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German Pages 274 Year 2014
Andrea von Hülsen-Esch, Miriam Seidler, Christian Tagsold (Hg.) Methoden der Alter(n)sforschung
Alter(n)skulturen Herausgegeben von Peter Angerer, Ute Bayen, Henriette Herwig, Andrea von Hülsen-Esch, Christoph Kann, Ulrich Rosar, Christian Schwens, Shingo Shimada, Stefanie Ritz-Timme und Jörg Vögele | Band 1
Andrea von Hülsen-Esch, Miriam Seidler, Christian Tagsold (Hg.)
Methoden der Alter(n)sforschung Disziplinäre Positionen und transdisziplinäre Perspektiven
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Inhalt
Methoden der Alter(n)sforschung Disziplinäre Positionen – transdisziplinäre Perspektiven Andrea von Hülsen-Esch, Miriam Seidler und Christian Tagsold | 7
Zur Neuverhandlung der Lebensphase Alter Methodologische und methodische Überlegungen aus dispositivtheoretischer Perspektive Anna Richter, Tina Denninger, Silke van Dyk und Stephan Lessenich | 35
Zwischen universalistischem Egalitarismus und gerontologischem Separatismus Themenschwerpunkte und theoretische Perspektiven des medizinethischen Alter(n)sdiskurses Mark Schweda | 53
Glaser, Strauss und die deutschen Ruhesitzwanderer in Spanien Die Grounded Theory als methodische Basis zur Er forschung älterer Migranten Melanie Hühn | 73
Alternsgerechte Arbeit Aktuelle arbeitspsychologische Perspektiven Andreas Müller, Matthias Weigl und Peter Angerer | 93
Prävention von Gewalt in der Pflege durch interdisziplinäre Sensibilisierung und Intervention von stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen Britta Gahr und Stefanie Ritz-Timme | 113
A Fulfilling Case of Action Research in Japan My 10-Year Engagement in a Tokyo Lifelong Learning Group Akihiro Ogawa | 127
A brief overview of the potential (pitfalls) of CA in research with cognitively impaired individuals Hilke Engfer | 143
To know, state, record and prove age in the inquisitorial documentation at the end of the Middle Ages Didier Lett | 155
Lachen mit den und über die Alten Kulturhistorische Reflexionen über den frühneuzeitlichen Diskurs zum Alter mit Schwerpunkt auf der deutschen Schwankliteratur des 16. Jahrhunder ts Albrecht Classen | 167
“It’ll remain a shock for a while” Resisting Socialization into Long-Term Care in Joan Bar foot’s Exit Lines Ulla Kriebernegg | 189
Architektur in einer alternden Gesellschaft – ein methodischer Ansatz für eine nutzergerechte bauliche Umwelt Kathrin Büter und Tom Motzek | 209
Forschen über die Alten – Forschen mit den Alten Par tizipative Methoden in der Designforschung Minou Afzali | 225
Entwicklung und Durchführung museumspädagogischer Formate für pflege- und hilfsbedürftige Menschen in Oldenburg Susanne H. Kolter | 241
Fotografische Bildwelten des Alter(n)s Sabine Kampmann | 255
Abbildungsnachweise | 267 Autorinnen und Autoren | 269
Methoden der Alter(n)sforschung Disziplinäre Positionen – transdisziplinäre Perspektiven Andrea von Hülsen-Esch, Miriam Seidler und Christian Tagsold
Alter(n) hat sich in der Gegenwart grundlegend gewandelt. Aufgrund der Entwicklung in der Medizin haben heute viele ältere Menschen die Möglichkeit, die Lebensphase Alter nicht nur länger, sondern vor allem länger gesund zu erleben. Dies stellt nicht nur gesellschaftliche Institutionen, sondern auch das Individuum vor neue Herausforderungen. Alter(n) zeichnet sich durch eine nie gekannte Wahlfreiheit aus und sollte deshalb sinnvoll geplant und gelebt werden. Es entstehen neue Märkte und eine Vielfalt von Freizeitaktivitäten für ältere Menschen. Damit geht einher, dass das klassische dreiteilige Modell der Lebensphasen aufgebrochen ist. Statt der Kindheit und der Erwerbsphase einfach den Ruhestand und das Alter entgegenzusetzen, wird das Alter oft selbst noch einmal unterteilt, so dass seit einiger Zeit mindestens vier Lebensalter unterschieden werden. 65-Jährige sind schlichtweg zu »junge Alte«, um sie mit hochalten Menschen über 80 oder 85 Jahren vergleichen zu können (Smith/Zank 2002: 103f.). Hochaltrigkeit, altersbedingte Krankheiten und Pflegebedürftigkeit nehmen ebenfalls zu und lassen das Bewusstsein für eine alternde Gesellschaft wachsen. Die alternde Gesellschaft weckt unter diesem Gesichtspunkt Ängste. Der demographische Wandel, der durch die Verbindung von steigender Lebenserwartung und sinkenden Geburtenraten ausgelöst wurde, ist nicht mehr aufzuhalten und wird in den nächsten Jahrzehnten eine Veränderung der gesellschaftlichen Altersverteilung mit sich bringen. Das gilt für die meisten postindustriellen Staaten, wobei einige Länder wie Japan, Italien oder Deutschland eine besonders dramatische Entwicklung durchlaufen, an deren Ende der Altenanteil über 30 % steigen wird. Die Sorgen um die Zukunft lassen sich dementsprechend nicht nur in Deutschland leicht an der aktuellen politischen Diskussion ablesen. Wie können Wohlfahrtsstaaten Renten und die gesundheitliche Versorgung alter Menschen auf einem hohen Niveau garantieren, wenn ihnen im Verhältnis immer weniger Erwerbstätige gegenüberstehen? Wie kann die Pflege Bedürftiger ge-
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währleistet, wie die Würde des Alter(n)s angesichts knapper Ressourcen gesichert werden? Durch Antworten, die bisher auf diese Fragen gegeben worden sind, hat sich teilweise sogar die Definition dessen zu verschieben begonnen, was Alter(n) überhaupt ist. Wenn das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre angehoben wird, erübrigt sich durch diese institutionelle Entscheidung z.B. die klassische Grenze für Alter, die nicht zuletzt aufgrund des aktuellen Verrentungsalters auf 65 Jahre gelegt wird. Die hier nur schlaglichtartig umrissenen Entwicklungen wecken auch das Forschungsinteresse der Wissenschaft und sensibilisieren Forscher für neue Fragestellungen. In der Alter(n)sforschung ist in den letzten Jahrzehnten eine immense Zunahme der Forschungsprojekte und -ansätze zu beobachten. Damit stößt die Wissenschaft auf ein Terrain vor, das der vorliegende Band mit Blick auf die Wahl der Methoden kartieren möchte. Die wissenschaftliche Diskussion um Alter(n) hat rasch an Fahrt aufgenommen und wird inzwischen relativ breit geführt. Man vergisst jedoch dabei leicht, wie vergleichsweise frisch die Bemühungen eigentlich noch sind.
D IE E NT WICKLUNG DER A LTER (N) SFORSCHUNG : D AS B EISPIEL A L ZHEIMER Das Beispiel Alzheimer zeigt deutlich, dass wir uns noch immer auf relativ unbekanntem Terrain befinden und methodische Zugänge in der Konsequenz der Diskussion bedürfen. Kaum jemand dürfte heute nicht wissen, was sich hinter der Krankheit Alzheimer verbirgt. Es ist die weitverbreitetste Form von Demenz im Alter. Dabei hatte der unterfränkische Arzt Alois Alzheimer mit seinem Aufsatz Über eine eigenartige Erkrankung der Hirnrinde (1907), in dem er über den heute berühmten Fall der 50-jährigen Auguste D. berichtete, auf die Frage »präseniler Demenz« abgezielt (Ballenger 2006: 42). Damit grenzte Alzheimer seine Beobachtung gegenüber der Altersdemenz ab. In einem weiteren Aufsatz von 1911 war er sich immer noch nicht sicher, ob es sich bei den Fällen, die inzwischen untersucht worden waren, um eine eigene Krankheit oder eine frühe Form der Altersdemenz handelte (Alzheimer 1911: 383f.). Inzwischen war die Krankheit von Alzheimers Vorgesetztem an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Emil Kraepelin, in der 1910 erschienenen achten Auflage seines Werkes Psychiatrie: ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte nach ihm benannt worden. German E. Berrios (1990: 358f.) hat überzeugend dargelegt, dass Alzheimer eigentlich kein unbekanntes Krankheitsbild beschrieben hat und auch keine neue Krankheit entdeckt haben wollte. Es ist aber nicht mehr zu klären, warum Kraepelin Alzheimers Entdeckung zu einer neuen Krankheit erhob. Forschungsstrategische Gründe mögen eine Rolle gespielt haben, doch Berrios (1990: 358f.) kommt zum Schluss, dass weder die
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Konkurrenz zu Forschern wie Sigmund Freud noch die Frage der Finanzierung von Kraepelins Lehrstuhl von besonderer Bedeutung gewesen sein dürften. Ohnehin war der Hintergrund der Benennung lange Zeit von geringer Bedeutung, da Alzheimer eine äußerst seltene Krankheit von untergeordneter Relevanz zu sein schien. Bis Ende der 1960er Jahre interessierten sich kaum Forscher für Alzheimer und der Öffentlichkeit war die Krankheit kein Begriff. Da Alzheimer nur den Ausbruch bestimmter Formen von Demenz vor dem 65. Lebensjahr bezeichnete, war die Zahl der Fälle sehr überschaubar. Doch selbst die Zahl von Patienten mit ›seniler Demenz‹ ab dem 65. Lebensjahr schien bei Weitem noch nicht so bedrohlich wie nur wenige Jahrzehnte später. Die für wissenschaftliche Artikel aus dem Bereich der Medizin maßgebliche amerikanische Datenbank Medical Literature Analysis and Retrieval System verzeichnete für die ersten zwei Jahrzehnte der Erfassung von 1950 bis 1970 gerade einmal insgesamt 40 Artikel unter dem Stichwort ›Alzheimer‹ – bei insgesamt knapp drei Millionen Einträgen für diesen Zeitraum (vgl. hierzu auch Katzman/Bick 2000: 7). Es waren also jährlich im Schnitt gerade einmal zwei Aufsätze erschienen, die sich mit Alzheimer befassten. Erst vor vier Jahrzehnten änderte sich die Wahrnehmung von Alzheimer. Zum einen ermöglichte das Elektronenmikroskop neue Einblicke in das Gehirn und damit neue Erkenntnisse über die Struktur der neurologischen Veränderungen (Fox 1989: 66). Zum anderen verglich Martin Roth in einer Studie, die an der Universität Newcastle durchgeführt wurde, das Krankheitsbild von Demenzpatienten und ihre Gehirne nach ihrem Tod miteinander. Diese Studie, deren Ergebnisse in mehreren Aufsätzen zwischen 1966 und 1968 publiziert wurden, ließ aus medizinischer Sicht keinen Zweifel daran, dass die häufigste Form der Altersdemenz und Alzheimer identische Krankheiten waren (Katzman/Bick 2000: 46 -66; Ballenger 2006: 84f.). Bis dahin hatte es zu diesem Punkt ganz unterschiedliche Ansichten gegeben. Als Konsequenz aus den Ergebnissen der Newcastle-Studie forderte Robert Katzman aber 1976 für die amerikanische Alzheimer-Forschung, sich endgültig von der terminologischen Unterscheidung zwischen ›Alzheimer‹ als Demenz vor Erreichen des 65. Lebensjahres und ›seniler Demenz‹ für die gleiche Krankheit ab dem 65. Lebensjahr zu trennen (Ballenger 2006: 104). Als einer der führenden Alzheimer-Forscher und gleichzeitig wichtiger Aktivist hatte Katzmans Meinung genug Gewicht, so dass man die diagnostische Aufteilung in zwei Krankheitsbilder tatsächlich fallen ließ. Ein Jahrzehnt später begann die Zahl der Alzheimer-Fälle, bedingt durch die demographischen Verschiebungen, rapide anzusteigen (Ballenger 2012). Die zunehmende Alterung der westlichen Industriegesellschaften führte zu einer Häufung von Neuerkrankungen, weil die Prävalenz für Alzheimer mit dem Alter korreliert. Dieser Anstieg führte zu einem größeren professionellen
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Interesse für Alzheimer. 1980 gründete sich in den USA die Alzheimer’s Association, 1989 die Deutsche Alzheimer Gesellschaft. In dieser Zeit wurde Alzheimer – unter anderen auch aufgrund der Betroffenheit einiger Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens – zu einem breiteren gesellschaftlichen Thema. Alzheimer ist also eigentlich erst seit Mitte der 1970er Jahre als die Krankheit definiert, die heute alle kennen. Davor hatten Mediziner und Psychiater unterschiedliche Vorstellungen davon, wie Alzheimer und senile Demenz zusammenhängen. Zudem führte erst das starke Engagement der Biowissenschaften dazu, dass Alzheimer ganz eindeutig als Krankheit klassifiziert wurde. Nur dadurch war es vor allem in den USA möglich, schnell viele Forschungsgelder zu erhalten. Wäre Alzheimer einfach als natürliche Konsequenz des menschlichen Alterungsprozesses eingestuft worden, wie das bei der Vorläuferdiagnose senile Demenz lange der Fall war, hätten die politischen Entscheidungsträger wahrscheinlich die Dringlichkeit für biomedizinische Forschungsanstrengungen nicht gesehen (Fox 1989: 59; Ballenger 2006: 101f.). Selbst seit den 1970er Jahren war Alzheimer jedoch weiterhin in erster Linie ein Thema für Mediziner, Biologen, Psychiater auf der einen Seite und Praktiker im Feld der Altenpflege auf der anderen. Erst durch den massiven Anstieg der Fälle in den letzten drei Jahrzehnten wurde Alzheimer auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften zum Thema. Trotzdem ist auffällig, dass z.B. Aufsätze und Bücher zur Geschichte der Krankheit oft von Naturwissenschaftlern und Medizinern stammen, wie den schon zitierten German E. Berrios, Psychiater an der Universität Cambridge, oder Robert Katzman, Neurologe an der University of California, San Diego. Insgesamt ist die Geschichte der Krankheit, abseits der Aufarbeitung der Biographie Alois Alzheimers, lange nicht ins Blickfeld geraten, obwohl Alzheimer selbst zu einem großen Thema aufstieg. Dementsprechend konnten Whitehouse, Maurer und Ballenger (2000: XI) noch vor wenig mehr als einem Jahrzehnt ihren Band Concepts of Alzheimer mit folgendem Satz beginnen: »It is ironic that the professional and popular discourses surrounding Alzheimer disease (AD), whose most dreaded feature is the obliteration of memory, proceed with little awareness of its past.« Damit zeigt das Beispiel Alzheimer deutlich, dass Alter(n) als wissenschaftliches Thema zwar immens schnell an Gewicht gewonnen hat, die Auseinandersetzung aber eigentlich noch nicht lange zurück reicht. Für Alzheimer haben die Biowissenschaften und die Psychiatrie zunächst ihre Konzepte und Sichtweisen konsolidiert. Durch den zunehmenden gesellschaftlichen Druck haben auch die Sozialwissenschaften praktische Ansätze entwickelt, um mit der durch die Biowissenschaften definierten Krankheit umzugehen. Die Dimensionen von Alzheimer sind in den Geistes- und Sozialwissenschaften jedoch bei weitem noch nicht ausgelotet. Die biowissenschaftliche Definitionsmacht über Alzheimer ist ein Problem, das durch die fehlenden biowissenschaftlichen Kenntnisse bzw. naturwissenschaftlich-medizinischen
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Kompetenzen vieler Sozial- und Geisteswissenschaftler verschärft wird. Jesse F. Ballenger, der in seinem Buch Self, Senility, and Alzheimer’s Disease in Modern America: A History von 2006 sowohl die medizinhistorische Seite von Alzheimer als auch die Frage nach dem Verlust des Selbst breit ausgelotet hat, ist z.B. Professor für Science, Technology and Society im gleichnamigen Studienprogramm an der Pennsylvania State University. Er lehrt und forscht also nicht in einem klassischen Kontext von Historikern, die sich mit der Einarbeitung in die biowissenschaftlichen Zusammenhänge der Geschichte von Alzheimer zweifellos nicht so einfach tun würden, ist aber immerhin selbst promovierter Historiker. Andererseits stellt sich z.B. für Literatur- und Kunstwissenschaften, die sich nicht mit realen kranken Menschen beschäftigen, sondern mit dem Alter als kulturellem Konstrukt, die Frage, inwieweit biowissenschaftliches Wissen überhaupt erforderlich ist, um Artefakte zu verstehen. Greifen Künstlerinnen und Künstler gegenwärtig auf Forschungserkenntnisse zurück und ist es dementsprechend notwendig, die lebenswissenschaftlichen Zusammenhänge zu kennen, oder reicht für die Interpretation ihrer Werke durch Literatur- und Kunstwissenschaftler Alltagswissen aus? Darüber hinaus stellen bildende Kunst, Theater und Literatur aber gerade auch eine Möglichkeit dar, Wissen über Alter und Alterskrankheiten zu vermitteln. Annegret Soltau, CollageKünstlerin der Body-Art, setzt sich mittels Verschränkungen, Vernähungen und Übernähungen von Fotografien mit den Körperdarstellungen und -veränderungen zwischen den Generationen auseinander, ein Projekt, das Reaktionen vom Verhüllen und Entfernen der Exponate (1994-2011) bis zur Auszeichnung der Künstlerin mit einem hochdotierten Kunstpreis (2011) provozierte. Die Theaterprojekte der Regisseurin Barbara Wachendorff mit dementen Akteuren Ich muss gucken, ob ich da bin1 und Anderland. Eine Reise ohne Ruder ins Land der Demenz (2012) haben durch die unmittelbare Beteiligung demenzkranker Menschen im Theaterstück viele Menschen für dieses Thema sensibilisiert. Der Roman Small World von Martin Suter ist wiederum ein Beispiel für eine Alzheimerdarstellung, die sehr viele Leser gefunden hat und damit die Vorstellungen über Demenzerkrankungen prägt, auch wenn der utopische Schluss als Versuch gesehen werden kann, das Problem zu verharmlosen. Für die literaturwissenschaftliche Analyse ist die genaue Kenntnis der Geschichte von Alzheimer nicht sonderlich relevant, wohl aber ein Verständnis dafür, dass die literaturwissenschaftliche Alternsforschung ebenso wie die Art der Thematisierung der Gegenstände in Romanen und Theaterstücken noch relativ jung und damit zwangsläufig methodisch noch nicht völlig gefestigt ist.
1 | Für dieses Projekt wurde Barbara Wachendorff 2006 für den deutschen Theaterpreis Der Faust im Bereich Regie für die beste Produktion des Jahres nominiert.
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TR ANSDISZIPLINARITÄT ALS F ORSCHUNGSPAR ADIGMA? Ohnehin erstrecken sich nicht alle Fragen der Alter(n)sforschung so weit über die Grenzen von Disziplinen wie das Beispiel der Geschichte von Alzheimer. Aber es liegt angesichts der Gesamtthematik trotzdem nahe, zu fragen, ob sich viele Forschungsfragen nicht am besten durch ein enges Zusammenwirken der Disziplinen beantworten lassen. Offensichtlich sind viele Themen zum Alter(n) mit Erkenntnissen aus den Biowissenschaften verknüpft oder lassen sich leichter mit Bezug auf diese beantworten, selbst wenn der Bezug durchaus kritisch gegenüber Disziplinen wie der Medizin oder Biologie ist. In Lehre und Ausbildung trägt man dem teilweise schon Rechnung, indem Institute für Altenpflege oder ähnliche praxisorientierte Bereiche gegründet werden, die dann entsprechende berufsqualifizierende Studiengänge anbieten. Die Lehrenden kommen allerdings noch aus ihren ursprünglichen Disziplinen. Als aktueller Topos der Forschung entwickelt sich dementsprechend gegenwärtig die These, dass die disziplinäre Alter(n)sforschung so weit vorangeschritten sei, dass nun nach neuen inter- und transdisziplinären Forschungsmöglichkeiten gesucht werden sollte. Dies wird z.B. im Band Transdisziplinäre Alter(n)sstudien: Gegenstände und Methoden vertreten, der 2010 von Ines Maria Breinbauer, Dieter Ferring, Miriam Haller und Hartmut MeyerWolters herausgegeben wurde. Die Herausgeber sind sich allerdings in ihren einleitenden Aufsätzen selbst nicht so ganz einig, wie ergiebig transdisziplinäre Forschung sein kann. Während Ferring Transdisziplinarität sehr positiv einführt, ist Breinbauer deutlich skeptischer. Sie setzt sich vor allem kritisch mit Jürgen Mittelstraß’ Werk auseinander, einem der exponiertesten Vertreter der Transdisziplinarität. Um zu zeigen, wie Transdisziplinarität als erstrebenswertes Ziel für die Alter(n)sforschung eingeführt wird, macht es daher Sinn, sich zunächst Ferring zuzuwenden. Ferring (2010: 23) definiert Transdisziplinarität unter Rückgriff auf Paul Burger und Rainer Kamber als dreifaches Unterfangen. Die Grenzen der Disziplinen sollen überschritten werden, die Forschung soll sich unmittelbar auf soziale und politische Kontexte auswirken und Nichtwissenschaftler sollen an ihr beteiligt werden. Damit geht er deutlich über das Verständnis von Mittelstraß (1998: 109; 2005) hinaus, der zumeist nur die ersten beiden Punkte einfordert. Bei Mittelstraß (2005) wird Transdisziplinarität an Institutionen wie den Forschungszentren amerikanischer Universitäten gelebt, die jenseits disziplinärer Zwänge arbeiten, also innerhalb der wissenschaftlichen Community. Auf den ersten Blick machen die drei Forderungen Ferrings angesichts der drängenden Probleme, die mit der zunehmenden demographischen Alterung vieler Gesellschaften einhergehen, unmittelbar Sinn. Um beim Beispiel Alzheimer zu bleiben – nicht nur sind klassische Grenzen der Disziplinen eher hinderlich: Ferring (2010: 25f.) merkt für seine eigene Disziplin, die Psycho-
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logie, an, dass sich viele Fragen des Alter(n) gar nicht ohne den Rückgriff auf andere Disziplinen lösen lassen. Die Forschung kann außerdem fraglos profitieren, wenn sich Fachleute aus der Praxis einbringen, denn gerade sie wissen am besten um den Alltag des Lebens mit Alzheimer und kennen die Sorgen und Nöte der Alten, der Familien sowie die konkreten Regelungen, die sie betreffen. Außerdem ist es bei all den gesellschaftlichen Problemen mit der steigenden Zahl von Alzheimererkrankten absolut wünschenswert, dass die Ergebnisse der Forschung in der Praxis ankommen. Dazu dürfen sie nicht abgehoben sein, sondern praktikabel – ein weiterer Grund, der für die Einbindung von Praktikern spricht. So einleuchtend und verlockend also die Forderung nach transdisziplinärer Forschung klingt, so schnell werden in Ferrings Aufsatz Schwachstellen offenkundig. Das beginnt damit, dass Ferring (2010: 27) das Problem unterschiedlicher Herangehensweisen und Sprachstile der Disziplinen durch den metatheoretischen Ansatz des Psychologen Urie Bronfenbrenner aus der Jugendforschung lösen will. Er ist also selber gar nicht bereit, die Grenzen seiner eigenen Disziplin sonderlich weit zu verlassen. Doch selbst wenn man zugesteht, dass Bronfenbrenner eine interessante Metatheorie entwickelt hat, kann Ferring keine überzeugenden Gründe für transdisziplinäre Forschung bieten. Sein Argument, dass neuartige Entwicklungen wie die Telemedizin oder Telepflege (Ferring 2010: 30) durch die Zusammenarbeit von Forschern aus verschiedenen Disziplinen und Praktikern profitieren können, ist unbestritten. Dass lebensweltliche Anwendungen von wissenschaftlichen Erkenntnissen keinen Halt vor disziplinären oder gar wissenschaftlichen Grenzen machen, ist freilich keine sonderlich neue Erkenntnis. Ein Blick in die Forschungslabore von Unternehmen, die Lösungen für Telemedizin und -pflege entwickeln, würde bestätigen, dass dieser Weg erfolgsversprechend ist. Jenseits der Universität arbeiten schon immer Fachleute mit verschiedenen Hintergründen und Praktiker an neuen Produkten etc. um wichtige gesellschaftliche Bedürfnisse zu befriedigen. Die eigentlich interessante Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist die nach dem umgekehrten Weg. Dass die Universität, wenn sie sich Mühe gibt und sich öffnet, in der ›realen Welt‹ helfen kann, liegt auf der Hand. Doch welchen Beitrag kann Transdisziplinarität im Sinne Ferrings für die Theoriebildung und die Beantwortung von Forschungsfragen leisten? Welcher besondere Mehrwert ergibt sich für die einzelnen Disziplinen, wenn sie sich in transdisziplinären Projekten an die Lösung konkreter Probleme machen? Für Ferring (2010: 31) folgen daraus sogar eher Probleme. Seine an dieser Stelle verengte Sicht auf Wissenschaft geht davon aus, dass die »Wertneutralität und intersubjektiv konstruierte[.] Objektivität« leidet, wenn man sich aus einem kontrollierbaren Setting hinaus in die Welt vor den Türen der universitären Institute begibt.
