover (2008) stattfand; die Untersuchung der Verbindungen von Kunst und Wissenschaft in einer Ausstellung im Bremer Neuen Museum Weserburg und die Vortragsreihe querdurch. Kunst und Wissenschaft an der HfbK Hamburg. Den Grenzüberschreitungen zwischen Kunst und Medien widmet sich die regelmäßig stattfindende Werkleitz Biennale. In den Hamburger Deichtorhallen untersuchte eine Ausstellung außerdem die Wechselbeziehungen von Art & Economy (2002). Häufiger Gegenstand von Ausstellungen und Symposien ist zudem das Verhältnis von Kunst und Politik bzw. Ästhetik und Politik (Symposium an der HfbK, 2007). 93 Lange: Grenzüberschreitungen, S. 15. 94 Mennicke: Windstösse, S. 3.

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reflektiert die Promiskuität dieser aktuellen Zusammenarbeit, den polymorphen künstlerischen Austausch in dieser heutigen Stadt.“95

Im Katalog zur berlin biennale 2004 wird dieser Text zitiert und ebenfalls die Interdisziplinarität der Ausstellung betont. Dies wird durch die Aufteilung in thematische Angelpunkte, den sogenannten Hubs, unterstrichen, die sich verschiedenen Gattungen widmen als auch gesellschafts-politische Themen behandeln (Urbane Konditionen, Sonische Landschaften, Migration, Moden und Szenen, Anderes Kino). Der Kuratorin Ute Meta Bauer geht es um das Herstellen von Querbezügen und inhaltlichen Verknüpfungen zwischen diesen hubs sowie um Berührungspunkte der Ausstellung mit Berliner Institutionen. Das Ziel ist eine Vermischung von politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und persönlichen Dimensionen. Die berlin biennale soll auf diese Weise zu einem transitorischen Raum sich verschränkender Kommunikationsprozesse werden.96 Auf weitere Grenzüberschreitungen verweist Carsten Höller, wenn er über die feldübergreifende Praxis der Kunstzeitschrift Springerin schreibt: „Entscheidend dabei ist, keine von vornherein festgelegten Disziplingrenzen oder Kanonisierungen gelten zu lassen. So wird feldübergreifend vom Kunstbereich in Theoriestuben und Diskurswerkstätten, in Popakademien und Medienlabors hineingearbeitet. Zwar hat sich dies manchmal als gewagte Überdehnung herkömmlicher Fachkompetenzen erwiesen, stets aber entsprach dies einer – mittlerweile notwendigen – Einsicht: dass den vertrackten Kontextüberlagerungen und verschrobenen Gleichzeitigkeiten der Gegenwart nur noch mit ähnlich verfassten Instrumentarien begegnet werden kann.“97

Ein anschauliches Beispiel für die vielfältigen Synonyme für Grenzüberschreitungen und ihre Funktionen bietet folgende Darstellung der Internetplatform eipcp durch Raunig. Diesem ist, wie Höller, insbesondere an der Verbindung von Kunst und Theorie gelegen. Vorgestellt wird hier bereits das Konzept eines Grenzraumes: „Gegen derartig starre, verzweckende und hierarchisierende Vorstellungen ist das Konzept des eipcp eines der Aussetzung von schroffen Feld-Abgrenzungen, des Umgehens von Modellen des Nacheinander, der temporären Öffnung von Grenzräumen, in denen auch die differenten Positionen von künstlerischen

95 Wiesel: Berlin/Berlin, S. V. 96 Vgl. Bauer: komplex berlin, S. 52. 97 Höller: Vorwort, in: Springerin: Widerstände, S. 11.

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Praxen, politischem Aktivismus und Theorieproduktion zum Oszillieren gebracht werden. Hier lässt sich feststellen, dass auch die Theorie eine Praxis ist, sich also mehrere Praxen oder Felder gegenüberstehen, mit mehr oder weniger durchlässigen Grenzen, ständigen Grenzverschiebungen und temporären Überlappungen. Und genau diese Überlappungen, die auch die Konzepte des Vorher und Nachher auszusetzen in der Lage sind, scheinen uns am relevantesten für eine produktive Weiterentwicklung des Verhältnisses der Praxen von Kunstund Theorieproduktion.“98

Wird in den genannten Beispielen vor allem von Grenzüberschreitungen im Sinne einer Erweiterung der Mittel, Orte oder Methoden von Kunst gesprochen, gibt es auch Beispiele für Ausstellungen, in denen territoriale Grenzüberschreitungen thematisiert werden – weil das Thema Migration verhandelt wird oder tatsächlich eine länderübergreifende Ausstellungskooperation stattfindet. So wirbt Luxemburg, die Kulturhauptstadt Europas 2007, damit, die erste Hauptstadt zu sein, die 100% grenzüberschreitend und 100% überraschend ist, weil es sich um eine Zusammenarbeit zwischen dem Großherzogtum Luxemburg, der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, Lothringen in Frankreich, Rheinland Pfalz und Saarland in Deutschland handelt: „Das Programm von Luxemburg und Großregion dreht sich um die Themenfelder der Migration, des Überschreitens von Grenzen und der kulturellen Zusammenarbeit.“99 1.2.2 Acht Bewegungen von Grenzüberschreitungen Anknüpfend an die zuvor eröffnete Bandbreite von Grenzüberschreitungen wird eine grobe Kategorisierung in acht Bewegungen von Grenzüberschreitungen vorgenommen. Diese sind nicht unabhängig voneinander zu denken, sondern überlappen und bedingen sich gegenseitig.100 Gemeinsam ist diesen Bewegungen, dass sie die zentralen Kategorien des Kunstbegriffs hinterfragen und so zu seinem permanenten Wandel beitragen. Mit Hilfe der Grenzüberschreitungen wird

98 Raunig: Temporäre Überlappungen, o.S. 99 Sonderveröffentlichung in der Kunstzeitung, Nr. 123, November 2006. 100 Dabei dienen die von Raunig in seiner Ästhetik der Grenzüberschreitung erarbeiteten sieben Bewegungen, die zu einer kontinuierlichen Veränderung des Kunstbegriffs im 20. Jahrhunderts führten, als Anknüpfungspunkt (vgl. S. 153-157). Während sich Raunig jedoch auf Grenzüberschreitungen und Entwicklungen der 90er Jahre stützt, greifen die hier vorgestellten Grenzüberschreitungen historisch weiter zurück und sind breiter angelegt.

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der traditionelle Werkbegriff ebenso aufgebrochen wie der autonome Status des Kunstwerks und des Kunstfeldes, die individuelle Produktion und das Bild des Genie-Künstlers kritisiert werden. Die Bildsprache wird durch das Aufbrechen des Tafelbildes in den (dreidimensionalen) Raum erweitert. Angestrebt werden Überschneidungen mit dem Leben, dem Alltag und der Wirklichkeit. Durch den Austausch mit anderen Kunstgattungen, Disziplinen und Medien findet eine Erweiterung der verwendeten Formen und Materialien statt. Der künstlerische Handlungsort wird in den öffentlichen, sozialen und politischen Raum verlagert, parallel dazu öffnet sich das Kunstfeld für gesellschaftliche Diskurse. Das Interesse für die das Kunstwerk umgebenden Kontexte – seien sie institutionell, ökonomisch, kulturell oder sozial – wächst. Held/Schneider sprechen von einer Öffnung der Künste zu den trivial-, massen- und alltagsästhetischen Bereichen sowie zu den Institutionen bzw. Repräsentationssystemen der Kultur, Ideologie und Politik.101 Charakteristisch ist auch ihre Entgrenzung zur Nicht-Kunst oder AntiKunst. Durch diese Überschreitungen der Grenzen des Kunstfeldes und des Kunstbegriffs verändern sich sowohl das Bild des Kunstwerks, des Künstlers als auch des Betrachters. Das Kunstwerk wird zunehmend dematerialisiert, wird zum Konzept, zur performativen Geste, zur Aktion und zum Prozess. Verstärkt wird der Betrachter in den künstlerischen Prozess einbezogen. In Form kommunikativer und partizipativer Ansätze wird er zum aktiv Beteiligten. Parallel wird der Künstler zum Ideengeber und Organisator, der verstärkt auf Methoden und Strategien anderer Disziplinen zurückgreift. 1.2.2.1 Überschreitungen von Gattungsund Disziplingrenzen Wird in jüngerer Zeit von Disziplinen gesprochen, verwendete Adorno noch den Begriff der Gattung, um zwischen den unterschiedlichen Künsten zu differenzieren. In seinem Aufsatz Die Kunst und die Künste (1966) spricht er davon, wie sich die Demarkationslinien zwischen den Gattungen Musik, Kunst, Plastik und Architektur verfransen, womit er ein Ähnlichwerden der Gattungen in Folge von Gattungsüberschreitungen meint.102 Als Antriebskraft für diese Verfransung nennt er die ‚ideologische Befangenheit‘ die mit der Einteilung in Gattungen und der Abhängigkeit von Materialien und Klassifikationen einher-

101 Vgl. Held/Schneider: Kunstwissenschaft, S. 58. 102 Adorno: Die Kunst und die Künste, S. 432.

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geht.103 Laut Christine Eichel handelt es sich bei den von Adorno thematisierten Grenzüberschreitungen „hauptsächlich um Grenzüberschreitungen zwischen den traditionell getrennten Kunstgattungen, um Auflösungserscheinungen und Anverwandlungen, die nicht nur die Ränder der Gattungen überschreiten, sondern auch die Kunstwerke selber zu verwirrenden Vexierspielen werden lassen.“104 Es geht Adorno nicht um eine ‚Anbiederung‘ der Gattungen untereinander, die für ihn zu einer ‚verdächtigen Synthese‘ führen würde, wie er sie im Gesamtkunstwerk umgesetzt sieht.105 Eine solche Synthese stellt für Adorno die negative Folge einer Verfransung dar, da es die Gattungsund Materialspezifika komplett negiert. Für ihn ist die Auseinandersetzung mit der je spezifischen Materialität der Gattungen elementar. Sie ist für ihn ein Grund die Differenzen zwischen den Gattungen zu betonen: „Differenzen wie diese [zwischen der Dichtung und den nichtbegrifflichen Kunstarten, Anm. ALW] bezeugen jedenfalls, dass die sogenannten Künste nicht untereinander ein Kontinuum bilden, das gestattete, das Ganze mit einem ungebrochen einheitlichen Begriff zu bedenken.“106 Adorno verweist darauf, dass die Bewegung zur Einheit einzig über die Vielheit geht und warnt damit vor einer unkritischen Grenzenlosigkeit.107 Im Angesicht der Übermacht der ökonomischen und politischen Realität verstärkt sich seine kritische Haltung noch. Er behauptet, die Verfransung der Künste sei ein falscher Untergang der Kunst.108 Es gelte die Kunst vor einer rationalen Verfügung über ihre

103 Vgl. Adorno: Die Kunst und die Künste, S. 450. 104 Eichel: Vom Ermatten der Avantgarde, S. 20. Eichel nimmt die von Adorno konsternierten Gattungsüberschreitungen als Anlass, um das Phänomen der Grenzüberschreitung zu einem Schlüsselerlebnis bei der Neuorientierung seiner Ästhetik zu erklären, die sich zusehends interdisziplinär ausrichtet. „Die Auflösung der traditionellen Grenzen von Kunstgattungen, die er auch in anderen Bereichen beobachtete, wird für ihn zur richtungweisenden Grenzsituation.“ (S. 12) 105 Vgl. Adorno: Die Kunst und die Künste, S. 434. Die Idee des Gesamtkunstwerks, wie sie u.a. Richard Wagner vertrat, bestand nicht nur aus der Zusammenführung unterschiedlicher künstlerischer Gattungen, sondern auch aus dem Anspruch, mit den Mitteln der Kunst eine Umgestaltung der Gesellschaft zu bewirken. Zur gefährlichen Nähe der Idee des Gesamtkunstwerks zu Totalkunst und Totalitarismus (vgl. Brock: Der Hang zum Gesamtkunstwerk). 106 Adorno: Die Kunst und die Künste, S. 447. 107 Vgl. Adorno: Die Kunst und die Künste, S. 448. 108 Vgl. Adorno: Die Kunst und die Künste, S. 452.

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Verfahrensweisen zu schützen, die insbesondere durch die Überschreitung der Grenzen zur Kulturindustrie drohe. Als Gattungsüberschreitungen lassen sich z.B. die engen Wechselbeziehungen zwischen Literatur, Film, Mode, Musik, Architektur und Theater in den Avantgardebewegungen der 20er Jahre bezeichnen. So wurden bei Dada-Veranstaltungen Gedichte zitiert, wurden Wörter und Texte in die Collagen einbezogen. In der Russischen Avantgarde gab es eine enge Zusammenarbeit von Kunst und Theater, was sich nicht zuletzt in den legendären Bühnenbildern Malewitschs für Majakowskis Stück Sieg über die Sonne zeigt. Zu einem intensiven Einbezug der neuen Medien Fotografie und Film kam es wiederum bei den Surrealisten. Diese Zusammenfügung unterschiedlicher Disziplinen schlägt sich in der interdisziplinären Ausrichtung der Kunsthochschulen der damaligen Zeit nieder, die nicht selten zu Kunstgewerbeschulen wurden. In den Wiener Werkstätten und dem Bauhaus wird Kunst als angewandte verstanden, die immer auch in Bezug zum Leben steht. Gattungsüberschreitungen waren nicht selten Ausdruck einer synästhetischen Verbindung verschiedener Sinnesleistungen. So entwickelte Wassily Kandinsky Farbsymphonien, in denen er Farbe und Klang miteinander verband. In der Folge wurde das Malerische mit Hilfe von Bewegung, Licht und Musik zu einem multimedialen Gesamtkunstwerk erweitert. Diese Erweiterung um akustische, theatrale und musikalische Elemente wird bei Fluxus, Happening und Performances fortgeführt. Zu Gattungsüberschreitungen trägt auch die Intermedialität der Künste bei, die seit den 60er Jahren beständig zunimmt und sich durch die Nutzung verschiedener elektronischer Medien auszeichnet. Dazu zählen Kunstformen wie Videokunst, Sound Art, Computer- und Netzkunst. Mit ihnen geht zumeist eine Veränderung der Wahrnehmungsdispositive und -gewohnheiten einher. Oftmals wird zur Beschreibung dieses Phänomens von einem Cross Over gesprochen. Das bedeutet im postmodernen Jargon Eva Karchers: „Jeder Bereich – Kunst, Mode, Musik, Literatur, Film, Theater, Architektur – begann, Methoden, Motive und Codes des jeweils anderen zu adaptieren, sie zu dekonstruieren, um sie neu zu kombinieren und zu montieren, remixen, cutten und digital zu liften. Das Ergebnis sind paradoxe und hybride Formen, sind Camouflagebilder aus surrealen und realistischen, abstrakten und naturalistischen, grotesken und cartoonesken Elementen, die polare Denkmuster des Entweder durch ambivalente des Sowohl-als-auch ersetzen.“109

109 Karcher: Der wahre Wert, o.S.

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Die intensive Übernahme und Aneignung artfremder Arbeitsweisen sowie die massiven Importe von Elementen und Methoden, die außerhalb des Kunstsystems angesiedelt sind, kann aber auch dazu führen, dass mit Pierangelo Maset gesprochen, Kunst zu einer Importstelle wird und sich zu sehr auf deren Methoden und innerdisziplinäre Mechanismen konzentriert.110 Neben den Grenzen zu anderen Künsten überschreitet die Kunst auch Grenzen zu anderen Disziplinen wie (Natur-)Wissenschaft, Semiotik, Soziologie oder Journalismus und eignet sich deren Arbeitsund Verfahrensweisen an. Es kommt zu einer Erweiterung der ästhetischen Praxis durch den Austausch künstlerischer Ansätze mit philosophischem und wissenschaftlichem Denken. Gesellschafts- und identitätspolitische, ökologische und feministische Fragestellungen finden Eingang ins Kunstfeld. Nach Stella Rollig befassten sich Künstler in den 90er Jahren in besonderem Maße „mit Soziologie, Biologie und Ökologie, Philosophie und Cultural Studies, Geschichtsforschung, Biotechnologie oder Urbanistik.“111 Ursula Biemann spricht von einer diskursiven Expansion: „Art became a medium through which to get to know the world – not in the sense of discovering the unknown but rather with a view to organizing a wealth of existing knowledge into a complex aesthetic product from which new meaning could emerge.“112 Vor allem in den 90er Jahren wird auf recherchebasierte Methoden zurückgegriffen, um Sachverhalte aufzudecken und Informationen bereitzustellen. Die Folge ist laut Sabeth Buchman eine enthierarchisierende Kompetenzerweiterung und eine Dekonstruktion der Autorität des Expertenwissens.113 Diese Tendenz ist in den letzten Jahren unter dem Begriff des Artistic Research, der künstlerischen Forschung, verstärkt diskutiert worden.114 Die Gattungsüberschreitungen gelten aber nicht nur für künstlerische Praxen, sondern auch für die Kunstwissenschaft. So haben Bildund Medienwissenschaften, aber auch sozialwissenschaftliche und philosophische Ansätze, die performative Wende oder der linguistic turn das Verständnis der Kunstwissenschaft beständig erweitert.115 Auch in

110 111 112 113 114

Vgl. Maset: Bewegungsabläufe nervöser Kunstbegriffe, S. 88. Rollig: Das wahre Leben, S. 24. Biemann: Going to the Border, o.S. Vgl. Buchman: Art & Language, in: Butin: Begriffslexikon, S. 29. Zur Problematik vgl. den einführenden Text Artistic Research von Dirck Möllmann. 115 Vgl. die kontinuierlichen Neuauflagen des Sammelbandes Kunstgeschichte. Eine Einführung, in dem Warnke festhält, dass „die kunstge-

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Bezug auf die Kunstgeschichte kann mit Jutta Held und Norbert Schneider von einer Neuorientierung des Faches Kunstgeschichte in den 60er Jahren gesprochen werden. Sie verwenden dafür den Begriff New Art History, in dessen Zusammenhang sich ein neuer Bestand an Fragestellungen, Begrifflichkeiten und Sachkomplexen herauskristallisiert hat.116 Daraus folgt: „Die traditionellen Künste sind heute nur dann angemessen bestimmbar, wenn sie im Ensemble sämtlicher ästhetischer, speziell visueller Medien und Praxen verortet werden.“117 1.2.2.2 Hinwendung zum Leben/zur Realität/zum Alltag „Die Wechselwirkungen zwischen Leben und Kunst, das heißt zwischen der gesellschaftlichen Praxis und ihrer ästhetischen Repräsentation, sind seit Beginn der Moderne um 1800 virulent und bilden als Problemfeld den Kern der kulturellen Moderne und des avantgardistischen Selbstverständnis.“ 118 KAI-UWE HEMKEN

In diesem Zitat von Kai-Uwe Hemken wird die zentrale Bedeutung der Versuche, Kunst und Leben aufeinander zu beziehen, unterstrichen. Die Bezüge aufs Leben sind jedoch vielfältig. Sie werden zum einen umgesetzt durch einen inhaltlichen Wirklichkeitsbezug der Kunst, d.h. die Beschäftigung mit alltagsrelevanten Themen und den konkreten gesellschaftlichen und politischen Zuständen. Diese Versuche gehen soweit, direkt in die Lebenspraxis zu intervenieren und auf der Ebene des alltäglichen Lebens eine revolutionäre Praxis zu initiieren, wie es von der russischen Avantgarde ebenso forciert wurde wie von den Situationisten in den 60er Jahren. Wie umfassend diese Ansätze waren, lässt sich an Beuys Anspruch ablesen, einen sozialen Organismus zu begründen, der alle Lebensbereiche umfassen sollte – inklusive das Leben von Beuys selbst. Beuys ist ein gutes Beispiel für Künstler, deschichtlichen Gegenstandsbereiche sich immer neu konstituieren, immer neuen Wertungen und Abwertungen, Einschränkungen und Weiterungen unterworfen sind.“ (Warnke: Gegenstandsbereiche, S. 24.) 116 Vgl. Held/Schneider: Kunstwissenschaft, S. 14. 117 Held/Schneider: Kunstwissenschaft, S. 52. 118 Hemken: Die kategorische Interaktion, S. 56.

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ren Leben unauflösbar mit ihrer künstlerischen Praxis verschmolzen ist und die nicht selten ihren Körper zum Bestandteil oder Gegenstand ihrer künstlerischen Praxis machen.119 Hier wird der strikte Gegensatz von Kunstschaffen und Lebenswirklichkeit zunehmend aufgelöst, was zur Folge hat, das laut Bianchi die „Grenzen zwischen Menschen, Grenzen zwischen Lebenswelten, Grenzen im Bewusstsein, Wahrnehmung und Ausdruckskraft [gesprengt werden].“120 Die Verbindung von Kunst und Leben manifestiert sich aber auch in der Verwendung von Alltagsobjekten in der Kunst, wie zuerst bei den Dadaisten und später bei den Nouveau Realisten und der Pop Art zu beobachten war. Als drittes fällt darunter das Praktischwerden der Kunst, das heißt ihre Öffnung für angewandte Kunstformen wie Architektur, Design und Mode. Neben der Überwindung der Grenzen von Hoch- und Massenkunst ist mit der Hinwendung zum Leben auch die Öffnung der Kunst für ein möglichst großes (nicht Kunst-spezifisches) Publikum verbunden. Eine Hinwendung zu Alltagspraktiken lässt sich auch auf theoretischer Ebene nachvollziehen, die in den 60er Jahren durch Roland Barthes Mythen des Alltags (1957) und Henri Lefebvres Kritik des Alltagslebens (1961) vorweggenommen wurde. Auch Michel de Certeau legt mit seinem Buch Die Kunst des Handelns (1980) eine Theorie des Alltagslebens und des Verbraucherverhaltens vor. Ansätze aus Literaturwissenschaft, Philosophie und Raumtheorie aufgreifend, legt er den Fokus auf alltägliche Handlungen und arbeitet deren subversives Potential heraus. So schreibt er dem täglichen Gehen das Potential zu, räumliche Ordnungen und Grenzziehungen zu verschieben. Dabei arbeitet er Parallelen zwischen den Bewegungen des Einschreibens in die Stadt und in narrative Strukturen heraus. Beide enthalten Möglichkeiten des Umschreibens und der Veränderbarkeit dieser Strukturen. Die wissenschaftliche Hinwendung zur Alltags- und Massenkultur führt zu einer Aufwertung der lange Zeit als Massenkultur abgetanen Phänomene und ebnet die Unterschiede zwischen Hoch- und Populärkultur. Die Aufwertung der Alltagspraktiken gegenüber der Hochkultur wurde insbesondere von den Cultural Studies forciert. Ihr Ausgangspunkt sind soziale Alltagspraktiken, die Kulturen schaffen und soziale Wirklichkeit hervorbringen. Aufgegriffen werden Fragen nach Alltagspraktiken, -ethiken und -ästhetiken, nach Gebrauchs- und An-

119 Weitere prominente Beispiel für eine konsequente Inszenierung der eigenen Person in der Öffentlichkeit wären Andy Warhol, Eva und Adele oder Gilbert und George. 120 Kunstforum International: Lebenskunstwerke, S. 146.

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eignungsweisen sowie nach dem Verhältnis von Kultur, sozialer Praxis und Macht.121 Die Cultural Studies sind geprägt vom „Verlangen nach dem ‚richtigen‘ Leben, nach Vermischung mit Populärkultur, nach Durchblick, Mitsprache, Handeln und Verändern“.122

Auseinandersetzung mit der Realität Eine Auseinandersetzung mit dem realen Leben kann auf mehreren Ebenen stattfinden: auf inhaltlicher Ebene durch eine unverblümte, realistische Darstellung123, aber auch auf formaler Ebene durch den Bezug zum und das Agieren im realen Leben.124 Der Realismusbegriff erschöpft sich demnach nicht in einer realistischen Darstellungsweise, sondern meint auch den direkten Eingriff des Künstlers ins Leben. In den Worten Brechts: „Kein Realist begnügt sich damit, immerfort zu wiederholen, was man schon weiß: das zeigt keine lebendige Beziehung zur Wirklichkeit.“125 Eine lebendige Beziehung zur Wirklichkeit entsteht dagegen durch das Entwerfen eines Bildes der Gesellschaft, das nicht nur ihre Gegenwart charakterisiert, sondern auch deren konkrete Veränderlichkeit in den Vordergrund rückt und auf diese Weise dem marxistischen Ziel einer Veränderung der Produktionsbedingungen entspricht. In dieser Tradition stand auch der Sozialistische Realismus, der aber aufgrund seiner politischen Implikationen und seines

121 Vgl. Hörning/Winter: Widerspenstige Kulturen, S. 10. 122 Rollig: Das wahre Leben, S. 16. 123 Vgl. die Vielzahl, der als realistisch bezeichneten Ansätze, wie die Neue Sachlichkeit in Deutschland in den 20er Jahren, den kritisch-politischen Realismus in Lateinamerika, den Nouveau Réalisme in Frankreich, den Neo- oder Fotorealismus, mit dem Arbeiten von Künstlern wie Edward Hopper, Chuck Close, Lucien Freud, Gerhard Richter oder Franz Gertsch bezeichnet werden. 124 Vorsicht ist allerdings geboten, wenn der Realitätsbezug mit einer erhöhten Authentizität gleichgesetzt wird. Zwar erzeugen sowohl das ‚So-istes-gewesen‘ der Fotografie, die ‚authentische‘ Stimme im Radio, die Übertragung der ‚Jetzt-Zeit‘ in Film, Fernsehen und Internet, das Gefühl eines unmittelbaren Bezugs zur Realität, doch arbeiten Medien seit ihrer Entstehung mit Manipulationen und greifen auf Montage, Retusche und Bildbearbeitungsprogramme zurück, um die von ihnen hervorgebrachten Bilder zu verändern. Dabei werden die Grenzen zwischen Realität und Illusion mit jeder technischen Innovation neu verhandelt. 125 Brecht zit.n. Stakemeier: Das Nachspiel, S. 12.

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Wunsches nach einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft zutiefst umstritten war.126 Die von Brecht geforderte ‚direkte‘ Auseinandersetzung mit der Realität und Ermutigung zu konkreten Handlungen wird in den 90er Jahren durch Interventionen ins Politische und Soziale erneut forciert. Mary Jane Jacob bemerkt: „For those artists with a more pronounced social and political agenda, the role of art as a forum for dialogue or social activism gained in power and effectivness by being situated in the real world.”127 Für Isabelle Graw heißt das, „dass Kunst nicht an ihren Grenzen endet, sondern eine Aktivität ist, die auf das Leben einwirkt, dass sie einer Operation ähnelt“.128 Sie ist eng gekoppelt an die Eroberung neuer Räume und an die Einbeziehung und Partizipation der Betrachter und deren ‚realen‘ Lebensumstände. Verwendung von Alltagsgegenständen und Massenmedien Die Verwendung von Alltagsgegenständen wurde von vielen Künstlern eingesetzt, um „Kunst durch Integration ‚nicht-künstlerischer‘ Realität in das Kunstwerk der ‚Wirklichkeit‘ näher zu bringen und damit das Kunstwerk aus der isolierten Sonderstellung [...] herauszulösen“129, wie Martin Damus bemerkt. Zu den verwendeten Alltagsgegenständen (vor allem der Dadaisten) gehörten Zeitungen, Fotos und Texte, die zu Collagen verarbeitet wurden. Zunehmend wurde auf dreidimensionale Gegenstände zurückgegriffen, die zu raumgreifenden Tableaus und Installationen zusammengesetzt wurden.130 Auch die Arte Povera zeichnete sich durch die Verwendung natürlicher oder bereits gebrauchter Materialien aus. Ihr ging es insbesondere um die „enthierarchisierende Erweiterung der verwendeten Materialien und Techniken“131 – ein Gedanke, der sich in veränderter Form im Gebrauch industriell hergestellter Materialien im Minimalismus wieder findet und durch die Ready-Mades von Marcel Duchamp vorweggenommen wurde. Bei Duchamps wurde die Praxis der Verwendung realer (also bereits fertiger) Gegenstände so weit radikalisiert, dass nur noch die Auswahl des Objekts durch den Künstler und dessen Positionierung im Kunstfeld den Unterschied zwischen Kunst und Nicht-

126 127 128 129 130

Vgl. Bürger: Theorie der Avantgarde, S. 120. Jacob: An unfashionable audience, S. 52f. Graw in: Kritische Foren, S. 158. Damus: Funktionen der Bildenden Kunst, S. 104f. Vgl. den Nouveaux Realisme in Frankreich Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre und die Combine Art eines Rauschenberg. 131 Hess: Arte Povera, in: Butin: Begriffslexikon, S. 33.

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Kunst markiert. Lange hält fest: „Mit der Erhebung von Alltagsgegenständen in den Status von Kunst hat Duchamp 1913 die Grenze zwischen Artifizialität von Kunst und der Alltagswirklichkeit überschritten.“132 Ebenso kontrovers wie die Ready-Mades Duchamps wurde die Pop-Art diskutiert, da sich diese Dinge, Motive und Verfahrensweisen des täglichen Lebens aneignete, die aus der Populärkultur, dem Reklame- und Kommerzbereich stammten. Besonders Warhol bediente sich der Bilder der Massenmedien und übernahm deren Reproduktionsstrategien für seine eigene künstlerische Praxis. Er ignorierte damit jegliche Gegensätze zwischen „Kunst und Kommerz, Tiefe und Oberfläche, Sinn und Unsinn“ 133 und wird damit zum Wegbereiter einer neuen Auffassung von Kunstvermarktung und der Vereinnahmung von Kunst für Vermarktungsstrategien. Fredric Jameson bemerkt über Warhol, seine Arbeiten würden sich im Wesentlichen um nichts anderes als die Warenwelt drehen.134 Die Ikone des Untergrunds war zugleich ein Vermarktungskünstler, der die Konsumstrategien der Wirtschaft durch Reproduktion von Äußerlichkeiten der Konsumwelt in die künstlerische Praxis übertrug und eine Verbindung von Kunst, Mode und Werbung anstrebte. Damit überschritt er klar die Grenzen von Kunst und Kommerz, Kunst und Kitsch. Eine kritischere Auseinandersetzung mit den Massenmedien als Warhol nehmen Künstler vor, die die Mechanismen der Massenmedien aufdecken und unterbrechen, indem sie diese in gebrochener Form zitieren und ihre Rezeptionswege für eigene Zwecke nutzen. Zu diesen Praktiken gehören neben der Collage und Montage auch das Détournement, die Praxis der Entwendung der Situationisten. Gegenstände werden aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen, isoliert und in einen neuen, ungewohnten Zusammenhang gestellt. Es kommt zu einer Entfremdung und Umdeutung – Verfahren, die heute unter dem Namen Sampling und Cultural Jamming fortgesetzt werden.135 Praktischwerden der Kunst In seinem Aufsatz Die Moderne - ein unvollendetes Projekt fordert Jürgen Habermas die „kognitiven Potentiale [...] aus ihren esoterischen Hochformen zu entbinden und für die Praxis, d.h. für eine vernünftige

132 133 134 135

Lange: Grenzüberschreitungen, S. 88. Vgl. Gardner: Art is making money, S. 66. Vgl. Jameson: Postmoderne, S. 54. Eine ausführliche Schilderung dieser Verfahren wird im Exkurs zur Kommunikationsguerilla vorgenommen.

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Gestaltung der Lebensverhältnisse zu nützen.“136 Diese Gestaltung lässt sich u.a. durch das Praktischwerden der Kunst umsetzen und wird vor allem durch die angewandten Künste praktiziert. Als solche werden Kunsthandwerk, Architektur, Mode oder Design bezeichnet – Gattungen, die einen praktischen Nutzen haben und das Leben durchdringen. Oftmals wurde an sie der Anspruch gestellt, für alle zugänglich bzw. erschwinglich zu sein und verändernd in die Gesellschaft einzuwirken. Dieses Anliegen wurde nicht nur von Kunstrichtungen wie der Arts and Crafts Bewegung, dem Jugendstil und De Stijl vorgetragen, sondern manifestierte sich auch in der Gründung von Künstlervereinigungen und Ausbildungsstätten wie dem Deutschen Werkbund, den Wiener Werkstätten oder dem Bauhaus. Für das 1919 in Weimar gegründete Bauhaus war der Anspruch einer Zusammenführung der zersplitterten Kunstgattungen ebenso zentral wie der Wunsch, Kunst und Leben zu integrieren und gestaltend in die Gesellschaft hinein zu wirken. Das Ziel war die Lösung angewandter Gestaltungsaufgaben im Dienste der Gesellschaft, wie Hannes Meyer, der Nachfolger von Walter Gropius, festhält: „Als Gestalter ist unsere Tätigkeit gesellschaftsbedingt, und den Kreis unserer Aufgaben schlägt die Gesellschaft. [...] Als Gestalter sind wir Diener dieser Volksgemeinschaft. Unser Tun ist Dienst am Volke. [...] So ist das Endziel aller Bauhausarbeit die Zusammenfassung aller lebensbildenden Kräfte zur harmonischen Ausgestaltung unserer Gesellschaft.“137

Kunst wurde als Instrument einer kulturellen und sozialen Regeneration verstanden.138 Konkret wurde dieser Anspruch durch die Verbindung von Kunst und Technik und die Industrialisierung der Kunst umgesetzt. Das Bauhaus entwickelte sich zunehmend zu einer Lehr- und Produktionsanstalt für den Entwurf und die Herstellung von Prototypen für die Industrie. Dies zeigt sich u.a. in der Konzentration auf die praktisch ausgerichteten Werkstätten und einen strengen, nüchternen Funktionalismus. Stand beim Bauhaus die Anwendbarkeit und Funktionalität der künstlerischen Ansätze und Ideen im Vordergrund, war das Ziel des Russischen Konstruktivismus stärker politisch ausgerichtet. Hier ging es verstärkt darum möglichst viele Menschen zu erreichen, zu mobilisieren und dadurch am Aufbau des neuen Staates mitzuwirken. Die Künstler entwarfen Möbel, Kleidung, Keramik, Plakate

136 Habermas: Die Moderne, S. 184. 137 Meyer zit.n. Wick: Bauhaus, S. 47. 138 Vgl. Wick: Bauhaus, S. 15.

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und Architekturobjekte wie bspw. Zeitungskioske, die sowohl praktischen Nutzen hatten als auch zu Propagandazwecken genutzt wurden.139 In den 90er Jahren hat der Anspruch einer praktischen Anwendbarkeit der Kunst in Form der Dienstleistungskunst ein Revival erfahren. Nicht um das individuelle künstlerische Produkt geht es dabei, sondern um den Dienst am Besucher oder Teilnehmer. Künstler betätigten sich u.a. als Sozialarbeiter, Köche, Möbeldesigner, Gärtner und Barbetreiber und versuchten so, sei es temporär oder langfristig, die Befindlichkeit oder Situation der Beteiligten zu verbessern. 1.2.2.3 Auflösung des Kunstwerks Die Auflösung des Kunstwerks, seine Prozessualisierung und Dematerialisierung, wird vor allem durch solche Kunstpraxen vorangetrieben, die die künstlerische Arbeit auf die Idee, das Konzept, den Prozess und das Ereignis verlagern.140 Diese Abwendung von der materiellen Verfügbarkeit der Kunstwerke wurde in den 60er und 70er Jahren durch die Konzeptkunst aber auch durch performative Ansätze wie Happening, Fluxus und Aktionskunst forciert. Konzeptuelle Ansätze zeichnen sich durch die ausdrückliche Betonung der gedanklichen Komponente der Kunst und ihrer Wahrnehmung aus. Das Konzept eines Kunstwerks tritt in den Vordergrund und löst die materielle Verfügbarkeit ab. Dies zeigt sich in der Verwendung von Sprache und in seriellen Konzepten. Zudem gibt es einen starken Theoriebezug, der von Wittgensteins Sprachphilosophie über die Semiotik bis zum Strukturalismus reicht. Neben der theoretischen Hinterfragung des Kunstbegriffs wird zudem das Kunstsystem mit seinen Institutionen, seinen Präsentations-, Distributions- und Vermittlungswegen kritisiert. Oftmals greifen die Arbeiten gesellschaftspolitische Fragestellungen auf und agieren in und mit sozio-politischen Kontexten. Angesichts der Konzentration auf das Ereignis und den Aufführungscharakter der Arbeiten spricht Fischer-Lichte von einer performativen Wende in den 60er Jahren, die sich insbesondere bei Happe-

139 Siehe die ausführliche Beschreibung der Russischen Avantgarde unter 3.2.1. 140 Der Begriff der Dematerialisierung wurde durch die Kritikerin Lucy Lippard geprägt, den sie in ihrer Publikation Six Years. The Dematerialisation of the art object (1973) einführte.

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ning, Fluxus, Aktionskunst und Performance beobachten lässt.141 „Ihr Medium ist nicht länger der Rahmen, der feste Ort, die Dauer oder die anhaltende Präsentation, sondern die Zeitlichkeit des Vollzugs selber, dessen temporale Beschränkung, seine Nichtwiederholbarkeit.“142 Neben der zeitlichen und räumlichen Ausdehnung wird der Betrachter verstärkt in den künstlerischen Prozess einbezogen. Das Kunstwerk verlagert sich auf die Rezeption durch den Betrachter. Es kommt zu einer Verschiebung des Verhältnisses von Künstler und Kunstwerk, Subjekt und Objekt, von Kunstwerk und Zuschauer. Indem der Abstand zwischen Künstler, Betrachter und Kunstobjekt verflüssigt wird, rütteln „diese temporären Aktionen […] an den traditionellen Grenzen, die Kunst und Leben, öffentlichen und privaten Raum voneinander trennten.“143 Charakteristisch für konzeptuelle und performative Ansätze sind demnach mehrere Grenzüberschreitungen: die zeitliche Ausdehnung als Folge der Dematerialisierung des Werks hin zum Prozesshaften, die räumliche Ausdehnung der Arbeit in den (öffentlichen) Raum und die Hinwendung und Einbeziehung des Publikums – zwei Aspekte, die im Folgenden ausgeführt werden. 1.2.2.4 Eröffnung neuer Räume Nach Adorno hängt jede Erfahrung eines Kunstwerks „zusammen mit dessen Ambiente, seinem Stellenwert, seinem Ort im wörtlichen und übertragenen Sinne.“144 Der Ort des Kunstwerks ist dabei zumeist die Kunstinstitution. Neben der kritischen Auseinandersetzung mit diesem Ausstellungsraum durch institutionskritische Praxen, denen es um die Sichtbarmachung der Ein- und Ausgrenzungen und der internen (Macht-)Mechanismen im Kunstfeld geht, haben viele Kunstpraxen versucht, den Raum der Kunstinstitution zu verlassen und ihre Praxis in den (öffentlichen) Stadt- oder Landschaftsraum zu verlagern. So

141 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 29. In ähnlichem Maße sprechen Küpper und Menke in ihrem Buch Dimensionen der ästhetischen Erfahrung (2003) von einem ‚nachwirkenden Neueinsatz‘ des Begriffes der ästhetischen Erfahrung in den späten 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts und meinen damit die Verschiebung von Kunstwerktheorien zu Erfahrungstheorien. Ästhetische Erfahrung erscheint zunehmend als eine Weise, sich in der Welt zu orientieren und wird in ihrem Verhältnis zu Ethik und Politik diskutiert. 142 Mersch: Life-Acts, S. 46. 143 Malone: Von der Arbeit zum Werk, S. 88. 144 Adorno zit. n. Rebentisch: Ästhetik der Installation der Installation, S. 234.

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intervenierte die Land Art direkt in natürlichen oder industriell veränderten Landschaftsräumen und verstand sich nicht selten als Landschaftsgestaltung, bei der die Landschaft selbst zum künstlerischen Material wurde. Der Situationismus agierte dagegen in den Städten und griff durch Aktionen wie Psychogeographien und Zweckentfremdungen in das städtische Umfeld ein. Anspruch der Situationisten war dabei laut Raunig die „aktive Gestaltung der Umgebungen, als freies Spiel mit dem Stadtraum als Spielfeld“145. Heutzutage wird diese aktive und oftmals illegale Nutzung des Stadtraums vor allem durch Street Art fortgeführt. Der Terminus ‚Kunst im öffentlichen Raum‘ dagegen wurde lange auf das Aufstellen von Skulpturen im öffentlichen Raum der Innenstädte begrenzt. Erst mit der Zeit wurden der Bezug zum Aufstellungsort und die Ortsspezifität der Arbeiten wichtiger. So handelt es sich bei ortsspezifischen Arbeiten um „Kunst für einen bestimmten Ort, die mit diesem untrennbar verbunden ist und sich dabei nicht nur formal, sondern auch inhaltlich (historisch, soziologisch, politisch) mit diesem befasst […] Das Spektrum umfasst projekthafte und aktionistische Interventionen, die auf Ereignishaftigkeit angelegt sind sowie skulpturale und installative Arbeiten, die sich dauerhaft oder temporär mit einem Ort verbinden.“146

Um sich von einer rein dekorativen Funktion im öffentlichen Raum abzugrenzen, verstand sich Kunst als öffentlicher Raum und wurde dann zu Kunst im öffentlichen Interesse.147 In den Worten Suzanne Lacys wird Kunst von ‚public art’ („a term used for the twenty-five years to describe sculpture and installations sited in public places”) zu ‚New Genre Public Art‘ („visual art that uses both traditional and nontraditional media to communicate and interact with a broad and diversified audience about issues directly relevant to their lives [which] is based on engagement.”148) Mit Hilfe von interaktiven und partizipativen Ansätzen sollen die Grenzen der Teilhabe am öffentlichen Raum verschoben und sozial-räumliche Grenzen des Zugangs zu Kunst aufgebrochen werden. Neben der Verlagerung der Kunst in den Landschaftsraum in den 70er Jahren, in den öffentlichen Raum in den 80er Jahren und den Interventionen in den sozialen und politischen Raum in den 90er Jah-

145 146 147 148

Raunig: Kunst und Revolution, S. 157. Krystof: Ortsspezifität, in: Butin: Begriffslexikon, S. 231. Vgl. Lewitzky: Kunst für alle?, S. 77-88. Vgl. Lacy: Mapping the terrain, S. 19.

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ren wurde in den 2000er Jahren ein neuer Raum entdeckt und erobert: der virtuelle Raum. Hier, im Bereich der digitalen Welt, den sogenannten Cyberspaces, ergeben sich ebenfalls vielfältige Vernetzungs- und Umherschweifmöglichkeiten jenseits des Zentrums. 1.2.2.5 Einbezug des Betrachters Die Hinwendung zum Betrachter in Form einer ästhetischen Interaktion kann laut Hemken als ein prägendes Merkmal der Avantgarde im 20. Jahrhundert bezeichnet werden, die sich vornehmlich in partizipativen, kommunikativen, performativen und intermedialen Kunstformen manifestiert.149 Eine Beteiligung des Betrachters kann auf unterschiedlichen Wegen erfolgen: Durch den Einbezug in die Herstellung des Kunstwerkes in Form partizipatorischer Projekte oder durch dessen direkte Adressierung als Zuschauer und aktiv Handelnde. Eine Hinwendung zum Betrachter findet aber auch schon dort statt, wo durch die tendenzielle Offenheit des Kunstwerks die individuelle Bedeutungsgebung und Aneignung der Betrachter an Stellenwert gewinnt. Schon Kant entwickelt in seiner Kritik der Urteilskraft eine Rezeptionsästhetik, die sich durch die Hinwendung zum ästhetischen Urteil des Subjektes auszeichnet. Laut Raunig wird Kants Rezeptionsästhetik zu einem „Ausgangspunkt eines nicht elitär vorgestellten ästhetischen Diskurses“150. Dieser wird u.a. von Umberto Eco weitergeführt, der in seinem Buch Das offene Kunstwerk (1962) „eine neue Beziehung zwischen Künstler und Publikum, eine neue Mechanik der ästhetischen Perzeption, eine andersartige Stellung des Kunstprodukts in der Gesellschaft“ beschreibt.151 Suzanna Milevska spricht gar von einem Paradigmenwechsel vom Objekt zum Subjekt, bei dem die Ermöglichung der Teilnahme der Subjekte in den Vordergrund tritt und die Beschäftigung mit einem Objekt verdrängt.152 Es werden verschiedene subjektive Interpretationen und Annäherungen an die künstlerischen Arbeiten eröffnet. Eine solche Aufwertung der Position des Betrachters findet z.B. im Minimalismus und der Installationskunst statt, da es hier um das Zusammenspiel von Kunstwerk, Raum und Betrachter geht. Bei Performance und Happening steigert sich diese Teilnahme durch die direkte Adressierung der Betrachter sowie deren teilweise Aktivierung. Eine weitere Steigerung der Beteiligung erfolgt in den Interventionen und partizipatorischen Projekten der 90er Jahren, bei

149 150 151 152

Vgl. Hemken: Die kategorische Interaktion, S. 73. Raunig: Ästhetik der Grenzüberschreitung, S. 41. Vgl. Eco: Das offene Kunstwerk, S. 59. Vgl. Milevska: Partizipatorische Kunst, S. 19.

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denen das Publikum direkt in den künstlerischen Prozess miteinbezogen oder sogar Gegenstand künstlerischer Aktionen wird. Oftmals wird in diesen Projekten mit lokalen Teilöffentlichkeiten und Minderheiten zusammengearbeitet. Kunst wird dabei als soziales Medium in Vermittlungsfunktion zwischen gesellschaftlichen Randgruppen eingesetzt oder dient dazu, eine Gegenöffentlichkeit im politischen Sinne zu konstituieren.153 Auf diese Tendenz Bezug nehmend halten Walter Stach und Martin Sturm fest, dass künstlerisch-kulturelle Prozesse zunehmend auch in jenen sozial-kulturellen Sektoren eine wichtige Rolle spielen, die nicht a priori auf das Kunstfeld hin orientiert sind, zum Beispiel in therapeutischen Situationen oder in der außerschulischen Jugendarbeit.154 Auch wenn die von Stach/Sturm genannten Beispiele Extrempunkte darstellen, kann der Feststellung von Christian Kravagna zugestimmt werden: „Aus dem einen anonymen Kunstpublikum werden gewissermaßen spezifizierte Publika, die sich über den direkten Kontakt mit dem/der KünstlerIn als solche konstituieren.“155 Beispielhaft lässt sich dies an den interventionistischen Arbeiten von WochenKlausur aufzeigen, die Projekte u.a. mit Prostituierten, Drogenabhängigen und Obdachlosen durchgeführt haben. Eine Beteiligung der Betrachter wird zudem durch interaktive (Massen-)Medien ermöglicht, die eine reziproke Beziehung zwischen Objekt und Benutzer herstellen können, wie Zeitungen, Radio oder das Internet. Die verschiedenen Möglichkeiten einer taktischen Nutzung von Medien hat Hans Magnus Enzensberger in seinem Baukasten zu einer Theorie der Medien zusammengefasst. Im emanzipatorischen Sinn steht der Rückgriff auf Massenmedien für das „Ziel einer massenhaften Rezipierbarkeit der künstlerischen Aussagen und damit für die Hoffnung auf die Möglichkeit einer grundlegenden Veränderung des gesellschaftlichen Bewußtseins“156. Diese Hoffnung auf eine Politisierung/Demokratisierung der Kunst durch die Massenmedien geht auf die intensive Rezeption von Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk in seiner technischen Reproduzierbarkeit in den 70er Jahren zurück. Benjamin sprach in diesem Aufsatz, den er 1936 schrieb, den modernen Massenmedien aufgrund ihrer breiten Rezipierbarkeit eine politische und gesellschaftlich emanzipatorische Qualität zu.157 Dabei lösten die

153 154 155 156 157

Vgl. Babias: Im Zentrum der Peripherie, S. 23. Vgl. Stach/Sturm: Vorwort, in: Rollig/Sturm: Dürfen die das?, S. 7. Kravagna: Arbeit an der Gemeinschaft, S. 34. Butin: Kunst und Politik, in: Ders.: Begriffslexikon, S. 175. Für Benjamin ist die Zeitung ein solches Medium, dass Beteiligungs- und Artikulationsmöglichkeiten für das Proletariat eröffnet. Die Aufgabe des

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Medien die Hoffnungen zumeist nur unvollkommen ein, denn die partizipativen Momente ließen sich nur teilweise umsetzen. So ermöglicht das Internet zwar grenzüberschreitende Kommunikation, doch werden gesellschaftliche Unterschiede durch den begrenzten Zugang zum Internet zugleich zementiert. Schroer sieht die Entwicklung des Internets deswegen skeptisch: „Aus dem einst freibeuterischen Territorium, das mit Freiheits- und Bewegungsmetaphern belegt worden war, wird ein parzelliertes, aufgeteiltes, von Grenzen durchzogenes Territorium, das sich damit dem ‚natürlichen‘, dem geografischen Raum immer mehr anpasst.“158 Auch im virtuellen Raum ist demnach eine starke Segmentierung und Separierung in einzelne Szenen und Milieus zu beobachten. 1.2.2.6 Vom Künstler zum Cultural Worker „Grenzen wurden porös, die (scheinbar) klare Trennung zwischen ‚Theoretikern‘ und ‚Praktikern‘, zwischen ‚cultural workers‘, ‚autonomen‘ KünstlerInnen und KunstvermitterInnen wurde intentional durchbrochen.“ 159 WALTER STACH UND MARTIN STURM

Im Zitat von Stach/Sturm wird auf das Verwischen der Rollengrenzen im Kunstfeld verwiesen. Mit dem Wegfall der klassischen Aufgabenbereiche findet jedoch zugleich eine Öffnung für neue Bereiche sowie eine Neubestimmung der Rolle des Künstlers statt. Wurde das Bild des Künstlergenies, der ‚expressiv agierenden Künstlersubjektivität‘, durch künstlerische Ansätze wie Konzeptkunst und Appropriation Art, durch das Aufkommen von Künstlergruppen160 sowie durch theoretiIntellektuellen oder des Künstlers wird von ihm als anleitend und operierend beschrieben. Als Beispiel für ein solches Verständnis künstlerischer Tätigkeit nennt er den Schriftsteller Sergej Tretjakov, der das Medium der Zeitung nutzt, um die Partizipation und Emanzipation der Beteiligten zu fördern und eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen (vgl. Benjamin: Der Autor als Produzent, S. 686). 158 Schroer: Räume, S. 265. 159 Stach/Sturm: Vorwort, in: Rollig/Sturm: Dürfen die das?, S. 8. 160 Besonders viele Künstlergruppen formierten sich in den 80er Jahren in den USA, um sich gegen Rassismus und Sexismus zu positionieren, z.B. ACT UP, General Idea, Group Material, Guerilla Girls. Im deutschspra-

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sche Überlegungen zum ‚Tod des Autors‘ (Barthes) zusehends infrage gestellt, wurde es zugleich um neue Konzepte wie die des Cultural Workers erweitert. Die Grenzen zwischen Künstler, Kurator, Kritiker und Sammler werden fließender. Der Künstler kuratiert gleichzeitig Ausstellungen und schreibt Texte über seine Arbeiten, der Sammler wird zum Kurator, wenn er seine eigene Sammlung ausstellt und sich in diesem Sinne als Produzent versteht. Der Kurator ist zugleich Theoretiker, Finanzaquisator und Vermittler. Auch die Arbeitsweise des Künstlers erweitert sich: Der Künstler agiert gleichzeitig als (temporärer) Kurator, Kunstvermittler, Theoretiker, Kritiker oder Praktiker Lacy spricht vom „artist as experiencer, as reporter, as analyst and as activist”.161 Jacob verweist auf die erweiterten Kompetenzen des Künstlers: „Artists have become an adept at fund-raising, community organizing, managing extensive logistics, and a host of other skills.”162 Mit Holger Liebs wird der Künstler zu einem kulturellen Produzenten, der Kulturkritiker, Medienbeobachter und rasender Reporter ist, jemand der Interviews und Recherchen durchführt, der archiviert, sammelt und vermittelt.163 Verstärkt greifen Künstler auf nicht-künstlerische Methoden zurück und verknüpfen künstlerische Arbeit und politisches Anliegen. Die künstlerische Tätigkeit verlagert sich dabei ins Präproduktive, in die Anregung Anderer zum Handeln. Eine solche Neubestimmung des Künstlers als ‚Anreger‘ und Initiator hat Benjamin in seinem Text Der Autor als Produzent (1934) vorweggenommen, in dem er der Frage nach der politischen Wirkmächtigkeit des Schriftstellers nachgeht. Mit dem Schriftsteller Tretjakov schildert er einen ‚fortschrittlichen Schriftsteller‘, der seine Tätigkeit im Dienste des Klassenkampfes versieht und sich auf die Seite des Proletariats stellt, in dem er eine Verlagerung der Rollen beim Produktionsprozess initiiert.164 Tretjakov sieht

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chigen Raum lassen sich folgende Gruppen nennen: BüroBert, Park Fiction, WochenKlausur, minimal club. Lacy: Mapping the terrain, S. 173-177. Jacob: An unfashionable audience, S. 57. Vgl. Liebs: Wir sind die Beobachter, o.S. Vgl. Benjamin: Der Autor als Produzent, S. 693. Laut Benjamin bestand Tretjakovs Arbeit aus folgenden Tätigkeiten: „Einberufung von Massenmeetings; Sammlung von Geldern für die Anzahlung von Traktoren; Überredung von Einzelbauern zum Eintritt in die Kolchose; Inspektion von Lesesälen; Schaffung von Wandzeitungen und Leitung der KolchosZeitung; Berichterstattung an Moskauer Zeitungen; Einführung von Radio und Wanderkinos usw.“ (S. 686f.) Ähnlich beschreibt Jahrzehnte spä-

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seine Aufgabe darin, produktive Bedingungen für die (literarische) Produktion Anderer herzustellen. Diesen werden auf diese Weise Möglichkeiten gegeben, sich zu äußern und sich selbst zu organisieren. Der Proletarier wird zum Schreibenden, während der Schriftsteller zum Produzenten wird – und die Kompetenzschranken zwischen Intellektuellen und dem Proletariat (den beiden Produktivkräften) gebrochen.165 Raunig, der sich direkt auf Benjamin bezieht, hat für diese Rollenverschiebung und das erweiterte Aufgabenspektrum des Künstlers den Begriff des cultural worker geprägt.166 Dessen ‚Kompetenzkatalog‘ umfasst anstelle von Kreativität, Originalität und Genie, Fähigkeiten wie Organisationstalent, kontextorientiertes Handeln und systematisches Denken.167 Der cultural worker arbeitet interdisziplinär und nutzt die Kompetenzen verschiedener Felder aus. Raunig spricht deshalb auch von einem ‚polytechnischen Berufsbild‘ und einer ‚multimaterialen kombinatorischen Kompetenz‘, die sowohl politische wie ökonomische Felder und Kompetenzen beinhaltet. Die Aufgaben des cultural workers verschieben sich dabei aufs Organisierende und Präproduktive. Er soll produktive Ausgangsbedingungen herstellen, Anstöße geben, Strukturen hinterfragen und die Betrachter zu Selbsttätigkeit ermuntern.168 Ähnlich radikal ist der Entwurf des Künstlers als ‚Neuem Globalen Autor, Artist oder Aktivist‘ (NGA) durch Bianchi.169 Er beschreibt den Künstler als denjenigen, der die Veränderungen der Gesellschaft mitreflektiert und ihr einen Spiegel vorhält. Als Außenseiter macht er zugleich mit und gehört doch nicht dazu, was die Voraussetzungen für das Verrü-

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ter Foucault die Aufgabe des Intellektuellen und dessen Verhältnis zum Proletariat in seinen Aufsätzen Die politische Funktion des Intellektuellen sowie Die Intellektuellen und die Macht, einem Gespräch mit Deleuze. Foucault schildert am Beispiel der Gefängnisaufstände in Frankreich um 1971, die er mit der Gruppe für Gefängnisinformation unterstützte, dass es entscheidend ist, als Intellektueller nicht über die Gefängnisinsassen zu sprechen, sondern mit ihnen. Es geht nicht um eine Theorie über, sondern eine Theorie der Praxis (der Gefangenen) als eine Art GegenDiskurs zur herrschenden Macht. Vgl. Benjamin: Der Autor als Produzent, S. 688. Vgl. Raunig: Ästhetik der Grenzüberschreitung, S. 11f. Der Bezug auf Tretjakov wird noch einmal intensiviert in Kunst und Revolution, wo Raunig Tretjakovs Rolle und Tätigkeiten beschreibt (vgl. S. 134-153). Vgl. Raunig: Ästhetik der Grenzüberschreitung, S. 131. Vgl. Raunig: Ästhetik der Grenzüberschreitung, S. 12. Vgl. Bianchi: Neue globale Autoren, S. 4.

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cken von festgefahrenen Diskursen und Gewissheiten darstellt. Seine Tätigkeit wird mit Bianchi weniger als Produzieren, denn als mapping verstanden, als das (ironische) Überlagern und Deplatzieren von Vorhandenem. Besonders in den Konzepten des ‚fortschrittlichen Intellektuellen‘, des ‚cultural workers‘ und des ‚Neuen Globalen Autors‘ findet eine starke politische Ausrichtung der künstlerischen Tätigkeit statt. 1.2.2.7 Erweiterung der Wahrnehmung Viele Kunstpraxen bewegen sich an den Grenzen der Wahrnehmung, beschäftigen sich mit fiktiven, übersinnlichen oder unterbewussten Phänomenen oder widmen sich Obsessionen und rauschhaften Zuständen. Angestrebt wird dabei eine andere, bzw. intensivere Form der Rezeption, die ‚alle‘ Sinne mit einbezieht und körperlich erfahrbar wird. Neue Wahrnehmungsmöglichkeiten werden erprobt, um den Blick auf die (vertraute) Realität zu verschieben und ‚neue Wirklichkeiten‘ und andere Sichtweisen auf das Bekannte und Vertraute zu eröffnen. Dies unterstreicht Albrecht Wellmer, wenn er schreibt: „Kunstwerke können ohne bestimmte Antworten auf bestimmte Fragen zu geben, Erfahrungs-, Wahrheits- und Artikulationsräume aufstoßen, gefrorene Sichtweisen in Frage stellen, Verdrängtes und Subjektfremdes zutage fördern, durch ‚Umbelichtung‘ des Vertrauten oder Selbstverständlichen dessen Vertrautheit oder Selbstverständlichkeit erschüttern und dadurch auch außerästhetische Reflexionsprozesse anstoßen.“170

Indem mit Wahrnehmungsweisen experimentiert wird, die sich einer rationalen, funktionalistischen Denk- und Lebensweise entziehen, wird versucht, die Illusion einer von allen Menschen geteilten Realität aufzubrechen. Durch die Hinwendung zum Unbewussten lassen sich die Grenzen der Realität zum Irrationalen und Fiktiven ebenso überschreiten wie durch bewusstseinserweiternde Erfahrungen im Rausch und den Kontrollverlust durch ‚Sex, Drugs and Rock'n Roll‘. So beschäftigten sich die Surrealisten mit Phänomenen, die aus der alltäglichen Lebenswelt ausgeschlossen oder verdrängt wurden. Maßgeblich inspiriert durch die Entdeckungen der Psychoanalyse Freuds wandten sie sich dem Unbewussten zu, um das Unharmonische und Dissonante der menschlichen Existenz sichtbar zu machen. Durch die Hinwendung zu Phänomenen wie Okkultismus, Wahnsinn oder Magie versuchen Künstler die gesellschaftliche Normalität infrage zu stellen. Im ersten Surrealis170 Wellmer: Über Negativität und Autonomie der Kunst, S. 255f.

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tischen Manifest forderten sie zudem die Auflösung der Gegensätze von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität/Surrealität. Rauschmittel dienten schon in alten Kulturen dazu, Kontakt zu Göttern herzustellen. Im 20. Jahrhundert wurde der Konsum psychotroper Substanzen dann mit gesamtgesellschaftlichen Veränderungen zusammengedacht. „Jeder Einzelne sollte mit Drogen sein Bewußtsein erweitern, um in sich die Revolution zu beginnen, die das äußere Gesellschaftsgefüge verändern würde.“171 In der Ausstellung Hypermental. Wahnhafte Wirklichkeit (2000) wird dieses Spannungsfeld zwischen Kunst und Bewusstsein, Rationalem und Irrationalem, zwischen Mentalem und Über-Mentalem ebenso wie die Kraft des Imaginären thematisiert, um in die Tiefenschichten unseres Bewusstseins vorzudringen.172 Im Extremfall wird der Künstler zum Medium nach dem Motto: „Höhere Wesen diktieren ganze Texte, Stimmen aus dem Jenseits befehlen zu malen, Geister machen sich durch Klopfzeichen bemerkbar und lassen Medien in unbekannten Sprachen sprechen.“173 In dem der Arbeitsprozess dem Zufall oder der ‚écriture automatique‘ überlassen wird, wird die Rolle des Künstlers ebenso hinterfragt, wie die Grenze zwischen Fiktion und Realität, zwischen Vernunft und Unvernunft. Zu einer Erweiterung der Wahrnehmungsgewohnheiten kommt es zudem durch neue Medien, Informations- und Bildtechnologien. Am Beispiel von Film und Fotografie schildert Benjamin die mit diesen einhergehenden Veränderungen im Rezeptionsverhalten in seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und stellt fest: „Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung.“174 Technische Neuerungen lösen nicht selten Überforderungen aus, entsprechen aber zugleich dem Wunsch der Avantgarden „eine qualitativ andere Art der Kunstbetrachtung [zu eröffnen]“175. Diese bleibt nicht auf die bloße Kontemplation beschränkt, sondern beinhaltet eine räumlichkörperliche Erfahrung. Sie ist zudem mit neuen Interaktionsmöglichkeiten verbunden und vermag unterschiedliche Publikumsschichten anzusprechen. Nicht selten wurde der Infragestellung der gewohnten

171 www.kunsthausdresden.de, Stand: 15.08.2008. 172 Vgl. www.hypermental.org und www.hamburger-kunsthalle.de/archiv/ seiten/hyper.htm, Stand: 10.07.2005. 173 www.bochum.de/museum/frame02.htm, Stand: 15.08.2008. 174 Benjamin: Das Kunstwerk, S. 14. 175 Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 273.

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Wahrnehmungsweise deshalb politisches Potential zugesprochen. Laut Kliege könne durch Kunst, die durch „Bewusstseinsarbeit, die bei Einzelnen ansetzt, insgesamt ein Veränderungsprozess angestoßen werden“.176 1.2.2.8 Skandal, Tabubruch und Provokation Um öffentliche Aufmerksamkeit zu bekommen, aber auch um gesellschaftliche Zustände anzuklagen, brechen Künstler Tabus, verursachen Skandale und öffentliche Provokationen. Durch die Angriffe auf Moral-, Scham- und ethische Grenzen werden gesellschaftliche Grenzen, Normen und Tabus sichtbar und öffentlich verhandelbar. Verletzt werden gesellschaftliche Übereinstimmungen und Regeln ebenso wie die Grenzen der subjektiven Integrität. Die Künstler dringen dazu in jene Grenzbereiche vor, „wo Lust und Schrecken ihre maximale Amplitude versprechen, oder da[hin], wo die Sinne noch jung und unabgestumpft sind.“177 Nicht selten zielen sie auf Erfahrungen, die den Betrachtern direkt auf den Leib rücken und Gefühle wie Ekel, Scham oder auch Lust hervorrufen.178 Besonders provozieren Darstellungen des Hässlichen und Abseitigem ebenso wie Darstellungen von Nacktheit und Sexualität, die an die Grenzen zur Pornografie stoßen. Auch die Verwendung von Blut und menschlichen Exkrementen sowie die ‚unsittliche‘ Darstellung religiöser Symbole löste wiederholt Skandale aus. Dabei verstört besonders der Einsatz des (eigenen oder fremden) Körpers, wobei nicht nur die Grenzen physischer Belastbarkeit und Versehrtheit der Künstler, sondern auch der Zuschauer und Teilnehmer berührt werden. Dies lässt sich insbesondere bei der Abject Art beobachten, die gegen eine „Vielzahl kulturell hegemonialer Vorstellungen über Kunst, Pornografie und die Darstellung des menschlichen Körpers [verstößt]“179. Zimmermann betont den konstitutiven Moment dieser künstlerischen Strategien, der les-

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Kliege: Engagierte Kunstformen, S. 14. Seibt: Wo die Sinne, o.S. Vgl. Gronau: Die prekäre Grenze, S. 336. Zimmermann: Skandalöse Bilder, S. 243. Mattthias Weiß präzisiert: „Wir ekeln uns vor denjenigen Werken, die körpereigene Mittel verwenden, Prozesse nachvollziehen oder die identitätsstiftende Oberfläche namens Haut durchstoßen, indem wir uns in das Kunstwerk hineinversetzen und gleichzeitig einem Fluchtinstinkt unterworfen sind. Die psychologisch-genetische Veranlagung ausnutzend, offenbart sich der Ekel reflexartig und erzeugt diese unauflösliche Spannung – anders eben als der wirkliche Ekel. […] Das intensiviert diese Kunst, die uns so nahe geht.“ (Weiss: Im Schatten des Schönen, o.S.)

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bar wird auf der Folie der mit diesen Begriffen erkämpften Grenzziehungen.180 Am Ende resümiert sie: „Der ‚Skandal‘ der hier vorgestellten Kunstwerke liegt daher weniger in ihrem ‚skandalösen‘ Thema begründet, als darin, daß sie die Grenze zwischen öffentlich und privat überschreiten und die Grenzen des Repräsentationssystems ‚Kunst‘ erodieren.“181 Es kommt zu einer Verunsicherung bestehender Grenzen; eindeutige Kategorisierung geraten ins Wanken. Ein Beispiel für diese Ambivalenz liefert Mona Hatoum in ihrer Videoarbeit Corps étranger, bei der sie Bilder vom Inneren des Körpers zeigt und damit die Grenze zwischen Innen und Außen durchdringt. „Eine endoskopische Kamera untersucht die Oberfläche des Körpers der Künstlerin und dringt unvermittelt durch dessen Öffnungen in das innere Labyrinth des Körpers ein. An dessen empfindlichen Stellen, durch die der Austausch mit der Welt erfolgt, durchstößt dieses Auge die Grenzen des Körpers, besetzt und verletzt seine Identität.“182 Anders kontrovers und öffentlichkeitswirksam sind politische Skandale. Diese werden ausgelöst, wenn eine Beschäftigung mit ‚den Schrecken der Geschichte‘ wie dem Nationalsozialismus oder der RAF stattfindet und die Präsentation und thematische Ausrichtung von der dominanten Geschichtsschreibung abweicht. So wurde der RAFAusstellung in den KunstWerken (2004) die schon versprochenen öffentlichen Fördergelder wieder entzogen, nachdem es eine breite öffentliche Debatte darüber gegeben hatte, ob eine Ausstellung, die sich dem Mythos RAF widmet, mit öffentlichen Geldern finanziert werden darf oder nicht. Provokant ist auch die Darstellung von Personen öffentlichen Interesses. Die Abbildung des damaligen Chefs der rechtspopulistischen Schweizer Volkspartei mit einem gehobenen Bein in einer Installation von Thomas Hirschhorn führte schließlich dazu, dass die Kulturstiftung Pro Helvetia, die die Pariser Ausstellung unterstützte, in der das Bild zu sehen war, ihr Budget deutlich kürzte. Hans Haacke wiederum löste im Zusammenhang mit seinem Manet-Projekt '74, das im Kölner Wallraff-Richartz-Museum zu sehen war, einen Skandal aus, der das Kunstfeld erschütterte, indem er die Kunstförderung großer deutscher Unternehmen und deren Verstrickungen mit dem Naziregime in Beziehung setzte. Die kontroversen öffentlichen Reaktionen, die auf solche Skandale folgen, führen zu einer Diskussion über gesellschaftlich heikle Themen und bringen Skandalöses an die Oberfläche. Sie sind zumeist ver-

180 Vgl. Zimmermann: Skandalöse Bilder, S. 248. 181 Zimmermann: Skandalöse Bilder, S. 250. 182 Mona Hatoum, S. 48.

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bunden mit der Frage nach den Grenzen der Freiheit von Kunst bzw. den Grenzen politischer Einflussnahme und Zensur. Dabei ist es schwer zu differenzieren, ob ein Skandal vom Künstler intendiert ist und als eigentliche künstlerische Arbeit betrachtet wird oder nicht. Bei Jonathan Meeses Performances und Installationen, in denen er auf germanische Symbole und Mythen zurückgreift, ist der Grat zwischen subversiver Umdeutung und rein provokanter Geste schmal. Das Problem dieser Strategien benennt Hanno Rauterberg: „Viele Erschütterungen wirken nur noch wie Ornamente, sie schmücken den Künstler und oft auch den Sammler.“183 Die Irritation wird zum Eigenwert, die Wirkungsmächtigkeit der Kunst überdeckt die Frage nach der Qualität der Kunstwerke. Damit rückt die Kunst gefährlich nah zur Werbung, der es primär um die Generierung von Aufmerksamkeit geht. Künstler müssen aber nicht zwangsweise nach drastischen Mitteln greifen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Schon die Verweigerung von Sinn sowie die Zurschaustellung von Passivität kann irritieren. Kaum ist ein Kunstwerk nicht gänzlich einordbar (in kunsthistorische Einteilungen, in den Kontext einer Ausstellung, in das Werk eines Künstlers), befindet es sich in einem nur schwer ertragbaren semantischen Schwebezustand.184 Die dissidente und abweichende Verwendung und Interpretation von Zeichen wird hier zur Subversion. Mit dem Hinweis auf das ‚I prefer not to‘ von Bartleby in der Erzählung von Herman Melville weist Draxler darauf hin, das Passivismus, Ironie und Satire schon seit dem 18. Jahrhundert kultivierte Kunst- und Kritikformen sind.185 Die verstörende Wirkung von Indifferenz und Passivität steigert sich dabei mit der Erhöhung des gesellschaftlichen Konkurrenzund Kreativitätsdrucks sowie der permanenten Konsumaufforderung. Exkurs: Joseph Beuys und Olafur Eliasson Um die geschilderten Grenzbewegungen noch einmal zu veranschaulichen, werden mit Joseph Beuys und Olafur Eliasson zwei Künstler vorgestellt, die in ihrer Arbeitsweise und mit ihren Arbeiten vielfältige Grenzüberschreitungen vollzogen haben. Beide Künstler zeichnen sich durch einen ‚erweiterten‘ Kunstbegriff aus. Dieser umfasst die Verwendung von Materialien und Ausdrucksformen aus nicht-künstlerischen Kontexten, die Offenheit für andere (wissenschaftliche) Disziplinen, aber auch die Erweiterung der Arbeitsweise ins Performative und in den öffentlichen Raum. Beuys inszeniert sich gar als ‚Gesamt-

183 Rauterberg: Und das ist Kunst?!, S. 111. 184 Vgl. Hemken: Die kategorische Interaktion, S. 60f. 185 Vgl. Draxler: Gefährliche Substanzen, S. 147.

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kunstwerk‘ und entwickelt eine künstlerische Haltung, die Kunst und Politik unmittelbar miteinander verknüpft. Sein Werk ist durch den Drang geprägt, Kunst und Leben zu verbinden, Kunst für alle und Kunst außerhalb der Institutionen zu machen. Eliasson wiederum arbeitet seit den 90er Jahren vor allem mit Installation und Fotografie, hat aber ähnlich wie Beuys auch, seinen Kunstbegriff um Interventionen in den öffentlichen Raum, Kooperationen mit Architekten und Designern, Bühneninszenierungen und hochschulpolitische Anliegen erweitert. Gemeinsam ist ihnen zudem die Auseinandersetzung mit ökologischen Fragestellungen und naturwissenschaftlichen Phänomenen. Beide sind nicht nur im Kunstfeld erfolgreich, sondern durch ihre Aktionen im öffentlichen Raum auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Gleichwohl lassen sich an ihnen auch Unterschiede festmachen: Prägte Beuys mit seinem erweiterten, demokratischen Kunstverständnis den Kunstbegriff der 70er/80er Jahre, gilt Eliasson als Prototyp des Künstlers am Anfang des 21. Jahrhunderts. Ist Beuys vor allem durch seinen erweiterten Kunstbegriff und sein politisches Engagement bekannt geworden, tritt Eliasson als Unternehmer auf, der über einen umfangreichen Mitarbeiterstab verfügt und sich durch Kooperationen mit Institutionen und Firmen hervortut. Provozierte Beuys durch seine Aktionen manch politischen Skandal, sorgt Eliasson vor allem durch die Monumentalität und direkte physische Erfahrbarkeit seiner Arbeiten für Aufmerksamkeit. Ihr erweiterter Kunstbegriff und die große öffentliche Wirksamkeit werfen jedoch ähnliche Fragen auf: Wo verlaufen die Grenzen von Kunst zu Politik, wo zwischen Kunst und Stadtverschönerung? Wie kann man der politischen Instrumentalisierung, aber auch dem Institutionell-Werden entgehen? Die Betonung interventionistischer, temporärer Ansätze führt bei beiden zu ähnlichen Problemen: Wie lässt sich ihr ganzheitlicher Kunstbegriff vermitteln? Wie lassen sich diese Aktionen archivieren und musealisieren ohne ihren emanzipativen Gestus zu verlieren? Diese Fragen sollen nicht direkt beantwortet werden, sondern den Denkraum abstecken, auf den in dieser Arbeit immer wieder zurückgekommen wird: Was für Grenzen werden überschritten? Wo tun sich neue Grenzen auf? Wie verändert sich das Verhältnis von Kunst zur Gesellschaft? Wie das Verständnis politischer Kunstpraxen? Joseph Beuys Das Werk von Beuys zeichnet sich durch eine Vielzahl von Grenzüberschreitungen aus. Sein künstlerisches Werk umfasst sowohl Installationen und Objekte, Videoarbeiten, Performances und Aktionen, als auch Manifeste und Gespräche. Für viele gilt er als Prototyp der Versuche, Kunst und Leben zu verbinden. Für diesen konkreten Bezug zum Leben

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stehen vor allem sein erweiterter Kunstbegriff und seine plastische Theorie. Aber auch der soziale und politische Bezug seiner Arbeiten betont die enge Verknüpfung von Kunst und Leben bei Beuys. Neben seinen künstlerischen Interventionen zeugen seine Tätigkeit als Professor an der Kunstakademie in Düsseldorf, die Gründung der Free International University und seine Kandidatur als Grünen-Abgeordneter für das Europa-Parlament von seinem direkten politischen Engagement. In allen Aktionen drückt sich die Hoffnung aus, konkrete gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken, sei es über politische Aktionen oder die Freisetzung der Kreativität aller Menschen durch seine Kunstaktionen. Er versteht die soziale Plastik als Möglichkeit der Gestaltung des sozialen Organismus und sieht in allen Menschen die potentiellen Gestalter der Welt. Damit tritt in Beuysʼ Werk das soziale Moment in einen neuen Zusammenhang. „In seiner Kunst geht es nicht mehr um die Spiegelung der gesellschaftlichen Zu- oder Mißstände allein, sondern es geht ihm von vornherein um die Veränderung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen.“186 Beuys glaubt daran, mit Hilfe seiner Kunst und Aktionen, die ganze soziale Lebenswelt verändern und einen sozialen Wandel bewirken zu können.187 Die Aufgabe des Künstlers definiert er dabei als Anreger der Menschen zu eigenständigem Denken. Beuys verlangt von jedem aktive Teilnahme und hofft, dass durch die Freisetzung seiner Kreativität jeder schöpferisch tätig wird und gesellschaftliche Veränderungen möglich sind. Auf diese Weise wird ‚jeder Mensch ein Künstler‘. Die menschliche Kreativität wird als revolutionäre Kraft verstanden, die man als strategisches Mittel zur Verbesserung der Lebensbedingungen nutzen kann. Wichtig ist dabei, dass sich die Gesellschaft in einem formbaren Zustand befindet, also nicht starr ist, wie verkrustete (Wissenschafts-, Institutions-)Strukturen, sondern durch die gesellschaftliche Wärme formbar ist. Dabei wird nicht nur der Rezipient in besonderem Maße in die künstlerische Tätigkeit einbezogen, auch der Künstler inszeniert sein ganzes Leben als künstlerischen Ausdruck, so dass die Grenzen von Beuysʼ Kunst und seiner Person zusehends verschwinden. Die von ihm vorgenommene Mystifizierung und Über-Inszenierung ist jedoch nicht unproblematisch, ähnelt sie doch dem Bild des KünstlerGenies im traditionellen Sinne. Olafur Eliasson Eliassons Arbeiten nehmen oftmals naturwissenschaftliche Phänomene als Ausgangspunkt für Wahrnehmungsexperimente mit Licht und

186 Oman: Beuys, S. 94. 187 Vgl. Oman: Beuys, S. 98f.

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Wasser. Er möchte damit das Wahrnehmungsvermögen des Menschen erweitern und ausloten188 – ohne sich dabei abhängig von technologischen Imperativen zu machen. Häufig sind die Interventionen temporär angelegt und eigendynamisch. So ist die Verfärbung von Flüssen ebenso flüchtig, wie die Simulation einer Sonne in seinem Weather Project in der Tate Modern (2003) vage ist. Auch seine Installation Waterfalls in New York (2008) verändert sich mit dem durchlaufenden Wasser und der Tageszeit sowie der Dufttunnel in Wolfsburg (2005) mit den Jahreszeiten seinen Charakter variiert. Die Initialisierung von Prozessen und der Einbezug von Zeit sind zwei Faktoren, die Eliasson mit Beuys teilt. Viele seiner Arbeiten sind das Ergebnis wissenschaftlicher Recherchen und haben installativen Charakter, bei denen es weniger um eine künstlerische Handschrift, als um eine präzise Konstruktion geht. Der Künstler tritt vor allem als Ideengeber und Initiator auf und wird von einem mitarbeiterstarken Team unterstützt, in dem Wissenschaftler, Architekten und Designer zusammen arbeiten. Zugleich kooperiert er mit Unternehmen. Die Grenze zur Instrumentalisierung seiner Arbeiten für marktwirtschaftliche Interessen durch Unternehmen und als Touristenattraktion durch Stadtmarketing ist jedoch schmal. Ebenso wie die Frage, was für Kompromisse man mit Auftraggebern eingeht, um sich dadurch finanzielle Freiräume zu schaffen. Er selber sagt zu diesem Konflikt: „Ich habe keine Wahl: Ich will, dass die Kunst zum Teil der alltäglichen Welt wird. Deshalb entwickle ich Projekte, die mit der Modeindustrie, mit Design, mit der Autoindustrie, auch der Politik in Berührung kommen.“189 Für ihn sind Kooperationen zudem ein Mittel, um Kunst in der Gesellschaft zu verankern. Er legt Wert darauf, dass ein Großteil seiner Arbeiten an öffentliche Sammlungen geht und auf diese Weise sichtbar und zugänglich bleibt. Auch aus diesem Grund realisiert er wiederholt Arbeiten im öffentlichen Raum, die einem breiten Publikum zugänglich sind. Auch sein Interesse an der Schönheit (natürlicher) Phänomene besitzt für ihn demokratisches Potential. Er spricht sich für die Inklusivität der Kunst aus und meint damit eine unmittelbare Zugänglichkeit seiner Arbeiten. Die Gefahr besteht jedoch, dass die Arbeiten durch diese Zugänglichkeit ihren Kunstcharakter verlieren, der laut Crary eben auch die Abschweifungen in ganz andere konstruierte Welten mit überraschenden Zeitzusammenhängen und Geschwindigkeiten beinhaltet.190

188 Vgl. Crary: Olafur Eliasson, S. 3. 189 Eliasson: Museen sind Schlaftabletten, o.S. 190 Vgl. Crary: Olafur Eliasson, S. 9.

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1.3 Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Grenzüberschreitungen in der Kunst Durch die Herausarbeitung der verschiedenen Bewegungsrichtungen von Grenzbewegungen ist ihre Vielfalt deutlich geworden. Im Folgenden wird der Fokus auf die Frage gelegt, was die Folgen dieser Grenzbewegungen sind. Wolfgang Storch deutet in folgendem Zitat die unterschiedlichen konstitutiven Funktionen an, die darin bestehen, dass durch sie neue Bereiche, Medien, Materialien, Räume, Publikumsschichten und Denkweisen eröffnet werden. Die Künste werden „in ein neues Verhältnis zueinander treten, werden […] aus ihrem alten Kanon herausgelöst, auf ihre Grundelemente zurückgeführt, medialisiert und, ihr Material auslotend, in Bereiche des Noch-Nicht-Gesehenen, Noch-Nicht-Gehörten geführt. Eine Arbeit, mit immer neuen Formen, mit dem Einsatz der neuen Techniken einzudringen in das verfestigte Gefüge der Gesellschaft.“191

Um diese konstitutiven Funktionen zu präzisieren, wird grob zwischen kunstimmanenten und gesellschaftlichen Folgen der Grenzbewegungen unterschieden. Im nächsten Schritt wird auf die Grenzen und die Kritik an den Überschreitungsbewegungen eingegangen. Hier wird zwischen mehreren Gefahren unterschieden: der Kommerzialisierung, der Beliebigkeit im Mainstream, der Vereinnahmung durch die Politik und der Instrumentalisierung für Stadtmarketing und Sozialarbeit. 1.3.1 Konstitutive Folgen von Grenzüberschreitungen „Um sich freizuspielen, um nicht betriebsblind zu werden, ist die praktische Auseinandersetzung in einem anderen Gebiet ganz sinnvoll.“ 192 GERWALD ROCKENSCHAUB

In den meisten Fällen werden Grenzüberschreitungen mit dem Wunsch nach Neuem begründet: Mit dem Sich-Öffnen auf das Noch-nichtGesehene und Noch-nicht-Gehörte oder mit dem Aufbruch in ein Land formaler und politischer Experimente, unbekannter Lüste und Sehnsüchte.193 Nach Barbara Putz-Plecko geht es um ein „Aufeinander191 Storch: Gesamtkunstwerk, S. 731. 192 Ihr seid anders, so perfekt. Rockenschaub im Gespräch, S. 67. 193 Vgl. Draxler: Gefährliche Substanzen, S. 16.

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Beziehen sonst gewissermaßen isolierter Disziplinen und Bereiche, um die Lockerung von Routinen, um die Öffnung von Arbeits- und Entwicklungsprozessen“194.Grenzüberschreitungen dienen dazu, die Grenzen der Kunst aber auch gesellschaftliche und religiöse Grenzen zu erweitern und in Bewegung zu halten. Der traditionelle Kunstbegriff wird ebenso hinterfragt wie vermeintlich feste Grenzen zwischen Kunst und Leben sowie gesellschaftliche Konventionen. Es ist die „‘Ungeduld gegenüber Grenzen‘, gesellschaftlichen, aber auch ästhetischen sowie eine arrogante Intoleranz gegenüber allen Kompromissen mit den Zeitläuften‘“195, die laut Pierre Bourdieu den avantgardistischen Künstler kennzeichnet. Auf das Unbehagen gegenüber vermeintlich natürlichen Grenzen und gesellschaftlichen Kompromissen weist auch Fischer-Lichte hin. Sie hält fest, dass künstlerische Grenzüberschreitungen darauf abzielen, „Grenzen, die als historisch gesehen im ausgehenden 18. Jahrhundert errichtet wurden und seitdem als quasi natürliche, das heißt von der Natur gesetzte Grenzen galten – wie die Grenzen zwischen Kunst und Leben, zwischen Hochkultur und populärer Kultur, zwischen der Kunst der westlichen Kultur und derjenigen anderer Kulturen, denen das Konzept der Autonomie von Kunst fremd ist – zu überschreiten und so den Begriff der Grenze zu redefinieren.“196

Es geht also zum einen um die Hinterfragung der gesellschaftlichen, territorialen Grenzen und der Grenzen des Kunstfeldes, aber auch um die Neugier auf das Hinter-der-Grenze-liegende. Durch das Überschreiten von Grenzen kommt es (im Extremfall) zu einer Konfrontation mit dem Unbekannten, Fremden: zu einer Erfahrung der Differenz. Der Blick auf das Andere ebenso wie der Blick auf das Eigene wird geschärft. Gleichzeitig wird ein Möglichkeitsraum eröffnet, ein potentieller Raum, in dem Verschiebungen der bestehenden Ordnungen möglich werden. Die Offenheit für diese Erfahrungen der Differenz, die Lust am Neu- und Querdenken, aber auch die Ungeduld angesichts gesellschaftlicher Zustände und Zuschreibungen lassen sich demnach als Antriebe für Grenzüberschreitungen nennen. Sie resultieren zum einen aus dem Wunsch der Künstler beweglich zu bleiben, sich selber immer wieder zu hinterfragen und zum anderen aus dem Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung und Irritation. Grob lässt sich demnach zwi-

194 Putz-Plecko: Cooperation, S. 108. 195 Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 184. 196 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 356.

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schen kunstimmanenten und gesellschaftsbezogenen Funktionen von Grenzüberschreitungen unterscheiden: Zum einen geht es um das Bedürfnis nach Selbstbestimmtheit und die Loslösung von jeglicher Normierung und Kanonbildung (im Kunstfeld), zum anderen um die Überschreitung des Kunstfeldes hin zum Gesellschaftlichen, um die vielfältigen Formen der Verbindung von Kunst und Leben. Gemeinsam ist diesen beiden Funktionen, dass sie zunächst einmal die Grenzen und die Konventionen sichtbar machen, die im Kunstfeld und in der Gesellschaft gelten. Die Bestimmung kunstimmanenter Ziele beruht auf der Beobachtung, dass „die gesamte Geschichte der modernen Kunst [...] eine Geschichte auch der Auseinandersetzungen um den Begriff von Kunst überhaupt [ist]“197, wie Rebentisch feststellt. Bei jeder Grenzüberschreitung geht es auch um die Auseinandersetzung und die Verhandlung des eigenen Verständnisses und das Ausloten der Grenzen der Kunst. Mit ihrer Hilfe werden Konventionen, althergebrachte Autoritäten und tradierte Vorstellungen von Kunst aufgebrochen. So verortet Adorno die Funktion der Überschreitung in der Reflexion und Kritik des gesellschaftlich eingeschliffenen Kunstverständnisses. Für ihn besteht das ‚innerste Prinzip der Kunst‘ in der beständigen Revolte gegen die Autorität der Definition.198 Wellmer formuliert es im Anschluss an Adorno folgendermaßen: „Die für die Kunst spezifische ästhetische Normativität ist somit eine, die von der Kunst selbst immer wieder infrage gestellt und überschritten wird.“199 In Folge dessen kommt es zu einer „kritischen Dekomposition überlieferter ästhetischer Normen, Kategorien und Formprinzipien.“200 Mit Wellmer hat „der Begriff der Kunst daher nichts definitorisch Fassbares, sondern [ist] ein geschichtlich erst Herausbildendes.“201 Auch Welsch sieht im Rückgriff auf Adorno die Funktion der Überschreitung darin, dem eigenen Begriff zu opponieren, um sich dem Wunsch nach Totalität zu entziehen, denn dieser ist eng verbunden mit einem herrschaftlichen Anspruch.202 Wie sehr sich die Geschichte der Kunst als eine der Überschreitung der eigenen (Begriffs-)Grenzen gestaltet, hebt auch Bourdieu hervor: „Die Überschreitung [ist] selbst das Ergebnis einer ganzen Geschichte [...] und

197 198 199 200 201 202

Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 8. Vgl. Adorno: Die Kunst und die Künste, S. 451. Wellmer: Über Negativität und Autonomie der Kunst, S. 244. Wellmer: Über Negativität und Autonomie der Kunst, S. 253. Wellmer: Über Negativität und Autonomie der Kunst, S. 244. Vgl. Welsch: Ästhetisches Denken, S. 125.

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[wird] unvermeidlich in Beziehung auf das verortet, was sie zu überholen prätendiert“.203 Es geht also nicht um etwas der Kunst äußerliches, sondern um die spezifische Geschichte des Feldes, dessen Vorgaben und Regeln überschritten werden. Raunig spricht in diesem Zusammenhang von der Bewegung der Überschreitung als kunstimmanentem, unabschließbarem Prozess, der einer ‚permanenten Relokation‘ des Kunstfeldes gleicht, worunter er die „intentionale Veränderung/Erweiterung des Kunstfeldes durch die Verschiebung seiner Grenzen [versteht]“.204 Andere Grenzüberschreitungen sind dagegen durch den Wunsch nach gesellschaftlicher Relevanz, nach einer politischen und sozialen Funktion von Kunst motiviert. Sie liefern den Nachweis dafür, dass das Kunstfeld vielfach überlappt ist mit anderen Feldern und sich im Austausch mit den Bedürfnissen und Codes dieser Felder befindet. Erst durch die Grenzüberschreitungen rücken die Relationen und Verbindungen von Kunst zu Gesellschaft/Politik/Wissenschaft/Leben, ihre Annäherungen, Überschneidungen und Konflikte in den Fokus der Aufmerksamkeit. Der Blick für die Formen und Folgen von Übergängen zwischen verschiedenen Welten wird geschärft: „Die Nahtstellen werden blossgelegt, sicht- und erlebbar gemacht“,205 wie Bianchi es formuliert. Grenzüberschreitungen dienen hier als analytische Kategorie, anhand derer Rückschlüsse über Grenzen und die hinter den Grenzen liegenden Identifikations- und Definitionsregime abgeleitet werden können.206 Durch die Überschreitung wird die Ordnung sichtbar, die hinter und über die Grenze wacht.

203 204 205 206

Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 385. Raunig: Ästhetik der Grenzüberschreitung, S. 156. Bianchi: Lebenskunstwerke, S. 49. Vgl. Brah, für die die Konzepte Diaspora, Grenze und Politik des Ortes in ihrer Verknüpfung „ein konzeptuelles Raster [bilden], das die historisch informierten Analysen zeitgenössischer trans/nationaler Bewegungen von Menschen, Informationen, Kulturen, Waren und Kapital sichtbar macht.“ (Brah: Diaspora, Grenze und transnationale Identitäten, S. 29.) Auf ähnliche Weise beschreiben Sandro Mezzadra und Brett Neilson die methodische Auseinandersetzung mit Grenzen als Methode und Forschungsprozess. Die Grenze fungiert für sie als epistemologische Perspektive, von der aus eine Reihe strategischer Begriffe und ihre Bezüge neu gefasst werden können. (Vgl. Mezzandra/Neilson: Die Grenze als Methode, o.S.)

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Gleichzeitig werden durch Grenzüberschreitungen Grenzen als Nachbarschaftszonen und Schnittstellen sichtbar. Das Verständnis von Grenzen wandelt sich damit zu etwas Verbindenden, zu einem Konzept der Brückenbildung und des ‚between‘. Durch die Betonung der verbindenden Momente von Grenzüberschreitungen werden diese zudem als ein Mittel angesehen, die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in immer spezialisiertere Disziplinen und Teilöffentlichkeiten zu überwinden.207 Sie sind ein Mittel, die Trennung in Hoch- und Massenkultur und die Isolierung sozio-kultureller Bereiche zu überwinden sowie die Unterscheidung zwischen Künstlern und Experten bzw. Nicht-Künstlern aufzubrechen. Dieser Anspruch wurde besonders in den 90er Jahren wieder virulent, als sich Kunst in Form von Interventionen und Aktionen, in Form von Dienstleistungskunst und ortsspezifischen Projekten konkret als gesellschaftliches Handeln verstand und sich verschiedenen Teilöffentlichkeiten zuwendete. Grenzüberschreitungen zielten auf eine feldübergreifende Öffnung des Kunstfeldes und die Eröffnung von realen und utopischen, sozialen und medialen (Handlungs-)Räumen.208 Laut Markus Miessen sollten absichtlich Konflikte als eine mikropolitische Form der kritischen Auseinandersetzung mit der Umgebung initiiert werden, um die Kreise konventionellen Fachwissens hinter sich zu lassen und sich mit anderen Wissensgebieten kurzzuschließen.209 In eine ähnliche Richtung argumentiert Annemarie Gethmann-Siefert: Grenzüberschreitung sei Orientierungsverlust – im positiven Sinne.210 Durch die Überschreitung komme es zu einer Aufhebung falscher Orientierungssicherheit und der Integration ausgeschlossener Momente, bzw. der Erschließung neuer Welten. Auf diese Weise führten Grenzüberschreitungen zu einer Gewährung der Vielfalt des Möglichen. Laut Nicolas Bourriaud werden durch die Vernetzung mit anderen Feldern Fluchtlinien geschlagen und Möglichkeiten entworfen, den vorhandenen Denkweisen zu entkommen. Die Kunst biete ein Ensemble von Formen an, die jede Erzählung in Zweifel ziehen. Ihre Dynamik entfaltet sich im Umherschweifen.211 In der Bewegung der Grenzüberschreitung werden unterschiedliche Möglichkeiten denk- und gehbar. Es entsteht ein Grenzraum, eine

207 Vgl. Habermas: Die Moderne, S. 184f, wo er die Ausdifferenzierung der Wertsphären von Wissenschaft, Moral und Kunst beschreibt. 208 Vgl. Raunig: Spacing the Lines, S. 120. 209 Vgl. Miessen: Gewalt der Partizipation, S. 42. 210 Vgl. Gethmann-Siefert: Einleitung, in: Hogrebe/Bromand: Grenzen und Grenzüberschreitungen, S. 713. 211 Vgl. Altermodernität, Bourriaud im Gespräch, S. 34.

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Schwelle, ein Raum des Dazwischen. Ist diese Situation einerseits positiv konnotiert, da Handlungs- und Denkräume eröffnet werden, handelt es sich andererseits um eine Zone der Unbestimmtheit, in der es die Gleichzeitigkeit verschiedener Möglichkeiten auszuhalten gilt. Dies führt oftmals zu Überforderungen und unterläuft das Bedürfnis nach klaren Einteilungen und Abgrenzungen. 1.3.2 Kritik an Grenzüberschreitungen „Nach dem zwanzigsten Jahrhundert wissen wir: Die Kunst und die Ressource Sinn können nicht nur für alle politischen Zwecke instrumentalisiert werden, sondern ebenso, im rasenden Wechsel der Moden, als Rohstoff für Design, Reklame und Rundumbeschallung vernutzt werden.“ HORTENSIA VÖLCKERS212

Die Warnungen vor einer Instrumentalisierung von Kunst für politische Zwecke und einer ‚Ästhetisierung des Alltags‘ sind Beispiele für die Ängste und Vorbehalte gegenüber einer beständigen Erweiterung der Grenzen der Kunst. Gehen diese zu weit, droht Kunst ihre Unabhängigkeit und Randständigkeit zu verlieren und damit auch den Freiraum, andere Denk-, Handels- und Wahrnehmungsmodelle bereitstellen und initiieren zu können. Was passiert wenn Grenzüberschreitungen von kapitalistischen Motivationen vereinnahmt und als Verkaufsstrategie eingesetzt werden? Wenn es dazu kommt, dass Grenzüberschreitungen weniger Spannungsmomente inszenieren als eine Vereinheitlichung und Beliebigkeit im Konsens zur Folge haben? Wenn die Omnipräsenz von Grenzüberschreitungen zu einer Überbietungslogik führt, die Kunst zunehmend in außerästhetische Bereichen treibt und sich der Einfluss dieser Bereiche (z.B. Markt und Wissenschaft) auf die Kunst erhöht? Wenn Grenzüberschreitungen zum Selbstgänger werden und zu einem leeren Akt des Auffallenwollens verkommen? Alles an der Kunst scheint heute nahezu selbstverständlich zu sein. Es besteht die Gefahr, dass die Grenzbewegung erstarrt, wenn sie zu einer puren Pflichterfüllung wird und einem ungeschriebenen Gesetz und Bewertungsmaßstab gleicht. Auf die Gefahr einer

212 Völckers: Was macht die Kunst?, S. 6.

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Erstarrung und Entleerung von Grenzüberschreitungen macht Jauß schon in den 70er Jahren aufmerksam. „Als Grenzphänomen galt, was der herrschenden Norm widersprach. Damit aber wäre das Ästhetische selbst mit der Norm gleichgesetzt, wozu uns vielleicht die lange Geltung des klassischen Kanons verführt haben mag. Gleichzeitig aber wurde deutlich, dass die zu bestimmten Zeiten als Grenzphänomene bezeichneten Erscheinungen nun ihrerseits wieder zu Normen wurden, die eine neue Opposition hervorriefen.“213

Da sich klare Wertgefüge und Dichotomien zunehmend auflösen, werden die Anknüpfungspunkte für Grenzüberschreitungen vielfältiger. Es wird schwieriger etwas tatsächlich Neues zu entdecken und zu entwickeln. Die Bewegungen verlieren an Eindeutigkeit und Radikalität. Deleuze/Guattari verweisen auf die immer größer werdenden Anstrengungen, die nötig sind, Prozesse des Aufbrechens von Klischees und vorgefassten Meinungen zu initiieren: „Immer weitere Künstler werden nötig sein, um weitere Schlitze anzubringen, um die notwendigen und vielleicht immer größeren Zerstörungen vorzunehmen und so ihren Vorgängern die unkommunizierbare Neuheit zurückzugeben, die man nicht mehr zu sehen vermochte.“214 Um dieser Überbietungslogik zu entgehen, gilt es ein Verständnis von Grenzbewegungen zu entwickeln, das sich nicht auf die Überschreitung der Dichotomien beschränkt, sondern sich als permanente Bewegung versteht. Bevor dies geschieht, werden jedoch zunächst die hier angedeuteten Schwierigkeiten und Gefahren einer grenzenlosen Grenzüberschreitung ausgeführt. Sie lassen sich grob einteilen in Bedenken vor der Kommerzialisierung der Kunst (1), vor Beliebigkeit und Untergang im Mainstream (2), vor einer Vereinnahmung durch die Politik (3) und vor einer Instrumentalisierung für Stadtmarketing und Sozialarbeit, wie sie insbesondere in den 90er Jahren zu beobachten war (4). Die Vorbehalte, die gegenüber Grenzüberschreitungen geäußert werden, klingen z.T. recht drastisch. Glaubt man ihnen, wäre die Kunst schon x-mal vereinnahmt, entschärft und durchökonomisiert

213 Jauß: Die nicht mehr schönen Künste, S. 722. Mit diesem Zitat fasst Jauß die Ergebnisse einer Diskussionsrunde zu Grenzphänomenen des Ästhetischen zusammen, die sich 1966 zu einem Kolloquium zusammengefunden hatte. Er plädiert schon damals für ein Verständnis des Ästhetischen als Transi(s)torisches – Vorübergehendes, bzw. Prozessuales, um der Erstarrung zu entgehen. 214 Deleuze/Guattari: Was ist Philosophie?, S. 241f.

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worden – und damit an ihr Ende gekommen. Statt das Ende der Kunst jedoch als ein tatsächliches An-ein-Ende-kommen zu denken, wird es im Anschluss an Geulen als konstitutives ‚Gerücht‘ verstanden, das dazu dient, einen öffentlichen Diskurs über Formen und Grenzen von Grenzüberschreitungen anzuregen. Geulen legt in ihrem Buch Das Ende der Kunst (2002) dar, wie das Gerücht vom Ende der Kunst zu einem Diskurs angeschwollen ist, das sich in immer neuen Windungen mit dieser These auseinandersetzt. Diese intensive Auseinandersetzung ist jedoch weniger ein Beweis für die Richtigkeit dieser These als ein Nachweis ihrer Produktivität. In diesem Sinne lassen sich auch die im Folgenden ausgeführten Vorbehalte gegenüber Grenzüberschreitungen als konstitutiv für die Auseinandersetzung mit Grenzüberschreitungen bezeichnen, obwohl sie im Einzelfall recht pessimistisch klingen. 1.3.2.1 Kommerzialisierung Kunst und Kommerz/Kapitalismus/kapitalistische Logik/Massenkultur werden oft als zwei streng voneinander getrennte Felder dargestellt bzw. idealisiert und die autonome, kritische Kunstproduktion der Verwertungslogik des Kapitalismus entgegengestellt. Diese wird als kritiknivellierend, vereinheitlichend und unersättlich beschrieben, so dass jegliche Annäherung an das kapitalistische System gegeißelt wird. Schon 1944 warnen Horkheimer/Adorno vor den Folgen einer Kulturindustrie, die mit Massenkultur bzw. einer Kultur der Ähnlichkeit gleichgesetzt wird. In ihrem prominenten Aufsatz kritisieren sie die Annäherung der Kunst an Massen- und Unterhaltungskultur und benennen die Gefahr einer Vereinnahmung der Kunst durch die Kulturindustrie und das kapitalistische System. Eine allzu große Nähe zur kapitalistischen Logik ermöglicht es dieser, sich der Kunst als Ware zu bedienen. „Basis und Überbau, die Produktions- und die Reproduktionssphäre verschmelzen, die Künste werden in das Alltagsleben überführt, der Alltag in der Massenkultur ästhetisiert.“215 Die Warenlogik durchdringt zunehmend alle Bereiche des Lebens, während der ästhetische und kritische Aspekt der Kunstwerke durch die gesellschaftliche Funktion im Sinne von Unterhaltung, Reklame oder Dekoration in den Hintergrund gedrängt wird.216 Es droht eine Vereinheitlichung der Kultur durch die Dominanz von Unterhaltungsliteratur und Warenästhetik und die sich alles einverleibende Kraft der kapitalistischen Logik. Im Anschluss an Horkheimer/Adorno wiederholen sich die Warnungen in regelmäßigen Abständen, jedoch unter unterschied-

215 Behrens: Adorno-ABC, S. 133. 216 Vgl. Behrens: Adorno-ABC, S. 220.

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lichen Vorzeichen: In den 70er Jahren mit der Kritik an der Spektakelgesellschaft durch Debord und die Situationisten. In den 80er Jahren durch die Kritik am ‚anything goes‘ der Postmoderne.217 Diese Stimmen, die permanent die Vereinnahmung des Kunstfeldes durch die kapitalistische Logik beschwören, sind bis in die 90er Jahre zu vernehmen, wenn Marius Babias vom Abstieg der Kunst in die Unterhaltungsbranche spricht und erklärt, die kapitalistische Arbeitsteilung würde zum dominanten System der Kunst.218 Michael Lingner geht so weit von einer „kommerziellen Gleichschaltung des Kunstsystems“ zu sprechen.219 Wie sich diese gegenseitige Durchdringung der Welt der Kunst und der des Geldes konkret gestaltet, lässt sich an mehreren Faktoren festmachen.220 Zunächst lässt sich ein Einzug ökonomischer Regeln im Kulturbetrieb beobachten, wenn in Museen verstärkt auf Besucherzahlen, Rentabilität und Marketing geachtet wird. Zudem wird in Form von Sponsoring und Public-Private-Partnership Modellen auf die Allianzen zwischen Wirtschaftsunternehmen und Kulturproduzenten gesetzt. Rauterberg benennt die Folgen dieser Entwicklung: Das Museum „verhökert seine Erfahrung und Würde, es biedert sich an mit Mode- und Autoschauen, mit Galadiners und langen Trubelnächten und verspielt so sein größtes Kapital: seine Glaubwürdigkeit.“221 Zudem sind die Museen durch ihre Finanznot verstärkt auf Leihgaben von privaten – finanzstarken – Sammlern angewiesen. Dadurch wird die Bedeutung von Messen, Galerien und Sammlern bei der Beurteilung von Kunst immer wichtiger. Wirtschaftliche Potenz wird zuneh-

217 Vgl. Jamensons Aufsatz Postmoderne – zur Logik des Spätkapitalismus. Er aktualisiert hier die Kritik Horkheimer/Adornos für die Zeit des ‚Spätkapitalismus‘ und spricht vom Aufkommen eines ästhetischen Populismus in der Postmoderne, der die traditionelle Trennung zwischen ‚hoher‘ Kultur und sogenannter Massen- oder kommerzieller Kultur unterläuft. Die Folgen sind eine neue Oberflächigkeit und der Verlust von Historizität – Phänomene, die von allen Verfechtern der Moderne verurteilt wurden, wie Jameson bemerkt. 218 Vgl. Babias: Im Zentrum der Peripherie, S. 11f. 219 Vgl. Lingner: ästhetisches dasein, S. 33. 220 Eine umfangreiche Bestandsaufnahme des Verhältnisses von Kunst und Wirtschaft nahm die Ausstellung art & economy in den Deichtorhallen Hamburg (2002) vor. Gezeigt wurden sowohl künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Thema Wirtschaft als auch Aktivitäten von Unternehmen im Kunstbereich. 221 Rauterberg: Und das ist Kunst?!, S. 64.

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mend mit ästhetischer gleichgesetzt, wie Rauterberg feststellt: „Als gute Kunst gilt, was von einer guten Galerie verkauft wird; und als gute Galerie gilt diejenige, die gut im Geschäft ist – Quantität wird zum Inbegriff von Qualität.“222 Das bedeutet: die Zahl der Ausstellungen und Messen nimmt zu, ebenso wie die Bemühungen sie als exklusive Erfahrungswelten und einmaliges Ereignis zu verkaufen. Die hier beschriebenen Überlagerungen von Kunst und ökonomischen Interesse bieten zwar einerseits Anknüpfungspunkte für Kritik (wie sie hier genannt wurden), andererseits wird es schwerer Kritik zu üben, wenn die Formen und Inhalte der Kritik von der kapitalistischen Logik aufgegriffen und somit entschärft werden. Das Problem ist laut Benjamin Buchloh, dass „die Akkulturation immer Mittel und Wege [findet], um sich neue Produktionsweisen [und Kritik, Anm. ALW] anzueignen“223. Dissidenz, Kritik und Subversion werden laut von Osten zum Motor der Modernisierung eben jener Verhältnisse, die zu determinieren, abzuschaffen oder wenigstens zu denunzieren sie einmal angetreten waren. „Die Begehrensstrukturen und Praxismodelle ehemals subkultureller Gegenwelten sind ein fester Bestandteil der sich globalisierenden Ökonomie.“224 Rauterberg fasst zusammen: „Was von den Künstlern

222 Rauterberg: Und das ist Kunst?!, S. 35. 223 Buchloh: Allegorische Verfahren, S. 57. 224 von Osten: Norm der Abweichung, S. 7. Die Gründe für diese Vereinnahmungen der Kritik am Kapitalismus untersuchen Boltanski/Chiapello in ihrem Buch Der neue Geist des Kapitalismus (1999). Als diesen bezeichnen sie den Kapitalismus, der in den 80er Jahren beginnt und sich durch das Aufkommen der Metapher des Netzwerkes (und der Projektarbeit) auszeichnet. Sie stellen fest, die Kritik am Kapitalismus führe weniger zu seiner Schwächung, als zu seiner Stärkung, entwickelt er doch permanent neue Rechtfertigungsstrategien, die ihm eine breite Legitimierung sichern. Dies geschieht nicht nur in verbalen Reaktionen auf die Kritik, sondern auch durch die teilweise Akzeptanz der Forderungen der Kritik (wenngleich diese dann der kapitalistischen Logik untergeordnet werden). „Die Anerkennung der Gültigkeit einer Vielzahl von Themen der künstlerischen Kritik durch den Kapitalismus führte dazu, ihr den beißenden Ton zu nehmen.“ (Boltanski/Chiapello Die Arbeit der Kritik, S. 68.) Die Autoren arbeiten heraus, dass Kritik zwar möglich, aber immer nur kurzweilig ist, da sich schnell neue normative Stützpunkte und kapitalistische Aneignungen herausbilden. Sie sprechen aus diesem Grund von einem ‚dynamischen Modell des normativen Wandels‘. Dieses dynamische Modell des normativen Wandels funktioniert ähnlich wie die ‚kulturelle Grammatik‘. Als diese kann im Rückgriff auf Gramscis

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als Kritik gedacht war, endet nicht selten in einer Art Gebrauchskunst, von der wahlweise soziale, politische, propagandistische und nicht zuletzt unternehmerische Belange profitierten.“225 Es ist nicht möglich, sich gänzlich den kapitalistischen Mechanismen zu entziehen, da diese flexibel auf Veränderungen und Kritik reagieren. Dennoch halten viele Positionen an der Vorstellung fest, Kunst könnte durch ihre Autonomie, bzw. ihr Funktionieren nach ‚anderen‘ Regeln und Mechanismen Distanz zur kapitalistischen Ordnung einnehmen und sie von diesem Standpunkt aus kritisieren. Das Kunstfeld wird als ein außerhalb der Gesellschaft angesiedeltes Feld entworfen, wobei oftmals ausgeblendet wird, dass es stark von ökonomischen Interessen durchzogen ist, die nicht aufgelöst, sondern nur temporär aufgedeckt und unterlaufen werden können. Statt von zwei antagonistischen Feldern auszugehen, sollte von einem Spannungsverhältnis ausgegangen werden, das sich in einem ständigen Wandel befindet. 1.3.2.2 Beliebigkeit und Untergang im Mainstream Die Stadt Luxemburg wirbt im Jahr ihrer Auszeichnung als Kulturhautstadt mit folgendem Slogan: „Ausstellungen und Events, Theater, Musik, Literatur und Bildende Kunst, Klassik und Moderne, Experimentelles und Mainstream...alle Richtungen sind vertreten, alle Sinne werden angesprochen, Themen und Werke mit lokalen Bezug gehen Hand in Hand mit Spitzenveranstaltungen auf internationalem 226 Niveau und Präsentationen von Künstlern mit Weltruf.“

In diesem Zitat wird mit einer Vielzahl von Grenzüberschreitungen geworben. Das Festival will Gegensätzliches miteinander kombinieren und alle Interessen befriedigen. Die Gefahr ist groß, dass bei einem Hegemoniemodell, die Gesamtheit der Regeln und Verhaltensweisen bezeichnet werden, die dazu dient, eine auf Machtverhältnissen beruhende Ordnung aufrechtzuerhalten. Das Besondere dabei: sie funktioniert nicht nur über politische Gesetze und die Ausübung von Staatsgewalt, sondern über die Durchsetzung von kulturellen Codes und Verhaltensregeln. Als Regelsystem strukturiert sie gesellschaftliche Beziehungen und Interaktionen und produziert bzw. reproduziert Macht und Herrschaft. Das Vertrauen in die Kraft des Systems und nicht der Zwang führt dazu, dass kritische Ansätze in gewissen Maßen zugelassen und nicht gewaltsam verboten werden müssen. 225 Rauterberg: Und das ist Kunst?!, S. 160. 226 Sonderveröffentlichung in der Kunstzeitung Nr. 123, November 2006.

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solchen Großereignis zwar alle Kunstrichtungen vertreten sind, diese aber nicht in einen Dialog treten und keine Spannungsmomente erzeugen. Dass es eher um das Dabeisein, als um die konzentrierte Hingabe und kontroverse Auseinandersetzung geht. Es zeigt sich der schmale Grat zwischen kontrovers-konstitutiven Grenzbewegungen und Überschreitungen, die durch ihre Annäherung an den Mainstream eher dem Konsens frönen, als Neuordnungen des Sinnlichen anzustoßen. Kunst wird oftmals eine Randständigkeit zugesprochen, die sich durch ihre Allgegenwart und ihre Positionierung im Zentrum/in der Mitte/im Mainstream zunehmend verflüchtigt. Maset kritisiert aus diesem Grund die Auflösung der Ränder des Kunstsystems, „Ränder, an denen sich vormals Individualisten mit nicht-integrierbaren, aber vorauseilenden Positionen aufhielten“.227 Er bezeichnet es als wesentliche Aufgabe der Kunst zu einem Außen, verstanden als ‚unmarked space‘, zu gelangen.228 Dieses Außen erlaubt der Kunst als nahezu einziger Institution „Momente des Nicht-Identischen hervorzubringen, die stark genug sein können, jede Systemlogik zu perforieren“229, aber auch andere Rationalitätstypen zu entwickeln, die sich durch eine Differenz zum allgemeinen Ökonomie- und Bürokratiewerden auszeichnen. Kommt es jedoch zu einem Ästhetik-Boom wie in den 80er Jahren ist plötzlich alles Kunst, ist Kunst allgegenwärtig und verliert diese ihr eigene Differenz. Welsch spricht diesbezüglich von einem alle Lebensbereiche umfassenden ‚Generaltrend Ästhetisierung‘.230 Heute setzt sich dieser Boom der Kunst fort, was sich anhand der Vielzahl von neuen Galerien, Ausstellungsorten und Kunstmessen belegen lässt. Die Nachfrage nach Kunst geht soweit, dass sie als Massenware im Supermarkt oder bei Ikea verkauft wird. Das macht Kunst zwar einer breiteren Schicht verfügbar, führt aber auch dazu, dass „die ursprünglichen Werte der Kunst, ihre Besonderheiten [verloren gehen]“.231 Zudem kommt es laut Welsch zu einer Abstumpfung (einer systematischen Desensibilisierung) gegenüber dem Ästhetischen und seiner störenden Momente, wodurch die Totalästhetisierung auf ihr Gegenteil herauslaufen würde.232 Ein weiteres Problem im Zusammenhang mit der Allgegenwärtigkeit von Kunst ist die Aufweichung ihrer Kriterien – und dies gilt glei-

227 228 229 230 231 232

Maset: Mainstream und Gegenwartskunst, S. 83. Vgl. Maset: Die Arbeit funktioniert, S. 27. Maset: Bewegungsabläufe nervöser Kunstbegriffe, S. 86. Vgl. Welsch: Grenzgänge, S. 20. Rauterberg: Und das ist Kunst?!, S. 15. Vgl. Welsch: Grenzgänge, S. 57.

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chermaßen für Grenzüberschreitungen. Wird der Begriff der Grenzüberschreitung für verschiedenste Bewegungen verwendet, wird er zunehmend unpräzise und vielfältig interpretierbar. So spricht Rancière in Bezug auf das heutige ästhetische Regime der Künste vom Aufkommen einer großen gleichgültigen Mischung aus Bedeutungen und Materialien.233 Diese Mischung und Vervielfältigung der Kunst hat den Vorteil, hierarchisierende Bewertungskriterien zu vermeiden und die Kriterien verhandelbar und dynamisch zu halten. Doch nimmt der Einfluss der Diskurse, Personen und Institutionen, die darüber entscheiden, was Kunst ist und was nicht, zu.234 Letztlich kann alles zur Kunst werden, denn es handelt sich lediglich um eine Zuschreibung von außen, ob etwas als Kunst gilt oder nicht. Der Begriff wird beliebig, ökonomische oder rationale Kriterien gewinnen an Einfluss. 1.3.2.3 Vereinnahmung durch die Politik Die Warnungen vor einer allzu weitgehenden Politisierung der Kunst waren Reaktionen auf das ‚Scheitern der Avantgardebewegungen‘ am Anfang des Jahrhunderts – ein Scheitern, das insbesondere in Russland auf den durchschlagenden Erfolg der Avantgarden zurückzuführen ist, die damit in ihr Gegenteil verkehrt wurden. Zwar wurden die künstlerisch-revolutionären Ansätze der Avantgarden vom politischen System nach der Revolution zunächst dankbar aufgegriffen. Mit der Zeit wurden diese jedoch durch die Einleitung der Kulturrevolution, bzw. der autokratischen Kulturpolitik Stalins von der Politik vereinnahmt und sahen sich Zensurmaßnahmen ausgesetzt. Nach Hubertus Gaßner und Eckhart Gillen wurden mit der zunehmenden Herrschaft der politischen Ideologie über die sozialpolitische Masseninitiative die konkreten Utopien einer Synthese von Kunst und Leben endgültig zunichte gemacht.235 Die Ausrufung des sozialistischen Realismus setzte den Formexperimenten ein Ende und ging mit Restriktion gegen diejenigen Künstler einher, die sich der staatlichen Lenkung verweigerten. Laut

233 Vgl. Rancière: Die Politik der Bilder, S. 55. Rancière kritisiert aus diesem Grund Ausstellungen, bei denen durch die Kombination zu vieler Elemente der kritische Ansatz einzelner Arbeiten verloren geht. „Der Sinn des Dispositivs ist nicht mehr zu bestimmen. Das Spiel schlägt Kapital aus der Ununterscheidbarkeit eines Dispositivs, aus einem Oszillieren zwischen mehreren Bedeutungen.“ (Rancière: Aufteilung des Sinnlichen, S. 91.) 234 Vgl. Maset: Mainstream und Gegenwartskunst, S. 82. 235 Vgl. Gaßner/Gillen: Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus, S. 29.

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Gillen führte die „freiwillige Aufgabe der Autonomie seitens der sowjetischen Avantgarde […] zu einer Verschmelzung der Kunst mit der Politik und endete im Rahmen der staatsterroristisch durchgesetzten Homogenisierung der sowjetischen Gesellschaft mit der Zerstörung der Kunst und der Liquidierung der Künstler“236. Aber auch die Nationalsozialisten instrumentalisierten die Kunst für sich. Benjamin war einer der ersten, der auf die Ästhetisierung des politischen Lebens durch die Faschisten hinwies.237 Trotz dieser Kritik an diesen direkten Formen der Vereinnahmungen unter politische Zwecke, wurde Kunst weiterhin funktionalisiert, insbesondere im Zuge des Kalten Krieges, als es ebenfalls zu einer politischen und ideologischen Aufladung von Kunst kam und die west-europäische Abstraktion gegen den Sozialistischen Realismus ausgespielt wurde. Es bildeten sich zwei künstlerische Lager, die sich gegenseitig mit dem politischen Gegner identifizierten – West gegen Ost, Sozialismus gegen Kapitalismus, Freiheit gegen Diktatur.238 Heute wird es wohl kaum zu einer vergleichbaren Instrumentalisierung kommen, doch verliert die Frage nach der problematischen Nähe von Politik und Kunst nicht an Dringlichkeit, denn dieser Einfluss verlagert sich auf subtilere Formen. Aktuelle Beispiele für eine Nutzung von Kunst für politische Zwecke gibt es z.B. dort, wo Kunst zu Prestigezwecken in Büros von Managern und Politikern hängt. Aram Lintzel spricht in seinem Artikel über den Kongress Kunst, Macht, Politik von einer Kompensationsfunktion der Kunst, wenn sie „bewusst oder unbewusst […] eine durch Sachzwänge und mediale InszenierungsImperative beeinträchtigte Politik [ersetzt]“239 und für Sinnstiftung sorgt, wo eher auf Repräsentation als auf Sinn gesetzt wird. Aus diesem Grund bezeichnet er das Verhältnis der Politik zur Kunst letztlich immer als instrumentelles und dekoratives.

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Gillen: Wir werden die wilde, krumme Linie geradebiegen, S. 225. Vgl. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 42ff. Vgl. Damus: Kunst im 20. Jahrhundert, S. 233. Lintzel: Kanzlers Kunst, o.S.

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1.3.2.4 Instrumentalisierung für Stadtmarketing und Sozialarbeit „Überhaupt hat die Kunst der Neunziger eine Palette von Arbeitsweisen ausgebildet, die je nach Standpunkt als paradigmastiftend, als willkommene Publikumsbeschäftigung oder als Einsparung zuständiger Fachkräfte gesehen werden können.“ 240 STELLA ROLLIG

In den 90er Jahren differenzieren sich die Warnungen vor einer Vereinnahmung von Grenzüberschreitungen für politische Zwecke. Kritisiert wird nun vor allem die Nutzung künstlerischer Praxen zur Stadtverschönerung oder zur Sozialarbeit. Besonders Kunst im öffentlichen Raum ist gefährdet, als Stifterin von Gemeinsamkeit und Identifikationsgefühlen herhalten zu müssen, so dass Uwe Lewitzky vor dem Gebrauch von Kunst für Verschönerungs- und Marketingmaßnahmen warnt,241 denn diese wollen Kunst, die bunt und repräsentativ ist, wie die aufgestellten Stadtmaskottchen oder spektakuläre Kunstprojekte wie Jeff Koons Pläne für die Hamburger Reeperbahn belegen. Die Grenze zur Sozialarbeit wird dann überschritten, wenn sich Kunst in den Dienst sozial-politischer Programme stellt oder sogar deren Aufgaben übernimmt, wie es bei interventionistischen, auf Partizipation angelegten Projekten schnell der Fall sein kann. Diese wenden sich oftmals ‚Randgruppen‘ zu und streben eine Verbesserung ihrer Lage an, was durch das Aufmerksammachen auf ihre Situation ebenso umgesetzt werden kann, wie durch kurzfristige oder strukturelle Änderungen. Der Künstler stellt sich dabei in den Dienst von sozial benachteiligten Menschen oder interessierten Museumsbesuchern und agiert wahlweise als „freundlicher Sozialarbeiter, Koch, Möbeldesigner, Gärtner, Bau- und Blubbletreiber“242, wie Silke Müller festhält. Zwar erweitern sich damit die Rollen von Künstlern, doch werden diese oftmals nur kurzzeitig angenommen und sind an die Erfüllung einer bestimmten Aufgabe oder eines Zwecks gebunden. Kunst wird so 240 Rollig: Das wahre Leben, S. 25. 241 Vgl. Lewitzky: Kunst für alle?, insbesondere das 2. Kapitel zum städtischen Kontext, in dem die Auswirkungen der neuen Urbanität beschrieben werden. 242 Vgl. Müller: Die neunziger Jahre, S. 48.

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leicht auf die Bereitstellung von Dienstleitungen und Service reduziert.243 Schneller als erwartet kann die Unterstützung des Künstlers für benachteiligte Gesellschaftsgruppen zudem in ‚Entstörung‘ umschlagen. Dieser Begriff von Höller beschreibt die entstörende Funktion ‚karitativer Projekte‘ von Künstlern für den Staat, da dieser von seinen Aufgaben entlastet wird.244 Insbesondere die Community-Art wurde aus diesem Grund kontrovers diskutiert. Laut Rollig bestehe die Gefahr darin, „dass Kunst die Sozialpolitik entlastet und von politisch Verantwortlichen als Trostpflaster oder kurzfristiges Ablenkungsmanöver in diskriminierenden und marginalisierenden Verhältnissen angewandt wird“245. Im Extremfall drohen eine Kolonialisierung des sozialen Kontextes und eine Flexibilisierung des Zugriffs auf Subkulturen. Babias sieht dadurch das widerständige Potential der Peripherie in Gefahr.246 Lewitzky spricht von der Gefahr eines Paternalismus, nach der Kunst zu affirmativen sozialpolitischen Maßnahmen degradiert wird, um Potentiale und Energien dieser Randgruppen zu kanalisieren.247 Auch Ventura kritisiert die Hinwendung und Übernahme peripherer, subkultureller Praxen durch die Institutionen, da sie einzig dem Zweck der Belebung des Kunstbetriebes diene.248 Neben der Auflösung in den Mainstream oder der Vereinnahmung durch die Politik wird also ebenfalls vor einer Institutionalisierung gewarnt: nicht nur das ‚Außen‘ (in Form politischer Einflussnahme), sondern auch das ‚Innen‘ (die Kunst-Institution) stellt eine Gefahr dar, wenn es dadurch zu Stillstand und einem Verlust von kritischer Distanz kommt.

243 Zum Begriff der Dienstleistung vgl. Raunig: Die doppelte Dienstleistung. Raunig spricht von einem ‚mehrfach überdeterminierten‘ Begriff, der Mitte der 90er Jahre ausführlich in workshops, Ausstellungen und Publikationen benutzt und verhandelt worden sei. 244 Vgl. Höller: Störungsdienste, S. 22. 245 Rollig: Das wahre Leben, S. 20. Raunig kritisiert an Community Art deren kommunitaristische, identitaristische Tendenzen. Damit meint er, dass die helfende Hand des Künstlers in die gewalttätige Zu- und Festschreibung der Anderen umkippt und es auf diese Weise zur Konstruktion kollektiver Identitäten unterprivilegierter Gruppen kommt (vgl. Raunig: Spacing the Lines, S. 119 und S. 125f.). 246 Vgl. Babias: Im Zentrum der Peripherie, S. 17. 247 Vgl. Lewitzky: Kunst für alle, S. 100. 248 Vgl. Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 117.

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1.4 Philosophische Konzepte von (Grenz-) Überschreitungen und Grenzbewegungen „Doch existiert die Grenze überhaupt ohne die Geste, die sie stolz durchquert und leugnet?“ 249

MICHEL FOUCAULT

Im Folgenden werden verschiedene philosophische Positionen, Konzepte und Diskurse vorgestellt, die den Begriff der Überschreitung je unterschiedlich aufgreifen und interpretieren. Bei den ausgewählten Positionen handelt es sich um strukturalistische und poststrukturalistische Ansätze, deren inhaltliche Schwerpunkte auf sprachphilosophischen, soziologischen und ästhetischen Fragestellungen liegen. Sie nehmen eine formale und inhaltliche Auseinandersetzung mit (Grenz-)Überschreitungen vor, die so unterschiedliche Grenzen wie die des menschlichen Verhaltens, der Sprache, des Sinns und der staatlichen Gewalt umfasst. Die Konzentration auf poststrukturalistische Ansätze ergibt sich aus deren vielschichtigen Versuchen binäre Oppositionen und Dualismen wie Mensch-Welt, Innen-Außen, Subjekt-Objekt aufzubrechen. Laut Ott handelt es sich um eine Philosophie, die nicht auf Universalien gründet, im Denken nicht auf Repräsentation setzt, keinen Dualismus von Innen und Außen zulässt, keine immanenten Hierarchien und binären Unterteilungen vornimmt, keine Klassifikationen festschreibt und das Denken keiner Teleologie unterstellt.250 Damit werden die modernen Vorstellungen von autonomer Subjektivität, Wahrheit, Fortschritt und Vernunft einer kritischen Revision unterzogen. Das Differente, Fragmentarische und Uneindeutige gewinnt an Stellenwert. Konzepte der Vielschichtigkeit und Vermischung, der Polyphonie und Hybridität lösen dichotomische Argumentations- und Klassifikationsschemata ab. Es zeigt sich ein Denken, dass die Verbundenheit von Getrenntem/Abgegrenztem herausarbeitet, um damit die natürlich erscheinenden Grenzsetzungen zu hinterfragen und zu erschüttern. Fokussiert werden die ambivalenten, mit Unentschiedenheit und Verunsicherung verbundenen Situationen und Erfahrungen, die an Grenzen erfahrbar werden.

249 Foucault: Vorrede zur Überschreitung, S. 69. 250 Vgl. Ott: Deleuze, S. 36f.

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Der Poststrukturalismus fungiert dabei als Sammelbegriff für interdisziplinäre Verfahren, dessen verbindendes Element – nach Jacques Derrida – „der erklärte Verzicht jeglicher Bezugnahme auf ein Zentrum, auf ein Subjekt, auf eine privilegierte Referenz, auf einen Ursprung oder auf eine absolute arche [ist]“.251 Das Präfix post bezeichnet nicht eine Abgrenzung von den Strömungen des Strukturalismus, sondern meint in Form einer Pluralisierung und EntUniversalisierung der Strukturen (seien sie linguistisch, ökonomisch oder psychoanalytisch) seine Weiterentwicklung, wie sie insbesondere durch Barthes, Foucault und Derrida vorgenommen wurde. Im Zuge dieser Weiterentwicklung kam es zu einer Hinterfragung traditioneller Voraussetzungen abendländischer Philosophie und ihrer Versuche, die Welt restlos zu rationalisieren.252 Kritisiert wurden die Überheblichkeit des neuzeitlichen Denkens sowie ihre totalisierenden Tendenzen – unter der Berücksichtigung der eigenen Verwobenheit in diese Verhältnisse, was eine permanente Selbstreflexion und Diskussion der Erkenntnisgrenzen zur Folge hat. Aber auch die Vorstellung eines klassisch-repräsentativen Subjektbegriffes wurde hinterfragt sowie die Einheit des Subjekts aufgesprengt und durch die Vorstellung eines zusammengesetzten Fragments von Mehrfachexistenzen und unterschiedlichen heterogenen Ereignissen ersetzt, das im Bild des organlosen Körpers von Deleuze/Guattari kulminiert. Der Poststrukturalismus zweifelt zudem einen einheitlichen Charakter des Zeichens an und betont deren Variationen: „Der Zeichenbegriff der Poststrukturalisten pointiert dabei durchgängig die anarchischen und kreativen, die unkontrollierbaren und poetischen Dimensionen des Zeichens.“253 Barthes spricht z.B. von der Zerstörung der Metasprache und plädiert für die Einführung eines Diskontinuierlichen und einer Mutation (des Sinns).254 Die Fokussierung der variablen Zeichensysteme (der Asignifikanz) geht einher mit der Ablehnung jeglicher Vorstellung von universeller Wahrheit. In den Mittelpunkt rücken dagegen Brüche, Diskontinuitäten und Singularitäten.255 Das Denken in Kategorisierungen, Universalien und vermeintlich natürlichen Ordnungen wird abgelöst von der Betonung der Differenz und des Dazwischen. Ohne dass es bereits eine neue Ordnung gibt, werden durch die Grenzüberschreitungen

251 Derrida, zit. nach: Kuhn: Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden, S. 26. 252 Vgl. Kuhn: Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden, Kapitel II. 253 Münker/Roesler: Poststrukturalismus, S. 35. 254 Vgl. Barthes: Körnung der Stimme, S. 60, S. 145 und S. 148f. 255 Vgl. Foucault: Was ist Kritik?, S. 36.

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die Ordnungen jenseits der Grenzen überwunden und mit anderen Möglichkeiten konfrontiert. Es werden Variationen des Denkens ermöglicht und Differenzen miteinander in Bezug gesetzt – ohne sie zu versöhnen oder gar aufzulösen. Es entstehen Grenzräume, Zwischenbereiche und Zonen der Ununterscheidbarkeit. Voraussetzung ist die immerwährende Beweglichkeit dieser Verkettungen, um neue Hierarchien und Festlegungen zu vermeiden: „Die Poststrukturalisten werden nicht müde, von stetem Wandel zu sprechen, von Grenzüberschreitungen, Werden, Fluktuieren, von Deterritorialisierungsprozessen, die von der Ungebundenheit des Denkens und Lebens zeugen, indem sie sich nirgendwo festsetzen lassen.“256 Gleichzeitig sind Verschiebungen, Zerstreuungen (von Sinn) und minimale Differenzen (in der Wiederholung) von Interesse, werden doch hier Möglichkeiten des Politischen verortet. Der Glaube an eine alternative politische Ordnung, an ein Außerhalb der Macht wird dabei ebenso aufgeben wie der Glaube an einen Ursprung oder eine lineare Entwicklung. Steffen Münker und Alexander Roesler beschreiben den Poststrukturalismus deshalb auch als allgemeinen Titel „für eine bestimmte Art zu denken und zu schreiben, eine philosophische Haltung, die sich im Laufe der 60er Jahre in Frankreich entwickelt hat.“257 Das Spektrum der Positionen ist dementsprechend breit und beschreibt eher eine Tendenz als eine klar definierbare philosophische ‚Schule‘. Dennoch lassen sich folgende Gemeinsamkeiten benennen: a) Die Auflösung binärer Oppositionen und des dichotomischen Denkens bei Betonung von Hybridität, Vielschichtigkeit und der Interdependenz von Politik und Ästhetik. b) Die Hinwendung zu einer zeitlichen und räumlichen Erweiterung der Überschreitung sowie die Betonung der Differenz, der Kontingenz des Sinns, der Schwellen- und Zwischenräume. c) Die Frage nach dem Gesellschaftsbezug und dem subversiven Potential von Kunst und Kultur. d) Die Interdisziplinarität der Vorgehensweise und Reflektion der und Intervention in die Form (des Schreibens). Innerhalb dieser Aufzählung der Gemeinsamkeiten kommt es notgedrungen zu Vereinfachungen und einer Nivellierung der feinen Unterschiede. Ohne diesen im Einzelnen nachzugehen, soll exemplarisch eine Differenz herausgearbeitet werden, die bedeutsam für die Argumentation dieser Arbeit ist: das divergierende Verständnis des Sadismus und Masochismus bei Bataille und Deleuze/Guattari. Stellt für Bataille de Sade aufgrund seiner ausschweifenden und überschreitenden Erzählungen einen wichtigen Bezugspunkt dar, ist für Deleuze

256 Kuhn: Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden, S. 86. 257 Münker/Roesler: Poststrukturalismus, S. IIX.

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Sacher-Masoch die entscheidende Referenz, der er in seinem Text Sacher-Masoch und der Masochismus (1969) nachgeht.258 Fokussiert sich Bataille auf die Überschreitung menschlicher, gesellschaftlicher und religiöser Grenzen in der Verausgabung, widmen sich Deleuze/Guattari verstärkt der Minorisierung und dem Unscheinbar-Werden. Hier wird das Umdenken des Begriffs Grenzüberschreitungen deutlich, das in dieser Arbeit herausgearbeitet werden soll: Nicht das Darüberhinaus-gehen ist entscheidend wie noch bei Bataille, sondern das Unterbrechen, Infragestellen und gleichzeitige Dynamisieren der Grenzbewegung bei Deleuze. Bevor im Folgenden näher auf einzelne philosophische Positionen eingegangen wird, sei auf eine generelle Schwierigkeit bei der Auseinandersetzung mit poststrukturalistischer Theorie verwiesen. Konsequenterweise versuchen diese nicht nur auf theoretischer Ebene grenzüberschreitend und damit nicht-hierarchisch und kategorisierend zu argumentieren, sondern auch auf formaler Ebene. Angestrebt wird ein ‚umfassender Horizont‘ im Sinne Benjamins, der sowohl die Form als auch den Inhalt umfasst.259 Dies drückt sich sowohl in der Schreibweise und der Wahl der Begriffe aus, als auch im Verzicht auf Ordnungsund Hierarchisierungsschemata.260 Zudem wird häufig auf die subjektive Perspektive zurückgegriffen bzw. der Autor verdoppelt, wie bei Deleuze/Guattari, um die Kritik an einer objektiven Wissenschaft zu

258 In diesem argumentiert Deleuze gegen die Abwertung des Masochismus durch Freud und Lacan, indem er diesen von der engen Bindung an den Sadismus löst und die in ihm enthaltene spezifische Wunschorganisation hervorhebt. „Das masochistische Phantasma erscheint von daher als Variante des allgemein geforderten Wunsch-Werdens: Als Prozess, in dem sich das Subjekt in der Austreibung des väterlichen Gesetzes von ‚falschen Einheitsstiftern‘ befreit und zu vielfältig-unwahrnehmbaren (In)Dividuationen mutiert. Während im Sadismus allein das Überich regiere und Natur, Gesetz und Ich gleichermaßen vernichte, walte im Masochismus ein mütterliches Gesetz, welches sich in der Inszenierung einer Unterwerfungsanordnung selbst karikiere und in seinem ProformaVertrag dekonstruiere.“ (Ott: Deleuze, S. 88.) 259 Vgl. Benjamin: Der Autor als Produzent, S. 684. 260 Prominente Beispiele für die Verweigerung repräsentativer und hierarchisierender Ordnungsprinzipen sind Barthes' Fragmente einer Sprache der Liebe, in der er auf das Alphabet als Ordnungsprinzip zurückgreift sowie Deleuze/Guattaris Buch Tausend Plateaus, in dem auf jegliches Ordnungsprinzip verzichtet wird und stattdessen auf Mannigfaltigkeiten, Wiederholungen und Querverbindungen gesetzt wird.

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unterstreichen. Das Ergebnis ist eine Vervielfältigung der Lese- und Interpretationsmöglichkeiten, die nicht selten mit Überforderungen verbunden sind. Bei Deleuze/Guattari rufen vor allem ihre Begriffsschöpfungen Irritationen hervor. Die Autoren ‚erfinden‘ Begriffe, in dem sie diese aus anderen Kontexten entwenden und mit neuen Bedeutungen aufladen. Damit werden dominante Diskurse und Bedeutungskonstruktionen aufgebrochen und in Bewegung versetzt, was jegliche Form der Festschreibung erschwert. Da sie immer in ihrem Werden und im Verhältnis zu anderen Begriffen und Kontexten zu denken sind, entziehen sie sich just in dem Moment, indem man versucht die Begriffe auf den Punkt zu bringen. Diese Wirkung wird durch eine Schreibweise noch gesteigert, die mit Hilfe der Methode der Wiederholung und Differenz Themen eher umkreist und von verschiedenen Perspektiven beleuchtet, als sie zu klären. In seiner Deleuze-Biografie thematisiert Jäger die damit einhergehenden Schwierigkeiten im Umgang mit dessen Philosophie: „Das Deleuzsche Denken entfaltet sich nicht linear; es gibt verschiedene Problembereiche, die in zeitlich verschiedenen Perioden immer wieder aufgenommen und modifiziert werden. Grundlegende Fragestellungen zielen auf das Werden, die Bewegung oder das Ereignis. Wie kann dies gedacht werden in einer nicht-dialektischen Manier, sondern so, dass die jeweilige Singularität erhalten bleibt?“261

Anders gefragt: Wie kann der Verzicht auf eine Ordnung, den die Autoren konsequent durch Interventionen in ihre eigene Form umsetzen, beim Schreiben über diese Autoren aufrechterhalten werden? Auch Derrida entwickelt in seinen Schriften eine eigene Ordnung, die klassischen, wissenschaftlichen Abhandlungen entgegensteht. Seine Schreibweise stellt aufgrund ihrer Literarizität und Zitathaftigkeit eine Herausforderung dar, als auch aufgrund ihrer inhaltlichen Unzugänglichkeit.262 Dabei ist diese Überforderung seiner Leser gewollt, um ihnen damit ein inhaltliches Konzept näher zu bringen, das bestimmt wird von der unabschließbaren Bewegung des Hinterfragens von metaphysischen Begebenheiten.263 Zu diesem Zweck sind zahlrei-

261 Jäger: Deleuze, S. 9. 262 Vgl. Derrida: Positionen, S. 22f. 263 Dieses Hinterfragen vollzieht Derrida mit Hilfe der Grammatologie. Sie hat die Aufgabe „alles, was den Begriff und die Normen der Wissenschaftlichkeit mit der Ontotheologie, mit dem Logozentrismus und dem Phonologismus verbindet, [zu] dekonstruieren. Das ist eine immense und

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che Fallen und Lektürehindernisse eingebaut, um die gewohnten Identifizierungsprozesse zu unterbrechen und die Reflexion über die eigene Arbeitsweise nicht abbrechen zu lassen. Dies führt dazu, dass die Texte Derridas verschiedene Lektüren ermöglichen und mehrere Sinnebenen enthalten. Peter Engelmann bringt es auf den Punkt: „Nichts liegt Derrida ferner, als die Lektüre seiner Texte auf einen in ihnen zu suchenden Sinn festlegen zu wollen. Das heißt aber auch, dass viele Lektüren möglich sind.“264 Es wird demnach nie gelingen, sich Derridas Texte – und dies gilt gleichermaßen für Bataille und Deleuze/Guattari – komplett anzueignen. Diese Aporien gilt es jedoch auszuhalten.265 Die hier vorgenommenen Lektüren sind in diesem Sinne nur (temporäre) Annäherungen – Zwischenzustände. 1.4.1 (Post-)strukturalistische Einzelpositionen Die Vorstellung einzelner Autoren beginnt mit Bataille, der sich als einer der ersten intensiv mit der Bewegung und dem Begriff der Überschreitung auseinandersetzt hat, gehorcht dann aber keiner verbindlichen Ordnung. Dies wäre auch deshalb schwierig, weil die Positionen miteinander vernetzt sind und sich gegenseitig aufeinander beziehen. So entstehen konzentrierte Fokussierungen auf das jeweilige Verständnis und den Gebrauch des Begriffs der Grenzüberschreitungen, die z.T. aufeinander aufbauen oder aneinander anknüpfen. Ein Fokus liegt auf der Interdisziplinarität der einzelnen Ansätze, die sich generell als Charakteristikum poststrukturalistischer Positionen bezeichnen lässt. So überlagern sich literatur- und sprachwissenschaftliche Ansätze mit politischen und ideologiekritischen Fragestellungen bei Barthes, Foucault und Derrida und münden in einer umfassenden Gesellschaftstheorie bei Deleuze/Guattari und Rancière. Die Betonung der Bewegung und des unabschließbaren Prozesses der Überschreitungen schließt dabei die Forderung nach der Reflexion des eigenen Standpunktes und Arbeitsweise mit ein, um die Kritik an einem dichotomischen Denken nicht selber zu reproduzieren und die eigene Position als hintergehbar und beweglich zu charakterisieren.

unendliche Aufgabe, bei der darauf zu achten ist, daß das Überschreiten des klassischen Vorhabens der Wissenschaft nicht erneut in vorwissenschaftlichen Empirismus verfällt.“ (Derrida: Positionen, S. 80f.) 264 Derrida: Positionen, S. 17. 265 Vgl. Kimmerle: Derrida, S.133. Er präzisiert: „Worauf es ankommt, ist vielmehr, das Paradox auszuhalten, auf immer neuen Wegen die Randzonen (marges) zu erkunden, in die man gelangt, wenn man die Metaphysik verlässt und eine neue Position nicht erreicht hat.“ (S. 164)

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Neben den theoretischen Auseinandersetzungen werden deshalb auch formale und inhaltliche Überschreitungen in der Arbeitsweise der Theoretiker beschrieben. Diese zeigen sich u.a. in der Thematisierung und Auslotung der Grenzen der eigenen Sprache, des Denkens und der Vernunft im Allgemeinen. Sie münden in das Konzept einer (Grenz-)Haltung, das den Überschreitungsgedanken umfassend (in Bezug auf Form und Inhalt) umzusetzen versucht und die eigene Forschung und Schreibweise als permanentes Grenz-werden entwirft. George Bataille George Bataille wird aufgrund seines Todes im Jahr 1962 selbst eher als Vordenker der Poststrukturalisten denn als Poststrukturalist bezeichnet. Von Andreas Hetzel und Peter Wiechens wird er als einer der „bedeutendsten Inspirationsquellen der – sei es als poststrukturalistisch, dekonstruktivistisch oder postmodernistisch bezeichneten – philosophischen Strömungen unserer Zeit [beschrieben]“.266 Sie begründen dies mit seiner Vorwegnahme der Hinwendung an das Heterogene bzw. seiner Betonung all der nicht-rationalen Momente unproduktiver Verausgabung und intensiver, affektiver Reaktionen, die er auch in seinem eigenen Denken und Schreiben auslotet. So thematisiert Bataille stets auch die Grenzen der (eigenen) diskursiven Sprache und der Subjektivität. Sein Denken zeigt sich als ein fließendes, gleitendes, das die Grenzen der Sprache und der Erkenntnis zu überschreiten versucht.267 Zu einem Vordenker der Poststrukturalisten wurde er außerdem aufgrund seiner interdisziplinären Arbeitsweise, für die er sich über die Grenzen von Diskursformen, Disziplinen und sozialen Konventionen hinweggesetzt hat. Durch das Verfassen wissenschaftlicher wie literarischer Texte lotete er die jeweiligen Grenzen der Disziplinen aus. Er griff Ideen aus Philosophie, Soziologie, Ethnologie, Psychoanalyse, Theologie aber auch aus der künstlerischen Strömung des Surrealismus auf.268 Seine Interdisziplinarität manifestiert sich insbesondere in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift documents, die 1929 gegründet wurde und bis 1931 existierte. Die Zeitschrift galt als

266 Hetzel/Wiechens: Bataille, S. 8. 267 Vgl. Hetzel/Wiechens: Bataille, S. 10. Vgl. auch Bürgers Kommentar zur Lektüre Batailles: „Der Interpret sieht sich mit einer Struktur konfrontiert, die man als fundamentale Zweideutigkeit bezeichnen kann. Zweifellos ist es Bataille ernst mit dem, was er schreibt [...]: das Denken Batailles hat etwas Schlafwandlerisches; beim Namen genannt, stürzt es ab.“ (Bürger zit.n. Wiechens: Bataille, S. 23f.) 268 Vgl. Hetzel/Wiechens: Bataille, S. 8.

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internationales, interdisziplinäres wie intermediales Unternehmen, das sich neben der Kunst und Literatur vor allem durch ein ethnographisches und archäologisches Interesse auszeichnete. Diese Disziplinen rahmten die ‚schönen Künste‘ und brachten das Hässliche und Primitive mit ins Spiel.269 Besonders Bataille widmete sich dem Gewaltigen und Sexuellen und setzte auf „Künstliches wie Natürliches, auf Heiliges und Abgründiges, auf bemerkenswerte Einzelaspekte des Lebendigen wie des Toten“.270 Die Überschreitungen des ‚Normalen‘ fanden dabei auf inhaltlicher und formaler Ebene statt. So bedingte die Form des Kritischen Wörterbuchs, eines Lexikons, das regelmäßig in der Zeitschrift veröffentlicht wurde, die Auflösung einer ordnenden Klassifizierung und Hierarchisierung, statt derer ein Interesse an einer gleichschwebenden Aufmerksamkeit gegenüber den Objekten trat, seien sie kunsthistorischer, archäologischer oder materieller Art.271 Sowohl als Theoretiker und Schriftsteller hat sich Bataille intensiv mit menschlichen Grenzerfahrungen, mit sinnlichen und körperlichen Entgrenzungen beschäftigt. Wiederholt untersucht und beschreibt er Überschreitungen moralischer und religiöser Regeln in Sexualität, Gewalt und Tod, wobei er die nicht-kontrollierbaren gewalttätigen oder unterbewusst ablaufenden Handlungen betont. Sein Interesse gilt den abseitigen, diskreditierten Verhaltensweisen, einer Ökonomie der Verausgabung und der Verschwendung. Er beschäftigt sich mit dem Ausgeschlossenen und Heterogenen einer Gesellschaft, womit beunruhigende Phänomene wie Verwirrung, Abscheu, Gewalt, Angst gemeint sind, die von jeder Form des Systems ausgeschlossen sind.272 „In seinen Texten geht er Ab-orten nach, verdrängten oder mit Tabus belegten Bereichen, spürt Abweichungen oder Bizzarien der Natur auf,

269 Vgl. Kritisches Wörterbuch, S. 99. 270 Vgl. Kritisches Wörterbuch, S. 111. 271 So bedingte die Form des Kritischen Wörterbuchs, eines Lexikons, das regelmäßig in der Zeitschrift veröffentlicht wurde, die Auflösung einer ordnenden Klassifizierung und Hierarchisierung, statt derer ein Interesse an einer gleichschwebenden Aufmerksamkeit gegenüber den Objekten trat, seien sie kunsthistorischer, archäologischer oder materieller Art. Die Einträge des Lexikons wurden 2005 unter dem Titel Kritisches Wörterbuch veröffentlicht. Um die Wirkung dieser ungewohnten Form zu beschreiben, spricht Bois im Nachwort von einem der wirksamsten Sabotageakte von Bataille gegen die akademische Welt und den Geist des Systems (vgl. S. 120). 272 Vgl. Wiechens: Bataille, S. 12.

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untersucht Un-dinge.“273 Laut Wiechens steht im Zentrum von Batailles Theorie die Erfahrung der Grenzüberschreitung, die zwischen Angst und Entsetzen auf der einen Seite und intensiven Verlangen und Lust auf der anderen Seite angesiedelt ist.274 „Nur der Tod und das Verlangen haben beklemmende, atemberaubende Kraft. Nur die Maßlosigkeit des Verlangens und des Todes ermöglichen, die Wahrheit zu erlangen.“275 Im Tod und im Verlangen geht es um Erfahrungen des über sich Hinausgehens und des Ausbrechens aus vorgegebenen rationalen Verhaltensweisen. Diese heterogene Realität ‚der Kraft und des Chocs‘, findet sich laut Bischof im mythischen Denken der Primitiven, in den Traumvorstellungen, im Märchen und der inneren Erfahrung der Erotik wieder, die Bataille wiederholt in seinen theoretischen wie literarischen Texten untersucht und beschrieben hat.276 Zwei Dinge sind für Batailles Verständnis von Überschreitungen zentral: Das Heraustreten aus der rationalen Verhaltenslogik in der Überschreitung und die damit einhergehende Auflösung von Dichotomien wie richtig/falsch, gut/böse. Indem er die enge Verbindung von Verbot bzw. Grenze und deren Überschreitung aufzeigt, unterläuft er die Vorstellung, diese würden sich antagonistisch gegenüberstehen. Er arbeitet heraus, dass das Verbot nicht ohne die Überschreitung gedacht werden kann, da Verbote und Regeln Strategien der Überschreitung und damit einhergehende Prozesse der Subjektwerdung erst hervorbringen. Hervorgehoben wird damit die konstitutive Funktion von Grenzen und Verboten. Bataille betont, dass Verbote nicht zur Elimination von Gewalt und Tod führen, sondern die Voraussetzung bilden für ihre (periodisch erfolgende) Überschreitung, wie sie in heutiger Zeit z.B. bei (rituellen) Festen, dem Karneval oder Fußballspielen zu beobachten ist. Verantwortlich dafür ist einerseits die Attraktivität der Überschreitung und andererseits die gesellschaftliche Funktion, die dieser inhärent ist: „Der Mensch bezieht seine menschliche Würde aus der Einhaltung der Verbote; aber aus der Überschreitung dieser Verbote entspringt für ihn die souveräne Würde.“277 Ist die menschliche Würde an die objektive Welt der Arbeit und die Einhaltung ihrer Gebote geknüpft, entsteht in der Überschreitung dieser Gebote und der Verausgabung die souveräne Würde. Entscheidend ist die enge Kopplung von Grenze und Überschreitung, die zu einer unabschließbaren

273 274 275 276 277

Wiechens: Bataille, S. 13. Vgl. Wiechens: Bataille, S. 9. Bataille: Das Unmögliche, S. 7. Vgl. Bischof: Über den Gesichtspunkt, S. 101. Bischof: Über den Gesichtspunkt, S. 94.

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Bewegung der Übertretung führt. Grenzen und deren Überschreitungen sind für ihn konstitutiv und nicht endend: „In der Überschreitung als philosophischem Gestus wird die Grenze weder negiert noch aufgehoben; die Überschreitung bejaht im Gegenteil die Grenze, indem sie sie verletzt; aber sie affirmiert die Grenze nicht. Denn sie bejaht auch und vor allem, was die Grenze verneint. Die Überschreitung entfesselt das Ausgeschlossene, das sie mit der Gewalt seiner Energie zur Gegenwart zitiert.“278

Das Überschreiten der Grenzen wird hier als Verbindung zum Unbewussten der Gesellschaft, als produktiver und zugleich dynamischer Moment gedacht. Die Beschäftigung mit Überschreitungen ist bei Bataille eng an die Frage der Souveränität des Subjekts gebunden. In seinem Buch Die Souveränität (1956) legt er dar, dass sich Souveränität in der Weigerung zeigt, sich subordinieren zu lassen (z.B. unter Gott oder den König) und andere sich zu subordinieren.279 Laut Bataille wird erst durch den Tod Gottes ein Erfahrungsraum eröffnet, innerhalb dessen der Mensch, die früher von Gott in Anspruch genommene Totalität und Souveränität für sich beanspruchen kann. Ausgehend von Beobachtungen archaischer Gemeinschaften und ihrer Opferrituale nennt er verschiedene Grenzerfahrungen subjektiver und gesellschaftlicher Art, die die Verbindung mit der ‚Totalität des Seins‘ zum Ziel haben. Diese Totalität meint das Verlangen der Menschen nach einer als lustvoll empfundenen Aufhebung der eigenen Grenzen, der Einsamkeit und Isolation, die aber häufig mit dem Ausschluss aus der Gesellschaft und der Selbstaufgabe verbunden ist. Verallgemeinernd sieht er in ekstatischen Zuständen wie sie in Festen, in Gewaltexzessen oder der Sexua-

278 Bischof: Über den Gesichtspunkt, S. 117. 279 Diesen Aspekt hebt Menke in seinem Aufsatz Ästhetische Souveränität hervor (vgl. S. 304). Er liest Batailles Ausführungen zur Souveränität als Kritik an den politisch-revolutionären Avantgarden. Statt wie diese in einer totalen Unterwerfung unter die Macht der Dinge zu enden, plädiert Bataille für eine souveräne Kunst, die eine Souveränität ohne Herrschaft ermöglicht. Seiner Meinung nach wird die Kunst souverän, weil sie die Grenze zum Leben überschreitet und sich dem Leben aussetzt. „Souveränität der Kunst heißt nicht, dass die Kunst unser Leben (im Ganzen) beherrscht, sondern dass die Kunst die souveräne Freiheit als eine Macht in unserem Leben geltend macht, die wir nicht beherrschen können.“ (S. 307)

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lität in Erscheinung treten, Möglichkeiten einer souveränen Erfahrung (der Totalität). Diese ist jedoch immer als ambivalente zu denken, denn für Bataille ist die Erfahrung der Totalität an unkontrollierte, affektive und gewalttätige (also subjektdezentrierenden) Vorgänge und Überschreitungen gebunden. Souveränes Leben ist für ihn nicht in die Grenzen nützlicher Produktion eingeschlossen, sondern „etwas anderes: Preisgabe, Sich-Verströmen, Einbruch des Unerwarteten“280. Es geht mit Bischof erst aus der Zerstörung zweckrationaler Zusammenhänge hervor.281 Michel Foucault In seinem – Bataille gewidmeten – Aufsatz Vorrede zur Überschreitung282 (1963) verfolgt Foucault das von Bataille entwickelte Konzept der Überschreitung weiter. Wie dieser geht er von den im Umgang mit Sexualität und dem Tod Gottes gemachten Erfahrungen aus, die er als einzigartige Erfahrungen bezeichnet.283 Sie berühren zugleich die Grenzen unseres Bewusstseins, des Gesetzes und unserer Sprache. Da das Denken an eine Sprache gebunden ist, die „uns gerade diese Möglichkeit als Denken entzieht und sie bis zur Unmöglichkeit der Sprache zurückführt“,284 sind es jene Grenzen, an der das Sein der Sprache fraglich wird und das philosophische Subjekt an seine Grenzen kommt. Foucaults Interesse gilt zunächst den Mechanismen und Strukturen, die die Grenzen errichten, als auch auf die in der Überschreitung

280 Bürger: Ursprung des modernen Denkens, S. 50. 281 Vgl. Bischof: Über den Gesichtspunkt, S. 92. 282 Interessanterweise ist dieser Aufsatz in früheren Schriften mit Der Begriff der Übertretung übersetzt worden, was noch stärker das Bild eines die Grenze übertretenden Menschen hervorruft, während Überschreitung wesentlich offener klingt. Ich greife auf die neuere Übersetzung von Daniel Defert und Francois Ewald zurück, die in Schriften zur Literatur (dt. 2003) enthalten ist. 283 Vgl. Foucault: Vorrede zur Überschreitung, S. 68. Miller beschreibt in seiner Biografie Die Leidenschaft des Michel Foucault Grenzerfahrungen, die Foucault auch am eigenen Leib ausprobiert hat: „Durch Trunkenheit, Traumvorstellungen, dyonisisches Sich-Gehen-Lassen des Künstlers, quälende asketische Praktiken und ungezügelte Erforschung sado-masochistischer Erotik schien es, wenn auch nur kurzfristig, möglich, die Grenze zwischen Bewusstem und Unbewussten, Vernunft und Unvernunft, Lust und Schmerz sowie, an den äußersten Grenze, Leben und Tod zu durchbrechen.“ (S. 43) 284 Foucault: Vorrede zur Überschreitung, S. 74.