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Erneut zeigt sich, wie sehr Ferring in der wissenschaftlichen Logik seiner Disziplin verhaftet und damit nicht in der Lage ist, die Möglichkeiten transdisziplinärer Forschung zu Ende zu denken. Für qualitative Sozialforscher oder Ethnologen sind z.B. die Schwierigkeiten, die Ferring aufwirft, nicht vorhanden. Da sie nicht, wie es Ferring (2010: 31) als Vertreter positivistischer Wissenschaft vorschwebt, beschreiben und erklären, um Vorhersagen treffen zu können, geht es ihnen auch nicht zwangsläufig um Wertneutralität und Intersubjektivität. Es gibt sogar eine Richtung, die Ferrings Forderung nach der Einbindung von Spezialisten aus der Praxis längst aufgegriffen hat, dazu aber epistemologische Grundlagen liefert (Greenwood/Levin 2007: 66-68). Action research oder, zu Deutsch, Aktionsforschung stellt den Versuch dar, in enger Zusammenarbeit und Abstimmung mit Spezialisten und Betroffenen, Probleme auf der einen Seite zu lösen, auf der anderen Seite gleichzeitig wissenschaftliche Erkenntnisse zu generieren. Die externen Partner im Forschungsprozess sind nicht wie bei Ferring potenzielle Störfaktoren und damit trotz aller Bekenntnisse zu Transdisziplinarität Hindernisse auf dem Weg zur wahren Wissenschaft, sondern im Gegenteil ganz wesentlich beteiligt am Prozess. Selbst wenn action research sicher nicht den Mainstream sozialwissenschaftlicher Forschung darstellt, ist es verwunderlich, dass Ferring sich überhaupt nicht auf sie bezieht. Ferrings Forderung nach Transdisziplinarität scheitert also schon in den Ansätzen. Dass die Aufsätze der Praktiker im von ihm mitherausgegebenen Band nicht unbedingt überzeugend sind, verdeutlicht nur noch mehr, dass die Herausforderungen transdisziplinärer Forschung noch zu groß sind. Der Weg von der Forschung in die Praxis hinein lässt sich durch Transdisziplinarität ebnen, doch das ist nicht das eigentliche Problem. Der Weg zurück aus der Praxis in die Theoriebildung ist weit weniger klar, so dass sich die Frage stellt, was die Disziplinen für ihre originären wissenschaftlichen Belange von Ferrings Ansätzen haben sollen. Entgegen dem Trend zur Inter- und Transdisziplinarität, der sich in Aufsätzen wie dem von Ferring manifestiert, der hier nur stellvertretend für vergleichbare Herangehensweisen referiert wurde, soll der Blick im vorliegenden Band vielmehr auf die methodische Ausrichtung der einzelnen Disziplinen gerichtet werden. In Anlehnung an Ferrings Mitherausgeberin Breinbauer (2010: 51) sehen wir es als wichtig an, dass sich die Disziplinen zunächst auf ihre »jeweilige ›Eigenlogik‹« besinnen. Gerade weil das Alter als Prozess, die Lebensphase Alter und der alte Mensch selbst so komplexe Forschungsgegenstände sind, die die jeweiligen Forschungsgrenzen der einzelnen Disziplinen überschreiten, ist es innerdisziplinär von immenser Bedeutung zu reflektieren, welche methodische Herangehensweise einen Erkenntnisgewinn verspricht. Wir vertreten im Gegensatz zu Ansätzen wie dem von Ferring die Ansicht, dass zunächst die weitere Klärung der disziplinären theoretischen Grundlagen
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von Nöten ist. Um noch einmal Alzheimer als Beispiel aufzugreifen – so lange die einzelnen Disziplinen noch keine klare Forschungsstrategie entwickelt haben, um aus komplexen Kontexten wie Alzheimer Erkenntnisse abzuleiten, macht es wenig Sinn, transdisziplinäre Versuche zu starten. Das gilt umso mehr, als Stefan Hartmann (2005: 341) zu Recht bemerkt hat, dass für ein transdisziplinäres Zusammengehen die Methodologie nicht vorhanden ist, also quasi die Metamethode als Verfahren, das die einzelnen Disziplinen in einen sinnvollen Forschungsrahmen zusammenführt. Ob das allerdings, wie es Hartmann vorschwebt, Wissenschaftstheoretiker in Zusammenarbeit mit den Vertretern der Disziplinen leisten können, darf ebenso bezweifelt werden. Mittelstraß (1998: 32f.) argumentiert, dass die Wissenschaftsforschung entweder zu wenig oder zu viel will. Weder kann sie durch die Analyse der Verständigung zwischen den Disziplinen diese zusammenführen noch alle diese Disziplinen einfach in ein System integrieren, das die Züge eines »Monstrums« hätte.
M E THODEN DER A LTER (N) SFORSCHUNG ? Die Wissenschaftsforschung kann also nicht die Rolle eines Tertium comparationis einnehmen, das aus einer abgehobenen Position heraus zwischen den Disziplinen übersetzen könnte. Unser Vorschlag sieht anders aus: Indem sich die Disziplinen zunächst ihres eigenen methodischen Zugangs im Rahmen der Alter(n)sforschung bewusst werden und diesen offenlegen, wird überhaupt erst deutlich, wo die kritischen Schnittstellen einer Übersetzung zwischen den verschiedenen ›Eigenlogiken‹ liegen. Die Fokussierung auf die ›Eigenlogiken‹ ist bereits deshalb unverzichtbar, weil die Alter(n)sforschung selbst keine Disziplin im wissenschaftssystematischen Sinne darstellt, sondern vielmehr ein Forschungsfeld oder -programm ist. Daher lebt sie davon, was die einzelnen Disziplinen an methodischen Zugangsweisen einbringen können. Bereits die in diesem Band versammelten Beiträge zeigen, dass sich in den Disziplinen sehr unterschiedliche Arbeitsund Zugangsweisen zu Fragestellungen des Alter(n)s herausgebildet haben und das Methodenspektrum in der Alter(n)sforschung extrem heterogen ist. Das griechische Wort méthodos bedeutet ›Weg auf ein Ziel hin‹. Dieser Weg wird in den Disziplinen auf je eigene Art und Weise beschritten. Wird in naturwissenschaftlichen Verfahren Wert auf eine Abfolge festgelegter Untersuchungsschritte gelegt, die zu einem wiederholbaren Ergebnis führen, so wird in den Philologien immer wieder diskutiert, ob von einer Methode im engeren Sinne überhaupt gesprochen werden kann, da keine methodengeleitete Textanalyse zu exakt reproduzierbaren Ergebnissen führt (Köppe/Winko 2007: 285). Ebenso wird z.B. in dem von Hilke Engfer im vorliegenden Band disku-
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tierten ethnomethodologischen Ansatz erst im Laufe der Feldforschung während der Datenerhebung der methodische Zugang aufgrund der beobachteten sozialen Handlungen gewählt. Die unterschiedlichen methodischen Zugangsweisen sind in den einzelnen Disziplinen über Jahrzehnte hinweg entwickelt und immer wieder modifiziert worden. Dabei spielt aber nicht nur die Art und Weise der untersuchten bzw. erhobenen Daten und Fakten, sondern auch das diesen zugrundeliegende Konzept von Alter(n) eine entscheidende Rolle. Es geht also nicht nur darum, den ›Weg‹ zu beschreiben, sondern für einen erfolgsversprechenden Forschungsansatz ist es zudem wichtig zu bestimmen, was der Ausgangspunkt der Forschung sein kann. Die ›Probleme‹ kommen nicht einfach von außen auf die Wissenschaft zu, wie es Mittelstraß immer wieder nahe legt. Breinbauer (2010: 39) hat ihn in diesem Punkt zu Recht kritisiert. Es gibt ›Probleme‹ wie das ›Alter‹ nicht einfach als externe Gegebenheit, der sich die Wissenschaft nur noch nähern müsste. Auch für die Alter(n)sforschung gilt, dass die Disziplinen an den Formulierungen ihrer Probleme beteiligt sind und die Art und Weise, wie sie das tun, einen entscheidenden Einfluss auf das Design von Forschungsprojekten und deren Ergebnisse hat. Das Beispiel von Auguste D. verdeutlicht, welche Bedeutung der Alter(n)sbegriff für die Formulierung des ›Problems‹ hat. Die Demenzforschung, die heute einen wichtigen Teil der Altersforschung ausmacht, hat ihren Ausgangspunkt von der Untersuchung der präsenilen Demenz und damit eines im Lauf des Erwachsenenalters bereits eingetretenen Krankheitsbildes genommen. Die Ethnologin Willemijn de Jong hat am Beispiel ihrer Forschungen zu Alterskonzepten in Südindien gezeigt, dass die Vorstellungen, wann ein Mensch alt ist, extrem heterogen sind. Schwankt in Europa die individuelle Einschätzung des Beginns der Lebensphase Alter um ungefähr zehn Jahre, so haben Befragungen in Indien gezeigt, dass dort die subjektive Wahrnehmung des Alters extrem unterschiedlich ist. Befragte haben den Beginn der Lebensphase Alter zwischen dem fünfzigsten bis achtzigsten Lebensjahr angesiedelt (de Jong 2012: 56). Diese großen Unterschiede in der Alterswahrnehmung zeigen, dass Alter eine Differenzkategorie ist. Das bedeutet: Wann ein Mensch als alt wahrgenommen wird, hängt auch davon ab, welche Konzepte von Kindheit/Jugend und dem Erwachsenenalter in einer Gesellschaft vorherrschen. So kann jemand in einer Gesellschaft bereits als alt wahrgenommen werden, weil er nicht mehr im Berufsleben aktiv ist, wohingegen in einem anderen kulturellen Umfeld ein Mensch erst dann als alt angesehen wird, wenn er sich nicht mehr selbst versorgen kann und pflegebedürftig wird. Die Spanne zwischen diesen beiden Zäsuren im Lebenslauf ist in den westlichen Gesellschaften inzwischen recht hoch. Hinzu kommt, dass die Gruppe der alten Menschen extrem heterogen ist und die Gemeinsamkeiten im Vergleich zu anderen Altersgruppen und Lebensphasen äußerst gering sind. Die unterschiedlichen Alterswahrnehmungen und die Heterogenität des Forschungsgegenstandes
Methoden der Alter(n)sforschung
haben auch Konsequenzen für die Alter(n)sforschung: In dieser ist die Unterscheidung der Lebensphase Alter in das ›dritte‹ und das ›vierte‹ Lebensalter inzwischen etabliert. Von daher ist es unabdingbar zu definieren, was in einer Disziplin oder einem Forschungsprojekt unter ›Alter‹ verstanden wird und welche Facette dieses meist vielfältigen Altersbegriffs analysiert wird. Einen Forschungsgegenstand ›Alter‹ gibt es also nicht. Die Altersbegriffe sind je nach Fragestellung selbst in den einzelnen Disziplinen nicht zwangsläufig deckungsgleich. Ein Arbeitsmediziner, der sich mit dem dreißigjährigen, aus dem aktiven Erwerbsleben ausscheidenden Spitzensportler oder dem fünfzigjährigen Fließbandarbeiter beschäftigt, würde nicht anzweifeln, dass er Alter(n)sforschung betreibt. Ebenso wenig würde der Medizinethiker, der sich mit Fragen der würdevollen Pflege am Lebensende beschäftigt, in Frage stellen, dass seine Forschungen einen wichtigen Beitrag zur Alter(n)sforschung darstellen. Selbst wenn jeder Einzelne eine konkrete Vorstellung haben mag, was mit ›Altern‹ und ›Alter‹ gemeint ist, zeigt ein Blick in die Forschung, dass die Möglichkeiten, das ›Alter‹ zu definieren, sehr umfangreich sind, und die Selbstvergewisserung in Bezug auf den eigenen Forschungsgegenstand in den einzelnen Disziplinen nicht abgeschlossen ist. »Was ist Alter?« – diese Frage stellt ein von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften angeregter und von Ursula M. Staudinger und Heinz Häfner 2008 herausgegebener Sammelband. Die Beiträge zeigen, dass die Definition des Forschungsgegenstandes oder der Forschungsgegenstände der Alter(n)sforschung noch lange nicht abgeschlossen sind. Ebenso betonen die Autoren der aktuellen Ausgabe des Handbook of Theories of Aging (2009) die wichtige Bedeutung der Theoriebildung für die Alter(n)sforschung. Dieses Statement verweist ebenfalls darauf, dass die Positionierung der einzelnen Disziplinen wie auch der disziplinübergreifenden Forschung noch lange nicht abgeschlossen ist. Darüber hinaus zeigt der Band, der zugleich einen Überblick über die verschiedenen Disziplinen der Alter(n)sforschung gibt, nach wie vor ein großes Theorie- bzw. Forschungsdefizit in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen, die jenseits der Politikwissenschaft kaum mit Beiträgen vertreten sind. Allerdings zeigen diese und andere Buchprojekte zugleich einen gegenwärtigen Wandel in der Forschung auf. Wurde in den 1990er Jahren versucht, über verschiedene Definitionsmöglichkeiten wie ›chronologisches Alter‹, ›biologisches Alter‹, ›funktionales Alter‹ oder ›gefühltes Alter‹ (vgl. Pohlmann 2004: 11-44) die Positionierung der Sozial- und Kulturwissenschaften zu verdeutlichen und die Differenz zum Alter(n)sbegriff in den Biowissenschaften zu markieren, so lassen sich gegenwärtig in den verschiedenen Forschungsbeiträgen – in Anlehnung an die Definition der Gerontologie durch Paul B. und Margret M. Baltes, der zufolge sich die Disziplin »mit der Beschreibung, Erklärung und Modifikation von körperlichen, psychischen, sozialen, historischen und kultu-
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rellen Aspekten des Alterns und des Alters« (Baltes/Baltes 1994: 8) beschäftigt –, vier verschiedene Altersbegriffe unterscheiden: •
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Alter(n) als körperlicher Prozess und Zustand, in dem biologische, biochemische und medizinische Untersuchungsansätze im Zentrum stehen. Hier befindet sich die Alter(n)sforschung immer auf einem schmalen Pfad, der natürliches Altern von pathologischen Veränderungen des Körpers unterscheiden muss. Alter(n) als entwicklungspsychologischer Prozess setzt ebenfalls eine Lebenslaufperspektive voraus. Ausgehend von diesem Altersbegriff wird gefragt, welche Entwicklungen für welche Lebensphase charakteristisch sind. Im fortgeschrittenen Alter stellt sich dann die Frage, welche Abbauprozesse im Lauf des Lebens zu erwarten sind und welche Gewinne diesen entgegenstehen. Irmhild Saake hat in ihrer Dissertation darauf verwiesen, dass Alter immer bereits ein Konstrukt ist, das heißt dass ›das Alter‹ kein naturgegebenes Faktum ist, sondern einen Erklärungsansatz für Veränderungen im Lebenslauf oder des Körpers bietet. Diese werden durch die Kategorie ›Alter‹ erklärt, und damit wird ihnen Sinn zugewiesen (Saake 1998: 11). Alter ist also immer bereits sozial oder kulturell überformt. Somit lassen sich zwei Konstruktionsmöglichkeiten unterscheiden: Alter als soziale Konstruktion, das heißt als eine institutionalisierte Sinngebung innerhalb einer Gesellschaft, die soziale Rollen und Praktiken alter Menschen in Familie und Gesellschaft beschreiben. Etwas abstrakter formuliert können soziale Konstruktionen auch angesehen werden als »Idee[.], die in bestimmte Semantiken gefasst, als Ordnungsvorstellung […] sich verbreiten, und durch Anerkennung sich zu sozialen Tatsachen verdichten, die dann von den Menschen als faktisch vorhanden angesehen werden« (Amann 2012: 222f.). Alter kann darüber hinaus aber auch als kulturelles Konstrukt verstanden werden, das heißt, im Rahmen dieses Verständnisses von Alter werden Wahrnehmungen und Bewertungen des Alters, die in Altersrollen, -stereotypen und -bildern zum Ausdruck kommen, untersucht (Ehmer 2008: 149). Als Quellen dienen dieser alter(n)swissenschaftlichen Forschungsrichtung künstlerische Artefakte ebenso wie biographische Quellen, die einen Zugang zu gesellschaftlichen Altersvorstellungen jenseits institutionalisierter Normen und Praktiken ermöglichen.
Am Beispiel dieser Unterscheidungen von Altersbegriffen lässt sich darlegen, dass bereits innerhalb einer Disziplin unterschiedliche theoretische Konzepte und Altersbegriffe unterschiedliche methodische Zugänge bedingen. Für die Geschichtswissenschaft hat Josef Ehmer gezeigt, dass das Verständnis von Alter als kulturelles oder soziales Konstrukt methodische Auswirkungen auf
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die Untersuchung hat. Wählt die kulturgeschichtliche Altersforschung ideen-, geistes- oder diskursgeschichtliche Zugänge zu ihrem Forschungsgegenstand, so liegt in der sozialgeschichtlichen Altersforschung der Schwerpunkt in demographischen Untersuchungen und der Analyse verschiedener gesellschaftlicher Rollen (Ehmer 2008). Dabei ist allerdings zu beachten, dass nicht nur die Definition des Altersbegriffs selbst, sondern auch dessen historischer Wandel berücksichtigt werden muss. Josef Ehmer (2008) hat aus historischer Perspektive in einem Überblick über den gegenwärtigen Stand der Altersforschung in seinem Fach, das auf eine längere Forschungstradition zurückblicken kann, darauf hingewiesen, dass es immer alte Menschen gab, dass aber der Lebensstandard und die Gesundheitsversorgung einen wesentlichen Einfluss darauf haben, wann ein Mensch tatsächlich als alt wahrgenommen wird. Daher stellt er die gegenwärtigen Definitionen des ›Alters‹ grundsätzlich in Frage: Dieser Entwicklung würde es besser gerecht, den chronologischen Beginn des Alters etwa bei 80 oder 85 zu verorten – was es schwerer machen würde, den demographischen Wandel als ›Alterung‹ oder gar ›Überalterung‹ zu interpretieren. In der Tat wird in den Sozialwissenschaften, und in geringerem Maß auch in der Öffentlichkeit, die Lebensphase über 60 zunehmend differenziert (Ehmer 2008: 162f.).
Alter, so können wir unsere oben angeführten Überlegungen zur Altersdefinition erweitern, ist also nicht nur ein in der Gegenwart differenzierter Prozess, sondern ist auch eine historisch variable Größe. Dabei ist nicht nur zu beachten, dass das Verständnis von Alter(n) lokal und zeitlich abhängig ist, ebenso spielen die Denkkonzepte, von denen die wissenschaftliche Erforschung von Altern und Alter ihren Ausgangspunkt nehmen, aber auch das Alltagsverständnis der Forscherinnen und Forscher und der von Ehmer angedeutete politische Kontext eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Die Forschungen zum Alter unterliegen also – wie alle Forschungen zum Menschen in der Geschichte – kontextuell gebundenen Deutungsschemata (Oexle 2002). Willemijn de Jong spricht daher von Alter(n) als einem travelling concept: Konzepte wie Alter oder Altern sowie Körper, Verwandtschaft, Geschlecht, Generation und Genealogie haben grundsätzlich eine mobilen und flexiblen Charakter: Als travelling concepts bewegen sie sich durch Natur- und Humanwissenschaften, durch verschiedene Räume und Zeiten und verändern auf der Wanderung ihren Inhalt – und sie setzen die Fakten in Bewegung (de Jong 2012: 66).
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P OSITIONEN DER D ISZIPLINEN – TR ANSDISZIPLINÄRE P ERSPEK TIVEN ? Damit wird Transdisziplinarität noch problematischer. Wenn es das Alter(n) nicht gibt, sondern verschiedene (disziplinäre) Sichtweisen aus guten Gründen mit unterschiedlichen Alter(n)sbegriffen arbeiten, gibt es auch kein einheitliches Problem Alter(n), das im Sinne von Mittelstraß von außen auf die Wissenschaft zukäme. Die Disziplinen müssen sich damit nicht mehr ent- und umstrukturieren, weil die externe Realität dies nahelegt, sondern sie legen sich ihre Probleme selbst zurecht. Gleichzeitig ist klar, dass Disziplinen nur teils kontingente Wege der Institutionalisierung in der Wissenschaft beschreiben (Mittelstraß 2005). Das Zurechtlegen der Probleme erzeugt also wohl zwangsläufig blinde Flecken, die durch entdisziplinierte Zugänge aufgedeckt werden könnten. Letztlich bestimmen jedoch nicht die Disziplinen völlig, wie geforscht wird, sondern es sind die Forscherinnen und Forscher, die sich aus unterschiedlichsten Gründen mal mehr mal weniger an disziplinäre Grenzen gebunden fühlen – oder wie Mittelstraß (1998: 104) sagen würde: Forschen ist praktisches Handeln, das damit anderen Regeln unterliegt als Wissenschaft in ihrer Theorieform, der es um die Darstellung ihres Erkenntnisstandes geht. Im praktischen Handeln wird oft genug deutlich, dass ein Methodenmix, der die eigenen disziplinären Grenzen überschreitet, der Fragestellung besser entspricht als die disziplinierten Wege. Ohnehin sind zahlreiche Methoden längst nicht mehr in der Weise an Disziplinen gebunden, wie sie es früher einmal waren, sondern längst transdisziplinäres Allgemeingut in einer Art und Weise, die weder Mittelstraß noch Ferring oder andere Autoren bisher angesprochen haben. Die teilnehmende Beobachtung, einst Schlüsseldisziplin der Ethnologen, ist in der Alter(n)sforschung Methode der Wahl für Linguisten, Arbeitsmediziner oder Soziologen, wie sich auch in diesem Band zeigt. Ähnliche Brücken und Verbindungen gibt es zwischen den einzelnen Beiträgen immer wieder. Deshalb ist es unserer Ansicht nach gar nicht so bedeutsam, Transdisziplinarität als großes eigenes Programm einzufordern. Viel wichtiger und lebensnäher ist es, wenn Vertreter einzelner Disziplinen zunächst ihre eigenen Zugänge gründlich reflektieren und sich darüber im Klaren sind, welche ihrer wohlerprobten Methoden für die Alter(n)sforschung greifen und welche neuen Wege sie beschreiten können. Wenn die Forscher auf Basis dessen ins Gespräch kommen, so hat die Tagung gezeigt, die diesem Band und den Beiträgen zugrunde liegt, ergeben sich sehr schnell und sehr pragmatisch transdisziplinäre Verbindungen, die ausbaufähig sind. Insofern kann Transdisziplinarität aus unserer Sicht kein Metaprogramm sein, das den Disziplinen übergestülpt wird. Sie ist eher ein Netzwerk mit immer neuen Verbindungen zwischen Gleichgestellten, die bereit sind, in das
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Gespräch einzutreten, weil es ihnen neue und erfolgversprechende Wege aufzeigt. Dieses Gespräch bedingt, dass sich die Beteiligten über die Grenzen der eigenen Begrifflichkeiten im Klaren sind. Ihre je eigene disziplinäre Sprache lässt sich nicht vollends übersetzen, und Missverständnisse müssen als Folge dieser Inkommensurabilität einkalkuliert werden. Anders als Ferring (2010: 26) sehen wir darin allerdings nicht unbedingt ein Problem. So lange sich die Beteiligten dessen bewusst sind, ist es bei Weitem produktiver, die Inkommensurabilität anzunehmen, anstatt metatheoretischen Chimären nachzujagen. Außerdem geht es in unserer Diskussion um Methoden, also um Handeln, wobei Missverständnisse der kreativen Erschließung neuer Wege dienen können.
P ERSPEK TIVEN AUF DAS A LTER (N) Die Beiträge des Bandes gehen auf die Tagung »Methodische Perspektiven in der Alter(n)sforschung« des Graduiertenkollegs »Alter(n) als kulturelle Konzeption und Praxis« zurück, die vom 22.–23. November 2012 in Düsseldorf Kaiserswerth stattgefunden hat. Die Beiträge haben gezeigt, dass im Fall der Altersforschung dieses Netzwerk von verschiedenen grundlegenden Aspekten ausgeht oder einen Rahmen erhält. Es entwickelt sich einerseits im Spannungsfeld von etablierten Methoden und neuen methodischen Ansätzen. Eine Reihe von bewährten Methoden ist einfach noch nicht auf die Probleme des Alter(n)s angewendet worden, so dass es lohnend erscheint, sich zunächst dieser zu bedienen. Einige der neuen Probleme lassen sich aber mit dem erprobten Arsenal an Methoden nicht lösen, und es kommt daher zu Neuentwicklungen. Auf der anderen Seite wird der Bogen von Grundlagenforschung, die sich in Auseinandersetzung mit den verschiedenen Alter(n)sbegriffen mit möglichen methodischen Zugängen auseinandersetzt, zu interventionistischen Forschungsprojekten gespannt. Neben den methodischen Zugängen und deren Verortung im Rahmen des Forschungsnetzwerkes lässt sich aber noch eine zweite Zuordnung der Beiträge vornehmen. Hier spielt weniger die methodische Ausrichtung der einzelnen Disziplinen eine Rolle als vielmehr das Forschungsinteresse und sein Bezug zum Altersbegriff bzw. die Reflexion des Methodenbegriffs. Unter diesen Gesichtspunkten lassen sich die Beiträge des Bandes folgenden fünf Perspektiven zuordnen, wobei alle Beiträge mehr als einmal vertreten sind: • • • • •
Diskursanalyse Lebenslaufperspektive Körper Alter und Fremdheit Ansätze, die Wissen durch Intervention generieren.
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Die unterschiedliche methodische und inhaltliche Zuordnung der Beiträge zu den einzelnen Aspekten zeigt auf, dass es im Netzwerk Alter(n)sforschung einerseits wichtige fachliche Positionen gibt, dass diese aber andererseits verschiedene Möglichkeiten bieten, um die einzelnen Forschungsprojekte miteinander zu vernetzen. Damit entstehen aus dem disziplinären Zugang verschiedene gemeinsame transdisziplinäre Perspektiven wie die fünf angesprochenen. So kann sich aus den methodischen Zugängen der einzelnen Disziplinen heraus eine größere transdisziplinäre Herangehensweise entwickeln, die nicht davon lebt, die Disziplinen aufzulösen oder durch eine Metaperspektive abzulösen, sondern die aus dem Gespräch der Disziplinen miteinander entsteht.
D ISKURSANALYSE Eine Schnittmenge, in der sich verschiedene Beiträge finden, ist ein weit gefasster Begriff von Diskursanalyse. Wie bereits die vielfältigen Möglichkeiten, den Altersbegriff zu definieren, und das Verständnis von Alter als travelling concept gezeigt haben, ist das Alter(n) ein Forschungsgegenstand, um den in den Disziplinen immer wieder gerungen werden muss, da er in ständiger Bewegung ist. Diskursanalytische Untersuchungen versuchen daher immer wieder herauszufinden, wie über ›das Alter‹ gesprochen wird und welche Altersbegriffe in historischen und gegenwärtigen Kommunikationssystemen eingesetzt werden, um mehr oder weniger klar umrissene Ziele zu erreichen. Der Diskursbegriff, der den vorliegenden Untersuchungen zugrunde liegt, ist dabei weniger an den Überlegungen von Jürgen Habermas zum herrschaftsfreien Diskurs oder an der klassischen Gesprächsanalyse orientiert, sondern nimmt Michel Foucaults Diskursbegriff auf, der herauszufinden versucht, wie innerhalb von Kommunikationsprozessen die Gegenstände gebildet werden, von denen diese handeln (Keller u.a. 22006: 11f.). Die Frage ist also, wie wird wann über Alter gesprochen und welche Definition von ›Alter(n)‹ liegt der jeweiligen Kommunikationssituation zugrunde. Spätestens seit Gerd Göckenjans beeindruckender Studie Das Alter würdigen (2000) hat die Diskursanalyse einen festen Platz in der Alter(n)sforschung. Der Sozialwissenschaftler zeigt anhand von vielfältigen Beispielen aus unterschiedlichen schriftlichen Textsorten auf, dass ›Alter‹ in der Regel als Abgrenzungskonzept zwischen Jung und Alt entworfen und damit die Gruppe der Alten in die Gesellschaft integriert oder als Randgruppe markiert wird, deren Verhalten durch Erwartungscodes gesteuert werden soll. Der Beitrag von Didier Lett setzt mit dem Mittelalter in einem historischen Zeitraum an, den Gerd Göckenjan weitgehend ausgelassen hat. Er untersucht am Beispiel von Heiligsprechungsverfahren und anderen Prozessakten wie
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neben Herkunft und Name das Alter der Zeugen zunehmend als Identitätsmarker in den Protokollen eine Rolle spielt. In der betrachteten historischen Konstellation zeigt sich ein Übergang in der Wahrnehmung von Alter, der dadurch ersichtlich ist, dass soziales Alter und chronologisches Alter nicht deckungsgleich sind. Da an das Wissen um das chronologische Alter keine gesellschaftliche Bedeutung gebunden ist, kann dieses dem Zeugen kein machtvolles Wissen zubilligen. Albrecht Classens Beitrag zur Schwankliteratur der Frühen Neuzeit schließt ebenfalls an Gerd Göckenjans Untersuchung an und erweitert das methodische Vorgehen um mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen. Er nennt ein breites Spektrum an Altersdarstellungen in der deutschsprachigen Literatur der Frühen Neuzeit und verweist damit auf die normative Grundhaltung der Schwankliteratur, die vor allem in Bezug auf die Generationenbeziehungen Erwartungscodes thematisiert. Sabine Kampmann fokussiert in ihrem Beitrag auf den Begriff des ›Altersbildes‹ und geht von der Beobachtung aus, dass nicht nur im Alltag sondern auch in vielen wissenschaftlichen Disziplinen selten offengelegt wird, was unter diesem Begriff tatsächlich verstanden wird. Sie entwickelt am Beispiel der Bilder David Coplans Überlegungen zur Darstellung alter Körper und dem Realitätsgehalt in der Fotografie. Dabei zeigt sie auf, wie fotografische Altersbilder in den zeitgenössischen Diskurs über Alter(n) eingreifen können. Weder bildkünstlerische noch literarische Artefakte stehen im Fokus des Beitrags von Mark Schweda. Der Medizinethiker stellt die Frage, wie im öffentlichen Diskurs, besonders aber in der medizinethischen Diskussion selbst, mit Fragen der Altersforschung umgegangen wird. Seine kritischen Beobachtungen unter anderem zur Diskussion um den würdevollen Umgang mit pflegebedürftigen alten Menschen kommen zum Ergebnis, dass in der medizinethischen Debatte der Altersbegriff reflektiert werden müsste. Der Altersdiskurs ist nicht nur ein medialer oder institutioneller über alte Menschen und die Lebensphase Alter. Er wird zugleich auch von den alten Menschen selbst mitgeprägt. Wie dieses Wechselverhältnis aussieht und wie die alten Menschen selbst in die ständige Re-Definition des Altersbegriffs eingreifen, untersucht das Projekt Vom wohlverdienten Ruhestand zum Alterskraftunternehmer, das im Beitrag von Richter et al. in seiner methodischen Konzeption vorgestellt wird.