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enthaltenden Möglichkeiten und Momente des Widerstandes. Im Anschluss an Bataille weist er auf die gegenseitige Bedingtheit von Grenzen und Überschreitungen hin: „Die Grenze und die Überschreitung verdanken einander die Dichte ihres Seins: Eine Grenze, die absolut nicht überquert werden könnte, wäre inexistent; umgekehrt wäre eine Überschreitung, die nur eine scheinbare, oder schattenhafte Grenze durchqueren würde, nichtig.“285 Grenze und Überschreitung sind somit in einem endlosen Spiel miteinander verbunden. „Das Spiel der Grenzen und der Überschreitung scheint von einer schlichten Beharrlichkeit beherrscht: Die Überschreitung durchbricht eine Linie und setzt unaufhörlich aufs Neue an, eine Linie zu durchbrechen, die sich hinter ihr sogleich wieder in einer Welle verschließt, die kaum eine Erinnerung zulässt und dann von neuem zurückweicht bis an den Horizont des Unüberschreitbaren.“286

Die Grenze als Linie, die sich in der Überschreitung der Welle zum Grenzraum erweitert. Auf der sich im Moment etwas ereignet und gleichzeitig ein unabschließbarer Prozess stattfindet. „Die Überschreitung ist eine Geste, die die Grenze betrifft; dort, in dieser Schmalheit der Linie, zeigt sie sich blitzartig als Übergang, vielleicht aber auch in ihrem gesamten Verlauf und sogar in ihrem Ursprung. Die Strichlinie, die sie kreuzt, könnte durchaus ihr ganzer Raum sein.“287 Die ‚Schmalheit der Linie‘ vermag einen ‚ganzen Raum‘ eröffnen. Die Grenzüberschreitung ermöglicht quasi die Verbindung mit dem Unbegrenzten. „Die Grenze, die beide trennt, ist auch eine gemeinsame Grenze, die das eine mit der anderen in Beziehung setzt.“288 Diesen Gedanken entwickelt Foucault in seinen Untersuchungen zum Denken des Außen (1966) fort. In diesem Aufsatz beschreibt er das Außen nicht mehr als etwas hinter der Grenze befindendes, sondern als einen Zustand, der mit dem Innen durch eine dynamische Grenze verbunden ist. Innenwelt und Außenwelt sind also in einer Bewegung der unendlichen Überschreitung miteinander verbunden und lassen sich nicht ohne das jeweils andere denken. Laut Deleuze sind Grenzen für Foucault eine bewegliche Materie „belebt von peristaltischen Bewegungen, von Falten und Faltungen, die ein Innen bilden: nicht etwas

285 286 287 288

Foucault: Vorrede zur Überschreitung, S. 69. Foucault: Vorrede zur Überschreitung, S. 68. Foucault: Vorrede zur Überschreitung, S. 68. Deleuze: Foucault, S. 94.

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anderes als das Außen, sondern genau das Innen des Außen“289.In dieser Bewegung an der Grenze entsteht eine Zwischenzone, die sich durch die Gleichzeitigkeit von Innen und Außen auszeichnet und von Deleuze mit dem Bild der Falte veranschaulicht wird. Sie ähnelt einer Hautpore mit einem kleinen Zugang zum Außen und einem relativ großen Innenraum.290 Alain Badiou verwendet zur Veranschaulichung der Falte das Bild eines geknickten Blatt Papier.291 An der geknickten Stelle entsteht ein Bruch, der jedoch keine Grenze bildet, da beide Seiten und die Grenze selbst durch das gemeinsame Material Papier miteinander verbunden sind. Gleichwohl handelt es sich um einen Ort und eine Denkart, die sich – obwohl aus dem Innen kommend – „jenseits aller Subjektivität hält, um deren Grenzen gewissermaßen von außen sichtbar zu machen, ihren Zweck zu benennen, ihre Zerstreuung aufzuzeigen und nur ihre unaufhebbare Abwesenheit festzustellen.“292 Es ist eine unendliche Bewegung auf der Grenze, die Innen und Außen permanent verbindet, überschreitet und verschiebt. Foucault spricht auch von einer „durch nichts jemals begrenzte[n] Bewegung“293. In den Worten Judith Butlers handelt es sich „um eine immerwährende Beweglichkeit, um eine wesenhafte Zerbrechlichkeit: um eine Verstrickung zwischen Prozesserhaltung und Prozessumformung“294. Diese unabschließbaren Grenzbewegungen lassen sich auch als Grenzhaltung beschreiben. Diese ist charakterisiert durch eine permanente Selbstkritik und Suche nach Formen des Nicht-so-regiertwerden-wollens. Laut Butler ist die Beziehung zu sich kritisch ist in dem Moment, in dem „sie keiner gegebenen Kategorie folgt, sondern vielmehr eine fragende Beziehung zum Feld der Kategorisierungen

289 Deleuze: Foucault, S. 134f. Die paradoxe Verbindung von Außen und Innen ähnelt der Gleichzeitigkeit von Nähe und Ferne, wie sie schon Benjamin mit seinem Satz über den Begriff der Aura zu fassen versuchte: „Diese letztere [die Aura der natürlichen Gegenstände, Anm. ALW] definieren wir als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.“ (Benjamin: Das Kunstwerk, S. 15.) 290 Zum Bild der Falte vgl. die Skizze in seinem Buch über Foucault, S. 169. 291 Vgl. Badiou: Deleuze, S. 125. 292 Foucault: Das Denken des Außen, S. 674. 293 Vgl. Foucault: Vorrede zur Überschreitung, S. 68. Ähnlich spricht Ewald von einer Bewegung „ohne Absonderung, endlos redundant und ohne Äußeres.“ (Ewald: Macht ohne draußen, S. 170.) 294 Butler: Was ist Kritik?, o.S. Der Aufsatz ist eine Replik auf Foucaults Überlegungen zu den Fragen Was ist Kritik? (1978) und Was ist Aufklärung? (1984).

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selbst konstituiert und sich dabei zumindest implizit auf die Grenze des epistemologischen Horizontes bezieht, innerhalb dessen Praktiken geformt werden.“295 An der Grenze und in der Überschreitung ergeben sich Möglichkeiten aus der Erkenntnis herauszutreten und auf diese Weise die Konstituierungsbedingungen der Subjekte zu hinterfragen und neu zu konstituieren. In den Worten Foucaults ist die Kritik „die Analyse der Grenzen und die Reflexion über sie“296. Das heißt, die Praxis der Kritik wird gedacht als permanente Hinterfragung des Selbst, seiner (Erkenntnis-)Grenzen und als Aufzeigen der Grenzen der Regierungsweisen. Butler spricht von der Dialektik zwischen Erkenntniselementen und Zwangsmechanismen, zwischen dem Willen zur Kritik und dem Gefangensein in den Strukturen, die es beständig mitzudenken gilt, da diese die Grenzen des Wissbaren markieren.297 Letztlich geht es darum, alles in Frage zu stellen, ohne sich Ruhe zu gönnen.298 Die Elemente werden in eine Ungewissheit versetzt, die dazu führt, dass „das Denken rasch Schwierigkeiten bekommt, wenn es sie fassen will“299. Dadurch können, wenn nicht Lösungen, so doch Schritt für Schritt spürbare Modifikationen bewirkt werden, die zumindest die Gegebenheiten des Problems verändern.300

Roland Barthes Barthes Interesse an Überschreitungen resultiert aus seinem Anspruch die Natürlichkeit des Zeichens und des Sinns zu erschüttern und in einer permanenten Bewegung zu überschreiten. Aus der Sprachwissenschaft und der Semiotik kommend, verknüpft er seine Forschungen mit Soziologie und Ideologiekritik und gibt ihnen dadurch eine politische Bedeutung. Ähnlich wie Foucault beschäftigt ihn die Frage, wie man der ‚Macht der Bedeutungen‘, die zugleich die Macht der herrschenden Klasse ist, etwas entgegensetzen kann, ohne deren Strategien zu reproduzieren. Am deutlichsten wird dies in Die Mythen des Alltags (1957). Hier analysiert er Alltagsphänomene und ihre Bedeutungen, bzw. ihre mythische Aufladung. Im zweiten Teil setzt er diese Mythen in Verbindung mit der (klein-)bürgerlichen Ideologie und zeigt auf diese Weise, wie die Macht über die Zeichen und Bedeutungen eine eminent politische Funktion einnimmt. Statt jedoch an eine politische

295 296 297 298 299 300

Butler: Was ist Kritik?, o.S. Foucault: Was ist Aufklärung, S. 702. Vgl. Butler: Was ist Kritik?, o.S. Vgl. Foucault: Vorrede zur Überschreitung, S. 71. Foucault: Vorrede zur Überschreitung, S. 68. Vgl. da Ponte: Virtuelle Selbstpraktiken, S. 107.

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Revolution zu glauben, plädiert Barthes für eine Subversion auf der Ebene der Zeichen. Er nimmt eine systematische Erforschung der Bedeutungen und des Sinns vor und verfolgt „ein allgemeines, polyvalentes, multidimensionales Unternehmen der Aufspaltung der abendländischen Symbolik und ihres Diskurses“.301 Hieraus resultiert sein Interesse am Pluralen und Uneindeutigen, an den ‚leeren Zeichen‘ und dem menschlich Intelligiblen, dem Nicht-Bedeutsamen und NichtSinnvollen. Seiner Meinung geht es der Kunst heute hauptsächlich darum, „nicht Sinn zu schaffen, sondern ihn im Gegenteil in der Schwebe zu lassen; Sinn zu konstruieren, ihn jedoch nicht genau auszufüllen“302. Neben der intensiven Beschäftigung mit Bedeutungs- und Sinnkonstruktionen und der Aufdeckung ihres ideologischen Zusammenhangs versucht Barthes den Anspruch des In-der-Schwebe-Haltens von Sinn auch auf formaler Ebene umzusetzen. So vermeidet er in seinem Buch Fragmente einer Sprache der Liebe Hierarchisierungen und Klassifizierungen, in dem er auf das Alphabet als Ordnungsprinzip zurückgreift. In Die helle Kammer verwendet er konsequent die IchForm und schreibt aus der subjektiven Perspektive. Zudem überschreitet seine Schreibweise zunehmend die Grenzen der Wissenschaftlichkeit und wird zu einer literarischen, essayistischen und fragmentarischen. Laut Wolf arbeite Barthes permanent an der Verwebung verschiedener Textebenen und verwische die Grenzen unterschiedlicher Diskurse. Durch diese unendliche Verknüpfung und Rückbezüglichkeit der Texte entstehe ein Übermaß an Heterogenität und Polysemie.303 Dies entspricht dem tiefer liegendem Antrieb des Kritikers die Metasprache zu überschreiten, d.h. zu subvertieren und zu verschieben, statt zu zerstören – für ihn die revolutionäre Aufgabe der Schrift.304 In einem Interview über sein Buch Die Sprache der Mode präzisiert er sein Verständnis von Überschreitung und weist auf deren Ambivalenz hin: „Nun heißt überschreiten aber zugleich anerkennen und umkehren; man muß den zu zerstörenden Gegenstand darstellen und ihn zugleich negieren.“305 Wie dies funktioniert, erläutert er am

301 Barthes: Körnung der Stimme, S. 142. 302 Barthes: Körnung der Stimme, S. 25. Ausführlich widmet sich Barthes der Kultur der (japanischen) ‚leeren Zeichen‘ in seinem Buch Das Reich der Zeichen. 303 Vgl. Wolf: Das, was ich sehe, S. 103. 304 Vgl. Barthes: Körnung der Stimme, S. 60. 305 Barthes: Körnung der Stimme, S. 54. Für ihn stellt der Surrealismus ein Negativbeispiel für eine falsch verstandene Überschreitung dar. „Indem der Surrealismus sich einer einfachen Zerstörung der Bilder widmete

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Beispiel des Mythos. Dieser kann nicht gänzlich ausgerottet werden (es ist nicht möglich, etwas Nichtintelligibles zu schaffen), so dass er zugleich herbeigerufen und kritisiert werden muss. Barthes resümiert: „Es gibt nur eine Sache, die der Schriftsteller der Gesellschaft wegzunehmen vermag: ihre Sprache; doch bevor er sie zerstört, muß er sie ihr ‚stehlen‘; gerade dieser ‚Diebstahl‘, so scheint mir, definiert die neuen Wege der Überschreitung, die der intellektuelle und literarische Diskurs gleichzeitig und in der Form eines unaufhörlichen Austauschs einschlagen.“306

Der Diebstahl als Subversion, als permanente Infragestellung der Sinnkonstruktionen und der sprachlichen Prädispositionen. Wolf spricht von einem „Dazwischen, dem es gleichzeitig gelingt, Altes zu zerstören wie dieses im Neuen fortbestehen zu lassen“307. Barthes verlagert auf diese Weise das Politische auf die Ebene der Sprache. Denn „der Intellektuelle kann die herrschenden Mächte nicht direkt angreifen, aber er kann neue Diskursstile injizieren, um die Verhältnisse in Bewegung zu versetzen“308. Für ihn liegt die Aufgabe der Intellektuellen nicht in der Politisierung, sondern in der Kritik der Sinne und der Kritik des Sinns.309 Er spricht deshalb auch nur ungern von einer linken Literatur und bevorzugt eine ‚problematische‘ Literatur, als einer Literatur des in der Schwebe gelassenen Sinns. Diese vermag den drei Arroganzen zu widerstehen: der doxa (die verbreitete Meinung, den Konsensus), der Wissenschaft (mit ihren Ordnungssystemen und ihrem Wunsch nach Wahrheit) und den Militanten (mit ihren stetig wiederkehrenden Rufen nach Revolution und Umkehrung der Verhältnisse, die mittlerweile zu einem linken Mythos erstarrt sind).310 Statt für eine Revolution plädiert Barthes für Subversion. Das bedeutet: „unterlaufen, um die Dinge zu überlisten, sie umzuleiten, sie an einen anderen Ort zu tragen als den, an dem man sie erwartet.“311 Es geht darum die Kultur in Bewegung zu versetzen, durch die permanente Dekonstruk-

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[…], blieb er auf Seiten einer einheitlichen Logik stehen, deren Gegenposition er bezog, ohne sie […] zu überschreiten: das Gegenteil ist nicht die Kehrseite. Das Gegenteil zerstört, die Kehrseite dialogisiert und negiert.“ (S. 54f.) Barthes: Körnung der Stimme, S. 63. Wolf: Das, was ich sehe, S. 102f. Barthes: Körnung der Stimme, S. 391. Vgl. Barthes: Körnung der Stimme, S. 172. Vgl. Barthes: Körnung der Stimme, S. 232. Barthes: Körnung der Stimme, S. 297.

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tion von Sinn auf inhaltlicher und formaler Ebene. Damit ist ein unendlicher Prozess der Selbstkritik, des Kritisierens der eigenen Sprache und der Frage nach dem eigenen Ort der Rede verbunden. Barthes spricht an dieser Stelle auch von einer Haltung der Reflexivität, die der Grenzhaltung ähnelt, die Foucault entwirft.312

Jacques Derrida Derridas Denken kann als Versuch bezeichnet werden, sich an den Grenzen des philosophischen Diskurses aufzuhalten, um auf die übergeordneten Strukturen aufmerksam zu machen, die metaphysische, hierarchische Traditionen und Annahmen privilegieren. Diese sollen in einem unabschließbaren Prozess der Dekonstruktion zugleich sichtbar gemacht und überschritten werden. Ähnlich wie Barthes arbeitet Derrida unermüdlich an der Aufdeckung der Arbitrarität der Bedeutungen und Sinnkonstruktionen. Zu diesem Zweck zirkuliert er in seiner Textarbeit permanent zwischen dem Innen und Außen der Philosophie, d.h. die Begriffe werden von innen her gedacht und zugleich von außen betrachtet und in ihren Strukturen gespiegelt.313 Seine Methode gleicht damit einem unablässigen Spiel an den Grenzen der Philosophie und der klassischen Wissenschaftlichkeit. Durch dieses Spiel werden die Grenzen zunächst markiert und dann im besten Fall verschoben und umgedeutet. Sein Verständnis von Überschreitungen enthält somit zwei Phasen, die sich auf sein Konzept der doppelten Geste (der ‚double séance‘) zurückführen lassen. Auf das Sichtbarmachen der Grenzen folgt der Versuch ihrer Verschiebung. Auf die Phase des Umbruchs folgt das Darüber-hinausgehen. Dabei ist die Dekonstruktion einmal als umstürzende Dekonstruktion und einmal als positive Verschiebung zu verstehen. Das Beharren auf einer doppelten Geste resultiert aus der Erkenntnis, dass ein Überschreiten als ein Einrichten jenseits der Metaphysik nicht möglich ist, weil man den metaphysischen Codes nicht entkommen kann.314 Münker/Roesler sprechen davon, dass es deshalb nur darum gehen kann „das Scheitern ihrer Begriffe und Theorien vorzuführen, ihre blinden Flecke offen zulegen und die Hierarchien, die sie etablieren möchte, zum Einsturz zu bringen“.315 Damit erklärt sich der Versuch, statt Grenzen zu überwinden, Verschiebungen einzuführen und das philosophische Feld für andere Weisen des Schreibens hin zu öffnen. Statt die Geste der Überschrei-

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Vgl. Barthes: Körnung der Stimme, S. 170. Vgl. Derrida: Positionen, S. 38. Vgl. Derrida: Positionen, S. 47. Münker/Roesler: Poststrukturalismus, S. 48.

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tung als Überwindung zu verstehen, ließe sich von der Initiierung eines unabschließbaren Prozesses sprechen. An die Stelle eines einfachen Ursprungs tritt „nicht ein anderer, sondern ein Ursprungsgeschehen, das in sich different bleibt, weil es zumindest zweipolig erläutert werden muß“316. Das hierarchische Denken wird zu einem Denken des Nebeneinanders und Zugleichs, in dem sich der Sinn permanent entzieht und Zonen der Ununterscheidbarkeit entstehen. Der Sinn sollte nie einen Halt finden, sondern immer ein aufgeschobener sein. Bürger bemerkt eine Vorliebe Derridas „für den sich entziehenden Sinn, für die Ununterscheidbarkeit der Textbedeutung, für die Unmöglichkeit, die Grenze eines Textes zu bestimmen“317, da sich immer wieder neue Lesarten und Interpretationen ergeben. Um nicht wieder in das Denken der Binaritäten zurückzufallen und die Begriffe aus ihrem angestammten Terrain (und einem Ursprungsdenken) zu lösen, führt Derrida ‚neue‘ Begriffe ein und experimentiert mit der eigenen Form/Schreibweise. Dabei werden die ‚alten‘ Begriffe nicht einfach überwunden, sondern durch einen unabschließbaren Prozess und ein Spiel mit ihren Differenzen und Mehrdeutungen in Bewegung versetzt. Laut Derrida sollte man Begriffe „im Rahmen der Semiologie selbst verändern, verschieben, sie gegen ihre Voraussetzungen ausspielen, sie in andere Ketten neu einschreiben und nach und nach das Arbeitsgebiet umgestalten, um auf diese Weise neue Konfigurationen zu erzeugen“318. Er versucht Begriffe und Zeichen zu erfin-

316 Kimmerle: Derrida, S. 45. 317 Bürger: Postmodernes Denken, S. 77. Bürger verweist außerdem auf den häufigen Gebrauch des Begriff des ‚Gleitens‘ bei Derrida. Er steht für das Operieren zwischen den Grenzen und der Verweigerung von Sinnzuschreibungen. Das Gleiten ist die Erfahrung „eines Schreibens, das sich der Verpflichtung auf Sinnproduktion entzieht, das es weder auf der Gewissheit des Selbstbewusstseins noch auf der Sicherheit der Begriffsverwendung beruht. Dieses Gleiten des Sinns ist nicht mit dem Nicht-Sinn zu verwechseln, der zum Sinn noch im Verhältnis eines einfachen Gegensatzes stünde; vielmehr bricht es die Brücke zur sinnhaften Rede nie ganz ab und hält sich so zwischen Sinn und Nicht-Sinn in der Schwebe. So kann Derrida dieses Schreiben als eines bestimmen, das sich jeglicher Bestimmung entzieht. Es ist weder wahr noch falsch, weder wahrhaftig noch unaufrichtig, sondern wird von diesen den Diskursen kontrollierenden Gegensätzen gerade verfehlt.“ (S. 75) Nicht das Chaos ist das Ziel, sondern das Gleiten, die permanente Bewegung des In-derSchwebe-Haltens des Sinns. 318 Derrida: Positionen, S. 63.

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den, die er als das Unentscheidbare bezeichnet, weil sie im unendlichen Spiel der Differenzen gefangen sind. Es sind Scheineinheiten, „die nicht mehr innerhalb des (binären) philosophischen Gegensatzes verstanden werden können und ihm dennoch innewohnen, ihm widerstehen, ihn desorganisieren, aber ohne jemals einen dritten Ausdruck zu bilden“.319 Die Unabschließbarkeit der Bedeutungskonstitution gilt auch für die Bewegung der Grenzüberschreitung. In ihr vollzieht sich eine Übertretung, die nirgends als vollendete Tatsache präsent ist, sondern sich jenseits der Grenzen kontinuierlich fortsetzt.320 Auf diese Weise wird sowohl der innere Bereich, als auch der äußere Bereich, das, was ‚hinter‘ der Grenze liegt, verändert, aber nie gänzlich überwunden. Die Überschreitung wird als eine Bewegung verstanden, die auf beide Seiten der Grenzen zurückwirkt und sich vor allem als In-BewegungHalten von Bedeutungen (mit Hilfe der différance, der Dekonstruktion oder der doppelten Geste) versteht. Sie wird als produktive und generative Kraft beschrieben, die auf das Nicht-Identitäre abzielt und mit einer Öffnung auf das Andere verbunden ist. Die Überschreitung beschränkt sich dabei nicht auf einen Grenzpunkt, sondern verräumlicht und verzeitlicht sich. Sie wird zu einem dynamischen Geschehen innerhalb eines Verweiszusammenhangs erweitert. Dabei lässt sich – ähnlich wie bei Barthes – eine Modifizierung des Verständnisses von Politik beobachten. Politik wird nicht mehr in ihrer ‚totalitären Bedeutung‘321 thematisiert, sondern ebenfalls als Verweiszusammenhang verstanden, bei dem die Frage der Sinnkonstitution eine zentrale Rolle spielt. Gesucht wird demnach nach Möglichkeiten des Anhaltens, Umdenkens und Verschiebens, um der Reproduktion der immer selben politischen Codes zu entgehen. Nicht die Vereinigung von Philosophie und Politik ist das Ziel, sondern die permanente Überprüfung und Verschiebung dieses Verhältnisses. Philosophie und die Art und Weise, in der sie betrieben wird, wird dabei als eine Art Haltung verstanden. „Die Philosophie ist in ihrem Dasein und Sosein ein Politikum.“322

Gilles Deleuze/Félix Guattari Die Philosophie Deleuze/Guattaris zeichnet sich durch eine Betonung der Unabschließbarkeit und Prozesshaftigkeit von Ereignissen aus, die einhergeht mit der Fokussierung eines dynamischen Geschehens in

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Derrida: Positionen, S. 90. Vgl. Derrida: Positionen, S. 47. Vgl. Kimmerle: Derrida, S. 89. Kimmerle: Derrida, S. 21.

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Form von Werdensprozessen.323 Das Denken in binären Strukturen wird durch ein Denken in Verkettungen aufgebrochen und dynamisiert. Statt Anfang und Ende werden die Bewegung und das Werden fokussiert. Der Glaube an einen Ursprung wird ebenso hinterfragt, wie die Vorstellung eines endgültigen Geworden-Seins. Statt der Universalien, Wahrheits- und Vernunftansprüche stehen die Zwischenzonen und Mannigfaltigkeiten im Mittelpunkt; es kommt zu einer Hinwendung zum Vielschichtigen und Mehrdeutigen. Ihre Methode lässt sich demnach auch als Heterogenese beschreiben, „als fortgesetzte Hervorbringung von Differentem“.324 Es geht ihnen um die Ablösung eines Denkens der herrschenden Mächte und deren Ordnungsprinzipien, eines Denkens des Identischen und Dialektischen. „Wir fanden keinen Geschmack an Abstraktionen, an der Einheit, am Ganzen, an der Vernunft, am Subjekt. Wir sahen unsere Aufgabe darin, gemischte Zustände zu analysieren, Gefüge, Verkettungen.“325 Die Fokussierung von Gefügen und Verkettungen geht mit dem Aufbrechen und Ausdehnen klassischer Raum- und Zeitkonzepte einher. So entwerfen Deleuze/Guattari einen Raumbegriff, in dem sich Koordinaten und Orientierungen aufgelöst haben. „Er hat weder Grenze noch Horizont, ist weder Innen noch Außen, weder Interieur noch Weite.“326 Stattdessen besteht er aus sich überlagernden Räumen und mehrschichtigen Plateaus. In diesen bilden sich fragile Zwischenzustände, Unbestimmtheits- und Ununterscheidbarkeitszonen. In diesen Plateaus, die auch als Faltungen oder Kreuzungen beschrieben werden, verbinden sich Philosophie, Philosophiegeschichte, Geschichte, Wissenschaft und Künste zu einem weitverzweigten Gefüge.327 Einmal mehr wird hier das Interesse Deleuze/Guattaris an Verkettungen und Verbindungen unterschiedlicher Ebenen und Disziplinen angedeutet.328

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Zu Deleuze/Guattari siehe auch Kapitel 4.2.1.2. Vgl. Ott: Deleuze, S. 46. Deleuze: Unterhandlungen, S. 125f. Vogl: Was ist ein Ereignis?, S. 76. Vgl. Deleuze: Unterhandlungen, S. 233f. Die Interdisziplinarität Deleuze/Guattari zeigt sich insbesondere in ihrem Buch Tausend Plateaus, indem es zu einer umfassenden Disziplinerweiterung durch den Einbezug psychologischer, naturwissenschaftlicher, biologischer, geografischer Fragestellungen und Beobachtungen kommt. Grundlegend ist dabei der Versuch einer Verkettung von Philosophie und Gesellschaftsmaschine. Vor allem der Maschinenbegriff dient dazu, „natürliche und gesellschaftliche Vorgänge als miteinander verbundene produktive Prozesse zu verstehen“. (Ott: Deleuze, S. 98.) So vermag laut

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Grenzen werden dabei stets als Nachbarschaftszonen und Kreuzungspunkte gedacht. Statt die Grenzpunkte als Endpunkte zu verstehen, geht es um die Linien, die diese verbinden und die Linien, die diese Punkte durchkreuzen. Die Autoren sind dabei nicht an einer Auflösung oder Überwindung von Grenzen und Dichotomien interessiert, sondern an der permanenten Bewegung des In-Beziehung-setzens, des Oszillierens zwischen den Zuständen und Gegensätzen, womit auch von einer zeitlichen Erweiterung der Grenzüberschreitung gesprochen werden kann. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass sich die Gegensätze nicht gänzlich auflösen lassen, denn jede Überwindung ist stets an die Konstruktion neuer Grenzen und Binaritäten gebunden, sowie die Dekonstruktion und Hinterfragung von Bedeutung und Wahrheiten mit der Rückkehr von Behauptungen verbunden ist. Grenzüberschreitungen sind somit immer nur temporär und lokal möglich.329 In den Vordergrund rücken damit die Bewegungen und die Austauschprozesse, die Öffnungen und Einschließungen, die innerhalb der Zwischenräume entstehen. Diese unabschließbaren Prozesse der Aneignung, Umschichtung und Zerstreuung bezeichnen die Autoren als De- und Reterritorialisierungen. Diese scheinbar gegensätzlichen Bewegungen sind immer zusammen zu denken und drücken die Verbundenheit von Gegensätzen aus. So ist der gekerbte Raum stets in Beziehung zum glatten Raum zu setzen. Beide existieren „nur wegen ihrer wechselseitigen Vermischung […]: der glatte Raum wird unaufhörlich in einen gekerbten Raum übertragen und überführt; der gekerbte Raum wird ständig umgekrempelt, in einen glatten Raum zurückverwandelt.“330 Dasselbe gilt für Grenzüberschreitungen, die beständig neue Grenzen und Verbote hervorbringen. „Man vollzieht einen Bruch, man folgt einer Fluchtlinie, aber es besteht immer die Gefahr, daß man auf ihr Organisationen begegnet, die das Ganze neu schichten, also Gebilde, die einem Signifikanten die Macht zurückgeben und Zuordnungen

Schmidgen das Konzept der Wunschmaschine die Gegenüberstellungen von Organismus und Mechanismus, Individuum und Gesellschaft, Basis und Überbau zu fusionieren, während die die abstrakte Maschine Sprache und Technik, Semiotik und Materialismus zusammen bringt (vgl. Schmidgen: Begriffszeichnungen, S. 43). 329 Dies trifft auch auf die von Deleuze/Guattari angestrebte Neuerfindung von Begriffen zu. Statt diese gänzlich neu zu erfinden, greifen sie auf Begriffe zurück, die häufig aus anderen Kontexten stammen, versehen sie mit neuen Bedeutungen, so dass sie zwischen ihrem herkömmlichen Sinn und den temporären Aufladungen durch Deleuze/Guattari oszillieren. 330 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 658.

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die ein Subjekt wiederherstellen.“331 In diesem Zitat wird die Schwierigkeit angedeutet, Widerstand auszuüben, bzw. ein Außerhalb (der Macht) zu bilden. Statt die Tatsachen überwinden zu wollen, entwickeln die Autoren mikropolitische Strategien, mit denen die Verhältnisse dynamisiert und/oder unterlaufen werden können. Unterscheiden ließe sich zwischen Strategien des Übertreibens und Überforderns, durch die Betonung der Vielheiten und Mannigfaltigkeiten, und Strategien des Unterwindens und Entziehens durch Prozesse des Kleinund Ununterscheidbarwerdens. Generell lässt sich in der Theorie Deleuze/Guattari einer Hinwendung zu all jenen Praxen beobachten, die normalerweise in der rationalen Denkweise verdrängt werden und deshalb als überzeitliche Grenzphänomene bezeichnet werden können.332 Laut Ott geht es um Werdensprozesse, die überkommene Unterscheidungen durchkreuzen, affektgesteuerte Interaktionsfelder und flüchtige Ereignisse hervorbringen und neue Bereiche des Sichtbaren und Erzählbaren eröffnen.333 Es kommt zu einer Zuwendung zu Zufällen und Widerfahrnissen, zu all jenem, was dem Einzelnen begegnet, ihm zustößt und Gewalt antut; zu den Momenten des Unkontrollierbaren, des Sich-Entziehens von jeglicher Ordnung und Hierarchisierung. Dies zeigt sich in der Hinwendung zum Chaos ebenso wie in der Beschäftigung mit Wahnsinn und Schizophrenie. Auch Strategien wie der Humor und die Ironie entfalten asignifikantes Potential. Zugleich werden die Momente betont, die Sinneseindrücke und intensive Emotionen ungefiltert produzieren bzw. wirken lassen, wie die Kindheit oder die leidenschaftliche Liebe, weshalb Höller von einer Vielzahl antihierarchischer Begehrensartikulationen bei Deleuze/Guattari spricht.334

Jacques Rancière Stärker als die vorgehenden Positionen verhandelt Rancière zentrale Begrifflichkeiten und Fragestellungen des Kunstfeldes und veranschaulicht seine Argumentation mit zeitgenössischen künstlerischen Positionen und Ausstellungen, was u.a. seine aktuelle Beliebtheit im Kunstfeld erklärt.335 Geht es in Die Bestimmung der Bilder um den

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Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 20. Vgl. Ott: Deleuze, S. 99. Vgl. Ott: Deleuze, S. 111. Vgl. Höller: Widerstandsrituale, S. 64. Vgl. die Vielzahl seiner Schriften, die in den letzten Jahren übersetzt bzw. publiziert wurden, die Ausgabe Regime Change. Jacques Rancière and Contemporary Art von Artforum International im März 2007, seine Aufsätze in den documenta-Katalogen 10 und 12 sowie das Symposium

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Bildbegriff, sind in Das Unbehagen in der Ästhetik mehrere Aufsätze versammelt, die sich mit den Vorbehalten gegenüber dem Begriff der Ästhetik auseinandersetzen. Die Frage des (paradoxen) Verhältnisses von Kunst und Politik ist dabei von zentraler Bedeutung und wird in seinem Buch Die Aufteilung des Sinnlichen und in seiner neuesten Publikation Ist Kunst widerständig? untersucht.336 Entscheidend ist, dass Rancière dieses Verhältnis nicht als ein dichotomisches zu denken versucht, sondern in seinem Beziehungsverhältnis darstellt. Er geht dabei vielfach von den Begrifflichkeiten aus, hinterfragt deren Bedeutung und ihren Gebrauch. Interessant ist er zudem, weil er mit seinem Denken disziplinäre und formale Grenzen überschreitet, wie Bettina Funke ausführt: „Rancière set out to break down the great divisions of specialist and amateur, high culture and popular culture, teacher and student, and his refreshing thinking has always placed itself between disciplines, generating discussion rather than closing it down […].”337 Rancière selber sagt über seine Vorstellung von Philosophie, dass diese „zunächst eine Kraft der Deklassifizierung, der Neuverteilung der Aufteilung von anerkannten Gebieten der Disziplinen und Kompetenzen ist“338. Diese Neuaufteilung geht einher mit einer Deklassifizierung und Hinterfragung bestehender Ordnungen und Bedeutungsregime und enthält zugleich Möglichkeiten ihrer Verschiebung und Neuverteilung. Rancières Interesse gilt dabei nicht nur den Überschreitungen und Spannungsmomenten, die mit diesen Neuverteilungen verbunden sind, sondern immer auch den Regimen, die die Gegensätze und verschiedenen Aufteilungen des Sinnlichen zuallererst konstruieren, sie sichtbar und sagbar machen. „Die Aufteilung des Sinnlichen macht sichtbar, wer, je nachdem was er tut, und je nach Zeit und Raum, in denen

Ästhetik und Politik an der HfbK Hamburg im Mai 2007. Seine Beliebtheit erklärt sich auch damit, dass er die beiden zentralen Schlagwörter ‚Kunst und Politik‘ aufgreift und weiterzudenken versucht, womit er dem ungestillten Bedürfnis nach einer Verbindung von Kunst und Politik Rechnung trägt. 336 Auf Rancières Ausführungen zum Verhältnis von Kunst und Politik wird ausführlich in Kapitel 4.2.1.1 eingegangen. 337 Funke: Displaced Struggles, S. 285. Obwohl aus der politischen Philosophie kommend, hat sich Rancière immer auch mit kulturtheoretischen Fragestellungen und künstlerischen Formen (Kunst, Literatur, Film und Tanz) auseinandergesetzt, was sich insbesondere in seinen letzten Publikationen widerspiegelt, die sich den Verbindungen politischer und ästhetischer Themen widmen. 338 Rancière: Ist Kunst widerständig?, S. 61.

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er etwas tut, am Gemeinsamen teilhaben kann. Sie definiert die Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit in einem gemeinsamen Raum und bestimmt, wer Zugang zu einer gemeinsamen Sprache hat und wer nicht etc.“339 Laut Maria Muhle ist es das Ziel von Rancières gegenwärtiger Forschung, „die inneren Zusammenhänge dieses ästhetischen Regimes der Künste und die Formen des Möglichen, die von ihnen bestimmt werden sowie die Art und Weise, in der sie sich verändern, zu untersuchen“340. Rancière widmet sich den bedeutungsgebenden Strukturen, die Dinge und künstlerische Positionen zuallererst sicht- und sagbar machen und weist sie als temporär und veränderbar aus. Er entwirft dabei ein Verständnis von Grenzüberschreitung, das diese als permanenten Prozess der Auflösung und Umwertung von Zuschreibungen versteht, als unaufgelöste Spannung zwischen zwei Widerständen.341 Durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Aufteilungen des Sinnlichen in der Überschreitung entstehen Spannungsmomente und Umdeutungen dieser Aufteilungen, für Rancière die Voraussetzung für Politik, denn Kunst ist dann politisch, wenn sie sich in der Spannung und im Herzen eines Dissenses zwischen verschiedenen Aufteilungen des Sinnlichen bewegt und es schafft, die Umgebung oder Situationen zu verändern und neue Formen von Beziehungen anzuregen.342 Dies passiert z.B. wenn die Aufteilung des Sinnlichen der polizeilichen oder politischen Ordnung mit einer anderen möglichen Aufteilung des sinnlich Wahrnehmbaren korreliert, neue Erfahrungsräume und Subjektivierungsweisen eröffnet und sichtbar werden. In der Kunst entstehen solche Spannungsmomente, wenn sich die Kunst zwischen dem Beharren auf ihrer Autonomie und der Hinwendung aufs Leben bewegt. In den Worten Rancières: „Die Kunst lebt seit zwei Jahrhunderten von genau dieser Spannung [zwischen Selbstrealisierung und Selbstabschaffung in der Konstruktion eines neuen Lebens], die sie zugleich in sich selbst und außer sich selbst sein und eine Zukunft versprechen lässt, die dazu bestimmt ist, unbestimmt zu bleiben. Das

339 Ranciere: Aufteilung des Sinnlichen, S. 26. 340 Muhle: Einleitung, in: Ranciere: Aufteilung des Sinnlichen, S. 23. 341 Vgl. Rancière: The emacipated Spectator, S. 43 und Rancière: Ist Kunst widerständig?, S. 35. 342 Dieser Gedanke korrespondiert dem Politikverständnis, das Rancière in Das Unvernehmen herausarbeitet. Schon hier argumentiert er gegen konsensuelle Systeme und Gemeinschaften, denn diese führen zu einer Identität des (unpolitischen) Ganzen und des Nichts und setzen die Kräfte außer Kraft, die laut Rancière Politik konstituieren.

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Problem ist folglich [...] die Spannung selbst aufrecht zu erhalten, die eines mit dem anderen verspannt, eine Politik der Kunst und eine Poetik der Politik, die nicht zusammenkommen können, ohne sich gegenseitig zu unterdrücken.“343

Daraus folgt: „Damit der Widerstand der Kunst nicht in seinem Gegenteil verschwindet, muss er die unaufgelöste Spannung zwischen zwei Widerständen bleiben.“344 Dieser spannungsgeladene Zwischenraum, dieses Zwischen-Sein, ist für Rancière der Ort, an dem sich die politische Gemeinschaft ereignet, kommt es doch hier zu den von ihm geforderten lokalen und punktuellen Unterbrechungen und Brüchen, die für ihn eine politische Gemeinschaft charakterisieren.345 Es geht also nicht darum diese Spannungen aufzulösen, die Rollen und Gegensätze umzukehren und die Grenzen hinter sich zu lassen, sondern darum einen Raum zu eröffnen, in dem sich die Verteilungen aufweichen lassen und sich Neuaufteilungen der Beziehungen zwischen Räumen und Zeiten, zwischen dem Realen und dem Fiktiven etc. ergeben.346 Grenzüberschreitungen entfalten demnach nur dann politische Wirkung, wenn sie als Spannungsmomente erfahren werden, nicht aber wenn sie in einem Konsens münden. Rancière warnt zudem vor Grenzüberschreitungen, wenn diese eine zunehmende Ununterscheidbarkeit und eine Auflösung der Maßstäbe von Kunst zur Folge haben, wie es beim Hang zum Gesamtkunstwerk zu beobachten ist. Seiner Meinung nach führt dies zu einer gleichgültigen Mischung der künstlerischen Mittel, die eher zu einer Haltung der Indifferenz führt, als dass sie die von Rancière gewünschten Konsense auszulösen im Stande ist.347 Er kritisiert diese Tendenz, wenn sie lediglich eine weitere Art von hyperaktivem Konsumismus darstellt, die das Überschreiten von Grenzen als ein Mittel nutzt, um die Wirkungsmacht der Aufführung (des Spektakels) zu erweitern, ohne ihre Bedingungen zu hinterfragen.348 Anzeichen dieser Entwicklung zeigen sich u.a. in der Ablösung radikalerer Formen der Grenzüberschreitung wie des Schocks und der dialektischen Provokation durch den Humor und symbolistische oder mystische Darstellungen.349 Gleichzeitig beschreibt er Grenzüberschreitungen als grundlegend für die künstlerische Tätigkeit. Er geht

343 344 345 346 347 348 349

Rancière: Ist Kunst widerständig?, S. 34. Rancière: Ist Kunst widerständig?, S. 35. Vgl. Rancière: Das Unvernehmen, S. 147. Vgl. Rancière: Entsorgung der Demokratie, S. 28. Vgl. Ranciere: Politik der Bilder, S. 55. Vgl. Rancière: The Emancipated spectator, S. 51. Vgl. Rancière: Unbehagen in der Ästhetik, S. 65.

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davon aus, dass „alle künstlerischen Tätigkeiten das eigne Feld verlassen und ihre Orte und Machtbereiche miteinander vertauschen“350, also Grenzen überschreiten und verschiedene Aufteilungen des Sinnlichen miteinander überlagern, um auf diese Weise die Differenz in Szene zu setzen, sie sichtbar und verhandelbar zu machen. Rancière arbeitet die konstitutiven und emanzipativen Momente, die mit diesen Grenzüberschreitungen verbunden sind am Beispiel des ‚emanzipierten Betrachters‘ heraus. Die Emanzipation des Betrachters schildert er am Beispiel des Theaterbesuchers. Dieser wird als aktiver Interpret und Übersetzer geschildert, der die Grenzen und Gegensätzen zwischen Schauen/Handeln, Erscheinung/Realität, Aktivität/Passivität überwindet. Eröffnet werden auf diese Weise nicht nur verschiedene Interpretationsmöglichkeiten, sondern auch Übersetzungsspielräume des Gesehenen auf die eigene Realität.351 Der Betrachter kann das Gesehene assoziieren, dissoziieren und verknüpfen. Entscheidend ist, dass es nicht um die intentionale Vermittlung von Themen, Inhalten und Wissen geht, sondern um die Anregung zu eigenem Denken und Übersetzungsprozessen. Nicht die einmalige Aufführung steht im Mittelpunkt, sondern die Anregung zu einem unabschließbaren Prozess (der Emanzipation). Abschließend verwahrt er sich jedoch einer eindeutigen Bewertung von Grenzüberschreitungen: „Ob diese ‚Entgrenzungen‘ politische Räume neu zusammensetzen können oder ob sie sich damit begnügen müssen, sie zu parodieren, ist eine der Fragen der Gegenwart.“352 Ihre Charakterisierung als ‚Frage der Gegenwart‘ kennzeichnet sie als zeitgebunden und unterstreicht die immer wieder neu zu erfolgende Verhandlung ihrer Formen und Strategien.

Giorgio Agamben Sind Rancières Schriften stärker auf das Kunstfeld bezogen, konzentriert sich Agamben auf das gesellschafts-politische Feld. In seinem mehrere Bände umfassenden Projekt Homo sacer untersucht Agamben das paradoxe Verhältnis der Macht (der Logik der Souveränität) zum Ausgeschlossenen (dem nackten Leben) und dem Ausnahmezustand (dem Lager). Er arbeitet die Ambivalenz dieses Verhältnisses heraus, das einerseits durch Ausgrenzungsprozesse geprägt ist, andererseits aber als konstitutiv für beide Seiten bezeichnet werden kann. Die Fokussierung der sich ständig verändernden Beziehungen zwischen dem Souverän und dem Gesetzlosen und die Hervorhebung der Ambivalenz

350 Rancière: The Emancipated spectator, S. 50. 351 Vgl. Rancière: Unbehagen in der Ästhetik, S. 73. 352 Ranciere: Unbehagen in der Ästhetik, S. 73.

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dieses Verhältnisses entsprechen den vorangehenden Positionen insofern, als es auch hier um die gegenseitige Verbundenheit von scheinbar voneinander Getrenntem geht. Das Verhältnis der souveränen Macht zum nackten Leben ist Gegenstand des ersten Bandes von Homo sacer, das 1995 erstmals erschienen ist.353 Unter dem nackten Leben versteht er die Reduktion des Menschen auf die bloße Existenz an der Grenze zum Tod. Diese Reduktion ist der Moment, in dem die souveräne Macht als rechtliche Gewalt auftritt, die über Leben und Tod entscheidet, den Zeitpunkt des Todes bestimmt oder über den Zustand und die Funktion von Lagern entscheidet. Es ist der Moment, in dem sich die Macht des Souveräns manifestiert. Zugleich wird die Bedeutung des Homo sacer sichtbar, der in Form der Ausschließung zugleich in die Ordnung eingeschlossen wird.354 Er steht damit trotz seiner örtlichen und rechtlichen Ausgrenzung innerhalb der Gesellschaft, ist zugleich innen und außen. Der Souverän und der Homo sacer werden damit als zwei symmetrische Figuren geschildert, die durch eine gegenseitige Bezugnahme miteinander verbunden sind. Agamben hebt hervor, dass dem nackten Leben auf diese Weise eine zunehmend größere Rolle in der heutigen Politik zukommt: Es wird zum konstitutiven Moment der souveränen Macht und zur Schlüsselszene der modernen Politik, ebenso wie das Lager zum biopolitischen Paradigma der Moderne wird. Weniger die Prozesse der Ausgrenzung sind von Interesse, als das gegenseitige Bezugssystem zwischen Ausgegrenzten und Ausgrenzenden. Dieses Bezugsystem wird als eine Zone des Unbestimmten beschrieben, in der sich vermeintlich klare Grenzziehungen und Rechtsauffassungen auflösen und beständig neu ausgelotet werden. Von Interesse ist der Grenzbereich zwischen Gesetz und Gesetzlosigkeit, zwischen Einschluss und Ausschluss (in die Gesellschaft), eine rechtliche und demokratische Grauzone, wie sie sich in Demokratien aber auch totalitären Staaten darstellt. Agamben fokussiert damit die geringen Schwellen, die zwischen Normal- und Ausnahmezustand, zwischen Politik und Medizin, zwischen Rechtsprechung und -brechung bestehen und benennt diese als Zonen der Ununterscheidbarkeit. Neben der Figur des Homo sacer nennt Agamben weitere Beispiele für solche Grenzräume und Schwellensituationen, in denen die Entscheidung über das nackte Leben zu einer politischen wird. Dazu gehört die Schilderung von Euthanasieversuchen im Dritten Reich, bei

353 Es folgten Was von Auschwitz blieb. Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III) (1998) und Ausnahmezustand (Homo sacer II.1) (2003). 354 Vgl. Agamben: Homo sacer, S. 190.

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denen sich die Grenzen darüber, wer als lebenswert gilt, bis ins Unmenschliche verschoben haben. Zu einer ähnlichen Grauzone kommt es bei Versuchen mit zum Tode verurteilten Personen. Diese befinden sich in einer Grenzzone zwischen Leben und Tod, zwischen innen und außen, da sie alle Rechte und alle Erwartungen, die mit der menschlichen Existenz verbunden sind, verloren haben. Ebenso liegt im Koma ein Ausnahmezustand vor, der die Grenze zwischen Leben und Tod neu bestimmt. Es kommt zum Oszillieren zwischen Medizin und Recht, zwischen medizinischer und rechtlicher Definition über den Tod. Das Ultrakoma wird in diesem Sinn zu einem Status, in dem das nackte Leben im Reinzustand erscheint, zum ersten Mal vollständig vom Menschen und dessen Technologie kontrolliert. Mit dem Lager greift er einen weiteren Ausnahmezustand heraus. Zwar basieren die Lager zumeist auf rechtlichen Grundlagen (der Schutzhaft, einem Recht des Ausnahmezustands oder des Kriegsrechts), doch wird der Ausnahmezustand zusehends zur Norm, wodurch die rechtlichen Grundlagen fragwürdig werden. Das Lager erscheint als Hybrid aus Recht und Faktum, in dem sich die Grenzen zwischen beiden auflösen und unklar werden.355 Wie das Lager wird auch der Ausnahmezustand als eine Schwelle zwischen Demokratie und Absolutismus geschildert. In diesem Niemandsland gehen faktische Vorgänge, die per se extra- oder antirechtlich sind, in Recht über; die Unterschiede zwischen Faktum und Recht werden ununterscheidbar. „In Wahrheit steht der Ausnahmezustand weder außerhalb der Rechtsordnung, noch ist er ihr immanent, und das Problem seiner Definition betrifft genau eine Schwelle oder Zone der Unbestimmtheit, in der innen und außen einander nicht ausschließen, sondern sich unbestimmen.“356 Agamben versteht diese Zone der Unbestimmtheit als Beleg für eine sich stetig ausbreitende Macht, aber auch für den wachsenden Einfluss des Ausnahmezustands. „Der rechtsleere Raum des Ausnahmezustands hat seine raumzeitlichen Grenzen durchbrochen und, indem er sich über sie hinaus ergießt, droht er nunmehr überall mit der normalen Ordnung zusammenzufallen, in der von neuem alles möglich wird.“357 Er untersucht am Beispiel des Ausnahmezustands die Überlagerungen von Ordnung und Nicht-Ordnung, von Recht und rechtsfreiem Raum und verweist auf die gegenseitigen Beeinflussungen. Grenzziehungen werden hier als dynamische und bewegliche ver-

355 Agamben: Homo sacer, S. 179. 356 Agamben: Ausnahmezustand, S. 33. 357 Agamben: Homo sacer, S. 48.

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standen, eine Tendenz, die sich durch das Aufkommen der Biopolitik noch verstärkt. „Die ‚beklemmenden, aber unentwegt verschobenen Grenzen‘ [...], sind bewegliche Grenzen, weil es biopolitische Grenzen sind, und die Tatsache, dass heute ein umfassender Prozeß im Gange ist, in dem gerade die Redefinition dieser Grenzen auf dem Spiel steht, deutet darauf hin, daß die Ausübung der souveränen Macht mehr denn je über diese Grenzen abläuft und erneut die medizinischen und biologischen Wissenschaften durchquert.“358

Agamben bezieht sich hier auf Foucaults Konzept der Biopolitik. Dieser verwendet den Begriff, um die Verlagerung der Machtausübung auf das Leben und die Körper zu beschreiben. Er spricht von Subjektivierungsweisen, mit denen die Macht direkt in den Subjekten wirkt, von diesen übernommen und antizipiert wird. Die Machtausübung wird auf diese Weise vervielfältigt und diffus, sie überschreitet permanent (rechtliche und subjektive) Grenzen und schafft auf diese Weise unbestimmte Grenzräume. Agamben macht anhand der Figur des Homo sacer und des Lagers bzw. des Ausnahmezustandes auf die paradoxe Situation des parallelen Ein- und Ausschließens, des gleichzeitigen Innen und Außen aufmerksam. Sein Interesse gilt den Schwellen und Ambivalenzen der Grenzen und Ausgrenzungsprozessen. Grenzen trennen nicht nur zwei Sphären/Ordnungen voneinander, sondern setzen diese gleichzeitig auf produktive Weise miteinander in Beziehung. Auf diese Weise entsteht eine Zone der Unbestimmtheit, die es erlaubt, Vermutungen über die Formen der Machtausübung und der Demokratie anzustellen, die im Normalzustand nicht sichtbar sind.359 Die Grenze wird als Grenzraum gedacht, aus dem Erkenntnisse über gesellschaftliche Strukturen abgeleitet werden können, da sie verschiedene Sphären und Ordnungen miteinander verbindet. So ist der Begriff des Homo sacer ein Grenzbegriff der römischen Gesellschaftsordnung, „der als solcher schwerlich eine befriedigende Antwort findet, [...] aber vielleicht erlaubt er, Licht auf ihre gegenseitigen Grenzen zu werfen“360.

358 Agamben: Homo sacer, S. 173. 359 So geht es ihm weniger darum „eine Überschreitung zu kontrollieren oder zu neutralisieren, als vielmehr und zuallererst um die Schaffung und Bestimmung des Raumes selbst, in dem die juridisch-politische Ordnung überhaupt gelten kann“. (Agamben: Homo sacer, S. 28f.) 360 Agamben: Homo sacer, S. 83.

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1.4.2 Poststrukturalistische und postkolonialistische Konzepte und Begriffe Sind im ersten Teil einzelne Positionen vorgestellt worden, sollen im Folgenden philosophische Konzepte näher beleuchtet werden, deren Schwerpunkt ebenfalls auf der Bewegung der Grenzüberschreitung, des Überschreitens von traditionellen Ordnungen und binären Konstruktionen und des In-Beziehung-Setzens von Heterogenem liegt. Oftmals gibt es einen Fokus auf die politischen Implikationen dieser Bewegungen, auf die Neuaufteilungen des Sinnlichen, die mit ihnen einhergehen, sowie die Verschiebung und Vervielfältigung der Räume und Rollen, die sie bewirken. Mit Hilfe postkolonialistischer Ansätze werden Grenzüberschreitungen beschrieben, die im Zusammenhang mit der Auflösung der kolonialen Aufteilungen und Hierarchisierungen stehen. In den Blickpunkt geraten insbesondere Migrationsbewegungen und Identitätsverschiebungen bzw. -vervielfältigungen sowie Mischformen und Zwischenräume, die die ehemaligen binären Einteilungen und eindeutigen Grenzsetzungen aufbrechen und verschieben. Das Konzept der Transversalität unterstreicht die Verbindungen und Verkettungen, die zwischen verschiedenen Feldern existieren und ließe sich als Synonym für Überschreitungen verwenden. Die Theorie der Ambivalenz weist auf die Gleichzeitigkeit und das Nebeneinander unterschiedlicher Identitäten/Sphären/Auffassungen in den Momenten der Grenzüberschreitung hin. Ähnlich wie Konzepte der Mehrstimmigkeit und Pluralität ruft sie Erfahrungen hervor, die durch Unbestimmtheit und Kontingenz geprägt sind und deshalb Unbehagen hervorrufen. Gleichwohl enthalten sie Möglichkeiten des Zugleich- und des Zusammendenkens von Heterogenem. Statt dieses Heterogene auszugrenzen, geht es um dessen Gewahrwerdung und Akzeptanz in einem Denken des Sowohlals-auch. Dies ist ebenfalls kennzeichnend für die Erfahrungen des Zauderns auf der Schwelle, die von Vogl herausgearbeitet werden. Erweitern Schwellen das Bild der Grenze zu Orten des Dazwischen, ist das Zaudern die dem korrespondierende Erfahrung und dehnt die Überschreitung zeitlich aus. Statt der Überschreitung wird der Fokus auf die Erfahrungen des Hin- und Hergerissen-Seins zwischen verschiedenen Möglichkeiten auf der Grenze gelegt.

Postkolonialer Diskurs Der postkoloniale Diskurs verhandelt eine Vielzahl von territorialen, politischen und identitären Grenzüberschreitungen und ist deshalb von besonderem Interesse. Mit Bunk lässt sich von einer Überschreitung territorialer und metaphorischer Grenzen sowie der Grenzen identitäts-

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stiftender Kategorisierungen sprechen.361 Für Hall steht der Postkolonialismus „für die Vielfalt der quer verlaufenden, dezentrierten kulturellen Verbindungen, Bewegungen und Migrationen, die die Welt heute prägen“362. Der postkoloniale Diskurs setzt „in jenen Augenblicken ein, als die politische, theoretische oder künstlerische Beschreibung des Verhältnisses zwischen Herrschenden und Beherrschten, zwischen der dominanten Kultur des Westens und der dominieren Kulturen der (ehemaligen) Kolonien nicht mehr ausschließlich der Seite der Macht vorenthalten blieb“363 – und die tradierte Hegemonie der westlichen Kultur ins Wanken gerät. Als postkolonial bezeichnet man die Phasen, in der sich die vormals Kolonialisierten einen Zugang zur Macht und den Mitteln der Repräsentation aneignen und die klaren Machtstrukturen und binäre Einteilungen in erste und dritte Welt, in Kolonialherren und Kolonialisierte, Machthaber und Unterdrückte, Orient und Okzident aufbrechen und verschieben. Die Auflösung der Kolonien und die vielfältigen Migrationsbewegungen, die damit einhergehen, haben zur Folge, dass nicht nur die Vorstellung geschlossener Nationen brüchig wird, sondern ebenso das Bild stabiler Identitäten, Kulturen und Ethnien hinterfragt wird. Entscheidend ist, diese Prozesse nicht nur auf die ehemals Kolonialisierten zu beziehen, sondern ebenfalls auf die kolonialisierenden Gesellschaften. Durch die Überlagerung und Vermischung ehemals getrennter Einflusssphären und Identitäten entstehen Konzepte, die auf Differenz, Pluralität und Hybridität basieren. In den Fokus rücken Identitätskonstruktionen, die von Brüchen und der Erfahrung ungleicher Machtverhältnisse geprägt sind sowie die hybriden Zwischenräume, für die Homi K. Bhaba den Begriff des ‚Dritten Raum‘ geprägt hat. In diesen kommt es zu Überlappungen und DePlatzierungen von Differenzbereichen, die kulturelle Mischformen hervorbringen. Dazu zählen Identitätsbildungen von Menschen, die sich sowohl in der Welt der Kolonisatoren als auch der Kolonisierten zurechtfinden, weil sie zweisprachig und bikulturell aufgewachsen sind. Sie haben nicht nur ein ‚anderes‘ Verständnis und Empfinden von Identität und Nation, sondern auch eine ‚andere‘ Weise Geschichte zu erzählen oder zu erinnern. Ihre Identität lässt sich als hybride bezeichnen, die sich durch die permanente Übersetzung zwischen diesen beiden Kulturen auszeichnet. Hall spricht von „kulturellen Identitäten, die nicht fixiert sind, sondern im Übergang zwischen verschiedenen Positionen schweben, die zur gleichen Zeit auf verschiedene kulturelle

361 Vgl. Bunk: Neue Räume, S. 15. 362 Hall: Postkolonialismus, S. 229. 363 Kravagna: Postkoloniale Blicke, in: Butin: Begriffslexikon, S. 250.

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Traditionen zurückgreifen und die das Resultat komplizierter Kreuzungen und kultureller Verbindungen sind“.364 Dadurch werden „Konzepte wie homogene nationale Kulturen, die auf Konsens beruhende und nahtlose Übermittlung historischer Traditionen oder ‚organisch‘ gewachsene ethnische Gemeinschaften [...] derzeit grundlegend neu definiert“365, wie Bhaba schreibt. Das beunruhigende ‚Andere‘, von dem es sich abzugrenzen galt, enthält ‚plötzlich‘ Teile der hegemonialen Kultur. Die imperiale Konzeption der Nation als Zentrum wird durch die Vermischung und Überlagerung von Identitäten aufgebrochen und verliert seine Einmaligkeit. Die Perspektive des ‚hier‘ und ‚dort‘, ‚damals‘ und ‚heute‘, ‚Inland‘ und ‚Ausland‘ wird abgelehnt.366 In Folge dessen machen „die Fixierungen für ein Aussen und Innen, für das Fremde und das Eigene keinen Sinn mehr“367. Es kommt zu einer Vermischung und Hybridisierung von Identitäten, Geschichtskonstruktionen und Erzählungen von Nationalität.368 Transkulturelle Identitäten entstehen, die durch eine Vielzahl kultureller Risse, Aneignungen und Überschreibungen geprägt sind und Wahrnehmungspotentiale besitzen, die traditionelle Identitäten und Binaritäten zu unterlaufen im Stande sind. Damit rücken sowohl die Zwischenformen und zonen als auch die subversiven und verändernden Potentiale, die ihnen inhärent sind, in den Mittelpunkt. Laut Raunig wird „der Rand, das Periphere, in das die Subjekte im Kolonialismus gezwungen wurden, […] rekonstruiert als Raum radikaler Offenheit, als Treffpunkt der marginalisierten Subjekte, als Ort des kollektiven Widerstands“369. Auch Hall spricht davon, dass es „in der Ära der Globalisierung paradoxerweise die Peripherien, die Ränder [sind], die sich immer wieder als die kulturell produktivsten Räume erwiesen haben“370. Statt die Differenzen und alternativen Erzählungen zu negieren, werden sie als Bereicherung wahrgenommen. Laut Hall entdecken die Ethnizitäten

364 Hall: Kulturelle Identität, S. 434. 365 Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 7. Ähnlich emphatisch spricht Enwezor in seinem Katalogtext zur documenta 11 davon, dass es sich bei postkolonialen Räumen um diejenigen Räume handelt, „wo experimentelle Kulturen Modalitäten artikulieren, die die neuen sinn- und erinnerungsstiftenden Systeme der Spätmoderne definieren“. (Enwezor: Black Box, S. 44.) 366 Vgl. Hall: Postkolonialismus, S. 227. 367 Büro für kognitiven Urbanismus: Last Minute, S. 144. 368 Vgl. Höller: Hybridität, in: Butin: Begriffslexikon, S. 113. 369 Raunig: Ästhetik der Grenzüberschreitung, S.115. 370 Hall: Europas anderes Selbst, S. 804.

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die Tatsache wider, „dass sie aus bestimmten Orten stammen, bestimmte Sprachen sprechen, in bestimmten kulturellen Traditionen verwurzelt sind, zu bestimmten Landschaften gehören und bestimmte Geschichten teilen mit denjenigen, die nicht ‚so wie sie‘ sind. Oder anders gesagt: Sie leben mit der ‚Differenz‘ statt sie einfach zu vergessen.“371 Die Folge ist ein permanentes Oszillieren von Festschreibungen, Identitäten, Machtverhältnissen und Grenzen. Spricht Bhaba von ‚Dritten Räumen‘ und versucht damit die spezifische postkoloniale Situation zu beschreiben, erweitert Brah dieses Konzept, indem sie sich generell den Erfahrungen von Migranten zuwendet. Sie spricht von Diasporaräumen und diasporischen Formationen, deren Zahl aufgrund der zunehmenden transnationalen Bewegungen von Kapital und Arbeitskräften zunimmt. Der Raum der Diaspora wird gedacht als Verknüpfung differenzierter, heterogener und umkämpfter Räume, in dem Binarismen aufgehoben werden können. Er ist nicht an Ländergrenzen gebunden, sondern zeichnet sich durch die Verbindung lokaler und globaler Elemente aus. Brah spricht auch von Netzwerken transnationaler Identifikationen, die sowohl imaginierte, als auch materielle Gemeinschaften umfassen.372 Der Raum der Diaspora bildet die Schnittstelle, an der ökonomische, politische, kulturelle und psychische Prozesse zusammenfließen und in ihrer Verschiebung beobachtet werden können.373 Dabei wird dieser Raum nicht nur von Migranten und ihren Angehörigen bewohnt, sondern auch von denjenigen, die als einheimisch konstruiert und repräsentiert werden. Beide werden mit ihrer jeweiligen Andersheit konfrontiert, was dazu führt, dass „die Grenzen zwischen Einschließung und Ausschließung, Zugehörigkeit und Anderssein, ‚uns‘ und ‚ihnen‘ bestritten [werden]“374.

Konzept der Transversalität Ähnlich grenzüberschreitend und durch die Überlappung heterogener Bereiche gekennzeichnet wie die eben beschriebenen postkolonialistischen Ansätze ist das Konzept der Transversalität. Es wurde um 1968 im Zuge der französischen Kämpfe von Deleuze/Guattari und Foucault entwickelt und in den 2000er Jahren von Raunig in dem von ihm her-

371 Hall: Europas anderes Selbst, S. 805. 372 Vgl. Brah: Diaspora, S. 35. 373 Für Brah bildet das Konzept der Diaspora „einen Interpretationsrahmen, um auf die ökonomischen, politischen und kulturellen Dimensionen dieser zeitgenössischen Form der Migration aufmerksam zu machen“. (Brah: Diaspora, S. 33.) 374 Brah: Diaspora, S. 38.

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ausgegebenen Sammelband Transversal. Kunst und Globalisierungskritik aufgegriffen. Zwei Aspekte sind für die Transversalität zentral: die Verkettung und Überlappung unterschiedlicher Praxen, Felder und Disziplinen sowie die Unabschließbarkeit dieser Bewegung. Die Praxis des In-Verbindung-Setzens gerät nie an ein Ende, sie aktualisiert sich nur temporär und wird von Konflikten begleitet. Auf diese Weise wird jegliche Festsetzung und Hierarchisierung vermieden und zugleich die „Hermetik von partikularistischen Teilöffentlichkeiten und abgeschotteten Subkulturen [unterbrochen]“.375 Transversalität meint das Übereinanderlagern verschiedener gesellschaftlicher Felder, die nicht homogenisiert, sondern in ihrer Differenz geschichtet werden und dabei miteinander in Berührung kommen. Raunig spricht auch vom Durchqueren verschiedener Praxen und Felder und meint damit eine Bewegung, die sich immer wieder neu orientiert, unterschiedliche Formen annehmen kann und sich insbesondere durch feldübergreifende Kooperationen auszeichnet. Diese transsektoriale Bewegung wird durch transnationale – nationale Grenzen überschreitende – Bewegungen ergänzt. Im Buch Transversal wird in diesem Sinne eine Verkettung von Kunst, Politik und Aktivismus vorgenommen, d.h. verschiedene künstlerische und aktivistische Praxen werden vorgestellt, theoretisch analysiert und miteinander in Bezug gesetzt.376

375 Raunig: Transversale Multituden, S. 14. Nach Lange werden mit ‚transversal‘ Operationsmodi bezeichnet, die sich auf die Erstellung querlaufender Verbindungen zwischen unterschiedlichen Komplexen beziehen. Als wesentliche Tätigkeitsform gilt die Übergangsbildung zwischen den verschiedenen Realitätsformen. Es geht um Denken in Verflechtungen und die Verkettung von Differenzen (vgl. Lange: Grenzüberschreitungen, S. 261). 376 Ein weiteres Beispiel für das Konzept der Transversalität findet sich in der Selbstbeschreibung der Internetplattform eipcp, in der zum einen die Vernetzung der AkteurInnen (KünstlerInnen, TheoretikerInnen, AktivistInnen) und zum anderen die unabgeschlossene Bewegung und Verhandlung dieser Verkettung betont wird: „Ein progressives Europa versteht sich als fließendes Konzept, sowohl geographisch als auch ideologisch. Progressive Kulturpolitik in Europa entwickelt sich im permanenten Streiten um die Möglichkeitsbedingungen eines solchen Fließens, in der Schaffung kritischer Öffentlichkeiten, im andauernden Austausch von Differenzen. Das europäische Institut für progressive Kulturpolitik versucht, die Vernetzung der AkteurInnen im kulturellen Feld zu stärken, sich an deren transversalen Kooperationen zu beteiligen und die prozesshafte Entwicklung der Diskurse über Kunst und kulturpolitische Inst-

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Begriff der Ambivalenz Neben dem Konzept der Transversalität dient auch der Begriff der Ambivalenz der Beschreibung einer Situation des Hin- und Hergerissen-Seins zwischen verschiedenen Möglichkeiten und Betrachtungsweisen. Ist die Gleichzeitigkeit verschiedener Optionen einerseits positiv, da verschiedene Möglichkeiten zur Auswahl stehen, wird sie andererseits als Überforderung empfunden. Es entsteht eine Art (Grenz-)Raum, „in dem das gleichzeitige Auftreten von verschiedenen Phänomenen in ihrer Widersprüchlichkeit erfahrbar wird“377. In seinem Buch Moderne und Ambivalenz (1991) schildert Bauman die Ängste, die die Erfahrung der Ambivalenz begleiten, da die Unentschiedenheit und Unordnung mehrerer Möglichkeiten als Verlust von Kontrolle erlebt wird. Als Beispiel verweist er auf die Sprache und deren ‚spezifische Unordnung‘, die zu Widersprüchen und Missverständnissen führen kann. Gleichzeitig bildet die Vieldeutigkeit der Sprache einen Gegenpol zu den vielfältigen Versuchen zu klassifizieren, d.h. die Welt einzuteilen und die einzelnen Teile voneinander abzugrenzen.378 Laut Geisen führt Bauman demnach den Begriff der Ambivalenz, „einen Begriff des Unentschiedenen, des Widersprüchlichen in die kategorialen Ordnungssysteme der Moderne ein“379. In seinem Text Grenze und Ambivalenz bewertet Geisen die Funktion der Ambivalenz ähnlich wie Bauman. Statt dass die Widersprüche in einem Entweder-oder aufgehoben werden, werden sie in einem sowohl-als-auch nebeneinander gestellt und miteinander konfrontiert und als Ausdruck und Ergebnis menschlicher Vielfalt und Pluralität wahrgenommen: „Gegenstand einer Theorie der Ambivalenz ist damit nicht nur die Analyse der bestehenden Gesellschaft und der durch sie geschaffenen Begrenzungen für individuelles und kollektives Handeln. Zugleich geht es einer solchen Theorie in der Analyse subjektiver Handlungsfähigkeit darum, individuell und kollektiv realisierbare Potenziale zu analysieren, die sich insbesondere in widerständiger Praxis vergegenständlichen und die über die bestehenden sozialen, politischen und kulturellen Begrenzungen hinausweisen.“380

377 378 379 380

rumente voranzutreiben.“ (vgl. http://eipcp.net/institute/reflectonszone/eipcp2001/de, Stand: 14.07.2009. Geisen: Grenze und Ambivalenz, S. 112. Vgl. Bauman: Moderne und Ambivalenz, S. 14. Geisen: Grenze und Ambivalenz, S. 112. Geisen: Grenze und Ambivalenz, S. 104.

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Das Zaudern und die Schwelle Macht Geisen hier auf die Potentiale aufmerksam, die Erfahrungen von Ambivalenz enthalten können, geht es bei der Geste des Zauderns und der Metapher der Schwelle verstärkt um die Momente der Verunsicherung, die Situationen begleiten, in der eindeutige Einteilungen und Grenzen aufgelöst sind. Joseph Vogl hat diese Erfahrung ausführlich in seiner Antrittsvorlesung Über das Zaudern an der Humboldt Universität zu Berlin beschrieben, in der er vielfach auf die Begrifflichkeit und Philosophie von Deleuze/Guattari zurückgreift. Der Moment des Zauderns lässt sich mit Vogl als ‚energetische Inaktivität‘ beschreiben. Dies meint die Unentschiedenheit und gleichzeitig aktive Geste des Befragens im Moment des Zauderns. Es handelt sich um eine paradoxe Situation des Gewahrwerdens verschiedener Möglichkeiten und deren gleichzeitigem Begrenzen. „Es hat sich ein Zwischenraum aufgetan, in dem diese Tat kontingent, also weder notwendig noch unmöglich erscheint, eine Schwelle, an der sich Handeln und Nichthandeln widerspruchslos aneinander fügen und die Handlungsrichtung selbst undeutlich wird.“381 Es beginnt ein endloser Verhandlungsprozess, ein fortlaufendes Unterscheiden, das jedoch nicht unmittelbar in ein Unterscheiden, in ein Urteilen übergehen wird.382 Ähnlich wie das Zaudern, jedoch stärker räumlich gedacht, fungiert die Schwelle als Zwischen- und Verbindungsraum. Am Beispiel der Literatur Franz Kafkas arbeitet Vogl die Bedeutung von Schwellen heraus. Speziell in dessen Büchern Der Prozeß und Das Schloss gibt es eine Vielzahl von Türen, die als Schwellen dienen. Sie sind zugleich Relais und Schaltstellen, stellen Verknüpfungen her und unterbrechen diese. Gibt es einerseits ein Versprechen auf eine Vielzahl virtueller Räume, herrscht gleichzeitig eine große Verunsicherung über deren Form und Erreichbarkeit. Bei Kafka werden die Schwellen nie überwunden, vielmehr handelt als sich um ein permanentes InBewegung-Sein auf der Schwelle, an der das Ende des Weges erreichbar erscheint, aber niemals erreicht werden kann. Es deutet sich eine unabschließbare Bewegung an. „Von Barrieren gerät man nur an weitere Barrieren, von überschrittenen Grenzen an neue; und was man überschritten hat, kehrt in gleicher Weise wieder ohne Anfang und Ende. Man kommt nie in das Schloss und ist immer schon dort. Das Schloss ist nichts anderes als die Schwelle zum Schloss.“383 Damit sind auch alle Grenzziehungen „immer schon oder nie überschritten,

381 Vogl: Über das Zaudern, S. 28. 382 Vgl. Vogl: Über das Zaudern, S. 33. 383 Vogl: Über das Zaudern, S. 81.

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schwinden in der Überschreitung, führen auf weitere Grenzziehungen, die sich in Unübersichtlichen verlieren. [...] Sie markieren und demarkieren zugleich und organisieren den gesamten (symbolischen) Raum des Romans als eine Art Schwellenzone.“384 In diesem Sinn sind Schwellen weder bestimmte Orte noch Nicht-Orte, sondern entortete Orte, räumliche Lagen, die jeden bestimmten Platz ins Wanken und Gleiten bringen. Die Schwelle wird zu einem endlosen Übergangsraum, der weder Grenze noch Horizont, weder Interieur noch Weite kennt.385 Ebenso wie es bei der Überschreitung nicht um die Übertretung der Grenze, sondern das In-Beziehung-Setzen von Getrenntem und eine permanente Bewegung auf der Grenze geht, werden an der Schwelle und im Moment des Zauderns verschiedene Möglichkeiten und Räume eröffnet und miteinander verbunden. Aber statt aktualisiert zu werden, bleiben sie potentiell und virtuell, werden immer wieder aufgerufen und verworfen. Die Schwellen ebenso wie das Zaudern werden zu einem Ort des Unentschieden- und Dazwischen-Sein – was dem Bild von Grenzen als Übergang und Abgrenzung entspricht. Erkenntnisreich sind die Ausführungen Vogls jedoch nicht nur aufgrund der präzisen und anschaulichen Schilderungen der Gesten des Zauderns, sondern auch, weil sie das politische Potential dieser Geste herausarbeiten. So unterbricht das Zaudern die lineare Zeitstruktur und damit auch die Kontinuität des historischen Prozesses: „Die Gegenwart wird gedehnt und verbreitert und gewinnt eine Gestalt, die nun keineswegs unvermeidlich und seit langem programmiert erscheint.“386 Die vorgegebenen Ordnungen erscheinen in ihrer (zeitlichen) Kontingenz. Zudem ist die Geste des Zauderns für Vogl aufgrund ihrer Indifferenz ein Ausdruck des „Misstrauens gegen die Festigkeit von Weltlagen, gegen die Unwiderruflichkeit von Urteilen, gegen die Endgültigkeit von Lösungen“387. 1.4.3 Grenzräume Der moderne Grenzbegriff konstruiert „Grenzen nicht als Räume […], sondern als Trennlinien – ohne Übergänge und Durchlässe, ohne Möglichkeiten der Begegnung. In der Moderne kommt der Grenze daher

384 Vogl: Über das Zaudern, S. 82. 385 Vgl. Vogl: Über das Zaudern, S. 83. Vogl arbeitet heraus, dass es dabei nicht nur auf inhaltlicher Ebene um Grenzen und Schwellen geht, sondern Kafkas Verfahren an sich, seine Schreibweise und sein Stil ähnlichen Schwellensituationen standhalten und von diesen geprägt sind. 386 Vogl: Über das Zaudern, S. 113. 387 Vogl: Über das Zaudern, S. 108f.

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primär die Funktion des Ein- und Ausschlusses zu, der Trennung von Innen und Außen“388. Mit der Hinterfragung moderner Kategorien und Denkweisen durch Postmoderne, Poststrukturalismus und Postkolonialismus sowie dem Aufkommen der zuvor beschriebenen Konzepte der Ambivalenz und Transversalität werden die Grenzen dagegen räumlich und zeitlich zu Grenzräumen erweitert und verlieren ihren Status als eindeutige Markierung von Unterschieden. Sie lassen sich als Räume bestimmen, in denen verschiedene Felder, Bereiche und Identitäten miteinander konfrontiert werden, sich überlagern und vermischen. Es sind Räume produktiver Verschiebungen und Neukonstruktionen, die bestehende Dichotomien hinterfragen und aufzubrechen vermögen – wenn sie selber permanent in Bewegung bleiben und keine andere Geschichte/Identitäten konstruieren, sondern als mannigfaltige, vielschichtige und plurale Räume in Erscheinung treten. Grenzen sind somit nicht länger Symbole des Trennenden, sondern des In-Beziehungs-Setzens. Statt die Grenze als etwas zu verstehen, das trennt und abgrenzt, treten die verbindenden Momente der Grenzen in den Mittelpunkt. Das Verständnis der Grenze als Ort der Trennung in ein Entweder-oder löst sich auf in einen vielschichtigen Grenzraum, einen Ort der Überlappungen und Durchdringungen, an dem das ‚sowohl-als-auch‘ Gestalt annimmt.389 Dabei treffen Verschiedenheiten aufeinander, die in ihrer Konfrontation noch deutlicher hervortreten. Es entsteht ein spannungsgeladener Raum, der durch Ambivalenzen und die Gleichzeitigkeit verschiedener Möglichkeit geprägt ist. Dies wird mit Hilfe von Konzepten ausgedrückt, die Grenzen als Orte der Kollision von Differenzen entwerfen. Statt auf einer Auflösung der Differenzen zu bestehen, möchte Raunig diese im temporären Austausch zum Oszillieren bringen, was bedeutet, dass sie im Grenzraum aufeinanderprallen und sich gegenseitig befruchten, ohne jedoch ihre Spezifität einzubüßen. Die Grenze soll in diesem Sinne „nicht mehr zwei Seiten auseinander halten, sondern als Raum und Möglichkeitsbedingung der revolutionären Maschine permanente Konstitution und Konfrontation des Differenten mit dem Differenten

388 Geisen: Grenze und Ambivalenz, S. 116. 389 Vgl. Geisen: Grenze und Ambivalenz, S. 117. Dies gilt z.B. auch für das sogenannte Niemandsland, jenem Streifen Land, der die Grenze zwischen zwei Staaten markiert, die sich nicht ertragen, und im Extremfall zum Todesstreifen wird. Diese neutrale Zone ist zugleich umstrittenes Gebiet, in dem trotz der Exterritorialität die Spannungen zwischen den zwei Nationen zu spüren ist, die hier aufeinander treffen.