L EBENSL AUFPERSPEK TIVE Alter ist aber nicht nur ein abstraktes, in der Kommunikation entwickeltes theoretisches Konstrukt, wie es die Diskursanalyse behandelt. Der Beitrag der soziologischen Forschungsgruppe Vom wohlverdienten Ruhestand zum Alterskraftunternehmer zeigt, dass gerade von älteren Menschen das Alter bzw. der
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Ruhestand mit dem radikalen Abgrenzungskonstrukt des »Vortodes« (Richter et al.) versehen wird. Diese metaphorische Sichtweise des Ruhestandes wird in der Interviewsituation von den Interviewten als Abgrenzungskonzept benutzt, das Passivität und fehlende Lebensfreude zum Ausdruck bringen soll und mit dem sich die ›aktiven Alten‹ gerade nicht identifizieren wollen. Damit verweisen die befragten Ruheständler allerdings auf eine Facette der Lebensphase Alter, die im Bild der ›jungen Alten‹ gerne ausgeblendet wird, die aber für die Alter(n)sforschung einen wichtigen Ansatzpunkt bietet: Das Alter ist die Lebensphase des Menschen, die mit dem Lebensende, das heißt mit dem Tod abschließt. Wie die frühneuzeitlichen Alterstreppendarstellungen zeigen, ist die Lebensphase Alter integriert in eine soziokulturelle Strukturierung des Lebenslaufs, die gegenwärtig mit der Verrentung in der Regel an ihr Ende kommt, für die sich aber auch in anderen Epochen mehr oder weniger eindeutige Übergangsrituale entwickelt haben. In der Gegenwart scheinen sich hier zwei Schwellen ausgebildet zu haben, die die Lebensphase Alter gliedern und positive und negative Aspekte dieser langen Lebensphase markieren: Die Verrentung einerseits wird oft als ›neue Freiheit‹ erfahren – der Übergang in das Pflegeheim hingegen bedeutet den Verlust der Autonomie in Bezug auf die Gestaltung des eigenen Alltags, aber auch das in der folgenden Perspektive zu betrachtende Verhältnis zum eigenen Körper. In der Forschung haben sich zwei Betrachtungsweisen etabliert, die sich in der Regel ergänzen: Einerseits wird die Lebensphase Alter im Kontext des gesamten Lebenslaufes gesehen und die Frage nach Kontinuität oder Brüchen in der Entwicklung der Identität alternder Menschen gestellt, andererseits wird die besondere Qualität der Lebensphase Alter in den Blick genommen. Wie die Metapher des ›Vortodes‹ bereits andeutet, ist die Lebensphase Alter häufig mit negativen Konnotationen und einer Abwehrhaltung verbunden. Die Angst vor dem Ich-Verlust bereits zu Lebzeiten zeigt sich dabei nicht nur in Auseinandersetzung mit Demenzerkrankungen, gerne wird sie auch mit dem Verlust der Autonomie durch die Übersiedlung in ein Pflegeheim verbunden. Ulla Kriebernegg zeigt in ihrem auf soziologische Forschungen zum Übergang ins Pflegeheim zurückgreifenden Beitrag auf, dass die Institutionalisierung des alternden Körpers nicht nur als Macht-, sondern zugleich auch als Identitätsverlust erfahren wird. Eine der Protagonistinnen des von ihr untersuchten Romans reagiert auf diese Erfahrungen mit einem Suizidversuch, der die Verlusterfahrung kennzeichnet. Die anderen Protagonisten wählen hingegen einen anderen Weg, indem sie zunehmend die Regeln und Normen des Pflegeheims unterlaufen und sich damit ihre Autonomie auch in der letzten Lebensphase bewahren. Dieser Befund findet sich bereits im literaturhistorischen Beitrag von Albrecht Classen. Er zeigt am Beispiel der deutschsprachigen Schwankliteratur zwischen 1500 und 1700 auf, dass alte Figuren nicht als hinfällig und würdelos gekennzeichnet sind, sondern dass das Alter als Lebensphase genauso zu sei-
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nem Recht kommt, wie die anderen Lebensstationen. Wie diese zeichnet sich auch das Alter durch positive und negative Aspekte aus, das heißt, die alten Figuren werden nicht durchgehend als lächerlich dargestellt, sondern entlarven zugleich die Schwächen der anderen Lebensphasen. Am Beispiel von historischen Prozessakten kann Didier Lett zeigen, wie das Alter der Zeugen zunehmend zu einem wichtigen Identitätsmerkmal wird, ohne dass sich bereits ein festes Regelsystem zur Angabe des chronologischen Alters herausgebildet hätte. Vielmehr gibt es auch hier gewisse Normen, die die Angaben zum chronologischen Alter steuern. Alter dient also im Kontext von Heiligsprechungen, Inquisition, aber auch im Rahmen von städtischen Gerichtsverfahren als Marker, der bestimmte Inhalte vermittelt, ohne zwangsläufig auf das konkrete Alter einer Person zu verweisen. Im ausgehenden Mittelalter, so legt es dieser Beitrag mit seinem Blick auf eine spezielle Quellengattung nahe, spielt die Lebensphase Alter im öffentlichen Leben vornehmlich in der Abgrenzung zu anderen Generationen eine Rolle.
K ÖRPER Das Vergehen von Zeit und damit das Altern als Prozess materialisiert sich im alternden Körper (vgl. Mehlmann/Ruby 2010). Ist der körperliche Veränderungsprozess in Kindheit und Jugend durch Entwicklung und Wachstum geprägt, so wird er nach der Lebensmitte zunehmend als Verfallsprozess wahrgenommen. Allerdings ist diese Wahrnehmung kulturell und sozial bedingt. Die soziale Konstruktion von Alter schlägt sich in der Wahrnehmung alter Körper nieder. Ein sehr eingängiges Beispiel der Normierung der Körperwahrnehmung sind Lebensaltersdarstellungen in Form von Lebenstreppen. Jeder Lebensphase wird hier eine Körperhaltung zugewiesen, die zugleich die gesellschaftliche Stellung der dargestellten Figur markiert (vgl. ebd.: 17; Knöll 2006). Gegenwärtig sind diese Normierungen etwas durcheinander geraten. Aufgrund des medizinischen Fortschritts ebenso wie der Anti-Aging-Medizin besteht derzeit die Möglichkeit, das Alter des Körpers zu verbergen und sein Altern zu beeinflussen. Es hat sich also nicht nur die Art und Weise, wie Alter(n) erlebt wird, verändert, sondern es hat sich darüber hinaus die Bedeutung gewandelt, die dem Körper als Träger von Merkmalen gelebten Lebens zukommt. Offensichtlich wird dies, wenn man bedenkt, dass zwei Zäsuren, die früher mit dem Eintritt in die Lebensphase Alter verbunden waren, heute auseinander fallen: der Eintritt in den Ruhestand als die Lebensphase, in der der Mensch keiner Erwerbsarbeit mehr nachgeht, und das sogenannte funktionale Alter, in dem der Mensch aufgrund verschiedener körperlicher Einbußen nicht mehr in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen. In der Gegenwart wird der Eintritt in das funktionale Alter oftmals mit der Übersiedlung in ein Pflege-
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heim markiert. In einer Reihe von Beiträgen dieses Sammelbandes zeichnet sich ab, dass der Verlust der Verfügungsgewalt über den eigenen Körper den Eintritt in die letzte Lebensphase bezeichnet. Insofern stellt der Körper als kulturelles Konstrukt und als unhintergehbare anthropologische Konstante einen wichtigen Forschungsgegenstand der Alter(n)swissenschaft dar und bietet für transdisziplinäre Zusammenarbeit eine fruchtbare Schnittmenge. Eine Forschungsdisziplin, in der der Körper bislang keine Beachtung fand, ist die Konversationsanalyse. Die Anglistin Hilke Engfer zeigt unter Bezugnahme auf ethnomethodologische Ansätze und in Abgrenzung von den Neurowissenschaften, dass die Konzentration auf sprachliche Äußerungen gerade im Umgang mit Demenzkranken und kognitiv beeinträchtigten Menschen keine geeignete Kommunikations- und Analyseform darstellt. Gerade durch die Infragestellung des Leib-Seele-Dualismus infolge von kognitiven Beeinträchtigungen müssen Formen der nonverbalen Kommunikation und vor allem körpersprachliche Austauschmöglichkeiten als Träger von Kommunikation in den Blick genommen werden. Die Überlegungen von Engfer verweisen aber auch auf ein weiteres Problem: Kognitiv beeinträchtigte Menschen können nicht nur keine ›normale‹ Konversation mehr führen, sie verlieren mit der Sprache zugleich auch die Verfügungsgewalt über ihren eigenen Körper. Ulla Kriebernegg geht diesem Machtverlust über den Körper und damit der Infragestellung der Identität im Alter am Beispiel der Übersiedlung in ein Pflegeheim nach. Allerdings untersucht sie die verschiedenen Arten, wie sich die Institution der Körper der alten Menschen bemächtigt, nicht am Beispiel von realen alten Menschen, sondern sie geht von der Zeichnung fiktiver alter Figuren im Roman Exit Lines von Joan Barfoot aus. Das Beispiel zeigt nicht nur auf, dass es in der fiktiven Darstellung sehr einfach möglich ist, reale Lebensbedingungen nachzuzeichnen. Die Wirkungsabsicht des Romans sieht Ulla Kriebernegg in der Sensibilisierung für einen Dialog der Generationen. Indem sich der Leser oder die Leserin in den alten Menschen und seinen pflegebedürftigen Körper hineinversetzt, kann es gelingen, Barrieren zwischen Alt und Jung abzubauen und der Fremdheit des alten Körpers dessen Normalität entgegenzuhalten. Zeigt der Roman von Joan Barfoot den schwierigen Übertritt des alten Menschen ins Pflegeheim, so nimmt ein rechtsmedizinisches Forschungsprojekt, das im Beitrag von Stefanie Ritz-Timme und Britta Gahr vorgestellt wird, den Ausnahmezustand in den Blick. Gewalt in der Pflege muss nicht zwangsläufig in Form von körperlicher Gewalt zum Ausdruck kommen, meist ist es aber der alte Körper, dem Gewalt angetan wird, oder der mit psychosomatischen Symptomen auf Gewalt reagiert. In diesem Forschungsprojekt wird untersucht, welchen Übergriffen die letzte Intimsphäre des alten Menschen ausgesetzt ist, und welche Interventionen es ermöglichen könnten, diesen letzten Schutzraum für den pflegebedürftigen Menschen zu erhalten.
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Der alte Körper kann folglich auf sehr unterschiedliche Arten zum Träger von Bedeutung und damit von Macht werden. Die Kunsthistorikerin Sabine Kampmann zeigt in ihrem Beitrag auf, dass bildlichen Darstellungen eine wichtige Rolle in der Entwicklung des Altersdiskurses zukommen. Gerade in fotografischen Altersdarstellungen sieht sie ein Spannungsfeld zwischen scheinbar realistischer Abbildung und semantischer Aufladung des Bildkörpers, das eine eindeutige Lesart eines Bildes unterläuft.
F REMDHEIT DES A LTER (N) S Einige Beiträge in diesem Band bedienen sich Sichtweisen und Methoden, die das Alter(n) als fremd und unbekannt aufscheinen lassen. Der demographische Wandel führt tatsächlich zu neuen, kaum gekannten alten Welten. Während Alte früher nur einen kleinen Anteil der Bevölkerung ausmachten, hat diese Generation jetzt ein Gewicht, das ihren Aktivitäten, Präferenzen und Bedürfnissen eine völlig neue gesellschaftliche Bedeutung verleiht. So war es noch vor wenigen Jahrzehnten eine Aufgabe für Spezialisten wie Psychiater, sich um Demenz Gedanken zu machen. Im Gegensatz dazu hat heute nahezu jeder schon Erfahrungen gemacht, wie befremdlich der geistige Horizont von Dementen für ›normale‹ Menschen wirken kann. Demenz als schwer zugängliche Welt mit eigenen Regeln ist das Thema von Hilke Engfer. Wenn sich Demente nicht mehr in gewohnter Weise artikulieren können, heißt das noch lange nicht, dass Kommunikation unmöglich wird. Sie verlagert sich nur auf andere Ebenen, wie beispielsweise diejenige des Körpers. Konsequenterweise beschreibt Engfer, wie methodische Ansätze aus der Ethnologie in diesem Fall nützlich sein können, einer Disziplin, die sich explizit dem Verständnis fremder Kulturen verschrieben hat. Garfinkels Ethnomethodologie oder Goffmans soziologische Weiterentwicklungen dienen dazu, Gesprächsanalyse und Kognitionsforschung aus der künstlichen Laboratmosphäre zu holen und ›in the wild‹ zu betreiben. Auch Melanie Hühn versucht im Rückgriff auf klassische Methoden der qualitativen Sozialforschung und der Ethnologie, wie der teilnehmenden Beobachtung eingebettet in den Ansatz der Grounded Theory von Glaser und Strauss, eine fremdartige Kultur des Alter(n)s zu ergründen. Sie fragt, welche Motive Ruhesitzwanderer haben, ständig zwischen Spanien und Deutschland zu wandern, und wie sich diese zeitweise Migration in ihrem Selbstverständnis niederschlägt. Die Alten sind dabei nicht zwischen zwei Identitäten zerrissen, sondern erobern sich einen transnationalen Raum, der ihren Ansprüchen an das Alter(n) entspricht. Weniger in der expliziten Anwendung klassischer ethnographischer Methoden als vielmehr in der Analyse eines Romans nähert sich Kriebernegg
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den durch den demographischen Wandel hervorgerufenen Fremdheitsphänomenen an, die in dieser Form bislang unbekannt waren. Stephen Katz (2005: 204) hat bemerkt, dass es zunehmend ethnographische Studien zu Pflegeheimen gibt. Doch Kriebernegg fasziniert vor allem die Schilderung eines Romans über diese Institutionen, die sie einer ethnographischen Studie gegenüberstellt. Der Roman vermag es, die Fremdheit des Alter(n)s und der damit betrauten Institutionen in einer Art und Weise wiederzugeben, die beim Leser Verständnis und Empathie erweckt. Minou Afzali ist in ihrem Beitrag sogar mit einer doppelten Fremdheit konfrontiert, die sie auf methodisch originelle und gleichzeitig sehr elegante Weise aufzulösen versucht. Sie will Institutionen für Zuwanderer in die Schweiz aus ihrer Sicht als Designerin umgestalten. Dazu muss sie Zugang zur kulturell fremden Sichtweise der BewohnerInnen finden, die je nach Herkunft andere Vorstellungen haben, wie sie altern wollen. Gleichzeitig erschwert die Demenz mancher Bewohner die Kommunikation und lässt ihre Welt als unzugänglich erscheinen. Da es ihnen also nicht unbedingt leicht fällt, ihre Wünsche klar zum Ausdruck zu bringen, setzt Afzali u.a. Cultural Probes ein. Diese Cultural Probes konfrontieren die Alten mit unterschiedlichen Aufgaben, die sie dazu anregen, ihren Alltag und ihre Umwelt zu beschreiben und zu bewerten.
I NTERVENTION Eine letzte Perspektive, die eine Reihe von Beiträgen im Band verbindet, ist das explizite Anliegen einiger Autoren, nicht nur mehr über das Alter(n) zu erfahren, sondern zu intervenieren. Da der demographische Wandel die Gesellschaft vor neue Herausforderungen stellt und das Alter(n) wie gesehen befremdet, liegt es auf der Hand, dass die Wissenschaft Wege austestet, ihre Forschung direkt für die Praxis relevant zu machen. Bei Kathrin Büter und Tom Motzek ist die Intervention vor allem durch die Frage begründet, wie bereits vorhandenes Wissen Eingang in die Praxis finden kann. Bislang haben Architekten die Erkenntnisse der Forschung in der Planung kaum genutzt, weil sie für sie nicht einfach zugänglich waren oder es ihnen schwer fiel, einzuschätzen, wie vertrauenswürdig diese Studien überhaupt waren. Deshalb war alter(n)sgerechtes Bauen bislang oft eine Frage der persönlichen Erfahrung oder der Kenntnis anderer Projekte. Angesichts des demographischen Wandels auf der einen Seite, durch den die Nachfrage nach alter(n)sgerechter Architektur zwangsläufig steigen wird, und einer wachsenden Anzahl relevanter Studien auf der anderen Seite ist das ein unbefriedigender Zustand. Indem sich das Emmy-Noether-Projekt, das Büter und Motzek zusammenfassen, evidenzbasierte Methoden zu Nutze macht, kann die Lücke zwischen Wissenschaft und Praxis gezielt geschlossen werden.
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Afzali geht in ihrem Projekt den umgekehrten Weg der Intervention. Immer mehr Zuwanderer sind in der Schweiz pflegebedürftig und möchten in einem vertrauten kulturellen Umfeld leben oder müssen dies sogar, weil sie durch ihre Demenz das als Zweitsprache erworbene Deutsch verlieren. Doch wie soll ihr Umfeld gestaltet werden, damit sie sich wohlfühlen und eine vertraute Umgebung vorfinden, die ihnen die Orientierung erleichtert? Statt jedoch den dafür verantwortlichen Designern Wissen aus bereits vorhandenen Studien leichter zugänglich zu machen, will Afzali die Präferenzen der Pflegeheimbewohner selbst zur Grundlage der Planungen machen. Deshalb wählt sie die Cultural Probes als Methode. Die Ergebnisse fließen direkt in neue gestalterische Lösungen ein, die ein Healing Environment zum Ziel haben. Die Beiträge von Stefanie Ritz-Timme und Britta Gahr sowie Andreas Müller, Matthias Weigl und Peter Angerer versuchen ebenfalls, im Rahmen der Intervention Wissen zu generieren. Das ist insofern leichter möglich als in anderen Disziplinen, da sowohl die disziplinäre Ausrichtung der Rechtsmedizin als auch diejenige der Arbeits- und Sozialmedizin grundlegende Affinität zur praktischen Anwendung haben. Wenn Gahr und Ritz-Timme darauf hinweisen, dass Gewalt in Pflegeheimen ein oft unterschätztes Problem darstellt, macht es Sinn, unmittelbar daran anschließend zu fragen, wie man hier Abhilfe schaffen kann. Das gilt umso mehr, als der Feldzugang zu den Institutionen deutlich erleichtert wird, wenn man als Forscher nicht nur die Zustände anprangert, sondern gleichzeitig Lösungen vorschlagen oder besser noch gemeinsam erarbeiten kann. Ähnliches lässt sich für die methodische Herangehensweise von Müller, Weigl und Angerer konstatieren. Ihre Methode der ›Gesundheitszirkel‹ schafft die Möglichkeit der Transmission des Wissens im Forschungsprojekt. Gleichzeitig lassen sich Ergebnisse, die durch andere Methoden, wie z.B. qualitative Interviews, gewonnen wurden, noch einmal mit den Partnern im Forschungsfeld selbst überprüfen und gegebenenfalls zuspitzen oder korrigieren. Auch Susanne Kolter kann auf Erfahrungen der Kunstgeschichte mit der praktischen Anwendung zurückgreifen, da die Kunstpädagogik Teil der Disziplin ist. Ihr Projekt, in Zusammenarbeit mit einem Pflegeheim in Oldenburg Führungen für alte Menschen in einem Kunstmuseum anzubieten, führt aber in einen völligen neuen Bereich. Es gibt nur wenige kunst- bzw. museumspädagogische Arbeiten, die sich spezifisch dem Alter(n) widmen (Knopp/Nell 2007; Neysters 2007; Kulturgeragogik 2012). Aus der Intervention Wissen zu generieren, um damit die Führungskonzepte verbessern zu können, ist zwar ein wichtiges Anliegen, angesichts des Anteils dementer Teilnehmer aber ein komplexes Unterfangen. So muss Kolter bei der Evaluation z.B. auf die Einschätzungen des begleitenden Personals zurückgreifen. Im Gegensatz dazu kann Akihiro Ogawa bei seinem Langzeitprojekt auf einen ausgearbeiteten epistemologischen Rahmen zurückgreifen. Er veran-
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kert seine methodische Intervention in einer japanischen Non-Governemental Organization, die sich im Bereich lebenslanges Lernen engagiert und vor allem ältere Bürger eines Stadtteils als Mitglieder hat, im Kontext der Action Research. Action Research geht zurück auf norwegische Forschungsprojekte in den 1940er Jahren. Sie verbindet den wissenschaftlichen Anspruch, Wissen zu generieren, mit dem gesellschaftlichen, positive Auswirkungen auf das Forschungsfeld zu haben. Ogawa schließt mit seinem Aufsatz an sein Buch The Failure of Civil Society?: The Third Sector and the State in Contemporary Japan von 2010 an, in dem er zeigen konnte, wie der japanische Staat NGOs gezielt instrumentalisiert, um dem demographischen Wandel kostengünstig zu begegnen. Damit schließt sich der Kreis zur Frage der Transdisziplinarität und dem Anspruch von Mittelstraß, dass Wissenschaft ›Probleme‹ der realen Welt lösen soll, sowie der Erweiterung durch Ferring, dass dabei Praktiker aus dem Feld mit eingebunden werden sollen. Es zeigt sich, dass dies längst in den Disziplinen passiert und nicht unbedingt eines transdisziplinären Rahmens bedarf. Dessen eingedenk wird der Diskurs zwischen den Disziplinen in der Alter(n)sforschung aber stets unabdingbar sein, um die unterschiedlichen Sichtweisen auf das Alter und die Deutungsschemata vom Alter(n) für die Erarbeitung neuer praktischer Ansätze fruchtbar zu machen.
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Zur Neuverhandlung der Lebensphase Alter Methodologische und methodische Überlegungen aus dispositivtheoretischer Perspektive Anna Richter, Tina Denninger, Silke van Dyk und Stephan Lessenich
Seit der Rentenreform 1957 wurden alte Menschen in Deutschland in den ›wohlverdienten Ruhestand‹ entlassen und von gesellschaftlichen Erwartungen weitgehend entbunden. Im Zuge der politischen Rede von der drohenden ›Überalterung‹ der Gesellschaft und der gleichzeitigen Entdeckung der ›Jungen Alten‹ scheint sich das Blatt in jüngerer Zeit jedoch zu wenden: Dem Rentenbezug korrespondiert nicht mehr die Rolle des zurückgezogenen Ruheständlers, sondern die des best ager mit produktiven Potenzialen. Die Alten werden als Lösung des Problems entdeckt, das sie durch ihre Überzahl angeblich selbst verursacht haben, nämlich dem demographischen Wandel und dessen Folgen. Ganz im Einklang mit der gesamtgesellschaftlichen Aktivierung im sozialstaatlichen Transformationsprozess (Lessenich 2009b) entwickelte sich die politische Strategie der Mobilisierung der Potenziale der Älteren in Nachbarschaftshilfe, Ehrenamt oder Enkelbetreuung. Dieser Aufruf zur Produktivität erfolgt in Form eines win-win-Versprechens: Es ist nicht nur die Gesellschaft, die von den aktiven Alten profitiert, es sind auch diese selbst: Ihnen wird ein individueller Nutzen in Aussicht gestellt, der unmittelbar mit dem gesellschaftlichen Nutzen zusammenhängt: So soll beispielsweise ehrenamtliches Engagement zu höherer gesellschaftlicher Anerkennung und besserer sozialer Integration führen. Und ganz allgemein gilt Aktivität aller Arten als Garant für bessere Gesundheit und ein längeres Leben ohne Abhängigkeit. Die Diagnose dieses Wandels bildete den Ausgangspunkt für das Forschungsprojekt Vom ›wohlverdienten Ruhestand‹ zum ›Alterskraftunternehmer‹? Bilder und Praktiken des Alter(n)s in der aktiv-gesellschaftlichen Transformation des deutschen Sozialstaats nach der Vereinigung, welches den gesellschaftlichen (Be-)Deutungswandel des ›dritten Lebensalters‹ im Zeichen der demographi-
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Anna Richter, Tina Denninger, Silke van Dyk und Stephan Lessenich
schen und wohlfahrtsstaatlichen Veränderungen nach 1989/90 untersucht hat.1 Das Projekt basiert auf einer doppelten Fragestellung: Wie genau stellt sich die vielfach behauptete – sozialwissenschaftlich in der Regel aber nur kursorisch erschlossene – Neuverhandlung des Alters im Kontext der genannten gesellschaftlichen Transformationsprozesse in den vergangenen Jahrzehnten dar? Und wie werden potenziell neuartige Anforderungen an die Lebensphase Alter von den alternden Subjekten selbst aufgenommen, verarbeitet, modifiziert oder auch ignoriert? Im Folgenden wollen wir unsere theoretisch-methodologischen Überlegungen und das daraus resultierende methodische Vorgehen zur Beantwortung dieser Fragen vorstellen.
THEORE TISCHE Ü BERLEGUNGEN Aus soziologischer Perspektive wird Altern als Prozess verstanden, in dem sich individuelle, sozialstrukturelle und kulturelle Faktoren verschränken, d.h. Alter ist nicht allein ein biologischer Prozess und eine individuelle Herausforderung, sondern es wird gesellschaftlich konstruiert und durch gesetzliche Regelungen und kulturelle Bilder geformt. Entsprechend gilt es methodisch, die strukturellen und kulturellen Kontexte systematisch in die Forschung einzubeziehen, ohne dabei die Individuen selbst aus den Augen zu verlieren. Oder anders ausgedrückt: Für die Theoriebildung wie für den empirischen Erkenntnisprozess zu Phänomenen des Alter(n)s ist die Verschränkung von Mikround Makroebene zentral (vgl. Amann/Kolland 2008). Institutionell ist die Lebensphase Alter seit den 1950er Jahren in Deutschland vor allem durch den in der Regel materiell abgesicherten Ausstieg aus der Erwerbsarbeit strukturiert, der auch die Bilder und Deutungsmuster des Alters und Alterns in hohem Maße prägt (vgl. Ehmer 2000; Conrad 1983). Diese institutionellen Regelungen und Bilder sind seit einigen Jahren ebenso in Bewegung und im Wandel, wie die Lebensmuster der alternden Individuen selbst. 1 | Das Projekt wurde im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 580 Gesellschaftlicher Wandel nach dem Systemumbruch an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert. Entsprechend waren in ihm auch die unterschiedlichen Positionierungen älterer Menschen in Ost- und Westdeutschland zu gesellschaftlichen Bildern und Erwartungen ›aktiven Alter(n)s‹ thematisch, die allerdings nicht im Zentrum des vorliegenden Beitrags stehen. Vgl. zu diesem spezifischen Fokus Denninger et al. 2012, für eine ausführliche Gesamtdarstellung unserer empirischen wie theoretischen Befunde Denninger et al. 2013.
Zur Neuverhandlung der Lebensphase Alter
Strukturiert wird die Neuverhandlung der Lebensphase Alter durch den Krisendiskurs über den demographischen Wandel einerseits und die aktivgesellschaftliche Transformation des Sozialstaats andererseits. Letztere betrifft nicht allein die Institutionen des Wohlfahrtsstaats, deren Umbau insbesondere im Rahmen der Agenda 2010 umgesetzt wurde, sondern auch diskursive Verschiebungen, in denen Struktur- in Verhaltensprobleme und Berechtigungs- in Verpflichtungspositionen umgedeutet wurden und werden. Eigenverantwortung ist hier das zentrale Stichwort, welches in diesem Kontext nicht nur die Verantwortung des oder der Einzelnen für sich selbst meint, sondern immer auch verbunden ist mit der erwarteten Übernahme von Verantwortung für das gesellschaftliche Gemeinwohl. Die Menschen sind in ihrer eigenverantwortlichen Lebensführung als »Unternehmer ihrer Selbst« (vgl. Bröckling 2007) also nicht nur dem eigenen Wohlergehen verpflichtet, sondern auch dem der Gesellschaft. In diesem Sinne geht die aktivierende Sozialpolitik einher mit einer »Remoralisierung« des Wohlfahrtsstaats (vgl. Lessenich 2009a: 159ff.; 2009b: 279). Der institutionelle Umbau zielt insbesondere auf das Feld der Arbeitsmarktpolitik, doch auch die Lebensphase Alter bleibt nicht unberührt von der Ökonomisierung und Moralisierung der Sozialpolitik. Auch wenn die marktkonforme Selbstorganisation im Rentenalter auf den ersten Blick nicht mehr relevant zu sein scheint, sind doch auch ältere und alte Menschen von den aktivierungspolitischen Anrufungen nicht ausgenommen, was insbesondere auf der programmatischen Ebene der Engagementförderung deutlich zum Ausdruck kommt (vgl. Karl/Schröer 2008: 163f.; Aner 2008: 248f.). Aufgrund der spezifischen Lebenssituation älterer Menschen kann die Kritik an aktivierungspolitischen Programmen im Feld der Arbeitsmarktpolitik allerdings nicht einfach auf den Bereich der Alterssozialpolitik übertragen werden. Vielmehr gilt es, die spezifischen Formen der Responsibilisierung und Moralisierung der Lebensphase Alter und ihrer Einbindung in ökonomische Regulationsweisen zu analysieren. Nur so lässt sich die gegenwärtige Tendenz zur neoliberalen Aktivierung des Alters genauer bestimmen. Um die mit dem sozialstaatlichen Wandel verbundenen Veränderungen der Regierungsformen theoretisch zu erfassen, bieten die Governmentality Studies im Anschluss an Michel Foucault wichtige Anhaltspunkte.2 Regierung wird hier als eine Form der Steuerung verstanden, die in Form einer Verquickung von Fremd- und Selbstführung ausgeübt wird. Durch die Produktion von Wahrheit im Sinne des sozial akzeptierten Wissens um einen gesellschaftlichen Sachverhalt wird eine Form von Macht ausgeübt, die nicht als Zwang oder sanktionsbewährte Verpflichtung auftritt, sondern als eine Anleitung zu erwünschten Formen des Verhaltens, die für die Regierten selbst notwendig 2 | Für eine Zwischenbilanz der internationalen »governmentality studies« vgl. Krasmann/Volkmer 2007 sowie Bröckling et al. 2010.
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oder erstrebenswert erscheinen sollen. Es werden also spezifische Formen der Selbstführung hervorgebracht, entsprechend derer sich die Subjekte selbst konstituieren. »Regierung ist nicht nur eine Machtform, die allgemein auf das Handeln von Subjekten wirkt, vielmehr koppelt sie die Formierung der Subjektivität an die Produktion von Wahrheit und zielt auf die Herstellung einer ›wahren Subjektivität‹« (Lemke 1997: 327). Politische Steuerung wird in die Subjekte selbst verlagert und damit zu einer »öffentlich-privaten Koproduktion« (Denninger et al. 2010: 209). Für unseren Gegenstand der Lebensphase Alter heißt dies, dass aktivierungspolitische Strategien also nicht in erster Linie darauf zielen, das Handeln der Jungen Alten zu steuern, sondern darauf, dass diese sich selbst als ›aktive Alte‹ konstituieren. Obwohl der gouvernementalitätstheoretische Ansatz Subjekte als aktive und reflexive Produzenten ihrer Selbst konzeptionalisiert, ist für viele Arbeiten in diesem Rahmen ein gewisser »strukturalistischer Überschuss« zu konstatieren, der die Selbstführung der Subjekte allzu schnell zum Spiegelbild programmatischer Fremdanrufung werden lässt (ebd.: 220f.). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn aus der Analyse von beispielsweise politischen Programmen oder Ratgeberliteratur Aussagen nicht nur über die Formation von Subjektpositionen, sondern über tatsächliches subjektives Handeln und Verhalten abgeleitet werden.3 Um das Verhältnis von Dispositiv und Subjekt zu bestimmen, »ohne es dabei als deterministisches Zwangsverhältnis festzulegen« (Tuider 2007: [Abs.16]), haben wir uns vom poststrukturalistischen Verständnis subjektiver Handlungsmacht im Anschluss an Judith Butler inspirieren lassen. Butler verwirft die Idee des autonomen Subjekts und betont den für die Subjektkonstitution notwendigen und unumgänglichen Prozess der Unterwerfung unter die Macht gesellschaftlicher Normen und Strukturen. Diese Unterwerfung des Subjekts ist jedoch gleichzeitig die »Bedingung seiner Existenz und Handlungsfähigkeit« (Butler 2001: 15). Dass es sich bei der subjektiven Handlungsfähigkeit jedoch nicht einfach um die Reproduktion gesellschaftlicher Machtverhältnisse handelt, begründet Butler damit, »daß sich keine Kontinuität annehmen läßt zwischen (a) dem, was Macht möglich macht und (b) den Arten von Möglichkeiten, die die Macht annimmt« (ebd.: 17). Das heißt, im Prozess der Aneignung der subjektkonstituierenden Macht, verändert sich diese. Auf diese Weise kann die Handlungsmacht auch derjenigen Subjekte begründet werden, die nicht von vornherein eine gesellschaftliche Machtposition innehaben (vgl. Butler 1998: 244). Da die subjektkonstituierenden Strukturen und Normen ihrerseits nie stabil und abgeschlossen sind, können sie nur dann fortbestehen, wenn sie durch die Praktiken der Subjekte aktualisiert werden. In dieser Notwendigkeit der Wiederholung liegt die Mög3 | Vgl. zum Unterschied zwischen Subjektpositionen und handelnden Personen Villa 2010: 204.
Zur Neuverhandlung der Lebensphase Alter
lichkeit des Wandels und der Veränderung durch Kontextveränderungen oder »Fehlaneignungen« der Subjekte (vgl. ebd.: 64). Daraus folgt für die empirische Analyse, die konkreten Formen der Aneignung von Subjektpositionen sowie die Bedeutung historisch spezifischer Kontexte in den Blick zu nehmen.
M E THODISCHE K ONSEQUENZEN Die entscheidende Frage für die Konzeption der Untersuchung war nun, wie sich diese Kontexte so beschreiben lassen, dass sie in ihrer Vielschichtigkeit auch tatsächlich erfasst werden können. Mit Hans-Herbert Kögler gehen wir vom methodologischen Primat des Diskurses aus, d.h., wir gehen davon aus, »dass es für die intentionale Erfahrung menschlicher Subjekte keine direkte Konfrontation mit der Wirklichkeit gibt«, sondern dass diese immer diskursiv vermittelt ist (Kögler 2007: 349). Diese Annahme darf jedoch nicht damit gleichgesetzt werden, dass nichts Außer-Diskursives existiere und Materialitäten direkt durch Worte erzeugt würden. Diskursiv hervorgebracht ist nur der erfahrbare und damit bedeutungsvolle Teil der Welt. Gleichzeitig grenzen wir uns von denjenigen diskursanalytischen Ansätzen ab, die allein auf Sprache fokussiert sind.4 Unser Ziel war es, über die Analyse reiner Wissensordnungen hinauszugehen. Aus diesem Grund entschieden wir uns statt einer reinen Diskursanalyse für eine Dispositivanalyse, die eben nicht nur sprachliche Praktiken, sondern auch institutionelle Rahmenbedingungen (z.B. Rente mit 67), Körperpraktiken (z.B. das Walking) und Objekte (z.B. den Rollator) und deren Verknüpfungen untereinander erfassen kann. Ein Dispositiv verstehen wir, wiederum im Anschluss an Foucault, als Verknüpfungsordnung zwischen heterogenen, sprachlichen wie nicht-sprachlichen Elementen (vgl. Foucault 1978: 119f.). Dieser konzeptuelle Rahmen ermöglicht es zu untersuchen, wie sich Körper, Institutionen, Objekte und Wissensordnungen5 zu einem mehr oder weniger kohärenten Ganzen, einem Dispositiv verbinden. Zweitens lässt sich so zeigen, wie bestimmte dispositive Verknüpfungen bedeutsam – also hegemonial – werden, während andere keinerlei gesellschaftliche Wirkung entfalten. Rekonstruiert werden diese Verknüpfungen als Erzählungen oder Geschichten, die – in unserem Falle – über das Alter erzählt werden. Da sich die Relevanz der herausgearbeiteten Disposi4 | Wichtig ist hier also die Unterscheidung zwischen sprachlich und diskursiv, was entsprechend einem weiten Diskursverständnis nicht in eins gesetzt werden darf. 5 | Entgegen dem üblichen Verständnis nehmen wir den Diskursbegriff in der Aufzählung der Elemente des Dispositivs von Foucault nicht wörtlich, sondern ersetzen ihn (wofür Foucault selbst Anlass gibt) durch den Begriff der Episteme, also der Wissensordnungen (ausführlich dazu: Denninger et al. 2010: 217ff.).
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tive für die Lebenswelt der Subjekte nicht im Rahmen einer reinen Dispositivanalyse erfassen lässt, wurde diese um eine Interviewstudie ergänzt, in der die subjektiven Sichtweisen der Jungen Alten in den Fokus rückten. Damit sollten die in den Governmentality Studies implizite Gleichsetzung von Programm und Praxis vermieden und eben auch die subjektiven Aneignungen und Umdeutungen der gesellschaftlichen Kontexte in den Blick genommen werden. Dabei galt es zu berücksichtigen, dass die subjektiven Haltungen und Praktiken ihrerseits auf die gesellschaftlichen Dispositive zurückwirken, weshalb dem zirkulären Verhältnis von Mikro- und Makroebene methodisch Rechnung zu tragen war. Ziel dieser Verknüpfung unterschiedlicher konzeptueller Perspektiven ist es erstens, den Kurzschluss vieler Diskurs- und Programmanalysen zu vermeiden, die allzu schnell von gesellschaftlichen Diskursen auf individuelle Deutungen und Praktiken schließen. Wie oben dargestellt gehen wir vielmehr davon aus, dass die Subjekte eben nicht immer im Sinne des Diskurses bzw. des Dispositivs agieren, sondern dass es zahlreiche Möglichkeiten der Annahme, Umdeutung oder Zurückweisung auch innerhalb hegemonialer Dispositive geben kann (vgl. Butler 1998: 221; Spieß 2009 [Abs. 46-47]). Wir wollten aber auch der Sackgasse zahlreicher biographischer Analysen entgehen, die davon ausgehen, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der individuellen Biographie allein aus dem biographischen Material selbst rekonstruieren zu können. Menschen leben, denken und handeln immer in diskursiven Kontexten, die nicht zu vernachlässigen sind (vgl. Reh 2003).
D IE N EUVERHANDLUNG DES A LTER (N) S – DISPOSITIVANALY TISCHES V ORGEHEN Um die ›Neuverhandlung des Alters‹ möglichst breit zu untersuchen, wurde im ersten Schritt ein Textkorpus erhoben, in dem altersbezogene Artikel aus Tages- und Wochenzeitungen von BILD bis zum Spiegel sowie aus Zeitschriften wie der Brigitte oder der Apotheken Umschau 6 sowie Parteiprogramme, die Altenberichte der Bundesregierung und Selbstdarstellungstexte von seniorenpolitischen Modellprogrammen 7 im Zeitraum von 1983 bis 2010 erfasst wurden. 6 | Insgesamt wurden ca. 2000 Zeitungs- und Magazinartikel in die Analyse mit einbezogen. 7 | Diese Programme werden auf Bundes- oder Länderebene initiiert, wir haben folgende in die Analyse einbezogen: Aktiv im Alter, Generationenübergreifender Freiwilligendienst, Erfahrungswissen für Initiativen (EFI), Seniorenbüros, Erfahrungswissen älterer Menschen nutzen, Zwischen Arbeit und Ruhestand (ZWAR).
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Für die Auswertung stellte der Umfang des so entstandenen Textkorpus die erste Herausforderung dar: Wie konnten diese Textmengen geordnet und systematisiert werden? In einem Wechselspiel aus theoriegeleiteten Annahmen der Dispositivanalyse und der Arbeit mit dem Textmaterial selbst wurde zunächst ein Codesystem entwickelt, anhand dessen alle Texte mithilfe des Auswertungsprogramms MaxQDA thematisch codiert wurden. Im Zuge dieses Codierprozesses wurde das Codesystem weiterentwickelt und verfeinert. Die Dimensionen der Dispositivanalyse – Wissensordnungen, Körper, Institutionen, Objekte – wurden so empirisch gefüllt und beinhalten u.a. zentrale Institutionen wie die ›Rentenversicherung‹, Praktiken der ›Körperpflege‹ oder Objekte wie ›Computer‹, ›Wecker‹ und das ›Sofa‹. Die inhaltlich-thematischen Codes reichen von politisch bedeutsamen Themenfeldern wie ›demographischer Wandel‹ über strukturelle Merkmale wie z.B. ›Klasse‹ bis hin zu recht konkreten Praxisfeldern wie ›Ehrenamt‹. Nach dieser zunächst inhaltlichen Codierung ging es nun darum, die Verknüpfungen zwischen den Elementen des Dispositivs aufzuspüren. Es wurde also z.B. gefragt, welche Repräsentationen des ›Ruhestandskörpers‹ zu finden sind und mit welchen Institutionen, Praktiken und Wissensbeständen dieser verknüpft ist. Das soll am Beispiel des folgenden Zitats verdeutlicht werden; es stammt aus einem Interview der Bildzeitung mit Henning Scherf, dem ehemaligen Bremer Bürgermeister und Verfasser des Buches Grau ist bunt: Was im Alter möglich ist: Das Wort Ruhestand mag ich gar nicht, halte es sogar für gefährlich. […] Sogar lebensgefährlich. Denn wer nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben aktiv bleibt, lebt länger und besser. Wer sich hingegen fallen lässt, nur noch Fernsehen glotzt, nicht mehr rausgeht, der vereinsamt, wird depressiv und stirbt. (BILD 2006)
An diesem Zitat lässt sich zeigen, wie das Objekt des Fernsehers mit einem Körper verbunden wird, der sich »fallen lässt« und nur noch »glotzt«. Aufgerufen wird außerdem die Assoziation eines still sitzenden Körpers, der infolge seiner selbstgewählten Passivität vereinsamt, krank wird und sogar stirbt. Das Ganze ist gerahmt durch die Institution des Ruhestands, welche überhaupt erst den Kontext dafür schafft, dass diese ja doch sehr extreme Verknüpfungskette lesbar, also für die Rezipienten nachvollziehbar wird. Denn – auf diese Form des Gedankenexperiments wird im Folgenden zurückzukommen sein – wäre hier die Rede von einem jungen Menschen in der Ausbildung, ließe sich die Verknüpfung von passivem Konsum, Einsamkeit und Depression zwar ähnlich erzählen, dass dies aber quasi automatisch zum Tod führt, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit als unglaubwürdig oder maßlos übertrieben zurückgewiesen. Im Kontext des Ruhestands als letzter Lebensphase funktioniert diese Verknüpfung dagegen und wirkt gleichzeitig mit an der Konstruktion
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eines negativen Bildes desselben. Diese Darstellung von schädlicher Passivität – als Gegenstück zur heilbringenden Aktivität – symbolisiert durch Fernseher und Couch zeigt die Aktivitätsanrufung sehr plastisch. Forschungspraktisch wurde die Suche nach diesen typischen Verbindungen durchgeführt, indem die Überlagerung verschiedenster Codes mithilfe der Computersoftware überprüft wurde. So ließ sich z.B. feststellen, wie die Codes ›Gesundheit‹ und ›Eigenverantwortung‹ oder – wie oben gezeigt – eben ›Fernseher‹ und ›Passivität‹ zusammenhängen. Gedankenexperimente in der oben bereits angedeuteten Form dienten dazu, die – auch in unseren Köpfen – teilweise naturalisierten Verknüpfungen der einzelnen Elemente des Dispositivs zu durchbrechen. So fragten wir uns während der qualitativen Analyse der einzelnen Codes sowie der Überschneidungen nicht nur immer wieder: Wofür steht diese und jene Institution oder dieser und jener Körper?, sondern wir fragten auch: Wofür könnte er stehen? Dies lässt sich am Beispiel der Couch sehr schön illustrieren: Im Zusammenhang mit dem Ruhestand ist die Couch – ähnlich wie der Fernseher – ein Symbol der Passivität, der Leere, der Langeweile, also vollkommen unvereinbar mit einem aktiven Alter. Im Kontrast dazu ist sie vieles nicht, was sie theoretisch sein könnte, nämlich ein Ort der Ruhepause zwischen zwei Aktivitäten, der Platz, wo man seine englischen Vokabeln lernt oder in anregenden Gesprächen soziale Kontakte pflegt. Die Couch wird also zu einer Insignie des passiven Ruhestands, und so wird bei ihrer Erwähnung auch eben jenes Bild aufgerufen. Die Analyse dieser typischen Verknüpfungen ist darüber hinaus deshalb so interessant, weil sie durch ihre immer wiederkehrende Thematisierung besonders einflussreich sind und so die Hegemonie des entsprechenden Dispositivs konstituieren. Das heißt, es entsteht – in unserem Fall – ein bestimmtes Bild des Alters, welches andere Bilder dominiert und bedeutsamer wird als diese. So konnten wir in der Analyse aufzeigen, dass sich Mitte der 1980er Jahre, im Zuge einer heftigen Diskussion um die Institution des Vorruhestands und erste Aktivierungstendenzen das Bild des passiven und tendenziell isolierten Ruhestands etablierte. Eine gesteigerte Form dieser Passivitätszuschreibung findet sich in Assoziation des Ruhestands als ›Vor-Tod‹, in dem Passivität und Isolation dann auf die Spitze getrieben sind. In Abgrenzung zu diesem Bild des Ruhestands – welches durch verschiedenste weitere Elemente zum Dispositiv des Ruhestands wird – begann sich in dieser Zeit das Dispositiv des Unruhestands herauszubilden, in dem sich die Wissensordnung eines als kompetent codierten Alters mit dem Bild eines bewegten Körpers verbindet, der nicht mehr passiv auf dem Sofa sitzt, sondern aktiv dem vermeidbaren Abbau entgegenwirkt. Hier besuchen ältere Menschen Volkshochschulkurse statt Bastelnachmittage und machen Studien- oder Abenteuerreisen statt Kaffeefahrten. Aktuell wird dieses Unruhestandsdispositiv zum Teil umgeschrieben und teilweise überlagert von dem Dispositiv des produktiven Alters, das seit Ende
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der 1990er Jahre an Fahrt gewinnt. Hier geht es nun nicht mehr allein um den Erhalt von körperlicher und geistiger Beweglichkeit für einen erfüllten Lebensabend, sondern darum, die vorhandene Beweglichkeit und Lebenserfahrung in produktive Aktivitäten und Tätigkeiten für die Gesellschaft münden zu lassen. An die Stelle der propagierten wohlverdienten Ruhe tritt die moralisierende Indienstnahme der Potenziale des Alters. Die neoliberale Aktivierungsanrufung der Älteren unterscheidet sich von derjenigen der Arbeitslosen insofern, als die explizite Androhung von Zwang und Verpflichtung gegenüber älteren Menschen derzeit gesellschaftlich nicht durchsetzbar ist.8 Die Analysen der unterschiedlichen Quellen zeigen jedoch auch, dass das Dispositiv des produktiven Alters fortwährend durchkreuzt wird von Elementen und Verknüpfungen des Ruhestands und des Unruhestands. Hätten wir uns auf die Analyse allein von Wissensordnungen – in Zeitungen, Parteiprogrammen, wissenschaftlichen Analysen und Modellprojekten – beschränkt, wäre die Überbewertung der Bedeutung des Produktivitätsdispositivs (in seiner typisierten Reinform) die Folge gewesen. Durch die Verknüpfungsanalyse zeigte sich aber die tiefe Verankerung des Ruhestandsdispositivs als Lebensmodell: Während das Produktivitätsdispositiv in erster Linie über wissenschaftliches Wissen, also durch das Wissen um den vielfachen Nutzen von produktivem Engagement, aufgerufen wird, kommt die alltägliche und lebenspraktische Verankerung des Ruhestands darin zum Ausdruck, dass er vor allem über Praktiken, Objekte, Körperbezüge und Institutionen repräsentiert wird und damit viel näher am Leben der Subjekte angesiedelt ist. Die Sensibilität für multidimensionale Verknüpfungen schärft somit den Blick für Friktionen und Ungleichzeitigkeiten zwischen verschiedenen Dispositiven, die in ihrer vielschichtigen Gesamtheit die Kontexte bilden, innerhalb derer die Subjekte, die uns nun im Folgenden interessieren, sprechen, erfahren und agieren.
A NALYSE DER ZIRKUL ÄREN V ERKNÜPFUNG VON D ISPOSITIVEN UND S UBJEK TEN Wie bereits dargestellt, wurden in einem zweiten Schritt 55 leitfadengestützte Interviews erhoben. Das Sample setzt sich zusammen aus verrenteten ›Jungen Alten‹ im Alter von 60 bis 72 Jahren.9 8 | Deutlich wird das insbesondere an den Reaktionen auf durchaus vorhandene Stimmen, die eine Zwangsverpflichtung der Jungen Alten fordern, zuletzt bspw. auf die Forderung des Publizisten Richard David Precht nach einem verpflichtenden Sozialen Jahr für Rentner in einer Talk-Show im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. 9 | Neben der Ost-West-Verteilung wurde auf eine annähernd geschlechterparitätische Zusammenstellung des Samples geachtet. Ferner haben wir auf eine möglichst breite
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Da es uns nicht darum geht, die einseitige Wirkung von Dispositiven auf die Subjekte zu unterstellen bzw. zu untersuchen, war es uns im Interviewteil der Studie wichtig zu analysieren, in welcher Weise die identifizierten Dispositive von den Interviewten sowohl explizit wahrgenommen als auch (mehr oder weniger) implizit verarbeitet, modifiziert oder ignoriert werden. Gegenstand der Analyse ist damit die Lesbarkeit der Dispositive, oder anders ausgedrückt, ihre Anschlussfähigkeit an die Erfahrungen der Subjekte. Es war uns aber auch wichtig, die Brüche und Widersprüchlichkeiten aufzuzeigen, also an welchen Stellen das Dispositiv eben nicht ›ankommt‹ und dadurch bspw. ein wissenschaftliches Artefakt bleibt oder sich in einer ganz anderen Weise etabliert als im Diskurs. Um nun den theoretisch und methodologisch abgeleiteten Gedanken des zirkulären Konstitutionsverhältnisses zwischen Subjekten und Dispositiven methodisch einzuholen, bildeten die Ergebnisse der Dispositivanalyse die Grundlage für einen Auswertungsleitfaden, der die Analyse der Interviews strukturierte. Zentrale Kategorien des Leitfadens waren u.a. »Aktivität«, »Altersbild«, »Nacherwerbsbild und -erfahrung« sowie »Wahrnehmung von alter(n)sbezogenen gesellschaftlichen Veränderungen«. Dieser Auswertungsleitfaden wurde im Prozess maximaler Kontrastierung an ausgewählten Interviews getestet, erweitert und modifiziert. Auf diese Weise wurden weitere Dimensionen sichtbar, die in der dispositiven Neuverhandlung des Alters nicht thematisch wurden, für das Leben der Befragten aber eine zentrale Rolle spielen. Beispielhaft hierfür ist die Kategorie der »Zeitgestaltung und Zeitwahrnehmung«, der in den Interviews große Bedeutung zukommt, die in den Dispositiven dagegen kaum abgebildet wird. Der Auswertungsleitfaden stellt damit ein wesentliches Instrument zur Verbindung von Dispositivanalyse und Interviewstudie dar. Bei den Analysen entlang des Auswertungsleitfadens waren außerdem Überlegungen im Anschluss an die dokumentarische Methode leitend (vgl. grundlegend Bohnsack 2010). Für uns von Interesse war die Sichtbarmachung des impliziten (oder dokumentarischen) Sinngehalts von Sprache (vgl. Nohl Streuung von Bildungsabschlüssen und sozioökonomischer Lage geachtet: Im Sample sind Menschen ohne Schulabschluss und Ausbildung ebenso vertreten wie Promovierte, Menschen, die mit weniger als 700 Euro im Monat auskommen müssen, ebenso wie solche mit einem Nettohaushaltseinkommen von über 4000 Euro. Anzumerken ist hier allerdings, dass es uns trotz großer Bemühungen nicht gelungen ist, eine gleichmäßige Streuung zu erreichen, so dass AkademikerInnen und Menschen mit einem bildungsbürgerlichen Hintergrund im Sample überrepräsentiert sind. Das ist zum einen auf die Struktur der Untersuchungsstädte mit einem überdurchschnittlichen Anteil Hochqualifizierter zurückzuführen, zum anderen auf die generelle Problematik, Menschen aus bildungsferneren Schichten für qualitative Forschung zu gewinnen.