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ermöglichen“390. Für Raunig schaffen Grenzräume die Voraussetzung dafür, dass differente Positionen sichtbar, Streit zum Ausbruch kommen kann.391 Hierarchien und Dichotomien geraten in Bewegung und Neukonstellationen werden möglich. Laut Geisen/Karcher können Grenzen „daher als Räume bestimmt werden, in denen Vergleichbares und Gegensätzliches aufeinandertreffen und zusammenkommen, wo Sicherheit und Unbestimmtheit gleichzeitig und nebeneinander bestehen, wo ‚Freund‘ und ‚Feind‘ einander gegenübertreten. In solch einem Raum können die vorherigen Orientierungen neu wahrgenommen und aus anderer Perspektive betrachtet werden. [...] Im Grenzraum entfalten sich eine spezifische Dynamik von Veränderung und Neu-Orientierung, die Auswirkungen auf die jeweilige Identitäten hat, diese verändern oder durch diese verändert werden.“392

Gleichzeitig ruft diese Dynamik Überforderung hervor und mündet im neuerlichen Wunsch nach Abgrenzungen. Diese räumliche Erweiterung der Grenze steht in Zusammenhang mit einer generellen Auflösung bzw. Vervielfältigung des Raumes im Rahmen (post-)strukturalistischer Ansätze. Die Vorstellung eines statischen dreidimensionalen Raumes wird aufgebrochen, verflüssigt und zu einem mehrdimensionalen Gefüge erweitert. Statt von einem Innenund Außenraum auszugehen, rücken die Beziehungen zwischen den Räumen, die rhizomatischen Verbindungen und transversalen Linien in den Blick. Laut Foucault befinden wir uns in der Epoche des Raumes, wo sich die Welt als ein Netz erfährt, verbunden durch ein ‚Gemengelage aus Beziehungen‘.393 Dieses Bild greifen Deleuze/Guattari in ihrem Konzept des Rhizoms auf: „Das Rhizom hat weder Anfang noch Ende, es ist immer in der Mitte, zwischen den Dingen, ein Zwischenstück, Intermezzo.“394 Vogl ergänzt, das Rhizom besitze „weder Zentrum noch Peripherie, bleibt dezentral angelegt und bietet keinen Ort, von dem aus sich eine Übersicht ergibt. Zudem ist dieses Laby-

390 Raunig: Kunst und Revolution, S. 228. 391 Vgl. Raunig: Ästhetik der Grenzüberschreitung, S. 14 und S. 120f. Raunig greift dabei auf Hegels Konzept der Situation zurück, das gleichsam eine Prozessierung der Grenze bedeutet, dessen Ziel „nicht die Auflösung der Unterschiede, sondern die Überwindung von hermetischen Absolutheiten [sein soll].“ (Raunig: Spacing the Lines, S. 123.) 392 Geisen/Karcher: Grenze, S. 10. 393 Vgl. Foucault: Andere Räume, S. 38. 394 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 41.

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rinth endlos, ein endlos wuchernder Binnenraum, der kein Außen kennt oder die Unterscheidung von außen und innen sinnlos und obsolet macht.“395 Dem entspricht die Hinwendung zu ‚dritten Räumen‘ (Bhaba), Diasporaräumen (Brah) und hybriden Zwischenzonen jenseits (oder zwischen) gängigen Identitäten und Macht- und Raumaufteilungen im postkolonialen Diskurs. Die beschriebene Hinwendung zu Grenzräumen, wie sie in künstlerischer und theoretischer Praxis vorgenommen wird, wird in der Publikation Grenzbespielungen dokumentiert. Aus Anlass des gleichnamigen Symposiums an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig entstanden, widmet sich die von Beatrice von Bismarck herausgegebene Publikation der ‚visuellen Politik in der Übergangszone‘. Schon der Begriff der Übergangszone impliziert ein um den Raum erweitertes Verständnis von Grenzen. Sie entwirft den Grenzraum als einen beweglichen Zwischenraum, der Teil der jeweils anschließenden Räume ist, ohne restlos in ihnen aufzugehen. In ihm kommt es zu Überlappungen und Aushandlungen von vormals Getrennten. Exemplarisch stehen dafür die Arbeitsweisen von Künstler wie Harun Farocki, Hito Steyerl oder Ursula Biemann, die durch die Wahl des Mediums Film in einem Grenzbereich der Kunst agieren, und durch das Aufgreifen von theoretischen Diskursen und gesellschaftspolitischen Themen transversale Verknüpfungen herstellen. Von Bismarck spricht in Anbetracht dessen von Prozessen der Artikulation und Verhandlung von Differenz. Unterschiede werden zunächst sichtbar gemacht, um dann verhandelt oder verschoben zu werden. „Es sind Akte des Destabilisierens, des In-Bewegung-Setzens und des In-BewegungHaltens“396, die in diesen Grenzräumen initiiert werden. Exkurs: Ursula Biemann Im Folgenden soll mit Ursula Biemann eine Künstlerin genauer beschrieben werden, die sich einerseits auf inhaltlicher Ebene mit Grenzen und Grenzräumen beschäftigt und zudem aufgrund ihrer formalen Herangehensweise als Grenzgängerin bezeichnet werden kann. Ihr Interesse gilt Grenzen und Grenzräumen, denen sie auf der ganzen Welt nachspürt. Sie fokussiert deren Transformationen und widmet sich den gesellschaftlichen Veränderungen, die an diesen Grenzen zu beobachten sind. Diese betreffen zunächst die Auswirkungen ökonomischer und politischer Entscheidungen auf den Charakter von Grenzen, die entweder als Begrenzungen oder (rechtliche) Freizonen wahrgenom-

395 Vogl: Über das Zaudern, S. 85. 396 Bismarck: Grenzbespielungen, S. 10.

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men werden. Dann die Auswirkungen dieses Grenzraums auf die dortigen Arbeits- und Lebensverhältnisse, wobei die Beschäftigung mit geschlechtsspezifischen Subjektivierungsformen einen Schwerpunkt bildet. Zudem untersucht Biemann die Veränderungen der Grenzen, die durch die unterschiedlichen Praxen ihrer Überschreitung entstehen. Sie zeigt, wie die „GrenzgängerInnen den Raum, den sie bespielen, durch ihre Praxis markieren und ihm Bedeutung geben“397. Auf diese Weise erweitert sie das Verständnis von Grenzen zu einem beweglichen und produktiven Grenzraum, der nicht nur durch die Grenzgänger verändert wird, sondern ebenso stark auf die Subjekte einwirkt, die sich auf und an der Grenze bewegen. Nicht nur die Vorstellung der Grenze, sondern auch der statisch gedachte Begriff kultureller Identität wird so aufgelöst und als Konstrukt entlarvt. Ihr Border Project, das sie seit den 90er Jahren verfolgt, umfasst mehrere Videoarbeiten, die auf unterschiedliche Weise Grenzen thematisieren. In Writing Desire (2000) werden die Grenzen zwischen privaten Phantasien und öffentlicher Sphäre im World Wide Web ausgelotet. Remote Sensing (2001) folgt dem globalen Sexhandel, während im Video Europlex (2003) die Bewegungen von GrenzgängerInnen zwischen der spanischen Enklave Ceuta und dem umliegenden marokkanischen Territorium nachgezeichnet werden. Ich möchte mich auf ihr Video Performing the border (1999) konzentrieren. Sie widmet sich hier der zollfreien Zone auf mexikanischem Territorium an der Grenze zur USA (Ciudad Juarez), in der nationale Regelungen und Arbeitsgesetze weitgehend außer Betrieb gesetzt sind. Biemann zeigt, wie die Errichtung dieser Grenzzone, bzw. die immer stärkere Absicherung der Grenze neue Identitäten, Arbeits- und Verhaltensweisen hervorbringt. Sie spricht dabei von der Grenze als einem performativen Ort, „der sich diskursiv über die Repräsentation der beiden Nationen konstituiert und der materiell wird durch die Einrichtung einer transnationalen Zone, in der die nationalen Diskurse sowohl materialisiert als auch übergangen werden. Es ist ein ambivalenter Raum am Rande der beiden Gesellschaften, ferngesteuert von ihren Machtzentralen.“398 Es geht ihr darum, die an dem Grenzort Ciudad Juarez zu beobachtenden Technologien der Grenz- und Arbeitskontrolle als gewaltsame Formen der (männlichen) Machtausübung zu charakterisieren. Zugleich zeigt Biemann mit der Grenzgängerin Concha subversive Strategien der Überquerung auf. „Sie [hier das weibliche Diaspora-Subjekt im allgemeinen] übertritt die Grenzen zwischen Produktion

397 Biemann: Videogeographien, S. 68. 398 Biemann: Performing the border, S. 146.

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und Reproduktion, sie zirkuliert in diesen vielschichtigen Orten, geht Verbindungen mit lokalen Koalitionen und internationalen feministischen Netzwerken zu Fragen von Arbeitsrecht, Umweltanliegen, Menschenrechten ein.“399 Biemann macht den Zusammenhang zwischen dem Grenzraum als Ort der Produktion und spezifischen gesellschaftlichen Veränderungen sichtbar. Sie verdeutlicht diesen Zusammenhang am Beispiel der Arbeitsverhältnisse, die vor allem junge weibliche Arbeitskräfte anzieht, „denn diese gelten als nicht gewerkschaftlich organisiert, billig, geschickt und hochproduktiv“400, aber auch am Freizeitangebot, das sich stärker auf das weibliche Begehren ausrichtet. Zu beobachten ist eine Feminisierung der Arbeiterschaft, die oftmals auch eine Sexualisierung der Frauen bedeutet, denn viele arbeiten (parallel) als Prostituierte. Biemann lässt Arbeiterinnen der Elektronikindustrie, Sexarbeiterinnen, Künstlerinnen und Aktivistinnen sowie eine Menschenschmugglerin zu Wort kommen und arbeitet mit ihrer Hilfe die Veränderungen weiblicher Identitätskonstruktionen, der Geschlechterbeziehungen und des Bildes der Frau in der Gesellschaft heraus. Die an der Grenze lebenden Frauen nehmen nicht länger eine reproduktive, sondern eine produktive Rolle ein, sind eigenständig und gleichzeitig in erhöhtem Maße gefährdet: Biemann verweist auf das Phänomen der Serienmorde, das als spezifisches Grenzphänomen gilt und bisher weit über hundert weibliche Opfer gefordert hat.401 Ging es zunächst um die Beschäftigung mit Grenzen auf inhaltlicher und theoretischer Art in Biemanns Arbeit, soll nun der Fokus auf die formale Ebene und die dortigen Grenzüberschreitungen gelegt werden. Dabei sind zwei Aspekte entscheidend: erstens die Auswahl des Videoessays als spezifisches Ausdrucksmittel und zweitens die Verortung der eigenen Praxis an der Schnittstelle von Kunst, Theorie und Aktivismus. Die von Biemann favorisierte Form des Videoessays ermöglicht ihr ein Experimentieren mit den spezifischen Möglichkei-

399 Biemann: Performing the border, S. 156. 400 Biemann: been there and back, S. 73. 401 Über die Gründe für dieses Grenzphänomen spekuliert sie: „Losing the boundaries between the self and the others, he is perpetually in search of a border. He is attracted by the border of his country precisely because it signifies the boundary of a larger entity of belonging, the nation. Going to the border becomes the physical expression of his mental extremity, merging his physical body with the national body. Confusing the inside and outside, the private and the public.” (Biemann: been there and back, S. 126.)

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ten dieses Mediums. So treffen in dem Film performing the border theoretische Überlegungen auf verschiedenstes (z.T. historisches) Bildmaterial und werden mit dokumentarisch wirkenden Interviews unterlegt. Permanent verändert sich das Verhältnis von Bild und Ton und initiiert auf diese Weise eine Auseinandersetzung über den jeweiligen Einsatz und die Funktion der eingesetzten Medien (mal wird das Bild mit Sound unterlegt, mal mit Stimmen oder geschriebenen Text). Es entsteht ein Zwischenraum aus Realität und Fiktion, Dokumentation und Reflexion, Kunst und Theorie. Videoarbeiten vermögen verschiedene Diskurse miteinander zu kombinieren und erlauben es theoretische Reflexionen in die Arbeiten zu integrieren, ohne rational und stringent argumentieren zu müssen. „Videoessays sind nicht in erster Linie damit beschäftigt, eine Realität abzubilden, sondern Reflexionen darüber anzustellen.“402 Biemann überschreitet zudem disziplinäre Grenzen, in dem sie sich sowohl als Künstlerin, Theoretikerin, Aktivistin und Vermittlerin definiert und die jeweiligen Arbeitsweisen miteinander kombiniert. Sie entwickelt dabei eine konzeptuelle wie kritische Haltung, die sich in der Formulierung konkreter Kritik äußert nach dem Motto: „Nach draußen gehen, um kulturelle Merkmale zu sammeln und sie materiell und diskursiv zu artikulieren.“403 Wobei es ihr weniger darum geht, „die Welt da draußen zu verändern, sondern den Diskurs über die Welt da draußen“404. Hier klingt ein Verständnis von künstlerischer und politischer Praxis durch, das den Schwerpunkt nicht auf ein aktivistisches Vorgehen lenkt, sondern ein Bewusstsein für bestimmte Problematiken schaffen und Reflexionen anregen will. Es geht ihr darum, Handlungsräume zu eröffnen und Verschiebungen im Verständnis von Kunst und Ethnographie anzuregen.

402 Biemann: Videogeographien, S. 78. 403 Biemann: been there and back, S. 13. 404 Biemann: Videogeographien, S. 78.

2. Grenzbewegungen zum Gesellschaftlich-Politischen von den Avantgarden bis zu den 90er Jahren

Wurden im ersten Kapitel die unterschiedlichen Bewegungsrichtungen von Grenzüberschreitungen aufgezeigt und theoretische wie praktische Konzepte von Grenzüberschreitungen vorgestellt, soll nun der Fokus auf eine Grenzbewegung gelegt werden: die Überschreitungen von Kunst in gesellschaftspolitische Kontexte. Diese werden als Grenzbewegungen entworfen, die permanent zwischen den Forderungen nach und den Warnungen vor diesen Überschreitungen oszillieren. Steht auf der einen Seite die Forderung nach einem Gesellschaftsbezug (in Form eines Wirklichkeitsbezuges, einer Verbindung von Kunst und Leben oder direkten Interventionen), steht auf der anderen Seite das Beharren auf der Autonomie der Kunst. Kunst soll einerseits gesellschaftlich ausgerichtet sein, soll gesellschaftliche Zustände sichtbar machen und verändern, sich aber nicht vereinnahmen lassen. Dem Wunsch nach einer Überschreitung des Kunstfeldes steht die Befürchtung einer Auflösung der Kunst in die angrenzenden Felder gegenüber. Kunst soll politisch und kritisch sein, aber ohne die Logiken des kritisierten Systems zu übernehmen. Die Hinwendung zu anderen Disziplinen ist verbunden mit der Angst vor einer Dominanz dieser anderen Logiken. Der Forderung nach gesellschaftlicher Relevanz steht die Forderung nach der Freiheit der Kunst entgegen. Der Bestimmung von ‚art as social product‘ (Wolff) steht die Definition von Kunst als ‚Sondersphäre‘ (Adorno) gegenüber. Gilt die Überwindung des autonomen Status der Kunst einerseits als das Grundmotiv der Avantgarden, ist Autonomie andererseits die Voraussetzung für eine kritische Distanz zur Gesellschaft, die das Aufdecken und Sichtbarmachen gesellschaftlicher Entwicklungen und Mechanismen zuallererst ermöglicht. Dabei wird in den Argumentationen häufig eine dichotomische Gegenüberstellung von Kunst und Gesellschaft vorgenommen und die Unterschiede dieses Verhältnisses betont. Statt das Beharren auf Auto-

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nomie und die Forderung nach einem Gesellschaftsbezug gegeneinander auszuspielen, ist es Ziel dieser Arbeit Konzepte zu entwickeln, die beides in der permanenten Grenzbewegung zusammendenken. Damit wird die Grundlage für eine Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Gesellschaft gelegt, das sich – gedacht als Spannungsfeld oder Grenzraum – permanent zwischen diesen Kategorien bewegt. Das Denken eines entweder Autonomie oder Gesellschaftsbezug wird dabei von einem des Sowohl-als-auch abgelöst. Bevor diese Konzepte und das Umdenken des Politischen im nächsten Kapitel vorgestellt werden, wird im Folgenden das Spannungsfeld von Kunst zwischen Autonomie und einem kritischpolitischen Gesellschaftsbezug ausführlich dargestellt. In einem zweiten Schritt werden in einem historischen Rückgriff die Angriffe der Avantgarden auf den autonomen Status der Kunst geschildert. Begonnen wird mit den Avantgardebewegungen der 20er Jahre, auf die Schilderungen der Postavantgarden der 60er und 70er Jahre folgen. Das Kapitel endet mit einer ausführlichen Schilderung der Kunstpraxen der 90er Jahre und ihrer Re-Politisierung. 2.1 Kunst zwischen Autonomie und Gesellschaftsbezug „Kunstwerke existieren nicht unabhängig von der Gesellschaft, in der sie ihren Ort haben.“ 1 JULIANE REBENTISCH

Kunstwerke sind in einen gesellschaftlichen Kontext eingebunden und aus einem solchen heraus entstanden. Sie existieren nicht unabhängig von der Gesellschaft, wie Rebentisch es formuliert. Gleichzeitig gehorchen sie eigenen Logiken und generieren aus ihrer Andersheit kritisches Potential. In diesem Spannungsfeld zwischen der Forderung nach einem Gesellschaftsbezug der Kunst einerseits und der Betonung ihrer Autonomie andererseits bewegt sich das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft. Im Folgenden sollen diese beiden Kategorien vorgestellt und anhand verschiedener Konzepte erläutert werden. Herausgearbeitet wird so, wie stark sich insbesondere die Konnotation der Kategorie Autonomie verändert hat. Gilt der Prozess der Autonomisierung einerseits als Voraussetzung für das gesellschaftskritische Agieren von Kunst, ist Autonomie andererseits – verstanden als Zweckfreiheit und Losgelöst1

Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 280.

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heit von ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen – Ziel avantgardistischer Angriffe. Durch das Aufzeigen der vielschichtigen Möglichkeiten Autonomie aber auch den Gesellschaftsbezug der Kunst zu denken, soll der Fokus von einem antagonistisch gedachten Verhältnis von Kunst und Gesellschaft auf die Vielfalt der Bezugnahmen gelenkt werden.

Autonomie Der Prozess der Autonomisierung setzt mit der Befreiung der Kunst von klerikaler und feudalistischer Fremdbestimmung ein, die sich in ökonomischer, rechtlicher und ideologischer Unabhängigkeit äußerte und dazu führte, dass Kunst als autonome Sphäre wahrgenommen wurde. Die Autonomisierung fällt zusammen mit dem Übergang von aristokratischen zu bürgerlichen Gesellschaften und hat ihre Anfänge in der Renaissance. Durch die gewonnene Unabhängigkeit von den Vorgaben der Auftraggeber und die Betonung der künstlerischen Freiheit kommt es zur Ausbildung einer gesonderten Welt mit je eigenen Gesetzen, wie es bei lʼart pour lʼart und Ästhetizismus zu beobachten ist. Hier wird die Idee einer ‚reinen‘ Kunst vertreten, die jede soziale Funktion ablehnt und alles, was sie sein und werden will, aus sich selbst heraus erfinden und begründen muss. Benjamin spricht aus diesem Grund von einer Theologie der Kunst, die mit der Abkehr vom Gesellschaftlichen verbunden ist, da die Kunst ihre Funktionalität verlor.2 Die Folge ist eine verstärkte Selbstreferentialität und Zweckfreiheit der Kunst. Autonomie wird zum Synonym für die Funktionslosigkeit und die weitgehende Ausklammerung des gesellschaftlichen Zusammenhangs. Es kommt zu einer Trennung von Kunst und NichtKunst, zwischen Kunst und Wirklichkeit, Kunst und Leben, die laut Bürger, das entscheidende Merkmal der Autonomie bürgerlicher Kunst darstellt.3 Die Aufhebung dieses autonomen Status der Kunst und ihre erneute Öffnung auf das Leben war erklärtes Ziel der historischen Avantgardebewegungen. „Man wollte die Kunst von ihrem Sockel der Autonomie herunterholen, auf den sie das Bürgertum im 19. Jahrhundert gehoben hatte, sie aus ihrer gesellschaftlichen Unabhängigkeit, ja Indifferenz zurückbringen in das tägliche Leben aller Menschen.“4 Die Bewegung in die Lebenspraxis war Ausdruck des Strebens nach einer

2 3 4

Vgl. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 17 und Raunig: Ästhetik der Grenzüberschreitung, S. 37. Vgl. Bürger: Theorie der Avantgarde, S. 66. Völker: Ist die Zukunft ein Ziel?, S. 23.

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Relevanz der Künste im Zuge gesellschaftlicher Entwicklungen.5 In den Worten Babias gelang es den interventionistischen Kunstpraxen der 90er Jahre denn auch die Autonomie als Stützpfeiler des bürgerlichen Kunstbegriffs ins Wanken zu bringen.6 Dabei wird sowohl die Autonomie des Kunstfelds, die Autonomie des Kunstwerks, als auch das autonome Künstler-Subjekt einer Kritik unterzogen. Neben dieser optimistischen Einschätzung gibt es viele Stimmen, die auf die Kontinuität und Kraft der Kategorie verweisen. Raunig spricht gar vom Mythos Autonomie, der regelmäßig wiederaufersteht.7 Fischer-Lichte hält fest: „Auch wenn die Künstler daran arbeiten, die Grenzen zwischen Kunst und Leben, zwischen dem Ästhetischen und dem Sozialen, Politischen, Ethischen zu überschreiten, zu verwischen, ja zu annullieren, vermögen die von ihnen initiierten Aufführungen wohl, auf die Autonomie zu reflektieren, nicht aber sie aufzuheben.“8 Von der positiven Bestimmung der Autonomie als Loslösung von den Vorgaben der Auftraggeber bis zur Verdammung als Symbol für die Zweckfreiheit reichen die unterschiedlichen Konnotationen von Autonomie, die hier kurz angerissen wurden. Sie machen deutlich, wie schwierig es ist, Autonomie pauschal als bürgerliche Kategorie abzulehnen und damit die Dichotomie von Autonomie vs. Gesellschaftsbezug fortzuschreiben. Die scharfe Kritik an der Kategorie Autonomie ist auch noch aus einem anderen Grund fragwürdig, denn Autonomie ist stets als relative zu denken. So lässt sich bezweifeln, dass es je eine vollständige Autonomie gegeben hat. Schon in der Renaissance entstehen mit der Loslösung von feudalen und klerikalen Auftraggebern neue Abhängigkeiten. Obwohl die selbstgewählte künstlerische Ausdrucksweise an Wert gewinnt, sind Künstler weiterhin der Beeinflussung weltlicher Auftraggeber ausgesetzt. Mit Bourdieu lässt sich aufzeigen, wie sich die Abhängigkeiten von den finanziellen zu symbolischen Zuwendungen verschieben. Er weist in seiner Untersuchung des literarischen Feldes in Frankreich nach 1850 in seinem Buch Die Regeln der Kunst auf die strukturellen Abhängigkeiten der Künstler unter neue Mächte (die Herrschaft des Geldes) hin. Er zeigt die gegenseitigen Bezugnahmen und Beziehungen im Kunstfeld auf und betont den Einfluss des direkten Um-Feldes, des Gefolges von Kommentaren und institutionellen Bindungen auf die Entwicklung der Kunst. „Die künstlerische Arbeit in ihrer neuen Definition macht die Künstler stärker

5 6 7 8

Vgl. Hemken: Die kategorische Interaktion, S. 56. Vgl. Babias: Im Zentrum der Peripherie, S. 25. Vgl. Raunig: Ästhetik der Grenzüberschreitung, S. 23. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 352.

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denn je zuvor abhängig von einer ganzen Folge von Kommentatoren, die kraft ihrer Reflexion auf eine Kunst [...] direkt zur Produktion des Kunstwerks beitragen.“9 An anderer Stelle schreibt er von einer strukturellen Unterordnung des Künstlers unter zwei zentrale Vermittlungsinstanzen: den Markt (Verkaufszahlen und Besucherzahlen), und den dauerhaften Beziehungen (das, was man heute als Netzwerk bezeichnen würde). Diese werden insbesondere in den damals abgehaltenen Salons gepflegt, die sich als Orte des Kampfes um die Sicht- und Sagbarkeit im Kunstfeld herausstellen: „Die Inhaber der politischen Macht wollen ihre Sicht den Künstlern aufzwingen und sich deren Konsekrations- und Legitimationskraft [...] zu eigen machen; die Künstler und Schriftsteller wiederum, [...] sind darauf aus, eine mittelbare Kontrolle über die verschiedenen vom Staat verteilten materiellen und symbolischen Gratifikationen zu bekommen.“10 Bourdieu zeigt das Kunstfeld als ein mit materiellen und machtpolitischen Interessen durchzogenes und von gegenseitigen Abhängigkeiten geprägtes Feld und dekonstruiert damit die Vorstellung eines autonomen Künstlers, Kunstwerkes und Kunstfeldes. Der Begriff Autonomie ist in Folge dessen als relativer zu verstehen und nicht gleichzusetzen mit der Abgehobenheit der Kunst und ihrer Herauslösung aus der Lebenswelt in der bürgerlichen Gesellschaft. Er dient eher dazu die Eigengesetzlichkeit des Kunstfeldes zu charakterisieren und das Kunstfeld als einen spezifischen Raum mit eigenen Gesetzen zu verstehen, der von gesamtgesellschaftlichen Gesetzen nicht ausgenommen ist.11 In diesem Sinne gilt es die Gleichzeitigkeit von Autonomie und Gesellschaftsbezug zu denken, statt Autonomie als Beleg für eine dichotomische Andersheit der Kunst zur Gesellschaft zu instrumentalisieren.

Gesellschaftsbezug Laut Benjamin kann „die Tendenz einer Dichtung politisch nur stimmen […], wenn sie auch literarisch stimmt. Das heißt, daß die politisch richtige Tendenz eine literarische Tendenz einschließt.“12 Anschließend an diese Bestimmung des Politischen auf der inhaltlichen und formalen Ebene, lassen sich eine Reihe von Fragen formulieren: Wann

9 10 11 12

Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 275. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 88f. Vgl. Graw: Das war vor Jahren, S. 7. Benjamin: Der Autor als Produzent, S. 684f. Benjamins Ziel war die Überwindung des unfruchtbaren Gegensatz von Form und Inhalt, von Tendenz (politische Ausrichtung) und Qualität, zugunsten einer dialektischen Denkweise, die die ‚Gegensätze‘ als Verhältnis denkt (vgl. S. 686).

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wird Kunst politisch? Wann überschreitet sie die Grenze zur Politik? Wenn sie sich (inhaltlich) mit gesellschaftlichen Missständen auseinandersetzt und auf diese aufmerksam macht? Oder wenn sie konkret in politische Kontexte interveniert und nachhaltige Veränderungen bewirkt? Kann auch eine symbolische Intervention Verschiebungen in den Aufteilungen des Sinnlichen auslösen? Ist mit Benjamin nicht vielmehr von einer Verknüpfung von inhaltlicher und formaler Ebene auszugehen? Kann auch eine Haltung politisch sein, die sich in ihrer Eigenständigkeit Vereinnahmungen verweigert und alternative Denkund Lebensweisen vorlebt? Liegt schon in der Verweigerung und Negation ein politischer Akt? Diese Fragen sollen hier nicht abschließend geklärt werden, sondern den Diskursrahmen abstecken, in dem das Verhältnis von Kunst und Politik bestimmt (und dynamisiert) wird. Demnach gilt es abzuwägen zwischen der Beurteilung der Kunst anhand ihrer Wirksamkeit für politische und außerästhetische Belange und den damit einhergehenden Gefahren einer Einengung und programmatischen Bestimmung von Kunst. Wird Kunst am Maßstab politischer und gesellschaftlicher Protestbewegungen gemessen, erscheint sie notgedrungen ungenügend. Dies zeigt sich insbesondere an den kulturpessimistischen Stimmen von marxistisch geprägten Autoren wie Bürger, Damus oder Buchloh. So spricht Bürger in seiner Theorie der Avantgarde pessimistisch vom Scheitern der Avantgardebewegungen, da sie zur falschen Aufhebung der Kunst in Warenästhetik und Unterhaltungsliteratur geführt habe.13 Damus beklagt in seinem Rückblick auf die Kunst des 20. Jahrhunderts den dort zu beobachtenden Übergang von einer transzendierenden zu einer affirmativen Kunst. Er bezieht sich dabei auf die Kunstpraxen der 60er Jahre, die eigentlich durch vielfache Grenzüberschreitungen und experimentelle Formen geprägt waren. Doch: „die ‚kritische‘ Bewusstmachung und ‚neue‘ Sehweise, die von vielen Künstlern in den 60er Jahren angestrebt wird, ziele ohne Tendenz auf Veränderung, lediglich auf eine Ästhetisierung der Wirklichkeit.“14 Einzig die ‚Provos‘ verwehrten sich dem Spektakel und gingen über die vereinbarte Symbolik hinaus.15 Grasskamp befürwortet aus diesem Grund eine ‚Ästhetik der Provokation‘, „die sich auf der Höhe ihrer immanenten Problematik mit dem Zusammenspiel

13 Vgl. Bürger: Theorie der Avantgarde, S.71ff. Die dort formulierte Behauptung des Scheiterns wird von ihm jedoch in späteren Interviews revidiert, indem er im Scheitern eines utopischen Projekts auch Momente von Gelingen verortet (vgl. das Interview mit Graw, in: Dies.: Silberblick, 26-33). 14 Damus: Funktionen der Bildenden Kunst, S. 124. 15 Vgl. Grasskamp: Marsch durch die Illusion, S. 141.

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von Revolte, Medien und Kulturindustrie auseinandersetzt.“16 Doch nur die wenigsten künstlerisch-politischen Ansätze genügen diesem Anspruch, da sie allzu leicht von der allmächtigen Kulturindustrie vereinnahmt werden können. Anhand dieser Stimmen lässt sich erahnen, wie radikal der Kunstbegriff in den 60er und 70er Jahren gedacht wurde. Dieser wurde primär an seiner Wirksamkeit gemessen; an seinem Vermögen Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu bewirken. Die Folge dieser einseitigen Bestimmung ist eine recht pessimistische Beurteilung des Großteils der kulturellen Produktion der Postavantgarden durch die ‚Neue Deutsche Linke‘. „Jedwede kulturelle Produktion galt als reaktionär, per definitionem affirmativ“ und stand im Verdacht nicht viel mehr zu sein „als das Ergebnis bestimmter Marktinteressen“17. In einem Interview im Katalog der documenta 10 bemerkt Buchloh rückblickend, dass auch für ihn das Politische zu dieser Zeit primär in der Veränderung der Besitzverhältnisse und in der Veränderung der Produktionsbeziehungen lag.18 Kunst wird hier auf das Bewirken tatsächlicher Veränderungen reduziert. Mit Butin gilt es dagegen die Vielfalt politischer Bezüge stark zu machen: „Die Möglichkeiten und Ziele künstlerisch-politischer Praktiken [reichen] von Information und Aufklärung bis zu Protest, das heißt von symbolischen, modellhaften oder diskursiven Produktionen bis zu Formen konkreter sozialer oder politischer Interventionen.“19 Deutlich wird anhand der vorgestellten Positionen, wie die Definition politischer Kunst zeit- und diskursgebunden ist und sich die Maßstäbe, nach denen der politische Gehalt künstlerischer Produktionen gemessen wird, verändern können. Ventura spricht angesichts dessen sogar von ‚reduktionistischen Identifizierungen‘20 und verweist darauf, dass sich an den unterschiedlichen Definitionen zumeist ideologische Dispositionen ablesen lassen.21

16 Grasskamp: Marsch durch die Illusion, S. 10. 17 Das politische Potential der Kunst, Gespräch zwischen Buchloh, David, Chevrier, S. 377. 18 Vgl. Das politische Potential der Kunst, Gespräch zwischen Buchloh, David, Chevrier, S. 393. 19 Butin: Kunst und Politik, in: Ders.: Begriffslexikon, S. 182. 20 Vgl. Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 236. 21 Vgl. Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 11.

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2.2 Avantgardistische Angriffe auf den autonomen Status von Kunst Wie bereits erwähnt, waren es vor allem die historischen Avantgarden, die auf das Aufbrechen des autonomen (bürgerlichen) Status der Kunst zielten und sich als Vorhut im Kampf um die Errichtung einer neuen Gesellschaftsordnung verstanden. Ihre Definition als Vorhut beschreibt das Neue und Visionäre ihrer Ansätze und Forderungen, die sowohl den Kunstbegriff als auch den Status der Kunst in der Gesellschaft betreffen. Radikal überschritten die Avantgarden verschiedenste Grenzen. Durch das Experimentieren mit (angewandten, nichtkünstlerischen) Disziplinen und Methoden wurden die Wahrnehmungsgewohnheiten angegriffen und gesellschaftliche Normen, Konventionen und Lebensformen provoziert. Dargestellt wurden die hässlichen und disharmonischen Züge der Welt durch ästhetische Prinzipien wie Schock, Verfremdung, Atonalität, Abstraktion.22 Mersch spricht sogar von einem revolutionären Gestus der Avantgarden, den er mit ihren Angriffen auf die Institutionen des Kunstfeldes, ihrer Geschichtsnegation und ihrer Vorbildlosigkeit begründet. Kunst wurde auf diese Weise zu etwas Anderem, zu Nicht-Kunst.23 Oftmals gingen die formal-ästhetischen Experimente mit politischen Forderungen einher. So wird ihr Status von Jacob zugleich als „stylistically innovative and politically advanced“24 beschrieben. Der politische Anspruch ist getragen von dem utopischen Glauben an eine Umgestaltung der Lebensverhältnisse und zeigt sich in den Versuchen unmittelbaren Einfluss auf die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zu nehmen. Laut Bürger zielten die Angriffe der Avantgarden denn auch auf den Verwendungszweck, die individuelle Produktion und Rezeption der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft.25 Die weit reichende Erweiterung des Kunstbegriffes im 20. Jahrhundert ist für ihn eng an die Suche nach gesellschaftlicher Relevanz und Funktionalität gekoppelt. Diese Suche manifestiert sich in dem Wunsch einer Überschreitung der Grenzen zwischen Kunst und Leben, wie in den kritischen, politischen oder sozialen Ansprüchen von Kunst. Im Extremfall stellen sich „Kunst und Künstler in den Dienst einer revolutionären Umgestaltung der politischen Verhältnis-

22 23 24 25

Vgl. Klinger: Das Jahrhundert der Avantgarden, S. 6. Vgl. Mersch: Ereignis und Aura, S. 251. Vgl. Jacob: An unfashionable audience, S. 56. Vgl. Bürger: Theorie der Avantgarde, S. 68-72.

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se“26 – wie insbesondere bei der russischen Avantgarde und ihrer Nähe zur Revolution oder dem italienischen Futurismus zu beobachten war. In beiden Fällen stieß die Kunst jedoch an die Grenzen ihres Gestaltungswillens. Die Annäherung von künstlerischen Ansätzen und politischem Programm führte zu einer Vereinnahmung durch die offizielle Politik und einem Verlust der künstlerischen Freiheit. Hier zeigt sich die Ambivalenz der Avantgarden, die einerseits als Speerspitze der künstlerischen Entwicklungen gelten und besonders radikale Grenzüberschreitungen vornehmen, andererseits aber auch Negativbeispiele für allzu weit gehende Überschreitungen darstellen. Besonders deutlich lässt sich diese Entwicklung anhand der Russischen Avantgarde nachvollziehen, die im Folgenden ausführlich beschrieben wird. An die historischen Avantgardebewegungen der 1910er bis 1940er Jahre knüpften die Neo- oder Postavantgarden der 1960-1970er an, die ebenfalls kurz geschildert werden sollen. Der Schwerpunkt der knappen Schilderungen dieser Bewegungen liegt auf den jeweils vorgenommenen Grenzüberschreitungen und Verknüpfungen mit gesellschaftspolitischen Kontexten. Ähnlich wie die Kategorie der Autonomie zeigt sich jedoch, dass auch der Begriff der Avantgarde nur schwer zu fassen ist, weil er unterschiedliche Konnotationen und Aspekte in sich vereint. Krieger spricht aus diesem Grund vom Janusgesichte der Avantgarde: „Kein Wunder, dass der Terminus so unspezifisch ist, denn die künstlerische Bewegung, die sich dahinter verbirgt, ist so reich an Innovationen, so vielgestaltig und in sich widersprüchlich, sie umfasst solch extrem gegensätzliche Charaktere und Konzepte, dass es nahezu unmöglich erscheint, sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.“27 Auf die Vagheit des Begriffs Avantgarde macht auch Ventura aufmerksam: „Avantgarde ist kein Programm oder Genre und auch keine Methode. Als Spezialfall der Projektionsfläche ‚KünstlerIn‘ eignet sie sich in besonderem Maße für kulturtheoretische Instrumentalisierungen. Sie ist ein soziohistorisches Werkzeug“, dessen unkritische Verwendung im Kunstfeld er zu Recht kritisiert.28 2.2.1 Russische Avantgarde Die Russische Avantgarde setzte sich aus zahlreichen Ansätzen und Gruppierungen zusammen, die zumeist als -ismus bekannt geworden sind wie Konstruktivismus, Suprematismus, Kubo-Futurismus, Primi-

26 Klinger: Das Jahrhundert der Avantgarden, S. 6. 27 Krieger: Aufbruch in die Moderne, S. 11. 28 Vgl. Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 31.

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tivismus und Rayonismus und sich gegen den damalig herrschenden akademischen Stil wandten. Sie begann um ca. 1910, begleitete intensiv die Oktoberrevolution von 1917 und endete in den 30er Jahren mit der zunehmenden Beeinflussung der Künstler durch die sozialistische Ideologie. Sie war geprägt vom französischen Kubismus ebenso wie vom italienischen Futurismus und griff auf primitive Volkskunst ebenso zurück wie auf die russische Ikonenmalerei. Sie war wegweisend in der Entwicklung der Abstraktion (Malewitsch) und der Produktionskunst (Tatlin), aber auch im Einsatz der neuen Medien Film und Fotografie. Weiss fasst zusammen: „In dieser Zeit hat eine einzigartige Verdichtung von seelischen und intellektuellen Kräften, eine Integration von bildender Kunst, Politik, Dichtung, Musik und Architektur stattgefunden. [...] Künstlerische und politische Utopien waren für einige wenige Jahre zu einer Einheit verschmolzen, in der Kunst und Leben, Alltag und künstlerische Praxis, Straße und Museum, Theater und Schule, 29 Propaganda und Produktion nicht mehr zu trennen waren.“

Neben der experimentellen Auseinandersetzung mit dem Bild und der Malerei (bis hin zu ihrer vollkommenen Reduktion auf das Schwarze Quadrat bei Malewitsch), arbeiteten viele Künstler interdisziplinär und zielten auf eine Anwendbarkeit ihrer künstlerischen Ansätze und Methoden. So kam es zu Kooperationen mit Literaten und dem Theater sowie zur Zusammenarbeit mit Architekten und Designern, die sich in der sogenannten Produktionskunst niederschlug. Viele Ansätze zielten darauf, die Grenzen von Kunst und Leben zu überschreiten. Mit der Oktoberrevolution ergaben sich für die Künstler konkrete Möglichkeiten, als ‚aktive Kräfte‘ beim Aufbau einer neuen Gesellschaft beteiligt zu sein. Laut dem Künstler Alexander Wesnin war es ihr Ziel, das Bewusstsein des Menschen zu organisieren.30 Diese Politisierung der Kunst und die Orientierung an gesellschaftlichen Fragestellungen wurden vor allem durch die Konstruktivisten vorangetrieben, die das ganze Leben der Menschen konstruieren und damit gestalten wollten. Es sollte eine neue Kunst für eine neue Gesellschaft entstehen. Die Künstler verstanden sich als deren Vermittler. Mit ihrer Hilfe sollten die Botschaften der neuen Gesellschaft im täglichen Leben visuell erfahrbar und die breite Masse für ein soziales Engagement gewonnen werden. „Ein neuer Menschentypus, dem der Künstler als Vorbild für den einzelnen diente, sollte sich entwickeln. Die Kunst sah man als

29 Weiss: Von Malewitsch bis Kabakov, S. 10. 30 Vgl. Wesnin zit.n. Diederich: Dynamik als Gestaltungsprinzip, S. 27.

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Vorbild für die gesamte Gesellschaft.“31 Zu diesem Zweck übernahm der Künstler verschiedene Aufgaben und wirkte als Organisator des Lebens. Nach Jule Reuter bezogen die Bolschiwiki gezielt engagierte Künstler in den Prozess der Umstrukturierung der kulturellen Verhältnisse ein. „Die politische Mitarbeit vieler Künstler war in den Revolutionsjahren vom Selbstverständnis motiviert, die Künste zu demokratisieren und jenes neue Massenpublikum zu erreichen.“32 Die Kunst umfasste nun alle Aspekte des sozialen Lebens, von politischen Aufmärschen bis zum Theater und Film. Zielpunkt künstlerischer Tätigkeit waren die „Bedürfnisse und Produkte der Massen. [...] Der Alltag, das Leben der Menschen hatte Ausgangspunkt und Thema künstlerischer Gestaltung zu sein.“33 Die Künstler versuchten dies durch die Gestaltung alltäglicher Gegenstände zu erreichen. Die Synthese von Kunst und Alltagsleben wurde in Form von Plakatentwürfen, Bühnenbildern für Theater, Entwürfen für Sport- und Arbeiterkleidung, Design für Porzellan und Stoffe, Architekturmodellen für Zeitungskioske, Straßen- und Festdekorationen umgesetzt. Die Wahl der Dynamik als Gestaltungsprinzip der Avantgarde sollte dabei die Aufbruchsstimmung unterstützen und zur Mobilisierung beitragen; sie zeigt sich in den geometrischen, auf das Universum strebenden Formen des Suprematismus, die sich in vielen Plakatentwürfen wieder finden, ebenso wie in den dynamischen Schrägsichten und Diagonalen in den Fotografien von Rodtschenko. Doch bereits in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre kam es zu Konflikten zwischen Kunstlinken und politischer Führung. Künstler gingen ins Exil oder in die innere Emigration.34 Einige „schränkten ihr ‚Maximalprogramm‘ der Revolutionierung des Alltagslebens auf ihr ‚Minimalprogramm‘ ein, die Ausbildung von Spezialisten der Produktgestaltung an der WChUTEMAS.“35 Andere folgten der vorgeschriebenen Linie und konzentrierten sich wie Rodtschenko auf die Produktionskunst. Es zeigte sich, dass der Wunsch mit der Parteiführung konstruktiv am Aufbau der Gesellschaft teilzuhaben, nur unter erheblichen Einbußen der künstlerischen Freiheit möglich war. Reuter zufolge wurde „der aufklärerische Impetus und die Über-

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Völker: Ist die Zukunft ein Ziel?, S. 24. Reuter: Die Strassen sind unsere Pinsel, S. 91f. Völker: Ist die Zukunft ein Ziel?, S. 29. Vgl. Weiss: Von Malewitsch bis Kabakov, S. 15. Weiss: Von Malewitsch bis Kabakov, S. 23. Das WChUTEMAS beherbergte die höheren technischen Werkstätten, die 1920 in Moskau gegründet wurden und zur Erforschung und Erlernung von technischen Verfahrensweisen v.a. für die Konstruktivisten diente.

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zeugung der kollektiven dynamischen Veränderung des Lebens [...] in Folge einer immer rigideren Einflussnahme und Zensur durch die Parteiführung völlig zurückgedrängt.“36 Das künstlerische Engagement schlug in Propaganda und eine agitatorisch ausgerichtete Kunst um. Laut Völker wurde der Traum der Avantgarde, das gesamte gesellschaftliche Leben nach einem künstlerischen Gesamtplan zu organisieren, in der Stalinzeit auf vollkommene, aber pervertierte Weise in die Tat umgesetzt.37 2.2.2 Postavantgarden der 60er/70er Jahre: Situationismus, Konzeptkunst und Performance Kunst Nach dem ‚Scheitern‘ der historischen Avantgarden kam es erst in den 50er Jahren zu einer Rückwendung zu Positionen der Avantgarde. Auf der documenta 1 von 1955 wurde erstmals internationale moderne Kunst aus den 20er und 30er Jahren vorgestellt und dadurch eine Art Wiedergutmachung an der durch die Nationalsozialisten verfemten Kunst geleistet. Gleichzeitig bot die politische Instrumentalisierung der Kunst im Kalten Krieg kaum Spielraum für grenzüberschreitende Praxen, die sich über die Festlegung auf Abstraktion oder Realismus hinwegsetzten. Erst in den 60er und 70er Jahren wurde auf breiter Ebene an avantgardistische Positionen angeknüpft, die zu einer wiederholten Politisierung des Kunstgeschehens führten. Viele Ansätze zeichneten sich durch ein „starkes Interesse an der kritischen Betrachtung gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Zusammenhänge [aus]“.38 Auf unterschiedlichen Ebenen wurde versucht, den Gesellschaftsbezug der Kunst wieder zu stärken: durch den Gebrauch alltäglicher Materialien (arte povera), das Verlassen der klassischen Kunstinstitutionen und die Verlagerung der künstlerischen Praxis in den öffentlichen Raum (Situationismus), den verstärkten Einbezug des Körpers und der Betonung des Konzepts des Kunstwerks in Aktionen und Performances, die zumeist zeitlich beschränkt waren und den Werkcharakter der Kunstwerke hinterfragten (Performance Kunst, Fluxus, Konzeptkunst) sowie den Einbezug und die Aktivierung des Betrachters (verschieden stark bei Minimal Art und Aktionskunst). Angegriffen wurde der Mythos der individuellen Autorschaft ebenso wie der White Cube und das von der Gesellschaft abgekoppelte Kunst(markt)geschehen. In vielen Fällen wurden politische Themen aufgegriffen 36 Reuter: Die Strassen sind unsere Pinsel, S. 101. 37 Vgl. Völker: Ist die Zukunft ein Ziel?, S. 30. 38 Βutin: Kunst und Politik, in: Ders.: Begriffslexikon, S. 171.

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und verhandelt; wurde versucht ein Bezug zum Alltag und zur Realität herzustellen. Die Politisierung der Postavantgarden verläuft parallel zu einer generellen Politisierung in den 70er Jahren. Sowohl in den USA, wo der Vietnam Krieg die Menschen polarisierte, als auch in Frankreich und Deutschland, wo die ‚68er‘ revoltierten, lässt sich von einer Politisierung auf breiter gesellschaftlicher Basis sprechen.39 Butin hebt ausdrücklich die politischen Intentionen der Künstler hervor, die die Kritik an bestehenden Verhältnissen ebenso umfasst wie das Entwickeln alternativer Strukturen. Er zählt zu den Intentionen der damaligen Zeit, „die Möglichkeit neue Gesellschaftsentwürfe zu entwickeln, Kritik an repressiven gesellschaftlichen Strukturen zu üben und emanzipatorische Mitsprache einzufordern, institutionskritische Fragen zu stellen, hegemoniale Diskurse zu analysieren und politische Zusammenhänge offenzulegen.“40 Dabei ging der Glaube an eine konkrete Veränderung der Gesellschaft unterschiedlich weit. Zielte Beuys mit seiner ‚sozialen Plastik‘ auf eine möglichst breite Revolution von unten, ging es dem Situationismus um die Herstellung von Situationen, die eine Alternative zur bestehenden ‚Gesellschaft des Spektakels‘ bildeten. Neben dem Rückgriff auf demokratische Methoden (z.B. der Parteigründung) wurden häufig Strategien der Massenmedien aufgegriffen, um ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Wurden diese bei Jörg Immendorffs Agitationskunst für die Vermittlung der eigenen politischen Meinungen genutzt, arbeiteten andere Ansätze stärker mit ihrer Entfremdung und Subversion (Konzeptkunst, Pop Art). Ziel war es über die Sensibilisierung für Techniken der Meinungsbildung, für institutionelle Machtstrukturen und Marktmechanismen, Prozesse der Bewusstwerdung anzustoßen und aufklärend auf die Gesellschaft einzuwirken. Der Ansatz, mit Kunst in real existierende Abläufe einzugreifen, manifestiert sich aber auch in den Forderungen einer Aktivierung der Betrachter. Kunst verstand sich zunehmend als kommunikative Struktur und zielte auf Partizipation und Interaktion. Sei es durch den Einbezug des Betrachters in installativen Arbeiten, die dessen Bewegung im Raum voraussetzen; die Abspaltung von Idee und Werk in der

39 So verweist Godfrey auf die engen Verbindungen zwischen konzeptuellen Ansätzen und einer generellen Politisierung in den USA: „Artists too were involved in protests and alternative organizations. In New York many artists joined the Art Workers Coalition, which protested against museum politics and society at large.“ (Godfrey: Conceptual Art, S. 194.) 40 Butin: Kunst und Politik, in: Ders.: Begriffslexikon, S. 176.

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Konzeptkunst, die verschiedene Möglichkeiten der (individuellen) Umsetzung dieser Idee eröffnet oder die aktive Beteiligung in konkreten Aktionen und Projektarbeit. Für Kliege veränderte sich damit das Kunstverständnis: „Der Kunstbegriff hatte sich dahingehend geöffnet, dass gesellschaftliche Vorgänge und Prozesse, wie die Kommunikation oder die Zusammenarbeit, als künstlerische Mittel wahrgenommen werden und anerkannt sind.“41 Bevor dies am Beispiel der Performance Kunst exemplarisch erläutert wird, werden mit dem Situationismus und der Konzeptkunst zwei Ansätze vorgestellt, bei denen die künstlerische Tätigkeit häufig mit konkreten politischen Forderungen und Handlungen verbunden waren, bzw. durch diese ersetzt wurde. Am radikalsten wurde der Anspruch einer Politisierung der Kunst von den Situationisten in Frankreich vorgetragen und umgesetzt – so weit, dass sich diese vom Kunstbegriff weitgehend distanzierten. Angestrebt wurde die Herstellung eines Bezugs zur Wirklichkeit auf der Ebene des Alltags. Die herkömmliche Politik sollte durch eine revolutionäre Praxis im alltäglichen Leben ersetzt werden. Ziel war es, neue Aktionsformen im Bereich der Kultur und des Alltagslebens zu entwickeln, um dort die Perspektive einer revolutionären Veränderung zu schaffen. Hintergrund war die Kritik an einer ‚Gesellschaft des Spektakels‘, die die Menschen von ihren wirklichen, unmittelbaren, gegenwärtigen Interessen ablenkt und deshalb bekämpft werden musste. Dafür wurden Methoden der permanenten Entfremdung von gesellschaftlichen Konventionen entwickelt und nach Möglichkeiten des Ausbrechens aus den vorgegebenen Bewegungsmustern gesucht. Um revolutionäre Alternativen zur herrschenden Kultur zu entwickeln, wurden Situationen für undeterminiertes und experimentelles Verhalten geschaffen. „Die zentrale Idee war die Konstruktion von Situationen, d.h. die konkrete Konstruktion von momentanen Lebensumwelten mit neuen leidenschaftlichen Qualitäten.“42 Neben der Praxis des Umherschweifens (Dérive oder auch Psychogeographie genannt) mit dem Ziel einer Neuaneignung des öffentlichen Raumes, wurden verschiedene Praxen der Entwendung (Détournement) entwickelt. Dabei handelt es sich um Akte des Verdrehens und Umdrehens von Bildern, Ereignissen und Situationen, bei denen die Bedeutung neu definiert, die Konvention gebrochen und der Diskurs zurückerobert wird.43 Symbole

41 Kliege: Engagierte Kunstformen, S. 15. 42 Weibel: Kontextkunst, S. 28. 43 Vgl. Waldvogel: Cultural Jamming, S. 39f.

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oder Schriftzüge der Alltagsgraphik und der Werbung werden aus ihrem ursprünglichen Kontext entwendet, mit politischen Analysen verknüpft und für revolutionäre Zwecke eingesetzt.44 Laut Peter Weibel garantierte die Situationistische Internationale auf diese Weise die künstlerische Teilhabe an der Konstruktion des (alltäglichen) Lebens und fand für das avantgardistische Programm einer Wiedergewinnung der Wirklichkeit einen radikalen, neuen Ansatz.45 Sie verkörpert die Entwicklung vom avantgardistischen Kunstkollektiv zur politischen Agitationstruppe – und bildet für Raunig eines der wenigen positiven Beispiele für die gelungene Verkettung von Kunst und Revolution.46 Zentrale und ebenso umstrittene Figur der SI war Guy Debord, der mit seinem Buch Gesellschaft des Spektakels die ‚Bibel‘ der Situationisten schrieb, aber durch sein Gebaren Ausgrenzungsprozesse eher reproduzierte als die Beschwörung des Kollektivs tatsächlich umzusetzen. Obwohl die Konzeptkunst als theorielastige und intellektuelle Kunstform beschrieben wird47, versprach sie laut Buchloh eine „Verlängerung politischer Positionen mit kulturellen Mitteln“48. Auch Buchmann spricht anhand der Verbindungslinien von Kunst, Alltag und Politik, die durch konzeptuelle Ansätze eröffnet wurden, von der Hoffnung auf eine Demokratisierung der Kunst.49 Tatsächlich kommt es Ende der 60er Jahre zu einer politischen Polarisierung: viele Künstler arbeiten in offen politischen Kontexten und entwickeln „in dem Bemühen, um die Rückgewinnung einer unterdrückten Öffentlichkeit partizipatorische

44 Vgl. autonome a.f.r.i.k.a. Gruppe/Blissett/Brünzels: Kommunikationsguerilla, S. 87. Die Autoren sprechen ob dieser Taktik gar von der Einführung einer Guerillapraxis in den Massenmedien. 45 Vgl. Weibel: Kontextkunst, S. 28. 46 Vgl. Raunig: Kunst und Revolution, S. 154-168. 47 Vgl. Marzona: Conceptual Art, S. 7. 48 Das politische Potential der Kunst, Gespräch zwischen Buchloh, David, Chevrier, S. 385. Buchloh meint damit die Hoffnung, dass „die Transformation des Kunstwerks in eine linguistische und textuelle Intervention [in Form von Zeitschriften, Anm. ALW] zwangsläufig auch mehr Leser und eine umfassende Politisierung der kulturellen Praxis mitbringen würde.“ (Ebd.) Für ihn stellte das Magazin ein Distributions- und Partizipationsinstrument in der Tradition taktischer Medien dar. Im Nachhinein bezeichnet Buchloh diese Ansätze jedoch als naiv und distanziert sich von dem Glauben, durch eine umfassende Politisierung der kulturellen Praxis auch gesellschaftliches Denken ‚umkrempeln‘ zu können. 49 Vgl. Buchman: Conceptual Art, in: Butin: Begriffslexikon, S. 49.

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Modelle, in denen sich eine große Anzahl von Menschen in kollektiven Formationen zusammenfinden können.“50 Indem der Akt der Planung zum Gegenstand künstlerischer (und theoretischer) Produktion wurde, löste sich die Idee, Konzeption oder gedankliche Struktur des Kunstwerks zusehends von seiner materiellen Realisierung. Das Konzept der künstlerischen Arbeit zählte mehr als dessen professionelle Ausführung. Dabei wurden nicht nur der traditionelle Kunstbegriff radikal in Frage gestellt, sondern auch die Grenzen zwischen Künstler und Nicht-Künstler nivelliert. Parallel wurde der Kunstbegriff um kommunikative Strategien, Methoden anderer Disziplinen und (interaktive) Medien erweitert. „Conceptual Art has been among the most accomodating of art movements, open to disciplines as diverse as linguistics, systems theory, political science, music, Eastern religions, and poetry.“51 Ramirez hebt in ihrem Katalogbeitrag über konzeptuelle Ansätze in Lateinamerika besonders die fließenden Grenzen zu Anthropologie und anderen kulturellen Praxen hervor.52 Sie sieht vor allem im Kommunikationswert der Konzeptkunst Potentiale für eine Verschmelzung von Kunst und Politik und spricht in Bezug auf die konzeptuellen Ansätze von einem soziokünstlerischen Emanzipationsprojekt, das mit der hypothetischen Veränderung des Alltagslebens und dem Aufbau einer veränderten Gesellschaft verbunden war.53 Charakteristisch für konzeptuelle Ansätze sind zudem die Hinterfragung des Status von Kunst und das Erproben neuer Wege der Präsentation, Distribution und Vermittlung. Thematisiert und kritisiert werden damit ihre kontextuellen Bedingungen ebenso wie ihr Status als Ware und ihre Zirkulation in den Institutionen der Kunst. Weniger politisch, aber ebenfalls radikal in der Überschreitung von Grenzen, ist die Performance Kunst. Unter diesem Begriff lässt sich eine Reihe von Ansätzen zusammenfassen, die sich durch den Einbezug des Körpers, durch die Hinwendung und Einbindung des Betrachters sowie den Ereignischarakter der Kunstwerke (im Happening) auszeichnen. Zu nennen wären Fluxus und Wiener Aktionismus, aber auch feministische Ansätze, in denen sich Frauen forschend mit dem eigenen Körper auseinandersetzten und dabei die Reduktion der Frau auf ihren Körper sowie die Unterordnung unter ein männliches Blick-

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Marzona: Conceptual Art, S. 24. Global Conceptualism, S. VIII. Vgl. Ramirez: Taktiken, S. 95. Vgl. Ramirez: Taktiken, S. 79.

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regime kritisch hinterfragen. Oftmals wurde das Spontane betont, ebenso wie das Prozesshafte der Arbeiten. Das Kunstwerk löste sich quasi auf, wurde immateriell und zum Ereignis im Moment der Aufführung. Kollektive und interaktive Handlungsformen ebenso wie die Verlagerung des Aufführungsortes in den öffentlichen Raum sorgten für einen engen Bezug zum Alltag und eine unmittelbare Beteiligung der Betrachter, die nicht selten zu Akteuren wurden. Fischer-Lichte schildert die Veränderungen, die durch die performative Wende in den 70er Jahren ausgelöst werden am Beispiel einer Performance von Maria Abramovic, in der sie ihren Körper unter entschiedener Missachtung seiner Grenzen misshandelte. Sie schuf dadurch ein Ereignis, das durch die Traditionen, Konventionen und Standards weder der bildenden Kunst noch der darstellenden Künste vorgesehen oder gar legitimiert gewesen wäre und versetzte den Zuschauer in eine irritierende, zutiefst verunsichernde Situation, in der gültige Normen, Regeln und Sicherheiten außer Kraft gesetzt zu sein schienen.54 Der Betrachter wurde mit einer Erfahrung konfrontiert, die einer Widerfahrnis glich und auf die Verursachung einer Krise zielte. Die daraus hervorgehenden Transformationen boten dem Zuschauer jedoch die Chance konkrete Bezüge zu seinem Alltagsleben herzustellen und damit aktiv zu werden. Diese hier am Beispiel von Konzeptkunst, Situationismus und Performance Kunst skizzierten Veränderungen des Kunstbegriffes in Form verschiedener Grenzüberschreitungen, die z.T. im Rückbezug auf die Avantgarden der 20er Jahre entstanden sind, werden erneut konstitutiv für die 90er Jahre, in denen in ähnlichem Maße von einem politischen Anspruch, einer Erweiterung der künstlerischen Rollen und Methoden und einer Betonung des Einbezuges der Betrachter gesprochen werden kann. Im nächsten Kapitel werden die Kunstpraxen der 90er Jahre und die dort vorgenommene Politisierung ausführlich geschildert.

2.3 Gesellschaftsbezüge in der Kunst der 90er Jahre In den 90er Jahren wird die Frage des Verhältnisses von Kunst und Gesellschaft erneut virulent. Im Folgenden geht es darum, die verschiedenen Formen des Gesellschaftsbezuges in den 90er Jahren herauszuarbeiten und sich dabei insbesondere auf die Politisierung der Kunstpraxen zu konzentrieren. Um den gesellschaftlichen Hintergrund der Kunstpraxen der 90er Jahre anschaulich zu machen, werden zu-

54 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 11.

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nächst der gesellschaftliche Kontext sowie konstitutive Ereignisse der 90er Jahre geschildert, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dass die 90er Jahre als Zeit der Re-Politisierung bezeichnet werden. Um einen Überblick über die vielfältigen Ansätze der 90er Jahre zu geben, die von Nina Felshin auch als ‚remarkable hybrid‘ bezeichnet werden,55 werden dann Stichwörter, Bewegungen und Konzepte der 90er Jahre benannt. Unterstrichen werden dabei die gesellschaftliche Involviertheit und der politische Anspruch dieser Ansätze, die häufig mit Grenzüberschreitungen unterschiedlichster Art verbunden sind. Kunst wird erstens als Kontextkunst beschrieben, zweitens als Auslöser von Kommunikation und Handlungen betrachtet, bevor interventionistische und aktivistische Kunstpraxen in den Mittelpunkt rücken. Im nächsten Schritt wird der Fokus auf die Re-Politisierung gelegt. Außerdem wird der Frage nachgegangen, inwieweit es zu einem Paradigmenwechsel gekommen ist und wie sich das Verhältnis interventionistischer Praxen zum Kunstfeld gestaltet. Dies wird eingehender beleuchtet, weil sowohl in der These eines Paradigmenwechsels als auch in den Forderungen der interventionistischen Kunstpraxen, das Kunstfeld zu verlassen, oftmals ein antagonistisches Verständnis des Verhältnisses von Kunst und Politik mitschwingt. 2.3.1 Hintergrund: Gesellschaftlicher Kontext und konstitutive Ereignisse Bevor die Kunstpraxen der 90er Jahre ausführlich geschildert werden, wird nach dem gesellschaftlichen Kontext gefragt, aus dem diese Politisierung hervorging. Hier scheint sich zu bestätigen, dass eine Annäherung von Kunst und Politik vorzugsweise in Zeiten stattfindet, in denen gesamtgesellschaftlich Umbrüche zu beobachten sind, wie am Beispiel der Russischen Avantgarde und der Politisierung der Kunst im Zusammenhang mit den Unruhen um 1968 deutlich wurde. In Deutschland sind die 90er Jahre eine Zeit der gesellschaftlichen und politischen Umbrüche, die die ‚wohlige Ruhe‘ der 80er Jahre beenden und die Kunst des Luxus und des boomenden Kunstmarktes obsolet werden lassen.56 Sie sind geprägt vom Fall der Berliner Mauer und der ‚Wiedervereinigung‘ der beiden deutschen Staaten. Der Zusammenbruch der realsozialistischen Systeme im Osten hat den Verlust einer utopischen Alternative zur Folge. Erscheint in der Umbruchphase einerseits Demokratie von unten möglich zu sein, ist es zugleich die Zeit der großen – zumeist – leeren Versprechen. Aufgrund der ho-

55 Vgl. Felshin: But is it Art?, S. 9. 56 Vgl. Rollig: Diskurs, Diskussion, Kommunikation, S. 272.

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hen Arbeitslosigkeit und den ausbleibenden ‚blühenden Landschaften‘ verstehen sich viele als Verlierer der Wende. Dies macht sich u.a. in verstärktem Rassismus und Nationalismus bemerkbar. Neben diesen Deutschland-spezifischen Themen gibt es globale Phänomene wie AIDS oder die Globalisierung, die den gesellschaftlichen Kontext mitbestimmen und politisieren. Dabei kommt es in den USA schon in den 80er Jahren zu einer Verknüpfung der Kunstszene mit zielgerichteten Protestbewegungen, die u.a. gegen Rassismus und einen repressiven Umgang mit AIDS protestierten. Ihr politischer Anspruch spiegelt sich in dem Slogan ‚art is not enough‘ der New Yorker Gruppe Gran Fury. Laut Rollig nehmen aktivistische Ansätze wie diese die Repolitisierung im Deutschland der 90er Jahre vorweg und stellen einen einflussreichen Anknüpfungspunkt für die analytischen, agitatorischen und aktivistischen Kunstpraxen dieser Zeit dar.57 Diese Verknüpfung von politischen und künstlerisch-aktivistischen Ansätzen zeigt sich in Deutschland z.B. in der Techno-, der Internet- oder der Deutschsein-Bewegung.58 Neben dem gesellschaftlichen Kontext sollen im Folgenden drei konstitutive Ereignisse vorgestellt werden, die eine Plattform für die Kunstpraxen der 90er Jahre lieferten und für ihre Sichtbarkeit im Kunstfeld und auf diskursiver Ebene sorgten.59 Als konstitutiv werden sie bezeichnet, weil sie einerseits die Entwicklungen im Kunstfeld repräsentieren, aber auch mit konstruieren. Zunächst werden die Ausstellungen culture in action und die Whitney Biennale vorgestellt, die beide 1993 in den USA stattfanden, bevor auf die documenta 10 eingegangen wird, die sich explizit als politische Ausstellung verstand. Alle drei wurden kontrovers diskutiert und nahmen so die Auseinandersetzung um die Möglichkeiten und Grenzen grenzüberschreitender Bewegungen der 90er Jahren vorweg. Dabei kristallisieren sich Unterschiede im jeweiligen Verständnis des Politischen heraus, die hier herausgearbeitet werden sollen. Zeigt sich das Politische bei der Ausstellung culture in action in der Verla-

57 Vgl. Rollig: Das wahre Leben, S. 14f. Zum Einfluss politisch-künstlerischer Praxis aus den USA vgl. auch Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 152-157 und Wege: Eines Tages werden die Wünsche, S. 24. 58 Vgl. Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 128-151. 59 Dabei kann nur ein Rahmen abgesteckt werden, denn die Vielzahl an Ausstellungen und Projekten mit politischer Ausrichtung wäre zu umfangreich, als dass sie hier dargestellt werden könnten. Es sei jedoch auf das Buch Politische Kunst Begriffe von Ventura verwiesen, der in diesem eine umfangreiche Übersicht über Ausstellungen und Projekte der 90er Jahre gibt.

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gerung der Ausstellung in den sozialen und öffentlichen Raum, wurde die Whitney Biennale als provokant empfunden, da sie sich in Form von dokumentarischen, informativen und forschenden Arbeiten mit dem Thema Identität auseinandersetzte und damit inhaltlich und formal mit den Konventionen einer Kunstausstellung brach. Auf der documenta 10 mit ihrem dezidiert politischen Anspruch wurde dagegen ein eher klassischer Politikbegriff vertreten, der als Voraussetzung für eine kritische Funktion der Kunst ihre Distanz zur Gesellschaft betonte. Die Ausstellung culture in action wurde in Chicago von Mary Jane Jacob als eine Großveranstaltung organisiert, die gesellschaftlich intervenierende Kunstpraxen präsentierte, die in den USA seit Ende der 80er Jahre verstärkt umgesetzt wurden und sich auf die spezifische Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum konzentrierten. Sie wurden später bekannt unter den Namen New Genre Public Art, Kunst im öffentlichen Interesse oder Community Art. Mit dem Ziel, die gesamte Stadt zum Ausstellungsort zu machen, wurden über ein Jahr lang acht umfangreiche, dezentral angelegte Projekte von Einzelkünstlern und Künstlergruppen vorwiegend mit Unterprivilegierten durchgeführt, darunter AIDS-Erkrankte, Latino-Jugendliche und Schüler aus sozial schwachen Vierteln. Die Künstler waren eingeladen kollaborative, prozessuale und nachhaltige Projekte umzusetzen, das heißt mit den Beteiligten zusammen einen gemeinsamen Arbeitsprozess zu initiieren, der konkrete Relevanz für diese besitzen sollte. Laut Johan Moser ging es „um Kunst, die danach trachtet, Spuren im Alltagsleben der Beteiligten zu hinterlassen, oder für jenes Publikum, das an ihr teilnimmt, aktiv und relevant sein will.“60 Die Projekte verstanden sich oftmals als Hilfeleistung und strebten nach einer Verbesserung der gesellschaftlichen Lage der Beteiligten. Sie bedingten eine aktive Rolle des Künstlers in der Gesellschaft und forcierten den Bezug zum wirklichen Leben.61 Dies wurde umgesetzt durch einen starken Anteil von Arbeiten im öffentlichen Raum und den unmittelbaren Bezug auf das lokale Umfeld und die dort lebende Community. Einen anderen Schwerpunkt setzte die Whitney Biennale. Hier dominierten Themen, die sich im weitesten Sinne mit Identitätsfragen, wie Klasse, Rasse, Geschlecht und Sexualität beschäftigten, wobei die Identität des Künstlers häufig den Ausgangspunkt lieferte für eine do-

60 Moser: Kunst, die gut tut?, S. 73. 61 Vgl. Moser: Kunst, die gut tut?, S. 88.

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kumentarische und forschende Auseinandersetzung mit dem Thema.62 Statt starrer und einseitiger Identitäts- und Repräsentationspolitiken wurde für flexible, d.h. relationale und diskursive Identitätskonstruktionen plädiert. Die politischen Themen wurden dabei auf inhaltlicher wie formaler Ebene zur Disposition gestellt. Es ging darum, ein kritisches Bewusstsein für Machtverhältnisse, Wissens- und Identitätskonstruktionen zu schaffen. Häufig wurde auf Text und Theorie sowie auf Multi-Media Installationen und filmische Arbeiten zurückgegriffen. Einige Arbeiten verstanden sich weniger als künstlerische Arbeiten, denn als Dokumente des wirklichen Lebens. Sie forcierten die Auseinandersetzung mit alltäglichen sozio-politischen Ausgrenzungen und sozialen Re-Präsentationen. Nach James Meyer legte die Biennale auf diese Weise die Grundlage für die Aufnahme einer politisch korrekten Haltung in die zeitgenössische Kunstpraxis: „Das Politische war mit anderen Worten generalisiert worden.“63 Für Suzy Gablik lag das Neuartige dieser Ausstellung in dem damit einhergehenden anti-elitären Charakter der Ausstellung: „A climax in these upheavals was reached for many with the controversial 1993 Biennial at the Whitney Museum which demonstrated that the art world is undergoing a dismantling of its professional elitism and that its closed, selfreferential ranks are under heavy siege.“64 Durch die Dominanz medialer Arbeiten, der ungewohnten Präsentation, dem Rückgriff auf Arbeiten an der Grenze zum Dokumentarischen und die Anbindung der Ausstellung in einen theoretischen Diskurs entsprechen „wenige Arbeiten dem konventionellen, aus der Malerei der Moderne abgeleitetem Diktum, dass ein Kunstwerk den Betrachtenden ein einheitliches, frontales, visuell-zentriertes Erlebnis bieten soll.“65 Auf diese Weise wurde das modernistische, autonome Kunstverständnis hinterfragt und die Grenzen der Ausstellungskonvention überschritten, was viele kritische Stimmen provozierte, die die Malerei ebenso wie die Schönheit und den Genuss vermissten.66 Die documenta 10 fand 1997 in Kassel unter der Leitung von Catherine David statt. Sie verfolgte dezidiert die Rückkehr politischer Dimensionen in die Kunst. Dieser politische Anspruch lässt sich anhand des umfangreichen Katalog mit dem Titel politics-poetics belegen. In ihm

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Vgl. Graw: Das war vor Jahren, S. 6. Meyer: Was geschah mit der institutionellen Kritik?, S. 239. Gablik: The reenchantment of art, S. 76. Cottingham: Moralischer Genuss, S. 246. Vgl. Cottingham: Moralischer Genuss, S. 235-239.

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wird ein Rückblick auf vergangene Diskurse und gesellschaftliche Ereignisse vorgenommen als auch nach den heutigen politischen Möglichkeiten von Kunst gefragt. Im Prolog steht: „Mit diesem Buch wird der Versuch unternommen, einen politischen Kontext für die Interpretation von künstlerischer Tätigkeit am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts abzustecken.“67 Es geht um das Aufzeigen historischer und kultureller Zusammenhänge zwischen Kunst und Gesellschaft. Zu diesem Zweck werden theoretische und künstlerische Positionen seit 1945 zueinander gestellt. Es werden bestimmte Linien ästhetischer Produktion und politischer Bestrebungen verfolgt, die als Instrumente einer produktiven Analyse der Möglichkeiten von Kunst dienen könnten. Aufschlussreich ist dabei die gewählte Form des Katalogs: Er gleicht einer Montage, um den komplexen Beziehungen zwischen spezifischen Kunstpraktiken und zugleich lokalen und globalen sozio-politischen Situationen gerecht zu werden.68 Hierfür werden literarische Texte, journalistische Essays, Kunstwerke und dokumentarische Fotografien kombiniert. „Die Effekte der Überlagerung, die sich durch die Montage ergeben, heben die strikten Grenzen von Werk, Dokument und Kommentar auf und schaffen eine vielfältige polyphone Struktur. Aus dieser Mehrstimmigkeit erwachsen Fragestellungen für das Heute“.69 Im Unterschied zu den sozial motivierten Projekten von culture in action und den alltagsbezogenen Themen der Whitney Biennale grenzt sich David dezidiert von sozialer Kunst ab und betont die kritische Funktion der Kunst, die an die Einnahme einer kritischen Distanz gebunden ist.70 Nur aus dieser Distanz ist die Herstellung von Dissens oder kultureller Kritik (an den Fundamenten der westlichen Kultur) möglich.71 Gleichzeitig strebte die Ausstellung durchaus auf die Überwindung der (räumlichen, zeitlichen und ideologischen) Grenzen des ‚white cube‘, denn, so betont David „wir sind nicht in einem Museum.“72 Stattdessen handelte es sich bei der Ausstellung um ein kulturelles Ereignis, innerhalb dessen die Ausstellung neben anderen ‚mani-

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Documenta: Das Buch zur Documenta, S. 2. Vgl. Documenta: Das Buch zur Documenta, S. 25. Documenta: Das Buch zur Documenta, S. 25. Vgl. Widerstand durch Anwesenheit, David im Gespräch mit Haase, S. 453. In einem anderen Gespräch ergänzt sie: „Die künstlerischen Positionen, die mich interessieren, haben immer etwas mit dem Versuch einer Herstellung oder Aufrechterhaltung von Distanz zu tun.“ (Machtspiele, David/Chevrier im Gespräch mit Graw/Germer, S. 91). 71 Vgl. Machtspiele, David/Chevrier im Gespräch mit Graw/Germer, S. 91. 72 Widerstand durch Anwesenheit, David im Gespräch mit Haase, S. 450.

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festations culturelles‘ einen wichtigen Platz einnahm.73 Die Ausstellung wurde somit räumlich und diskursiv erweitert, auch um der extremen Heterogenität der ästhetischen Praktiken gerecht zu werden. So wurde bewusst auf Medien wie Film, Internet und Radio in der Ausstellung und im Vermittlungsprogramm zurückgegriffen. Die diskursive Erweiterung und Vernetzung wurde durch die Veranstaltung 100 Tage, 100 Gäste ebenso forciert wie durch den Katalog und die Publikationsreihe documenta documents 1-3. Mit ihrer Hilfe sollten Debatten in Gang gebracht und die Besucher einbezogen werden. Zu einer lokalen Ausweitung kam es durch den Parcours durch die Stadt Kassel, der die ganze Stadt als Ausstellungsraum verstand und ihre Heterogenität hervorkehrte, „um so die Aufmerksamkeit auf die Zeichen der Geschichte zu lenken, die sich in das Antlitz der Stadt eingeschrieben haben.“74 Dennoch kritisiert Ventura, dass es erneut zu einer Konzentration auf das Zentrum, die professionelle, intellektuelle Kunstszene kam, während der Laie (die Peripherie) ausgegrenzt wurde. Auf diese Weise wurde an einem hochkulturellen Kunstverständnis und dem arrivierten Intellektuellen festgehalten, während massenkulturelle und populäre Entwicklungen ausgeklammert wurden.75

2.4 Stichwörter, Bewegungen und Konzepte der Kunstpraxen der 90er Jahre „Was als Kunst erkennbar wird, ist unübersichtlich, tritt fragmentarisch als Ergebnis von Recherchen in Erscheinung, dringt in den öffentlichen Raum wie in soziale Bereiche der Gesellschaft ein und findet seinen Platz gerade an den für die Kunst untypischen Stellen.“ 76 MELITTA KLIEGE

In diesem Kapitel soll ein Überblick über die Kunstpraxen der 90er Jahre gegeben und die Vielschichtigkeit des Gesellschaftsbezuges dieser Kunstpraxen herausgearbeitet werden. Die von ihnen vorgenom73 Vgl. Widerstand durch Anwesenheit, David im Gespräch mit Haase, S. 450. 74 Documenta: Kurzführer, S. 11. 75 Vgl. Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 77-87. 76 Kliege: Engagierte Kunstformen, S. 8.

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menen Grenzüberschreitungen sind so einschneidend, dass es zu einer umfassenden Transformation des Kunstbegriffs kommt, der oftmals als Paradigmenwechsel empfunden wird. Besonders im Vergleich zu den expressiven malerischen Gesten und dem boomenden Kunstmarkt der 80er Jahre, fällt auf, dass verstärkt gesellschaftspolitische Fragestellungen verhandelt und thematisiert werden. „Stärker denn je [wird] die gesellschaftliche Vermittlungsfunktion von Kunst bis hin zu ihrer RePolitisierung vorgetragen.“77 Dies zeigt sich anhand verschiedener Indikatoren: in der Verlagerung der künstlerischen Produktion in den öffentlichen und gesellschaftlichen Raum, in der Hinwendung und verstärkten Einbeziehung des Betrachters, in der Verknüpfung mit theoretischen Diskursen und interdisziplinären Herangehensweisen sowie im Verständnis des Künstlers als Cultural Worker. Charakteristisch für die 90er Jahre ist die Auseinandersetzung mit dem (öffentlichen, institutionellen, diskursiven oder alltäglichen) Raum in Form von orts- und kontextbezogenen Arbeiten und institutionskritischen Ansätzen. Dabei geht es sowohl um die Analyse, Erkundung und Kartierung, als auch um die Intervention in diese Räume. Es wird mit neuartigen Werk- und Ausstellungsformen experimentiert. Verstärkt werden nicht-kunst-spezifische Ausstellungsorte temporär genutzt. Ein Schwerpunkt liegt auf dem kritischen Umgang mit dem Kunstsystem selbst, seinen Macht- und Beziehungsstrukturen und seinen Ein- und Ausschlussmechanismen. Oftmals findet eine intensive Auseinandersetzung mit dem Ausstellungsort, seiner Geschichte und Prädispositionen statt. Dieser kritische Blick schließt auch die selbstreflexive Analyse der eigenen Kunstproduktion mit ein.78 Die künstlerischen Ansätze zeichnen sich darüber hinaus durch ihre Prozesshaftigkeit aus. Der Prozess der Entstehung, der häufig als gemeinsamer konzipiert ist, gewinnt gegenüber dem fertigen Kunstwerk an Bedeutung. Die künstlerische Tätigkeit verlagert sich auf eine Gruppe, ein Kollektiv oder eine Arbeitsgemeinschaft. Das Bild des traditionellen, malenden Künstlergenies wird zunehmend vom ‚cultural worker‘ überlagert,

77 Babias: Im Zentrum der Peripherie, S. 11. 78 Vgl. Rollig: Diskurs, S. 272. Möntmann greift diesen Gedanken auf: „Eine in dieser Situation differenzierter räumlicher Strukturen entstehende politische Praxis erfordert eine Analyse der Geographie des Ausstellungsraums selbst und bezieht die eigene, strukturelle Positionierung im Kunstbetrieb in das ‚Mapping‘ des Orts mit ein. [...] Über die Lokation des Ausstellungsraums erschließen Künstler spezifische Merkmale des sozialen Raums, die für die zeitgenössischen Ortsdiskurse von Bedeutung sind. (Möntmann: Kunst als sozialer Raum, S. 49.)

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der verschiedene Aufgaben übernimmt, initiiert und organisiert. Parallel dazu wird das Publikum zum aktiven Teilnehmer, was sich in Ansätzen zeigt, die auf Kommunikation, Partizipation und Interaktion setzen. Eine nicht-hierarchische, interaktive Kunstvermittlung gewinnt an Bedeutung. Es wird versucht, das Publikum um gesellschaftliche Randgruppen zu erweitern und Kunst direkt an lokale Öffentlichkeiten anzubinden.79 Zu diesem Zweck wird direkt in politische und soziale Bereiche interveniert. Oftmals zielen die Ansätze auf konkrete Veränderungen und Verbesserungen, so dass Kliege von einer „Ästhetik des praktischen Nutzens“80 spricht, was insbesondere für Service- und Dienstleistungskunst gilt. Stärker politisch sind agitatorische und aktivistische Ansätze, die zu Aktionen auffordern und politische Wirksamkeit einfordern.81 Eine wichtige Rolle spielt die Kombination und das Experimentieren mit Methoden anderer Disziplinen. Zu beobachten sind Ansätze, die sich soziologischer, ethnologischer oder journalistischer Verfahrensweisen bedienen oder an der Schnittstelle zu Film, Musik und Tanz arbeiten. Die Grenzen zwischen Künstler/Kurator/ Forscher/Filmemacher (um nur einige zu nennen) werden zusehends brüchig. Auffällig ist dabei auch die enge Verknüpfung von Kunst und theoretischen Ansätzen. Diese zeigt sich in der Auseinandersetzung mit eher individuellen Themen wie Gender- und Identitätskonstruktionen oder globalen Phänomenen wie Migration und Globalisierung. Ausdruck der neuen Diskursivität ist zudem die Gründung einer Reihe von Zeitschriften wie Texte zur Kunst und Springerin mit einem Schwerpunkt auf Kunstgeschichte, Theorie und Kulturpolitik sowie die erhöhte Produktion von Katalogen und Publikationen.82 Zu beobachten ist zudem eine Ausweitung der Ausstellungen um Vermittlungsformate und Veranstaltungen wie Vorträge, Diskussionen und Workshops. Die hier angedeuteten Grenzüberschreitungen belegen die unterschiedlichen Formen des Gesellschaftsbezuges der Kunstpraxen der 90er Jahre. Nicht umsonst verweist Kliege in ihrem Eingangszitat auf

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Vgl. Babias: Im Zentrum der Peripherie, S. 23. Vgl. Kliege: Engagierte Kunstformen, S. 21. Vgl. Rollig: Das wahre Leben, S. 14. Die verstärkte Textproduktion geht in den meisten Fällen mit einer kritischen Reflexion und Auseinandersetzung mit den beschriebenen Kunstpraxen einher. Dies, und die damit einhergehenden Grabenkämpfe, erhöhen aber auch die Selbstbezüglichkeit des Diskurses und führen laut Rollig im Extremfall zu einer Selbstmarginalisierung (vgl. Rollig: Das wahre Leben, S. 28).

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die Unübersichtlichkeit der Kunstpraxen, während Maset von ‚nervösen Kunstbegriffen‘ und einer ‚Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Konzepte‘ spricht.83 Bevor im nächsten Kapitel der Fokus auf die (Re-) Politisierung gelegt wird, werden im Folgenden drei Aspekte herausgearbeitet, die charakteristisch für die 90er Jahre sind. Zunächst wird der Fokus auf jene Ansätze gelegt, die die Verknüpfungen von Kunst und Gesellschaft betonen, indem sie Kunst als kontextuell, relational oder ortsspezifisch verstehen. Unter Kunst als Auslöser von Kommunikation und Handlungen werden interaktive Ansätze vorgestellt, in denen die Betrachter zu Akteuren werden. Kunst als politische und soziale Intervention umfasst Ansätze, die gezielt das Kunstfeld verlassen um in sozialen und politischen Bereichen zu agieren. Weil sich die einzelnen Kategorisierungen überlagern und z.T. gegenseitig bedingen soll die Einteilung weniger einer klaren Abgrenzung, als einer groben Übersicht über zentrale Begrifflichkeiten dienen.84 2.4.1 Verknüpfungen von Kunst und Gesellschaft Ein zentraler Gedanke der 90er Jahre war das Aufzeigen der Verbindung von Kunst und Gesellschaft. Begriffe wie Kontextkunst, relationale oder ortsspezifische Kunst drücken aus, dass Kunst in einen gesellschaftlichen Kontext eingebunden ist, den sie beeinflussen kann und von dem sie gleichzeitig – ob bewusst oder unbewusst – beeinflusst wird. In anderen Worten: „Künstlerische Gattungen definieren sich nicht nur durch ihr Material, sondern ebenso durch ihren Kontext und Institutionen.“85 Dem Begriff der Kontextkunst wurde mit Hilfe von Weibels gleichnamiger Ausstellung in Graz 1993 zum Durchbruch verholfen. Seitdem hat er sich zu einem der prägnantesten Begriffe entwickelt, dessen Vagheit zugleich immer wieder kritisiert wird.86 Im gehaltvol-

83 Vgl. Maset: Bewegungsabläufe nervöser Kunstbegriffe, S. 95. 84 Die Gefahren dieser Vereinfachung benennt Ventura. Er stellt selbstkritisch fest, dass es „die genannten Praxisformen reduziert und zur Festschreibung einer Bewegung beiträgt.“ (Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 236) Aus diesem Grund sind die von ihm vorgenommenen Versuche einer Einteilung lediglich als Orientierungshilfe gedacht, sind aber „nicht geeignet, deren Bandbreite erschöpfend zu beschreiben. [...] Es handelt sich hier also weniger um eine zuverlässige Topologie politischkünstlerischer Praxis in den 90er Jahren als vielmehr um eine verkürzte Darstellung ihrer Vielfältigkeit.“ (S. 208.) 85 Daniels: Inter (-disziplinarität, -media, -aktivität, -net), S. 137. 86 Vgl. Wege: Eines Tages werden die Wünsche, S. 23.

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len Katalog zur Ausstellung liefert Weibel die theoretische Begründung für die enge Zusammenführung von Kunst und Gesellschaft und legt ausführlich dar, wie sich dieser Kontextbezug ausdrückt. Dabei stützt er sich auf verschiedene Theoretiker. So bezieht er sich auf Benthams Theorie der Fiktionen, Wittgensteins Betonung des Kontextes, auf Bachtin, Foucault und Bourdieu. Ausgangspunkt ist die These, Kunst und Leben seien nicht zu trennen, Weibel geht sogar so weit zu behaupten, „die soziale Struktur ist also intrinsisch im Kunstwerk vorhanden, wodurch Kunst und Leben nicht separierbar sind“87. Der Begriff des Kontextes fasst dabei die sozialen und gesellschaftlichen Bezüge zusammen, aus dem heraus Kunstwerke entstehen. Kunst muss aus diesem Grund immer aus ihrer historischen Situation heraus betrachtet werden. Sie wird beschrieben als „soziale Praktik, die mit einer ganzen Reihe von Institutionen, politischen Notwendigkeiten, sozialen Situationen, gesellschaftlichen Regeln, ökonomischen Mechanismen, ideologischen Funktionen verbunden ist, ohne die sie nicht existiert“88. Die enge Einbettung der Kunst in die Gesellschaft hat wiederum zur Folge, dass die Kunst nicht mehr unabhängig von der Gesellschaft gedacht werden kann und es zu einer Reintegration der künstlerischen Ansätze in soziale, philosophische, politische, ökonomische, ökologische, naturwissenschaftliche Diskurse kommt.89 Laut Weibel besteht darin die ‚Kontextualisierungsleistung der kritischen Moderne‘. Die ausgeblendeten ökonomischen, ökologischen und sozialen Kontexte werden wieder in den ‚weißen Würfel‘ gebracht und thematisiert, so dass es zu einer ‚Rückkehr des Realen‘ kommt.90 Dabei geht es auch um das „Transparentmachen der Strukturen und Bedingungen, unter denen künstlerische Produktion und deren Präsentation zustandekommen“91. Wege spricht vom Kontext als „Strukturgeflecht der zeitlich und räumlich bedingten physischen, ökonomischen, sozialen, institutionellen, politischen und ökologischen Verhältnisse“92, die Kunst (als künstlerische Produktion, Distribution, Rezeption) beeinflussen. Diese Eingebundenheit der Kunst in die Gesellschaft ermöglicht es ihr, zu einem Instrument der Selbstbeobachtung, zu einem Instrument der Kritik und der Analyse der sozialen Institutionen und der (Rahmen-)Bedingungen von Kunst zu werden.

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Weibel: Kontextkunst, S. 12. Weibel: Kontextkunst, S. 17. Vgl. Weibel: Kontextkunst, S. 19. Vgl. Weibel: Jenseits des weißen Würfels, S. 9. Rollig: Das wahre Leben, S. 16. Wege: Eines Tages werden die Wünsche, S. 23.

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Ähnlich wie die Kontextkunst, nur stärker raumbezogen, zielen ortsspezifische Ansätze auf eine Auseinandersetzung mit dem je konkreten Ort und seinem Kontext. Als ortsspezifisch werden Ansätze bezeichnet, die untrennbar mit dem Ort verbunden sind, für den sie entstehen, sich aber nicht nur formal (architektonisch, funktional), sondern auch inhaltlich (historisch, soziologisch, politisch) mit diesem befassen. „Ortsspezifische Kunst fordert dazu auf, die Umgebung der künstlerischen Arbeit mitzubedenken und dazu eine Haltung zu entwickeln.“93 Der Bezug auf die Umgebung wurde zunächst in den 70er durch die Minimal Art und die Land Art umgesetzt. Ging es der Minimal Art um den die Kunstwerke umgebenden Umraum (und dessen Erfahrung durch den Betrachter), war die Land Art stärker am Landschaftsraum interessiert. Andere Ansätze konzentrieren sich auf die Kritik des Ausstellungsraumes und des Kunstsystems und setzen diese Kritik in Form einer Aufdeckung von Macht- und Beziehungsstrukturen (Hans Haacke) oder einem Durchspielen der verschiedenen Rollen des Kunstfeldes (Andrea Fraser) um. Dabei wird der (Ausstellungs-)Raum um diskursive und ökonomische Strukturen erweitert und als ‚kulturelles Gefüge‘ gedacht, der von einer Vielzahl von gesellschaftlichen Faktoren durchzogen und bestimmt wird. Als solche bezeichnet Rebentisch die institutionellen, sozialen, wirtschaftlichen, politischen und/oder historischen Rahmenbedingungen.94 Ortsspezifische Arbeiten zeichnen sich demnach durch einen zweifachen Bezug auf den buchstäblichen und den gesellschaftlichen Ort der Kunst aus. Dieser gesellschaftliche oder soziale Ort der Kunst entspricht Ansätzen, die auf ein „größeres Engagement der Kunst in Außenwelt und Alltag drängen“ und Kunst „direkter in gesellschaftlichen Sphären verankern wollen“95, wie Kwon bemerkt. Ortsbezogenheit meint hier vor allem die Zusammenarbeit mit Communities und Protagonisten des sozialen Raumes, das Intervenieren in vorhandene (soziale) Strukturen und diskursive Verknüpfungen, deren Untersuchung, Reflexion und Offenlegung zumeist am Beginn der künstlerischen Projekte steht. Stärker personal wird der Gesellschaftsbezug bei der relationalen Kunst umgesetzt. In Abgrenzung zur autonomen Ästhetik stellt eine re-

93 Krystof: Ortsspezifität, in: Butin: Begriffslexikon, S. 233. 94 Vgl. Rebentisch: Ästhetik der Ästhetik der Installation, S. 233. Rebentisch widmet dem Thema Ortsspezifik ein ganzes Kapitel, in dem sie den Bezug von Kunst und Raum mit Hilfe von Heidegger erläutert und dann am Beispiel von Installationen und Interventionen vorstellt. 95 Kwon: Ein Ort nach dem Anderen, S. 23.

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lationale Kunst laut Stephan Schmidt-Wulffen soziale und gesellschaftliche Bezüge her und bezieht den Betrachter stärker in den künstlerischen Prozess ein.96 Er bezieht sich dabei auf Gabliks Buch The reenchantment of art (1991), in dem sie den Übergang der modernen, cartesianischen Kunst nach dem Motto ‚autonomes Subjekt produziert autonome Kunstwerke‘ zur postcartesianischen, relationalen Kunst beschreibt. Der Fokus wird auf die Relationen zwischen Künstler und Rezipient, zwischen Werk und Kontext gelegt. Es kommt zu einer Hinwendung der Künstler zum Betrachter und zu gesellschaftlichen Handlungszusammenhängen. Partizipatorische Ansätze und Kooperationen machen den Betrachter zum Beteiligten. Kunst wird in diesem Sinne zum Ergebnis eines gemeinsamen Prozesses von Künstlern und Betrachtern. Für Schmidt-Wulffen ist Kunst „hier beinahe schon Vorwand, um eine soziale Beziehung aufzubauen; der Künstler ist dabei mehr Regisseur von Ereignissen als Produzent von Objekten.“97 Im Bestfall wird das Kunstwerk Bestandteil alltäglicher Handlungszusammenhänge und wird aus dem Kontext der Institution Kunst herausgelöst und ins Gesellschaftliche, ins Transindividuelle verlagert. Bourriaud spricht etwas pathetisch davon, dass Künstler das Feld des Zwischenmenschlichen erkunden, Sozialitätsmodelle oder Kommunikationsarten erfinden und die Ströme aufzeigen, die uns verbinden.98 Aber nicht nur das Beziehungsgefüge von Autor und Rezipient wird aufgewertet, sondern auch die Koexistenz zwischen Betrachtern und Objekten. Die subjektive Verknüpfung der einzelnen Arbeiten im Ausstellungsraum durch den Betrachter gewinnt an Bedeutung. 2.4.2 Einbezug des Betrachters durch Kommunikation und Interaktion Neben der eher abstrakten Betonung der Verbindungen von Kunst und Gesellschaft in Kontext- und relationaler Kunst, sollen im Folgenden verschiedene Ansätze vorgestellt werden, die durch kommunikative und interaktive Ansätze auf eine direkte Beteiligung der Betrachter zielen. Die allgemeine Konjunktur des Begriffs Kommunikation geht 96 Vgl. Schmidt-Wulffen: Von der autonomen zur relationalen Ästhetik, S. 128. 97 Schmidt-Wulffen zit.n. Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 66f. 98 Vgl. Bourriaud: Berliner Brief, S. 36. Im Berliner Brief über die relationale Ästhetik, den er aus Anlass der berlin biennale 2001 formuliert hat, skizziert Bourriaud die Thesen seines Buches Esthétique relationelle (1998), das bis jetzt nicht auf deutsch erschienen ist. Zu einer kritischen Rezeption seines Ansatzes vgl. Rancière: Aufteilung des Sinnlichen, S. 96.

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laut Kravagna soweit, dass von der Ablösung des Werkes durch eine kommunikative Praxis gesprochen werden kann.99 Darunter wird die Initiierung von „Prozessen der Erörterung, der Verhandlung und des Meinungsaustausches“ mit dem Ziel einer „Bildung und Markierung sozialer Einheiten durch gemeinsame Verwendung von Sprache und Zeichen“100 verstanden – wie es Rollig in ihrem Aufsatz Diskurs, Diskussion, Kommunikation formuliert. Bedient wird ihr zufolge auf diese Weise das Bedürfnis nach „Gemeinsamkeit, Beteiligung, Austausch und Reflexion“.101 Unter kommunikative Ansätze fallen so unterschiedliche Arbeiten wie Fragebogenaktionen von Hans Haacke, die direkt auf einen Meinungsaustausch zielen, Koch- und Ess-aktionen von Rirkrit Tiravanija, denen es um das gemeinschaftliche Ereignis geht, sowie Gemeinschaftsprojekte mit ‚Randgruppen‘ von Christine und Irene Hohenbüchler, die diesen eine Stimme geben und auf eine Verbesserung ihrer Situation abzielen. Die Produktion des Kunstwerkes wird verstärkt auf die Betrachter verlagert, die zu aktiven Beteiligten werden. Voraussetzung hierfür ist die Offenheit und Unabgeschlossenheit der Kunstwerke sowie die Erweiterung des Verständnisses von Kommunikation. Das einseitige Kommunikationsmodell wird durch ein wechselseitiges und mehrdimensionales Modell ersetzt. Kommunikation wird als ein dynamischer und aktiver Prozess zwischen zwei oder mehreren Positionen, geografischen Orten oder sozialen Situationen verstanden.102 Die Aufwertung des Betrachters geht bei Lingner soweit, dass dieser von einer „Nicht-Identität der Praxis des Künstlers und dem Entstehungsprozess des eigentlichen Werkes“103 spricht und fordert, dass „die Entstehung des Werkes […] aus dem Kunstsystem heraus in die gesellschaftliche Kommunikation verlagert werden [muss]“104. Dem Betrachter wird die ästhetische Konstitution von Sinn übertragen, während das Werk aufgrund seines instrumentalen und immateriellen Charakters vor allem als Werkzeug dient und von prinzipiell jedermann in einem körperlichen und gedanklichen Handlungs-

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Vgl. Kravagna: Argument Kommunikation, S. 33. Rollig: Diskurs, Diskussion, Kommunikation, S. 271. Rollig: Das wahre Leben, S. 22. Vgl. das Faltblatt zur Ausstellung Re-Location sowie www.relocation. org, Stand: 05.10.2005 und Autonome a.f.r.i.k.a. gruppe/Blissett/Brünzels: Kommunikationsguerilla, S. 8. 103 Lingner: Kunst als Projekt der Aufklärung, S. 42. Er bezieht sich dabei vor allem auf die Arbeiten Franz Erhard Walthers. 104 Lingner: Kunst als Projekt der Aufklärung, S. 39.

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prozess verwirklicht werden kann. Damit wird die Aktivität der an der Kunst Teilhabenden zum notwendigen Bestandteil des Werkes.105 Indem diese die Konstitution des Kunstwerkes beeinflussen können, werden ihnen selbstbestimmte Handlungsmöglichkeiten eröffnet.106 Neben künstlerischen Praxen setzen verstärkt auch kuratorische Konzepte auf die Interaktion mit den Betrachtern. Dies drückt sich in einer Zunahme von Vermittlungsangeboten und Veranstaltungen wie workshops, Künstlergesprächen oder Symposien aus. Wichtig ist, dass es tatsächlich zu einem Austausch, einer Verhandlung unterschiedlicher Meinungen kommt, und nicht bloß eine einseitige, hierarchische Wissensweitergabe stattfindet. Im besten Fall wird die Ausstellung zu einem Verhandlungsraum gemeinsamer Werte – so wie es Buergel in Bezug auf die documenta 12 vorschwebte: „Das ist ein Raum der Verhandlungen, den eine Ausstellung eröffnen kann, wenn sie sich nicht nur als Vitrine versteht, sondern auch als Medium.“107 2.4.3 Kunst als politische und soziale Intervention In Anlehnung an das lateinische Wort ‚intervenire‘, das dazwischentreten, vermitteln, sich einmischen, stören und unterbrechen bedeutet, werden mit Interventionskunst solche Kunstpraxen bezeichnet, die gesellschaftspolitische Missstände thematisieren, sich direkt mit den Betroffenen auseinandersetzen, sich in deren sozialen und politischen Räumen bewegen und darauf abzielen, die kritisierten Aufteilungen des Sinnlichen zu stören und zu verschieben. Dies können sowohl temporäre Störungen und Verschiebungen als auch eher langfristige, strukturelle Veränderungen sein. Es handelt sich meist um sozial oder politisch motivierte Ansätze, die auf der Interaktion und Einbeziehung des Publikums aufbauen und denen es darum geht Gegenöffentlichkeiten herzustellen, Räume für ‚Wunschproduktionen‘ zu eröffnen oder gesellschaftlich marginalisierte Gruppen zu unterstützen und ihnen

105 Vgl. Maset: Bewegungsabläufe nervöser Kunstbegriffe, S. 88. 106 Vgl. Lingner: ästhetisches dasein, S. 40-44 und ders.: Kunst als Projekt der Aufklärung, S. 45-53. 107 Die Moderne, die aus der Zukunft kommt, Interview mit Roger Buergel, o.S. Auch in ihrem Text Worte einer Ausstellung beschreiben sie das Format Ausstellung als eine Handlung, ein Medium oder eine Geste, um ‚etwas‘ (eine Botschaft, ein Konzept, eine Haltung) zu übertragen und zur Disposition zu stellen. Dieser Prozess wird aber so offen gestaltet, dass vielfältige Möglichkeiten des selbstbestimmten Handelns eröffnet werden. Das Konzept einer Ausstellung als Medium ist auch grundlegend für die von Buergel/Noack kuratierte documenta 12 (siehe Kapitel 4).

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Sichtbarkeit zu verleihen. So betont Lewitzky den Einsatz einer interventionistischen und partizipatorischen Praxis für Menschen, die, zusammen mit ihren Bedürfnissen und Problemen, zusehends aus unserer Wahrnehmung verschwinden.108 Laut Wege nehmen diese Kunstpraxen sowohl eine Analyse als auch eine konkrete Veränderung gesellschaftlicher Bereiche vor: „Die Intervention kennzeichnet eine Vorgehensweise bzw. Strategie, auf bestehende (soziale, politische, institutionelle, urbanistische) Strukturen aufmerksam zu machen und diese umzugestalten.“109 Nach Raunig bedeutet Interventionskunst „mittels Handlungsangeboten, kommunikativen Akten und Institutions- und Systemkritik in sozialen Feldern auch ästhetisch zu agieren“110. Zur Verdeutlichung schildert Raunig die Interventionen von WochenKlausur, die sich z.B. mit der Lage von Obdachlosen beschäftigt und zur Linderung der Defizite konkrete Hilfeleistungen in Gang gesetzt haben.111 Laut Ventura folgt die Arbeitsweise von WochenKlausur stets dem gleichen Muster: „Auf Einladung einer Kunstinstitution suchte sich die Gruppe vor Ort einen politischen, ökologischen oder sozialen Handlungsbedarf, lud lokale Initiativen zur Mitarbeit in ihrem Team ein, definierte eine mögliche ‚konkrete Intervention‘, akquirierte die Finanzierung und setzte die Maßnahme sodann um. Sobald ihr Dauerbetrieb gesichert erschien, galt des Projekt als beendet und wurde in Form einer Broschüre dokumentiert.“112

Entscheidend ist, dass die Kunstpraxen den ‚Schutzraum‘ der Institution Museum verlassen und sich in den öffentlichen, sozialen und politischen Raum bewegen. Dabei kann es zu Kooperationen mit Sozialarbeitern, politischen Aktivisten, Wissenschaftler und Journalisten kommen. Stärker auf Mitarbeit im agitatorischen Sinn setzt Partizipationskunst. In seinem Aufsatz Arbeit an der Gemeinschaft. Modelle partizipatorischer Praxis erläutert Kravagna seine Vorstellung partizipatorischer

108 Vgl. Lewitzky: Kunst für alle?, S. 8. Eine Entwicklung, die durch die Privatisierung von öffentlichen Räumen und einer rigider werdenden Vertreibungspolitik von nicht erwünschten Personen noch an Schärfe gewinnt. 109 Wege: Eines Tages werden die Wünsche, S. 23. 110 Raunig: Ästhetik der Grenzüberschreitung, S. 89. (Hervorhebung ALW) 111 Vgl. Raunig: Ästhetik der Grenzüberschreitung, S. 133-150. 112 Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 194.

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Praxen. Unter Partizipation versteht er die direkte Zusammenarbeit mit den Beteiligten. Diese sind bereits in die Entstehung des Werkes eingebunden und nicht nur für die Aktualisierung der künstlerischen Idee zuständig. Darüber hinaus findet eine Orientierung an den konkreten Lebenszusammenhängen der Beteiligten statt. Es kommt zu Interventionen in einen sozialen Prozess, in einen Handlungsraum jenseits des eigentlichen Kunstzusammenhangs. Partizipatorische Ansätze zielen auf die Veränderung dieser Lebensverhältnisse und bewegen sich an den Grenzen zur Sozialarbeit. Als Beispiel nennt Kravagna die aktive Beteiligung der lokalen Bevölkerung in einem Projekt von Clegg & Guttmann. In ihrem Projekt Offene Bibliothek, das als transportable Bibliothek an unterschiedlichen Orten aufgestellt wurde und zum Ausleihen und Hinzufügen von Büchern einlud, komme es seiner Meinung nach zum Experimentieren mit einer radikal demokratischen Einrichtung, die zu selbstbestimmten kollektiven Handeln herausfordert.113 Geht es Kravagna um Interventionen in den sozialen Raum, ist das Ziel der Aktionskunst noch stärker politisch ausgerichtet und zeigt sich in der Verbindung mit konkreten Forderungen außerkünstlerischer Initiativen. Felshin trägt in dem Buch But it is Art? Art as Activism verschiedene individuelle und Gruppenaktivitäten der 70er bis 90er Jahre zusammen, die sich gezielt für gesellschaftliche Veränderungen einsetzen und definiert Aktionskunst folgendermaßen: „Activist art in both its forms and methods, is process rather than object- or product-orientated, and it usually takes place in public sites rather than within the context of the art-world venues. As a practice, it often takes the form of temporal interventions, such as performance or performance-based acitivities, media events, exhibitions and installations.“114

Häufig kommt es zu einer Verknüpfung künstlerischer Ansätze mit einer zielgerichteten Protestbewegung, wobei der Anspruch, politisch aktiv zu werden, über Missstände aufzuklären und Veränderungen anzustoßen, im Mittelpunkt der gemeinsamen Aktionen steht. In den 60er Jahren kam es zu ersten Zusammenschlüssen mit konzeptuellen und institutionskritischen Ansätzen durch die Bürgerrechts-, Emanzipations- und Friedensbewegung. In den 90er Jahren wurden diese durch Gruppen wie Group Material, den Guerilla Girls, Fierce Pussy, Act Up fortgesetzt, die häufig auf künstlerische Formen des Protestes

113 Vgl. Kravagna: Arbeit an der Gemeinschaft, S. 39. 114 Felshin: But it is Art?, S. 10.

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zurückgriffen um ihre politischen Anliegen vorzutragen. Aktuellere Beispiele schildert Raunig in seinem Buch Kunst und Revolution, in dem er u.a. auf die Verkettung revolutionärer und Kunstmaschinen beim Grenz-Camp in Strasbourg 2002 eingeht.115 Weitere Formen von künstlerischem Aktivismus ließen sich in Deutschland 2008 bei den Protesten gegen den G-8 Gipfel in Heiligendamm und den Studentenprotesten und -boykotten beobachten. Exkurs: Park Fiction Im Folgenden soll das Projekt Park Fiction vorgestellt werden. Es ist ein anschauliches und viel zitiertes Beispiel für die partizipativen, lokal- und ortsspezifischen Kunstprojekte der 90er Jahre, die sich an der Schnittstelle von Kunst, Aktivismus und Stadtteilpolitik bewegen. Das Projekt wurde 1994 in Hamburg gegründet und schloss sich der Stadtteilinitiative Hafenrand e. V. an, einer bereits bestehenden Bürgerinitiative, die die Interessen der Anwohner von St.Pauli vertrat. Gemeinsames Ziel war die Verhinderung des städtischen Bebauungsplans für das Gelände um den Pinasberg am Elbhang in St.Pauli. Statt diesem sollte ein selbst geplanter und gestalteter Park realisiert und damit öffentlicher Raum geschaffen werden, der 2005 tatsächlich – nach 10jähriger Planungsphase und etlichen Querelen mit dem Bauausschuss des Bezirksamts Mitte – eingeweiht werden konnte.116 Die Planung des Parks gestaltete sich als kollektiver Prozess, denn zentrales Anliegen des Projekts war die Aneignung der Stadt durch ihre Bewohner. Verschiedenste Gruppen wie Anwohner, Stadtteilgruppen und Schüler wurden miteinbezogen und in Form von

115 Vgl. Raunig: Kunst und Revolution, S. 232-240. 116 Dabei wurden Teile der Wunschproduktion der Anwohner berücksichtigt und umgesetzt. „So entstand im Zentrum des Sporthallendachs eine Teeinsel und ein fliegender Rasenteppich mit meterhohen Metallpalmen, ein Sport- und Kinderspielfeld mit Tulpenmotiv im Tartanboden, ein umzäuntes Hundefreilaufareal sowie im benachbarten Garten der evangelischen Kirchengemeinde St. Pauli ein Lese- und Ruhegarten. Auch die Terrasse des Schauermann-Parks oberhalb der Kasematten wurde mittlerweile dem Park-Fiction-Areal angegliedert. Die Idee eines Seeräuberinnenbrunnens konnte bisher aus finanziellen Gründen nicht realisiert werden. Die Errichtung eines offenen Dokumentationszentrums im Planungscontainer als Park-Fiction-Archiv, das den langen politischen Prozess der Parkrealisation sowie die Vielfalt der Anwohnerbeteiligung abbilden könnte, scheiterte dagegen an Einwänden der Behörden.“ (Kalenbach: Prozessorientierte Kunst, S. 65.)

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Wunschproduktionen dazu angeregt, eigene Ideen und Wünsche zu entwickeln und zu artikulieren. Zu diesem Zweck wurde ein öffentlicher Planungscontainer auf dem Gelände am Pinnasberg aufgestellt und mit dem Action Kit, einem mobilen Planungsbüro, die Befragung der Anwohner von St. Pauli nach ihren Wünschen und Vorstellungen für den Park gestartet. Zusätzlich wurden Veranstaltungen wie Vorträge, Videoabende und Ausstellungen zum Thema veranstaltet. Es entstanden zahlreiche Interviews, Kurzfilme, Parkpläne und Modelle sowie ein ausführlicher Film der Künstlerin Margit Czenki zur Dokumentation der Anwohnerpartizipation. Durch die Anregung von Wunschproduktionen sollte das Bewusstsein für Einflussmöglichkeiten auf die Stadtteilgestaltung gefördert und Kritik gegenüber den herrschenden Stadtplanungsprozessen, Entscheidungsstrukturen und Besitzverhältnissen geübt werden. An der Schnittstelle von Kunst, Politik und sozialer Bewegung agierend, gelang es dem Projekt, eine „alternative Form des widerständischen Urbanismus [zu entwickeln], die einen qualitativen Bruch mit herkömmlichen Politikmodellen darstellt“117. Park Fiction ist ein Beispiel dafür, wie Kunst in langfristig angelegten, nicht am unmittelbaren Erfolg orientierten Projekten tatsächlich zu einem Mittel gesellschaftlicher Veränderung und Gestaltung werden kann.118 Dem Projekt gelang es, einen breiten öffentlichen Diskurs über die gewünschte Form des Parks als auch über Formen der Mitbestimmung in Gang zu setzen, der in konkreten, sichtbaren Veränderungen des Stadtteils mündete. Ventura beschreibt Park Fiction denn auch als gelungene Verquickung von politisch, künstlerisch, sozial und nachbarschaftlich engagierten Zusammenhängen.119 Kunst, Politik, Alltag und Theorie wurden miteinander verknüpft und weniger als Entweder-oder, denn als Sowohl-als-auch verstanden. Christoph Schäfer, Cathy Skene und Margit Czenki, drei zentrale Gestalter des Projektes, verstehen sich als Künstler ebenso wie als Vermittler und Unruhestifter. Entscheidend ist dabei die Intervention in die eigene Form: Es werden permanent neue Formen angenommen, um sich nicht zu verfestigen und keine Hierarchien entstehen zu lassen. Das Besondere am Projekt ist zudem seine Transversalität: Es bewegt sich in unterschiedlichen Feldern und stellt transversale Verbindungen her, ohne sich eindeutig in einem Feld zu verorten. Am Verhältnis zum Kunstfeld lässt sich diese Grenzhaltung veranschaulichen.

117 Vgl. Meisel/Wieczorek: Die Innenstadt bereisen, o.S. 118 Vgl. Wege: Eines Tages werden die Wünsche, S. 30. 119 Vgl. Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 201.

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Das Kunstfeld wird mit seinen Förderungsmöglichkeiten (u.a. unterstützen die Kulturbehörde und der Kunstverein Hamburg das Projekt) und Gelegenheiten zur internationalen Vernetzung strategisch genutzt, jedoch eine eindeutige Verankerung im Kunstfeld vermieden. Vielmehr werden temporäre Bewegungen in das Kunstfeld vorgenommen, die jederzeit die Möglichkeit zur Abgrenzung gegenüber deren ungewollten Zuschreibungen und Vereinnahmungen beinhalten. Dies zeigt sich an der Präsentation von Park Fiction auf der documenta 11, die als Archiv angelegt war und dokumentarischen Charakter hatte – und dafür auf eine spektakuläre Intervention oder ästhetisierende Darstellung verzichtete.

2.5 Politisierung in den 90er Jahren Wurde im vorherigen Kapitel die Vielschichtigkeit der Ansätze der 90er Jahre geschildert, soll im Folgenden der Schwerpunkt auf den Aspekt der (Re-)Politisierung gelegt werden. Von einer RePolitisierung wird gesprochen, um die Kontinuitäten und Bezüge der Kunstpraxen der 90er Jahre zu den vorhergehenden Avantgarden mit politischem Anspruch zu unterstreichen. So knüpfen die Ansätze der 90er Jahre vielfach an die politischen und praxisorientierten Konzepte der 70er Jahre an, ohne jedoch deren ideologische Grundierung zu übernehmen. Mit Ventura lassen sich die politischen Ansätze in drei Kategorien einteilen: in Informations-, Impuls- und Interventionskunst. Mit Informationskunst beschreibt er verschiedene Ansätze, denen es vor allem um die Weitergabe von Informationen geht. Nach Jochen Becker handelt es sich bei Informationskunst um Arbeiten, „die sich mit der Recherche, Dokumentation und Distribution von im Alltag oft kompliziert zugänglichen Informationen beschäftigen“120. Die Kunst übernimmt durch die Bereitstellung alternativer Archive, Infoläden und Netzwerke die Vermittlung und Distribution von politisch, sozial oder kulturell relevanten Inhalten. Die Bereitstellung von Information dient als aktives Auf-den-Weg-bringen von Wissen und führt zum Aufbrechen der Informationsgrenze zwischen denen, die Wissen produzieren und den Nicht-Wissenden. Wissen, das in konventionellen Institutionen und Publikationen vernachlässigt wird, wird hier sag- und sichtbar gemacht. Kunst versteht sich als taktisches Medium zur Herstellung von Gegenöffentlichkeiten und erhält die Funktion einer Aufmerksamkeitsstifterin. Ein Beispiel hierfür ist der Projektraum CopyShop,

120 Becker zit. n. Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 178.

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der 1992 von BüroBert in Köln betrieben wurde und explizit darauf abzielte eine Gegenöffentlichkeit zu konstituieren.121 Impulskunst meint dagegen die Auslösung von Impulsen durch Kunst. Kunst bekommt eine antreibende und ermunternde Funktion. Nach Ventura heißt dies: „Ermunterung zu Partizipation, zum Zusammensein und Selbergestalten, zur Bildung von Kollektiven“122 und manchmal auch Anregung zu revolutionären Szenarien. Als Beispiel nennt Ventura Park Fiction und deren Anregung zu Wunschproduktionen. Für die Initiatoren stand „die Anstiftung zu einer Kollektivität, die über das konkrete Ziel hinaus in eine emanzipatorische, kreative Bewegung münden könnte und somit Teil einer kulturrevolutionären Utopie war“123, im Vordergrund. Das Ziel war die Anregung zu Selbstermächtigung bzw. die Analyse und Eröffnung möglicher Veränderungen sowohl der individuellen Verhältnisse zur Umgebung als auch der sozialen Beziehungen untereinander durch die Kunst.124 Interventionskunst firmiert bei Ventura unter Realpolitik, die als temporärer Eingriff oder unbefristete Strukturveränderung verstanden wird. Darunter fallen temporäre, konkrete und soziale Interventionen in den gesellschaftlichen Raum. Kunst wird als Raum sozialen Austauschs und politischer Artikulation wahrgenommen, dessen Zielrichtung vornehmlich außerhalb des Kunstfeldes angesiedelt ist. Als Beispiele nennt Ventura neben Clegg/Guttmanns temporärer Intervention in Form der offenen Bibliothek, die konkreten und vor allem funktional ausgerichteten Interventionen von WochenKlausur sowie verschiedene Aktionen von Christoph Schlingensief. Dieser sucht die konkrete Konfrontation mit unterschiedlichsten Beteiligten und strebt ein permanentes cross-over zwischen Kunst und Realität an. Dabei oszilliert er konsequent zwischen Ironie und Ernsthaftigkeit, zwischen symbolischer Intervention und Realpolitik.125 Zu ergänzen wäre diese Auflistung um institutionskritische Ansätze. Es findet eine intensive Suche nach alternativen Formen der Selbstorganisation statt, die sich in der Gründung von Infoläden, Archiven, Zeitschriften und temporären Ausstellungsräumen nieder-

121 Vgl. Rollig: Das wahre Leben, S. 26 und den Sampler Copyshop. Kunstpraxis und politische Öffentlichkeit von BüroBert. 122 Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 199. 123 Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 203. 124 Vgl. Kravagna: Arbeit an der Gemeinschaft, S. 44. 125 Vgl. Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 196-198.

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schlug.126 Auf diesen Aspekt weist Ventura hin, wenn er zwischen implizit und explizit angelegten politischen Arbeiten unterscheidet. Unter implizit politischer Kunst versteht er die gegenseitige Produktions-, Ausstellungs- und Kontakthilfe und meint damit vor allem die Bedeutung der Formierung von Zusammenhängen, von selbstgeschaffenen Strukturen und Netzwerken im Kunstsystem. Unter explizit politisch angelegter Kunst versteht er das offensive Angreifen von Repressionen und deren Symbolen, die Zerlegung von Machtdiskursen und die Einklagung von Mitsprache.127 Als politisch gelten laut Kravagna demnach reformatorische und revolutionäre Ansätze, die entweder eine Demokratisierung der Kunst oder eine Aufhebung der Kunst in die Lebenspraxis anstreben.128 Im Gegensatz zur differenzierten Schilderung politischer Ansätze durch Ventura, vertreten Raunig und Höller die Meinung, Kunst solle entweder eine störende Funktion einnehmen (Höller) oder mit revolutionären Ansprüchen verknüpft werden (Raunig). In seinem Text Störungsdienste unterscheidet Höller recht polarisierend zwischen zwei Möglichkeiten von Kunst. Kunst kann entweder eine störende oder entstörende Wirkung entfalten: „Auf der einen Seite steht die Störung obrigkeitsverordneter, kapitalistischer Verhältnisse (Einwanderungsgesetze, Erwerbsarbeit, Geldherrschaft); auf der anderen der karitative Impuls, Randgruppen mit künstlerischen Zuwendungen unter die Arme zu greifen, kurzum, das Funktionieren des sozialen Räderwerks zu entstören“129 – und damit zu entlasten. Ähnlich wie Höller bevorzugt Raunig störende Kunstpraxen. Seinen Interessenschwerpunkt bilden politische Kunstpraxen an der Grenze zur Kunst bzw. temporäre Overlaps zwischen politischer Aktion und künstlerischer Praxis. Er konzentriert sich auf interventionistische Kunstpraxen, die das Kunstfeld verlassen und ihre Bestimmung in einer organisierenden und politisierenden Tätigkeit sehen. Dabei entfernt sich Raunig immer mehr vom Kunstfeld und konzentriert sich auf Grenzformen des Ästhetischen. Wird die Kunstgeschichtsschreibung dadurch einerseits um politische Kunstpraxen ergänzt, nimmt Raunig andererseits eine einseitige und begrenzende Perspektive auf künstlerische Praxen ein. Nur wenige

126 Vgl. Rollig: Das wahre Leben, S. 22. Dazu zählen z.B. das Depot in Wien, BüroBert in Düsseldorf, Botschaft e.V. und minimal club in Berlin (vgl. Ventura: Politische Kunst Begriffe, Kapitel 2.7 über Selbstorganisierte Mikrosysteme und Art clubs, S. 94-103). 127 Vgl. Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 126. 128 Vgl. Kravagna: Arbeit an der Gemeinschaft, S. 31. 129 Höller: Störungsdienste, S. 22.

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Kunstpraxen lösen die Ansprüche einer von ihm geforderten ‚transversalen, temporären Verkettung‘ von Kunst und Revolution ein.130 Er selbst weist darauf hin, dass die Mehrzahl künstlerisch-kritischer Praxen nicht daran interessiert ist, das Kunstfeld zu verlassen: Den „KünstlerInnen [geht es] weder um die unterstellte Ästhetisierung der Politik oder des Sozialen, noch um ein radikales Verlassen des Kunstfelds, sondern darum, mittels Handlungsangeboten, kommunikativen Akten und Institutions- und Systemkritik in sozialen Feldern auch ästhetisch zu agieren.“131 2.5.1 Die Politisierung als Paradigmenwechsel? Die Politisierung und die vielfältigen Grenzüberschreitungen der 90er werden oftmals als Paradigmenwechsel interpretiert. Dieser Eindruck entsteht, wenn die Entwicklungen der 90er Jahre vor dem Hintergrund der 80er Jahre betrachtet werden, die gekennzeichnet waren durch einen explodierenden Kunstmarkt und die Marginalisierung kritischer Kunstpraxen. Sie wurden dominiert von der Selbstbezüglichkeit und Stilisierung (zumeist männlicher) Künstlerheroen und der Konzentration auf den Waren- und Objektcharakter der Kunstwerke.132 Laut Beaucoup hat sich die bildende Kunst in dieser Zeit „fast ganz aus dem öffentlichen Dialog und von allem, was die Welt politisch, sozial oder ökologisch bewegt, verabschiedet. Verfechter einer autonomen Ästhetik sind am Ziel ihrer Träume gelangt. Kunst und Künstler kreisen selig um sich selbst.“133 Harten bemerkt: „Von engagierter Kunst zu sprechen, gleicht heute fast einer umgekehrten Blasphemie.“134 Kunst wird als politisch wirkungslos wahrgenommen, ihr wird Relativismus, Beliebigkeit und fehlender Gesellschaftsbezug vorgeworfen. Mit den Kunstpraxen der 90er Jahre werden zentrale Prämissen des Kunstbegriffs der 80er Jahre kritisiert und hinterfragt. Die Erschütterungen erweisen sich als so umfassend, dass von einem Paradigmenwechsel gesprochen wird. Ventura führt dies auf eine komplexe Profilveränderung des Kunstfeldes zurück.135 Rollig begründet dies mit dem Aufstieg der kritischen Gesellschaftsintervention und der RePolitisierung der Kunst zur Leitidee künstlerischer Arbeit.136 Bei

130 131 132 133 134 135 136

Zu Raunig siehe auch S. 222-225. Raunig: Ästhetik der Grenzüberschreitung, S. 89. Vgl. Wege: Eines Tages werden die Wünsche, S. 23. Beaucoup zit.n. Grasskamp: Marsch durch die Illusion, S. 159. Harten zit. n. Grasskamp: Marsch durch die Illusion, S. 159. Vgl. Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 7. Vgl. Rollig: Das wahre Leben, S. 13.

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Stach/Sturm ist es die Hinwendung zu gemeinschaftsorientierten öffentlichen Kunstprojekten, zu partizipatorischen und aktivistischen Kunstpraxen, die im Vorwort zum Sammelband Dürfen die das? als Paradigmenwechsel beschrieben wird.137 Sowa spricht vom Übergang des Poiesis-Paradigma zum Praxis-Paradigma. Er meint damit den Übergang vom Kunsthandeln (Poiesis) zum nichtmimetischen, wirklichen Handeln (Praxis), der dem Übergang von der ästhetischen Handlungsform in die ethische und politische entspricht.138 Der Eindruck eines Paradigmenwechsel lässt sich jedoch relativieren, wenn man auf die Kontinuitäten und Bezüge der 90er zu den Avantgardebewegungen der 20er, 60er und 70er Jahre verweist. Die These eines Paradigmenwechsels ist zudem problematisch, als sie dazu verleitet, die Kunstpraxen der 90er Jahre unter dem Aspekt der Politisierung zusammenzufassen – u.a. um sie deutlicher von den 80er Jahren abgrenzen zu können. Dadurch kommt es zu einseitigen Reduktionen und der Wiederholung eines dichotomischen Denkens. Ein solches Denken in Abgrenzungen gilt es jedoch zu überwinden, weshalb die Vielschichtigkeit der Kunstpraxen der 90er Jahre und ihre Kontinuitäten zu vorherigen Kunstpraxen herausgearbeitet wurden. 2.5.2 Das Verhältnis interventionistischer Kunstpraxen zum Kunstfeld Die Frage nach dem Verhältnis von Künstler zum Kunstmarkt bzw. zum Kunstfeld ist schon lange Gegenstand kontroverser Diskussionen. Viele Künstler fühlen sich hin und her gerissen zwischen ihrem politischen Anspruch und ihrer Definition als Künstler. Oftmals glauben sie, sich zwischen einem von beiden entscheiden zu müssen. In den Worten Ramirez, die auf die Konzeptkunst der 60er bis 80er Jahre in Lateinamerika zurückblickt, hatten die Künstler die Chance entweder die Kunst zugunsten einer praktischen Tätigkeit aufzugeben und sich vom (bürgerlichen, kommerziellen, unpolitischen) Kunstbetrieb zu distanzieren oder sie „arbeiteten weiter an den Rändern des wiederbelebten Kunstestablishments, von dem sie weitgehend ignoriert wurden“139. Nicht wenige rieben sich zwischen den eigenen Ansprüchen und der

137 Vgl. Stach/Sturm: Vorwort, in: Rollig/Sturm: Dürfen die das?, S. 8. 138 Vgl. Sowa: Einleitung, in: Lingner/Maset/Sowa: ästhetisches dasein, S. 13f. 139 Ramirez: Taktiken, S. 85.

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Kritik von Kulturlinken wie -konservativen auf und wählten die (innere) Emigration.140 Auch Ventura verweist auf die inneren Widersprüche politischer Kunstpraxen. Er spricht von einem Schwanken zwischen der Unterordnung unter realpolitische Belange und dem Beharren auf ihren radikal freien Formen.141 Permanent gilt es abzuwägen zwischen der Gefahr einer Instrumentalisierung und der Betonung einer unabhängigen Arbeitsweise. Statt dies aber als unüberwindbaren und lähmenden Widerspruch zu begreifen, gelte es mit Ventura, diese postideologischen Widersprüchlichkeiten auszuhalten und daraus produktiv zu werden. Ott plädiert deshalb für Kunstwerke, die „das Problem von Nähe und Distanz zum gesellschaftlichen Feld zu einem Teilaspekt ihrer künstlerischen Recherche erheben“142, d.h. transparent machen. Ähnlich spricht Ramirez im Angesicht der gefühlten Alternativ- und Hilflosigkeit davon, dass es weniger um die Veränderung der Verhältnisse (und die Auflösung der Grenzen von Kunst und Leben) gehen kann, als da-

140 Auf der documenta 12 waren einige Künstler ausgestellt, die sich zeitlebens aus dem Kunstfeld zurückgezogen haben, um sich durch diesen radikalen Schritt den Mechanismen des Kunstfeldes zu entziehen. Kappten einige jegliche Verbindung wie Lee Lozano und Agnes Martin, wendeten sich andere einer ‚wirksameren‘ Form gesellschaftlichen Engagements zu. Hierzu zählen sowohl Charlotte Posenenskes Beschluss, ihr künstlerisches Schaffen zugunsten der Soziologie aufzugeben, als auch Poul Gernes, der sich der angewandten Kunst zuwendete oder Mitglieder der argentinischen Gruppe Tucuman Arde, die ihre künstlerische Tätigkeit zugunsten eines politischen Aktivismus aufgaben. Die nachträgliche Präsentation auf der documenta und damit ihr Zurückholen ins Kunstfeld ist jedoch ambivalent: Erlangen diese Grenzgänger einerseits Sichtbarkeit und vermögen die kanonische Kunstgeschichte zu erweitern, ist andererseits nicht klar, ob ihre institutionelle Präsentation tatsächlich im Interesse der Künstler gelegen hätte. 141 Vgl. Ventura: KünstlerInnen und KulturproduzentInnen, o.S. 142 Ott: Zum Verhältnis des Ästhetischen, S. 11. An anderer Stelle konkretisiert sie ihr Verständnis von gelungenen Kunstwerken: „Gelingt es ihm, das Ästhetische als Lupe zur Erhellung unbewusster und unterschlagener Zeichen in Einsatz zu bringen, nicht bedachte Sinnzusammenhänge und erstarrte Bedeutungen zu lüften, mittels analytischer Differenzierung gesellschaftliche Gewalt zu reduzieren, Ungedachtes und Ungesehenes in den Bereich des Denkbaren und Sichtbaren zu rücken und insgesamt den symbolischen Raum erneut zur Verhandlung zu stellen, so sprechen wir von freiheitlichen und zu affirmierenden ästhetischen Politiken.“ (S. 21)

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rum, diese Grenzen aufzuzeigen und Taktiken zu entwickeln, um ‚in Widrigkeiten zu gedeihen‘, d.h. die Widersprüchlichkeit auszuhalten und sich Nischen im Kunstsystem zu suchen. Nicht die Dialektik von Kunst und Politik, sondern die konstitutive Spannung zwischen Kunst und Politik soll Gegenstand der künstlerischen wie kritischen Auseinandersetzung sein. In den Fokus treten so die Grenzüberschreitungen, Widersprüche, Austauschverhältnisse und Interaktionsformen zwischen beiden, die als produktive wie spannungsgeladene Räume gedacht werden. Hemken formuliert dies bereits in Bezug auf die Erfahrungen der Russischen Avantgarde: „Die Praxis der frühen Avantgarde zeigt, dass es nie um eine Auflösung der Kunst durch eine Entgrenzung ins Leben ging, sondern um eine Verstärkung der Transformationen zwischen den Sphären – anders gesagt, es geht um eine Intensivierung der Kunst im Wechselspiel zu den wirtschaftlichen, politischen, ethischen und wissenschaftlichen Gebieten.“143

Diese Intensivierung des Wechselspiels entspricht der Permanentisierung der Grenzüberschreitungen. Dabei deutet sich ein Umdenken des Politikbegriffs an: dieser umfasst sowohl die Intervention in die Form wie den Inhalt, versteht sich als temporär, beweglich und reflexiv und zielt nicht auf die Auflösung der Kunst in die Politik, sondern plädiert für deren permanente Konfrontation.144 Entscheidend ist, dass Kunst einerseits auf ‚messbare (Hilfs-)Erfolge‘ zielt, andererseits aber nicht an deren Konsequenzhaftigkeit zu messen ist, wie Ventura treffend festhält.145 Für interventionistische Kunstpraxen jedoch gilt, dass sie oftmals die Grenzen des Kunstfeldes überschreiten, um in konkreten sozialen und politischen Kontexten und Feldern zu agieren. Sie zeichnen sich zudem durch die Zusammenarbeit mit außer-künstlerischen Disziplinen und Akteuren aus. Zum Teil gehen die Kunstpraxen soweit, jegliche Verbindung zum Kunstfeld zu leugnen, denn diesem wird vorgeworfen jegliches widerspenstige Potential durch Kulturalisierung und Ästhetisierung zu absorbieren. So plädiert Jacob dafür, „to remain outside the institution to maintain an independent artistic or politically revolutionary stance“146. Autoren wie Raunig, Babias und Höller set-

143 Hemken: Erregung öffentlicher Bedeutsamkeit, S. 53. 144 Eine ausführliche Schilderung des Umdenkens des Politikbegriffs wird in Kapitel 3.2 vorgenommen. 145 Vgl. Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 227. 146 Jacob: An unfashionable audience, S. 53.

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zen sich für eine strikte Abkehr vom Kunstfeld ein, wird dieses doch als marktdominiert, bürgerlich und unpolitisch beschrieben. Höller plädiert in seinem Text Störungsdienste dafür, jenseits vom Kunstkontext zu agieren und „Aktivismus oder Politikberatung von einem anderen sozialen Ort aus“147 zu machen, da das Verbleiben im Kunstraum „für ausdifferenzierte Machtsysteme eine sauber gehegte Vorzeigeund Alibifunktion erfüllt“ und zu einer Entstörung, im Sinne einer „Verfeinerung und Perfektionierung sozialstaatlicher Aufgaben und Machtausübung [führt]“148. Der Kunstkontext wird als formaler, institutioneller Rahmen verstanden, der die Erprobung von Informationsdiensten und neuen Repräsentations- und Aktionsmodi ermöglicht, aber dabei lediglich „als Labor für die experimentelle Wiederzulassung des politisch Verdrängten und Produktionsstätte neuer Antagonismus-Samples [dient]“149. Ähnlich argumentiert Babias. Ihm zufolge markiert „der Kunstzusammenhang genau jenen gesellschaftlichen Grenzbereich zur revolutionären Praxis, von wo aus man jederzeit wieder zurück kann, ohne irgendetwas riskiert zu haben – zurück in den Kunstmarkt, zurück in den Theoriemarkt, auf jeden Fall zurück an den warmen Ofen der bürgerlichen Welt“150. Raunig spitzt den Gedanken einer Abgrenzung der interventionistischen Kunstpraxen vom Kunstfeld weiter zu. In Ästhetik der Grenzüberschreitung stellt er politische Kunstpraxen der 90er Jahre vor, die die Rückführung (als Retransformation und Rematerialisierung) ins Kunstfeld konsequent verweigern.151 Das Kunstfeld fungiert nur als grober Anknüpfungspunkt, als Negativfolie, bei der politischer Aktivismus keinesfalls verharren sollte. Am gelungensten werden demnach solche Praxen bezeichnet, die die Abkehr vom Kunstfeld propagieren und nur wenige Spuren im Kunstfeld hinterlassen oder dieses taktisch nutzen. Es wird als (finanzielle) Ressource, als Öffentlichkeit oder als Legitimationsbasis genutzt, doch nicht als Zielpunkt definiert.152 Ventura spricht aus diesem Grund von ‚Kunst-Sampling‘ und meint damit das politisch motivierte Benutzen von Kunst. Darunter fällt für ihn der Gebrauch der Institutionen, der Räumlichkeiten und Distributionswege des Kunstbetriebes und dessen Nutzung als Treffpunkt für verschiedenste politisch-

147 Höller: Störungsdienste, S. 24. Als Vorbild dienen ihm die Außenstellen, von denen die Wohlfahrtsausschüsse oder die Guerilla girls agieren. 148 Höller: Störungsdienste, S. 26. 149 Höller: Störungsdienste, S. 24. 150 Babias: Über den strategischen Gebrauch des Politischen, o.S. 151 Vgl. Raunig: Ästhetik der Grenzüberschreitung, S. 13. 152 Vgl. Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 125.

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künstlerische Gruppierungen oder als Experimentierfeld für lokale Interventionen.153 Des Weiteren bietet das Kunstfeld den Vorteil, „dass unkonventionell gearbeitet werden kann und Freiheiten dort bestehen, wo sie sonst nicht vorhanden wären“154. Gruppen wie WochenKlausur nutzen das Kunstfeld zudem als Legitimationsbasis. Das mediale und bildungspolitische Kapital der Institutionen ermöglicht oftmals einen schnellen und unbürokratischen Zugang zu Entscheidungsträgern.155 Kunst dient mit Ventura außerdem dazu, erweiterte Öffentlichkeiten zu erreichen: „Die Schirmherrschaft Kunst garantierte die Aufmerksamkeit von Gesellschaftskreisen, die von oppositioneller Politik sonst nie erreicht werden.“156 Maset spricht angesichts dieser taktischen Nutzung des Kunstfeldes kritisch von parasitären Kunstpraxen. „Die Gastfreundschaft des Kunstsystems wird [...] ‚missbraucht‘, um einen anderen Kunstbegriff zu ‚setzen‘, womit aber diskursive und präsentative Symbolisierungen zwangsläufig verbunden sind.“157 Dabei kritisiert Maset weniger den Wunsch einer Abkehr, als den widersprüchlichen und inkonsequenten Umgang mit diesem. Statt die vorhandenen Bezüge und Nutzungsmöglichkeiten offenzulegen, werden diese negiert. Es kommt zu einer dichotomischen Konzeption des Verhältnisses von Kunstfeld vs. Politik/Leben/Alltag, das kaum Zwischenformen dieses Verhältnisses zulässt. Die Vielzahl der kommunikativen und partizipatorischen Ansätze ebenso wie Ansätze auf symbolischer oder ironischer Ebene, die die 90er Jahre geprägt haben, treten zugunsten einer einseitigen Reduzierung der Kunstpraxen auf politische und interventionistische Ansätze in den Hintergrund. Exkurs: Kommunikationsguerilla Zum Abschluss des Kapitels über die Gesellschaftsbezüge in der Kunst der 90er Jahre werden mit dem Handbuch der Kommunikationsguerilla künstlerisch-politische Ansätze vorgestellt, die sich auf die Störung und taktische Nutzung von Medien und Reklame konzentrieren, da diese die öffentliche und private Kommunikation sowie die Aufladung von Zeichen und Symbolen mit Bedeutungen maßgeblich prägen. Waldvogel spricht davon, dass „unsere Erfahrungswirklichkeit […] in zunehmendem Maße aus Zeichen [besteht], die in Folge der

153 154 155 156 157

Vgl. Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 126. Kliege: Engagierte Kunstformen, S. 20. Vgl. Zinggl: WochenKlausuren, S. 305. Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 179. Maset: Bewegungsabläufe nervöser Kunstbegriffe, S. 95.

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kapitalistischen Logik mit Bedeutungen und Werten versehen werden“158. Und weiter: „Die Verwertungslogik der kapitalistischen Codes ist eine Form der Herrschaftsausübung auf symbolischer Ebene.“159 Strategien der Kommunikationsguerilla geht es im Besonderen um die Subversion von hegemonialen wie kapitalistischen Zeichen- und Bedeutungssystemen. Dem Kapitalismus wird auf der Ebene der Zeichen begegnet – durch Aneignung, Umdeutungen und Störung der Bedeutung und Symbolik der Waren und Medienbotschaften. Angestrebt wird hier weniger eine komplette Negation des Systems, als eine punktuelle und situative Kritik. Das Interessante der zu beschreibenden Ansätze ist, dass sie sich an der Grenze zwischen Kunst und Politik, im Zwischenbereich von aufklärerischer Politik und symbolischkultureller Intervention befinden. Es sind „Praxisformen, die alte Grenzziehungen zwischen politischer Aktion und Alltagswelt, subjektiver Wut und rationalem politischen Handeln, Kunst und Politik, Begehren und Arbeit, Theorie und Praxis überschreiten“160. In dem von der autonomen a.f.r.i.k.a.gruppe, Luther Blissett und Sonja Brünzels herausgegebenen Handbuch der Kommunikationsguerilla (2001) werden historische und aktuelle Formen politischkünstlerischen Aktivismus vorgestellt, wie Dada, Situationismus und Spassguerilla. Es handelt sich weniger um den Versuch einer genauen Definition, als um das Zusammentragen verschiedener politischkünstlerischer Strategien. In diesem Sinne enthält das Handbuch, das als praktischer Werkzeugkasten und Nachschlagewerk konzipiert ist, Beschreibungen der Prinzipien, Methoden und Werkzeuge der Kommunikationsguerilla, verknüpft diese mit einem theoretischen Kontext und unterlegt sie mit Hinweisen auf weitere Praxen, Strömungen und Gruppen. Diese werden zusammengehalten von dem Ziel, „das reibungslose Funktionieren spätkapitalistischer Machtstrukturen und insbesondere der Kultur- und Medienindustrie durch das Einschleusen von Gegeninformationen und -bildern und durch gezielte interventionistische Aktionen zu stören“161. Dies entspricht in etwa der Definition der Guerilla-Taktik durch Babias, der darunter Kriterien der Irregularität, der Mobilität und des politischen Programms versteht.162 Doch geht es nicht nur um die Störung, sondern auch um „eine mime-

158 Waldvogel: Cultural Jamming, S. 29. 159 Waldvogel: Cultural Jamming, S. 43. 160 Autonome a.f.r.i.k.a. gruppe: Kommunikationsguerilla – Transversalität im Alltag?, S. 95. 161 Wege: Eines Tages werden die Wünsche, S. 25. 162 Vgl. Babias: Im Zentrum der Peripherie, S. 23.

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tische subversive Nutzung von Mainstream-Medien – Plakate, Zeitungsbeilagen, Werbetafeln etc.“163, wie Wege bemerkt. Im Rückgriff auf de Certeau ließe sich von einem taktischen Gebrauch der Medien sprechen.164 Damit ist die temporäre und punktuelle Nutzung des technologischen, sozialen, wirtschaftlichen Potentials der Medien gemeint, wie sie u.a. durch Strategien des Cultural Jammings umgesetzt werden. Behnke definiert Cultural Jamming in diesem Sinne als eine Technik der Umdeutung und Verunreinigung, die zu einer Regelverletzung in Form einer ästhetischen oder sozialen Intervention in Fremdmaterial führt.165 Es handelt sich um Strategien der Aneignung, Entwendung, Verfremdung und Parodie von Medienereignissen und -kampagnen, die auf die Produktion von neuen Bedeutungen innerhalb des medialen Zeichensystems zielen.166 Statt Widerstand außerhalb der Machtmechanismen zu situieren, wird das (Macht-)System von innen, mit den Mechanismen des Systems, aufgebrochen. Ziel der Angriffe sind die alltäglichen Kommunikations- und Konsummechanismen, die für die Sichtbarkeit und Sagbarkeit von Themen sorgen. Sie reproduzieren die Machtverhältnisse eher unbewusst, hängen aber mit diesen zusammen. Ausgangspunkt der Kommunikationsguerilla ist das Motto Barthes, der die Entstellung von Codes für die beste Subversion hält.167 Statt Codes zu zerstören, sollen diese entlarvt und durch die Verbreitung eigener, alternativer, bzw. emanzipativer Codes gestört werden. Durch die Provokation von Irritationen und Doppeldeutigkeiten sollen die Regeln der Normalität kritisiert und neue Lesarten für gewohnte Bilder und Zeichen ermöglicht werden. Es kommt zu einer „Resemantisierung von Konsumartikeln“.168 Es geht also nicht um die Zerstörung von Zeichen, sondern um die Taktik des Zeichen-Entstellens und Verschiebens. Die Sprache der Macht wird angeeignet und durch Methoden wie Verfremdung, Überidentifikation, Camouflage, Collage oder Montage entstellt. Deutlich wird hier, dass unter Kommunika-

163 Wege: Eines Tages werden die Wünsche, S. 24. 164 Der Begriff des Taktischen ist von de Certeau in seinem Buch Kunst des Handelns ausgearbeitet worden, der ihn in Abgrenzung vom Begriff des Strategischen entwickelt. Er bezeichnet temporäre Aneignungen, die sich durch Beweglichkeit und Flexibilität kennzeichnen lassen. 165 Vgl. Behnke: Gegen die ‚Schaustellung industrieller Macht‘, S. 46. 166 Vgl. Waldvogel: Cultural Jamming, S. 38. 167 Vgl. Autonome a.f.r.i.k.a. gruppe/Blissett/Brünzels: Kommunikationsguerilla, S. 99. 168 Fluck: Widerstand leisten?, S. 18.

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tionsguerilla sowohl konkrete Aktionen, als auch Interventionen auf symbolischer und sprachlicher Ebene gemeint sind. Das Kunstfeld wird dabei vor allem parasitär genutzt. Zwar wird der Kunstszene zugestanden, außerhalb des linken Polit-Kanons zu denken und Kreativität des Denkens und Handelns zu ermöglichen, doch wird davon ausgegangen, dass das Kunstfeld lediglich eine gezähmte künstlerische Gesellschaftskritik zulässt. In der folgenden Definition der Kommunikationsguerilla spiegelt sich diese kritische Haltung zum Kunstfeld wieder. Sie sieht sich als „ein Versuch, linke Politik durch den Angriff auf die ästhetischen Konventionen der Macht zu erweitern. Sie eignet sich im Rahmen der Kunst-Avantgarde entstandene Methoden an und entführt sie in Kontexte außerhalb des Kunstbetriebes.“169 Daraus folgt, dass „das Kunst-Label [...] lediglich instrumentell eingesetzt [wird], als Camouflage und Schutzschild“170. Trotz dieser deutlichen Abgrenzung handelt es sich um Praxen, die durch ihre vielfältigen Ausdrucksformen, ihr Experimentieren mit künstlerischen Strategien und Vorbildern durchaus einen Bezug zum Kunstfeld haben. Sie bewegen sich im Kunstfeld ebenso wie im politischen Feld, im öffentlichen wie im alltäglichen privaten Raum und umfassen sowohl konkrete Aktionen, als auch Interventionen auf symbolischer und sprachlicher Ebene.

169 Autonome a.f.r.i.k.a. gruppe/Blissett/Brünzels: Kommunikationsguerilla, S. 209. 170 Autonome a.f.r.i.k.a. gruppe/Blissett/Brünzels: Kommunikationsguerilla, S. 98.

3. Veränderungen des Gesellschaftsbezugs in Theorie und Praxis seit den 90er Jahren

Wurden im vorherigen Kapitel die Gesellschaftsbezüge in der Kunst der 90er Jahre herausgearbeitet und ein Schwerpunkt auf die politischen Kunstpraxen gesetzt, soll es nun um die Frage gehen, was aus dieser (Re-)Politisierung geworden ist. Seit Ende der 90er Jahre scheint der Gesellschaftsbezug der Kunst in Form von partizipatorischen, aktivistischen und ortsspezifischen Praxen erneut abzuflauen. Von einem Paradigmenwechsel ist nicht mehr die Rede – im Gegenteil. Aber muss tatsächlich von einem Verschwinden des Politischen gesprochen werden oder findet vielmehr eine Modifizierung und Erweiterung des Politischen statt? In diesem Kapitel soll zunächst eine Bestandsaufnahme des Politischen in der Kunst in den 2000er und 2010er Jahren vorgenommen werden. Im zweiten Schritt wird der These einer Veränderung im Denken des Politischen nachgegangen. Mit Hilfe der ästhetisch-politischen Ansätze von Rancière und Deleuze/Guattari soll die Beobachtung einer Vervielfältigung und Mikropolitisierung des Politischen theoretisch unterlegt werden. Beide Ansätze zeichnen sich durch die Auflösung und Dynamisierung der Dichotomie von Kunst und Politik aus. Dies gilt ebenso für die Verhältnisse von Kunst und kapitalistischer Logik, Macht und Gegenmacht. Klare Strukturen und Einteilungen lösen sich auf und insbesondere die Vorstellung eines ‚außerhalb‘ (der Macht, der kapitalistischen Logik, des Kunstfeldes) wird brüchig. Der Glaube an eine alternative politische Ordnung, an ein Außerhalb der Macht wird ebenso aufgeben wie der Glaube an einen Ursprung oder eine lineare Entwicklung. Die Frage ist, wie trotzdem weiterhin eine politische oder kritische Haltung eingenommen werden kann. Mit Foucault, Hardt/Negri und Raunig werden deshalb politischtheoretische Konzepte vorgestellt, die das antagonistische Denken von Macht und Gegenmacht aufbrechen und aufzeigen, wie sich Wider-

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stand zunehmend in die Körper verlagert und zu einer Ästhetik der Existenz wird. Als Letztes wird die herausgearbeitete Begriffsverschiebung des Politischen auf Substanzbegriffe wie Autonomie, Ästhetische Erfahrung und Institutionskritik übertragen. Dabei soll es nicht darum gehen, einen radikalen Wandel bzw. einen Paradigmenwechsel zu behaupten, wie er in den 90er Jahren proklamiert worden ist, sondern einen Perspektivwechsel zu vollziehen, um das Nebeneinander scheinbar widersprüchlicher Entwicklungen denken zu können. Ziel ist es, die Veränderungen im Denken des Kunstverständnisses, des Politischen und der Bewegung der Grenzüberschreitung herauszuarbeiten und diese Veränderungen zugleich in ihrer Interdependenz zu zeigen.

3.1 Was ist von den politischen Kunstpraxen der 90er Jahre geblieben? „Seit geraumer Zeit deutet in unterschiedlichen Zonen dieses Kunstbetriebes jedenfalls einiges darauf hin, dass die kunstpolitischen Modelle der neunziger Jahre um jeden Preis entsorgt werden sollen, so als hätten sie sich überlebt.“ 1 ISABELLE GRAW

Anhand künstlerischer Arbeiten, Ausstellungskonzeptionen und Texten zur und über Kunst lässt sich nachweisen, dass die Zeit der Politisierung der 90er Jahre mit ihrer Konzentration auf interventionistische Ansätze und der gezielten Anbindung an (institutions-)kritische, politische und aktivistische Diskurse abgeebbt ist. Dies ist zum einen auf ihre Institutionalisierung und Vereinnahmung für politische, soziale oder Marketing-Zwecke zurückzuführen, liegt aber auch daran, dass die Kritik an der Vernachlässigung von materialspezifischen, performativen, spielerischen wie unbestimmten Praxen durch die einseitige Fokussierung auf Information, Partizipation und Ortsspezifik lauter wurde. Laut Ventura kommt es zu einer Ernüchterung und Aufsplitterung politisch-künstlerischer Zusammenhänge.2 „Im Zuge ihrer institutionellen Verformungen schien man politisch-künstlerischer Praktiken überdrüssig zu werden und begann sie mit der Forderung ‚Wo bleibt 1 2

Graw: Das war vor Jahren, S. 6. Vgl. Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 233.

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die Kunst?‘ zurückzuweisen.“3 Rollig bemerkt in ihrem Rückblick auf die projektorientierte Kunst der 90er Jahre, dass sich die kritischen Ansätze in einer Bereitstellung von Dienstleistungen erschöpften und als ‚hippe Eventkultur‘ vernutzt würden.4 Durch ihre Institutionalisierung verlören sie an politischer Kraft, da sie von den Institutionen vereinnahmt und zum Bestandteil des formalen Repertoires der Kunst werden.5 Auf recht drastische Weise formuliert Babias die Veränderungen im Katalog der berlin biennale 2004: „Jene kollektive kritische Kunstpraxis, die sich in Opposition zu den Institutionen an den Rändern des Kunstbetriebs entwickelt und kurzzeitig Diskursmacht errungen hatte, wurde nach und nach zurückgedrängt oder integriert, um wieder dem altbewährten Individualmodell zum Sieg zu verhelfen. [...] Diese Entwicklung spiegelt sich in der massiven Rückkehr von Malerei, Fotografie und Zeichnung wider, wohingegen die repolitisierte Situation Mitte der 90er Jahre weitgehend absorbiert worden ist.“6

Statt der Diskursivierung und Theoretisierung der Kunst, gibt es eine Tendenz zu Romantik, Pop und Formalismus.7 Die massive Rückkehr der Malerei, die sich im Erfolg der Leipziger Schule manifestiert, läuft parallel zu einem erneuten Boom des Kunstmarktes, der mit immer neuen Rekordmeldungen über Verkaufserlöse von sich reden macht. Exemplarisch lässt sich dieser Trend auch an den Kunstzeitschriften nachvollziehen. War die 1990 gegründete Zeitschrift Texte zur

3 4 5 6 7

Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 216. Vgl. Rollig: Das wahre Leben, S. 27. Vgl. Kliege: Engagierte Kunstformen, S. 23. Bauer: komplex berlin, S. 44. Liebs spricht von einem Trend zu ‚Traumwelten, Romantik und Geschichtenerzählungen‘. Er nimmt hier Bezug auf die Ausstellungen Geschichtenerzählen in der Hamburger Kunsthalle (2005) und Wunschwelten. Neue Romantik in der Kunst der Gegenwart in der Schirn Kunsthalle Frankfurt (2005). Liebs bewertet diese Tendenz durchaus kritisch, bringt aber Verständnis für diese neue Entwicklung auf, die sich von der eher diskurslastigen, unästhetischen Kunst der 90er abwendet: „Was sich aber in all diesen Bildern der so genannten new romantics vor allem anderen ausspricht, ist eine allumfassende Langeweile und Leere, geboren aus einem Gefühl der Unmöglichkeit, sich in der modernen Welt zu positionieren. Langeweile angesichts der Docufiction-Videos der vergangenen Jahre, der diskursanalytischen Institutionskritiken der Neunziger, der Politkunst der vergangenen Jahrzehnte.“ (Liebs: Einmal Mittelerde, einfach, o.S.)

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Kunst ein Kind der 90er Jahre mit ihrem Anspruch, kontroverse Diskussionen und Beiträge über zeitgenössische Kunst und Kultur zu veröffentlichen, steht die Zeitschrift Monopol für die 2000er Jahre. Die Zeitschrift, die 2004 gegründet wurde, verfolgt mit einer Mischung aus Kunst/Theorie/Unterhaltung einen kommerziell ausgerichteten Ansatz. Ironischerweise bezieht sich das Magazin in seinem Untertitel ausdrücklich auf ‚Kunst und Leben‘ und greift somit eine der Hauptforderungen der Avantgarde auf – wenngleich unter anderen Prämissen: Der Herausgeber Florian Illies möchte ein sinnliches Heft mit vielen Abbildungen machen, das die junge Sammlergeneration anspricht. Trotz dieser Entwicklungen und pessimistischen Stimmen, die das Ende der politischen Kunstpraxen beklagen, wäre es falsch von einem Ende dieser Ansätze zu sprechen. Mit Ventura ließe sich vielmehr ein pragmatischerer Umgang mit dem politischen Anspruch ausmachen, der sich im Changieren zwischen den Signifikanten ‚Kunst‘ und ‚Politik‘ zeigt, statt für eine einseitige Bewegung zu plädieren.8 Zu beobachten ist ein Nebeneinander gegenläufiger Tendenzen. So verweist Draxler auf die Gleichzeitigkeit progressiver und konservativer Ansätze.9 Mit Graw ließe sich festhalten, dass es sich weniger um einen Schlussstrich als vielmehr um die Bildung anderer Konstellationen handelt.10 Als solch ‚andere Konstellationen‘ lassen sich Grenzbewegungen zu anderen Disziplinen, die intensive Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen oder die Verknüpfung von lokalen und globalen Kontexten und Diskursen bezeichnen. Sie sind weiterhin Thema zahlreicher Ausstellungen und Kongresse. So fand sowohl auf der documenta 11 als auch auf der berlin biennale 2004 eine intensive Auseinandersetzung mit postkolonialistischen oder poststrukturalistischen Ansätzen statt, die sich in den umfangreichen Katalogen und Publikationen niederschlägt und zum Vorwurf der Theorielastigkeit und Unsinnlichkeit geführt hat (womit die Vorwürfe an die Whitney Biennale von 1994 wiederholt werden). Weitere Ausstellungen widmen sich expliziter dem Politischen, wie z.B. Making things public im ZKM Karlsruhe oder Kritische Gesellschaften im Badischen Kunstverein (beide 2005) – um nur zwei zu nennen. Ebenfalls 2005 untersuchte der Kongress Klartext den Status des Politischen in aktueller Kunst und Kultur. Ende das Jahres folgte der Kongress Kunst Macht Politik, veranstaltet von der Heinrich Böll Stiftung, in der nach dem Wirklichkeitsbezug aktueller Künste gefragt wurde. Auch das Sympo-

8 Vgl. Ventura: Politische Kunst Begriffe, S. 209. 9 Vgl. Draxler: Gefährliche Substanzen, S. 17. 10 Vgl. Graw: Das war vor Jahren, S. 6.