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2009: 8ff.). Letzterer gilt als handlungsleitendes, inkorporiertes (Orientierungs-)Wissen der Akteure, das nicht notwendig den expliziten Aussagen entsprechen muss und dessen Bedeutung aus diesem Grund nur kontextspezifisch zu erschließen ist. Die Rekonstruktion dieses impliziten und inkorporierten Wissens ermöglicht es, die vorliegenden Orientierungsrahmen der Jungen Alten sichtbar zu machen, welche ihre Erzählungen (und auch die Handlungen) strukturieren, ohne dass ihnen dies unbedingt bewusst sein muss. Orientierungsrahmen können dabei sowohl in Gestalt positiver Horizonte als auch in Gestalt negativer Gegenhorizonte Einfluss entfalten, d.h., dass beispielsweise der Orientierungsrahmen ›Ruhestand‹, der für nahezu alle Befragten relevant ist, einerseits ein positives Ideal darstellen kann, im Sinne von »Ich genieße meine späte Freiheit«, andererseits aber auch als negativer Horizont auftauchen kann, wenn die Nacherwerbsphase als eine endlose Menge an freier Zeit imaginiert wird, die unausweichlich mit Langeweile und Sinnlosigkeit assoziiert ist. Hier zeigt sich recht häufig das Phänomen der Ruhestandsmoderierung: Die Abgrenzungsfolie des passiven Ruhestandslebens fungiert als flexibler Vergleichsmaßstab, an dem das eigene Leben gemessen wird. Wer den ›typischen Ruhestandsalltag‹ als mehr oder weniger inhaltslos verstreichende Zeit imaginiert, nimmt das eigene Leben aktiver und ausgefüllter wahr als ohne eine solch moderierende Kontrastfolie. Dies führt dazu, dass je geringer der eigene Aktivitätsgrad und -radius der Befragten ist, ihre Abgrenzung vom passiven Ruhestand umso radikaler ausfällt, bis hin zur Gleichsetzung von Ruhestand mit Nichtstun und Vortod – hier findet sich eindeutig das herausgearbeitete Dispositiv wieder. Verglichen damit ist dann jedes gelebte Leben ein aktives Leben, denn wer annimmt, dass Rentner das Haus nicht mehr verlassen, ist schon mit dem täglichen Spaziergang aktiver als imaginierte Andere. Von großem Interesse für unsere Fragestellung ist außerdem das Enaktierungspotenzial der relevanten Orientierungsrahmen (vgl. Przyborski/WohlrabSahr 2009: 290). Wir wenden uns also der Frage zu, welche Orientierungsrahmen eine (mehr oder weniger) erfolgreiche praktische Umsetzung im Alltag erfahren sowie ob und inwiefern sie ›enaktiert‹, also umgesetzt, werden. Diese Differenzierung ermöglicht es uns, zwischen Orientierung und tatsächlich gelebter Praxis zu unterscheiden und die Folgen möglicher Inkongruenzen in den Blick zu bekommen. So finden sich vor allem Frauen, die zwar beispielsweise den Unruhestand als positiven Horizont haben, diese Orientierung aber nicht enaktieren können, z.B. aufgrund finanzieller Prekarität oder auch – wie das folgende Zitat illustriert – aufgrund des Ehepartners: Äh, drüber nachgedacht hab ich schon. Es ist nur so, ich glaube mein Mann würd ich dem alles versauen, alles was der in der Woche sich vorgenommen hat und tun möchte.
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Wenn ich jetzt mit SOLCHEN Wünschen käme, hab ich manchmal schon gedacht, wenn ich, ich auf eigenen Füßen, also, wenn ich ALLEIN wär, würde ich sicher VIEL aktiver sein.
Im Anschluss an unseren theoretischen Rahmen zielte unser Interesse auf die Beziehungen, die zwischen den Elementen des Dispositivs wie auch zwischen den Subjekten und diesen Elementen bestehen. Konkret wurden folgende Beziehungen mithilfe einer komparativen Analyse herausgearbeitet: Im fallinternen Vergleich wurden die von den Befragten selbst bemühten Eigenrelationierungen im Kontrast oder in Ähnlichkeit zu anderen Personen und/oder Praktiken analysiert (z.B. »bei uns wird der Fernseher nicht vor dem Abend eingeschaltet« als Abgrenzung von der Figur des ewig fernsehenden Rentners, oder in Bezug auf andere Ältere: »Na was tun die Sinnvolles außer Hetzen gar nix oder Preise vergleichen oder weiß der Teufel von Geschäft zu Geschäft jagen« als Abgrenzung vom vermeintlich sinnentleerten Leben im Ruhestand). So ließen sich den Äußerungen zu Grunde liegende Ruhestands- und Altersbilder sowie normative Vorstellungen und Selbstkonzepte herausarbeiten. Im Vergleich der Fälle untereinander galt das Interesse der Frage, ob und inwiefern ähnliche Themen (z.B. Strukturierung des Tagesablaufs) vor dem Hintergrund unterschiedlicher Orientierungsrahmen (z.B. ›wohlverdienter Ruhestand‹, ›Produktives Alter‹ oder ›Kontinuität des Erwachsenenlebens‹) verhandelt werden, wobei die möglichen Orientierungsrahmen im permanenten Vergleich der Interviewtexte mit den herausgearbeiteten Dispositiven konkretisiert wurden. Bei der konkreten Analyse half uns außerdem die Suche nach Metaphern im Material. Wir folgen in diesem Punkt Lakoff und Johnson (2011: 14), die davon ausgehen, dass »die menschlichen Denkprozesse weitgehend metaphorisch ablaufen« und man demnach durch das Aufspüren von Metaphern auch die unbewussten Leitlinien des Denkens und Handelns herausarbeiten kann. Metaphern ermöglichen es, dass wir »durch sie eine Sache oder einen Vorgang in Begriffen einer anderen Sache bzw. eines Vorgangs verstehen und erfahren können« (Lakoff/Johnson 2011: 14). Durch die Übertragung der Bedeutung von einem Bereich auf den anderen werden vielschichtige psychische oder soziale Phänomene komplexitätsreduzierend zusammengefasst und – in der Regel bildhaft – vergegenständlicht (vgl. Schmitt 2010: 679). So finden sich beispielsweise Abgrenzungen vom Unruhestand in Form von Metaphern des extrem bewegten Körpers: Die Befragten kritisieren, dass die Anderen »mit heraushängender Zunge laufen« oder »den Berg hochrennen« statt normal zu gehen. Die im allgemeingesellschaftlichen Kontext eigentlich positiv bewertete Aktivität des Unruhestands wird metaphorisch überspitzt und dadurch der Unruhestand selbst kritisiert. Auf Basis der so gewonnenen Ergebnisse entwickelten wir eine Typologie, bei der anhand des Zusammenspiels von Orientierungsrahmen und Enaktierungspotenzial deutlich wird, wie sich heutige Rentner zwischen wohlver-
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dientem Ruhestand, Unruhestand und Produktivitätserwartung verhalten. So ließ sich als einer von sechs Typen10 beispielsweise der zufriedene Ruheständler herausarbeiten, der vor dem Hintergrund eines positiven Ruhestandsbilds sein Leben in weitgehender Konzentration auf die familiäre und häusliche Sphäre lebt. Seine Zufriedenheit speist sich vor allen Dingen daraus, dass es ihm gelingt, sein Leben gemäß seiner Orientierung zu gestalten. Das Leitbild des aktiven Alters scheint ihn daran nicht zu hindern. Kann dieser Typus seinen Orientierungsrahmen also enaktieren, gelingt das der verhinderten Ruheständlerin (der Typus ist fast ausschließlich von Frauen besetzt) nicht. Zwar hat auch sie ein positives Ruhestandsbild, lebt aber ein ausgesprochen heteroproduktives Leben, gefüllt mit Enkelbetreuung oder Pflegeverantwortung, was entsprechend zu Unzufriedenheiten führt, da sie den gewünschten Ruhestandsaktivitäten (wie z.B. Reisen) nicht nachkommen kann. Für die Genese der jeweiligen Orientierungsrahmen und ihrer Überlagerungen sowie für die Möglichkeiten und Formen der praktischen Umsetzung spielen sozialstrukturelle Kategorien wie Geschlecht, Milieu oder regionale Herkunft eine zentrale Rolle. Im Sinne der soziogenetischen Typenbildung der dokumentarischen Methode ging es uns darum, im Vergleich der Fälle zu bestimmen, in welche sozialen Zusammenhänge die herausgearbeiteten Orientierungsrahmen eingelassen sind. Hierbei zeigt sich beispielsweise, dass die Unruhestandstypik vor allem den weiblichen Befragten als positiver Orientierungsrahmen dient. Wir können auf diese Weise – neben dem oben herausgearbeiteten Einfluss der hegemonialen Dispositive – auch sozialstrukturelle Erklärungen für bestimmte Phänomene bzw. für die unterschiedliche Wirksamkeit der Dispositive finden. Neben dem impliziten Bezug der Subjekte auf die Dispositive (und umgekehrt) haben wir uns auch für die explizite Sichtweise der Subjekte auf die in den Dispositiven formulierten Anrufungen interessiert, insbesondere für diejenigen des Produktivitätsdispositivs. Dazu legten wir den Befragten am Ende des Interviews u.a. einen Ausschnitt aus dem Sechsten Altenbericht 11 vor, 10 | Die sechs Typen sind: der zufriedene Ruheständler, der geschäftige Ruheständler, die verhinderte Ruheständlerin, die Unruheständlerin, der/die Produktive und die Gebremste. Die weibliche bzw. männliche Form zeigt auch die Geschlechtsspezifik des jeweiligen Typus an. 11 | Der Auszug lautete wie folgt: »Bei aller Verantwortung der Gesellschaft darf aber nicht übersehen werden, dass die Rechte des einzelnen Menschen mit Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft einhergehen. Insgesamt sind die heute älteren Menschen im Vergleich zu früheren Generationen gesünder, sie verfügen über einen höheren Bildungsstand und über bessere finanzielle Ressourcen. Nach Auffassung der Kommission leitet sich daraus die Verpflichtung ab, vorhandene Ressourcen verantwortungsvoll einzusetzen« (Deutscher Bundestag 2010).
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zu dem sie Stellung nehmen sollten. In den Reaktionen der Befragten zeigt sich, was oben bereits angedeutet wurde: nämlich wie dispositive Anrufungen augenscheinlich angenommen, dabei jedoch umgedeutet und transformiert werden. Zwar stimmen die meisten Befragten damit überein, dass ein aktives Leben unabdingbar ist, und gestalten dieses oft sogar ganz im Sinne des Aktivierungsdiskurses mit Sport zur Gesundheitsprävention, mit Enkelbetreuung und Nachbarschaftshilfe. Dennoch weisen die meisten die auf moralische Verpflichtung abzielende Aktivierungsanrufung zurück, sei es aus Angst vor Instrumentalisierung oder – hier besonders spannend – da sie der Meinung sind, dass die Forderung ohnehin schon alltagspraktisch gelebt wird. Häufig findet sich auch der Hinweis darauf, dass die im Zitat so stark gemachten besseren Ressourcen wie höherer Bildungsstand oder bessere finanzielle Ausstattung keineswegs allen älteren und alten Menschen zur Verfügung stehen.
F A ZIT Durch die Verbindung von Dispositivanalyse und Interviewstudie konnte die Verschränkung von Mikro- und Makroebene in Bezug auf Prozesse des Alterns wie auch auf die Lebensphase Alter nachgezeichnet werden. Dabei wurde deutlich, dass die Vorstellungen vom Alter sowie die praktische Lebensgestaltung der Subjekte zwar nachhaltig von den dispositiven Kontexten geprägt sind, sie diese aber nicht einfach übernehmen, sondern eigensinnige Umschreibungen vornehmen, Anforderungen zurückweisen oder mit anderem Sinn versehen. Es gibt hoch produktive Frauen mit sehr klassischer Ruhestandsorientierung, ohne jegliche Bezugnahme auf eine gesellschaftliche Neuverhandlung des Alters – die Produktivität ist hier eher Ausdruck einer klassischen Frauenrolle in der permanenten Sorge und Verantwortung für andere. Wir finden produktive Interviewte, die im Sinne einer sozialistisch gerahmten Tätigkeitsgesellschaft argumentieren und zugleich dezidierte Kritiker einer neoliberalen Aktivierung des Alters sind. Umgekehrt begegnen uns nicht wenige Interviewte mit einem recht klassischen Ruhestandsalltag, die in ihren Erzählungen dennoch wesentliche Verknüpfungen des Produktivitätsdispositivs zustimmend reproduzieren. Dies bedeutet für die eingangs beschriebene Neuverhandlung des Alters, dass die Produktivitätserwartung an die Älteren nur bedingt akzeptiert bzw. verwirklicht wird. Das liegt zum einen sicherlich daran, dass der wohlverdiente Ruhestand als eine Lebensphase, die mit erhöhter zeitlicher Autonomie einhergeht, für viele Menschen weiterhin einen positiv besetzten Orientierungsrahmen bildet. Zum anderen ist die reale Vielfalt des Alters sicherlich weitaus größer, als die im Dispositiv des ›Produktiven Alters‹ vorgenommene Verengung auf die Vielfalt der produktiven (Alters-)Aktivitäten glauben macht. Hier kommen Einschränkungen und Benachteiligungen aller
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Art zum Tragen, welche durch den im Produktivitätsdispositiv als Normalität gesetzten statistischen Durchschnittsrentner, der finanziell gut abgesichert, gebildet und frei von gesundheitlichen Beeinträchtigungen ist, vorschnell aus dem Blickfeld verschwinden. Für diese Realitäten haben – das zeigen unsere Interviews – die Jungen Alten oftmals einen genaueren Blick als die Koalition aus Wissenschaft, Politik und Medien, welche die produktive Indienstnahme der Lebensphase Alter ohne Berücksichtigung der vielfältigen sozialen Differenzen und Ungleichheiten vorantreibt.
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Zwischen universalistischem Egalitarismus und gerontologischem Separatismus Themenschwerpunkte und theoretische Perspektiven des medizinethischen Alter(n)sdiskurses Mark Schweda
In den modernen Industriegesellschaften steht das Alter(n) heute im Fokus medizinischer Perspektiven, Praktiken und Institutionen. Die Medizin bestimmt weitgehend, was es heißt, alt zu werden und zu sein. Auch das Leben älterer Menschen vollzieht sich vielfach im Einflussbereich medizinischer und gesundheitspolitischer Vorgaben. Im Jahr 2004 gaben 77 Prozent der 60- bis 64-Jährigen und sogar 88 Prozent der 80- bis 99-Jährigen in Westdeutschland an, in den vorausgegangenen drei Monaten einen Arzt aufgesucht zu haben, jeder Vierte der über 80-Jährigen berichtete von einem Krankenhausaufenthalt im zurückliegenden Jahr (vgl. Statistisches Bundesamt 2006: 557f.). Über 83 Prozent der als pflegebedürftig Eingestuften in Deutschland sind 65 Jahre oder älter, wobei sich die Pflege zunehmend vom privaten in den professionellen und vom häuslichen in den institutionell organisierten Bereich verlagert (vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2010: 21f.). Auch in der Medizinethik, der ethischen Reflexion ärztlichen Handelns und medizinischer Praxis, hat in den vergangenen 20 Jahren eine verstärkte Hinwendung zum Thema Alter und Altern eingesetzt. Allein im deutschsprachigen Raum ist in jüngerer Zeit eine ganze Reihe von einschlägigen Buchpublikationen erschienen (vgl. Schicktanz/Schweda 2012; Maio 2011; Knell/ Weber 2009; Rüegger 2009; Rieger 2008; Helmchen/Kanowski/Lauter 2006; Marckmann 2003). Die Zahl der Zeitschriftenbeiträge zum Thema hat sich nach einer kursorischen Recherche in der bibliographischen Fachdatenbank Medline seit 1991 vervierfacht (15.2.2013). Relevante Abhandlungen befassen sich etwa mit ethischen Problemen in Geriatrie und Altenpflege, im Umgang mit demenzkranken Patienten, bei Entscheidungen am Lebensende oder der Allokation medizinischer Ressourcen. Dabei schwingt immer wieder auch die grundsätzliche Frage mit, ob und inwieweit älteren Personen aus ethischer
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Mark Schweda
Sicht eine andere Behandlung zuteilwerden sollte als allen übrigen Menschen. Mitunter wird sogar der Ruf nach einer eigenen Ethik des Alter(n)s, einer Ethik für eine alternde Gesellschaft laut (vgl. Moody 1992). Im Folgenden soll der medizinethische Diskurs über das Alter(n) unter diesem Gesichtspunkt in einigen seiner wesentlichen historischen Voraussetzungen, thematischen Grundzüge und theoretisch-methodologischen Implikationen eingehender betrachtet werden. Zu diesem Zweck werden mit dem demographischen Wandel und der Medikalisierung des Alter(n)s zunächst zwei der entscheidenden Entwicklungen skizziert, die das Thema in den Fokus der Medizin und damit auch der Medizinethik rücken lassen. Vor diesem Hintergrund werden im Anschluss drei zentrale thematische Stränge des medizinethischen Alter(n)sdiskurses nachgezeichnet: die Diskussion um die angemessene Behandlung älterer Menschen zwischen Autonomie und Fürsorge, die Debatte um die gerechte Verteilung medizinischer Ressourcen in alternden Gesellschaften und die Erörterung der Frage nach dem lebenswerten Alter im Lichte neuartiger medizinischer Möglichkeiten. Auf dieser Grundlage wird abschließend argumentiert, dass die Forderung nach einer Ethik des Alter(n)s nicht im Sinne einer ›gerontologischen Sonderethik‹ aufgefasst werden sollte, sozusagen einer ›Ethik für alte Leute‹. Entscheidend erscheint vielmehr, in der gesamten ethischen Theoriebildung dem elementaren Sachverhalt stärker Rechnung zu tragen, dass wir alle altern und dass das Altern insofern einen grundlegenden Zug des menschlichen Lebens als solchen darstellt.
H INTERGRUND : D EMOGR APHISCHER WANDEL UND M EDIK ALISIERUNG DES A LTER (N) S Die Konjunktur des Alter(n)sthemas in der Medizinethik beruht auf mindestens zwei Entwicklungen: dem demographischen Wandel und der Medikalisierung des Alter(n)s. Der Verweis auf den demographischen Wandel darf in keiner der populären Darstellungen zum Alter(n) fehlen, deren Anzahl gegenwärtig förmlich zu explodieren scheint. Gemeint ist der Anstieg sowohl der absoluten Zahl als auch des relativen Anteils alter Menschen an der Gesamtbevölkerung aufgrund steigender Lebenserwartung, sinkender Geburtenraten und niedriger Zuwanderung. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wird sich die Anzahl der über 60-Jährigen bis zur Jahrhundertmitte weltweit von 673 Millionen auf zwei Milliarden verdreifachen, ihr Anteil in den westlichen Industrieländern von 20 auf 33 Prozent im Jahr 2050 steigen (vgl. United Nations 2007: 2). Tatsächlich erreichen immer mehr Menschen ein immer höheres Lebensalter. Betrug die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt im Deutschen Reich zwischen 1871 und 1881 für Jungen 35,6 und für Mädchen 38,4 Jahre, so liegt sie in der Bundesrepublik heute bereits bei 77,4 bzw. 82,7
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Jahren, Tendenz steigend (vgl. Statistisches Bundesamt 2012: 11). Freilich beruhte dieser Anstieg der Lebenserwartung lange weniger auf Zugewinnen im hohen Alter als auf der signifikanten Senkung der Säuglings- und Kindersterblichkeit seit dem 19. Jahrhundert. Zudem verdankte er sich keineswegs nur oder auch nur in erster Linie aufsehenerregenden Errungenschaften des medizinisch-technischen Fortschritts, sondern vielmehr insgesamt verbesserten Lebens- und Arbeitsbedingungen, etwa der Etablierung einer öffentlichen Gesundheitsversorgung. Die Veränderung der Alterszusammensetzung der Gesamtbevölkerung schlägt auch und vor allem auf den Bereich der Medizin und des Gesundheitswesens durch. Die Mitglieder der derzeit am stärksten wachsenden Bevölkerungsgruppen jenseits des 60. Lebensjahrs sind gleichzeitig diejenigen, die in besonderem Umfang medizinische Produkte, Verfahren und Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Im Jahr 2008 entfielen 48,4 Prozent der Krankheitskosten in Deutschland auf Menschen über 65 Jahren, die ProKopf-Ausgaben lagen bei den über 65-Jährigen zweimal, bei den über 85-Jährigen sogar beinahe fünfmal so hoch wie im Bevölkerungsdurchschnitt (vgl. Statistisches Bundesamt 2012: 4). Auf Grund der besonderen gesundheitlichen Verfassung und Situation älterer Menschen entsteht dabei zugleich ein spezifischer Versorgungsbedarf (vgl. Krug 2009). So geht die Geriatrie als speziell auf ältere Menschen zugeschnittene medizinische Fachrichtung etwa von »physiologische[n] Altersveränderungen auf der Ebene des Gesamtorganismus, der einzelner Organsysteme und auf zellulär-molekularer Ebene« aus und bringt bei der Diagnose und Behandlung von Erkrankungen im Alter entsprechend angepasste Standards in Anschlag: »Normwerte, z.B. für Lungenfunktions-, Herz-Kreislauf- oder neurophysiologische Parameter ändern sich mit zunehmendem Lebensalter«, wobei »[d]ie Kenntnis dieser Veränderungen […] zur Beurteilung und Differenzierung zwischen normal und pathologisch unerläßlich« (Bruder et al. 1991: 5) erscheint. Allgemein ist der Gesundheitszustand älterer Menschen vor allem durch chronische Erkrankungen und Multimorbidität gekennzeichnet (vgl. Krug 2009: 105f.): Krankheiten gestalten sich mit zunehmendem Alter komplizierter und verlaufen tendenziell häufiger chronisch. Überdies sind ältere Menschen oftmals von mehreren Erkrankungen zugleich betroffen. Beides führt statistisch gesehen zu einer Zunahme der gesundheitlichen Beschwerden und Einschränkungen mit dem Lebensalter und einer insgesamt nachlassenden funktionellen Leistung und physischen Verfassung (vgl. ebd.). Durch den demographischen Wandel dürfte sich mit der vorherrschenden epidemiologischen Befundlage auch der Schwerpunkt medizinischer Forschung bzw. Praxis und infolgedessen ebenso der Fokus medizinethischer und gesundheitspolitischer Diskussionen weiter hin zu Fragestellungen verschieben, die im Kontext der Versorgung alter Menschen von Belang sind, z.B. bezüglich der Langzeitpflege, des Umgangs mit gebrechli-
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chen und dementen Personen, Entscheidungen am Lebensende oder der Finanzierung öffentlicher Gesundheitsversorgung. Freilich wäre es zu einfach, das verstärkte medizinische und medizinethische Interesse am Alter(n) bloß auf die größere Zahl älterer Menschen zurückzuführen. Parallel zur demographischen Alterung und ihren Auswirkungen auf die Medizin wächst nämlich auch – umgekehrt – der Einfluss der Medizin auf unser Bild vom und unseren Umgang mit dem Alter(n). Wie auf vielen anderen Gebieten ist auch hier eine »Medikalisierung des Lebens« (Illich 41995) in der modernen Gesellschaft zu beobachten: Die Medizin dringt in immer weitere Bereiche individuellen und gesellschaftlichen Lebens vor. Kindheit, Pubertät, Sexualität, Reproduktion, Geburt, Elternschaft, Menopause, Sterben und Tod geraten in den Einzugsbereich medizinischer Begrifflichkeiten, Erklärungsmodelle und Handlungsstrategien (Conrad 2007). Entsprechend wird in den Sozialwissenschaften auch von einer (Bio-)Medikalisierung des Alter(n)s gesprochen, bei der »das medizinische Modell – mit seinem Fokus auf klinischen Erscheinungen – die Vorrangstellung im Blick auf das Altern übernimmt und in vielen Fällen seine grundlegenden biologischen, sozialen und verhaltensmäßigen Prozesse und Probleme definiert« (Estes/Binney 1989: 588 [eigene Übersetzung]). Tatsächlich prägen medizinische Theorien, Praktiken und Institutionen vielfach das Selbstverständnis und die Lebensperspektiven älterer Menschen. Damit geht nicht zuletzt eine Betrachtung und Behandlung des Alter(n)s in Kategorien von Krankheit und Therapie einher. Vormals als normal angesehene Alterserscheinungen wie etwa nachlassende kognitive, sensomotorische oder sexuelle Leistungsfähigkeit gelten heute schnell als pathologisch und damit als behandlungsbedürftig. Hatte das hohe Alter einst eine äußerste Grenze ärztlicher Kunst und Verantwortung markiert, der ein verbreiteter therapeutischer Nihilismus entsprach, so rückt es mittlerweile geradezu ins Zentrum medizinischer Bemühungen. Als sich Ignaz Nascher, der Begründer der modernen Geriatrie, während seiner Ausbildungszeit angesichts einer betagten Patientin in desolater gesundheitlicher Verfassung einmal erkundigte, was man für sie tun könne, wurde ihm noch knapp beschieden: Gar nichts, sie sei eben alt (vgl. Clarfield 1990: 945). Inzwischen scheint sich diese resignative Haltung der Medizin gegenüber dem Alter grundlegend gewandelt zu haben. Die traditionelle Kategorie der Altersschwäche ist fast vollständig aus Totenscheinen und Sterbestatistiken verschwunden (vgl. Conrad 1982). Hatte man ehemals angenommen, der allmähliche Verfall des Allgemeinzustands im Laufe des Alterungsprozesses entspreche dem naturgemäßen Gang der Dinge, an dessen Schlusspunkt ein ›natürlicher Tod‹ durch Versiegen der Lebenskräfte stehe, so erscheint diese Vorstellung im Lichte zeitgenössischer naturwissenschaftlicher Erklärungsmodelle und technischer Eingriffsmöglichkeiten nicht länger zufriedenstellend. Die mit fortschreitendem Alter auftretenden biologischen
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und physiologischen Seneszenzprozesse sind nun ätiologisch aufzuschlüsseln und kausal zu behandeln (vgl. Schmorrte 1990: 19f.). Die sogenannte AntiAging-Medizin scheint daraus lediglich den konsequenten Schluss zu ziehen, mit der sukzessiven Ausschaltung sämtlicher gesundheitlicher Beeinträchtigungen des höheren Lebensalters müsste sich am Ende auch das, was wir heute noch ›Alter(n)‹ nennen und als unausweichlichen, natürlichen Vorgang betrachten, verflüchtigen. Selbstbewusst stellen ihre Protagonisten »die Eliminierung aller Behinderungen, Deformationen, Schmerzen, Krankheiten, Leiden und Sorgen des Alters« in Aussicht; bald werde das traditionelle Bild des »geschwächten, siechen Alten nicht mehr sein als eine groteske Erinnerung aus einer barbarischen Vergangenheit« (Klatz/Goldmann 2003: 13 [eigene Übersetzung]). Ein britischer Biogerontologe verkündet gar, dank avancierter biotechnologischer Verfahren könnten heute lebende Menschen bereits ein Alter von bis zu 1000 Jahren erreichen (vgl. de Grey/Rae 2010: 327).
THEMATISCHE H AUP TSTR ÄNGE DES MEDIZINE THISCHEN A LTER (N) SDISKURSES Im Blick auf den medizinethischen Diskurs um das Alter(n) können mit wenig Strukturierungsaufwand drei thematische Hauptstränge herausgearbeitet werden, innerhalb derer sich jeweils spezifische ethische Frontverläufe abzeichnen. Der erste Strang beschäftigt sich mit der angemessenen Behandlung alter Menschen zwischen Autonomie und Fürsorge, der zweite mit der gerechten Verteilung medizinischer Ressourcen in alternden Gesellschaften und der dritte mit den Perspektiven gelingenden Lebens angesichts neuer medizinischer Optionen der Lebensverlängerung.