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sium Ästhetik und Politik an der HfbK in Hamburg im Mai 2007 lotete die Möglichkeiten gegenseitiger Bezugnahmen aus. Ein weiteres Beispiel für die enge Verbindung von Kunst und politischen Praxen und verschiedene Formen von Grenzüberschreitungen sind die künstlerischen Aktionen anlässlich des G8-Gipfels 2008 in Heiligendamm, die unter dem Motto ‚Art goes Heiligendamm‘ agierten. In der eigens für diesen Anlass erschienenen Zeitung steht: „Während der nächsten Tage werden die Grenzen zwischen Kunst, Politik und Stadtraum durchlässiger“11, bilden Künstler Schnittstellen zwischen der Bevölkerung, den sozialen Bewegungen und künstlerischen Repräsentationsformen. Hier werden Ziele, die zentral für die politischen Kunstpraxen der 90er Jahre waren, mit postkolonialistischer, antiglobalistischer Theorie kombiniert und mit gezielten Hinweisen auf die Ambivalenz und Komplexität der Aktionen ergänzt. Das hat ein Umdenken zur Folge. In der Ambivalenz wird ein Raum gesehen, der allen Wünschen nach Reinheit und ‚Regierbarkeit‘ widerstrebt, aber einen Möglichkeitsraum für ein Denken jenseits der Dichotomien öffnet. Den Initiatoren geht es um die Eröffnung eines Zwischenraumes zwischen pro und contra, dafür und dagegen, und jenseits nationaler oder lokal begrenzter Zusammenhänge. Feststellen lässt sich somit, dass künstlerisch-politische Ansätze nicht verschwinden, sondern neben anderen Ansätzen weiter existieren. Viele Ansätze, die einseitig unter dem Begriff Politisierung zusammengefasst wurden, werden fortgesetzt, jedoch ohne die Forcierung einer Abwendung vom Kunstfeld und der Reduktion auf die störende Funktion von Kunst. Vielmehr kommt es zu einer Modifizierung des Politischen hin zu Strategien und Momenten der Verweigerung und der Unterwindung (von Erwartungen). Dies lässt sich beispielsweise anhand der kuratorischen Konzepte der berlin biennalen von 2006 und 2008 nachvollziehen. Statt an die politischen Ansätze der vorherigen biennalen anzuknüpfen, die diese mit Stadtpolitik und Theoriediskursen verknüpften, verweigerten sich die Kuratoren der biennale von 2006, Maurizio Cattelan, Massimiliano Gioni und Ali Subotnik, diesem Verständnis des Politischen: „Erwarten Sie in der Ausstellung keine Statistiken oder soziologischen Ausführungen. Halten Sie sich nicht an Themen wie der Gentrifizierung oder dem Immobilienmarkt fest: Sie haben nichts mit unserer Ausstellung zu tun.“12 Es überwiegt stattdessen ein thematischer Grundton von ‚Paranoia, Un-

11 www.art-hoes-heiligendamm.net/de/idee, Stand: 20.11.2007. 12 Cattelan/Gioni/Subotnick: Von Mäusen und Menschen, S. 24.

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heimlichkeit und Depression‘13. Gezeigt wird nicht die auf dem Kunstmarkt zu beobachtende Hinwendung zum Malerischen und Erzählerischen, sondern kleinteilige Arbeiten, Zeichnungen und Installationen, die sich oftmals mit Phänomenen der Verwahrlosung, der Zerstörung oder des Abartigen beschäftigen – Verhaltensweisen, die aus der Gesellschaft ausgeblendet werden. Dabei kommt es zu einer Hinwendung zum Subjektiven: „Alles was Sie sehen, ist subjektiv und durch Voreingenommenheit gekennzeichnet.“14 Weder das Globale noch das Lokale steht im Mittelpunkt, sondern die subjektiven ‚Ästhetiken der Existenz‘. Zudem gibt es kein programmatisches und ordnendes Ausstellungskonzept – auch dies eine bewusste Verweigerung. An Bedeutung gewinnen stattdessen die Ausstellungsräume, die sich auf private wie institutionelle, leer stehende und verfallende wie bewohnte Gebäude in der Auguststrasse verteilen. Besonders beeindruckend war die ehemalige jüdische Mädchenschule mit ihren historischen Spuren. Auf der berlin biennale 2008 mit dem Titel When things cast no shadows wird diese Tendenz zur Verweigerung und Flüchtigkeit fortgesetzt ebenso wie das Interesse an einem offenen Ausstellungsort ohne Grenzen. Dies zeigt sich an der Wahl heterogener Ausstellungsorte (den Berliner Kunstwerken, der Neuen Nationalgalerie, dem Schinkel Pavillon, dem Skulpturenpark Berlin-Zentrum), die zu einer Dezentralisierung der Ausstellung führten, aber auch in der Idee eines erweiterten Ausstellungs- und Dialograumes durch die Ausdehnung der Ausstellung auf ein ‚flüchtiges‘ nächtliches Veranstaltungsprogramm, das aus Diskussionen, Vorträgen und performativen Praxen bestand. Konsequent wird dieses Konzept auch im Katalog fortgesetzt, der weniger Erläuterungen, als eine Zusammenstellung von essayistischen und literarischen Texten und Referenzen enthält. Statt die in der Ausstellung präsentierten Arbeiten abzubilden, wurden die Künstler gefragt, Quellen- und Referenzmaterial einzureichen, das sie bei ihrer Arbeit beeinflusst hat. In einem Interview spricht der Kurator Adam Szymczyk davon, dass es das Anliegen der Kuratoren war, ein offenes Feld, ein Versuchsfeld für Künstlerinnen und Künstler zu schaffen,15 also die Dinge vor Ort entstehen zu lassen und sie in ihrer Prozesshaftigkeit zu präsentieren. In diesem Sinne sprechen die Kuratoren im Katalog davon, die „Biennale zu einem Ereignis anderer Art werden zu lassen –

13 Vgl. Heiser: Bilder der Isolation, o.S. Seiner Meinung nach zeigt sich darin eine „perverse Lust, schwarze Wolken überm sonnigen Boom der Gegenwartskunst aufziehen zu lassen“. (Ebd.) 14 Cattelan/Gioni/Subotnick: Von Mäusen und Menschen, S. 25. 15 Vgl. Gleißendes Licht, tiefe Schatten, Interview mit Szymczyk, S. 11.

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im Sinne einer unerwarteten Begegnung auf einer Route ohne vorgegebene Richtung“16. Dazu gehört der Mut zum Disparaten, Unabgeschlossenen und sich Verflüchtigenden.

3.2 Veränderungen im Denken des Politischen „Es ist klar, daß man sich nicht mehr wie in den fünfziger Jahren engagieren kann. Engagement findet unter anderen Bedingungen statt, und eine engagierte Kunst muß sich nicht zwangsläufig im Verfassen von Manifesten und Flugblättern äußern.“ 17 CATHERINE DAVID

Wie bereits angedeutet, wird die Reduktion der 90er Jahren auf die interventionistischen, störenden Kunstpraxen durch eine Vervielfältigung und Mikropolitisierung des Politischen abgelöst. Die Ansätze und Forderungen der 90er Jahre verlieren ihren dogmatischen und aufklärerischen Duktus. Es geht nicht um die direkte Lösung von Problemen, nicht um den direkten Eingriff, sondern darum mit der Kunst einen Raum der Verunsicherung, Konfrontation und Verhandlung zu öffnen. Damit wird auf die Tatsache reagiert, dass es nicht länger ein komplexes (marxistisches) politisches Programm, keine richtige Linie revolutionärer Politik, keine fixierte Vorstellung des herrschaftsfreien Lebens, kein ursprüngliches Ideal mehr gibt, wie Gabriel Kuhn festhält.18 Klare Feindbilder und antagonistische Strukturen und Schemata wie Überbau und Unterbau fallen weg. Damit verändert sich auch das Verhältnis von Kunst und Politik. Dies wird nicht länger als antagonistisches gedacht wie bei den historischen Avantgarden, als sich die Künstler als Vorhut und Feinde der trägen Massen verstanden, oder wie in den 60er Jahren als sie Teil der Gegenkultur waren und für das ‚Andere‘ der rationalen Vernunft eintraten. Viele Künstler wurden damals von der Hoffnung angetrieben, die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse umstürzen und verändern zu können, gleichzeitig zeichneten sich künstlerische Strategien oftmals durch Gesten der Ablehnung und Dissidenz aus. Allzu oft wurden dabei Einteilungen in Innen und Außen, in Freund und Feind 16 Szymczyk/Filipovic: When things, S. 583. 17 Eine Documenta des Übergangs, David im Gespräch, S. 91. 18 Vgl. Kuhn: Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden, S. 142.

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reproduziert, wurde eine strikte Trennung von Kunst und kapitalistischer Logik vorgenommen. Mit dem Verwischen eindeutiger Gegensätze und Grenzen in Folge von Ausdifferenzierung und Pluralisierung wird es jedoch immer schwerer an diesen Antagonismen festzuhalten: „Gegenkultur und Gegenkunst machen nur Sinn, wenn das Ordnungs- und Kultursystem der Gesellschaft klare und eindeutige Strukturen aufweist. Diese Strukturen sind aber im Verlauf des 20. Jahrhunderts verloren gegangen.“19 Mit Foucaults omnipräsentem Machtbegriff wird der Spielraum von Kritik und Widerstand von einem ‚außerhalb‘ auf ein ‚innen‘ verlagert und damit die Veränderungsmöglichkeiten minimiert – aber nicht gänzlich negiert. Das bedeutet, dass die eigene Involviertheit (die Immanenz) in die Machtstrukturen immer mitzudenken und zu reflektieren ist. Antagonistische Strukturen ebenso wie das Denken des ‚Entweder-oder‘ werden zunehmend durch eine Gleichzeitigkeit heterogener Phänomene und ein ‚Sowohl-als-auch‘ abgelöst. Kunstpraxen lassen sich nicht mehr auf die reaktive Logik der kulturellen Oppositionalität reduzieren. Es deutet sich ein Ende der Radikalität, der Negation und aggressiven Grenzüberschreitung an. Die großen Erzählungen einer revolutionären Avantgarde ebenso wie das Verständnis von Grenzüberschreitungen als Überschreitungen und Bewegung auf ein ‚Außerhalb‘ des Kunstfeldes werden fragwürdig. Die Anknüpfungspunkte für Kritik und Widerstand vervielfältigen sich; Kritik muss vielschichtiger und differenzierter werden und auf die Gefahren ihrer Involvierung und Institutionalisierung reagieren. Das bedeutet insbesondere für die ältere Kunst-Generation, die noch von einem anderen Politik-Begriff sozialisiert war, dass sie „sich nun vielleicht daran gewöhnen muss, dass politisch-künstlerische Gruppen und AutorInnen es heute weder auf Erfolg im Kunstsystem anlegen noch auf eine konkrete Veränderung der Gesellschaft hoffen“, wie Ventura festhält.20 Vielmehr operieren sie mit beiden Varianten und sind „nicht nur pragmatisch, aufgeregt, zynisch oder kalkuliert dabei […], sondern noch vieles mehr. Zu lernen ist heute die Autonomie der politischen Kunst, ihre Funktionslosigkeit bzw. ihr Freisein von angewöhnten Funktionsansprüchen. Dies ist die Voraussetzung für die notwendigen Überraschungen.“21 Laut Ventura gehe es nicht um die konkrete Veränderung, sondern um die Initiierung von ‚notwendigen Überraschungen‘, die ergebnisoffen und prozessual sind. Neben der Vielschichtigkeit der

19 Falckenberg: Auf Wiedersehen, S. 188. 20 Ventura: KünstlerInnen und KulturproduzentInnen, o.S. 21 Ventura: KünstlerInnen und KulturproduzentInnen, o.S.

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Ansätze betont Ventura die Autonomie und Funktionslosigkeit von Kunst und verwendet damit Begriffe, von denen sich die ‚ältere KunstGeneration‘ bewusst abgrenzte. Statt auf konkrete Veränderungen des Lebens als Ganzes zu zielen und den autonomen Kunstbegriff abzulehnen, wie es die Avantgarden und in ihrer Nachfolge die interventionistischen Kunstpraxen getan haben, wird wieder von der Autonomie der Kunst gesprochen, ihre Sinnfreiheit und Ergebnisoffenheit hervorgehoben.22 Dem entspricht ein Politikverständnis, das das Politische vor allem als Verunordnung bestimmt, bei der die bestehende Ordnung verrückt, destabilisiert und in Bewegung gehalten wird, ohne dass sie durch eine neue ersetzt würde.23 In der Einleitung des von Ulrich Bröckling und Robert Feustel herausgegebenen Sammelband Das Politische denken (2010) heißt es: „Unübersehbar ist jedenfalls das Abrücken von liberalen, kommunitaristischen oder deliberativen Politikkonzepten, deren Fluchtpunkt ein – immer schon voraussetzender und/oder erst diskursiv zu ermittelnder – Konsens bildet.“24 Stattdessen überwiegen Positionen, die ein Verständnis des Politischen teilen, „das auf die unhintergehbaren Momente des Dissens und Widerstreits, des Ereignisses, der Unterbrechung und Instituierung abhebt“25. Das Politische umgeht damit klassisch-repräsentativen Institutionen. „Als politisch werden demnach nicht nur Widerstandsakte in Opposition zum Staatlichen verstanden. Prinzipiell entsteht ein politischer Moment immer dann, wenn scheinbar feste Formen, Kategorien und Hierarchien in Bewegung gesetzt werden.“26 Es handelt sich um nichtintentionale Bewegungen, die auf Verweigerung, Unterwindung oder Vervielfältigung setzen und auf diese Weise etablierte und normative Praxen innerhalb der gesellschaftlich-sozialen Ordnung unterminieren. Bei Rancière wird das Politische als Vorgang der De-Identifizierung und des Streits entworfen. Politik wird von ihm als eine unaufhörliche Praxis des Dissenses gedacht, als Unterbrechung und Verwirrung der herrschenden (polizeilichen) Ordnung, an die die Herstellung unerwarteter, neuer Verknüpfungen anschließt, die sich jedoch in permanenter Bewegung und Verhandlung befinden. Ähnlich wie bei Deleuze/Guattari wird die Unabschließbarkeit und Prozessualität der dissensuellen Grenzbewegungen betont, um der Gefahr einer

22 Vgl. die ausführliche Beschreibung der Begriffsverschiebungen in Kapitel 3.3. 23 Vgl. Bröckling/Feustel: Das Politische denken, S. 13. 24 Bröckling/Feustel: Das Politische denken, S. 14. 25 Bröckling/Feustel: Das Politische denken, S. 8. 26 Schick: Kafkas Prozess, S. 35ff.

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Verfestigung und Reproduktion von Hierarchien zu entgehen. Gegenstand des Dissenses sind die etablierten Regeln und Grenzen der politischen Teilhabe; die Ordnung, innerhalb der etwas gesagt und in der ein politisches Subjekt überhaupt in Erscheinung treten kann. Die Frage nach den Möglichkeiten einer Verschiebung dieser Ordnung ist bei Rancière gleichzusetzen mit der Frage nach dem Anteilnehmen der Anteillosen am Politischen. Denn laut Rancière setzt Politik dann ein, wenn die Anteillosen einen Anteil erwirken, in dem sie sich als Subjekt artikulieren können und es auf diese Weise zu einer Neuordnung des Erfahrungsfeldes (der Aufteilungen des Sinnlichen) kommt. 27 Mit diesen permanenten Grenzbewegungen und Neuordnungen sind Erfahrungen der Überforderung und der Irritation verbunden. Erwartungen und Sinnkonstruktionen werden gebrochen und unterlaufen. Nicht das Hochhalten einer Alternative ist das Ziel, sondern die Dynamisierung des Bestehenden. Nicht das Heraustreten aus dem System, sondern die mikropolitische Verschiebung des Bestehenden und ihrer Bedingungen. Nicht die Intention steht im Mittelpunkt, sondern die Eröffnung von Potentialitäten und Möglichkeiten. Betont wird die (Sinn-)Freiheit ebenso wie die (Ergebnis-)Offenheit der Kunst. Laut Barthes stelle Kunst Fragen und provoziere Antworten, ohne aber abschließende Antworten zu geben. Kunst konstruiere Sinn, ohne ihn genau auszufüllen. Es geht weniger darum, Sinn zu schaffen, als ihn im Gegenteil in der Schwebe zu lassen.28 Die Kritik des Sinns ist zerstörerisch, aber auch reflexiv und überschreitend, indem sie nicht auf einer gegensätzlichen Position beharrt, sondern die Fundamente des Diskurses ins Wanken zu bringen versucht. Kunst wird zu einem unendlichen Reflexionsmedium, das immer auch den eigenen Standpunkt und die eigene Involviertheit in die Prozesse der Bedeutungskonstitution mitreflektiert. Dies entspricht der Charakterisierung der Kunst als Reflexionsmedium durch Wellmer: „Kunstwerke können, ohne bestimmte Antworten auf bestimmte Fragen zu geben, Erfahrungs-, Wahrheits- und Artikulationsräume aufstoßen, gefrorene Sichtweisen infrage stellen, Verdrängtes und Subjektfremdes zu Tage fördern, durch ‚Umbelichtung‘ des Vertrauten oder Selbstverständlichen dessen Ver-

27 Vgl. Krasmann: Jacques Rancière, S. 81. 28 Vgl. Barthes: Körnung der Stimme, S. 25 und S. 27. Buchloh beschreibt die Theorie Barthes als eine der wenigen produktiven Theorien, die einen Weg aufzeigt mit der Vereinnahmung kritischer Positionen durch die kapitalistische Logik umzugehen (vgl. Buchloh: Allegorische Verfahren, S. 57.)

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trautheit oder Selbstverständlichkeit erschüttern und dadurch auch außerästhetische Reflexionsprozesse anstoßen.“29

Er entwirft die Vorstellung von Kunst als sich entziehendem Medium, das die Gesellschaft in unterirdischen, nicht eindeutig verfolgbaren Prozessen verändert. Auch laut Menke bestehe das Ziel ästhetischer Praxen in einer unendlichen Verzögerung der Identifizierung und in der Verweigerung einer verstehenden Aneignung.30 Kunst ist seiner Meinung nach „eine Weise der Darstellung, die Hierarchien und Dichotomien von Geist und Buchstabe, Allgemeinem und Besonderem, Verstand und Sinnlichkeit überwindet“31. Er betont die Freiheit und Souveränität der Kunst und versteht darunter Kräfte, „die wir nicht beherrschen können“32. Im Anschluss an Deleuzeʼ Baconstudie spricht er von einer souveränen Kunst, die ebenso von der Überschreitung als auch der Verweigerung gekennzeichnet ist: „Dass die Kunst souverän ist, weil sie Ordnung und Form überschreitet, heißt daher ebenso sehr, dass sie Ordnung und Form unterschreitet – dass sie hinter Ordnung und Form

29 Wellmer: Über Negativität und Autonomie der Kunst, S. 255. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist Adornos Konzept der ästhetischen Negativität. 30 Vgl. Menke: Umrisse einer Ästhetik der Negativität, S. 206. Der Aufsatz baut auf seinem 1991 erschienenen Buch Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida auf, in dem er Adornos Negativitätsästhetik mit Derridas Dekonstruktion konfrontiert und aktualisiert. Zentral für die Kombination von Adorno/Derrida ist die These, dass es beiden nicht um die Überwindung, sondern die Dekonstruktion der Vernunft geht, darum, diese in eine Krise zu stürzen und beständig zu hinterfragen. Dafür bietet sich sowohl Adornos Negative Ästhetik, die die Negation des Verstehens als ästhetisches Vergnügen beschreibt, als auch Derridas dekonstruktivistische Theorie an, die auf die permanente Sinn-Störung setzt. 31 Menke: Umrisse einer Ästhetik der Negativität, S. 196. 32 Menke: Ästhetische Souveränität, S. 307. Menke bezieht sich in diesem Aufsatz auf Batailles Souveränitätskonzept und aktualisiert es mit Deleuze. In seinem Aufsatz Umrisse einer Ästhetik der Negativität betont er das vernunftkritische Potential dieses Konzepts von Souveränität. Die Kunst ist souverän, sofern sie sich nicht als ‚l'art pour l'art‘ in das ausdifferenzierte Gefüge der pluralen Vernunft einordnet, sondern ein transgressives Potential gewinnt und sich als Instanz einer erfahrend vollzogenen Vernunftkritik versteht (vgl. S. 192).

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zurückgeht in das Wirken der Kräfte, aus dem Ordnung und Form hervorgeht.“33 Die hier nachgezeichnete Vervielfältigung und Minorisierung des Politischen hat zur Folge, dass eindeutige Kriterien und Definitionen des Politischen verloren gehen. Man kann monieren, dass dadurch das Verständnis des Politischen unscharf wird, andererseits breitet es sich in verschiedenen Mikropolitiken aus und vervielfältigt sich. Die Vervielfältigung des Politischen basiert auch auf der Beobachtung, dass Macht nicht mehr nur durch politische Entscheidungen ausgeübt wird, sondern sich auf unterschiedliche Ebenen verlagert und hier wirksam wird. Bourdieu arbeitet heraus, dass sich Macht nicht mehr nur anhand von ökonomischem Kapital messen lässt, sondern sich über das soziale, kulturelle und ökonomische Kapital definiert. Foucault verweist auf die Verknüpfung von Macht, Wissen und Subjekt. „Wenn ich von der Mechanik der Macht spreche, denke ich an die feinsten Verzweigungen der Macht bis dorthin, wo sie an die Individuen rührt, ihre Körper ergreift, in ihre Gesten, ihre Einstellungen, ihre Diskurse, ihr Lernen, ihr alltägliches Leben eindringt.“34 Der Nachweis der Ausweitung der Macht auf die Ebenen des Sicht- und Sagbaren ist eines seiner zentralen Anliegen. Am Beispiel des Panoptismus zeigt er, wie sehr Sichtbarkeit mit Machtverhältnissen verknüpft ist.35 Als Hauptwirkung des Panoptikums beschreibt Foucault die Schaffung eines bewussten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt. „Die Perfektion der Macht vermag ihre tatsächliche Ausübung überflüssig zu machen; der architektonische Apparat ist eine Maschine, die ein Machtverhältnis schaffen und aufrechterhalten kann, welches von Machtausübenden unabhängig ist, die Häftlinge sind Gefangene einer Machtsituation, die sie selber stützen.“36 Die von Foucault vorgenommene Schilderung der Blickregime des Panoptikums macht deutlich wie Macht automatisiert, entindividualisiert und unkörperlich wird. Politik wird bestimmt durch die Zugänge zum Sicht- und Sagbaren und die Beeinflussungsmöglichkeiten der Bedeutungsregime. Im Anschluss an Foucault

33 Menke: Ästhetische Souveränität, S. 306. 34 Foucault zit.n. Kuhn: Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden, S. 117. 35 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 251-292. Zu Foucault und dem Begriff der Sichtbarkeit vgl. auch Holerts Sammelband Imagineering (2000) und hier insbesondere den Aufsatz von John Rajchman über Foucaults Kunst des Sehens. 36 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 258.

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spricht Rancière von Bedeutungs- und Identifikationsregime, die maßgeblich bei der Machtausübung beteiligt sind. Auf diese Weise wird ein antagonistisches Verständnis des Verhältnisses von Politik und Ästhetik oder Kunst und Markt ebenso fragwürdig wie die Gegenüberstellung von Macht und Gegenmacht (vgl. Kapitel 3.2.2). 3.2.1 Ästhetisch-theoretische Positionen von Deleuze/Guattari und Rancière Um das Umdenken des Politischen weiter zu konkretisieren, werden im Folgenden die ästhetisch-theoretischen Konzepte von Deleuze/Guattari und Rancière vorgestellt. Beide verorten politische Kräfte im Spannungsverhältnis und der permanenten Bewegung zwischen den unterschiedlichen Disziplinen und den heterogenen gesellschaftlichen Sphären. Angestrebt wird eine temporäre Überlagerung von Politik und Ästhetik mit dem Ziel neue Erfahrungsräume zu eröffnen. Hier werden Verschiebungen und Umdeutungen der bestehenden Ordnungen möglich. Unterstreicht Rancière dabei den Dissens, der durch diese temporäre Konfrontation entsteht, legen Deleuze/Guattari den Fokus auf die Dynamik dieser Bewegung und ihre Unabschließbarkeit. Statt weiterhin von Überschreitungen zu sprechen, konzentrieren sie sich auf Prozesse des Klein-Werdens und Unterwindens der festen Kerbungen und Ordnungen. Es wird eine ‚fundamentale Neubestimmung‘ der Begriffe der Ästhetik und der Politik vorgenommen, in dessen Zusammenhang auch das Verhältnis von Ästhetik und Politik neu definiert wird.37 Dieses ist laut Rancière als gegenseitiges Bezugsfeld zu denken, in dem sich die ‚Politik der Ästhetik‘ und die ‚Ästhetik der Politik‘ überlagern. Seiner Meinung nach gibt es „eine Politik der Ästhetik, weil die Ästhetik Formen der Gemeinschaft erschafft, die Ordnungen der Wahrheit unterbricht und die sinnlichen Hierarchien erschüttert. Und es gibt eine Ästhetik der Politik, weil die Politik zunächst das betrifft, was man sieht, was man darüber sagt und was man damit machen kann.“38 Das heißt konkret: „Nicht die Kunst ist politisch, sondern sie treibt mögliche Einsatzräume des Politischen hervor.“39

37 Vgl. Muhle: Einleitung, in: Rancière: Aufteilung des Sinnlichen, S. 7. 38 Rancière: Ist Kunst widerständig?, S. 85. 39 Rancière: Ist Kunst widerständig?, S. 107.

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3.2.1.1 Dynamisierung und Vervielfältigungen durch die Betonung von Werdensprozessen „Unablässig stellen die Menschen einen Schirm her, der ihnen Schutz bietet, auf dessen Unterseite sie ein Firmament zeichnen und ihre Konventionen und Meinungen schreiben; der Dichter, der Künstler aber macht einen Schlitz in diesen Schirm, er zerreißt sogar das Firmament, um ein wenig freies und windiges Chaos eindringen zu lassen und in einem plötzlichen Lichtschein eine Vision zu rahmen, die durch den Schlitz erscheint.“ 40 GILLES DELEUZE UND FÉLIX GUATTARI

Für Deleuze/Guattari ist Kunst dann interessant, wenn sie Kräfteverhältnisse und Spannungen enthält; wenn sie sich zum Chaos und zum Unvorhergesehenen hin öffnet und unmittelbare Affekte auslöst. Aus diesem Grund fokussieren die Autoren die Werdens-Prozesse, die Bewegungen und Spannungen, die Kunst enthält und beim Betrachter auszulösen vermag. Deleuze/Guattaris Äußerungen zu Kunst finden sich vor allem in zwei Werken: In dem gemeinsam veröffentlichten Buch Was ist Philosophie? (1991) und in Deleuzes Ausführungen über den Maler Francis Bacon (1981). In ersterem wird Kunst im Verhältnis zu Philosophie und Wissenschaft untersucht und als Sammelbegriff für Bildende Kunst, Literatur und Film verwendet. Das Buch über Bacon beschäftigt sich explizit mit dessen Malerei und verhandelt Fragen der Bildenden Kunst und Ästhetik, wobei Deleuze in seiner Beschreibung auf ungewöhnliche Begriffe wie Athletik, Sensation und Diagramm zurückgreift. Dabei soll auf eine grundsätzliche Schwierigkeit im Umgang mit Deleuze/Guattari hingewiesen werden: Durch ihren Anspruch neue Begrifflichkeiten zu entwickeln, nehmen sie geläufige Begriffe, die mit einer Bedeutung besetzt sind und verwenden diese in ‚artfremden‘ Kontexten. So steht der Begriff des Diagramms für eine Struktur oder ein mathematisches Konzept, wird dann aber im Zusammenhang mit der Kunst zu einem Dazwischen, einer Bewegung. Die anfängliche und nur schwer abzuschüttelnde Irritation über den Gebrauch der Begriffe ist intendiert und führt dazu, dass die jeweilige Bedeutung beständig neu gedacht werden muss. Zudem stehen die Be40 Deleuze/Guattari: Was ist Philosophie?, S. 241.

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griffe meist in Bezug zu ihrem Gegensatz, da es den Autoren immer um die Bewegungen und Veränderungsprozesse von einem Zustand/einer Definition zu einem/einer anderen geht: vom Chaos zur Ordnung, von der Deterritorialisierung zur Reterritorialisierung, vom Ereignis zur Bewegung. Auf diese Weise treten die Zwischenzonen, die Begriffsbewegungen und -verschiebungen in den Mittelpunkt. Für Deleuze beginnt der künstlerische Prozess damit, dass nicht etwas erschaffen, sondern zerstört wird: die Klischees, Erinnerungen, Vorstellungen und figurativen Gegebenheiten, die immer schon die leere Leinwand besetzen.41 „Die moderne Malerei wird heimgesucht, belagert von den Photos und Klischees, die sich auf der Leinwand schon festsetzen, noch bevor der Maler seine Arbeit begonnen hat. […] Virtuell ist die Oberfläche insgesamt bereits von allen Arten von Klischees besetzt, mit denen man wird brechen müssen.“42 Daraus folgt für den Maler, dass er „keine weiße Fläche zu füllen hat, er müsste sie vielmehr leeren, räumen, reinigen“43. In anderen Worten: „Der Künstler aber macht einen Schlitz in diesen Schirm, er zerreißt sogar das Firmament.“44 Doch das Klischee ist hartnäckig, man kann es nur mit viel List, Wiederholung und Vorsicht bekämpfen – und muss vermeiden, dass die Dekonstruktion des Klischees selber zu einem Klischee verkommt und in einer Überbietungslogik mündet.45 Statt das Klischee gänzlich zu vermeiden (was nicht möglich ist), muss es deformiert werden. Aus der Gesamtheit der figurativen Wahrscheinlichkeiten (den Klischees) gilt es eine unwahrscheinliche Figur zu gewinnen.46 Dies gilt ebenfalls für Grenzüberschreitungen: Um zu vermeiden, dass diese zum Klischee erstarren, müssen sie immer wieder neu erfunden werden, müssen sie beweglich und unwahrscheinlich werden. Um die ästhetische Theorie Deleuze/Guattaris zu veranschaulichen, wird auf ihre Ausführungen Deleuzes über Bacon zurückge-

41 Die Vermeidung von Klischees entspricht dem in Was ist Philosophie? geäußerten Unbehagen gegenüber den ‚Meinungen‘. Diese sind dann problematisch, wenn sie für eine Wissenschaft stehen, die von der Fixierung und Vereinheitlichung ihrer Gesetze träumt und kreative und unproduktive Prozesse vermeidet (vgl. S. 244). 42 Deleuze: Bacon, S. 14. Vgl. auch Deleuze/Guattari: Was ist Philosophie?, S. 242. 43 Deleuze: Bacon, S. 55. 44 Deleuze/Guattari: Was ist Philosophie?, S. 241. 45 Vgl. Deleuze: Bacon, S. 61 und S. 56. 46 Vgl. Deleuze: Bacon, S. 61.

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griffen. Dabei lassen sich vier Aspekte von Bacons Arbeitsweise bzw. seinen Arbeiten herauskristallisieren: 1. Bacon reduziert die Figuration auf die reine Figur und definiert den Malakt als zufällige Markierung der Hand. Auf diese Weise wird die Vorstellung einer gestalterischen Aufgabe der Hand aufgegeben. Statt des intendierten Malaktes treten Momente des Zufalls und des Sturzes in den Vordergrund. Ebenso wird eine Malerei, die diese als „illustratives Abbild der konkreten Realität oder als narrative Darstellung einer Idee bzw. Geschichte verstehen lässt“47, abgelehnt und eine Malerei jenseits der Repräsentation entworfen. Statt des Figurativen oder des Abstrakten geht es um einen ‚Mittelweg‘: um die Komposition von Kräfteverhältnissen und Spannungen; den Weg des Figuralen. Dies gelingt zunächst durch die Isolierung der Figur. In den Worten Friedrich Balkes „kappt [Bacon] die paradigmatischen und syntagmatischen Beziehungen, in die die Figur eingebunden ist, er isoliert und deformiert sie, um sie mit anderen Kräften in Verbindungen zu bringen, um sie gefährlichen Nachbarschaften auszusetzen, die nicht dem Typ intelligibler Relationen entsprechen“48. Nicht die Organisation des Bildes ist das Ziel der künstlerischen Arbeit, sondern die Errichtung von zusammengesetzten Monumenten, die sich – entgegen dem Sprachgebrauch – durch Instabilität und Dynamik auszeichnen und sich immer wieder mit außen stehenden Kräften verbünden. Es kommt zu einer Deformation der dargestellten Körper, „durch die er seine Figuren jeder möglichen Einordnung in das Raster präetablierter Körperbilder entfremdet“49. Die Körper wirken verzerrt und entstellt und sind doch immer noch als Körper erkennbar, sie sind fleischlich und verschwimmen zugleich mit dem Hintergrund, werden ununterscheidbar. Sie sind das Ergebnis eines Malprozesses, der beständig zwischen der Loslösung vom Figurativen und gleichzeitiger Überantwortung an das Chaos schwankt. Um diesen Zustand zu beschreiben, verwendet Deleuze den Begriff des Diagramms. Er zeichnet sich durch die Gleichzeitigkeit von Ordnung und Nähe zum Chaos aus. „Das Diagramm ist zwar ein Chaos, aber auch der Keim von Ordnung und Rhythmus.“50 Einerseits bricht das Diagramm wie eine Störzone herein, die zugleich die optischen Koordinaten und die taktilen Zusammenhänge auflöst und das Bild für die Kräfte des ‚Außen‘ öffnet: „Aufgrund seiner defigurierenden und deformierenden Wirkung öffnet

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Münker/Roesler: Poststrukturalismus, S. 129. Balke: Deleuze, S. 51. Münker/Roesler: Poststrukturalismus, S. 129. Deleuze: Bacon, S. 63.

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das Diagramm das Gemälde für die informellen Kräfte des Außen.“51 Andererseits dient es als Raster und Ordnungsprinzip, als Halte- oder Ruhepunkt. Aufschlussreich ist die Einschränkung, die Deleuze vornimmt, um die Wirkung des Diagramms nicht unendlich zu erweitern und damit zu erschöpfen: „Das Diagramm darf also nicht das ganze Gemälde anfressen und muß räumlich und zeitlich begrenzt bleiben. Es muß operativ und kontrolliert bleiben. Seine Mittel dürfen sich nicht entfesseln und die zwangsläufige Katastrophe darf nicht alles überschwemmen.“52 Dies ist übertragbar auf die Konzepte der Überschreitung. Auch diese sollten räumlich und zeitlich beschränkt bleiben und sich eher in einem Zwischen abspielen, als in einem anderen Raum aufzugehen. 2. Kunst sowie ästhetische Figuren allgemein sind Empfindungen, schreiben Deleuze/Guattari in Was ist Philosophie?.53 Diese Betonung des Sinnlichen drückt sich in der Verwendung von Begriffen wie Empfindungsblöcken, Affekten und Perzepten aus und umfasst damit die Wahrnehmung ebenso wie die ausgelösten Empfindungen.54 Entscheidend ist die Opposition dieser ästhetischen Erfahrung zu einer intentionalen, objektivistischen, auf ‚Meinungen‘ basierenden Erfahrung. Vogl spricht überspitzt von einer Erfahrung des Fremd-Werdens: „Die Verwandlung in ein Nur-Sehen, in ein Bloß-Empfinden ist ein notwendiges Fremdwerden, das womöglich im Kontext totaler und uni-

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Ruf: Fluchtlinien, S. 123. Deleuze: Bacon, S. 68. Vgl. Deleuze/Guattari: Was ist Philosophie?, S. 208f. Schick verweist darauf, dass diese Erfahrung nicht an ein Subjekt gebunden ist, genauso wenig, wie das Kunstwerk an einen Künstler gebunden ist. Das bedeutet: „Ein Empfindungsblock unterscheidet sich insofern eklatant von der etablierten Vorstellung von Empfindungen und Gefühlen, als dass die Perzepte und Affekte unabhängig von individuell-persönlichen Erfahrungen sind: sie referieren weder auf ein Subjekt noch auf ein Objekt.“ (Schick: Kafkas Prozess, S. 49.) Sie stützt sich dabei auf Aussagen Deleuze/Guattaris, denen zufolge das Kunstwerk für sich allein aufrecht steht und an sich existiert – auch wenn dies nur schwer vorstellbar erscheint (vgl. Deleuze/Guattari: Was ist Philosophie?, S. 192). In eine ähnliche Richtung argumentiert Ruf, wenn er davon spricht, dass „der Affekt die Form des Menschen [übersteigt], seine subjektive Identität und seinen Organismus [zerstört], um Intensitäten freizulegen, die sich mit fremdartigen Intensitäten jenseits aller Gattungsgrenzen verbinden und mit ihnen Ununterscheidbarkeitszonen bilden.“ (Ruf: Fluchtlinien, S. 75.)

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versaler Vermittlung einen destruktiven Charakter annimmt.“55 In diesem Sinne bestimmt er den Affekt als einen haltlosen Zwischenzustand. Der Affekt wird bei ihm als „Einschnitt im Übergang von der Perzeption zur Aktion beschrieben. Er erscheint in der Kluft zwischen verwirrender Wahrnehmung und verzögerter Reaktion. […] Der Ort des Affekts ist die Unterbrechung, sein Raum das Intervall, in ihm ist die Fortsetzung des Geschehens aufgehoben und wenigstens fragwürdig geworden.“56 Es geht um den ersten Eindruck ohne Bedeutung und das Nur-Sehen; einem Vorgang, den Deleuze/Guattari mit dem Begriff der Sensation zu fassen versuchen. Er steht für die Sinneseindrücke, die durch das Zusammentreffen mit den im Bild dargestellten/enthaltenden Kräften entstehen. Die Sensation schildert einen Übergang, eine Bewegung zwischen dem Nervensystem und etwas, das ihm von außen zustößt, das sich ereignet und damit in das Nervensystem eintritt.57 Hier klingt das Unvorhersehbare dieser Erfahrung durch, genauso wie das Gewalttätige, wenn von ‚zustoßen‘ die Rede ist. In der Sensation treffen Affekte und Perzepte aufeinander. Balke fasst es so zusammen: „Niemals geht es in der Kunst um Nachahmung, sondern stets um ein Werden, das die Menschen ihren Gefühlen entreißt, um sie die Macht der Affekte spüren zu lassen. Die Kunst trotzt dem Chaos durch die Erzeugung von Perzepten, die jede Wahrnehmung überschreiten, und von Affekten, die noch niemals empfunden worden sind.“58 Deutlich wird: Die Logik der Sensationen operiert außerhalb der Logik des Sinns. 3. Deleuze betont die Öffnung zum Unscharfen und zum Chaos bei Bacon, die einer Initiierung von Störvorgängen gleichkommt. So arbeitet Bacon mit Phänomenen der Unschärfe und verzerrten, verwischten und vervielfachten Figuren, Farben und Strukturen. Seine Figuren wirken deformiert und nicht selten gequält. Deleuze verwendet wiederholt Begriffe wie Katastrophe, Sturz und Hysterie, um das Gewalttätige dieser Vorgänge anzudeuten. Das Eindringen des ‚windigen Chaos‘ (des Ungeordneten, sich Entziehenden) durch den Schirm im Eingangszitat ist deswegen so erstrebenswert, als sich hier sämtliche Hierarchien, Repräsentationen und Organisationspläne auflösen. Deleuze spricht auch von der Herrschaft des Unscharfen und Unbestimm-

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Bildkritik, Interview mit Vogl, S. 103. Vogl: Das Zaudern, S. 14. Vgl. Jäger: Deleuze, S. 213. Balke: Deleuze, S. 85.

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ten.59 Der Körper löst sich auf, wird gesichtslos oder zum Tier, das Figurative wird verzerrt und in Bewegung versetzt. „Die Kontur verändert sich, wird zur Halbkugel des Waschbeckens oder Regenschirms, zur Dichte des Spiegels und wirkt deformierend; die Figur kontrahiert oder dehnt sich, um durch ein Loch oder in den Spiegel zu kommen, in einer Reihe krasser Deformationen erfährt sie ein ungewöhnliches TierWerden, sie selbst strebt zur Vereinigung mit der Fläche, zur Auflösung in der Struktur, mit einem letzten Lächeln und vermittels der Kontur, die nicht einmal mehr deformierend wirkt, sondern wie ein Vorhang, hinter dem die Figur bis ins Unendliche verblasst.“60

Beschrieben werden hier Auflösungs- ebenso wie Entrahmungs- und Überschreitungsprozesse, die die permanenten Bewegungen innerhalb und außerhalb des Kunstwerkes charakterisieren. 4. Charakteristisch für die Arbeiten Bacons sind Effekte der Dynamisierung und die Initiierung von Spannungsmomenten. Er erreicht diese Wirkung durch die Kombination des Figurativen und des Abstrakten, des Hellen und des Dunklen, der Farbflächen und der Linien/Konturen. Die Darstellung changiert zwischen den unterschiedlichen Elementen, ohne sich für eines zu entscheiden. Auf diese Weise werden Spannungsmomente erzeugt. Die Wirkung wird noch gesteigert durch die Darstellung von (unsichtbaren) Kräften: „Die Aufgabe der Malerei ist als Versuch definiert, Kräfte sichtbar zu machen, die nicht sichtbar sind.“61 Diese Kräfte werden jedoch nicht reproduziert oder erfunden, sondern eingefangen und miteinander kombiniert. Entworfen werden flüchtige Kompositionsebenen, die sich in einem stetigen Werden befinden, sich auflösen und neu zusammensetzen. Es handelt sich um Zustände, die sich nicht nur einer eindeutigen Form, sondern auch einer eindeutigen Definition entziehen. Dies entspricht der Fokussierung von Werdens-Prozessen, von Dynamik und Bewegung durch Deleuze/Guattari.62 Werden heißt dabei nicht, eine Form zu erlangen (über Identifikation, Nachahmung oder Mimesis), sondern sich in einem permanenten Status des Ununterscheidbarkeit und der

59 Vgl. Deleuze: Bacon, S. 24. 60 Deleuze: Bacon, S. 25f. 61 Deleuze: Bacon, S. 39. Auf der nächsten Seite präzisiert Deleuze, was für Kräfte er meint: Er führt die außerordentliche Wirkung der Köpfe Bacons auf die Kräfte des Drucks, der Ausdehnung, der Kontraktion, der Abplattung und Streckung zurück, die auf den dargestellten Kopf einwirken. 62 Vgl. Ruf: Fluchtlinien, S. 151.

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Nicht-Differenzierung zu bewegen. Auf diese Weise werden Festschreibungen, eindeutige Zuordnungen und die mit ihnen verbundenen Wertungen und Einteilungen in Binaritäten vermieden. Laut Simon Ruf stellen Werdens-Prozesse Möglichkeiten dar, dem Organisationsplan bzw. der Ordnung der Repräsentation zu entkommen, die mit verschiedenen Formen der Fixierung und Subjektivierung verbunden ist. Er hebt das widerständige Potential dieser Bewegung hervor. Seiner Meinung nach erproben „Verfahren wie Intensiv-Werden, TierWerden und Unwahrnehmbar-Werden […] Widerstandsmöglichkeiten gegen eine Macht, die allen Individualitäten unablässig Signifikanz und Subjektivität abverlangt, um eine allgegenwärtige Identifizierbarkeit und Kontrolle zu gewährleisten“63. Anknüpfend an dieses Zitat lassen sich mehrere Momente des Politischen bei Deleuze/Guattari herausarbeiten. Sie ereignen sich jedoch nicht in der Konstruktion eines politischen Programms oder konkreter Handlungsanweisungen, sondern bestehen primär darin, Falten, ‚Schirme‘ und Zwischenzonen zu bilden, die sich den gängigen Machtmechanismen widersetzen. Laut Ott wird Kunst für Deleuze „umso politischer, je heterogenisierender deren Kunstzeichen operieren, je weiter die optischen und sonoren Zeichen auseinandertreten und zwischen sich, aber auch in selbst, im einzelnen Filmbild etwas, Intervalle aufreißen“64. Sie spricht deshalb von immanenten Heterogenesen. Es sind Bewegungen, die Fluchtlinien eröffnen, sich aber lediglich auf mikropolitischer Ebene ereignen, um zu gewährleisten, dass die Dynamik der Bewegung nicht verloren geht und Machtstrukturen reproduziert werden. Betont werden aus diesem Grund Strategien des Unwahrnehmbar-, Ununterscheidbar und Unpersönlich-Werdens in der Kunst und Literatur. So ist das Interesse Deleuze/Guattaris an Kafka u.a. darauf zurückzuführen, dass es „Kafkas Roman […] in besonderer Weise [gelingt] asignifikante Bewegungen an konkreten Handlungen, Personen, Beschreibungen zu protokollieren, ohne in eine lineare Narration zurückzufallen. Die Kontiguität lässt sein Verfahren als ewige Verschleppung möglicher Repräsentations- und Interpretationsebenen hervortreten und illustriert somit vielmehr eine zirkuläre Narration, die weder einen Ursprung noch ein Ziel hat.“65

63 Deleuze: Kritik und Klinik, S. 11. 64 Ott: Zum Verhältnis des Ästhetischen, S. 19. 65 Schick: Kafkas Prozess, S. 138. Schick stützt sich dabei auf das Buch Kafka. Für eine kleine Literatur von Deleuze/Guattari.

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Susanne Schick betont die Bewegungen auf einen asignifikanten Inhalt und die Bereiche des Sinn-freien und leitet daraus den politischen Anspruch der Autoren ab. Dieser zeigt sich in der Hinwendung an die ASignifikanz, das Prozesshafte und die Bewegung, während repräsentative, narrative und hierarchisierende Ansätze vermieden werden. Treffend fasst Ott das Denken des Politischen bei Deleuze zusammen: Kunst wäre politisch „nach Maßgabe der Unterwanderung sprachlicher und bildlicher Stereotype und organizistischer Vorstellungen, all dessen, was er [Deleuze, Anm. ALW] als ‚falsche Einheitsstifter‘ bezeichnet und in Verfahren der Prozessualisierung und Minorisierung auszulösen fordert, auf dass durch das Vieldeutige hindurch das Gesellschaftliche zum Ausdruck komme“66. Ott leitet diese Bestimmung von der im Kino angelegten Verbindung von Gesellschaftskritik und Ästhetik ab. Demnach vermögen Bilder „nicht nur die Welt ebenso vielfältig wie Buchstaben erschließen, sondern in zeitbildlichen und irritierenden Kinematografien alles Stereotype zerstören und damit den Zuschauer aus rezeptiver Abrichtung und emotionaler Unterwerfung befreien. Dem Zeit-Bild wird die Potenz zuerkannt, neue Völker und neue ZeitRäume hervorzubringen, neue Gemeinschaften zu erfinden, in der ‚Vervielfältigung der Emotion, der Befreiung der Emotion, der Erfindung neuer Emotionen‘.“67

Zentral sind hier zwei Momente, die Ruf mit den Begriffen Instabilität und Potentialität zu fassen versucht.68 Die Betonung der Emotionen sowie die Gleichzeitigkeit von Zerstörung/Verstörung auf der einen und der Eröffnung neuer Wahrnehmungsweisen/neuer Zeit-Räume und Gemeinschaften auf der anderen Seite. 3.2.1.2 Die Auflösung der Grenzen von Ästhetik und Politik Rancières Interesse gilt künstlerisch-politischen Strategien und Handlungen, die die bestehenden Ordnungen des Sicht- und Sagbaren verschieben und die unterschiedlichen Aufteilungen des Sinnlichen auf spannungsvolle Weise miteinander in Bezug setzen. Kunst vermag in diesem Sinne zunächst unsere Blicke oder Haltungen gegenüber den Bedingungen dieser kollektiven Umgebung zu schärfen, bevor sie Räume und Beziehungen umgestaltet, um materiell und symbolisch 66 Ott: Ästhetische Politiken, S. 102. 67 Ott: Deleuze, S. 138. 68 Vgl. Ruf: Fluchtlinien, S. 138.

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das Territorium des Gemeinsamen neu zu ordnen bzw. die Ordnung permanent in Bewegung zu halten.69 Kunst wird zu einer Weise, einen Ort zu besetzen, um die Verhältnisse zwischen den Körpern, den Bildern, den Räumen und den Zeiten neu zu verteilen.70 Die hier beschriebene Mikropolitik der Kunst ist gekennzeichnet durch eine stetige Verschiebung der Grenzen. Sie zielt auf die Kombination von Heterogenem und ruft beständig Dissense hervor. In diesen Spannungsmomenten entsteht Politik; geraten Dinge in Bewegung und werden Gegenstand von Kontroversen. Aus diesem Grund kritisiert Rancière all jene Kunstpraxen, die soziale Konflikte entschärfen oder Konflikte vermeiden und grenzt sich von sozial-engagierten Praxen im öffentlichen Raum ab, die versuchen, Spannungen in sozialen Brennpunkten zu beheben. Aber auch von Praxen, die sich auf den Museums- und Ausstellungsraum begrenzen, wie die dokumentaristischen und inter-

69 Vgl. Rancière: Unbehagen in der Ästhetik, S. 32. 70 In seinem Buch Das Unbehagen in der Ästhetik nennt Rancière vier mikropolitische Strategien aus dem kuratorischen und künstlerischen Bereich, die auf je unterschiedliche Weise Umverteilungen und Umwertungen vornehmen. 1. Das Spiel bezeichnet die Schwebe der Bedeutungen bei der Auswahl und Präsentation der Kunstwerke. Es kommt zur Erzeugung einer Ununterscheidbarkeit, durch die Aufhebung der Vorschriften des Zeichenlesens, wodurch immerhin der Konsens des Konsums der Zeichen infrage gestellt wird. 2. Das Inventar beschreibt das Zusammensetzen von Verschiedenartigem zu einer positiven Sammlung. Sie ist zuerst das Inventarisieren von Spuren der Geschichte, wie sie z.B. Künstler wie Christian Boltanski und Hans-Peter Feldmann vornehmen. Der Künstler wird zu einem Sammler und Archivar des kollektiven Lebens, der sich bemüht, die Künste des Machens, die in der Gesellschaft existieren, sichtbar zu machen. 3. Die Begegnung gleicht einer Einladung zum Mitmachen, wie sie insbesondere durch die partizipativen Arbeiten Rirkrit Tiravanijas vorgenommen werden. Rancière ordnet diese Kunstwerke der relationalen Kunst zu, die er jedoch aufgrund ihrer konsensuellen Tendenzen kritisiert. 4. Das Mysterium entzieht sich wiederum jeglicher Form der Instrumentalisierung durch seine Rätselhaftigkeit, es zeichnet sich durch seine Übergänge bzw. der Umdrehung von einer Logik zur anderen aus. Dabei geht es nicht um die Produktion eines Schocks, sondern um das Aufzeigen einer Verwandtschaft des Verschiedenartigen/einem Spiel von Analogien. Rancière kritisiert jedoch auch hier, dass es zu einer Abschwächung des provozierenden Dissens zum Mysterium gekommen ist, das lediglich eine Kopräsenz bezeugt, statt diese in einen Streit zu versetzen.

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ventaristischen Praxen von Bernd und Hilla Becher.71 Seine Kritik an einer ‚ethischen Wende‘ begründet er ebenfalls mit der damit einhergehenden Tendenz zu konsensuellen Praxen und der Verdrängung des Dissens. Seiner Meinung nach befördere die Ethik die „Errichtung einer ununterschiedenen Sphäre, in der sich die Besonderheit der politischen oder künstlerischen Praktiken auflöst“72. Diese Auflösung berge die Gefahr eines Einvernehmens, in dem jegliche Spannungsmomente ausgeklammert werden und die „Identifizierung aller Diskursformen und Formen der Praxis unter demselben ununterschiedenen Gesichtspunkt“73 in den Mittelpunkt rückt. Neben der Betonung des Dissens und der Spannung sind für Rancière außerdem die Begriffe des Fiktionalen und der Gleichheit zentral. Beide Begriffe sind jedoch äußerst differenziert zu gebrauchen: Der Begriff der Fiktion wird vom Begriff der Utopie abgegrenzt, aber dennoch ähnlich gebraucht.74 Kunst lässt demnach Fiktionen entstehen, optionale Handlungsmöglichkeiten, die die Voraussetzungen für Veränderungen darstellen. Sie erst machen eine Neuordnung denkbar: „Politik, Kunst, Wissen – sie alle konstruieren ‚Fiktionen‘, das heißt materielle Neuanordnungen von Zeichen und Bildern, und stiften Beziehungen zwischen dem, was man tut und tun kann.“75 Die Forderung einer Gleichheit bezieht sich vor allem auf die Zugänge zum Sicht- und Sagbaren, die weiterhin ungleich verteilt sind, aber die Voraussetzung für politische Emanzipation und Dissens darstellen. Gleichheit besteht in dem Moment, in dem die Gesetzmäßigkeiten des Sichtbaren und Sagbaren zur Verhandlungssache eines Streits zwischen Gleichen gemacht werden und für alle eine mögliche Form der Beteiligung an der Bedeutungskonstitution, an der Aufteilung des Sinnlichen besteht.76 Als Ergebnis dieses Streits steht kein

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Vgl. Rancière: Aufteilung des Sinnlichen, S. 96. Rancière: Das Unbehagen in der Ästhetik, S. 127. Rancière: Das Unbehagen in der Ästhetik, S. 127f. Vgl. das Kapitel: Ob daraus zu schließen wäre, dass die Geschichte eine Fiktion ist. Von den verschiedenen Weisen der Fiktion, in: Aufteilung des Sinnlichen, S. 56-64. 75 Rancière: Aufteilung des Sinnlichen, S. 62. 76 Vgl. Rancière: Ist Kunst widerständig?, S. 97. In seinem Buch Der unwissende Lehrmeister erläutert Rancière, wie der Künstler Gleichheit herstellen kann bzw. was Gleichheit für den Künstler bedeutet: „Jeder von uns ist Künstler in dem Maße, als er eine zweifache Vorgangsweise wählt: er will aus jeder Arbeit ein Ausdrucksmittel machen und er versucht, das Gefühlte mit anderen zu teilen. Der Künstler initiiert so Gleichheit bzw. zeichnet ein

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Konsens, sondern die fundamentale Infragestellung der konstitutiven und strukturellen Voraussetzungen der polizeilichen Logik. Auf diese Weise kann die bislang unveränderbar scheinende Aufteilung des Sinnlichen unterbrochen werden. Indem sie die gängigen Aufteilungen des Sinnlichen, die Hierarchien der sozialen Ordnung, die Zuordnung der Plätze, Räume und Lebensrhythmen infragestellt, ruft Gleichheit Politik hervor.77 Mit Hilfe der Schilderung von konkreten künstlerischen Praxen der französischen Künstlergruppe Campement urbain, von Anri Sala oder Bernd und Hilla Becher veranschaulicht Rancière sein Verständnis von politischer Kunst. Gleichzeitig verwahrt er sich einer allzu rigiden Definition, denn er resümiert, dass sich keine Normen für die Definition von politischer Kunst festlegen lassen.78 Er plädiert für Praxen, die Konventionen und eindeutige Positionierungen vermeiden. Die das Phantasma ihrer Reinheit ablehnen, mit der Unzweckmäßigkeit der Kunst spielen und ihren Charakter von „zweideutigen, vorläufigen und strittigen Einschnitten [betonen]“79. Kunst lässt sich nicht an einer „geraden Linie zwischen Ursache und Wirkung [messen]“,80 sondern wird permanent „jeder Theologie der Zeit, jedem Denken des ursprünglichen Traumas oder des zukünftigen Heils [entzogen]“81. Auf diese Weise wird Kunst zu einer spezifischen Aufteilung des Sinnlichen, die beständig mit anderen Aufteilungen des Sinnlichen korreliert. Doch nicht um das Aufgehen in diesen anderen Aufteilungen geht es Rancière, sondern um die Spannungsmomente, die in der Konfrontation ent-

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Modell einer vernünftigen Gesellschaft, die darauf aufbaut, dass jedes vernünftige Wesen erzählen will und den anderen mitfühlbar zu machen, worin man ihnen ähnlich ist.“ (Rancière: Der unwissende Lehrmeister, S. 88.) Ob man mit Rancière davon ausgehen kann, dass das Interesse des Künstlers darin besteht sein ‚Gefühltes, mit anderen zu teilen‘ und was er genau unter vernünftigen Wesen und einer vernünftigen Gesellschaft versteht, ist fraglich und soll hier offen bleiben. Meiner Meinung nach ist entscheidend, dass der Künstler eine Bühne der Gleichheit errichtet, einen Raum, in dem verschiedene Interpretationen und Meinungen nebeneinander existieren. Der Künstler stellt eine solche Bühne zur Verfügung, wenn er ein Kunstwerk schafft, das für den Betrachter Anknüpfungsmöglichkeiten und zugleich Irritationsmomente bereitstellt, die zum Weiterdenken anregen. Vgl. Muhle: Einleitung, in: Ranciere: Aufteilung des Sinnlichen, S. 13. Vgl. Rancière: Aufteilung des Sinnlichen, S. 99. Vgl. Rancière: Unbehagen in der Ästhetik, S. 151. Rancière: Ist Kunst widerständig?, S. 57. Rancière: Unbehagen in der Ästhetik, S. 151.

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stehen. Sie setzen voraus, dass sich Kunst für außer-ästhetische Belange öffnet, ohne dabei ihre spezifische Konstitution zu verlieren. Als Beispiel für eine solche Praxis nennt Rancière Filme von Pedro Costa, die sich mit einer Gruppe sozialer Außenseiter beschäftigen. In Bezug auf den zweiten Film der drei-teiligen Serie Wandas Zimmer bemerkt er: „Die Kraft dieses Films liegt in der Spannung, die er zwischen der Kulisse eines miserablen Lebens und den in ihr verborgenen ästhetischen Möglichkeiten aufbaut.“82 An anderer Stelle hebt er hervor: „Alle drei [Filme, Anm. ALW] stellen die singulären Kanten einer Landschaft des Sinnlichen allen Formen der Banalisierung, die durch das Regime der Information und der Erklärung sowie durch das Mitleid hervorgebracht werden, entgegen: sie nutzen den ästhetischen Affekt, um im Zusammenhang mit dem Sichtbaren und Sagbaren, die Grenzen des Tolerablen und des Intolerablen und auch die des Möglichen und des Unmöglichen neu zu ziehen.“83

Künstlerische Praxen vermögen laut Rancière Grenzen zu verschieben und neu zu ziehen, hierin liegt ihr politisches Potential. Darüber hinaus besitzen sie utopisches Potential und eröffnen Möglichkeitsräume und Wunschproduktionen. Politisch ist demnach „nicht das Wissen über die Gründe, die dieses oder jenes Leben hervorbringen, sondern die direkte Konfrontation eines Lebens mit dem, was es vermag.“84 Oder anders ausgedrückt: „Art is not political because it deals with political matters or represents social and political conflicts. It is first political because it reframes the distribution of space, its visibility and its habitability. […] Art is political because it shapes a specific sensorium, suspending the ordinary coordinates of space and time that structure the form of social domination. […] Politics begins when there is a disagreement on the reality of the real, a dispute on the given itself, a controversial fictionalization of the relationship between the inside and the outside.“85

In seinem Aufsatz The Emancipated Spectator skizziert Rancière anhand der Zuschauerperspektive im Theater ein verändertes Verständnis

82 Rancière: Aufteilung des Sinnlichen, S. 98. Diese Spannung liegt bspw. den Körpern zugrunde, die als andauernder Triumph über die Apathie und die bevorstehende Räumung der Wohnung gedeutet werden können. 83 Rancière: Ist Kunst widerständig?, S. 58. 84 Rancière: Aufteilung des Sinnlichen, S. 99. 85 Rancière: Artists and Cultural Producers, o.S.

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von politischem Engagement. Für ihn stellt das Thema des Zuschauers einen Knotenpunkt der Diskussionen um die Verbindung von Kunst und Politik dar. Aber: Es geht nicht darum, dem Zuschauer oder Akteur eine konkrete Anleitung für gesellschaftliche Veränderungen zu geben, sondern diese selbst walten zu lassen. Es geht auch nicht darum (politische) Forderungen zu stellen, sondern Machtdispositive zu analysieren. Diese können zwar nicht aufgelöst, aber beständig hinterfragt werden. Den Zuschauern soll dabei im Theater oder durch Kunst eine Form der Auseinandersetzung nahe gebracht werden, die dann in die Welt hinaus getragen wird. Diese Emanzipation des Zuschauers bedingt einen aktiven Zuschauer, der sich das Gesehene aneignet, es in seine eigene Geschichte und Realität übersetzt und mit seinem Erfahrungsschatz koppelt. Dabei werden die Hierarchie des Wissens aber auch Gegensätze und Dichotomien aufgeweicht und eine Zone der Gleichheit errichtet. Dies setzt einen distanzierten Zuschauer voraus, der sieht, fühlt und interpretiert und sich dabei unabhängig macht von der Intention des Dramaturgen oder Künstlers. Assoziieren und Dissoziieren werden als Prinzipien einer Emanzipation des Zuschauerseins verstanden, bei dem es darum geht, das, was wir sehen, mit dem, was wir gesehen, erzählt und geträumt haben, zusammen zu denken. Voraussetzung für diesen Prozess ist, „dass wir zunächst die Annahme der Distanz verwerfen, sodann die Verteilung der Rollen und schließlich die Grenzen zwischen den Territorien. Wir müssen keine Zuschauer in Darsteller verwandeln. Wir müssen anerkennen, dass jeder Zuschauer bereits ein handelnder Darsteller seiner eigenen Geschichte ist.“86 3.2.2 Politisch-theoretische Positionen: Die Auflösung des dichotomischen Denkens von Macht und Gegenmacht Wurden im vorherigen Teil mit Deleuze/Guattari und Rancière ästhetisch-theoretische Positionen vorgestellt, anhand derer die Veränderungen des Politischen im Bereich der Kunst nachgezeichnet wurde, soll im Folgenden der Schwerpunkt auf politisch-theoretische Ansätze gelegt werden. Mit dem Verhältnis von Macht und Gegenmacht wird ein Gegensatzpaar herausgegriffen, das lange Zeit als dichotomisches gedacht wurde. Im Zuge einer Modifizierung des Politischen rücken jedoch Konzepte von Widerstand in den Mittelpunkt, die von einem antagonistischen Modell abrücken und das Denken in Dafür oder Dagegen, Innen oder Außen aufbrechen.

86 Rancière: The Emancipated Spectator, S. 47.

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Grundlegend für diese Beobachtungen sind Foucaults Ausführungen zu Macht und ihren Wirkungsweisen, in der er erstens die Allgegenwart der Macht skizziert und damit die Vorstellung eines Außerhalb der Macht in Frage stellt und zweitens ihre Verlagerung in den Gesellschaftskörper und die Subjekte beschreibt. „Die Macht schafft keine simple Polarisierung, erschöpft sich nicht in eindeutig binären Relationen, sondern durchdringt vielmehr den gesamten Gesellschaftskörper und ist ihm koextensiv.“87 In anderen Worten: Sie ist allgegenwärtig, dehnt sich räumlich und zeitlich aus und verlagert sich in die Subjekte. Es gibt keine Möglichkeiten die Macht zu begrenzen, nur Möglichkeiten ihre Bewegung zu beschleunigen oder zu verlangsamen. In seinen Untersuchungen zur Gouvernementalität88 und zur Biopolitik zeigt er auf, wie sich politische und kapitalistische Systeme und Logiken verfeinern und ihre Wirkungskraft modifizieren. Die Macht wird nicht mehr mit Gewalt ausgeübt, sondern in Form von Disziplinartechniken. Nicht mehr von außen aufgelegte Regeln und Normen führen zu einer Disziplinierung der Gesellschaft, sondern die Biopolitik, die direkt in den Subjekten wirkt und sich in den Beziehungen des Subjekts zu sich selbst widerspiegelt.89 Vor allem der Körper dient der

87 Ruf: Fluchtlinien, S. 128. 88 Zur Gouvernementalität als Kunst des Regierens vgl. Foucault Die Gouvernementalität. Der Text geht auf eine Vorlesung Foucaults von 1977/78 am Collège de France zurück. Foucault versucht hier die lange, geschichtliche Verbindung zwischen Regierung, Bevölkerung und Ökonomie aufzuzeigen und die Veränderungen dieser Verbindung herauszuarbeiten. Foucault versteht unter Gouvernementalität demnach dreierlei: Erstens die Gesamtheit der Mittel zur Ausübung der Macht, womit er vor allem die Rationalitäten meint, die auf die Subjekte einwirken. Zweitens die Kraftlinie, die zur Ausübung des Machttypus der Regierung geführt hat, die die Entwicklung von Institutionen und Wissensformen beinhaltet. Drittens das Ergebnis dieser Kraftlinie, d.h. der Vorgang der Gouvernementalisierung als ein Zusammendenken von Regierung, Bevölkerung und Ökonomie. Foucault stellt in diesem Zusammenhang nicht nur eine Änderung der Kunst des Regierens (der Machttechnologien) fest, sondern auch eine Verschiebung der Ansatzpunkte politisch-sozialer Interventionsmöglichkeiten von gesellschaftlich-strukturell auf individuell-subjektive Taktiken. 89 Eine ‚vorläufige Bestimmung‘ des Begriffs der Biopolitik bei Foucault nimmt Muhle in ihrer Dissertation Genealogie der Biopolitik vor und vergleicht dessen vage Bestimmung des Lebens mit der von Canguilhem. Ihr Fokus liegt auf dem ‚positiven‘ Umgang der Macht mit dem Leben: „Das

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Disziplinierung als Einschreibfläche; wird zum Objekt der Selbsttechnologien: „Mit der Disziplinierung der Körper taucht das biologische Leben als Gegenstand des Wissens auf, sie schaffen eine politische Anatomie des menschlichen Körpers sowie eine Bio-Politik der Bevölkerung. Die Bio-Macht, die sich stärker dem Leben, als dem Tod zuwendet, ist geboren.“90 Laut Muhle besteht das Ziel der Biomacht darin, die Sicherheit des gesellschaftlichen Ganzen (der Bevölkerung) zu gewährleisten. Dabei kann die Bio-Macht einzelne Abweichungen ihrer Norm tolerieren – im Gegensatz zur disziplinären Macht. Aus dieser Zielsetzung ergeben sich die charakteristischen Techniken, die „nicht in der Überwachung und Kontrolle des einzelnen Individuums [bestehen], sondern in regulatorischen Mechanismen, die auf der Ebene der globalen Massenphänomene einer Bevölkerung eingreifen“91. Dies hat Konsequenzen für das Denken von Widerstand und Kritik bei Foucault. In mehreren Aufsätzen nimmt er Anläufe, diese nicht als etwas Außerhalb der Macht stehendes zu begreifen, sondern innerhalb der Machtverhältnisse zu denken. Laut Muhle kann „es bei Foucault keinen Ort für einen Widerstand geben […], der unabhängig wäre von der Macht, oder sich außerhalb der Machtbeziehungen befinden würde, denn Macht und Widerstand stehen notwendigerweise in einer intrinsischen Beziehung zueinander“92. Die Macht ist allgegenwärtig, diffus und nicht lokalisierbar. Trotz dieser pessimistischen Perspektive, die „eine ganze Menge von Widerständigkeiten, aber keine Möglichkeit zur Emanzipation bereitstellt“93, lassen sich verschiedene Konzepte von Widerstand aufzeigen. Entscheidend ist: „Man muss aus der Alternative des Drinnen und Draußen entkommen, man muss an den Grenzen sein.“94 Es geht darum, eine Grenzhaltung zu entwickeln, die sich aus der Frage des Nicht-so-regiert-werden-wollens ableitet

90 91

92 93 94

Anliegen der Arbeit ist es, durch eine Untersuchung des Begriffs der Biopolitik eine Form der Macht zu denken, die nicht ausschließlich durch die negativen, todbringenden Techniken des souveränen Regimes bestimmt sind.“ (Muhle: Genealogie der Biopolitik, S. 10). Statt diese negativen Seiten zu betonen, versteht sie unter Biopolitik eine Technik der Macht, die durch Förderung, Steigerung und Unterstützung das Leben regiert. Kuhn: Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden, S. 124. Muhle: Genealogie der Biopolitik, S. 262. Zeitgemäße regulatorische Mechanismen sind die Systeme der Krankenversicherung, der Alterssicherung sowie die Organisation des urbanen Raumes. Muhle: Genealogie der Biopolitik, S. 277. Raunig: Kunst und Revolution, S. 147. Foucault: Was ist Aufklärung, S. 702.

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und Beziehungen zu sich selbst etabliert, die sich dem Zugriff der Macht temporär entziehen.95 Es sind Taktiken, die gelernt haben in Widrigkeiten zu gedeihen – wie ein Aufsatz von Ramirez lautet. Das bedeutet: Widerstand muss genauso erfinderisch, genauso beweglich und genauso produktiv wie die Macht sein.96 Um die kritisierten Strukturen nicht zu wiederholen, gilt es permanent die eigene Form zu reflektieren und Alternativen zu konstituieren. Die Dekonstruktion herrschender Codes geht mit der Verbreitung alternativer bzw. emanzipativer Codes einher.97 Doch gibt es kein festes Programm und keine feste Form. Laut Fernando da Ponte verlagert sich Widerstand auf das In-Bewegung-versetzen der Ordnungen von Seh-, Denk-, Handlungsgewohnheiten.98 Widerstand basiert nicht länger auf dem Antagonismus von Macht vs. Widerstand, staatliche Ordnung vs. Revolution, Innen vs. Außen, sondern wird entortet, verflüssigt, beweglich und selbstkritisch. Widerstand ist mit Foucault vielfältig zu denken; er findet innerhalb der strategischen Machtbeziehungen statt und zwar in der Beziehung des Subjekts zu sich selbst. „Widerstand ist also in den Machtbeziehungen, gehört zu ihnen, ist Teil der Machtverhältnisse. Das heißt, Revolutionen sind kein Wegwerfen der Macht, sondern eine Veränderung des Machttyps.“99 Im Folgenden werden mit Foucault, Hardt/Negri und Raunig Positionen vorgestellt, die eine solche Veränderung des Machttyps zu denken versuchen. Foucault begegnet der Ohnmacht ob der allgegenwärtigen Mechanismen der Macht in seinem Spätwerk durch eine Hinwendung zum Subjekt, das er als potentiellen Ort von Subversion entwickelt. Diese auch als Achse der Ethik bezeichnete Wende ist gekennzeichnet durch die Untersuchung der Beziehungen zu sich selbst, der Selbsttechnologien.100 Muhle fasst diesen Schritt folgendermaßen zusammen: „Als

95 96 97 98 99 100

Vgl. Foucault: Was ist Aufklärung, S. 707. Vgl. Kuhn: Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden, S. 154f. Vgl. autonome Afrikagruppe: Kommunikationsguerilla, S. 184. Vgl. da Ponte: Visuelle Selbstpraktiken, S. 106. Kuhn: Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden, S. 119. Ausgangspunkt für Foucaults Hinwendung zum Subjekt sind seine Untersuchungen von Praktiken des Selbst und deren Veränderungen seit der Antike (zu denen der Selbstgenuss ebenso wie die Selbstsorge und die Selbstbeherrschung gehört). Zu nennen wären hier seine zwei Bände über Sexualität und Wahrheit (1976 und 1984), seine Ausführungen zur Frage Was ist Kritik? (1978), in dem er den Begriff der Haltung ausführt,

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Ausweg aus dem Dilemma der omnipräsenten Macht wird die Suche nach den Möglichkeiten zum Widerstand in dem von Foucault gestrickten und abgedichteten Machtsystem auf die individuelle Ebene verlagert und in Begriffen von Subjektivierung und ethischer Subjektwerdung verhandelt.“101 Raunig betont den Schritt „vom überhaupt nicht regiert werden zum nicht derartig regiert werden, vom Phantomkampf um ein großes Aussen zu einem ständigen Kampf auf der Immanenzebene“102, durch den ein Ausweg aus dem Dualismus von Macht und Widerstand aufgezeigt wird. Zentral für Foucaults Überlegungen über mögliche Formen des Widerstands ist die Beobachtung, dass die Zunahme der Regierungskünste (und deren Entwicklung zur Disziplinargesellschaft) dazu geführt hätte, dass der Wille, nicht regiert zu werden, an Bedeutung gewann. Dieser Wille führte zur Herausarbeitung einer kritischen Haltung als einer selbst gewählten Seinsform, die einen möglichen Ausgang aus Disziplinierung und Unterwerfung darstellt. Mit der „Infragestellung der Forderung nach absolutem Gehorsam und mit der rationalen und reflektierenden Bewertung aller Pflichten, die den Subjekten von Staates wegen auferlegt werden“103 beginnt die Kritik und die Form einer ‚Sorge um sich selbst‘. und der Aufsatz Subjekt und Macht (1982), in dem er Subjektivität nicht nur im Hinblick auf Machtbeziehungen beschreibt (als Gegenstand eines spezifischen Ensembles von Wissen, Normen und Selbstpraktiken), sondern auch die Handlungs- wie Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb dieser Selbsttechnologien betont. Die Hinwendung zu Selbstverhältnissen bzw. zur Ethik löst die Achsen Wissen und Macht ab, die die vorherigen Analysen Foucaults bestimmt haben. Gleichwohl wäre es falsch, von einer Umkehr zu sprechen, denn Foucaults Analyse der Subjektivierungsweisen knüpft auf vielfältige Weise an seine vorherigen Untersuchungen an. Zur Frage der Wende in Foucaults Spätwerk vgl. Muhle: Genealogie der Biopolitik, S.264-275 und Kuhn: Tier-Werden, Schwarz-Werden, FrauWerden, S.186. Beide vertreten die These, dass es sich in seinem Spätwerk eher um eine Erweiterung seines Ansatzes als um einen Bruch mit seinem vorherigen Denken handelt. So zieht sich durch seine Arbeit die Auseinandersetzung und Suche nach Brüchen und Rissen, nach randständigen und widerständigen Subjektivierungsformen wie sie im Wahnsinn und in der Figur des Narren zu finden sind sowie nach ‚anderen Räumen‘, für die Foucault den Begriff der Heterotopie geprägt hat. 101 Muhle: Genealogie der Biopolitik, S. 276. 102 Raunig: Instituierende Praxen, o.S. 103 Butler: Was ist Kritik?, o.S.

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Spricht Foucault in seinem Aufsatz Was ist Kritik? von einer Herausarbeitung einer Haltung (der Kritik), verwendet er später den Begriff einer ‚Ästhetik der Existenz‘104, um die Selbstverhältnisse zu beschreiben, die einen möglichen Ausgang aus der Disziplinierung und Unterwerfung darstellen, eine temporäre Möglichkeit, sich den dominanten Regierungs- und Machtweisen zu entziehen. „Das entscheidende Kunstwerk, um das man sich bemühen muß, [ist] man selbst, das eigene Leben, die eigene Existenz.“105 Das eigene Leben als Kunstwerk, im Sinne von: Erfinde dich selbst, sorge dich um dich selbst. In dieser Sorge um sich selbst wird eine Handlungsmacht verortet, die aus der darin enthaltenen Selbst-Führung rekurriert.106 Ästhetik ist dann weniger eine Frage der Wahrnehmung, als eine Tätigkeit oder Technik der Lebensführung.107 Aufgrund dieser Bestimmung der Ästhetik der Existenz als Verhaltens- und Subjektivierungsweise wird sie der Genealogie der Ethik zugeordnet. Ethik wird in Anlehnung an die antiken Denker verstanden als Verhältnis bzw. Sorge zu sich selbst.108 Ist dieses Wissen in der Antike noch relativ selbstbestimmt, wird es zunehmend restriktiv und einem (religiösen) Disziplinarregime unterstellt. Das Unterlaufen dieser Disziplinierungs- und Normalisierungsstrategien ist zentral für die Ästhetik der Existenz. Sie bildet sich heraus durch ästhetische Übungen der Selbstführung und der Freiheit zur Selbstüberschreitung. Das Ergebnis ist eine ‚fließende Ungewissheit der Identitäten‘, die starre Identitätskonstruktionen und Denkweisen aufzubrechen vermag.109

104 Der Begriff wird erstmals in dem Interview Zur Genealogie der Ethik mit Dreyfus/Rabinow verwendet (1983). Ausgeführt wird er in einem Gespräch mit Fontana unter dem Titel Eine Ästhetik der Existenz (1984). Beide Aufsätze und weitere zum Thema sind zusammengefasst in dem Buch Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. 105 Zur Genealogie der Ethik, Interview mit Foucault, S. 283. 106 Vgl. Menke: Zweierlei Übung, S. 288. 107 Vgl. Menke: Zweierlei Übung, S. 296. 108 Vgl. Zur Genealogie der Ethik, Interview mit Foucault, S. 278. 109 Vgl. Judith Butler, die in ihrem Buch Das Unbehagen der Geschlechter (1990) am Beispiel der Geschlechter-Parodie (Travestie) die Wirkungen dieser Verschiebungen untersucht und deren subversives Potential herausgearbeitet. Durch die Verschiebung oder bewusste Verfehlung in der Wiederholung der Geschlechterinszenierung wird eine Offenheit für deren Re-Signifikanz und Re-Kontextualisierung vermittelt. In Folge dessen nimmt „die parodistische Vervielfältigung der Identitäten […] der

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Muhle verweist jedoch auf die Grenzen dieses Konzepts von Widerstand. Ihr zufolge drohen die Foucaultschen Subjektivierungspraktiken auf einer explizit ethischen und individuellen Ebene zu verweilen. Die Betonung des Ethischen in der Ästhetik der Existenz ist deshalb nicht mit einer politischen Wende gleichzusetzen: „Die ethische Subjektwerdung […] kann keine Antwort auf die Frage nach dem Widerstand in den Machtanalysen geben.“110 Zwar lässt sich der ethisch-ästhetischen Existenz ein individuelles emanzipatorisches Potential zuschreiben, doch handelt es sich dabei nicht um eine genuin politische, kollektive Emanzipation.111 „Gleichwohl können Verbesserungen und Veränderungen dieses Miteinander über zwischenmenschliche Interaktionen und ethische Vollzüge durchaus auftreten“112, doch scheint ihr politischer Gehalt ungewiss, da sich diese Vollzüge nicht verallgemeinern lassen. Einen möglichen Anknüpfungspunkt für einen empathischen Politikbegriff sucht Muhle in Foucaults Gesprächen sowie bei Rancière und dessen Politikmodell. Sie verfolgt widerständige Bewegungen, die „ausschließlich aus dem Inneren der Machtbeziehung kommen und, indem sie deren Grenze darstellen, zugleich die innere Dynamik von Macht und Widerstand anstoßen“113. Die politische Aktion wird in die Bereitstellung der Mittel verlegt, die es den Beteiligten ermöglicht, selbst das Wort zu ergreifen, durch die Infragestellung der natürlichen Rollen und Funktionen innerhalb einer Ordnung der Diskurse, aber auch der Sichtbarkeiten und Zugehörigkeiten.114 Mit Rancière gesprochen: „In der Anteilnahme derer, die keinen Anteil haben, und der damit verbundenen Neuaufteilung des Gemeinsamen geschieht Politik.“115 Muhle resümiert: „Es handelt sich um ein Verständnis der Politik, das irreduzibel auf ethische Vollzüge ist und sich zugleich nur in intrinsischer Auseinandersetzung mit einer polizeilichen Ordnung (der

110 111 112 113 114 115

hegemonialen Kultur und ihren Kritiken den Anspruch auf naturalisierte oder wesenhafte geschlechtlich bestimmte Identitäten.“ (S. 203). Muhle: Genealogie der Biopolitik, S. 280. Vgl. Muhle: Genealogie der Biopolitik, S. 280. Muhle: Genealogie der Biopolitik, S. 280f. Muhle: Genealogie der Biopolitik, S. 284. Vgl. auch S. 288. Vgl. Muhle: Genealogie der Biopolitik, S. 288. Sie bezieht sich hier insbesondere auf Foucaults Aufsatz Das Leben der infamen Menschen. Muhle: Genealogie der Biopolitik, S. 292. Vgl. mit den Ausführungen zu Rancière in Kapitel 3.2.1.2 und dort besonders die Überlegungen zur Errichtung einer Bühne der Gleichheit.

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Ordnung der Macht) entwickelt.“116 Sie entwirft damit ein Politikmodell, das sowohl innerhalb als auch außerhalb der Macht, im privaten wie im öffentliche Raum, auf subjektiver als auch auf gesellschaftlicher Ebene wirkt und agiert. Grenzüberschreitungen als das Überwinden der genannten Dichotomien sind hier weniger als einmaliger Akt, denn als permanente Bewegung zu denken. Die durch Muhle vorgenommene Verknüpfung von individuellen und kollektiven Formen des Widerstands ist ebenfalls zentral für Hardt/Negris Analyse des Empire (2000), der sogenannten neuen Weltordnung. Ihr Schwerpunkt liegt auf kollektiven Formen von Kämpfen, die sich in den ‚Passagen der Produktion‘ formieren. Waren diese schon für Marx der Ausgangspunkt für eine Revolution, werden sie laut Hardt/Negri auch in Zukunft der Ort der Kämpfe sein. Die These lautet, dass viele internationale Kämpfe des Proletariats gegen das Disziplinarregime zu einem Paradigmenwechsel geführt haben. Hardt/Negri betonen auf diese Weise die konstituierende Rolle des Proletariats und schreiben diesem eine bedeutende Handlungsmacht zu. Ähnlich wie Raunig betonen sie sowohl den destruktiven als auch den produktiven Moment der revolutionären Kämpfe. Die sich neu herausbildende Subjektivität verweigert sich den Mechanismen der Macht und des Spektakels und ist durch kulturelles Experimentieren zugleich an einer Umwertung der Werte beteiligt. „Die Verweigerung gegenüber dem Disziplinarregime und die Behauptung der Sphäre der Nichtarbeit wurden die entscheidenden Merkmale einer Reihe kollektiver Praxisformen und einer neuen Lebensweise.“117 Die Autoren heben dabei das Zusammenspiel von politischen Forderungen und künstlerischen Praktiken hervor. Ihr Interesse gilt Verknüpfungen von kulturellen mit ökonomischen und politischen Praxen und Bereichen, da auf diese Weise neue (Organisations-)Formen entstehen. Es kommt zu einem stetigen Experimentieren und Reflektieren der gewählten Form. Sie sprechen von einer Abwendung des festen Programms der materiellen hin zu immateriellen Formen der Produktion. Damit sind kommunikative und kooperative Formen gemeint sowie eine Orientierung an flexibleren und kreativen Praktiken, die aber dennoch konstitutive Funktionen einnehmen. Ihr Konzept der Menge und des Militanten bleibt jedoch ähnlich unscharf wie Foucaults Ästhetik der Existenz, wie in folgender Anleitung zum politischen Handeln deutlich wird, das sich im letzten Kapitel ihres Buches befindet.

116 Muhle: Genealogie der Biopolitik, S. 291. 117 Hardt/Negri: Empire, S. 272.

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„Das Handeln wird dann politisch, wenn es sich unmittelbar und in angemessenem Bewusstsein gegen die zentralen Unterdrückungsaktionen des Empire richtet. Es geht darum, die imperialen Initiativen zu erkennen und zu attackieren und es ihnen somit fortwährend unmöglich zu machen, die Ordnung wiederherzustellen; es geht darum, die Grenzen und Segmentierungen, die der neuen kollektiven Arbeitskraft auferlegt werden, zu überschreiten und niederzureißen; es geht darum, diese Widerstandserfahrungen zu sammeln und sie konzentriert gegen die Nervenzentren der imperialen Befehlsgewalt einzusetzen.“118

Konkretisiert wird dieses Handeln am Beispiel des Militanten: „Militanz ist heute eine positive, konstruktive und innovative Tätigkeit. […] Militante leisten kreativen Widerstand gegen die imperiale Befehlsgewalt.“119 Damit verändert sich auch die Vorstellung von Widerstand. Dieser ist „unmittelbar mit einer konstitutiven Investition im biopolitischen Bereich und zur Formierung eines kooperativen Apparates in Produktion und Gemeinschaft verbunden“120, womit eine produktive Kooperation aus Massenintelligenz und affektiven Netzwerken gemeint ist. Das dagegen-sein wird hier zum Ziel einer heterogenen Masse, die durch vielfältige Netzwerke über gesellschaftliche Grenzen miteinander verbunden ist. In dieser Argumentation klingt sowohl die Vorstellung eines zu ‚überwindenden Anderen‘ an, als auch das Bild von Widerstand, der sich zwischen Massenintelligenz und Militanten bewegt und sich aus verschiedenen Felder rekrutiert. Bleiben die Autoren also einerseits dem Bild des Gegenübers zur imperialen Befehlsgewalt verhaftet, tragen sie andererseits der Vervielfältigung und Ausdifferenzierung der ‚Arbeiterklasse‘ Rechnung. Ähnlich wie Hardt/Negri forciert Raunig die Verkettung von Widerstand mit anderen Feldern und zeigt diese am Beispiel konkreter Verknüpfungen von Kunst und Politik bzw. Revolution. Sein Interesse gilt Verkettungen, Nachbarschaftszonen und temporären Overlaps, die zu einem Austausch von politischer Aktion und künstlerischer Praxis führen: „Nicht nur aktivistische Kunst dockt an politische Bewegung an, auch politischer Aktivismus bedient sich vermehrt spezifischer Methoden, Kompetenzen und Techniken, die in Kunstproduktion und Medienarbeit durchdacht und erprobt wurden.“121 In seiner Ästhetik

118 119 120 121

Hardt/Negri: Empire, S. 406. Hardt/Negri: Empire, S. 419. Hardt/Negri: Empire, S. 419. Raunig: Kunst und Revolution, S. 239.

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der Grenzüberschreitung (1999) entwickelt er unter dem Einfluss von Deleuze/Guattari das Konzept eines Grenzraumes, in dem es zu permanenten Überlagerungen unterschiedlicher Felder und Praxen kommt. Dabei konzentriert er sich in seinen Schriften zunehmend auf das revolutionäre Potential dieser Kunstpraxen und plädiert für ihre direkten und indirekten Verkettungen mit politischen und sozialen Bewegungen. So schildert er in seinem Buch Wien Feber Null (2000) Proteste, die sich gegen die Wahl Haiders in Österreich im Jahr 2000 konstituierten. Die dabei vorgenommene Vernetzung und Überschneidung von künstlerischen und politischen Ansätzen und ihrem spezifischen Wissen führte zu einem feldübergreifenden Vorgehen, die eine situationsbedingte und -bezogene Praxis hervorbrachte. Im Sammelband Transversal (2003) werden verschiedene Aufsätze zu aktuellen Kontexten zwischen Aktivismus, Kunst und Theorie versammelt. Raunig greift hier auf das Konzept der Transversalität zurück, das sich durch die Verkettung und Überlappung unterschiedlicher Praxen, Felder und Disziplinen sowie die Unabschließbarkeit dieser Bewegung auszeichnet. Daraus folgt ein Revolutionsbegriff, der diese „als unabgeschlossen und unabschließbaren, molekularen Prozess“122 begreift. Das Verhältnis von Kunst und Revolution ist Thema des gleichnamigen Buches, das 2005 erschienen ist. Auf der Suche nach zeitgemäßen Widerstandsformen greift Raunig auf den Begriff und das Modell der revolutionären Maschine zurück. Sein Interesse gilt den mikropolitischen Versuchen einer transversalen Verkettung von Kunstmaschinen und revolutionären Maschinen. Anhand konkreter Beispiel (u.a. die Pariser Commune, die Situationisten, die Volxtheaterkarawane, Grenzcamps) schildert er diese mal mehr, mal weniger gelungenen Verkettungen. Widerstand wird dabei zugleich als temporär und stetig, konstitutiv und flüchtig gedacht – nicht im Sinne eines Entziehens (vor der Verantwortung), sondern eines permanenten Beweglich-bleiben, das temporäre Möglichkeiten der Umdeutung und des Ununterscheidbarwerdens enthält.123 Auf diese Weise soll jegliche Form von Repräsentation, Hierarchisierung, Strukturalisierung und Totalisierung ver-

122 Raunig: Kunst und Revolution, S. 23. 123 Vgl. Raunig: Instituierende Praxen, o.S. In diesem Aufsatz orientiert er sich auf den Widerstandsbegriff bei Deleuze und Virno. Beide entwerfen Bewegungen des Widerstands, die sich in der Flucht, im Abfallen und im Exodus umsetzen. Flucht wird dabei nicht als Eskapismus, sondern als positive Form gedacht, als permanente Bewegung, die im Stande ist, die Bedingungen und Machtverhältnisse zu verändern.

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mieden werden.124 Die daraus entstehenden Praxen der Verkettung vermögen sich laut Raunig der Logik des Spektakels und des Skandals weitgehend zu entziehen. Statt um eine Überbietungslogik geht es den Grenzüberschreitungen vornehmlich um die „Permanentisierung und Transversalisierung der Verkettung von Kunst und Revolution“125. Raunigs Argumentation ist dabei ambivalent: macht er einerseits die Verknüpfungen von Kunst und Politik stark, argumentiert er andererseits für die Bewegung auf ein Außerhalb des Staates126 und konzentriert sich auf die Kunst als Technik „um Regierungskünsten zu entwischen“127. Auf diese Weise kommt er der Vorstellung einer Möglichkeit der Übertretung und eines Agierens in einem Außerhalb sehr nah. Gleichwohl plädiert er für Praxen, die zwar radikale Gesellschaftskritik üben, aber dennoch nicht gänzlich auf künstlerische Kompetenzen und Strategien, auf die Ressourcen und Effekte im Kunstfeld verzichten und auf ihre Distanz zu den Institutionen beharren und sich damit in zwei Feldern zugleich bewegen.128 Er fordert eine Verknüpfung von Gesellschaftskritik, Institutionskritik und Selbstkritik, also eine Verknüpfung von Kritikformen innerhalb und außerhalb des Kunstfeldes. Entscheidend ist der Versuch einer Übertragung der revolutionären Ansprüche auf die eigene Form. Die eigene Rolle und Funktion in den Prozessen der Bedeutungskonstitution ist mitzudenken sowie die Form der Wissensvermittlung und der künstlerischen oder revolutionären Praxis zu reflektieren. Es geht nicht nur darum (anderen) die Wahrheit zu enthüllen, sondern auch die Wahrheit über sich selbst zu enthüllen, sich einer permanenten Selbstkritik zu unterziehen. Nicht nur gegen etwas sein, sondern zugleich neue Formen (der Organisation) erproben. So verweist Raunig auf die konstituierenden und instituierenden Momente der Entwicklung alternativer Formen der sozialen und politischen Organisation,129 die mit den deter-

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Vgl. Raunig: Kunst und Revolution, S. 168. Raunig: Kunst und Revolution, S. 240. Vgl. Raunig: Kunst und Revolution, S. 15. Raunig: Instituierende Praxen, o.S. Vgl. Raunig: Instituierende Praxen, o.S. Raunig verwendet sowohl den Begriff der Konstitution als auch der Institution. Meint ersterer die Entwicklung alternativer Formen, dient zweiterer der Untersuchung ihrer ‚Einsetzung‘, ihrem Verhältnis zu Institutionen sowie ihrer Organisationsstruktur. Am Beispiel der Institutionskritik verdeutlicht er die Suche nach einem Zustand, der zwischen einer Institutionalisierung und einer kompletten Abgrenzung von Institutionen oszilliert. Den Begriff der Instituierung entwickelt er in mehreren Aufsätzen:

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ritorialisierenden Bewegungen zusammen zu denken sind. Es geht nicht nur darum vorhandene Strukturen zu hinterfragen, sondern auch darum neue Organisationsformen zu erproben und die Ausgangsbedingungen zu verändern, also konstitutive Macht auszuüben. Er versteht darunter „kollektive Subjektivierung, Instituierung und Formierung jenseits von konstituierter Macht. Konstituierende Macht bezieht sich als dritte Komponente der revolutionären Maschine vor allem auf die Erprobung alternativer Formen sozialer Organisation.“130 In diesem Sinne entwirft er im Rückzug auf Tretjakov das Bild des cultural workers, dessen organisierende Funktion im Mittelpunkt steht und darauf abzielt, den passiven Betrachter in einen Produzenten zu verwandeln. Exkurs: Kultur | Natur, Hamburg Anhand des Ausstellungsprojektes Kultur | Natur soll das Spannungsfeld aufgezeigt werden, in dem sich heutige künstlerische und kuratorische Strategien zwischen kritisch-politischem Anspruch und (pragmatischer) Institutionalisierung bewegen. Zugleich wird an das zuvor herausgearbeitete Politikverständnis angeknüpft und die Frage erörtert, in wie weit Widerstand von Innen möglich ist. Das Projekt Kultur | Natur wurde im Rahmen des von der IBA (Internationale Bauausstellung Hamburg) veranstalteten KulturSommers 2008 in Hamburg-Wilhelmsburg umgesetzt. Das Projekt, das von Anke Haarmann und Harald Lemke kuratiert wurde, war weniger eine Ausstellung als eine künstlerische und kontextuelle Plattform, von der aus verschiedene Aktionen und Projekte in Wilhelmsburg und mit Wilhelmsburgern stattfanden.131 Ziel war es, lokales Wissen, philosophische Reflexion und künstlerische Arbeit miteinander zu kombinieren und zu konfrontieren, weswegen ein Fokus auf die lokale Anbindung des Projektes gelegt wurde. Es ging darum in den öffentlichen Raum zu intervenieren, Zwischennutzungen zu initiieren und an vorhandenen Strukturen aufzugreifen. Waren einige Projekte auf die Ausstellung begrenzt, zielten andere auf längerfristige Wirkungen und knüpften an bestehende lokale Projekte an. Dabei taten sich mehrere Spannungsfelder auf: Zum einen traten im Projektverlauf Konflikte auf, die die Ausstellungsmacher auf struktureller Ebene zu bewältigen hatten. Dazu zählten die Ausein-

Instituierende Praxen. Fliehen, Instituieren, Transformieren; Instituierende Praxen, No.2; Instituierung und Verteilung. 130 Raunig: Kunst und Revolution, S. 56. 131 Zum Konzept von Kultur | Natur vgl. www.natur-kultur.net/_media/ kulturnatur_idee.pdf, Stand: 21.11.2008.

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andersetzungen mit der Sprinkenhof AG oder der Hamburg Port Authority über die temporäre oder längerfristige Nutzung ihres Grundeigentums ebenso wie die Vertragsverhandlungen mit der IBA selbst. Des Weiteren gab es einen kritischen Diskurs über die institutionelle Verknüpfung des Projektes mit der IBA. Diese agiert an der Schnittstelle von Stadtentwicklung, wirtschaftlichen Interessen und kulturellen Aktivitäten. Neben den drei großen Leitthemen Kosmopolis (internationale Stadtgemeinschaft, Stadtränder in der Stadt), Metrozones und Stadt im Klimawandel wird ein Schwerpunkt auf die lokale Anbindung und Vermittlung der Ausstellung gelegt. Es gibt einige experimentellere Formate wie das IBA Labor und den Kultursommer. Trotzdem wird die IBA aufgrund ihrer Verbindungen zur Stadtentwicklungsbehörde und deren Losung einer ‚wachsenden Stadt‘ mit diesen wirtschaftlichen, stadtentwicklungspolitischen Zielen gleichgesetzt. Ihr wird vorgeworfen die Gentrifizierung des Stadtteils zu (be)fördern und vor allem repräsentative Projekte zu unterstützen. Aufgrund ihrer institutionellen Verknüpfung wird den Kuratoren von Kultur | Natur nun derselbe Vorwurf entgegengebracht. Es wird kritisiert, dass Kultur | Natur auf niedrigschwelliger Ebene die Ideen der IBA vermittele und lediglich eine Politik der kleinen Schritte anrege, statt gegen die IBA zu Felde zu ziehen.132 Diesem Vorwurf entgegnen die Kuratoren in einem Interview auf der Internetplatform The Thing und plädieren für ein Aufbrechen des einfachen Gut- und BöseSchemas, das ihnen in Form dieser Kritik entgegenschlägt. Ihrer Meinung nach sei die IBA nicht primär schlecht, doch ihre Umsetzung problematisch. Es sei durchaus legitim, sie sich temporär nutzbar zu machen, unter der Voraussetzung, dass diese Schritte offen gelegt und problematisiert würden.133 So hätten die Kuratoren sich in den Vertragsverhandlungen mit der IBA strukturelle Freiräume für die eigene Arbeit erkämpft und mit ihrer Politik der kleinen Schritte z.B. ein größeres Kunst-und-lokale-Ökonomieprojekt in Kirchdorf-Süd angestoßen. Anke Haarmann resümiert: „Wir haben nicht den gesamten Stadtentwicklungsplan revolutioniert – das kann man kritisieren. Aber ich halte diesen Anspruch für ein Relikt der Moderne und naiv, genauso, wie die Forderung, ‚sauber‘ zu bleiben von Verwicklungen in die Macht. Die kleinen Schritte sind sehr viel wert.”134 Deutlich wird hier ein Politikverständnis, das nicht mehr von einem Außerhalb der Macht

132 Vgl. Frahm/Michaelsen: Schatzinsel mit Konsensfabrik, o.S. 133 Vgl. …aus Wilhelmsburg rausfahren, Interview mit Haarmann/Lemke, o.S. 134 …aus Wilhelmsburg rausfahren, Interview mit Haarmann/Lemke, o.S.

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oder einem ‚ganz anders machen‘ ausgeht. Statt von einem radikalen Schnitt mit dem Bestehenden und daran anknüpfenden Neubeginn zu träumen, werden kleine Verschiebungen und Begegnungen initiiert und Spannungen artikuliert. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen ‚böser‘ Institution und ‚guter‘ Off-Szene, ebenso wie zwischen Experten und Einwohnern, zwischen Kunst und Politik. Exemplarisch lassen sich an der Kritik am Ausstellungskonzept der Kuratoren unterschiedliche Verständnisse des Verhältnisses von Kunst und Politik nachzeichnen: Den beharrlichen Warnungen vor den Gefahren einer Vereinnahmung bei der Zusammenarbeit mit Institution, stehen mit Kultur | Natur Modelle entgegen, die dieses dichotomische Denken überwinden und für einen heautonomen, also selbstbestimmten Umgang mit deren Einflüssen eintreten. Statt dem großen Gegenentwurf wird eine Politik der kleinen Schritte vorgenommen. Kultur | Natur kann als institutionskritische und grenzüberschreitende Praxis bezeichnet werden, die nicht an einem ‚außerhalb‘ und damit an antagonistischen Strukturen festhält, sondern in diese Strukturen interveniert, sie für eigene Zwecke nutzt und Verschiebungen anstößt. Externe Einflüsse werden dabei heautonomisiert; Autonomie wird im Sinne Lingners als Medium der Selbstbestimmung über die heteronomen Einflüsse verstanden. Statt die institutionellen Kooperationen pauschal abzulehnen, gilt es die durch die Kombination unterschiedlicher Interessen entstehenden spannungsgeladenen Prozesse als konstitutiv und politisch zu interpretieren. Das Projekt wird so zu einem Grenzraum, in dem unterschiedliche Interessen sichtbar und verhandelbar werden.

3.3 Weitere (Begriffs-)Verschiebungen Im Folgenden soll anhand von drei Begriffen das im vorherigen Kapitel herausgearbeitete Umdenken des Politischen auch auf andere Bereiche übertragen werden und zwar auf das Verständnis von Ästhetischer Erfahrung, Autonomie und Institutionskritik. Mit Draxler lassen sich diese Begriffe als Substanzbegriffe bezeichnen, weil sich sowohl die Kritik als auch die Kunst beständig an ihnen abarbeitet, ohne sie gänzlich überwinden zu können. Es sind „phantasmatische begriffliche Einheiten, die leitbildhaft unser politisches und kulturelles Denken in der Moderne prägen“135. Draxler verweist in seinem Buch Gefährliche Substanzen (2007) auf das Paradox der zeitlichen Gebundenheit und gleichzeitigen Kontinuität dieser Begriffe, die mit bestimmten Vorstel-

135 Draxler: Gefährliche Substanzen, S. 168.

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lungen und Idealen von Kunst verbunden sind und sich dementsprechend verändern. Wie bereits oben gesagt, wurden in den 90er Jahren sowohl Begriffe wie ‚Autonomie‘ als auch ‚Ästhetik‘ bzw. ‚ästhetische Erfahrung‘ mit einem modernen Kunstbegriff verbunden, den es zu überwinden galt. In den letzten Jahren hat es jedoch einen verstärkten Rückgriff auf diese Kategorien gegeben, der häufig mit ihrer Modifizierung und Neubestimmung einherging. Es werden Ansätze genannt, die das politische Potential sowohl in der ästhetischen Erfahrung als auch in der Autonomie starkmachen. Auf diese Weise wird eine klare Abgrenzung von diesen Begriffen, wie sie in den 90er Jahren vorgenommen wurde, erschwert und eine dichotomische Denkweise, die sich gänzlich von diesen Begriffen distanziert, fragwürdig. Im Gegensatz zu den Begriffen Autonomie und ästhetische Erfahrung, bei denen von ihrer Rehabilitierung gesprochen werden kann, wurde der Begriff Institutionskritik in den 90er Jahren vielfach verwendet. Die nachzuzeichnende Verschiebung des Begriffes ist somit vor allem begriffsimmanent: Diente er in den 90er Jahren der Beschreibung künstlerischer Ansätze, die sich kritisch mit den Kunstinstitutionen auseinandersetzen und mit der Suche nach alternativen Orten, einem Außerhalb der Institutionen einhergingen, wird mit der Institutionalisierung der Institutionskritik ein solches dichotomisches Denken obsolet. Im Folgenden werden institutionskritische Ansätze vorgestellt, die diese innerhalb und außerhalb der Institutionen verorten, in einer permanenten Bewegung zwischen den Feldern. Da es sich um substanzielle, also historisch aufgeladene und mehrdeutige Kunstbegriffe handelt, kann lediglich eine grobe Übersicht über die Verschiebungen, jedoch keine abschließende Bestimmung dieser Begriffe vorgenommen werden. 3.3.1 Erweiterung der ästhetischen Erfahrung um den emanzipierten Betrachter „Engagement in der Kunst sollte sich nicht von der autonomen Logik des Ästhetischen losmachen wollen.“ 136 JULIANE REBENTISCH

Der Begriff der ästhetischen Erfahrung wurde ebenso wie der der Ästhetik in den 90er Jahren möglichst vermieden. Weder der ‚schöne 136 Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 279.

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Schein‘, auf den die Ästhetik reduziert wurde, noch die Wahrnehmung und individuelle Auseinandersetzung mit dem Bild standen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Vielmehr wurde das Gesellschaftliche der Bilder betont, wurde der Kontext der Bilder stark gemacht, wurden Impulse von den Bildern gefordert, die sich eben nicht auf die individuelle Rezeption beschränken. Das Ästhetische galt als konservatives Wertesystem.137 Auf unterschiedlichen Ebenen zeichnet sich jedoch eine Öffnung und Erweiterung des Begriffes ab, die einer Rehabilitation gleichkommt. Mit Rebentisch kann von einer generellen Aufwertung ästhetischer Erfahrung gesprochen werden, die mit einer Hinwendung zur Rolle des Betrachters und der individuellen ästhetischen Erfahrung von Kunst einhergeht. Für Rebentisch steht diese Aufwertung in Zusammenhang mit der Ablösung des objektivistischen und werkzentrierten Verständnisses von Kunst – das charakteristisch für den modernen Kunstdiskurs ist – durch ein erfahrungstheoretisches Verständnis.138 Auf diese Weise wird sowohl an den ‚nachwirkenden Neueinsatz‘139 des Begriffes der ästhetischen Erfahrung in den späten 60er und 70er Jahren als auch an die Entwicklungen und Grenzüberschreitungen der 90er Jahre angeknüpft. Um die Aufwertung der ästhetischen Erfahrung nachzuzeichnen, fokussiert Rebentisch in ihrem Buch Ästhetik der Installation mit der Installationskunst jene künstlerischen Praxen, die eine Korrespondenz zwischen Betrachter und Werk eröffnen.140 Ihre Neufassung der ästhetischen Erfahrung versteht diese als einen Prozess, „der Subjekt wie Objekt dieser Erfahrung gleichermaßen und gleichursprünglich umgreift“.141 Es kommt zu einer Vermittlung zwischen verschiedenen Bedeutungssystemen, zwischen dem Werk und der Welt des Betrachters. Im besten Fall erkennt der Betrachter im Werk lebensweltlich etablierte Bedeutungszusammenhänge wieder. Doch bleibt immer ein Rest des Nicht-Identifizierbaren und Rätselhaften, da es nicht möglich ist, ein Werk restlos und als Ganzes zu verstehen.142 Der verstehende Zugang zum ästhetischen Objekt wird verunsichert ebenso wie das Bedürfnis nach einfachen Identifikationen unterlaufen wird. Diese Unauflösbarkeit und Nicht-Einordbarkeit des Kunstwerkes hat eine reflexive Distanzierung zur Folge. Laut Rebentisch werden die rezipieren-

137 138 139 140 141 142

Vgl. Kravagna: Politische Nähe, S. 24. Vgl. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 8. Vgl. Küpper/Menke: Dimensionen ästhetischer Erfahrung, S. 9-11. Vgl. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 271. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 12. Vgl. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 270.

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den Subjekte dabei nicht nur in ein selbstreflexiv-performatives Verhältnis zum Objekt, sondern auch zu den eigenen sozialen und kulturellen Hintergrundannahmen gesetzt. „Kunst eröffnet […] eine Erfahrung der Distanz, der Verunsicherung des verstehenden Zugangs zum ästhetischen Objekt.“143 In dieser Unterbrechung und Verunsicherung (des Vertrauten und der vertrauten Annäherung an das Werk) liege laut Rebentisch ein mögliches politisches Potential der Kunst. „Kunst wirkt, wenn überhaupt, nicht deshalb in die Gesellschaft zurück, weil in ihrer Erfahrung sich ‚etwas wie ein Gesamtsubjekt‘ konstituierte, sondern deshalb, weil sie die Subjekte potentiell mit der gesellschaftlichen Schicht an sich selbst konfrontiert.“144 Voraussetzung ist allerdings, dass die Gehalte für das erfahrende Subjekt von Gewicht sind und an konkrete gesellschaftliche Kontexte appellieren, d.h. von lebensweltlicher Relevanz sind. Das nachvollziehende und objektivistische Verständnis ästhetischer Erfahrung wird bei Rebentisch zugunsten eines nichtidentifizierenden und individuellen Verständnisses verschoben und um gesellschaftspolitische Aspekte erweitert. Sie hebt die Erfahrungen der Nicht-Einordbarkeit hervor und betont die Unabschließbarkeit der Annäherung an das Kunstwerk aufgrund seiner konstitutiven Bedeutungsoffenheit: „Weder für die jeweiligen Werke noch auch für deren einzelne Elemente lässt sich ein definitiver Kontext identifizieren, der ihr abschließendes Verstehen garantieren könnte. Als Kunstwerke bleiben sie ortlos auch und gerade dort, wo sie sich offensiv auf ihren doppelten Ort – den buchstäblichen und den gesellschaftlichen – beziehen.“145 Ähnlich bezeichnet Fischer-Lichte in ihrem Aufsatz Ästhetische Erfahrung die Konstruktion einer Werkbedeutung als fortschreitende und prinzipiell unabschließbare Semiose.146 Sie entwirft die ästhetische Erfahrung als eine Art Schwellenerfahrung (oder liminale Erfahrung), die durch Momente der Verunsicherung und des ‚Zwischen‘ gekennzeichnet ist. Um die spezifischen Veränderungen herauszuarbeiten, die mit diesen Schwellenerfahrungen einhergehen, greift sie auf anthropologische Beschreibungen von rituellen Grenz- und Übergangserfahrungen zurück.147 Diese sind mit Umstrukturierungen des Bedeutungs- und Bezugssystems sowie Veränderungen in der Selbstund Weltwahrnehmung verbunden. Es handelt sich um Erfahrungen in

143 144 145 146 147

Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 279. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 288f. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 275. Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung, S. 142. Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung, S. 139.

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einem Zwischenbereich, der durch die Gleichzeitigkeit mehrerer Möglichkeiten gekennzeichnet ist. Wird diese einerseits als Überforderung wahrgenommen, eröffnen diese Schwellenphasen zugleich, „kulturelle Spielräume für Experimente und Innovationen“148, die die Gesellschaft als Ganzes betreffen. Fischer-Lichte schlägt hier den Bogen von den konkreten Subjekten zum gesellschaftlichen Kontext. Diese Betonung der destabilisierenden und verunsichernden Momente im Rezeptionsprozess entspricht der Hinwendung zu den unkontrollierten und unmittelbaren Momenten der ästhetischen Erfahrung, die auch bei anderen Autoren zu beobachten ist. Ästhetische Erfahrung wird dabei nicht mehr als individuelle, sich versenkende Kontemplation verstanden, sondern als verstörende Erfahrung gedacht, die sich dem rationalen Verstehen entzieht. Sie beinhalten die Konfrontation mit den eigenen Grenzen, dem eigenen Fremdsein. In den Worten Gronaus heißt ästhetische Erfahrung „die eigene Grenze porös werden zu lassen und sich selbst als verwundbar zu zeigen“149. Es sind zustoßende Erfahrungen, die der Einordnung in das kulturelle Feld der Bedeutungen und Sinngebungen zuvorkommen. Sie werden entworfen als Erfahrungen des Berührtwerdens und des Geschehenlassens und sind mit Willkür, Unbestimmtheit und einem Überwältigtsein vom Unbegrifflichen verbunden.150 Was dies bedeutet, erläutert Barthes mit seiner Unterscheidung zwischen ‚punctum‘ und ‚studium‘. Während einem das punctum wie ein Geschoss unmittelbar zustößt, wird das studium (wie der Begriff nahe legt) durch reflexive Tätigkeiten begleitet und ist an das kulturelle Feld und seine Codierungen gebunden.151 Barthes Vorliebe für das punctum ähnelt der Hinwendung zur ‚Tatsache der Widerfahrnis‘ (dem ‚quod‘) bei Mersch. Dieser betont, dass Wahrnehmung, bevor sie Wahrnehmung von etwas ist, zunächst ein-

148 Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung, S. 140. 149 Gronau: Die prekäre Grenze, S. 336. 150 Vgl. Lange: Grenzüberschreitungen, S. 333. Sie bezieht sich hier auf Adorno, der insbesondere die Rätselhaftigkeit und Intentionslosigkeit ästhetischer Erfahrung betont. 151 Barthes entwickelt diese Differenzierung zwischen punctum und studium in Die helle Kammer, um die Wirkung von Fotografien zu beschreiben. „Jedoch habe ich festgestellt, dass mich manche Fotografien durch ein Detail, das mich auf recht rätselhafte Weise ergreift, fesselt, anstößt und überrascht, stärker als durch ihr allgemeines Interesse berührten. Daher habe ich dieses Element punctum genannt, weil es eine Art Punkt, so etwas wie ein Stich ist, der mich trifft.“ (Barthes: Körnung der Stimme, S. 381.)

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mal Wahrnehmung-daß etwas ist. Das Ereignen der Erfahrung ist dem Wissen um die Form und den Inhalt dieser Erfahrung vorgelagert.152 Die Aufwertung der subjektiven-ästhetischen Erfahrung steht in Zusammenhang mit einer generellen Hinwendung zum Subjekt in der poststrukturalistischen Philosophie, wie sie bei Rancière und dessen Aufsatz The Emancipated Spectator ebenso vollzogen wie in Foucaults Konzept einer subjektiven ‚Ästhetik der Existenz‘, die mit der Sorge um sich selbst beginnt. Beide machen die politischen Aspekte der subjektiven Erfahrungen stark. Sucht Foucault nach widerständigen Faltungen des Selbst, konzentriert sich Rancière dagegen auf die Übersetzungsprozesse von Subjekt und Gesellschaft. Diese werden fruchtbar, wenn sie sich als Dissense darstellen; wenn es darum geht unterschiedliche Meinungen auszutauschen und zu verhandeln. Streit wird als Form des Austausches verstanden, der dazu beiträgt verschiedene Meinungen (und Aufteilungen des Sinnlichen) miteinander in Bezug zu setzen und den Austausch zwischen Subjekt und Gesellschaft fördert. Deutlich wird, dass die subjektive Perspektive nicht per se unpolitisch ist, sondern ebenfalls gesellschaftsbezogene und widerständige Momente enthalten kann. Zusammenfassend lassen sich folgende Grundzüge ästhetischer Erfahrung festhalten: ihre potentielle Unabschließbarkeit und Prozesshaftigkeit sowie ihre vermittelnde Struktur zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen konkretem Subjekt und gesellschaftlichem Kontext.153 Diese Vermittlung wird als ein permanenter widerstreitender Bezug zwischen Gegensätzen und Antagonismen gedacht, bei dem es nicht zu einer Überwindung dieser Gegensätze kommt, sondern bei dem der Prozess des Aushandelns im Vordergrund steht. Es geht nicht um das auflösende Verstehen und Einigwerden über objektivistische Kriterien, sondern um die Erfahrung des unkontrollierten Berührtwerdens und der darin enthaltenden Bewusstwerdung der eigenen Wahrnehmungsstrukturen und Prädispositionen. Das hier entworfene Verständnis der ästhetischen Erfahrung ähnelt dem Bild einer Grenzüberschreitung, als einer permanenten Infragestellung und Irritation der bestehenden Ordnungen. Es handelt sich um eine Erfahrung an der Schwelle, an der verschiedene Möglichkeiten sichtbar und verhandelbar werden: So wenig wie es der ästhetischen Erfahrung um das endgültige Verstehen geht, geht es der Grenzüberschreitung um die unhintergehbare Überwindung der Grenze.

152 Vgl. Mersch: Ereignis und Aura, S. 32 und S. 7. 153 Vgl. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 281.

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3.3.2 Relative Autonomie und Souveränität der Kunst „Die Möglichkeit zu einer gesellschaftskritischen, engagierten aktionistischen Kunst basiert genau auf jener Autonomie, die sie als Fehlentwicklung bekämpft und mit ihrem Engagement wieder in Frage stellt.“ 154 CORNELIA KLINGER

Autonomie ist Voraussetzung für kritische, politische Ansätze und zugleich ihr Angriffsziel. Diese im Kapitel 2.1. herausgearbeitete Ambivalenz der Kategorie führte dazu, dass sie entweder als Grundvoraussetzung für künstlerische Produktion verstanden wurde oder heftigen Angriffen ausgesetzt war. Besonders in den 90er Jahren wurde Autonomie erneut als negative Kategorie verstanden, die es mit allen Mittel zu bekämpfen galt: „Autonomy, we now see, has condemned art to social impotence by turning it into just another class of objects for marketing and consumption.“155 Rebentisch bemerkt: „Während in der Philosophie nach wie vor viel von ästhetischer Autonomie geredet wird, [...] ist dieser Begriff derweil in der avancierten Kunstwelt offensichtlich zum Schimpfwort degradiert worden.“156 Dies liegt u.a. daran, dass laut Raunig der Gesellschaftsbezug sowie der emanzipative Charakter des Autonomiebegriffes im Laufe seiner die Moderne begleitenden Geschichte zumeist vernachlässigt und auf eine instrumentalisierbare Karikatur verkürzt wurde.157 Entgegen dieser Verkürzung werden im Folgenden die Positionen von Raunig, Adorno und Rebentisch vorgestellt und deren Zusammendenken von Autonomie und Gesellschaftsbezug herausgearbeitet, denn um mit Rebentisch zu argumentieren „ohne einen Begriff ästhetischer Autonomie wird, so meine ich, der Begriff von Kunst konzeptuell leer“158. Das dabei zu beobachtende Umdenken von einer Abkehr zu einem emanzipativen Verständnis und Gebrauch der Kategorie lässt sich beispielhaft anhand von Raunig veranschaulichen. Übt dieser zunächst Kritik am autonomen Künstler-Subjekt, an der Autonomie des Kunstwerkes und des Kunstfeldes, wird Autonomie im Rückgriff auf Hegel

154 155 156 157 158

Klinger: Das Jahrhundert der Avantgarden, S. 7. Gablik: The reenchantment of art, S. 74. Rebentisch: Ästhetik der Installation der Installation, S. 10. Vgl. Raunig: Ästhetik der Grenzüberschreitung, S. 17. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 13.

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aber auch als Freiheit im Sinne prinzipieller Offenheit und als Möglichkeit der Selbstbestimmung und Selbstorganisation verstanden. Auf diese Weise hält Raunig trotz seiner massiven Kritik an Autonomie an dieser „im Sinne von größtmöglicher Selbstbestimmung von Inhalten und Formen“159 fest. Autonomie öffne Lücken der Unkontrollierbarkeit und Unabhängigkeit vor allzu rigiden ökonomischen Einflüssen und repräsentatistischen Machtkonstruktionen. Durch die Einbeziehung dieser Aspekte von Autonomie kann die unproduktive Dichotomie von autonomer und politischer Kunst überwunden werden.160 Anfänge für ein solches Denken finden sich bei Adorno und dessen Betonung des Doppelcharakters des Kunstwerks als ‚fait social‘ und autonomes Gebilde.161 Durch das verwendete Material und durch das Konzept des Wahrheitsgehaltes der Kunst wird die Kunst bei Adorno im Gesellschaftlichen verortet und gleichzeitig als etwas Rätselhaftes und Erhabenes wahrgenommen. Adorno drückt dies mit den sich scheinbar widersprechenden Begriffen ‚Rätselcharakter‘ und ‚Wahrheitsgehalt‘ aus. Indem sie sich der Logik des instrumentellen Geistes verweigern, stellen Kunstwerke einerseits ein Rätsel dar, erhalten aber andererseits durch diese Negation einen Wahrheitsgehalt, da sie die gesellschaftlichen Verhältnisse negativ zu spiegeln vermögen. Kunst wird so eine Eigengesetzlichkeit zugebilligt, die jedoch nicht gleich-

159 Raunig: Ästhetik der Grenzüberschreitung, S. 26. 160 Vgl. Raunig: Ästhetik der Grenzüberschreitung, S. 157. 161 Trotz der Herausarbeitung des Doppelcharakters von Kunst wurde Adorno lange für seinen Rückzug in den Elfenbeinturm kritisiert, denn das Prinzip der Negation sozialer Bindungen und der gesellschaftlichen Wirklichkeit entspricht zunächst der Forderung nach Autonomie. Nach Eichel galt Adorno demnach „den meisten als Purist, der an einem letztlich vom bürgerlichen Kunstwerk geprägten Avantgardebegriff festhält und neueren Tendenzen mit Skepsis oder Verständnislosigkeit begegnet.“ (Eichel: Vom Ermatten der Avantgarde, S. 19.) Im Kunstbereich wurde seine Vorstellung eines abgeschlossenen künstlerischen Bereichs vor allem im Zuge von Re-Politisierung und Betonung der sozialen Funktion von Kunst kritisiert; er bildete quasi den schwarzen Peter für eine zu hermetisch gedachte Konzeption von Kunst. Erst nach den 90er Jahren setzte eine Relektüre Adornos ein (vgl. Graw, die in ihrem Buch Silberblick gar von einer Adornistischen Wende spricht, S. 185 oder Rebentisch, die sich in Ästhetik der Installation explizit auf Adornos Aufsatz Die Kunst und die Künste bezieht). Sie sieht in Adorno keineswegs den konservativen Apologeten gegen die Verfransung der Künste, sondern ein frühes Beispiel für die Betonung der Intermedialität der Kunst.

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bedeutend ist mit einer kompletten Abschottung von der Gesellschaft, sondern die Grundlage für ihre negative Dialektik darstellt.162 Graw bringt diese Dialektik noch einmal auf den Punkt: „Kunst verlässt den Bereich der Erfahrung und funktioniert prinzipiell anders als die Welt des instrumentellen Geistes. Zugleich sind ihre Produkte aber auch gesellschaftlich bestimmt.“163 Rebentisch denkt dieses dialektische Verständnis von Autonomie bei Adorno weiter. Statt unter Autonomie die Abgrenzung der Kunst von der Gesellschaft zu verstehen, gilt es den Begriff ästhetischer Autonomie auf die Spezifik der ästhetischen Erfahrung zu beziehen.164 Diese unterscheide sich von den Bereichen der theoretisch-wissenschaftlichen und der moralisch-praktischen Vernunft, ist jedoch keine von gesellschaftlichen Gehalten reine Erfahrung.165 Die spezifische ästhetische Erfahrung zeichnet sich vielmehr durch eine selbstreflexivperformative Konstitution von Zusammenhängen aus. Daran anknüpfend entwirft Rebentisch ein Verständnis von ästhetischer Autonomie, das diese nicht im Gegensatz zu den Entgrenzungstendenzen der Kunst sieht. Dies gelingt ihr, indem sie die Entgrenzungstendenzen nicht als Negation der Kategorie Autonomie, sondern als Angriff auf deren objektivistisches Missverständnis interpretiert. Eine objektivistisch verstandene Autonomie basiert auf der Vorstellung eines „organischen, vermeintlich kontextunabhängigen, in sich geschlossenen, ästhetizistisch selbstgenügsamen Kunstwerks“166. Ein solches Kunstwerk besitze laut Rebentisch jedoch lediglich Scheinautonomie, denn Autonomie bestimmt sich nicht über einen eigenen Gegenstandsbereich oder eine ihr besondere Verfasstheit: „Autonom ist Kunst nicht, weil ihr ein ‚eigener und eigentlicher‘ Gegenstandsbereich zukäme, der gegen eine vermeintliche Verunreinigung der Künste durch intermediale Verfahren oder die viel beschworene ‚Bilderflut‘ der Massenmedien oder sonstige kulturindustrielle Elemente verteidigt werden müsste.“167 Autonom ist Kunst, weil sie Prozesse der reflexiven Distanzierung anstößt. Diese entsteht, wenn der unabschließbare Prozess des Einordens und Interpretierens des Kunstwerks unterbrochen und von Erfahrungen des Nicht-identischen begleitet wird. Die aufkommende Verunsiche-

162 Zum Doppelcharakter der Kunst bei Adorno siehe auch Wellmer: Über Negativität und Autonomie der Kunst, S. 245-256. 163 Graw: Diese Theoreme arbeiten noch, o.S. 164 Vgl. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 235. 165 Vgl. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 10 und S. 12. 166 Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 232. 167 Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 96.

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rung hat eine Distanzierung zur Folge, die mit einer Bewusstwerdung über die eigenen Prädispositionen und Wahrnehmungsschemata einhergeht, zu denen sich der Betrachter nun autonom zu setzen vermag. Damit sind mehrere Beispiele für eine Erweiterung und Vergesellschaftlichung des Begriffs der Autonomie genannt. Statt auf eine Aufhebung der Autonomie zu pochen, gilt es an dieser als spezifische Eigenschaft des Kunstfeldes, der Kunstwerke und der ästhetischen Erfahrungen festzuhalten. Ein dialektisches Verständnis von Kunst und Gesellschaft, Autonomie und gesellschafts-politischer Intervention wird aufgehoben, ohne dass es um die Auflösung dieser Kategorien geht. Stattdessen gilt es im Anschluss an Adorno die Gleichzeitigkeit künstlerischer Autonomie mit unterschiedlichen Formen des Gesellschaftsbezuges von Kunst zu denken. In diesem Sinne plädiert Graw für ein Modell von Autonomie, das künstlerische Autonomie als einen spezifischen Raum mit eigenen Gesetzen definiert, der von gesamtgesellschaftlichen Gesetzen ‚natürlich‘ nicht ausgenommen ist.168 Deutlich wird, dass der Begriff der Autonomie kein statischer Begriff ist, sondern permanent neu ausgehandelt und bestimmt werden muss. 3.3.3 Institutionalisierte Institutionskritik Institutionskritische Ansätze lassen sich als Fortsetzung der Selbstkritik bezeichnen, deren Anfänge Bürger in seiner Theorie der Avantgarde beschreibt. Schon in Bezug auf die avantgardistische Kunst der 20er Jahre spricht er davon, dass sich die dort herausgebildete Selbstkritik vor allem als Kritik am Einfluss der Institutionen auf die Kunstproduktion verstanden hat und präzisiert: „Mit dem Begriff Institution Kunst sollen hier sowohl der kunstproduzierende Apparat als auch die zu einer gegebenen Epoche herrschenden Vorstellungen über Kunst bezeichnet werden, die die Rezeption von Werken wesentlich bestimmen.“169 Die Auseinandersetzung mit den Institutionen des Kunstfeldes wurde mit den institutionskritischen Ansätzen der 70er Jahre fortgesetzt, die sich auf die Kritik an den hochkulturell ausgerichteten Museen und den Kunstmarkt konzentrierten. Aus Protest gegen dieses Kunstsystem wurden die Kunstwerke nicht selten in die Landschaft (Land Art) oder den Stadtraum (Situationismus) verlagert. Mit der Zeit dehnte sich die Kritik auf sämtliche Institutionen des Kunstfeldes und seine vielfältigen Beziehungs- und Abhängigkeitsstrukturen aus. Verstärkt werden die Geschichte der Institutionen und ihre wirtschaftlichpolitischen Verknüpfungen untersucht. Laut Meinhardt ging es „um

168 Vgl. Graw: Das war vor Jahren, S. 7. 169 Bürger: Theorie der Avantgarde, S. 29.

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die Analyse der historischen und gesellschaftlich-politischen Institutionen der Kunst und deren Wirkung oder Rückwirkung auf die künstlerische Produktion und besonders auf die Wahrnehmung künstlerischer Arbeiten.“170 Mit Rebentisch liegt die Stärke institutionskritischer Arbeiten darin, ein Bewusstsein für die Abhängigkeitsverhältnisse und die mit ihnen verbundenen Konfliktlinien zwischen Kunst und Institutionen zu schärfen. Es gehe um die „Reflexion der Bedingungen, unter denen ästhetische Objekte traditionell rezipiert werden“171. Dazu zählen „nicht nur die Ausstellungskonventionen oder die Ideologieproduktion durch die Ideologie der Hängung, sondern auch die nationalen, regionalen und/oder ökonomischen Interessen, welche die Politik der jeweiligen Institutionen durchziehen.“172 In den 90er Jahren wird die Kritik an den Institutionen des Kunstfeldes häufig durch die Forderung unterlegt, in Form von interventionistischen Strategien das Kunstfeld zu verlassen. Im Folgenden sollen Ansätze vorgestellt werden, die die Institutionalisierung der Institutionskritik nicht pauschal als ihre Vereinnahmung verurteilen, sondern Kunst, Institution und Kritik zusammen denken und damit eine dichotomische Bestimmung dieses Verhältnisses vermeiden. Das bedeutet vor allem die eigene künstlerisch-kritische Praxis nicht als etwas außerhalb des Systems stehendes zu betrachten, sondern permanent die eigene Verwobenheit in dieses Feld mit zu reflektieren. Für Möntmann ist diese Reflexion des eigenen Standpunktes im ‚Betriebssystem Kunst‘ bei der Formulierung einer politischen Situation unumgänglich.173 In ihrem Buch Kunst als sozialer Raum (2002) erweitert Möntmann aber nicht nur den Begriff der Institutionskritik, sondern auch das Verständnis der Institution, bzw. des Ausstellungsraumes. Dieser wird als Schaltstelle beschrieben, an dem verschiedene Diskurse zusammenkommen und verhandelt werden können. „Die Künstler arbeiten mit einem erweiterten Begriff des öffentlichen Interesses, indem sie dieses mit den Fragestellungen innerhalb des ‚Betriebssystem Kunst‘ verknüpfen.“174 Sie plädiert für eine Kunst, die nicht in ein ihr artfremdes System interveniert, sondern das eigene System analysiert, problematisiert und dann für weitere Diskurse öffnet, um „die Dichotomie von Innen und Außen hinter sich [zu lassen] zugunsten eines wechselseitigen, dynamischen Prozess zwischen kunstbetriebsimma-

170 171 172 173 174

Meinhardt: Institutionskritik, in: Butin: Begriffslexikon, S. 128. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 267. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 267. Vgl. Möntmann: Kunst als sozialer Raum, S. 49. Möntmann: Kunst als sozialer Raum, S. 46.

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nenten institutionellen Fragestellungen und öffentlichen, d.h. institutionsöffentlichen, kulturellen, urbanen, konsum- und handlungsspezifischen Diskursen.“175 Nach Möntmann gehe es „darum, in vorhandene Strukturen einzugreifen und innerhalb dieser Systeme zu intervenieren, anstatt vermeintlich abgekoppelte, neue Systeme zu erstellen“176. Der Fokus verschiebt sich dabei vom Ausstellen kritischer Kunst auf die kritische Ausstellung von Kunst. Dies beginnt bei einer Auseinandersetzung mit dem Ausstellungsort und der Institution, z.B. einer Analyse der dort wirkenden Machtverhältnisse und Ausschlussmechanismen. „Institutionskritische Ansätze scheinen also genau dort brauchbar, wo sie sich einer unmittelbar ‚befreienden‘ Rhetorik enthalten und keinen repräsentationsfreien Zustand anstreben, sondern die eigenen Apparate, [...] in Verbindung mit dem gesellschaftlichen Ort der Aussage bringen“177, wie Draxler zusammenfasst. Wie die vorgestellten Positionen zeigen, ist Institutionskritik heute nicht mehr nur die Kritik an der Institution, sondern beinhaltet die kritische, kontinuierliche Reflexion der eigenen Involviertheit in die Prozesse der Bedeutungskonstitution und in die Eingebundenheit in das Kunstsystem. In diesem Sinne ließe sich Institutionskritik als Grenzraum verstehen, der durch beständige Reflexion, Veränderungen und wechselnde Kooperationen geprägt ist. Laut Raunig kommt es zu einer „Verschiebung von einer fundamentalen Negation von Regierung hin zu einem Ausweichmanöver aus derartigem Dualismus: vom überhaupt nicht regiert werden zum nicht derartig regiert werden, vom Phantomkampf um ein großes Außen zu einem ständigen Kampf auf der Immanenzebene, der sich – wie ich hinzufügen würde – nicht (allein) als Fundamentalkritik an Institutionen aktualisiert, sondern als permanenter Prozess der Instituierung.“178

Der permanente Prozess kann verstanden werden als Versuch, einer Etablierung und Stilllegung im Kunstfeld zu entgehen.179 Aber auch als Versuch, nach Möglichkeiten eines nicht-dialektischen Auswegs aus purer Negation bzw. Affirmation der Institution zu suchen. In Anlehnung an Foucault plädiert Raunig für eine Form der Institutionskritik, die sich als permanente Neuformulierung der Möglichkeiten, der Regierung (und den Regierungsweisen) zu entwischen, versteht. Er greift

175 176 177 178 179

Möntmann: Kunst als sozialer Raum, S. 166. Möntmann: Kunst als sozialer Raum, S. 47. Draxler: Gefährliche Substanzen, S. 143. Raunig: Instituierende Praxen, o.S. Vgl. Raunig: Instituierende Praxen, o.S.

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für diese Bewegung auf den Deleuzianischen Begriff der Fluchtlinie zurück. Der Begriff der Flucht wird dabei nicht im Sinne eines Eskapismus, sondern eines permanenten In-Bewegung-bleibens gebraucht. So geht es nicht um das Verlassen, sondern um das permanente Neuentwerfen bzw. Unterlaufens der Institution, das sowohl die Analyse der eigenen Involvierung als auch die Überprüfung durch die permanente Verkettung mit anderen Strukturen enthält. Raunig entwirft damit das Bild einer Institutionskritik als doppelte Strategie: als „Versuch der Involvierung und des Engagements in einem Prozess der riskanten Widerrede, und als Selbsthinterfragung.“180 Er versucht damit der Festsetzung und negativen Strukturierung der Institutionskritik zu entgehen. Als vorbildlich bezeichnet er in diesem Sinne das Projekt Park Fiction. Hier gibt es „unzählige kleinere und größere Anstöße zur kollektiven Empörung und zum Entstehen konstituierender Macht, Serien von Ereignissen, in denen Wünschen gelernt wird, ein stetiges Neubeginnen, eine instituierende Praxis, die erstaunlich viele(s) anhaucht und zugleich einen unglaublich langen Atem hat“181. Die Vermeidung einer Institutionalisierung wäre also durch eine elementare Bearbeitung der Organisationsformen und ständigen Öffnung der sozialen Strukturen erreichbar – mit Hilfe von konstituierender Macht und instituierender Praxis. Institutionskritik wird hier zu einem Prozess der permanenten Infragestellung der institutionellen Strukturen des Kunstbetriebs und dessen Durchdringung mit marktwirtschaftlichen Konzepten und Diskursen. Es geht somit weniger darum, die Grenzen des Kunstfeldes und seiner Institutionen zu überschreiten, als darum, in diesen kritisch zu agieren.

180 Raunig: Instituierende Praxen, o.S. 181 Raunig: Instituierende Praxen, No 2, o.S.

4. Die documenta 12 als Beispiel für eine Ausstellung als Grenzraum

Am Beispiel der documenta 12, die im Sommer 2007 in Kassel stattfand, sollen im Folgenden die zuvor erarbeiteten Thesen überprüft werden. Zu diesem Zweck werden zunächst die unterschiedlichen kuratorischen Eingriffe geschildert, in denen eine Vielzahl von Grenzüberschreitung territorialer und kunstfeldspezifischer Art angelegt sind. Im Anschluss daran werden einzelne Aspekte herausgegriffen wie die Betonung der ästhetischen Erfahrung oder der institutionskritische Anspruch der Ausstellung. Sie unterstreichen den zuvor erarbeiteten Rückgriff auf Kategorien wie ästhetische Erfahrung oder Autonomie und zeigen wie stark Institutionskritik zu einem festen Bestandteil von kuratorischen Konzepten und damit von Institutionen geworden ist. Daran anknüpfend wird die Ausstellung als Grenzraum beschrieben und das spezifische Verhältnis von Politik und Ästhetik der documenta herausgearbeitet. Kuratorisches Konzept Das von Roger Buergel und Ruth Noack entworfene kuratorische Konzept ist komplex, denn es beinhaltet unterschiedliche Aspekte: Die Entscheidung für ein inhaltliches Thema und ein formales Konzept, die Auswahl und Präsentation der Künstler, die Gestaltung und Auswahl der Ausstellungsorte, die Initiierung verschiedener Organe, wie des lokalen Beirats, der international vernetzten documenta magazines und der Kunstvermittlung. Die Kuratoren konzipierten nicht nur eine Kunstausstellung, sondern trafen strukturelle Entscheidungen, die die Sichtbarkeit und Vermittlung der Ausstellung als Ganzes ebenso betrafen wie die internen Strukturen und Kooperationen. Die Ausstellung wurde in diesem Sinne als Medium begriffen, das auf unterschiedlichen Ebenen gestaltet werden konnte. Eingegriffen wurde auf der Ebene der Kunst, der Architektur und Raumgestaltung und dem Umgang mit dem Publikum.

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Auch wenn sich das Konzept der Kuratoren als vielschichtiges und z.T. widersprüchliches darstellt, lassen sich verschiedene Schwerpunkte herausarbeiten: Die shifts in canonmaking, die durch die Auswahl der Künstler bewirkt werden sollten1; die betonte Offenheit (und Widersprüchlichkeit) des Konzepts, das zugleich auf Anschlussfähigkeit und Überforderung setzte; die Inszenierung eines sich permanent verändernden Wechselverhältnisses von Kunst, Publikum und Raumgestaltung; die Anbindung und Verankerung der Ausstellung in der Stadt Kassel sowie die Initiierung eines kontroversen Diskurses über die Ausstellung und die von ihr aufgeworfenen Leitmotive. Das Interesse der Kuratoren lag auf dem Wechselverhältnis von Kunst und Inszenierung, von Einzelwerk und Gesamtschau, von Ausstellung und Stadt/Gesellschaft. Initiiert wurde nicht nur eine individuelle Annäherung und Auseinandersetzung, sondern auch die gemeinschaftliche Aushandlung des Gesehenen. Die Ausstellung eröffnete sowohl Momente der individuellen Kontemplation als auch der gemeinsamen Reflexion, sie irritierte und sorgte zugleich für die Anschlussfähigkeit der Ausstellung und des Gesehenen an den Alltag der Betrachter und die Stadt. Besonders die lokale Anbindung der Ausstellung an die Stadt Kassel war den Kuratoren wichtig, ebenso wie die Öffnung auf ein breites Publikum.2 Buergel/Noack distanzierten sich damit von der hochkulturell ausgerichteten documenta 10, als auch von der diskursmächtigen documenta 11. Sie wollten keine einschüchternde, theorielastige Ausstellung, die versucht, bestimmte Diskurse (kanonisiert-modernistische, gesellschaftspolitische, postkoloniale o.a.) und ihre jeweiligen Kontexte zu illustrieren. „Hier soll nichts ins-

1

2

Der Anspruch, die Grenzen des westlich konzentrierten Kunstfelds und -kanons zu erweitern und die eurozentrische Kunstgeschichte umzuschreiben bzw. umzudeuten, wurde durch die internationale Auswahl der Künstler ebenso unterstrichen, wie durch die Präsentation von kunsthandwerklichen Arbeiten aus nicht-westlichen Kulturkreisen (z.B. Teppichen und Gesichtsschleiern), von denen die ältesten aus dem 14. Jahrhundert stammten. Weitere Grenzüberschreitungen wurden durch die Einladung des Kochs Ferran Adrià, der Modemacherin Omu Sy und der Tänzerin Yvonne Rainer vorgenommen. Diese lokale Verankerung wurde durch die enge Kooperation mit der Kassler Lokalpresse, durch die Veranstaltung eines Eröffnungsfestes auf dem Bergpark, zu dem ausdrücklich alle Kassler Bürger eingeladen wurden und nicht zuletzt durch den Umzug der Familie Buergel/Noack nach Kassel forciert.

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trumentalisiert werden“3, wie Thomas Wagner treffend feststellt. Stattdessen wurde auf das künstlerische Werk vertraut und vom Sichtbaren ausgegangen. Der Fokus des Ausstellungskonzepts lag mithin auf formalen oder thematischen Bezügen zwischen den Arbeiten. Diese Bezüge waren offen angelegt. Sie ließen sich entweder als Erzählungen durch die ganze Ausstellung verfolgen, waren auf einen Raum beschränkt oder ergaben sich zwischen zwei Arbeiten. Es ging darum, die Betrachter für Ähnlichkeiten zwischen den ausgestellten Arbeiten zu sensibilisieren und sie zu eigenen Verknüpfungen anzuregen. Weniger der einzelne Künstler stand im Mittelpunkt als das Wechselspiel von Kunst, Publikum und Raumgestaltung. Es galt mit Buergel einen neuen, einen synthetischen Kontext zu stiften, der dadurch entsteht, dass man die Arbeiten in Verhältnisse setzt und das Publikum in das Gespräch einbezieht, das zwischen den künstlerischen Arbeiten bereits stattfindet.4 Statt den ursprünglichen Kontext der Arbeiten wiederherstellen zu wollen (was automatisch zu Reduktionen und einseitigen Repräsentation führt), wurden diese Kontexte dynamisiert und vervielfältigt. Bezüge wurden angedeutet, aber nicht als einzig gültige inszeniert, um Deutungshierarchien bei der Betrachtung von Kunst zu vermeiden. Um individuelle Erzählungen durch die Ausstellung zu eröffnen, wurde weitgehend auf Interpretationstexte im Ausstellungsraum verzichtet oder betont subjektive Texte präsentiert. Die Kuratoren wollten mit der Ausstellung einen Rahmen schaffen, „der einerseits Verbindlichkeit zu stiften erlaubt, der es erlaubt Fragen scharf zu machen, der andererseits aber auch ein Moment produktiver Beliebigkeit kennt, so dass sich alle Beteiligten, die EditorInnen aus dem Zeitschriftennetzwerk ebenso wie die KünstlerInnen, nicht in einem zu engen Korsett eingezwängt fühlen“5. Parallel zum (inhaltlichen) Rahmen wurden Freiräume eröffnet und Unschärfen formuliert. Dies lässt sich besonders gut am thematischen Rahmen der Ausstellung – dem Motto ‚Migration der Formen‘ und den drei Leitmotiven – thematisieren, die als Anknüpfungspunkt für Künstler, Kritik und Publikum angelegt waren. Die Leitmotive lauteten: 1. Ist die Moderne unsere Antike? 2. Bildung: Was tun? 3. Was ist das bloße Leben? Sie sind in abgewandelter Form auch die Titel der drei Publikationen, die ausgehend von den documenta 12 magazines, Artikel einer Vielzahl internationaler Publikationsorgane zu den Leitmotiven versammelten und damit Ausdruck der

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Wagner: Der Neuanfang, o.S. Vgl. Keine Berührungsängste, Buergel im Gespräch mit Seyfarth/Schreiber, o.S. Die Lehre des Engels, Interview mit Buergel/Noack, S. 106.

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weltweiten Vernetzung der documenta waren. Die Formulierung als Frage bot Raum für vielerlei Annäherungen und Interpretationen. Statt eine Definition vorzugeben, verstanden sie sich als Anregung. Diese Offenheit ist angelegt an die Strategie des Fragenstellens bei Deleuze/Guattari. Die beiden Philosophen geben in ihren Schriften keine Lösungen oder Antworten, sondern unternehmen ‚Wucherungen‘ von Fragestellungen, die jede Form von Festschreibung und Sinnsetzung unterlaufen. In dem sich die Kuratoren an dieser Strategie orientieren, wurde den Momenten des Nicht-Determinierten, des Nicht-Kontrollierten oder des Nicht-Verstehens Raum gegeben. Auf diese Weise wird Eindeutigkeit vermieden und dem damit einhergehenden Verschwinden von Komplexität entgegengewirkt.6 Nicht die komplette Auflösung eines Verstehenszusammenhangs ist das Ziel, sondern dessen In-Bewegungversetzen und die Bewusstwerdung der Relativität dieses Zusammenhangs. Um vorschnelle und kategoriale Zuordnungen zu vermeiden, wurde mit Veränderungen, Übertreibungen und Ironie gearbeitet. Die Nicht-Identifizierbarkeit diente zudem dazu, die Erwartungen an die Ausstellung, die oftmals mit vorgefertigten Bildern und automatischen Projektionen verbunden sind, zu unterlaufen.7 Zu diesem Zweck setzte Buergel alles daran, nicht identifizierbar zu sein: „Alles ist Ironie, alles ist Inszenierung.“8 Die widersprüchlichen wie ironischen Aussagen Buergels riefen häufig Unverständnis hervor, lösten gleichzeitig aber auch die Aussagen und Begriffe aus ihrer ‚ideologischen‘ Umklammerung. In den Worten der Kuratoren geht es darum, „Dinge, die wir nicht verstehen, […] als Werkzeuge [zu betrachten], um die Vorstellung von der Freisetzung gegenüber den bestehenden Verhältnissen zu artikulieren, d.h. zu denken und zu kommunizieren“9.

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Vgl. Die Lehre des Engels, Interview mit Buergel/Noack, S. 116. Vgl. Die Lehre des Engels, Interview mit Buergel/Noack, S. 110. Schreiber: Whoʼs that boy?, o.S. Ironie vermag laut Deleuze die etablierten Systeme zu destabilisieren, da das Komische als ‚vorübergehende Inkonsistenz‘ innerhalb einer gesellschaftlichen oder kulturellen Ordnung verstanden wird. Für einen Moment geraten feststehende Identifizierungen außer Kraft, öffnen sich Möglichkeiten ihrer Distanzierung (vgl. Vogl: Kafkas Komik, S. 76). Auch Draxler verweist auf die Tradition der Ironie seit dem 18. Jahrhundert und verortet ihre Stärke in der Potenzierung der Uneindeutigkeitsfunktion des Ästhetischen (vgl. Draxler: Gefährliche Substanzen, S. 147). Buergel/Noack: Dinge, die wir nicht verstehen, S. 15. Die Ausstellung Dinge, die wir nicht verstehen fand 2000 in der Generali Foundation in Wien statt und nimmt das Konzept der documenta in Teilen vorweg.

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Migration der Formen Die Losung ‚Migration der Formen‘ bildet so etwas wie den thematischen Rahmen für die Ausstellung, war aber so offen formuliert und gedacht, dass sich unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten ergaben. Zunächst lässt sich damit die tatsächliche Migration von Formen beschreiben, also das Wandern und die Weitergabe von Formen, Mustern und Darstellungsweisen. Ein Beispiel hierfür stellt die Arkilla Kerka, ein Hochzeitsteppich aus Mali, dar. Die dort verwebten Muster waren durch islamische Händler auf dem Weg von Nordafrika nach Zentral- und Westafrika im 11. Jahrhundert nach Mali gekommen. In einer anderen Arbeit zeigt der nigerianische Städteplaner und Architekt David Aradeon auf Fotos und Dias die kulturellen Wechselbeziehungen zwischen der westafrikanischen Küste und Brasilien. Anhand der Ähnlichkeiten der Kleidungsstile, der Musik und Architektur wird deutlich, wie mit der Migration von Menschen auch kulturelle Ausdrucksformen migrieren, sich wechselseitig beeinflussen und verändern. Das Aufzeigen der Migration der Formen hilft, die kunsthistorische Einteilung und Ordnung entlang nationaler Grenzen aufzubrechen. Denn „je mehr Reisen man unternimmt und je mehr man sich dadurch bildet, umso stärker [wird] die Einsicht darin, dass es eine historische Migration der Formen gegeben hat, die entlang der Migrationsbewegungen verlief. [...] Doch nach wie vor wird hauptsächlich entlang nationaler Grenzen geforscht.“10 Dies ist allein schon deshalb problematisch, weil viele Künstler zeitweise oder längerfristig im ‚Ausland‘ gelebt haben und eine Identifizierung anhand ihrer Nationalität unzureichend erscheint. Um diesem Problem gerecht zu werden, wurde in der Ausstellung auf die Nennung der Nationalität der Künstler verzichtet und der Fokus auf die Formsprache und das Aufzeigen von Einflüssen und Ähnlichkeiten der ausgestellten Arbeiten gelegt. Neben der Bedeutung der Migration als tatsächliche Wanderung von Menschen und Formen wird Migration als Herstellung von unterschiedlichen, thematischen wie formalen Bezügen zwischen den Arbeiten in der Ausstellung verstanden. Ausgehend vom Material, der Form oder dem Thema, ließen sich Beziehungen zwischen den Arbeiten stiften. So gab es einen thematischen Afrikaschwerpunkt im Auepavillon, einen Raum im Fridericianum, in dem Wasser in allen Arbeiten eine Rolle spielte oder mehrere Teppich- bzw. Wandarbeiten in der documenta-Halle. Die Verbindungen zwischen den Arbeiten ließen sich zu Erzählungen durch einzelne Räume oder die Ausstellung erweitern. Die Idee der Ausstellung war es, Beziehungen zwischen ver-

10 Die Lehre des Engels, Interview mit Buergel/Noack, S. 109.

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schiedensten Kunstwerken sichtbar zu machen und dadurch neue Sinnzusammenhänge zu erzeugen. Nicht ohne Grund sprechen die Kuratoren in Anlehnung an Filmtheorien von der Ausstellung als ‚Erzählbild‘, das von der Montage und der Zueinanderstellung von Bildern lebt.11 Dieses Konzept wurde durch die Präsentation von Arbeiten ein und desselben Künstlers an unterschiedlichen Orten und Zusammenhängen noch unterstützt. Kam es dadurch einerseits zu Wiederholungen einer künstlerischen Position, wurden diese in ihrer Differenz erfahrbar, da durch die unmittelbare Nachbarschaft zu anderen Bildern und den Raumzusammenhang jeweils ein neuer Kontext entstand. Durch die Dynamisierung und Vervielfältigung der Bezüge wurde versucht der Fokussierung auf eine repräsentative kuratorische Inszenierung zu entgehen. Vielmehr ging es darum unterschiedliche Zugänge zur Ausstellung und zu den Kunstwerken zu eröffnen und den individuellen Interpretationen der Besucher Raum zu geben. Es ist Ott zuzustimmen, die die documenta 12 durch das „von ihr geknüpfte Netzwerk künstlerischer Artikulation als zwar andere, aber ebenfalls politische Strategie [verstand]: Unterschiedliche Arbeiten derselben KünstlerInnen wurden an verschiedenen Orten des Ausstellungsareals präsentiert, mit Werken jeweils anderer KünstlerInnen kombiniert und dadurch in je anderen Werkaspekten erhellt, […] um sinnlich-gedankliche Neuverteilungen vorzunehmen und damit andere Rezeptionsweisen, Affizierungen und Einsichten in künstlerische Wechselwirkungen beim Betrachter zu katalysieren.“12

War die Inszenierung an einigen Stellen fast zu plakativ, war sie an anderen Stellen abstrakt oder sinnlos-ironisch. Auf diese Weise wurden die Erzählungen immer wieder unterbrochen und Spannungsmomente inszeniert. Laut Rauterberg lädt die documenta 12 „ein zum Verstehen, aber verordnet kein Verständnis. Will, dass wir Verbindungslinien ziehen, wo keine sind. Dass wir uns Dinge ausmalen, die es nicht gibt.“13 Zuweilen sollten die Zusammenstellungen bewusst

11 Auf der documenta wurde das Konzept der sich verändernden Ausstellung z.B. durch die Hinzufügung von Wandtexten umgesetzt. Exemplarisch lässt sich diese Idee anhand der Arbeit document von Lidwien van der Veen nachvollziehen. Sie übermalte im Wochenrhythmus einzelne an die Wände geklebte Fotografien und fügte neue hinzu. Durch die prozesshafte Arbeitsweise veränderte sie die Form, aber auch die ‚Erzählung‘ ihrer Arbeit und warf zugleich Fragen nach dem Status des Kunstwerks auf. 12 Ott: Zum Verhältnis des Ästhetischen, S. 9. 13 Rauterberg: Die Verschwörung der Formeln, o.S.