D IE W ÜRDE DES ALTEN M ENSCHEN Z WISCHEN A UTONOMIE UND F ÜRSORGE Aus medizinethischer Sicht werfen die spezifischen gesundheitlichen Begleiterscheinungen des Alterungsprozesses zunächst die Frage nach dem angemessenen ärztlichen und pflegerischen Umgang mit älteren Menschen auf (vgl. Krug 2009). Dabei spielt der Begriff der Würde eine zentrale Rolle. Von ihm her bzw. um ihn herum scheinen sich weite Teile der einschlägigen Diskussionen zu organisieren. So zielt die Erörterung der ethischen Grundsätze der Altenpflege in der Regel auf einen Umgang mit älteren Menschen ab, der die Würde der betreffenden Person achtet bzw. ihr ›ihre Würde lässt‹ (vgl. Klie 1998). Und in der Debatte um Entscheidungen am Lebensende geht es nicht zuletzt um die Möglichkeit, Patienten auch unter intensivmedizinischen Be-
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dingungen ein ›menschenwürdiges Sterben‹ bzw. einen ›würdigen Tod‹ zu ermöglichen (vgl. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 2003). Diesseits aller fälligen Differenzierungen bezeichnet der Begriff der (Menschen-)Würde dabei den besonderen Stellenwert, der dem Menschen als solchem zukommt und damit zugleich ein Geflecht von Werthaltungen, Rechtsansprüchen und Verpflichtungen im Verhältnis von Menschen zu sich selbst und zueinander begründet (vgl. Baranzke 2002: 53). Allerdings gehen die Ansichten darüber, was diese Würde des Menschen ausmacht und wie man ihr mit Blick auf das Alter(n) am besten gerecht wird, durchaus weit auseinander (vgl. zum Folgenden Schweda 2013a). Für das moderne Moral- und Rechtsverständnis ist vor allem ein Begriff von Würde im Sinne vernünftiger Selbstbestimmung grundlegend. Auch die vorherrschenden Strömungen der Medizinethik sind von einem Bild des Menschen als unabhängigen, seiner selbst bewussten und mächtigen und somit zur rationalen Entscheidung und Selbstbestimmung befähigten Akteurs geprägt (vgl. Baranzke: 9f.). In der klinischen Praxis trägt dieser Auffassung insbesondere der sogenannte informed consent Rechnung, also die informierte Zustimmung der Betroffenen als notwendige Voraussetzung sämtlicher diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen sowie der Forschung am Menschen. Entsprechend wird auch mit Blick auf ältere Patienten gefordert, Vorkehrungen zu treffen, die es erlauben, ihre Autonomie trotz zunehmender Gebrechlichkeit und Hinfälligkeit so lange wie möglich zu wahren. Die Altenpflege geht vielfach von einem bloß ›verwahrenden‹ bzw. ›betreuenden‹ zu einem ›aktivierenden‹ Ansatz über, der noch vorhandene Ressourcen und Potenziale zu erhalten und zu mobilisieren sucht (vgl. Menner 2004). Technologische Assistenz- und Monitoringsysteme werden unter dem Gesichtspunkt diskutiert, älteren, gebrechlichen und hinfälligen Menschen soweit wie möglich ein selbstständiges und unabhängiges Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu ermöglichen (vgl. Demiris/Hensel 2008). Neue Formen des Advance Healthcare Planning sollen sicherstellen, dass die Wünsche älterer Menschen bezüglich ihrer medizinischen und pflegerischen Versorgung auch bei eingeschränkter Einwilligungsfähigkeit weiterhin Berücksichtigung finden (Prendergast 2001). Insbesondere rechtliche Instrumente wie Patientenverfügungen sind darauf angelegt, den Willen aktual nicht mehr einwilligungsfähiger Personen bezüglich des eigenen Lebensendes noch inmitten der selbstgesetzlichen Abläufe einer technisch hochgerüsteten Apparatemedizin und eines betriebsförmig organisierten Klinikalltags zur Geltung zu bringen (vgl. ebd.: 34). Auf der anderen Seite allerdings wird zu bedenken gegeben, dass ein auf individuelle Selbstbestimmung konzentriertes, in Rechten und Pflichten artikuliertes Moralverständnis gerade älteren Menschen nicht gerecht werden könnte, für deren Wohlergehen ein einfühlsames, zugewandtes und fürsorgliches
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Umfeld schließlich ungleich bedeutsamer sei als die Gewährung negativer Freiheitsspielräume und formaler Rechtsansprüche. Eine ethische Perspektive, die ganz auf die Sicherung von Selbstbestimmung im Rahmen wechselseitiger Ansprüche und Verpflichtungen ausgerichtet ist, droht demnach etwa die im wahrsten Sinne vitale Bedeutung von Mitgefühl, Zuwendung und Fürsorge für pflegebedürftige, demente und sterbende alte Menschen systematisch auszublenden (vgl. Lloyd 2004). In diesem Sinne werden zuweilen z.B. Verbindungen zwischen der strukturellen Fixierung auf individuelle Autonomie und der unzulänglichen Versorgung hilfsbedürftiger älterer Menschen in Pflegeeinrichtungen hergestellt (vgl. Polivka/Moody 2001). Zudem birgt die Überbetonung des Autonomiegedankens auch die Gefahr einer Diskriminierung, wenn abweichende Individuen nicht mehr als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft anerkannt werden, die ein gleiches Maß an Respekt und Anerkennung verdienen. Dies mag eine Erklärung für Berichte aus der Altenpflege sein, in denen gebrechliche, hinfällige oder verwirrte ältere Menschen entwürdigend behandelt, ihre Gefühle missachtet und ihre Bedürfnisse übergangen werden (vgl. Fussek 2005). Schließlich wird auch vor Tendenzen gewarnt, Individuen, die nicht länger über die kognitiven Voraussetzungen autonomen Entscheidens verfügen, die Menschenwürde und den auf ihr beruhenden Schutzanspruch rundheraus abzusprechen, etwa nicht mehr entscheidungsfähige Demenzpatienten zu »Post-Personen« (MacMahan 2002: 493 [eigene Übersetzung]) zu erklären, sodass z.B. gewisse Lockerungen des Tötungsverbots in ihrem Fall zulässig erscheinen (vgl. zur Kritik Wetzstein 2005). Auch mit Blick auf die Sterbehilfedebatte wird der Vorwurf laut, hier würden alte Menschen zunehmend nicht mehr als Personen, sondern als sozioökonomische Last angesehen und damit aus der menschlichen Gemeinschaft ausgegrenzt und zur biopolitischen Verfügungsmasse degradiert (vgl. Graefe 2007: 213).
D IE FAIRE V ERTEILUNG MEDIZINISCHER R ESSOURCEN Z WISCHEN G LEICHBEHANDLUNG UND G ENER ATIONENGERECHTIGKEIT Der demographische Wandel erscheint inzwischen oft vorrangig als Herausforderung der sozialen Sicherungssysteme. Das Anwachsen der Anzahl alter Menschen gegenüber der jüngerer, sozialversicherungspflichtig beschäftigter Personen führt, so die Befürchtung, zu einem Anstieg der Gesundheitsausgaben bei gleichzeitigem Rückgang der Einnahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung, sodass dem solidarisch getragenen Gesundheitswesen in seiner bisherigen, umlagefinanzierten Form eine dramatische Knappheit der zur Verfügung stehenden Mittel droht (vgl. etwa Beske 2007). Unter diesen Vorzeichen werden zunehmend Rufe nach radikalen Einschnitten laut. Auch wenn die Gesundheitskosten vermutlich überhaupt nicht mit dem Lebensalter,
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sondern mit der zeitlichen Nähe zum Tod korrelieren und der Anstieg der Lebenserwartung zudem mit einer Ausdehnung der gesunden Lebensspanne einhergehen dürfte, werden dabei doch insbesondere die älteren Menschen in den Blick gefasst. Eine altersabhängige Begrenzung öffentlicher Gesundheitsversorgung gilt vielen nicht nur als ökonomisch ratsam, sondern mit Blick auf eine gerechte Verteilung medizinischer Ressourcen zwischen den Generationen auch als ethisch geboten (vgl. zum Folgenden Schweda 2013b). Zu Gunsten einer solchen Altersrationierung wird angeführt, dass das chronologische Lebensalter immerhin ein klares Rationierungskriterium angebe, das zudem jeden gleichermaßen betreffe, da schließlich alle irgendwann alt würden (vgl. Breyer 2005). Aus utilitaristischer Sicht wird überdies argumentiert, dass die Kosteneffektivität medizinischer Leistungen und damit ihr volkswirtschaftlicher Gesamtnutzen bei alten Menschen niedriger ausfällt als bei jüngeren. Gerade wenn die Effektivität einer Behandlung an dem zu erwartenden Gewinn an Lebenszeit bzw. Lebensqualität bemessen wird, weisen ältere Menschen von vornherein ein ungünstigeres Kosten-Nutzen-Profil auf: Statistisch gesehen ist ihre Lebenserwartung kürzer, ihre Lebensqualität niedriger und der durch medizinische Maßnahmen zu erzielende Effekt vergleichsweise gering (vgl. Brock 2003: 101-114). Von egalitaristischer Seite wird zudem geltend gemacht, es stehe im Grunde zwar jedem die faire Chance auf eine angemessene Lebensspanne zu, alle darüber hinaus gelebten Jahre seien aber allenfalls als individueller Glücksfall zu betrachten und könnten keinen solidarischen Versorgungsanspruch begründen. Damit erscheint es unter bestimmten Umständen durchaus gerechtfertigt, Menschen, die ihr ganzes Leben noch vor sich haben, bei der medizinischen Versorgung gegenüber jenen zu bevorzugen, die sich gleichsam schon in der Verlängerung befinden (vgl. Harris 1985: 91f.). Kommunitaristische Beiträge kritisieren darüber hinaus die gesellschaftlichen Folgekosten des grenzenlosen Machbarkeitswahns, den die moderne Medizin gerade mit Blick auf das Alter(n) entwickle. Ihnen zufolge müssen wir wieder lernen, Alter(n) und Sterben als wesentlichen Teil des menschlichen Daseins anzuerkennen und bewusst in unsere Lebensgestaltung einzubeziehen, statt mit allen medizinischen Mitteln dagegen anzukämpfen. Die natürliche Lebensspanne von 80 Jahren reiche vollkommen aus, um ein gutes, gelingendes und erfülltes Leben zu führen, sodass jenseits dieser Grenze auch keine aufwändigen medizinischen Maßnahmen zur Lebensverlängerung mehr zu befürworten seien (vgl. Callahan 1995: 118). Auch die liberalistische Orientierung öffentlicher Gesundheitsversorgung an der Erhaltung und Wiederherstellung der durch die ›normale arttypische Funktionsfähigkeit‹ gegebenen Chancengleichheit (vgl. Daniels 1985: 31f.) scheint auf geringere Aufwendungen für Ältere hinauszulaufen, da die besagte Funktionsfähigkeit statistisch gesehen mit dem Lebensalter zurückgeht, sodass die an sie gebundenen Lebensperspektiven ohnehin zusammenschrumpfen.
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Überdies wird argumentiert, wenn wir die uns zur Verfügung stehenden Ressourcen über die eigene Lebensspanne verteilen müssten (ohne zu wissen, welche Lebenserwartung wir selbst haben und wo im Leben wir stehen), gebiete es schon die Klugheit, den Großteil für frühere Lebensphasen einzuplanen, sodass eine entsprechende Ressourcenverteilung auch allgemein zustimmungsfähig sein müsste (vgl. Daniels 1988: 40-65). Die Gegner einer altersabhängigen Begrenzung medizinischer Leistungen wenden ein, dass alle numerischen Altersgrenzen letzten Endes bloß willkürliche Festsetzungen darstellen, die angesichts der großen individuellen und soziokulturellen Bandbreite des Alter(n)s jeder sachlichen Grundlage entbehren. Eine Altersrationierung verletzte damit nicht nur die für die abendländische Zivilisation grundlegenden Werte gesellschaftlicher Solidarität und christlicher Nächstenliebe (vgl. Müller 2010). Sie stände auch im Widerspruch zu dem egalitaristischen Grundzug modernen moralischen Denkens, das prima facie allen Menschen, ungeachtet ihrer Herkunft und Eigenart, den gleichen Status und Wert und die gleichen Rechte und Pflichten zuschreibt. Einigen Personen bloß wegen des kontingenten Faktums ihres Geburtsdatums bzw. Lebensalters Rechtsansprüche zu entziehen oder zu beschneiden, die allen anderen ohne Weiteres zugestanden werden, erscheint vor diesem Hintergrund ebenso willkürlich und ungerecht wie jede andere Diskriminierung, etwa aufgrund von Geschlecht, Herkunft oder Glauben (Rivlin 1999: 1379). Selbst wenn sich so etwas wie eine ›natürliche Lebensspanne‹ tatsächlich objektiv angeben ließe, würden sich daraus keine direkten Konsequenzen hinsichtlich einer Begrenzung medizinischer Versorgung ergeben, da aus der bloßen deskriptiven Feststellung einer Tatsache ohne normative Zusatzannahmen keine normativen Schlussfolgerungen zu ziehen sind (vgl. Zimmermann-Acklin 2012). Auch ein angeblich rein formales entscheidungstheoretisches Planungskalkül, das das Gros der verfügbaren Gesundheitsressourcen den frühen und mittleren Lebensjahren zuweist, hilft da nicht weiter. Es erscheint nur dann klug, wenn bereits ein Bild des Lebensverlaufs vorausgesetzt wird, in dem es primär darauf ankommt, einen im Erwachsenenalter angesetzten Zenit zu erreichen, während vom höheren Alter letztlich nicht mehr viel zu erhoffen ist. Das entspricht dem traditionellen wohlfahrtsstaatlichen Lebenslaufregime der klassischen Industriegesellschaft, in dem Jugend und Erwachsenenalter der individuellen, familiären und beruflichen Entwicklung, Entfaltung und Selbstverwirklichung gewidmet sind, während das hohe Alter von biographischer Stagnation, sozialem Disengagement und Vorbereitung auf den nahenden Tod gekennzeichnet ist. Inzwischen dürften sich in Anbetracht der gestiegenen Lebenserwartung und der verlängerten Altersphase sowie im Lichte gehobener Ansprüche an das Alter als biographischen Abschnitt bei der Planung vollkommen andere Gewichtungen nahelegen (vgl. Schweda 2013b: 164).
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G UTES A LTER (N) Z WISCHEN N ATÜRLICHKEIT UND E NHANCEMENT In dem Maße, in dem das Alter(n) den Anschein unveränderlicher Natürlichkeit einbüßt und zum Gegenstand gesellschaftlicher Neuverhandlung und technologischer Intervention wird, eröffnet sich unweigerlich die Frage nach den Maßstäben seiner sinnvollen Gestaltung. Ganz abgesehen von den oftmals unklaren gesundheitlichen Risiken und Nebenwirkungen und den womöglich beträchtlichen gesamtgesellschaftlichen Folgekosten ist daher auch zu klären, inwieweit der Einsatz neuer medizinischer Eingriffsmöglichkeiten in den Prozess des Alterns überhaupt erstrebenswert erscheint. Dabei geht es nicht primär um die Begründung von Normen des wechselseitigen Umgangs miteinander, sondern um die Verständigung über die Ziele unseres eigenen Handelns und Lebens, darum also, was im Rahmen des Strebens nach einem guten, zugleich erfüllten und gelingenden Leben als sinnvoll und wünschenswert zu gelten hat (vgl. zum Folgenden Schweda/Marckmann 2012). Auch wenn solche Fragen guten, gelingenden Alter(n)s bereits in die medizinethische Diskussion um Entscheidungen am Lebensende hineinspielen, so treten sie doch in der kontroversen Auseinandersetzung um die Anti-AgingMedizin besonders prägnant zu Tage. Mit ihr hat sich eine medizinische Richtung herausgebildet, die den Alterungsprozess durch direkte und gezielte Intervention in die zu Grunde liegenden biologischen Mechanismen zu verlangsamen, aufzuhalten oder gar rückgängig zu machen und das menschliche Leben insgesamt radikal zu verlängern sucht (vgl. Stuckelberger 2008). Gegner des Anti-Aging erinnern angesichts solcher Bestrebungen daran, dass das Altern ein natürlicher Vorgang sei, den es hinzunehmen und sinnvoll zu gestalten gelte, sodass Eingriffe in den Alterungsprozess als hybrides Spiel mit der Natur des Menschen und der natürlichen Ordnung der Dinge erscheinen. Bisweilen wird die mit dem Altern einhergehende Erfahrung der Vergänglichkeit und Endlichkeit sogar insofern positiv gedeutet, als sie konstitutiv zu einem sinnvollen menschlichen Leben gehöre und der Lebenszeit überhaupt erst Bedeutung und Wertigkeit verleihe (vgl. Kass 2001). Mit Blick auf die gesellschaftlichen Folgen wird überdies darauf hingewiesen, dass Anti-AgingVerfahren kostspielig sind, sodass ihre solidarische Finanzierung eine Belastung für das öffentliche Gesundheitssystem darstellen, ihre kommerzielle Vermarktung hingegen zu erheblichen sozialen Verwerfungen führen könnte (vgl. Ehni/Marckmann 2009). Zudem wird zu bedenken gegeben, dass eine radikale Steigerung der menschlichen Lebenserwartung zu einem explosionsartigen Anstieg der Bevölkerungszahlen führen würde, der verheerende Schädigungen der Umwelt und gesellschaftliche Verteilungskonflikte zur Folge hätte (vgl. Hackler 2001). Gewarnt wird dabei auch vor einer ›Überalterung‹ der Gesellschaft, die den bisherigen Zyklus der Generationen durcheinanderbringen und einen Verlust an Kreativität, Flexibilität und Innovationsdynamik
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nach sich ziehen werde. Das Resultat sei eine gerontokratisch erstarrte Gesellschaft von Hochaltrigen, die in ihren Entwicklungspotenzialen erschöpft sei und politische Mitwirkungsmöglichkeiten und soziale Aufstiegschancen für nachwachsende Generationen blockiere (ebd.). Befürworter des Anti-Aging kritisieren, diese Bedenken seien Ausdruck eines »gerontologischen Todeskults« (American Academy of Anti-Aging-Medicine 2002: 6 [eigene Übersetzung]), in dessen Zeichen gesundheitlicher Verfall, nachlassende Leistungsfähigkeit und schließlich der Tod selbst ab einem bestimmten Alter mit einem Mal zu akzeptablen Erscheinungen, wenn nicht gar wesentlichen Merkmalen menschlicher Existenz überhaupt verklärt würden. Sie wenden ein, dass es nicht akzeptabel sei, der Allgemeinheit den wissenschaftlich-technischen Sieg im Kampf gegen Krankheit, Verfall und Tod unter Berufung auf subjektive ›Yuk-Faktoren‹, persönliche Wertvorstellungen und religiöse Welt- und Menschenbilder vorzuenthalten (vgl. de Grey 2005: 661f.). Damit nämlich würden ältere Menschen diskriminiert, indem man ihnen gegenüber jüngeren Leuten bloß herabgesetzte gesundheitliche Normwerte und entsprechend reduzierte Ansprüche auf medizinische Behandlung zugestehe. In letzter Konsequenz würde einer ganzen Gruppe von Personen bloß aufgrund ihres Lebensalters das fundamentale Menschenrecht auf Weiterleben und die dafür notwendige medizinische Versorgung kurzerhand abgesprochen (vgl. ebd.). Der ›gerontologische Todeskult‹ sehe für ältere Menschen keine positiven Möglichkeiten der Selbstentfaltung und Lebensgestaltung mehr vor, sondern nur noch »graceful accommodation« (Bostrom 2005: 277) mit all jenen Zumutungen, die die Anti-Aging-Medizin doch gerade zu beheben verspricht. Er verstelle so den Blick darauf, dass die Verlängerung des menschlichen Lebens nicht nur rein quantitativ die Möglichkeit eröffnet, eine größere Menge an Wünschen zu erfüllen, Gütern zu erlangen und Glückszuständen zu erleben, sondern auch qualitativ den Spielraum zur Entwicklung, Erprobung und Verwirklichung unterschiedlichster Lebensentwürfe erheblich erweitern würde (vgl. Knell 2009). Auch viele der pessimistischen gesellschaftlichen Zukunftsszenarien seien letztlich noch von überkommenen negativen Altersstereotypen geprägt, die das Potenzial der Anti-Aging-Medizin zur Verbesserung des Gesundheitszustands und der Leistungsfähigkeit älterer Menschen nicht einkalkulieren (vgl. de Grey 2005).
D ER MEDIZINE THISCHE A LTER (N) SDISKURS Z WISCHEN UNIVERSALISTISCHEM E GALITARISMUS UND GERONTOLOGISCHEM S EPAR ATISMUS In allen angesprochenen Debatten geht es um die ethische Reflexion moralischer Fragen, die sich im medizinischen und gesundheitspolitischen Umgang
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mit dem Alter(n) und älteren Menschen stellen. Allerdings kommt das Alter(n) dabei meist nur insoweit in den Blick, wie es ein praktisches Problem darstellt, also im Rahmen der vorgegebenen medizinischen und gesundheitspolitischen Praktiken und Bedingungen den bislang gewohnten, vorgesehenen und erwünschten Ablauf der Dinge behindert. Entsprechend geht es etwa um das Problem einer angemessenen Abwägung von Autonomie und Fürsorge im Umgang mit alten Menschen; oder um das Problem einer intergenerationell gerechten Verteilung medizinischer Ressourcen in alternden Gesellschaften; oder um das Problem einer Bestimmung der Aussichten guten, gelingenden Lebens im Lichte neuer medizinischer Möglichkeiten der Lebensverlängerung. Nun ist diese problemorientierte Perspektive selbst mit erheblichen Problemen behaftet: Erstens betrachtet sie bloß diejenigen Aspekte des Alter(n)s, die die Probleme zu verursachen scheinen, und blendet so zugleich eine umfassendere Sicht des Phänomens als solchen in seinem Wechselspiel biologischer, psychologischer und soziokultureller Dimensionen aus, sodass möglicherweise relevante Gesichtspunkte von vornherein nicht in Betracht gezogen werden. Zugleich jedoch operiert die problemorientierte Perspektive selbst vielfach auf der Basis gewisser impliziter Vorverständnisse bezüglich des Alter(n)s und lässt so ohne weitere Reflexion oder Begründung ungesicherte, oftmals fragwürdige Annahmen in die Debatte einfließen. Eine prominente Rolle spielt dabei eine medizinisch-biologische Sichtweise, die einseitig auf physiologische und mentale Abbauprozesse fixiert bleibt und damit ein Defizitmodell des Alter(n)s im Zeichen von Niedergang und Verfall nahelegt. Das verweist drittens auch auf eine Tendenz der problemorientierten Perspektive, am Ende das Alter(n) selbst bzw. die alten Leute als das Problem erscheinen zu lassen, was negative Altersstereotype verstärken und so Ageismus fördern kann, also die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihres (fortgeschrittenen) Lebensalters. Angesichts dieser Desiderate wird verschiedentlich gefordert, medizinethische Fragen bezüglich des Alter(n)s nicht mehr nur im Ausgang von bestimmten technologisch oder politisch aufgeworfenen Problemen zu diskutieren, sondern verstärkt unter dem Gesichtspunkt des Alter(n)s selbst zu betrachten. Mitunter wird sogar der Ruf nach einem radikalen Umdenken laut, das zu einem neuen Moralbewusstsein, einer Ethik für eine alternde Gesellschaft (vgl. Moody 1992) führen müsse. Hinsichtlich des Anspruchs und der Reichweite der damit verbundenen Einwände und Forderungen lassen sich drei unterschiedlich starke Lesarten unterscheiden, von denen freilich erst die dritte tatsächlich über den begrenzten Horizont der problemorientierten Perspektive hinausweist (vgl. zum Folgenden Schweda 2013a). In einer ersten, verhältnismäßig moderaten Lesart bezieht sich die Rede von der Ethik für eine alternde Gesellschaft auf die Themen der medizinethischen und gesundheitspolitischen Auseinandersetzung. Sie unterstellt ganz im Sinne der problemorientierten Perspektive, dass der demographische Wan-
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del vermehrt spezifische Fragen und Schwierigkeiten aufwirft, die entsprechend berücksichtigt werden sollten. Wie bereits gesagt ist in der Tat kaum zu leugnen, dass der wachsende Anteil älterer Menschen im Bereich der Medizin und des Gesundheitswesens aufgrund des besonderen epidemiologischen Profils dieser Bevölkerungsgruppe bestimmte medizinische und medizinethische Probleme in den Vordergrund treten lässt. Insgesamt mag damit eine gewisse Entdramatisierung des medizinethischen Diskurses einhergehen: Neben Auseinandersetzungen um spektakuläre biomedizinische Technologien wie die Stammzellforschung und dramatische intensivmedizinische Entscheidungssituationen wie im Falle der Organspende dürften in wachsendem Maße Fragen diskutiert werden, die sich im Zusammenhang mit der Durchführung, Organisation und Finanzierung alltäglicher medizinischer Versorgung und Pflege stellen. Doch auch wenn die konkreten Probleme selbst wechseln mögen, bleibt dabei letztlich eine problemorientierte Perspektive maßgeblich. Nach einer zweiten, anspruchsvolleren Lesart zielt der Gedanke der Ethik für eine alternde Gesellschaft nicht nur auf die Themen und Fragestellungen der medizinethischen Auseinandersetzung ab, sondern betrifft auch die inhaltlichen Positionen, die in Bezug auf sie vertreten werden. Demnach erfordert der demographische Wandel mehr als lediglich eine größere Aufmerksamkeit für gewisse bislang wenig beachtete Erscheinungen. Er verlangt vor allem auch ein Umdenken in einer Reihe von zentralen Punkten, die Korrektur bisheriger Standpunkte und Überzeugungen. Freilich muss diese Forderung nicht notwendig in Gestalt alarmistischer Aufrufe zu Umkehr und Berichtigung lange gehegter Irrtümer oder gar zu Radikalismen wie der Verschwörung der Alten und dem Kampf der Generationen auftreten (vgl. Schirrmacher 2004). Stattdessen kann sie sich schlicht als angemessene Reaktion auf und Anpassung an neuartige gesellschaftliche Entwicklungen und Sachlagen darstellen. Dies trifft etwa auf den Versuch zu, das Prinzip der Patientenautonomie so zu formulieren, dass es auch im Umgang mit älteren pflegebedürftigen Menschen so weit wie möglich gewahrt werden kann (vgl. Agich 1993). Auch die Diskussion um die Altersrationierung scheint überwiegend von dem Anspruch getragen zu sein, den Gedanken der Verteilungsgerechtigkeit selbst unter veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zur Geltung zu bringen (vgl. Daniels 1988: 24). In jedem Fall bleibt aber auch in der Suche nach neuartigen Lösungsansätzen letzten Endes weiterhin eine problemorientierte Perspektive bestimmend. Zuweilen wird die Rede von der Ethik für eine alternde Gesellschaft allerdings mit der noch stärkeren Forderung nach einer grundlegenden Transformation der konzeptionellen Anlage der gesamten ethischen Theoriebildung verbunden. Damit wird die Auseinandersetzung auf eine metaethische Ebene gehoben: Es geht nicht mehr nur um Themen und Positionen, sondern um die elementaren Begriffe, in denen sie formuliert werden, und um die fun-
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damentalen Grundsätze und Maßstäbe, nach denen über sie zu verhandeln ist. In diesem Sinne erörtert etwa Moody in einer wegweisenden Abhandlung, inwiefern das gesellschaftliche Altern den theoretischen Zuschnitt und die Problemlösungskapazität der vorherrschenden, um universelle Prinzipien individueller Autonomie und formaler Gerechtigkeit zentrierten Ansätze der zeitgenössischen Medizinethik in Frage stellt (vgl. Moody 1992: 1f.). Dabei streicht er gegenüber der von abstrakten normativen Grundsätzen geleiteten Prinzipienethik die Bedeutung von Tugenden wie Mitgefühl, Fürsorge und Solidarität im Rahmen vertrauter persönlicher Nahbeziehungen und sozialer Gemeinschaften heraus (vgl. ebd.: 11f.). Auch im Zuge allgemeiner rationalitäts- und liberalismuskritischer Tendenzen (vgl. Ach/Runtenberg 2000: 74f., 81f.) wurden seither von neopaternalistischer, feministischer, fürsorge- und beziehungsethischer Seite ähnliche Ansätze entwickelt, die der spezifischen Verfassung und Lage alter Menschen angemessener sein sollen (vgl. Clark 1991; Collopy et al. 1991; Polivka 1997; Johnstone 2002). Erst diese Forderung nach einer Revision der theoretischen Grundlagen der zeitgenössischen Medizinethik weist über eine rein problemorientierte Perspektive hinaus auf die in ihr immer schon vorausgesetzten Bilder des Alter(n)s. Wie in einer Gegenbewegung gegen den medizinethischen Mainstream scheinen dabei vielfach gerade die Abhängigkeit, Verletzlichkeit und Endlichkeit des Menschen und die konstitutive Bedeutung sozialer Beziehungen und Gemeinschaften für seine Existenz in den Blick zu kommen (vgl. Baltes 2009). Insofern erhält das Alter(n) in diesem Zusammenhang mitunter geradezu paradigmatische Bedeutung: Es erscheint nicht länger bloß als Spezialproblem alter Leute, sondern lässt die allgemeine Verfasstheit der menschlichen Existenz als solcher besonders deutlich zum Vorschein kommen (vgl. Rentsch 1995).