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provozieren, wie im Falle der Kombination von Kinderzeichnungen des Künstlers Peter Friedl als Kind und naiv wirkenden Zeichnungen der aus Alaska stammenden Künstlerin Annie Pootoogook. Die beabsichtigten ästhetischen Erfahrungen bestanden sowohl in der Anregung zum eigenständigen Herstellen von Verbindungen als auch in den Erfahrungen der Irritation und Verstörung. Dabei waren die Möglichkeiten des In-Beziehung-setzens abhängig von den räumlichen Gegebenheiten. Bot der Auepavilllon aufgrund seiner Weitläufigkeit die Möglichkeit Erzählungen über eine längere Strecke weiterverfolgen, war dies in der Neuen Galerie mit seinen kleinen Kabinetten schwerer möglich. In der Gemäldegalerie im Schloss Wilhelmshöhe wurden Arbeiten der documenta Künstler in die beständige Sammlung des Museums integriert und zu diesen in Bezug gesetzt. Das ergab manch spannungsvolle Kombination, wie im Falle der vier Porträts schwarzer Häftlinge des amerikanischen Künstlers Kerry James Marshall, die neben eine Serie des holländischen Malers Karel van Mandern mit Darstellungen aus dem Liebesroman Äthiopische Geschichte (ca. 1640) gehängt wurden. In beiden Arbeiten ging es um die Themen Schwarzsein und Ausgegrenztsein, jedoch zu ganz unterschiedlichen Zeiten und Umständen. Überzeugend war, dass es eine Reihe von Arbeiten gab, die das Konzept der ‚Migration der Formen‘ als Ausgangspunkt ihrer Arbeiten nutzten und es in ihren Arbeiten abbildeten. Besonders die Arbeit Album von Luis Jacob bildete das Konzept in klein ab. Sie bestand aus 185 kleinformatigen Collagen, auf denen Bilder aus Magazinen und Kunstkatalogen nach thematischen oder formalen Kriterien zueinander gestellt waren. Jede Collage ermunterte dazu, unterschiedliche Beziehungen zwischen den Bildern zu spinnen. Da die Collagen in einer Reihe nebeneinander hingen, konnte man den Prozess des Beziehungsstiftens auf den anderen Collagen fortsetzen. Einzelne Aspekte wurden wieder aufgegriffen und ließen sich zu Erzählsträngen zusammenfügen. Auch die Arbeit Persepolis von Simon Wachsmuth bestand aus mehreren Teilen, die thematisch und formal miteinander in Bezug standen (ein umfangreicher Fries, ein Film, Collagen und weitere Raumelementen). Sowohl auf dem Fries, als auch im Film und als Objekte im Raum tauchten Stäbe auf, die als Lanzen oder als Kampfsporthilfsmittel auf direkte oder indirekte Weise mit der antiken Ausgrabungsstätte Persepolis im Iran in Verbindung standen. Ortsbezogenheit und Institutionskritik Ein weiteres Anliegen der Kuratoren war die Ortsbezogenheit der Ausstellung, die sich sowohl in der Beschäftigung mit dem Ort Kassel

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und den zur Verfügung stehenden Ausstellungsinstitutionen zeigte, als auch in der lokalen Verankerung in Form ortsspezifischer Arbeiten und Projekte. Neben den üblichen Ausstellungsorten Fridericianum, documenta-Halle und Neue Galerie wurde mit dem Aue-Pavillon ein ganz neues Ausstellungsgebäude errichtet. Erstmalig kam es zu Kooperationen mit der Gemäldegalerie des Schloss Wilhelmshöhe, mit dem Tapetenmuseum und dem Schlachthof, einem Stadtteil- und Kulturzentrum im Norden der Stadt. Ziel der Kuratoren war es die Geschichte dieser Orte zu thematisieren, sie sichtbar zu machen und im zweiten Schritt die Logik und Sichtbarkeit dieser Orte zu verändern. Den architektonischen Eingriffen ging jeweils eine intensive Auseinandersetzung mit den Ausstellungshäusern und ihrer Geschichte in der Tradition der Institutionskritik voraus. Da man es mit Bauten aus unterschiedlichen Jahrhunderten zu tun hatte, die jeweils einem anderen Museumsbild und -besucher verhaftet sind, wurde für jedes Gebäude ein anderes Konzept erarbeitet, das auf die spezifische Raumaufteilung Bezug nimmt. Besonders im Fridericianum ist versucht worden, die Geschichte des Museumsbaus mit auszustellen. So wurden im Zuge von Umbaumaßnahmen Wände herausgerissen, die Fenster freigelegt und die zentrale Eingangstreppe wieder errichtet, wodurch die ursprüngliche Struktur des frühklassizistischen Gebäudes betont wurde. Die Installation von Stellwänden und Vorhängen war eine Anspielung auf die erste documenta, die 1955 von Arnold Bode kuratiert wurde. Dieser griff aufgrund des durch den Krieg in Mitleidenschaft geratenen Gebäudes zur Präsentation der Arbeiten auf Stellwände und Vorhänge zurück. Durch die Öffnung der Ausstellungsgebäude nach außen und einen bewussten Umgang mit ihrer historischen Nutzung sollte Transparenz erlangt und das kritische Bewusstsein für die Orte, ihre Geschichte und historische Funktion geschärft werden. Durch die Thematisierung der Geschichte der Institutionen und die Eingriffe in die vorhandene Bausubstanz steht die documenta exemplarisch für neuere Konzepte von Institutionskritik, die die Trennung zwischen Institution/System und öffentlichem, politischem Raum auflösen und aus den Institutionen heraus ein institutionskritisches, interventionistisches Programm umsetzen. Die Idee, mit dem Aue-Pavillon ein komplett transparentes Gebäude zu errichten, hat sich jedoch als zu ambitioniert herausgestellt. Dieser als einsichtiger Ausstellungsraum konzipierte Pavillon sollte einerseits an ein Gewächshaus erinnern und damit einen Bezug zur gegenüberliegenden Orangerie herstellen, das früher eben dieser Funktion diente. Andererseits sollte es Assoziationen an den ersten Glaspalast wecken, der zur Weltausstellung 1851 in London errichtet wurde. Die Idee war, ein flexibles, kostengünstiges

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Gebäude zu errichten, das aufgrund seiner Offenheit Bezüge zum umliegenden Auepark herstellt und die Kommunikation zwischen innen und außen ermöglicht. Leider kam es zwischen den Kuratoren, Versicherern und Architekten zu weniger produktiven Dissensen, die dazu führten, dass das Gebäude aufgrund von nachträglich vorgenommen Eingriffen viel von seiner Leichtigkeit und Transparenz einbüßte und die Assoziationen an ein Gewächshaus vor allem durch die klimatischen Bedingungen gegeben waren. Neben der Auseinandersetzung mit den konkreten Ausstellungsorten und der Nutzung verschiedener Institutionen in der Stadt gab es darüber hinaus weitere Versuche, die Ausstellung lokal zu verankern: durch ortsspezifische Arbeiten und Projekte, innerhalb derer sich Künstler und Vermittler mit der Stadt auseinandersetzten oder aus dem Ausstellungsraum hinausgingen, um im und mit dem Stadtraum zu interagieren. So baute der thailändische Künstler Sakarin Krue-On auf dem Hang vor dem Schloss Wilhelmshöhe ein Reisfeld an und arbeitete dabei mit Gartenbau-Experten und Freiwilligen aus Kassel zusammen. Danica Dakic entwickelte zusammen mit Kasseler Schülern migrantischer Herkunft die Film- und Klanginstallation El Dorado. Gießbergstrasse, die im Tapetenmuseum und in der Gemäldegalerie zu sehen und zu hören waren. Allan Sekula porträtierte für seine Serie Shipwreck and Workers (Version 3 for Kassel) Hebammen und Friedhofsmitarbeiter aus Kassel und stellte die großformatigen Fotografien im Bergpark auf, während Jürgen Stollhans in seinen Kreidebildern Themen und Orte aus Kassel und seiner Umgebung aufgriff. Zudem gab es ortsbezogene Arbeiten von Martha Rosler (Fotografien), Sanja Ivecovic (Mohnfeld) und Lotty Rosenfeld, die ihre Aktion A Thousand Crosses on the Road von 1974 in Kassel wiederholte. Eine besondere Rolle innerhalb dieser Bemühungen um einen lokalen Bezug nahm der documenta Beirat ein. Dieser fungierte als Forum, in dem ca. 40 Menschen aus Kassel aus den Feldern Bildung, Stadtplanung, Arbeitswelt, Wissenschaft, Sozial- und Migrationsarbeit, Kinder- und Jugendarbeit sowie aus religiösen und kulturellen Lebenswelten zusammenkamen. Diese lokalen Experten bildeten ein Scharnier zwischen der Ausstellung sowie verschiedenen lokalen Öffentlichkeiten und Institutionen. Der Beirat diente einerseits Künstlern und Vermittlern als Ansprechpartner für die lokale Umsetzung ihrer Arbeiten oder Projekte und führte andererseits zu einer Verlängerung der Ausstellung in die ‚soziale Textur‘ der Stadt hinein. Dies zeigte sich in der Initiierung lokaler Anstöße, die sich einer exemplarischen Situation oder einem Thema in der Stadt widmeten. Eines der Projekte, die Mach-Was-Träume, hatten zum Ziel, Brachflächen in der Innenstadt zu markieren und mit Aktivitäten zu füllen. Auf diese Weise

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wurden diese Flächen zunächst sichtbar gemacht und dann unterschiedlichen Aktivitäten zur Verfügung gestellt. Die Initiative documenta – hier mit uns wiederum brachte das Kinder- und Jugendnetzwerk mit Kunstvermittlern der documenta 12 zusammen und führte zu einem Austausch über Methoden und Formate der ästhetischen Bildung. Hier wurde auf der Ebene des Sagbaren verhandelt, was es für Möglichkeiten der konkreten Partizipation und Interventionen im Rahmen einer Ausstellung gibt. Generell zielten die vom Beirat angestoßenen Aktivitäten darauf, Impulse für eine Debatte um die gesellschaftliche und politische Bedeutung der Leitmotive zu geben und das Publikum der documenta 12 zu ermutigen, die Leitmotive und schließlich auch die Kunst auf sich selbst und ihr Umfeld zu übertragen. Um die Leitmotive konkret zu machen, entwickelten die Beiratsmitglieder praxisbezogene und diskursive Aktivitäten und verbanden auf diese Weise Stadtkultur und politik. Der Beirat diente auch vielen Vermittlern als Verknüpfungsinstanz für die lokale Anbindung ihrer Projekte. Diese „richteten sich an Gruppen mit speziellen Interessen und Wissenshintergründen, die eingeladen wurden, die Ausstellung mit den KunstvermittlerInnen zu besuchen und im Anschluss mit verschiedenen Praxisformen auf sie zu antworten“14. Das Problem: „Von der angestrebten lokalen Verankerung der documenta ist in der offiziellen Präsentation fast nichts mehr zu spüren, die Arbeiten des Beirats sind von der Hauptausstellung und dem Katalog quasi ausgegrenzt.“15 Zu diesem Ergebnis kommt die Untersuchung documenta effects und kritisiert die Diskrepanz zwischen Ambition und realer Umsetzung. Trotz dieser Kritik sollte festgehalten werden, dass sich die Ausstellung in besonderem Maße um ein heterogenes Publikum und einen lokalen Bezug bemühte. Auf diese Weise gelang es ihr, mikropolitische Verschiebungen im Stadtraum und auf der Ebene des Sicht- und Sagbaren vorzunehmen.

14 www.documenta12.de/1406.html?&L=0, Stand: 26.10.2008. 15 www.uni-kassel.de/hrz/db4/extern/documentaeffects/popups/abloesung. html?, Stand: 02.09.2007. Auch Wienand kritisiert, dass die Prozesse, die innerhalb der Projekte durch die Zusammenarbeit mit dem Beirat und den Vermittlern entstanden sind, in der Ausstellung nur peripher sichtbar wurden. Sie kommt zu dem Schluss, dass sich der dominante Diskurs der documenta als hartnäckig ignorant gegenüber alternativen Wissensformen erweist (vgl. Wienand: Da geht es doch, o.S.).

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Betonung der ästhetischen Erfahrung Wie bereits angedeutet, wurde dem Betrachter und der subjektiven, ästhetischen Erfahrung eine besondere Rolle zugedacht. Das Hauptaugenmerk lag dabei auf einem Vermittlungskonzept, das integraler Bestandteil des kuratorischen Konzepts war und dezidiert auf die Beteiligung der Besucher setzte.16 Den unterschiedlichen Vermittlungsangeboten war neben ihrer dialogischen Form gemeinsam, dass sie darauf zielten, Reflexionsprozesse anzuregen und (Wissens-)Hierarchien zu vermeiden. Ihr Interesse galt sowohl dem Austausch als auch der Schaffung von unvorhergesehenen konfrontativen Situationen. Die meisten Formate waren dialogisch und experimentell angelegt, sie verstanden sich als Wissenstransfer, als ein unabschließbarer Prozess kultureller Übersetzung, bei dem sich das Wissen der Besucher und die von den Kunstvermittlern angebotenen Kenntnisse und Praktiken verschränkten und widerstreiten konnten. Dieses Vermittlungskonzept entspricht Rancières Verständnis von Wissensvermittlung, das er in seinem Buch Der unwissende Lehrmeister beschreibt: „Im Sprechakt übermittelt der Mensch nicht sein Wissen, er dichtet, er übersetzt und lädt die anderen dazu ein, es ihm gleichzutun. Es kommuniziert als Handwerker, als Benutzer von Wörtern wie von Werkzeugen.“17 In diesem Sinne wollten die Kuratoren mit der Ausstellung einen ‚Sinnzusammenhang‘ schaffen, der vom Einbezug des Publikums lebt.18 Ausgegangen wurde von den ‚sichtbaren‘ Beziehungen und Erzählungen zwischen den Arbeiten, die man sich aufgrund formaler oder thematischer Bezüge und Ähnlichkeiten erschließen konnte. Wie sich diese Beziehungen zwischen Kunstwerken, Raum und Publikum gestalteten, lässt sich an der Eingangssituation des Fridericianums aufzeigen: Da der Eingangsraum mit Spiegeln verkleidet war, wurden die

16 Neben klassischen Vermittlungsformaten, gab es Führungen von Schülern (Die Welt bewohnen), ein Kinder- und Jugendprogramm (aushecken) sowie Projekte der Vermittler, die unter dem Motto Wissenstransfer standen und auf spezifische Öffentlichkeiten zielten. 17 Rancière: Der unwissende Lehrmeister, S. 81. Rancière untersucht in diesem Buch die Rolle des Lehrmeisters anhand eines historischen Beispiels. In Form von fünf Lektionen beschreibt er unterschiedliche Möglichkeiten der intellektuellen Emanzipation, die allesamt auf dem Prinzip der Gleichheit beruhen. Der Lehrmeister tritt hier nicht als Allwissender auf, sondern definiert seine Rolle als Anreger zu eigenem Denken. Es geht darum, diejenigen dazu zu ermutigen, sich zu erheben, die sich niedriger an Intelligenz glauben und sie aus dem Sumpf der Selbstverachtung zu ziehen. 18 Vgl. Die Lehre des Engels, Interview mit Buergel/Noack, S. 109.

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Besucher zunächst mit sich selbst und ihren Erwartungen konfrontiert. Auf den zweiten Blick wurde die Aufmerksamkeit auf den institutionellen Ausstellungsraum und eine dort aufgestellte Skulptur von McCracken gelenkt. In der Betonung dieser drei Komponenten ergab sich das das von den Kuratoren forcierte Zusammenspiel von Kunst, Publikum und Raumgestaltung, dessen Ziel es war, die Besucher zu eigenen Interpretationen anzuregen und sie ihrer konstitutiven Rolle bei der Betrachtung von Kunst bewusst zu machen. In der Anerkennung der eigenen Intelligenz und der Vermittlung eines Gefühls der Gleichheit liegt für Rancière das politische Potential einer Ausstellung (bzw. eine Lehrsituation). Ihm zufolge liegt nicht in der Erklärung eines ‚Lehrmeisters‘ (dem Kurator oder Vermittler) die Emanzipationsmöglichkeit, sondern in der Bewusstmachung der Gleichwertigkeit des eigenen Urteils. Unter emanzipierten Betrachtern versteht er Zuschauer, die als Interpreten aktiv sind. Sie eignen sich Bilder und Geschichten an, machen daraus ihre eigenen Erzählungen und versuchen diese in ihren Alltag zu übersetzen.19 Die Möglichkeit des Geschichtenerzählens wird durch eine Ausstellung begünstigt, bei der der Betrachter in einem emanzipativen Sinne auf sich selbst zurückgeworfen und gleichzeitig zu einem selbstständigen Bestandteil der Ausstellung wird. Durch die Übersetzungstätigkeit kommt es zudem zur Interaktion mit anderen gesellschaftlichen Bereichen. Ermöglicht werden Verschiebungen der Aufteilungen des Sinnlichen – vorausgesetzt „wir verstehen, dass auch Schauen eine Handlung ist, [...] und dass ‚die Welt zu interpretieren‘ bereits bedeutet, sie zu verändern, sie neu zu ordnen“20. Laut Buergel ging es ihnen in diesem Sinne um die Hervorhebung des aktiven Momentes der Selbstkonstituierung in der ästhetischen Erfahrung.21 „Eine politische Ausstellung wie ich sie verstehe, soll den Besuchern das Gefühl geben, über die Ausstellung Teil der kompositorischen Aktivität des Weltmachens zu sein: Also für die Welt, in der wir leben, aktiv Verantwortung zu übernehmen. Zu wissen, dass man Gestaltungsspielraum hat und ihn auch in Anspruch zu nehmen.“22 Ging es einerseits darum, die Ausstellung für die Besucher anschlussfähig zu gestalten, zielte sie andererseits auf irritierende und verstörende Erfahrungen. Durch fehlende Erläuterungen ebenso wie durch ein ironisches Spiel mit den Bezügen und Erwartungen wurde

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Vgl. Rancière: The Emancipated Spectator, S. 51. Rancière: The Emancipated Spectator, S. 44. Vgl. Die Lehre des Engels, Interview mit Buergel/Noack, S. 116. http://documenta12.de/Geschichte0.html?&L=0, Stand: 02.09. 2007.

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die Überforderung der Betrachter bewusst in Kauf genommen. Die Kuratoren gingen so weit, bewusst falsche Fährten zu legen: „Wenn die BetrachterInnen selbstständig zu dem Schluss kommen, dass manche Bezüge unsinnig sind, haben wir eines unserer Ziele erreicht.“23 Aus diesem Grund zielten sie auf Erfahrungen von Kontingenz, von Identifikationsverlust und Beziehungslosigkeit.24 Buergel spricht vom Einbrechen des Unerwarteten in die Realität, von Auflösungs- und Krisenerfahrung, die für ihn eine anthropologische Konstante darstellen.25 Es handelte sich um eine „Realität, in der es keine Grenzen und festen Bezugspunkte, keinen Anfang und kein Ende gibt, in der, um es vereinfacht zu sagen, das Subjekt-Objekt-Verhältnis auf den Prüfstand kommt“26. Buergel hebt hervor, dass ästhetische Erfahrungen keinen falschen Halt suggerieren, „sondern lehren [sollen], Spannungen und Komplexität auszuhalten.“27 Dieser Anspruch wird an anderer Stelle präzisiert: „Es war uns wichtig, den Besuchern, vor allem den Laien, klar zu machen, dass diese Form von Verunsicherung per Konfrontation mit dem ganz Anderen selbst Teil des Erfahrungsprozesses und deshalb auch sinnvoll und kein Zeichen dafür ist, dass sie etwas nicht verstehen. [...] Das Nicht-Verstehen ist doch der Beginn eines Aufbruchs zu neuen Ufern.“28 Rebentisch spricht in diesem Zusammenhang von einer reflexiven Distanzierung des Weltverstehens.29 Sie meint damit, dass die Ausstellung die Besucher mit ihrem Sehen und dem damit einhergehenden Prozess der Interpretation und Bedeutungsgebung durch Vorurteile und Projektionen konfrontieren kann. Dies geschieht zumeist, wenn Irritationen auftreten oder die gängige Interpretation ins Leere läuft. Ästhetische Erfahrung wird nach Rebentisch zu einem Prozess zwischen Subjekt und Objekt, „in welchem dem Betrachter seine eigenen kultu-

23 Die Lehre des Engels, Interview mit Buergel/Noack, S. 109. 24 Vgl. Buergel: Der Ursprung, S. 18f. Als Vorbild für die Inszenierung von Erfahrungen der Kontingenz diente Buergel die erste documenta von Arnold Bode. Diese verzichtete auf eine Präsentation nach kontinuierlichen Formschicksalen, bezog aber ‚fragmentierte, ja traumatisierte Existenzen‘ in das kompositorische Tun mit ein. Auf diese Weise gelang es ihr laut Raunig, Erfahrungen radikaler Kontingenz zu vermitteln, was grob gesagt den Brüchen der Moderne entsprach (vgl. S. 19). 25 Vgl. Die Lehre des Engels, Interview mit Buergel/Noack, S. 115. 26 Buergel: Der Ursprung, S. 24. 27 Die documenta 12, Interview mit Buergel, o.S. 28 Die Lehre des Engels, Interview mit Buergel/Noack, S. 117. 29 Vgl. Rebentisch: Ästhetische Gemeinschaft, o.S.

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rellen und sozialen Prägungen potentiell so entgegentreten, dass er sich selbstreflexiv fremd wird“30. Ähnlich wie Rancière schreibt sie dem Ausstellungsbesuch das Potential zu, den Betrachter zu seinen alltäglichen Welt- und Selbstverständnissen in ein ‚Verhältnis reflexiver Transformation‘ zu setzen. Fasst man die unterschiedlichen Aspekte zusammen, die hier unter dem Begriff ‚Ästhetische Erfahrung‘ versammelt sind, fällt auf, dass die formulierten Ansprüche z.T. in einem scheinbaren Widerspruch zueinander stehen. Soll die Ausstellung einerseits anschlussfähig sein und Momente des produktiven Aneignens und Übersetzens bereitstellen, werden andererseits Erfahrungen der Irritationen und Überforderung initiiert. Ein weiteres Spannungsfeld wird eröffnet, indem einerseits Vermittlungs-, Bildungs- und Emanzipationsprozesse stark gemacht, andererseits aber die Momente der entrückten Kontemplation und des Nur-Sehens betont werden.31 Den Kuratoren geht es nicht nur um die subjektive Kontemplation, sondern auch um die Formen des Miteinanders, die eine Ausstellung stiften kann, die Diskussion und Verhandlungsprozesse, die sie anstößt. Dieses Spannungsfeld unterschiedlicher Absichten inszenierten die Kuratoren ganz bewusst – auch wenn dadurch die Gefahr bestand, dass die einzelnen Argumente nivelliert und beliebig zu werden drohten. Für Buergel/Noack war das Prinzip des Sowohl-als-auch, das zu widersprüchlichen Aussagen führte, auch eine Strategie, spielerisch mit den hohen Erwartungen, die an eine Ausstellung dieser Größenordnung gestellt wurden, umzugehen,

30 Rebentisch: Ästhetische Gemeinschaft, o.S. 31 Die Konzentration auf die unmittelbare ästhetische Erfahrung der Arbeiten erinnert an die Betonung des Nur-Sehens bei Deleuze, der diesem Moment deterritorialisierendes Potential zuschreibt. „Die Verwandlung in ein NurSehen, in ein Bloß-Empfinden ist ein notwendiges Fremdwerden, das womöglich im Kontext totaler und universaler Vermittlung einen destruktiven Charakter annimmt.“ (Bildkritik, Interview mit Vogl, S. 103.) Es geht um das Öffnen auf das Nicht-Planbare und Unvorhersehbare, das unmittelbar zustößt und sich einem rationalen, distanzierenden Zugriff entzieht. Es stellt sich jedoch die Frage, ob eine solche Erfahrung tatsächlich gelingen kann. So stellt Rebentisch die Idee einer ästhetischen Unmittelbarkeit auf Seiten der Erfahrung generell in Frage, „denn es ist keine ästhetische Erfahrung jenseits eines Bezugs auf Bedeutung denkbar.“ (Rebentisch: Ästhetische Gemeinschaft, o.S.) Ist Rebentisch in diesem Punkt Recht zu geben, sollte die Forderung nach entrückter Kontemplation jedoch nicht in ihrer Singularität, sondern in dem Spannungsfeld widersprüchlicher Aussagen bewertet werden.

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konnte man doch immer darauf verweisen, dass man diese in gewissem Maße umsetzte. Die Ausstellung als Grenz- und Verhandlungsraum Aufgrund der zuvor beschriebenen, widersprüchlichen Setzungen lässt sich die Ausstellung als Grenzraum bezeichnen, der durch die Gleichzeitigkeit sich scheinbar widersprechender Entwürfe, Begriffe und Interpretationen gekennzeichnet ist. Dies zeigt sich auf mehreren Ebenen: Die politischen Ansätze der 90er Jahre werden einerseits fortgesetzt und aktualisiert, aber durch die Kombination mit formalästhetischen Arbeiten in ihrer vormaligen Dominanz relativiert. Institutionskritische Auseinandersetzungen mit den Ausstellungsorten und dem System documenta finden ebenso statt wie ein Rückgriff auf Begriffe wie Autonomie, Bildung und ästhetische Erfahrung. Kunst wird im öffentlichen Raum und in der ständigen Kunstsammlung des Schlosses Wilhelmshöhe präsentiert. Neben der lokalen Verankerung und Anbindung der Ausstellung wird eine globale Vernetzung initiiert. Im Kunstmarkt wie im Kunstdiskurs etablierte Positionen wie Gerhard Richter oder Gerwald Rockenschaub werden parallel zu vernachlässigten und randständigen Positionen gezeigt, wie Charlotte Posenenske, Poul Gernes oder Lee Lozano, die dem Kunstfeld zeitlebens den Rücken gekehrt hatten. Es entstand ein spannungsgeladener Grenzraum, in dem dichotomische Einteilungen in Politik oder Ästhetik, links oder rechts, on oder off in Bewegung gerieten. In seiner Uneindeutigkeit entspricht dieser Grenzraum der Ununterscheidbarkeit des ästhetischen Regimes von Rancière bzw. der Zone der Ununterscheidbarkeit von Agamben. Dieser beschreibt mit diesem Begriff Erfahrungen und Orte, die durch die Auflösung eindeutiger Dichotomien geprägt sind und dadurch mit Gefühlen der Ambivalenz und des Hin- und Hergerissen-Seins verbunden sind. Da eindeutige Grenzen verwischen, handelt es sich um eine Erfahrung des auf der Schwelle-Seins: im Dazwischen unterschiedlicher Optionen und Setzungen. Neben der Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Setzungen und der konzeptuellen Offenheit, war es die Unabschließbarkeit der zu stiftenden Verbindungen in der Ausstellung, die dieses Gefühl noch unterstützte. Mit jeder Situation und jedem Raum war eine neue Annäherung und Bewertung möglich. Die Ausstellung bildete einen unabschließbaren Verweiszusammenhang, in dem Identifizierungen aufgrund der Nationalität der Künstler ebenso unterbrochen wurden, wie eindimensionale Erzählungen durch die Ausstellung.

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Dies führte einerseits zu der von Rebentisch geforderten reflexiven Distanzierung, da die Betrachter auf sich und ihre Herangehensweise zurückgeworfen werden und gezwungen sind, die eigene Disposition in Frage zu stellen. Andererseits wurde die Ausstellung zu einem Verhandlungsraum unterschiedlicher Meinungen und Herangehensweisen. Buergel spricht in seinem Text Der Ursprung in diesem Sinne von der documenta als einem Labor zur Herstellung, Ausstellung und Herausstellung einer Ethik des Miteinanders.32 Um die documenta zu einem solchen Labor und Verhandlungsraum zu machen, gab es verschiedene Eingriffe, die auf die Anregung von Kommunikation und Aushandlungsprozessen zielten. So sind die Vermittlungsangebote dialogisch aufgebaut und zielen auf eine nicht-hierarchische Form der Auseinandersetzung, ebenso wie die künstlerischen Projekte und Aktivitäten des Beirats auf Interaktion und eine Verschiebung des Sicht- und Sagbaren angelegt sind. Mit den magazines wurde eine weitere diskursive Plattform zur Verhandlung der Leitmotive geschaffen. Die Leitmotive waren ebenso wie das Thema ‚Migration der Formen‘ bewusst offen gehalten nach dem Motto: „Die documenta ist ein Versuch, eine Kontroverse zu entfachen, über die Ausstellungsform sowie darüber, wie man durch Kunst auch im Hinblick auf gesellschaftspolitische Fragen zu Substanz kommt. Ich hätte ein Interesse, dass der Kunstbetrieb aus der von ihm zelebrierten Autoerotik herausfindet. Dass da endlich mehr riskiert wird.“33 Dass die Kuratoren es geschafft haben eine kontroverse Auseinandersetzung über die documenta anzuregen, zeigt sich u.a. an den vielen kritischen Stimmen zur documenta. Gab es im Vorfeld der documenta noch positive Ausblicke (Hanno Rauterberg stellte in der Zeit eine Revolte in Kassel in Aussicht und Thomas Wagner spricht in der FAZ von einem Neuanfang), überwog am Ende die negative Berichterstat-

32 Vgl. Buergel: Der Ursprung, S. 20. Rebentisch hinterfragt jedoch das ‚ästhetische Wir‘ und den universalistischen Anspruch der hierin mitschwingt, „Kunst wirkt, wenn überhaupt, nicht deshalb in die Gesellschaft zurück, weil in der Universalität ihrer Erfahrung so etwas, wie eine Ethik des Miteinanders hergestellt oder antizipiert würde“. (Rebentisch: Ästhetische Gemeinschaft, o.S.) Es geht stattdessen um die je konkrete Subjektivität der Rezipienten. Und auch Rancière begegnet dem Ausdruck ‚Ethik‘ skeptisch. Er distanziert sich von der beobachteten, ethischen Wende und dessen konsensuellen Tendenzen (vgl. Rancière: Unbehagen in der Ästhetik, S. 127). 33 Die Lehre des Engels, Interview mit Buergel/Noack, S. 128.

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tung.34 Beim Vergleich der Kritiken fällt deren Heterogenität und unterschiedliche Argumentationsweise auf. Statt die Ausstellung in ihrer Gesamtheit darzustellen, griffen die meisten Artikel einen Aspekt heraus und konzentrierten sich auf die Person Buergel, die Beliebigkeit der Präsentation oder die Vagheit der Aussagen. Man merkt den Positionen die Schwierigkeiten an, über eine Ausstellung zu schreiben, die aus mehreren Organen, Ausstellungsorten und kuratorischen Setzungen bestand und aus verschiedenen Perspektiven ‚lesbar‘ war. Irritierend wirkten neben den widersprüchlichen und ironischen Aussagen der Kuratoren, vor allem der Gebrauch von Substanzbegriffen wie Autonomie, Schönheit und Bildung, der vor allem von linker Seite fast reflexhaft kritisiert wurde. So sprechen Niklas Maak und Julia Voss angesichts dieses Gebrauchs von einem essentialistischen Rückwärtssalto.35 Die Komplexität der Ausstellung erschwerte ihre Einordnung und Bewertung mit traditionellen Kategorien und Denkschemata. Von einigen wurde sie aufgrund der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Setzungen als beliebig oder willkürlich wahrgenommen, wie dieses Zitat von Holger Liebs belegt, der über die Ausstellung schreibt: „Es paradieren die Stile und Formen, Dokumente und Techniken verschiedenster Epochen und Weltteile in einer Willkür, nach einem geheimen Plan, über diese documenta als habe es den Kunstkanon der westlichen Welt nie gegeben.“36 Was auch als Kompliment aufgefasst werden könnte, ist hier negativ gemeint: Liebs bezeichnet das Ergebnis als künstlerischen Privatkosmos, der auf die beiden Herrscher der documenta Buergel/Noack zurückzuführen ist, den „wahren Diktatoren der Geschmacksbildung und der Ausstellungsinszenierung“37. Ist der Kritik in Einzelfällen Recht zu geben, wird meiner Meinung nach zu oft vernachlässigt, dass die Ausstellung auf breiter Ebene eine Diskussion über kunstspezifische und gesellschaftspolitische Themen

34 Vgl. den Rückblick auf die documenta in Texte zur Kunst (Heft 67); den documenta-workshop des Sonderforschungsbereiches 626 über Die ästhetische Ordnung der Documenta vom 09.11.2007, bei dem auch die Kuratoren selber anwesend waren (vgl. www.sfb626.de/veroeffentlichungen documenta_workshop/index.html, Stand: 05.01.2008) sowie die vorwiegend kritischen Beiträge auf www.thing-hamburg.de, Stand: 17.02.2008). 35 Vgl. Maak/Voss: So geht das alles nicht weiter, o.S. 36 Liebs: Boudoir und Baumarkt, o.S. 37 Liebs: Boudoir und Baumarkt, o.S. Vgl. auch Dusini, der von Buergels bildungsbürgerlichem Kindergarten spricht und das Herausstellen des pädagogischen Impetus der Arbeiten sowie die ‚Fetischisierung des Marginalen‘ beanstandet (vgl. Dusini: Lasset 1000 Blumen blühn, o.S.).

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angestoßen hat und Angriffe auf den Kunstkanon vornahm. Die heterogenen Reaktionen sprechen für die These, dass die Ausstellung aufgrund ihrer Komplexität und den widersprüchlichen und ironischen Aussagen der Kuratoren als ein Grenzraum und eine Zone der Ununterscheidbarkeit wahrgenommen wurde. Mit Deleuze/Guattari ließe sich von einem hereinbrechenden Chaos sprechen. Anhand dieses Begriffs lässt sich treffend die Ambivalenz des Konzepts eines Grenzraums nachzeichnen. Das Hereinbrechen des Chaos bringt die Dinge in Bewegung, es vermag gängige Interpretationsschemata und Dichotomien zu hinterfragen und ‚jede subjektive Selbstgewissheit‘ zu erschüttern.38 Doch geht es nicht darum, alles im Chaos aufzulösen. Mit Deleuze/Guattari lassen sich Philosophie, Kunst und Wissenschaft als Strategien bezeichnen, die das Firmament zerreißen und uns ins Chaos stürzen wollen, aber zugleich permanent Ebenen aus dem Chaos ziehen – und damit Orientierung und Anknüpfungspunkte bieten.39 So verhindert die Kunst durch die Schaffung einer Kompositionsebene, dass sich das Chaos zur tödlichen Katastrophe ausweitet. Deleuze/Guattari fordern also dazu auf, sich immerzu in Richtung Chaos zu bewegen, ohne jemals im Chaos anzukommen. Dasselbe gilt für die Bewegung der Grenzüberschreitung: statt die Grenze tatsächlich zu überschreiben, geht es permanent um die Bewegung auf und in der Grenze (bzw. dem Grenzraum). Statt gegen das Chaos sollte man mit dem Chaos kämpfen und die Dynamiken entweder beschleunigen oder verlangsamen, aber eben nicht zum Stillstand oder einem Endpunkt bringen. Folgt man dieser Argumentation, dürfte es nicht das Ziel der Kuratoren sein, ein Chaos zu produzieren, das rein destruktiv erfahren wird. Erlebt man die Ausstellung als hermetisch abgeschlossen und nach einem nicht nachvollziehbaren System geordnet, reproduzieren sich Bedeutungshierarchien und Frustrationen. Die Folge ist eine abwehrende Überforderung, sowie der Eindruck von Arroganz und Unverbindlichkeit bezüglich des kuratorischen Konzepts. Den Kuratoren gelang es nicht immer ihre Ansprüche umzusetzen und zu vermitteln, denen zufolge sie einen offenen Raum vielfältiger Verbindungen und Interpretationen schaffen wollten, wie sie im Interview beteuern: „Wir unterwerfen die Werke keiner Idee. Vielmehr sind wir aufgrund der Gespräche, die wir mit Künstlern geführt, und aufgrund der Erfahrungen, die wir in all den Jahren gesammelt haben, als Subjekte erheblich

38 Vgl. Ruf: Fluchtlinien, S. 114. 39 Vgl. Deleuze/Guattari: Was ist Philosophie?, S. 239.

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durchlässiger geworden.“40 Eine Ausstellung sollte ihre eigenen Mechanismen transparent machen und Anknüpfungsmöglichkeiten bieten, die den Einstieg erleichtern. Erst dann ist es möglich in das Spiel der Assoziationen und Verbindungen einzutauchen, zu dem die Kuratoren anregen wollten und in einem zweiten Schritt eine kritische Distanz zu dem Gesehenen einzunehmen. An einigen Stellen wären verstärkte Hinweise auf die Ironie und Offenheit des Konzepts hilfreich gewesen – nicht um die Komplexität aufzulösen, sondern um den Einstieg in den Prozess des Einlassens zu erleichtern. Fasst man zusammen, ist die documenta das Ergebnis einer Haltung zwischen Unverbindlichkeit und emanzipativem Anspruch, zwischen ironischer Brechung und der Begründung einer Ethik des Miteinanders, zwischen Intellektualität und dem Wunsch nach Transparenz und Verständlichkeit. Besonders Buergel zelebriert mit seinen Aussagen und seinem Auftreten diese ambivalente Haltung. Falk Schreiber stellt fest: „Der documenta-Chef ist gleichzeitig edel und charmant, verbindlich und oberflächlich. Er ist geistreich und redet großen Quatsch.“41 Was bleibt, ist „Verunsicherung. Intellektuelle Überforderung. Und Spaß, leidenschaftlicher, sinnlicher Spaß“42. Zwar konnte nicht jeder diesen Spaß teilen, doch machten die Offenheit der Ausstellung und die bewusste Inszenierung von Momenten des NichtVerstehens die Ausstellung in jedem Fall zu einem Verhandlungs- und Spannungsraum unterschiedlicher ästhetischer Erfahrungen, Meinungen und Zugänge. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik auf der documenta 12 Die Beschreibung der documenta 12 als Grenzraum charakterisiert die Ausstellung als einen Ort der Gleichzeitigkeit von Politik und Ästhetik. Dies bestätigt Buhr, wenn sie schreibt, der documenta gelinge es „Schluss zu machen, mit der leidigen Opposition zwischen dem Politischen und dem Schönen, zwischen dem Engagement und der Form“43. Es wurden Arbeiten gezeigt, die politische Emanzipation und Sinnlichkeit (durch die Produktion von Affekten) verbinden. Die gesellschaftliche Anbindung der Arbeiten und der Ausstellung ist den Kura-

40 41 42 43

Die Lehre des Engels, Interview mit Buergel/Noack, S. 106. Schreiber: Whoʼs that boy?, o.S. Schreiber: Whoʼs that boy?, o.S. Vgl. Buhr, die davon spricht, dass es der documenta 12 gelinge „Schluss zu machen, mit der leidigen Opposition zwischen dem Politischen und dem Schönen, zwischen dem Engagement und der Form“. (Buhr: Schule des Sehens, o.S.)

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toren ebenso wichtig wie die Betonung ihrer ästhetischen Autonomie. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen künstlerischen und kuratorischen Strategien und Interventionen, was sich insbesondere an der Gründung des Beirates und der institutionskritischen Auseinandersetzung mit den Ausstellungsorten zeigt. Die Ausstellung kombiniert vermeintliche Gegensätze miteinander und setzt sie auf spannungsvolle Weise miteinander in Verbindung. Es entstand ein Raum sich scheinbar widersprüchlicher Setzungen, in dem die Einteilungen in Kanon oder Anti-Kanon, politisch oder unpolitisch, links oder rechts nicht mehr zu greifen schienen, wie durch folgendes Zitat der Kuratoren noch unterstrichen wird: „Die Ausstellung ist eine Frechheit, sie ist dreist, weil sie bewusst vieles ignoriert. Zum einen den Kanon. Also das, was vom Markt, dem Museumssystem und der deutschen Szene, die in der Regel nicht reist, abgesegnet ist oder werden kann. Darüber hinaus ignorieren wir den AntiKanon.“44 Dabei geht es der Ausstellung nicht um die Auflösung dieser Gegensätze, sondern um die Aushandlungsprozesse und Konflikte, die durch das Aufeinandertreffen dieser unterschiedlichen Aufteilungen des Sinnlichen entstehen. Solche Erfahrungs- und Handlungsräume wurden auf verschiedenen Ebenen eröffnet: Auf der Ebene der Ausstellung, in der vom Sichtbaren ausgegangen wurde, auf der Textproduktion- und Vermittlungsebene, die die Ebene des Sagbaren betrifft, und auf der strukturellen Ebene, die sowohl die Logik des Systems documenta, die Ausstellung und die Ausstellungsorte, als auch die Kooperationen mit anderen Institutionen und die Interventionen in die Stadt umfasste. Durch transversale Kooperationen zwischen verschiedenen Institutionen, der Gründung des Beirates und der Durchführung von Kunst- und Vermittlungsprojekten wurden heterogene Öffentlichkeiten miteinander in Bezug gesetzt und die Ausstellung in die soziale Struktur der Stadt verankert. Auf diese Weise wurden unterschiedliche Aufteilungen und Auffassungen des Sinnlichen miteinander konfrontiert und bekamen die Möglichkeit sicht- und sagbar zu werden. Besonders durch die Vermittlungsprojekte wurden Themen und Erzählungen verhandelt, die sonst kaum Eingang in die Ausstellung gefunden hätten. Im Sinne Rancières wurde die Ausstellung so zu einem Ort der Gleichheit unterschiedlicher Meinungen und Zugänge, die hier verhandelt und mit alltäglichen Erfahrungen verknüpft werden konnten. Der Ausstellung gelang es auf diese Weise, „die Konfiguration

44 Die Lehre des Engels, Interview mit Buergel/Noack, S. 125.

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von Zeiten und Räumen, die das herrschende soziale Beziehungsnetz ausmacht, neu aufzuteilen“45 und damit politisch zu agieren. Damit werden die politischen Ansätze der 90er Jahre einerseits fortgesetzt und andererseits um ein Politikverständnis ergänzt, das in der Schaffung von Verhandlungs-, Spannungs- und Möglichkeitsräumen auf vielfältigere Weise Einsatzorte des Politischen hervorbringt.46 Neben dokumentarischen und politisch informierenden Arbeiten sowie dem eindeutigen Ziel der ‚Bildung‘, gab es zahlreiche Arbeiten und kuratorische Setzungen, die Erfahrungen der Instabilität, der Überforderung, der humorvollen Brechung und der Ambivalenz hervorriefen – Erfahrungen, die insbesondere von den Poststrukturalisten als politisch interpretiert werden. Die Ausstellung veranschaulicht auf diese Weise nicht nur das Umdenken der Grenzüberschreitungen hin zu Grenzräumen und Grenzbewegungen, sondern belegt auch die herausgearbeitete Modifizierung des Politischen.

45 Rancière: Bild, Beziehung, Handlung, S. 40. 46 Vgl. Rancière: Ist Kunst widerständig?, S. 107.

5. Fazit: Von der einmaligen Überschreitung der Grenze zu permanenten Grenzbewegungen

„Das Ziel der Überwindung liegt nicht jenseits der Grenze, sondern in der Überwindung selbst.“ 1 BÜRO FÜR KOGNITIVEN URBANISMUS

Dieser Arbeit ging es zunächst darum, den Begriff der Grenzüberschreitung in seiner Vielfalt darzustellen, seinen Gebrauch und seine unterschiedlichen Bedeutungen herauszuarbeiten. Wie die vielschichtigen Beispiele und die Kategorisierung der Bewegungen gezeigt haben, stellt die Überschreitung von Grenzen ein zentrales Motiv künstlerischer Praxis dar und lässt sich als eine der am häufigsten gebrauchten Kategorien beim Schreiben über Kunst bezeichnen. Der Begriff wird zumeist verwendet, um das Neue und Provokante von künstlerischen Arbeiten oder Ausstellungen zu betonen und sie von anderen abzugrenzen. Doch die Grundlage für Grenzüberschreitungen scheinen abhanden zu kommen: territoriale und gesellschaftliche Grenzen lösen sich zunehmend auf, sei es durch die Globalisierung oder eine zunehmende Liberalisierung. Durch die Vielzahl der bereits begangenen Grenzüberschreitungen kann der Eindruck entstehen im Kunstfeld wären Provokationen kaum mehr möglich und der Kunstbegriff bereits soweit erweitert, dass alles Kunst sein kann, wie im ‚anything goes‘ der 80er Jahre angedeutet wird. Nach dem Motto: „Die Revolutionen fanden alle schon vor Jahrzehnten statt, und das aufnahmebereite Publikum hat sich längst allen Neuerungen anbequemt, spielt mit, ist mal

1

Büro für kognitiven Urbanismus: Last Minute, S. 12.

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animiert, mal gelangweilt.“2 Grenzüberschreitungen würden damit zu einer Art Pflichterfüllung verkommen – ohne tatsächlich für Aufruhr und Verschiebungen zu sorgen. Dieser Arbeit ging es darum, diese Thesen zu revidieren. Entgegen der Vorstellung Grenzen würden verschwinden, wurde ausgeführt, wie sich Grenzen permanent neu konstituieren und ihre Gestalt ändern. Es handelt sich weniger um eine Auflösung von Grenzen als um ihre Verschiebung. Schroer bringt es auf den Punkt: „Grenzen verschwinden nicht, sondern ändern nur ihren Ort oder ihre Gestalt, verschwinden an einem Ort, um an einem anderen wieder aufzutauchen, verwandeln sich von deutlich sichtbaren in weniger klare, unsichtbare Grenzen.“3 Dies gilt sowohl für territoriale und gesellschaftliche als auch für die Grenzen des Kunstfeldes. Zwar wird im Zuge der Globalisierung der Eindruck erweckt, man befinde sich in einer Welt der grenzenlosen Daten-, Waren- und Personenströme. Doch werden die Grenzen in den meisten Fällen nicht aufgelöst, sondern nur verschoben, wie in Europa zu beobachten ist: Die Staatsgrenzen werden zu Europagrenzen, innerhalb derer man sich frei bewegen kann, die jedoch für ungewollte Flüchtlinge fast unüberwindbar sind, wie der Begriff ‚Festung Europa‘ unterstreicht. Die Grenzenlosigkeit gilt hier nur für bestimmte Personenkreise. Auf gesellschaftlicher Ebene sorgen u.a. sich verstärkende religiös motivierte Kräfte dafür, dass Kunst weiterhin Skandale provozieren kann. Die Beweglichkeit von Grenzen zeigt, dass sich Grenzen mit gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Entscheidungen verändern und Gegenstand permanenter Auseinandersetzungen sind. Laut Rollig/Sturm müssen „die Verhandlungen […] stets neu geführt, die Grenzen immer wieder neu gezogen werden“4 und Draxler bemerkt: „Grenzen sind ja nicht gegeben, sondern werden permanent gesetzt, verhandelt und produktiv gemacht.“5 Sie sind an ein ästhetisches Regime gekoppelt, das diese verhandelt, sie sicht- und sagbar macht. Ebenso wie die Grenzen selbst, ist dieses Regime dynamisch und unterliegt historischen Veränderungen. Damit wird deutlich, dass Grenzüberschreitungen nicht an Aktualität und Bedeutung verloren haben. Gleichwohl wird für ein Umdenken von Grenzüberschreitungen plädiert und ein Verständnis von Grenzüberschreitungen entworfen, das nicht mehr die Überschreitung der Grenze in den Mittelpunkt stellt, sondern die Prozesse auf der Grenze:

2 3 4 5

Seibt: Wo die Sinne, o.S. Schroer: Räume, S. 223. Rollig/Sturm: Dürfen die das?, S. 15. Draxler: Gefährliche Substanzen, S. 23.

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das Zaudern und die Dynamik ob der verschiedenen Möglichkeiten des Überlagerns und In-Beziehung-setzens heterogener Aufteilungen des Sinnlichen. Aber auch die Konsequenzen, die diese Prozesse auf den Grenzraum und die Bereiche hinter der Grenze haben. Damit ist das zweite Ziel dieser Arbeit benannt: die Ausdehnung der Grenzüberschreitung im zeitlichen und räumlichen Sinne hin zu Grenzbewegungen und Grenzhaltungen. Die Erarbeitung dieser Konzepte stützt sich maßgeblich auf die Auflösung eines Denkens des Entweder-Oder durch poststrukturalistische und postkolonialistische Ansätze. Binäre Oppositionen und Abgrenzungen werden ersetzt durch ein Sowohl-als-auch, durch ‚Dritte Räume‘ und Erfahrungen der Ambivalenz und Hybridität. Dichotomische Gegenüberstellungen von Ästhetik vs. Politik, engagierter Kunst vs. kapitalistischer Logik, Macht vs. Gegenmacht, Innen vs. Außen lösen sich dabei zwar nicht in Luft auf, geraten aber in Bewegung und oszillieren auf der permanenten Neufindung ihres Verhältnisses zwischen den unterschiedlichen Polen innerhalb eines Grenzraums.Diese Dynamik lässt sich u.a. an der Verschiebung der Rollen im Kunstfeld festmachen: „Insgesamt ist die Einteilung KünstlerIn-Galerie-SammlerIn-InstitutionKollektiv-alternative Ökonomie eher ein System komplizierter Überschneidungen, Verflechtungen und Übergänge als eine Verknüpfung simpler Gegensätze. Insbesondere die Gegenüberstellung Institutionen versus Kollektive oder alternative Ökonomien greift in vielerlei Hinsicht zu kurz.“6

In den Fokus tritt ein Denken, das nicht zwischen Dichotomien unterscheidet, sondern das Dazwischen stark macht. Laut Deleuze/ Guattari bezeichnet „Zwischen den Dingen […] keine lokalisierbare Beziehung, die von einem zum andern geht und umgekehrt, sondern eine Pendelbewegung, eine transversale Bewegung die in die eine und die andere Richtung geht, ein Strom ohne Anfang oder Ende, der seine beiden Ufer unterspült und in der Mitte immer schneller fließt“7. In der Mitte wird ein unabschließbarer Aushandlungsprozess initiiert. Es entsteht ein Raum des Unbestimmten. Gegensätze und Differenzen werden nicht aufgelöst, sondern auf konfrontative Weise miteinander in Bezug gesetzt. Statt um ihre Nivellierung und Einebnung geht es um ihr Aushalten und ihr ‚Produktivwerden, denn durch die Konfrontation mit dem Anderen ergeben sich temporäre Möglichkeiten von Umdeu-

6 7

Bauer: komplex berlin, S. 45. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 42.

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tungen und Perspektivverschiebungen. Es entstehen politische und potentielle Handlungsräume, die historisch gewachsene Autoritäten und Machtverhältnisse zur Disposition stellen. Hier deutet sich ein Verständnis des Politischen an, das dem ausgearbeiteten Umdenken des Politischen entspricht und unten noch einmal ausführlicher zusammengefasst wird. Zunächst werden jedoch die entwickelten Konzepte des Grenzraums, der Grenzbewegungen und der Grenzhaltung eingehender vorgestellt. Grenzraum Die Grenze dehnt sich zu einem Grenzraum aus, wird weniger als Linie denn als Ort des Dazwischen gedacht, als „Ort, von woher etwas sein Wesen beginnt“8. Hier werden unterschiedliche Länder, Identitäten und Kulturen nicht nur voneinander abgrenzt, sondern auch miteinander in Bezug gesetzt. Diese treffen im Grenzraum aufeinander, überlagern sich und bringen neue Identitäten, Strategien und künstlerische Verfahrensweisen hervor. Aus diesem Grund kommt den Grenzräumen ein konstitutiver Moment zu. Die Konstitutivität von Grenzen wurde am Beispiel der Videoarbeit performing the border von Ursula Biemann herausgearbeitet. Sie widmet sich in diesem Film der Grenze zwischen Mexiko und den USA, die sich an einigen Orten zu einem buchstäblichen Grenzraum mit eigenen Zoll- und Arbeitsgesetzen erweitert hat. Zu einer Ausweitung der Grenze kommt es aber auch, weil diese Auswirkungen auf die Menschen hat, die sie überqueren wollen oder in ihrer Nähe arbeiten und leben. Biemann zeigt die gesellschaftlichen und subjektiven Veränderungen, die diese spezielle Grenzsituation mit sich bringt: den Zuzug weiblicher Arbeiterinnen, die Veränderungen im Freizeitangebot der Stadt, aber auch die Häufung von Frauenmorden, die in der Grenzregion zu beobachten sind. Weniger im territorialen als im zeitlichen Sinne wird die documenta 12 als ein Grenzraum charakterisiert. Zu einem solchen wurde sie, weil sie verschiedene Ansätze auf dissensuelle Weise verknüpfte und durch die Gleichzeitigkeit scheinbar widersprüchlicher Phänomene geprägt war: Sie stellte sowohl politische, als auch formal-ästhetische Arbeiten aus und forcierte den Gesellschaftsbezug der Kunst ebenso wie ihre Autonomie und Souveränität. Arbeiten aus unterschiedlichen Epochen und kulturellen Hintergründen wurden miteinander kombiniert. Kunsthandwerkliche Artefakte wurden neben dokumentarischen und abstrakten Arbeiten gezeigt. Auf diese Weise entstand ein spannungsgeladener Grenzraum, ein Raum des Sowohl-als-auch.

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Bhaba: Verortung der Kultur, S. 7.

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Grenzbewegung und Grenzhaltung Grenzüberschreitungen werden nicht länger als einmalige Überschreitung gedacht, die mit dem Grenzübertritt an ein Ende gelangt, sondern als unabschließbare Bewegung des permanenten InBeziehung-setzens, des Zauderns und des Verschiebens. Statt um Grenzüberschreitungen handelt es sich vielmehr um unabschließbare Grenzbewegungen. Diese werden als Prozess des Aufeinanderbeziehens ausdifferenzierter, heterogener Bereiche und Sphären verstanden. Weniger das Ergebnis steht hierbei im Mittelpunkt als der Prozess des In-Bewegung-bleibens. Auf diese Weise findet eine zeitliche Erweiterung der Grenzbewegung statt. Diese ist wesentlich durch die Theorie Deleuze/Guattaris beeinflusst, die die Unabschließbarkeit und Prozesshaftigkeit von Ereignissen betont. Das Denken in binären Strukturen wird bei den Autoren dynamisiert und durch ein Denken in Verkettungen und permanente De- und Reterritorialisierung aufgebrochen. Statt Anfang und Ende werden die Bewegung und das Werden fokussiert. Im Sinne von Deleuze/Guattari ließe sich demnach auch von einem Grenz-Werden sprechen, um die Dynamik und Unabschließbarkeit dieser Bewegung zu unterstreichen. Mit Foucault wiederum liegt es nahe, von einer Grenzhaltung zu sprechen. Dieser Begriff lässt sich von seiner Bestimmung der kritischen Haltung ableiten, die er in seinem Aufsatz Was ist Kritik? vornimmt. Er beschreibt hier eine Lebensweise, die durch die permanente Suche nach Formen des ‚Nicht-so-regiert-werden-wollens‘ geprägt wird und in die ‚Sorge um sich selbst‘ mündet. „Es geht darum, Existenzweisen zu erfinden, nach fakultativen Regeln, die geeignet sind, der Macht zu widerstehen und sich dem Wissen zu entziehen, auch wenn die Macht sie sich anzueignen und das Wissen sie zu durchdringen sucht.“9 Das Unterlaufen dieser Disziplinierungs- und Normalisierungsstrategien ist zentral für die Ästhetik der Existenz. Sie wird erreicht durch ästhetische Übungen der Selbstführung und der Freiheit zur Selbstüberschreitung. „Das Gelingen ästhetischer Tätigkeiten verlangt die Überschreitung jedes vorweg gesetzten Ziels“10, auf etwas unbestimmt anderes. Das bedeutet: die persönliche Lebensführung ist geprägt durch die ästhetische Freiheit zu Veränderungen und Prozessen, die keiner teleologischen Ordnung gehorchen. „Die Beziehung zu sich selbst ist eine Grenzbewegung und Grenzerfahrung intransitiver Freiheit. Sie ist die peristaltische Bewegung ausgelöst durch den Agonismus der Freiheit. Der Totalität der Anrufung wird die Singularität

9 Deleuze: Unterhandlungen, S. 135. 10 Menke: Zweierlei Übung, S. 298.

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der Existenz entgegengestellt.“11 Sie bildet sich übend heraus, in einem nicht enden wollenden Prozess der Wiederholung, Verschiebung und Selbsthinterfragung.12 Dies entspricht einer Grenzhaltung, die sich durch eine permanente Beweglichkeit und Nicht-Identifizierbarkeit auszeichnet. Sie beinhaltet Formen der Selbstüberschreitungen ebenso wie temporäre Verkettungen und Überschneidungen mit anderen Feldern. Dabei nutzt sie ihre Randständigkeit, sich unabhängig von künstlerischen Moden, politischen Interessen, ökonomischen Mechanismen oder institutionellen Strukturen zu machen. Die Grenzhaltung ist vielschichtig wie unbestimmt und geht einher mit einer permanenten Reflexion und Neu-Erfindung der eigenen Arbeitsweise. Verwoert schildert in seinem Text zu der Ausstellung Eine Person allein in einem Raum mit Coca-Cola-farbenen Wänden im Grazer Kunstverein (2006), wie eine solche künstlerische Grenzhaltung im Sinne Foucaults aussehen könnte. Mit Foucault verortet er das Politische in der Behauptung einer Handlungsfreiheit und der Wiederaneignung eines selbstbestimmten Lebens. Diese Wiederaneignung der existentiellen Handlungsfähigkeit vor dem Hintergrund der alles durchdringenden Macht entspricht einer selbstständig getroffenen ethischen Entscheidung über das Leben, auch wenn es sich hier lediglich um das Schaffen minimaler Differenzen handelt.13 In diesem Sinne werden künstlerische Arbeiten als Gesten verstanden, die einen Unterschied machen zwischen den geforderten Handlungen und einer leicht, aber signifikant von dieser abweichenden Art zu handeln, woraus sich eine Praxis der alltäglichen Widerspenstigkeit ergibt, z.B. durch das Formieren einfacher Gesten der Markierung am Rand der Gesellschaft.14

11 da Ponte: Virtuelle Selbstpraktiken, S. 120. 12 Vgl. Menke Zweierlei Übung, S. 293. 13 Verwoert verweist hier auch auf Hardt/Negri, die im Akt der Rückgewinnung der Handlungsfreiheit einen entscheidenden Akt des politischen Widerstands sehen. 14 Vgl. Verwoert: Der weite Horizont, S. 27. Wie solche einfache Gesten der Markierung aussehen und welche Wirkung sie entfalten können, hat de Certeau in seinem Buch Die Kunst des Handelns beschrieben. Darin schildert er die Möglichkeiten des Umschreibens und der Veränderung von Räumen und Grenzen durch taktische (Alltags-)Handlungen, wie dem Gehen in der Stadt. De Certeau zielt dabei auf die einzigartigen und vielfältigen, mikrobenhaften (individuellen) Praktiken, die an das Unbewusste heranreichen, die gegenwärtig und diskontinuierlich sind. Er schreibt dem Gehenden das Potential zu, räumliche Ordnungen zu verschieben, indem er sich in ihnen bewegt, den vorgeschriebenen Pfad verändert und dabei die

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Die Künstler agieren damit auf der Schwelle zum Politischen. Die von Verwoert vorgestellten Arbeiten „schlagen also alle auf verschiedene Weisen eine Formel, ein Modell, einen Entwurf auf der Schwelle zum Politischen und auf der Grenze zum Unökonomischen vor. Dieses Leben entsteht in allen Fällen aus einem unsicheren Balanceakt (zwischen dem Bürgerlichen und Nichtbürgerlichen, öffentlicher Politik und persönlicher Ethik, den Bedürfnissen unterschiedlicher Pflanzen sowie Armut und Reichtum).“15

Indem Verwoert das Bild der Schwelle verwendet und von einem Balanceakt spricht, beschreibt er Erfahrungen, die denen von Grenzbewegungen entsprechen: unsichere Erfahrungen in einem Dazwischen, in der ständigen Vermittlung unterschiedlicher Felder, in der der schmale Grat zwischen Verweigerung und Engagement, zwischen Nihilismus und Leichtigkeit permanent neu verhandelt wird. Kunst und Politik Parallel zum Umdenken des Begriffs Grenzüberschreitungen verschiebt sich auch das Verständnis von politischer Kunst sowie des Verhältnisses von Ästhetik und Politik. In der ausführlichen Schilderung von Grenzbewegungen zum Gesellschaftlichen wurden verschiedene Konzepte politischer Kunstpraxen und künstlerisch-politische Strategien vorgestellt. Im Anschluss daran wurde der Fokus auf die Gesellschaftsbezüge in der Kunst der 90er Jahre gelegt. Dabei wurde herausgearbeitet, wie die Politisierung der 90er Jahre in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts an Bedeutung verlor. Entgegen der Meinung, die politischen Ansätze wären damit gänzlich verschwunden, ging es dieser Arbeit darum zu zeigen, dass es weiterhin politische Ansätze auf künstlerischer und kuratorischer Ebene gibt, die jedoch im Vergleich zu den interventionistischen Kunstpraxen der 90er Jahre ihre Form verändert haben. Deren Anspruch, die Grenzen des Kunstfeldes zu überschreiten, um in konkreten und ortsspezifischen Aktionen ins Leben zu intervenieren, ruft die Grenzen zwischen den Feldern durch die Überwindung erneut ins Bewußtsein und bestätigt sie dadurch. Ein

vorgegebene Ordnung unterbricht. „Durch Abkürzungen, Umwege und Improvisation [kann der Gehende] auf seinem Weg bestimmte räumliche Elemente bevorzugen, verändern oder beiseite lassen [...].“ (Verwoert: Der weite Horizont, S. 19.) Auf diese Weise wird der Raum neu aufgeteilt und zum gestaltbaren Operator gemacht. 15 Verwoert: Der weite Horizont, S. 25.

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dichotomisches Denken des Verhältnisses von Kunst und Politik/Kunst und kapitalistische Logik wird auf diese Weise eher verfestigt als dynamisiert. Demgegenüber wurden in dieser Arbeit Konzepte erarbeitet, die eine dichotomische Bestimmung der Felder Kunst und Politik, Kunst und Kapitalismus, Autonomie und Gesellschaftsbezug unterlaufen und diese verstärkt als Bezugsfeld denken. In den Blickpunkt treten die temporären Überschneidungen dieser Felder, die ein Denken in Gleichzeitigkeiten erfordern, statt auf ihre klare Unterscheidbarkeit zu pochen. Damit wird die Bestimmung der Kunst als politische und soziale Intervention um vielfältige Gesellschaftsbezüge erweitert, wie Ott festhält. Ihr zufolge bezieht sich Kunst „auf höchst divergente Weise auf das gesellschaftliche Feld“ und „konstruiert eine je andere Wirklichkeit“16. Dabei muss der schmale Grat zwischen einer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Phänomenen und Zuständen einerseits und dem Beharren auf der Eigenständigkeit des künstlerischen Ansatzes andererseits ausgehalten werden. Es gilt permanent abzuwägen zwischen dem Plädoyer für Grenzbewegungen in andere Bereiche und der Warnung vor Vereinnahmungen durch Politik und Wirtschaft. So sollte laut Draxler „die historische Gegensätzlichkeit, die sich gerade zwischen den Feldern von Kunst und Humanwissenschaften auf der einen Seite, Naturwissenschaften und Technologie auf der anderen ergeben hat“,17 nicht übersehen werden. Das Berücksichtigen der Unterschiede der Felder entspricht dem Verweis auf ihre Autonomie – ohne diese mit der Forderung nach einer Abgeschottetheit der Kunst gleichzusetzen. Autonomie ist vielmehr als temporäre zu denken, die die Voraussetzung für die Randständigkeit von Kunst und ihre permanent neu anzusetzenden Grenzbewegungen bildet. Autonomie ist zudem stets relativ, da der Künstler als gesellschaftliches Wesen kein gänzliches Außen bilden kann, ebenso wie nicht zu leugnen ist, dass das Kunstfeld von marktwirtschaftlichen Interessen durchzogen ist. Die programmatischen Bestimmungen der Kunst als politische Praxis treten in den Hintergrund. Es findet eine Verschiebung in Bereiche des Nicht-Messbaren sowie zu Strategien der Verweigerung und des Klein-Werdens statt. Das Politische dynamisiert und vervielfältigt sich und wird verstärkt in Bewegungen verortet, die auf eine Verunordnung zielen. Die Stärke der Kunst wird hier in ihrer Vielschichtigkeit gesehen; in ihrer Ergebnisoffenheit und gleichzeitigen Fähigkeit,

16 Ott: Ästhetische Politiken, S. 107. 17 Draxler: Gefährliche Substanzen, S. 65.

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Ordnungen und Bedeutungsregime zu destabilisieren, zu verrücken und umzucodieren. Diese Neubestimmung des Politischen geht mit einer Öffnung für Begriffe und Konzepte wie Autonomie und ästhetische Erfahrung einher, die nicht mehr automatisch mit einem Ausschluss gesellschaftskritischer Bezüge von Kunst verbunden sind wie noch in den 90er Jahren. Vielmehr wird herausgearbeitet, wie Autonomie verstanden als kritische Distanz die Voraussetzung für ein Heraustreten und kritisches Reflektieren gesellschaftlicher Entwicklungen und marktwirtschaftlicher Begehrlichkeiten bildet, und wie ästhetische Erfahrung verstanden als Sich-Öffnen für das Heterogene, Verstörende und Unvorhergesehene das Bestreben der Macht nach Einheitlichkeit, Kohärenz und Ganzheit unterläuft und auf diese Weise politisch wird.18 Das Umdenken des Verständnisses politischer Kunstpraxen soll anhand der drei Kategorien, die Ventura zur Beschreibung der Kunst der 90er Jahre heranzieht, noch einmal verdeutlicht werden. Er nennt drei Wirkungsabsichten: das Ziel zu informieren, zu intervenieren und Impulse zu geben. Alle drei Kategorien sind jedoch nicht mehr charakteristisch für heutige Kunstpraxen. Statt aufzuklären und Informationen bereitzustellen, lässt sich ein Trend zu Verunklarung und Komplexität erkennen. Viele Arbeiten verweigern sich einer klaren Aussage und damit auch einer Verwendung für illustrative Zwecke. Es geht eher um die Vervielfältigung, das In-der-Schwebe-halten oder die Verweigerung von Bedeutung als um deren intentionale Bereitstellung. Dem entsprechen künstlerische Strategien, die sich jeglicher Sinn- und Bedeutungskonstruktionen entziehen oder die Arbeiten so komplex gestalten, dass mannigfaltige Annäherungen an die Arbeiten möglich sind. Komplexität entsteht u.a. durch die Verwendung heterogener Materialien und Medien, die Inszenierung vielfältiger Anspielungen auf die Kunstgeschichte und andere Künstler19 sowie die Verknüpfung mit externen Diskursen und Politiken der Sichtbarkeit. Sie dient dazu die Erwartungen an die Arbeiten zu unterlaufen, Bedeutungshierarchien und eindeutige Sinnzuschreibungen zu vermeiden. Rebentisch bezeichnet den Prozess der Dynamisierung hinsichtlich der möglichen Bedeutungen, die sich mit den Arbeiten verknüpfen lassen, sogar als das eigentlich Ästhetische.20 Sie verteidigt die spezifische Logik der

18 Vgl. Sennett: Fleisch und Stein, S. 34. 19 Was sich in Strategien des Zitats, der Aneignung und des re-enactment anderer (künstlerischer) Positionen manifestiert und mit ‚Appropriation Art‘ oder ‚Referenzästhetik‘ bezeichnet wird. 20 Vgl. Rebentisch: Ästhetische Gemeinschaft, o.S.

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Kunst und ihrer ästhetischen Erfahrung explizit gegen ihre Reduktion auf politische Aussagen. Kunst sollte nicht als bloßes Mittel zur Übermittlung (identitäts-)politischer oder (gesellschafts-)theoretischer Botschaften verstanden werden, wodurch sie sich selbst verleugnen würde.21 Laut Robert Storr ist „die beste politische Kunst […] die, in der die politische Dimension des Lebens auf die beklommenste Weise uneindeutig ist. [...] Kunst ist sicher nicht das beste Mittel, um Leute zum richtigen Handeln zu bewegen. Was sie tun kann, ist das Feld möglicher Handlungsoptionen sichtbar zu machen.“22 Hier wird deutlich, dass es weniger um die zielgerichtete Intervention, als um die Eröffnung von Möglichkeiten geht. Statt „die Geschlossenheit der Autonomie aufzubrechen, um endlich in der wahren politischen und sozialen Geschichte von Kunst anzukommen, [geht es] darum, die immer schon vorhandenen, jeweiligen Bezugnahmen zwischen den Feldern genauer unter die Lupe zu nehmen, und auf ihre ideologischen Transfers hin zu durchleuchten.“23 Denn in diesen Bezugnahmen liegen Draxler zufolge die Möglichkeiten von Kunst als Kunst und als kritische gesellschaftliche Praxis.24 Es gilt die „Schnittstellen zwischen den Feldern als jene Scharniere zu begreifen, an denen Gesellschaft sich letztlich ereignet“25. Damit steht weniger das Ergebnis, als der Prozess der Überschreitung im Fokus von künstlerischen und kuratorischen Konzepten. Mit der Betonung des Prozesshaften ist die Eröffnung eines potentiellen wie unbestimmten Raums verbunden. Um dies zu unterlegen wurde auf verschiedene Ausstellungskonzepte verwiesen, die die Ausstellung als Produktionsstätte, als Labor und Referenzfeld sowohl für die Künstler als auch für die Betrachter verstehen. Die Kuratoren sind daran interessiert, einen offenen Ausstellungsort ohne (räumliche, zeitliche, disziplinäre, Wertigkeitsund Sichtbarkeits-)Grenzen zu entwickeln, der unterschiedliche subjektive Zugänge, Lesarten und Übersetzungen ermöglicht. Diese sind nicht nur die Voraussetzung für das Intensiv-Werden, sondern auch für einen gesellschaftlichen Bezug der Arbeiten. Kunst eröffnet Handlungsräume, sie regt zu Verhandlungen an und leitet Übersetzungsleistungen des Gesehenen in den Alltag ein. Doch wird das Auslösen von Impulsen nicht zwingend durch eine gemeinsame Aktion von Künstler und Betrachter umgesetzt, muss sich Kunst nicht in den Dienst sozialer

21 22 23 24 25

Vgl. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 274f. Ich zeige keinen toten Meister, Interview mit Storr, o.S. Draxler: Gefährliche Substanzen, S. 64. Vgl. Draxler: Gefährliche Substanzen, S. 53. Draxler: Gefährliche Substanzen, S. 67.

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Veränderungen stellen. Schon die Auslösung von Konfrontationen und Irritationen setzt Prozesse in Gang und führt zu Bewusstseinsveränderungen – nicht primär im Sinne einer Optimierung und Verbesserung, sondern im Sinne einer Anregung zu kritischem und unabhängigen Denken und Handeln. Die Herausforderung zu selbstbestimmten, regellosen Handeln vermag Brüche und Widersprüche provozieren, weil die hier entstehenden Handlungsweisen „innerhalb der Normalität einer institutionell verwalteten Gesellschaft keinen Platz [haben],“26 wie Kravagna es formuliert. Je stärker der Drang nach Kontrolle, Normierung und Normalisierung ist, umso irritierender sind künstlerische Strategien, die auf Verweigerung und Verunklarung setzen und sich dadurch eindeutigen Lesarten und Festschreibungen widersetzen. So besteht für Clementine Deliss heute das Risiko nicht mehr darin, etwas zu überschreiten oder etwas Neues zu wagen, sondern darin, sich zurückhalten zu wollen und zu können.27 Dem entsprechen ästhetische Erfahrungen, die sich rationalen Einordnungsund Distanzierungsmöglichkeit entziehen, während die Momente des Affektiven und des nicht planbaren Zustoßens der Erfahrung in den Vordergrund treten.28 Von vielen werden die Unplanbarkeit der Vorgänge und die Konfrontation unterschiedlicher Denkweisen und Verhaltensstrukturen jedoch als Bedrohung und Verunsicherung empfunden, was erklärt warum das Bedürfnis nach erneuten Grenzziehungen und Abgrenzungen konstant bleibt. Als politisch gelten nicht länger nur solche Praxen, die reale Veränderung im sozialen und politischen Bereich anstoßen, sondern verschiedene Aufteilungen des Sinnlichen miteinander konfrontieren und durch temporäre Interventionen in Spannung versetzen. Es kommt zu einer Ausweitung und Vervielfältigung des Politischen. An Bedeutung gewinnen Strategien des Uneindeutigen und der Verweigerung ebenso wie Politiken der Sichtbarkeit und des Visuellen. Dabei handelt es sich laut von Bismarck um „visuelle Strategien, die, anstatt in ihrer politischen Bedeutung aufzugehen, die Beziehung zwischen Bild und seinem in einem politischen Kontext definierbaren Zeichencharakter in der Schwebe lassen und als Artikulationsprozess ausweisen“29. Das Inder-Schwebe-lassen von Bedeutungen ist als Charakteristikum von Grenzüberschreitungen herausgearbeitet worden und entspricht den

26 Vgl. Kravagna: Arbeit an der Gemeinschaft, S. 39. 27 Vgl. métronome, Deliss im Gespräch, S. 125. 28 Zur Erweiterung des Begriffs der ästhetischen Erfahrung um solche Momente des Unbestimmten siehe Kapitel 3.3.1. 29 Bismarck: Grenzbespielungen, S. 11.

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Ansätzen von (Post-)Strukturalisten, die „ein allgemeines, polyvalentes, multidimensionales Unternehmen der Aufspaltung der abendländischen Symbolik und ihres Diskurses [verfolgen]“30. Fortgesetzt wird dieses Unternehmen u.a. von den Strategien der Kommunikationsguerilla, die durch Verfremdung und Parodie die hegemonialen Bedeutungssysteme zu stören versuchen. Sie setzen dabei sowohl auf der Ebene des Visuellen als auch der Sprache an und greifen in mediale Bild- und Informationssysteme ein. Park Fiction und die documenta 12 sind zwei weitere exemplarische Beispiele für Grenzbewegungen zwischen unterschiedlichen Feldern und Disziplinen und dem politischen Potential, das in dieser Beweglichkeit verortet werden kann. In beiden Fällen werden die Offenheit und die Selbstbestimmtheit betont, die das Oszillieren zwischen verschiedenen Bereichen und das Spiel mit Mehr- wie Uneindeutigkeiten eröffnet. So versteht sich Park Fiction weder als reines Stadtteilnoch als Kunstprojekt. Vielmehr geht es um die Verknüpfung unterschiedlicher Felder und Öffentlichkeiten sowie die Nutzung ihrer Potentiale und spezifischen Herangehensweisen. Der Leiter der documenta, Roger Buergel, wiederum gibt sich in seinen Aussagen bewusst mehrdeutig und inszeniert die documenta als bedeutungsoffenes Beziehungsgefüge. Er entzieht sich auf diese Weise den vielfältigen Erwartungen, während die Ausstellung in ihrer Vieldeutigkeit vielfältige Annäherungen und Aushandlungsprozesse ermöglicht. Sowohl Park Fiction als auch Buergel geht es darum, einen Raum für die Initiierung von Kontroversen und die Einbindung und das Zusammenbringen heterogener Öffentlichkeiten bereitzustellen. Für beide liegt hierin das gesellschaftliche und politische Potential von Kunst. Zusammenfassend lassen sich Grenzbewegungen weniger als radikale Geste der Überwindung im Sinne eines Hinter-sich-lassen und Auflösen der Grenzen verstehen, denn als temporäre, mikropolitische Verschiebungen. Es geht weniger für die intentionale Überschreitung einer Grenze hin zu etwas Neuem (wie in den Avantgardebewegungen) oder das Verlassen des Kunstfeldes hin zu konkreten politischen oder gesellschaftlichen Aktionen (wie in den 90er Jahren), als vielmehr um das permanente In-Bewegung-halten von Bedeutungen und Grenzen. Nicht die Überschreitung der Grenze als Bewegung von A nach B ist das Ziel, sondern die Auseinandersetzung mit der Grenze und den ihr eingeschriebenen Momenten der Infragestellung und Reflexion binärer Konstruktionen und Einteilungen. Die Anknüpfungspunkte für Überschreitungen werden nicht mehr in einem Außerhalb

30 Barthes: Körnung der Stimme, S. 142.

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gesucht, sondern ergeben sich innerhalb des dynamischen Grenzraumes, der durch die unabschließbare Bewegung der Überschreitung und der Wiedererrichtung von Grenzen geprägt ist. Das Verhältnis von Politik und Ästhetik wird damit nicht als Nebeneinander, sondern als eine Überlagerung von verschiedenen Aufteilungen des Sinnlichen verstanden: als dynamischer Grenzraum, in dem heterogene Sphären und Felder miteinander konfrontiert und in Spannung versetzt werden. Dabei geht es nicht um die totale Entdifferenzierung von Kunst und Politik, Kunst und Leben, sondern um das permanente Aufdecken, Sichtbarmachen und dynamisieren dieser Grenzen und der sie konstruierenden Regime. In dieser unabschließbaren Grenzbewegung werden Verschiebungen und Brüche im ästhetischen Regime und den dominanten Aufteilungen des Sinnlichen möglich, werden Zwischen- und Grenzräumen errichtet. Diese Bewegung ist grundlegend für die Kunst, denn laut Deleuze/Guattari kann Kunst nur weiterleben, „indem sie neue Perzepte und Affekte als Umwege, Wiederkehr, Trennungslinien, Wechsel von Niveaus und Abstufungen erschafft“31. Um jeglicher Identifizierung und Festschreibung zu entgehen, gilt es sich in einem permanenten Werden zu befinden. Grenzbewegungen als unabschließbare Bewegung auf und an den Grenzen lassen sich in diesem Sinne als permanente Verunordnung beschreiben, die Spannungen herstellen, feststehende Meinungen unterlaufen und heterogene Sphären zum Oszillieren bringen. Dabei kommt es zu Verunordnungen im ästhetischen, politischen und begrifflichen Bereich. Insbesondere der Kunstbegriff wird beweglich gehalten und beständig hinterfragt. Zugleich wird durch die Konfrontation und den Austausch mit dem Hinter-der-Grenze-liegenden das Bewusstsein für die spezifischen Bedingungen des Kunstfeldes und der eigenen Praxis geschärft. Diese Wirkung gewinnt vor dem Hintergrund sich verschärfender sozialer Unterschiede, gesellschaftlicher Grenzverhärtungen und einer sich primär an ökonomischen Interessen ausrichtenden Politik nochmals an Aktualität. Das Bedürfnis nach Grenzbewegungen, die für Kontroversen sorgen, Umverteilungen des Sicht- und Sagbaren anstoßen und sich der kapitalistischen Verwertungslogik entziehen, ist ungebrochen. Voraussetzung ist jedoch, dass die Vorstellung eines ‚Außerhalb der Macht‘ aufgegeben wird und in eine Haltung der permanenten Suche nach Formen des Nicht-so-regiert-werden überführt wird. Statt der kompletten Auflösung der bestehenden Ordnung werden temporäre, mikropolitische Interventionen und Verschiebungen angestrebt, die beständig auch die eigene Form reflektieren und hinter-

31 Deleuze/Guattari: Was ist Philosophie?, S. 229.

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fragen, um einer erneuten Verhärtung zu entgehen. Hier deutet sich an, dass die Autonomie und Souveränität der Kunst wieder an Bedeutung gewinnt. Nicht im Sinne einer Abschottung von gesellschaftlichen Zuständen und Entwicklungen, sondern als höchst eigene Auseinandersetzung mit diesen. Statt der Kunst ihren Gesellschaftsbezug vorzuschreiben, wird dieser in vielfältigen Ausdrucksformen verortet. Auf diese Weise wird eine dichotomische wie normative Interpretation von Kunst vermieden – und das Künstlerische um ästhetische Erfahrungen der Kontingenz, des Unkontrollierten und der Verunordnung erweitert. Statt an der Vorstellung idealer Konsequenzen und klarer Antagonismen festzuhalten, gibt sich Kunst uneindeutig, ambivalent und vielschichtig. Im besten Fall entsteht ein dynamischer Grenzraum, der durch permanente Grenzbewegungen und Aushandlungsprozesse gekennzeichnet ist; in dem die Vorgabe von Inhalten mit deren Uneindeutigkeit korreliert; in dem Raum für eigene Interpretationen und Übersetzungen ebenso gegeben wird wie für das Unbestimmte und die unkontrollierten und unmittelbaren Momenten der ästhetischen Erfahrung; in dem Anknüpfungspunkte und Anregungen zum Weiterdenken und Aushandeln des Gesehenen ebenso initiiert werden wie Spannungen und Irritationen.

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Elize Bisanz (Hg.) Das Bild zwischen Kognition und Kreativität Interdisziplinäre Zugänge zum bildhaften Denken September 2011, 390 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1365-0

Dietmar Kammerer (Hg.) Vom Publicum Das Öffentliche in der Kunst Januar 2012, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1673-6

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Image Annette Jael Lehmann Environments: Künste – Medien – Umwelt Facetten der künstlerischen Auseinandersetzung mit Landschaft und Natur Oktober 2011, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1633-0

Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts 2010, 256 Seiten, kart., 135 Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-420-1

Eva Reifert Die »Night Sky«-Gemälde von Vija Celmins Malerei zwischen Repräsentationskritik und Sichtbarkeitsereignis September 2011, 230 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1907-2

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Image Sabiene Autsch, Sara Hornäk (Hg.) Räume in der Kunst Künstlerische, kunst- und medienwissenschaftliche Entwürfe

Sebastian Neusser Die verborgene Präsenz des Künstlers Inszenierungen der Abwesenheit bei Salvador Dalí, Joseph Beuys, Robert Morris und Vito Acconci

2010, 304 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1595-1

Februar 2011, 228 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1635-4

Elize Bisanz Die Überwindung des Ikonischen Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Bildwissenschaft

Jeannette Neustadt Ökonomische Ästhetik und Markenkult Reflexionen über das Phänomen Marke in der Gegenwartskunst

2010, 184 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1362-9

Mai 2011, 468 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1659-0

Lars Blunck (Hg.) Die fotografische Wirklichkeit Inszenierung – Fiktion – Narration

Christine Nippe Kunst baut Stadt Künstler und ihre Metropolenbilder in Berlin und New York

2010, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1369-8

Julia Bulk Neue Orte der Utopie Zur Produktion von Möglichkeitsräumen bei zeitgenössischen Künstlergruppen September 2011, ca. 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1613-2

Anita Moser Die Kunst der Grenzüberschreitung Postkoloniale Kritik im Spannungsfeld von Ästhetik und Politik September 2011, 330 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1663-7

Mai 2011, 382 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1683-5

Lars Spengler Bilder des Privaten Das fotografische Interieur in der Gegenwartskunst Mai 2011, 358 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1778-8

Katrin H. Sperling Nur der Kannibalismus eint uns Die globale Kunstwelt im Zeichen kultureller Einverleibung: Brasilianische Kunst auf der documenta Oktober 2011, ca. 342 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1768-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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