S CHLUSS UND A USBLICK : E THIK IN DER P ERSPEK TIVE DES L EBENSVERL AUFS Die ›revisionäre Perspektive‹ erscheint vielversprechend: Sie eröffnet den Blick auf die in der problemorientierten medizinethischen Alter(n)sdiskussion immer schon stillschweigend vorausgesetzten Bilder des Alter(n)s. Allerdings griffe es entschieden zu kurz, nun je nach Standpunkt und Vorliebe bloß ein einseitiges Altersbild durch ein anderes zu ersetzen und die Wertvorzeichen des medizinethischen Diskurses einfach entsprechend ›umzupolen‹. Vielmehr erscheint eine grundlegende Verständigung darüber erforderlich, was es aus ethischer Sicht überhaupt bedeutet, alt zu werden und zu sein. Bemerkenswerterweise ist selbst die philosophische Ethik in ihrer langen Tradition nur recht sporadisch auf den Umstand eingegangen, dass Menschen
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nun einmal altern (vgl. Birkenstock 2008). Gewiss gibt es einige wichtige Abhandlungen, die das hohe Alter zum Thema ethischer Betrachtung machen. Es fehlt jedoch eine systematische Reflexion auf das Alter(n) als grundlegende Voraussetzung aller ethischen Erwägungen: Wenn Ethik sich auf die evaluativen und normativen Prinzipien menschlichen Handelns und guten Lebens bezieht, was bedeutet es dann für die ethische Theoriebildung, dass die conditio humana wesentlich durch gewisse unausweichliche und irreversible Veränderungen über den Lebensverlauf gekennzeichnet ist? Welche Rolle spielen (implizite) Vorstellungen und Erwartungen bezüglich der zeitlichen Erstreckung und Verlaufsstruktur des menschlichen Lebens und seiner Phasen in der (medizin-)ethischen Debatte? Und mit welchen Begriffen, Modellen und Methoden lassen sie sich am besten identifizieren, analysieren und systematisch in die (medizin-)ethische Theoriebildung einbinden? In der Auseinandersetzung mit diesen Fragen kann die Ethik insbesondere von der Alter(n)ssoziologie lernen, die das Alter(n) heute vornehmlich im Lichte des gesamten Lebensverlaufs betrachtet (vgl. Settersten 2003). Diese theoretische Perspektive wirkt einer statischen Klassifizierung alter Menschen entgegen und lenkt den Blick stattdessen auf den Umstand, dass wir alle immer schon altern und uns dabei an einer bestimmten gesellschaftlich institutionalisierten und normierten Verlaufsform des menschlichen Lebens orientieren, einer durch soziokulturelle Vorgaben strukturierten und gegliederten Abfolge von Phasen, Stadien oder Stufen, die jeweils mit einem bestimmten gesellschaftlichen Status sowie mit spezifischen Rollen, Handlungsmöglichkeiten und Verhaltenserwartungen verknüpft sind, welche ihrerseits subjektiv angeeignet und internalisiert werden und als eine Art ›innerer Uhr‹ einen normativen Orientierungsrahmen individueller Handlungs- und Lebensentscheidungen bilden. Als Erörterung faktisch gelebter moralischer Orientierungen im Hinblick auf ihre Geltung und Begründung hat die ethische Diskussion sich dieses bislang vernachlässigten Bereichs biographischer Normen anzunehmen und ihn einer systematischen Bestandsaufnahme, Analyse und Reflexion zu unterziehen. Dabei ist ihre Aufgabe zunächst eine kritische: Sie muss implizit vorausgesetzte Altersstereotype aufdecken und so einer argumentativen Auseinandersetzung zugänglich machen. Darüber hinaus erhält sie aber auch die konstruktive Aufgabe, einen begrifflich-konzeptionellen Rahmen zu entwickeln, der der Bedeutung der Lebensverlaufsperspektive für die Erörterung (medizin-)ethischer und (gesundheits-)politischer Fragen besser gerecht wird. Dies dürfte allgemein ein profunderes Verständnis der Rahmenbedingungen menschlichen Lebens und Handelns ermöglichen und könnte damit auch der philosophischen Ethik – sofern diese sich noch als Lehre vom richtigen Handeln und guten Leben versteht – neue Horizonte eröffnen.
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Glaser, Strauss und die deutschen Ruhesitzwanderer in Spanien Die Grounded Theory als methodische Basis zur Erforschung älterer Migranten Melanie Hühn
Alter(n) wissenschaftlich zu untersuchen und empirisch zu analysieren ist keine Neuheit, die mit dem letzten demographischen Wandel aufkam. Die Alter(n)sforschung muss nicht neu erfunden werden. Allerdings haben sich aufgrund des Ausmaßes dieses Wandels, der durch das demographische Altern infolge des Geburtenrückgangs gekennzeichnet ist (vgl. Mertins 1997: 9), vielfältige und neuartige Lebensformen in westlichen Gesellschaften etabliert, die bisher nur selten erforscht wurden und die neue Perspektiven auf das Alter(n) erfordern. Eine Auswirkung dieses Wandels zeigt sich in der europäischen Ruhesitzwanderung. Alter und Migration sind zwei gesellschaftlich sehr relevante Phänomene der Gegenwart. Bisher werden sie jedoch nur selten zusammen untersucht. Alter wird häufig mit Immobilität und Unflexibilität in Verbindung gebracht, wohingegen Migration mit Elan und Veränderungswillen gleichgesetzt wird, also Eigenschaften, die dem Alter im Allgemeinen abgesprochen werden. Entgegen dieser Annahmen über das Alter legen sich seit einigen Jahrzehnten immer mehr Senioren aus hochentwickelten Industriestaaten einen Ruhesitz in einem anderen Land zu und werden zu mobilen und aktiven Alten, die ihre letzte Lebensphase selbstbestimmt gestalten wollen. Immer mehr deutsche Senioren zieht es in südeuropäische Länder wie Spanien, um ›erfolgreich‹ mit dem Alter und dem Zustand der Untätigkeit nach der Verrentung umgehen zu können, da ihnen die klimatischen Bedingungen ein aktives Leben unter freiem Himmel ermöglichen. Die Alter(n)sforschung muss sich daher aus einer neuen, transnationalen Perspektive mit alten Menschen als Migranten auseinandersetzen. Ein Weg der Erforschung der durch die Migration entstandenen Lebenswelt älterer Deutscher in Spanien soll im Folgenden vorgestellt werden: ein mehrstufiges Feldforschungsprojekt, für das die Grounded Theory nach Glaser und
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Strauss als methodische Basis gewählt wurde. Zwar ist dieses Vorgehen keine neue sozialwissenschaftliche Errungenschaft, aber sie leistet für die Untersuchung neuartiger Phänomene, wie dem der Migration im Alter, wesentliche Grundlagenarbeit, mit der Altersstereotype aufgebrochen werden können.
D IE INTERNATIONALE R UHESIT Z WANDERUNG – F ORSCHUNGSFELD UND F ORSCHUNGSSTAND Aktuell stellt Spanien das wichtigste europäische Zielland deutscher und britischer Senioren dar. Allerdings erweist es sich als sehr schwierig, das Ausmaß der innereuropäischen Altenwanderung nach Spanien statistisch zu erfassen, da die wenigsten Senioren mit einem Wohnsitz in Spanien gemeldet sind. Einen Ansatzpunkt bieten die Zahlen des nationalen Statistikamts in Madrid. Die Deutschen und die Briten bilden die größten Gruppen der in Spanien ansässigen EU-Ausländer, und die Tendenz ist steigend. Zählte das Amt 2001 noch 170.000, waren 2007 bereits 450.000 britische und deutsche Staatsbürger registriert (vgl. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2008). Laut Aussagen des Amtes ist die Hälfte der offiziell gemeldeten Deutschen in Spanien älter als 50 und ein Viertel gar älter als 65 Jahre. Schätzungen gehen jedoch davon aus, dass sich zwischen 400.000 und 800.000 Deutsche im Rentenalter mehr als drei Monate pro Jahr in Spanien aufhalten (vgl. Kohlenberg 2003). Die grenzüberschreitende Ruhesitzwanderung von Deutschen nach Spanien wurde kaum erforscht. Mit quantitativen Methoden der empirischen Sozialforschung (z.B. Stichprobenerhebungen mit Fragebögen) konnte man in bestimmten Orten oder Regionen zu ersten Erkenntnissen über die sozioökonomischen bzw. die Wohnverhältnisse von deutschen Senioren in Spanien gelangen (vgl. Friedrich/Warnes 2000; Breuer 2003; Kaiser/Friedrich 2002; Friedrich/Kaiser 2001). Ergänzt werden derartige quantitative Ergebnisse durch einige Feldforschungen, die auf teilnehmender Beobachtung und qualitativen Interviews mit deutschen Senioren in Spanien basieren. Sie kommen zu den Ergebnissen, dass die Ruhesitzwanderer zwischen zwei Welten leben, sich im Nationalen verorten oder in der Fremdwahrnehmung als Touristen (und eben nicht Migranten) gelten (vgl. Nokielski 2005; Schriewer 2005; Schriewer 2007). Die für das Forschungsfeld interessantesten quantitativen Erhebungen wurden innerhalb von zwei DFG-Projekten unter der Leitung von Geographen durchgeführt: Toni Breuers Forschungsprojekt Alterswohnsitze deutscher Rentner-Residenten auf den Kanaren (Universität Regensburg, 2000-2002) und Klaus Friedrichs Projekt Ruhesitzwanderung (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 1999-2003). Die Befragung von 360 über 50-jährigen Deutschen durch Friedrich auf Mallorca gab sowohl Aufschluss über sozioökonomische Merkmale und Gründe für die Zielortwahl, wie auch über die Besitz- und Wohnver-
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hältnisse der Ruhesitzwanderer. Bei der Auswertung der Daten zeichnete sich ein relativ homogenes Bild der älteren Deutschen auf Mallorca ab. Mehr als drei Viertel der Befragten sind komplett aus dem Erwerbsleben ausgeschieden, waren in anforderungsvollen Positionen tätig (Unternehmer, Beamte, Angestellte mit Führungsaufgaben), haben ebenfalls in Deutschland einen Wohnsitz, besitzen auf Mallorca Wohneigentum, verfügen über rudimentäre oder keine Spanischkenntnisse und geben als Hauptgründe für die Wanderung nach Mallorca das Mittelmeerklima, die Landschaft, die mediterrane Lebensweise und die Erreichbarkeit von Deutschland aus an (vgl. Kaiser/Friedrich 2002: 18). Breuer kommt anhand seiner Daten, die ebenfalls in einer standardisierten Befragung erhoben wurden, auf den Kanarischen Inseln zu ähnlichen Ergebnissen. Rund 80 % der Altersmigranten sind als annehmlichkeitsorientierte Migranten einzustufen, d.h., sie migrieren nicht aus einer familiären oder beruflichen Motivation heraus nach Spanien, sondern weil sie ihren Lebensabend hier auf angenehmere Weise verbringen können. Mehr als die Hälfte der deutschen Senioren auf den Kanarischen Inseln sind klassische Überwinterer, die sich zwischen drei und sechs Monaten in Spanien aufhalten. Nur ein Viertel der Befragten lebt permanent dort, und lediglich 17,6 % sind der unteren Einkommensschicht zugehörig (Breuer 2004: 124ff.). Mithilfe eines Clusterings der Motivationsstrukturen, der Aufenthaltsdauer und des sozioökonomischen Status stellt der Geograph fest, dass eine besondere Ballung auf die Kombinationen »annehmlichkeitsorientierter Überwinterer der gehobenen Einkommensschicht« und »annehmlichkeitsorientierter Überwinterer der mittleren Einkommensschicht« fällt (ebd.: 128). Breuer interpretiert die saisonale Nutzung des Ruhesitzes auf den Kanaren, welche häufig touristischen Motivationen entspringt, als besondere Strategie des erfolgreichen Alterns, da damit ein aktives, selbstbestimmtes Leben im Freien und die Aufrechterhaltung der Bindungen in Deutschland ermöglicht wird (vgl. ebd.: 128f.). Auf diese Weise nutzt die Mehrheit der deutschen Ruhesitzwanderer das »Beste aus zwei Welten« (ebd.: 129). Die beiden vorgestellten Forschungsprojekte wollen die Wanderung deutscher Senioren nach Spanien statistisch ergründen und konzentrieren sich auf die Sammlung und Auswertung gut messbarer Daten. Bis heute stößt die quantitative Erfassung der Ruhesitzwanderung innerhalb Europas vor allem auf das Interesse von Geographen und Gerontologen (vgl. Breuer 2004; Kaiser/ Friedrich 2002; Friedrich/Warnes 2000; King u.a. 2000; Williams u.a. 1997). Sie leisten mit ihren Stichprobenerhebungen einen grundlegenden Beitrag zur Erforschung des Phänomens, können dies in seiner sozialen und kulturellen Tiefe jedoch nicht ergründen. In den letzten Jahren wurden zunehmend auch qualitative Untersuchungen des Phänomens durchgeführt, die sich mit Fragen der Wahrnehmung des neuen Wohnumfeldes, der Integration in die lokale Gemeinschaft, der Fremdwahrnehmung durch die Mitglieder der Aufnahmegesellschaft, der Parado-
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xien, die der Wanderung zugrunde liegen, oder der kollektiven Bewusstseinsund Identitätsbildung auseinandersetzten. Diese Studien sind bisher sowohl auf eine Nationalität als auch auf eine Region bzw. einen Ort beschränkt geblieben, da sie häufig von einem einzelnen Forscher betrieben werden und mit aufwändiger Feldforschung verbunden sind. Ansätze solcher Forschungsdesigns tauchten erstmals 2005 im deutschsprachigen Raum auf. Davon ausgehend, dass die Ruhesitzwanderung transnationale Züge trägt, fragt der Soziologe Hans Nokielski, ob die internationalen Altersmigranten in Spanien zu »Raumpionieren« einer europäischen Gesellschaft werden bzw. »Vorboten eines neuartigen Raumnutzungsverhaltens« sind (2005: 316). »Aber Ruhestandsmigration führt nur schwerlich zur Entstehung ›transnationaler sozialer Räume‹ in dem Sinne, dass sich über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg dichte Netzwerke sozialer Beziehungen und soziale Verflechtungen auf bauen« (ebd.: 328). Nokielski diagnostiziert, dass der Ruhestandsmigrant ein Fremder in der spanischen Gesellschaft bleiben wird, da er sich von seiner nationalstaatlich verfassten Herkunftsgesellschaft nicht gänzlich lösen will und daher sozial und kulturell in zwei Welten lebt. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch der Kulturanthropologe Klaus Schriewer, der an der Universität Murcia zu deutschen Ruhesitzwanderern in Spanien forschte. Ihn interessiert vordergründig deren Fremd- und Selbstwahrnehmung sowie ihre Bewusstseinsbildung. Auf der Basis narrativer Interviews stellt er eine Verortung im Nationalen fest: Bei den Selbst- und Fremdbildern, die die Altersmigranten entwerfen, kommt dem Nationalen eine zentrale Bedeutung zu. Die Kategorie des Nationalen scheint im engen Zusammenleben der verschiedenen Nationalitäten gar noch verstärkt zu werden. […] Ein europäisches Bewusstsein bildet sich im Falle der Altersmigranten auf der Basis des Nationalen aus. Das Nationale wird bewahrt und gleichzeitig bewusst überschritten (Schriewer 2005: 367).
Trotzdem rufe allein das internationale Umfeld, in dem sich die meisten Ruhesitzwanderer bewegen, die Identifizierung als Europäer hervor (ebd.: 366). Umgekehrt untersucht er auch die Konstruktion der Gruppe der »Nordeuropäer« durch die spanischen locals in den Zielgebieten der Ruhesitzwanderung. Schriewer stellt fest, dass diese von den Spaniern nicht als »Einwanderer« wahrgenommen (Schriewer 2010: 192), sondern aufgrund der schon mehrere Jahrzehnte andauernden, massentouristischen Alltagserfahrung in den Küstenzonen als »Touristen« klassifiziert werden. Für die Spanier sei der Unterschied zwischen nordeuropäischen Einwohnern und Urlaubern nicht erkennbar (ebd.: 196), da beide vor Ort Freizeit und Vergnügen nachgingen und sich im Verhalten und Aussehen sehr ähnelten. Gefestigt werde die Konstruktion des Nordeuropäers als »Tourist« ebenfalls durch die Immobilienbranche, die
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für Residenten und nicht für Immigranten wirbt, durch das in Spanien häufig angewendete wissenschaftliche Konzept des Residenztourismus und schließlich durch die Rentner selbst, die sich in Spanien nicht als »Einwanderer« betrachten (vgl. ebd.: 197). Inwiefern diese Wanderungsform konkrete Auswirkungen auf Orte hat, identitätsverändernd wirkt und in welchen Mustern sie verläuft, wird in diesen kulturanthropologischen oder kultursoziologischen Studien nur am Rande erwähnt. Ein Großteil der qualitativen Untersuchungen zur Ruhesitzwanderung bzw. Altersmigration wurde mit britischen Senioren im Ausland durchgeführt, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass diese in vielen Destinationen die größte Ausländergruppe darstellen. Feldstudien, die mit teilnehmender Beobachtung und Interviews realisiert wurden, geben erste Einblicke in die Lebenswelt mobiler älterer Menschen und ermöglichen beispielsweise einen Zugriff auf die Alltags- und Gedankenwelt sowie die Identitätskonstruktionen der neuen Migranten (vgl. O’Reilly 2000; Oliver 2008). Generell ist in der europäischen Migrationsforschung ein Defizit festzustellen, was die Untersuchung temporärer Wanderungsphänomene betrifft (vgl. Hoerder u.a. 2007: 38). Erst mit der Etablierung neuer Konzepte seit den 1990er Jahren, wie dem der Transnationalität, finden Formen des mehrörtigen und grenzüberschreitenden Wohnens auf Zeit Beachtung. Der spätmoderne Migrationstypus der Ruhesitzwanderung – mit all seinen multilokalen und transkulturellen Facetten – wirft meines Erachtens vor allem Fragen in den Bereichen der Identitäts- und Kommunikationsforschung, der Kulturtheorie und -soziologie sowie der Kulturanthropologie auf. Die in diesen Disziplinen vorgestellten Studien verweilen in der Erkenntnis, dass die Forschungssubjekte in einer Art »Zwischenwelt« leben, die als paradox und widersprüchlich interpretiert wird (vgl. Oliver 2008; O’Reilly 2000). Ihre grenzüberschreitenden Lebensstile werden in festgefahrenen, dichotomen Konzepten (z.B. Wir/Andere) interpretiert, und ihre Forschungsergebnisse konstruieren häufig neue Stereotype. Trotz der Zuschreibung des Transnationalen gehen die Forscher bisher wenig auf die neuen räumlichen und kulturellen Muster ein, die die mobilen Alten an den Sonnenküsten Europas hervorbringen, was häufig daran liegt, dass mit den bisher angewendeten Methoden kaum Erkenntnisse darüber gewonnen werden können: »The elaboration of transnational life styles is proceeding faster than our information about it« (Warnes 2009: 359). Die vorliegende Studie knüpft an diesem Punkt an. An der Schnittstelle von Alter, Mobilität und Identität soll die Lebenswelt von Ruhesitzwanderern an einem konkreten Fallbeispiel analysiert werden. Um die Forschungslücke im Bereich der alltäglichen Lebenswelt von mobilen älteren Menschen zu schließen und Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie sie innerhalb des Flüchtigen zu Identifikationen und kollektiven Identitätskonstruktionen gelangen, wurde daher in der Gemeinde Torrox an der Costa del Sol von 2006 bis 2011 eine
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mehrteilige Feldforschung durchgeführt. Diese kleine Gemeinde erwies sich als besonders geeignet, da hier mehr als 10.000 deutsche Staatsbürger dauerhaft oder saisonal leben.
D AS ME THODISCHE V ORGEHEN »Kultur wird am allerwenigsten in statistischer Repräsentativität faßbar, sondern nur über Einblicke in exemplarische und charakteristische Situationen, über Einsichten in das Zusammenspiel verschiedenartiger Faktoren und über die Beobachtung konkreter Praxen von identifizierbaren Individuen und Gruppen«, konstatiert der Volkskundler Wolfgang Kaschuba (2006: 214). Daher war ziemlich schnell klar, dass für die Erforschung der kulturellen Zusammenhänge, die durch die Ruhesitzwanderung hervorgebracht werden, nur ein qualitatives Forschungsdesign infrage kommen konnte. Und da es sich um ein recht junges und wenig erforschtes soziales Phänomen handelt, schien ein exploratives Vorgehen am sinnvollsten. Bei der Bestimmung des konkreten Forschungsfeldes ist es notwendig, »Felder zu identifizieren, in denen das, was wir wissen wollen am deutlichsten zutage tritt« (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008: 20). Der Ort Torrox in Andalusien schien ein solches Feld zu sein. Aufgrund der hohen Konzentration der deutschen Ruhesitzwanderer vor Ort und des bereits erfolgten Zugangs – ich hatte den Ort im Jahr 2004 bei einem längeren Spanienaufenthalt kennengelernt – habe ich die administrativen Gemeindegrenzen von Torrox als Feld bestimmt, da hier das beste Material vermutet werden konnte. Als zugrundeliegende Methodik für dieses Feldforschungvorhaben wählte ich die Grounded Theory, hinter der nach Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss die Idee steckt, anhand von systematisch gewonnenen und einer Analyse unterzogenen Daten Theorien zu entdecken (Glaser/Strauss 2005: 11). Als Schüler von Herbert Blumer steht Strauss sehr in der Tradition der Chicagoer Schule und entwickelt zusammen mit Glaser in den 1960er Jahren die »grounded theory«, weil sich die beiden Soziologen damit von den Theoretikern abheben wollen, die soziales Verhalten mit logischen und spekulativen Annahmen erklären (ebd.: 44). Im Deutschen wird dieses methodische Verfahren häufig mit »gegenstandsbezogene Theoriebildung« übersetzt (vgl. Mayring 2002: 105). Es handelt sich dabei einerseits um ein induktives Vorgehen, bei dem eine Theorie systematisch aus den Daten gewonnen wird, das aber andererseits abduktive Schlüsse zulässt, die als spontane Einfälle, Ideen, Kreativität oder Geistesblitze des Forschers den Erkenntnisprozess voranbringen (vgl. Strübing 2008: 53f.). Glaser und Strauss schlagen vor, verschiedene Datenarten, die im Feld erhoben oder gesammelt werden, komparativ zu analysieren, um die größtmögliche Reichweite einer Theorie zu erzielen. Bereits während der Erhebung wird auf
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diese Weise die induktive Konzept- und Theoriebildung vorangetrieben. Eine gegenstandsbezogene Theorie hat zwei wesentliche Elemente: die Kategorie als konzeptionelles Element mit ihren besonderen Eigenschaften und die Hypothese als nicht überprüfte, aber vermutete Zusammenhänge zwischen den Kategorien und ihren Eigenschaften (vgl. Glaser/Strauss 2005: 45-49). Die Hypothesen werden also nicht vor der Feldforschung als angenommene bzw. vermutete Zusammenhänge festgelegt, sondern liegen im Material begründet und werden aus ihm heraus entwickelt. »In der Tat ist die Annahme vermessen, man kenne die relevanten Kategorien und Hypothesen, bevor zumindest ›die ersten Tage im Feld‹ vorüber sind« (ebd.: 43). Der Prozess der Datenerhebung wird durch die bereits im Entstehen begriffene Theorie geleitet und nachgeprüft. Im Feld wird sowohl nach Parallelen als auch nach maximalen Differenzen zwischen den Fällen gesucht, um die Daten zu kontrastieren und relevante Ähnlichkeiten und Unterschiede festzustellen. Durch diese komparative Analyse werden die Kategorien und Eigenschaften kontinuierlich korrigiert. Eine Datensättigung tritt ein, wenn zu den bestehenden Kategorien und Eigenschaften keine weiteren Daten gefunden werden können. Die Sättigung wird also nicht durch die Menge, sondern durch die Verschiedenheit der Daten erreicht. Das Hauptanliegen der Grounded Theory besteht demnach im Entdecken der in den Daten verankerten Theorie, die soziales Verhalten begreiflich macht und Vorhersagen von Verhalten ermöglicht. Sicherlich ist diese Vorgehensweise keine neue methodische Errungenschaft, schließlich wird sie seit den 1960er Jahren erfolgreich in den Sozialwissenschaften angewandt. Es ist allerdings neu, die Ruhesitzwanderung auf Basis der Grounded Theory zu erforschen. Mehrere Gründe sprachen für dieses methodische Vorgehen: Zu Beginn des Forschungsprojekt konnte nur wenig über die deutschen Ruhesitzwanderer als bekannt vorausgesetzt werden, die Theoriebildung in diesem Forschungsfeld steckte noch in den Kinderschuhen und war häufig von stereotypen Annahmen geleitet, die vor allem durch die Massenmedien geprägt wurden. Daher erschien mir das nicht-hypothesengeleitete Vorgehen nach der Grounded Theory vor und während des ersten Feldaufenthalts sinnvoll, da zu diesem Zeitpunkt kaum qualitative Untersuchungen zur deutschen Ruhesitzwanderung publiziert vorlagen und keine Annahmen aus bereits eruierten Erkenntnissen über das Feld konstruiert werden konnten. Darüber hinaus bestach die Anleitung zur Theoriegenerierung von Glaser und Strauss durch ihr plausibles und effektives methodisches Vorgehen, das nicht bei Beschreibungen, Nacherzählungen oder biographischen Rekonstruktionen endet, sondern die Möglichkeit bietet, einen wesentlichen Teil zur Theoriebildung im Bereich der Ruhesitzwanderung beizutragen. Ein wichtiger Vorteil ist zudem darin zu sehen, dass die Grounded Theory keinen nur für Soziologen verständlichen methodischen Rahmen bildet, sondern aufgrund ihrer leicht verständlichen und transparent gestaltbaren Anwendbarkeit für Rezipienten unterschiedlichster Disziplinen geeignet ist.
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P HASE 1 DES F ORSCHUNGSPROZESSES Basierend auf diesen methodischen Grundannahmen realisierte ich im September und Oktober 2006 einen ersten Forschungsaufenthalt in Torrox, um konkretere Ideen für die Datenerhebung und den weiteren Forschungsverlauf zu entwickeln. Dem Ziel folgend, einen tiefen Einblick in das Feld zu erlangen, mietete ich ein möbliertes Ein-Raum-Apartment in der Urbanisation Laguna Beach im Ortsteil Costa an. Nach den ersten paar Tagen im Feld nahm ich einen Job als Aushilfskellnerin im Biergarten Paulaner Playa an der Strandpromenade an, bei dem ich für eine Bezahlung von fünf Euro pro Stunde an sechs Tagen in der Woche arbeitete. Der Forschungsaufenthalt ergab ein breites Spektrum an Feldnotizen. Diese wurden auf der Basis von teilnehmenden Beobachtungen, Gesprächen, der lokalen Zeitungslektüre und allgemeinen Informationen über den Ort angefertigt. Zusätzlich sammelte ich willkürlich Material, das im Ort und über den Ort erhältlich war (Visitenkarten, touristische Broschüren, Werbeprospekte, Postkarten, Zeitungsannoncen und -artikel etc.). Zudem fertigte ich eigenes Bildmaterial in Form von Fotografien und Skizzen an. Die Ideensammlung im Feld im Jahre 2006 diente also ganz grundlegend der Beobachtung des Verhaltens der in der Gemeinde lebenden Menschen in ihrer sozialen, materiellen Umwelt. Der Forscher muss bei der teilnehmenden Beobachtung im Feld einen Platz einnehmen, der das Feld nicht völlig durcheinanderbringt. Er muss Anteil nehmen und Distanz bewahren. Dabei folgt er dem ethischen Grundsatz, nicht als Voyeur oder Spion aufzutreten (vgl. Mayring 2002: 57). Die teilnehmende Beobachtung als empirische Methode geht auf den Sozialanthropologen Bronislaw Malinowski zurück, der mit seinem 1922 erschienenen Buch Argonauten des westlichen Pazifik, in dem er seine stationäre Feldforschung in einem Dorf auf Neuguinea 1915-1918 verarbeitet, die grundlegenden Standards für ethnologische Forschungen setzte (vgl. Malinowski 1984). Heute dient die teilnehmende Beobachtung in der Kulturanthropologie häufig der Exploration und ist als eine Vorstufe zu systematischeren Untersuchungen anzusehen (vgl. Hauser-Schäublin 2003: 44f.). Teilnahme bedeutet Nähe, Beobachten Distanz: Teilnehmende Beobachtung setzt sich deshalb aus widersprüchlichem Verhalten zusammen, nämlich so zu sein, wie einer, der dazu gehört und gleichzeitig mit einer Wahrnehmung wie einer, der außerhalb steht. […] Wer nur noch ›Nähe‹ lebt, wird früher oder später going native. […] Wer nur Distanz lebt, wird ein Besucher bleiben, der die Alltäglichkeiten und Vertraulichkeiten des Zusammenlebens nie erfahren wird (ebd.: 38).
Der Feldaufenthalt in Torrox diente zunächst einmal dazu, mich in das wirkliche Leben vor Ort hineinzuversetzen, es mit meinen Sinnen wahrzunehmen
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und damit Teil der deutschen Community zu sein. Während der Anfertigung der Notizen konnten bereits erste Kategorien ausgearbeitet werden, die als Grundlage und Vorbereitung für den nächsten Aufenthalt dienen sollten und dem Forschungsprojekt insgesamt die notwendige theoretische Richtung gaben. Diese Kategorien hießen zunächst: ›deutscher Raum – spanischer Ort‹, ›das beste Klima Europas‹, ›die interkulturellen Vermittler‹, ›(Nicht-)Integration als Gast‹ und ›mobile und immobile Annehmlichkeiten‹. Die weitere Datenerhebung und Kodierung, die in den folgenden Abschnitten erläutert wird, wurde durch die wiederholte Ausarbeitung von Kategorien bzw. deren Vergleich und die Verknüpfung mit den bisherigen geprägt. Durch die gleichzeitige Erhebung und Auswertung, die wiederholte Fallkontrastierung, den Einbezug anderer Studien über die Ruhesitzwanderung sowie kulturtheoretischer Konzepte entstand ein theoretischer Bezugsrahmen, der nach und nach vervollständigt wurde. Persönliche Reflexionen und individuelle Erfahrungen des Forschers können, nach Ansicht von Glaser und Strauss, in die Theoriegenerierung ebenso einfließen, wie Ideen für Einfälle und Einsichten, die aus bestehenden Theorien gewonnen werden (Glaser/Strauss 2005: 254).
P HASE 2 DES F ORSCHUNGSPROZESSES Erst nach diesem ersten Feldaufenthalt begann ich, Hypothesen über den Forschungsgegenstand zu formulieren. Eine der augenscheinlichsten Beobachtungen, die während dieses Feldaufenthaltes gemacht wurden, war die der freiwilligen Segregation der deutschen Ruhesitzwanderer. Trotz der Tatsache, dass von vielen der Ortsteil Torrox Pueblo und das umliegende Hinterland als attraktiv und schön empfunden werden, ziehen sie es in den meisten Fällen vor, im mit Apartmentblocks bebauten Ortsteil Costa zu wohnen. Eine erste Hypothese war daher, dass die deutsche Community in Spanien eine höhere Anziehungskraft ausübt, als – wie man im Volksmund gern sagt – Land und Leute. Die Community-Bildung, die nicht nur durch die Ruhesitzwanderer selbst, sondern auch durch kommunale Bebauungspläne und die Vermarktungsstrategien von deutschen Immobilienunternehmen und Bauherren vorangetrieben wurde, führt innerhalb der Gemeinde zu einer gesellschaftlichen Fragmentierung nach Sprachgruppen. Nordeuropäische und englische Senioren lassen sich eher im Dorf oder ›auf dem Campo‹ nieder, während die Deutschen aufgrund der Entwicklung der letzten 40 Jahre häufig in Costa oder Park zu finden sind. Interkulturelle Kontakte wurden beim ersten Aufenthalt selten beobachtet, was aber nicht überbewertet werden sollte, da die Beobachtungen zum großen Teil im Paulaner Playa stattfanden, der von September bis Mai fast ausschließlich von Deutschen besucht wird.
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Ausgehend von der ersten Hypothese lag die Vermutung nahe, dass in der Gemeinde neue kulturelle Zusammenhänge entstehen, die sich aufgrund der sich wiederholenden Wanderungen manifestieren. Die zweite, aus der Beobachtung und den so gewonnenen Ideen entwickelte These lautet daher: In der Gemeinde entstehen durch die Eigensegregation neue kollektive Identitätsmuster. Die Ruhesitzwanderer finden sich nicht in Torrox zusammen, um auf einer ›deutsch-nationalen Insel in der Sonne‹ ihren Lebensabend zu verbringen. Denn dafür hatten meine Gesprächspartner zu viel Kritik an den Deutschen und Deutschland generell geäußert. Sie wanderten freiwillig, waren glücklich mit der ›Leichtigkeit des Lebens‹ in Spanien, und kaum jemand deutete an, dass er irgendetwas in Deutschland vermisse. Sie bilden ein eigenes, neues Kollektiv in Torrox aus. Die Nachbereitung des ersten Feldaufenthaltes ergab zudem ein breites Spektrum an möglichen Forschungsfragen, denen im Verlauf des Forschungsprozesses weiter nachgegangen werden sollte. Diese drehten sich um die Begrifflichkeiten Migration, Kultur und Identität, weshalb ich in Vorbereitung auf den nächsten Feldaufenthalt eine interdisziplinäre Literaturrecherche vollzog. Dabei konnte festgestellt werden, dass wandernde Gruppen häufig als deterritorialisierte oder enträumlichte Fliehkräfte dargestellt werden, die mit der Globalisierung an Bedeutung gewinnen (vgl. Appadurai 1998). Damit wird suggeriert, dass Gruppenidentitäten nicht notwendigerweise an räumlich begrenzte, ethnisch homogene Kulturen gebunden sind. Aber wie bilden die mobilen, grenzüberschreitenden Gruppen ihre gemeinsame Identität aus? Was macht ihr Zugehörigkeitsempfinden aus? Mit diesen Fragen konnte ein Forschungsziel klar definiert werden: Es soll ein theoretischer Ansatz generiert werden, der am Beispiel der Ruhesitzwanderung die Kultur kollektiv Wandernder beschreiben kann. Die zentrale Forschungsfrage lautet daher: Welche kollektiven Identitätsmuster prägen die mobilen deutschen Ruhesitzwanderer aus? Und damit zusammenhängend: Warum kollektivieren sie sich so stark? Und welche Art von Kultur entsteht durch diese neuen identitären Muster? Nach dem ersten Feldaufenthalt 2006 folgte ein weiterer zehnwöchiger Aufenthalt in Torrox von Oktober bis Dezember 2007, bei dem ich mich als Forscherin zu erkennen gab, wodurch ich im Feld eine völlig andere Position einnahm. Im Vorfeld wurden Überlegungen methodischer Art angestellt, die die Möglichkeiten der qualitativen Datenerhebung betrafen. Schließlich fiel die Entscheidung auf eine Triangulation der Daten, d.h., die zu erhebenden Daten sollten variieren, um den Forschungsgegenstand breiter und tiefer untersuchen zu können. Die Datentriangulation soll als eine »Strategie auf dem Weg zu einem tieferen Verständnis des untersuchten Gegenstandes und damit als Schritt auf dem Weg zu mehr Erkenntnis und weniger zu Validität und Objektivität in der Interpretation« verstanden werden (Flick 2008: 311). Folgende Daten konnte ich mit verschiedenen Erhebungsinstrumenten sammeln, die
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später das Datenkorpus für die Analyse stellten: Feldnotizen (teilnehmende Beobachtung), Artikel in deutschen Printmedien über Torrox, Artikel in deutschsprachigen Printmedien in Spanien über Torrox im Zeitraum 10/07 bis 12/07, andere Studien über Torrox, eigene Fotos von Torrox, diverse Printerzeugnisse, Experteninterviews, Assoziogramme und – als wichtigste Datenquelle – die leitfadengestützen Interviews mit deutschen Ruhesitzwanderern. Beim zweiten Feldaufenthalt im Oktober 2007 versuchte ich erfolglos, über eine Kleinanzeige in der Costa del Sol Nachrichten an Probanden für die Interviews heranzutreten. Auch die Aushänge mit gleichem Inhalt an Schaufenstern, in Bäckereien, in Supermärkten, in den Büros verschiedener Urbanisationsverwaltungen, in der Touristeninformation und an Informationstafeln auf der Strandpromenade führten mich nicht weiter. Niemand meldete sich darauf. Diese Tatsache ließ mich vermuten, dass die deutschen Ruhesitzwanderer kein dringendes Mitteilungsbedürfnis haben, was wiederum darauf verweisen kann, dass sie ein recht unproblematisches Leben in Torrox führen. Also beschloss ich, mir ›Verbündete‹ zu suchen, die mich in meinem Anliegen unterstützen konnten. Ich verabredete mich mit Vorsitzenden von Vereinen und Gruppen, sprach mit Bar- und Restaurantbesitzern über das Projekt und die Möglichkeit, Interviews in ihren Lokalen zu führen, und traf mich mit dem Pfarrer der evangelischen Auslandsgemeinde. Diese Personen stellten mich infrage kommenden Ruhesitzwanderern vor. Außerdem sprach ich willkürlich Senioren vor Ort an, und letztlich konnten im November 2007 24 Probanden interviewt werden, unter denen sich 16 Einzelpersonen und vier Paare befanden. Vor den eigentlichen Interviews vermerkte ich zusammen mit den Probanden einige sozialstatistische und persönliche Daten, um im Interview aufgrund der Vorinformationen besser auf die Lebensumstände der Befragten eingehen zu können. Hierzu gehörten: Geschlecht, Alter, Bildungsstand, Beruf, Aufenthalt in Torrox in Jahren und Monaten pro Jahr, Meldestatus in der Gemeinde, Spanischkenntnisse, sonstige Fremdsprachen, Auslandserfahrung sowie ihre derzeitige Wohnsituation in Spanien und in Deutschland. Die Anonymisierung wurde durch alphabetisches Zuordnen gewährleistet. Als Stimuli für die Narration wurden zu Beginn der Interviews Postkarten (Abbildung 1) eingesetzt und die Frage gestellt: Welche würden Sie versenden und warum? Die erste zeigt Torrox Pueblo mit den Bergen im Hintergrund; auf der zweiten ist Torrox Costa aus der Vogelperspektive abgebildet; und eine dritte besteht aus verschiedenen kleinen Bildern mit ›typischen‹ Motiven der Costa del Sol. Dahinter stand der Gedanke, dass die Probanden durch etwas Greif bares und Anschauliches leichter in den Erzählfluss kommen, was sich letztlich als richtige Annahme herausstellte.
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Abb. 1: Postkarten als Stimuli für die Narration
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Wie bereits erläutert, war der darauffolgende Interviewleitfaden schon ein Ergebnis des Forschungsprozesses, da in ihm die Codes der ersten Feldnotizen, die daraufhin gebildeten ersten Hypothesen und die Ergebnisse der Literaturrecherche zusammenflossen. Die Möglichkeit der leitfadengestützten Interviewführung wurde ganz bewusst in Abgrenzung zum narrativen Interview gewählt, um zum einen dem Forschungsprozess eine wegweisende Richtung und zum anderen der Analyse der Interviews eine Struktur zu geben. Der Interviewleitfaden bestand aus neun Fragen, die allen Probanden gestellt wurden. Es wurde mit der generellen Frage nach den Anreizen und Motiven für den Umzug nach Torrox begonnen. Weiter wurde gefragt, welche Vorund Nachteile Torrox gegenüber ihrem Wohnort in Deutschland hat, auf welche Weise sich die Kontaktpflege zwischen Deutschland und Spanien gestaltet, wie der Alltag der Ruhesitzwanderer in Torrox aussieht, welche Personen bei Problemen helfen, wie sie sich kulturell in Torrox verorten, was Heimat für sie bedeutet, ob sie eine Persönlichkeitsveränderung an sich feststellen, wenn der Wohnort gewechselt wird, und welche Bedeutung Europa in ihrem Leben hat. Vor der Durchführung wurde das Minimalziel von 20 Interviews mit deutschen Ruhesitzwanderern festgelegt. Als schließlich 24 Personen befragt worden waren, hatte sich über die Fallkontrastierung eine ›gefühlte‹ Datensättigung eingestellt; gefühlt, weil nach und nach Redundanzen in den Narrationen aufgetreten sind und aus der Kenntnis anderer Studien eine Komplettierung der Fälle angenommen werden konnte.
P HASE 3 DES F ORSCHUNGSPROZESSES Die Datenauswahl für qualitative Untersuchungen zielt nicht auf Repräsentativität ab, sondern soll explorativ die Sinnstruktur von sozialen Sachverhalten im Sinne einer Repräsentanz erkunden. Der Grounded Theory geht es ganz allgemein um das wissenschaftliche Verstehen von Alltagspraxen. Das Verstehen ist die Grundlage der Interpretation der verschiedenen Fälle, die beim kontrastierenden Fallvergleich die zentralen, fallübergreifenden Themen sichtbar machen (vgl. Witzel 2000). Diese Themen füllen die Lebenswelt der Ruhesitzwanderer aus und zeigen Muster auf, die sich im bei der Datenanalyse entstehenden Kategoriensystem wiederfinden. Zunächst wurden übergeordnete Codes gebildet, die der Ruhesitzwanderung zugrunde liegen: Wanderungsmotivationen, Funktionen der Wanderung sowie Strategien, die die Wandernden entwickeln. Diesen Codes können verschiedene Kategorien und denen wiederum bestimmte Eigenschaften zugeordnet werden (vgl. Abbildung 2). Eine Wanderungsmotivation ist beispielsweise in der Kategorie ›Gesundheit‹ zusammengefasst worden: Die Senioren begeben sich in den Wintermonaten nach Spanien, um einem gesundheits-
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orientierten Lebensstil nachzugehen, der ein aktives Altern unter freiem Himmel ermöglicht. Die Motivation Gesundheit wirkt aber auch in die andere Richtung, denn die Senioren begeben sich in den Sommermonaten zurück nach Deutschland, um hier bestimmte Vorsorgeuntersuchungen, OPs, Kuren etc. zu unternehmen. Die Eigenschaft dieser Kategorie zeigt auf, dass sich die Ruhesitzwanderer aus spezifischen Gründen in eine multilokale Lebensweise zwischen Spanien und Deutschland begeben. Ebenso sind die Eigenschaften der anderen Kategorien durch die Multilokalität geprägt; sie ist charakteristisch für die Lebenswelt der Ruhesitzwanderer und dominiert ihren Alltag. In der Feinanalyse der Daten zeigte sich daher, dass eine simple Unterscheidung in ›Touristen‹ oder ›Migranten‹ bei den Ruhesitzwanderern – wie sie bisherige Studien zu britischen, skandinavischen oder Schweizer Ruhesitzwanderern in Spanien unternehmen – zu kurz greift. Häufig werden diese Unterscheidungen ausschließlich anhand der Aufenthaltsdauer im Zielland getroffen und berücksichtigen nicht die Motivationen und Funktionen des Pendelns. Da die beiden Begrifflichkeiten ›Tourist‹ und ›Migrant‹ aufgrund der mehrörtigen Lebensweise meines Erachtens auf die Ruhesitzwanderer nicht anwendbar sind, wurden die Probanden nach Nuancen in ihren Motivation, Funktionen und Strategien hin neu typologisiert und mit einem metaphorischen Oberbegriff versehen – die Zugvögel (vgl. Abbildung 3 sowie Packard 1973: 106). Code
Kategorie
Motivationen
Klima Gesundheit Freizeit Gleichgesinnte vor Ort Der spanische ›way of life‹
Funktionen
Aktives (erfolgreiches) Altern Unabhängigkeit und Freiheit Sicherheit innerhalb der Community
Strategien
Heimaten – von Zuhause nach Zuhause Bifokalität – Deutschland nah und fern Komplexitätsreduktion durch Kollektivität – das deutsche Netzwerk Mañana – ein geteilter kollektiver Wissensvorrat Kommunikationsstrategien – Vermittler und Kontakte Selbstwahrnehmung als Gast Überleben als Daseinsrechtfertigung Verantwortungsabgabe und -entzug
Abbildung 2: Das Kategoriensystem (eigene Darstellung)
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Abbildung 3: Identitätstypen deutscher Ruhesitzwanderer (eigene Darstellung)
Dieser Phase der Datenanalyse, Kategorisierung, Typologisierung und Anbindung der Ergebnisse an bereits existente theoretische Konzepte folgte schließlich ein letzter Feldaufenthalt, der von mir unternommen wurde, um die teilweise schon niedergeschriebenen Ergebnisse zu überprüfen, um manche der Daten letztmalig zu aktualisieren und zur Vergewisserung, dass die in der Analyse entstandenen Kategorien und Eigenschaften der erneuten Konfrontation mit der Realität standhalten und die Theoriegenerierung nicht fehlgeleitet wird. Bereits am Anfang meiner Feldforschung hat sich in sämtlichen Aufzeichnungen immer wieder ein Begriff aufgefunden, der als Leitbegriff bis zum Ende des Forschungsprozesses stehen geblieben ist – die ›Annehmlichkeit‹. Die Annehmlichkeit begründet sehr viel vom Verhalten der Ruhesitzwanderer, macht einen Großteil ihres präferierten Lebensstils aus und ist in den Motivationen, Funktionen, und Strategien stark präsent. Die kollektive Identität der deutschen Ruhesitzwanderer hat also ein zentrales Thema: die Erzeugung von Annehmlichkeiten in der letzten Phase ihres Lebens. Als Ergebnis des Forschungsprozesses steht daher die ›Theorie der Annehmlichkeitskultur‹, die auf abstrahierter Ebene alle Codes, Kategorien und Eigenschaften zusammenführt und den Abschluss der Theoriegenerierung bildet (vgl. Hühn 2012: 249ff.).
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S CHLUSSFOLGERUNGEN – G ROUNDED THEORY IN DER A LTER (N) SFORSCHUNG Kritiker der Grounded Theory missverstehen das methodologische Konzept gern als ein »anything goes« und sehen es als einen Freibrief für das qualitative Forschen an (vgl. Strübing 2008: 17). Auch deshalb wurde an dieser Stelle noch einmal auf die Leitlinien, das Forschungsdesign und bestimmte Begriffsdefinitionen hingewiesen, die Glaser und Strauss für ihr Konzept der aus empirischen Daten begründeten Theorie entwickelten. Um kritischen Einwänden gegen die zugrunde liegende Methodik vorzubeugen, wurde innerhalb des gesamten Forschungsprozesses viel Wert auf die Transparenz der methodologischen Vorgehensweise gelegt, so dass Außenstehende die Schritte der Theoriegenerierung gut nachvollziehen können. In der Alter(n)sforschung, die heute neue Qualitäten annehmen und die facettenreichen Ausprägungen des Alters berücksichtigen muss, kann ein Forschungsdesign auf der Basis der Grounded Theory ganz neue Theoreme ans Licht bringen. Gerade wenn die Gefahr besteht – und diese ist in vielen Bereichen der Alter(n)sforschung durchaus gegeben –, dass stereotype Ansichten über ein Phänomen den Forschungsverlauf von Anfang an bestimmen können, sollte von einem hypothesengeleiteten Vorgehen abgesehen werden. Hier kann die Grounded Theory als Instrument dienen, erste Erkenntnisse in einem nahezu unerforschten Feld zu gewinnen. Denn mit dieser Methode entscheiden nicht theoretische Annahmen über den Verlauf der Forschung und bestimmen die Datengewinnung maßgeblich, sondern aus der Kontrastierung ganz verschiedener Daten wird eine Theorie generiert. Da der Forscher von Anfang an theoriegenerierend arbeitet, kann er den theoretischen Fortschritt in einem wissenschaftlich wenig erschlossenen Feld sehr gut vorantreiben. Zudem ist der Forschungsprozess durch eine methodische Offenheit gekennzeichnet, die Spekulationen über den Forschungsgegenstand hinfällig werden lässt. Einmal gewonnene Erkenntnisse können ständig neu reflektiert und angepasst werden. D.h., eine Hypothese wird nicht einmalig verifiziert oder falsifiziert – denn Glaser und Strauss empfinden dieses Vorgehen als sehr beschränkend; sie wenden sich mit der Grounded Theory gegen alle, »die der Freiheit der Forschung die strengen Regeln der Verifizierung entgegenhalten« (Glaser/Strauss 2005: 17). Allerdings kann der Forscher nur solche Phänomene auf Basis der Grounded Theory untersuchen, über die er noch kein großes Wissen hat, da er sonst mit zu vielen Annahmen ins Feld geht. Außerdem sind viele Phasen im Forschungsprozess durch eine gewisse Strukturlosigkeit gekennzeichnet, die der Forscher immer wieder überwinden und sich neue Wege der Erkenntnis bzw. der Datenanalyse suchen muss. Diese Strukturlosigkeit kommt auch durch die Gleichzeitigkeit der ablaufenden Prozesse und des oft unvorhersehbaren
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Ablaufs des Forschungsprozesses zustande. Wir haben es bei der Grounded Theory also nicht mit einem Step-by-Step-Vorgehen, wie wir das bei anderen empirischen Forschungsdesigns kennen, zu tun, was sich bei einem zeitlich begrenzten und von nur einem Forscher betriebenen Projekt schnell als nachteilig erweisen kann. Und beim Forscher – ich spreche hier auch aus eigener Erfahrung – entsteht häufig das Gefühl, nie eine Forschungsphase zum Abschluss zu bringen. Trotz dieser Einwände gilt es festzuhalten, dass die Grounded Theory als methodischer Rahmen die sehr unterschiedlichen Lebensstile im Alter, Einstellungen zum Alter, Alternsstrategien etc. sehr gut erschließen kann, da sie eben nicht bestimmte Hypothesen voranstellt, sondern als offener Prozess angelegt ist, der die Verschiedenheiten älterer Menschen erkennen kann. Dieses methodische Vorgehen lässt stets Korrekturen, Ergänzungen und Umformulierungen zu – eine Freiheit, die in der Alter(n)sforschung gebraucht wird, da hier zumeist der Lebensabschnitt mit den größtmöglichen Freiheiten untersucht wird. »Das Greisenalter aber ist der Schlußakt des Lebens wie der eines Schauspiels; und jetzt müde zu werden, sollten wir uns hüten, zumal er die Erfüllung mit sich bringt« (Cicero 1987: 44f.).
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Alternsgerechte Arbeit Aktuelle arbeitspsychologische Perspektiven Andreas Müller, Matthias Weigl und Peter Angerer
Die Alterung der Bevölkerung wird die Arbeitswelt in Deutschland und in vielen anderen Industrieländern verändern: Dem Arbeitsmarkt werden immer weniger Menschen zur Verfügung stehen; zugleich steigt in den Betrieben der Anteil von älteren Beschäftigten (Fuchs et al. 2011). Diese Entwicklung hat weitreichende Folgen für die sozialen Sicherungssysteme und die Arbeitswelt: Soziale Sicherungssysteme können nur dann erhalten werden, wenn der Anteil älterer Beschäftigter an der Erwerbsbevölkerung steigt. Viele Betriebe und Unternehmen erwarten einen Mangel an Fachkräften. Dringender denn je werden daher die Fähigkeiten und Erfahrungen älterer Beschäftigter benötigt. Zurzeit gehen in Deutschland allerdings nur etwa 27 % der Beschäftigten über 60 Jahren einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach (Bundesagentur für Arbeit 2012). Das sind zwar mehr als doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Ungünstige Arbeitsbedingungen tragen jedoch weiterhin dazu bei, dass Beschäftigte entweder freiwillig oder krankheitsbedingt aus dem Berufsleben ausscheiden (z.B. Siegrist et al. 2007; van den Berg et al. 2010). Wie muss also die Arbeitswelt verändert werden, damit Beschäftigte länger arbeiten können und wollen? Im Folgenden setzen wir uns zunächst mit der Frage auseinander, was überhaupt ›ältere‹ Beschäftigte sind. Wir stellen dar, welche psychischen und körperlichen Veränderungen im Laufe des Lebens eintreten und wie sich diese Veränderungen auf die Leistungsfähigkeit im Beruf auswirken. Schließlich beschreiben wir aus arbeitspsychologischer Perspektive Methoden, Arbeit alternsgerecht zu gestalten. Dabei beziehen wir uns vor allem auf theoretische Modelle der Lebensspannen-Forschung und diskutieren die Möglichkeiten und Grenzen, Beschäftigte an der alternsgerechten Arbeitsgestaltung zu beteiligen.
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A RBEIT UND A LTERSKONZEP TE : W AS IST EIN ÄLTERER B ESCHÄF TIGTER ? Die Frage, was ein älterer Beschäftigter bzw. eine ältere Beschäftigte ist, erscheint zunächst simpel. Eine eindeutige Antwort gibt es jedoch nicht: Während eine ProfisportlerIn in den meisten Disziplinen bereits ab Mitte Dreißig über ein Karriereende nachdenken wird, könnte eine WissenschaftlerIn gleichen Alters noch ohne weiteres als Nachwuchs gelten. In einem Alter, in dem sich die meisten Menschen des verdienten Ruhestands erfreuen, wird manche PolitikerIn als Hoffnungsträger gefeiert. Arbeitsmarktstatistiken bezeichnen Beschäftigte oft ab dem 50. Lebensjahr als ›älter‹, da ab diesem Alter häufig die Erwerbstätigenquote sinkt (z.B. Bundesagentur für Arbeit 2012; OECD 2005). Einige wissenschaftliche Studien ziehen die Grenze bereits ab dem 45. Lebensjahr, da Beschäftigte in hochbelasteten Berufsgruppen ab diesem Alter ein Nachlassen der eigenen Arbeitsfähigkeit wahrnehmen (z.B. Camerino et al. 2006). Ältere Beschäftigte sind also nicht gleich ältere Beschäftigte. Die Bedeutung des Begriffs wechselt je nach Kontext, Berufsgruppe oder je nachdem, welches altersbezogene Phänomen im Fokus des Interesses steht. Da der Altersbegriff vielgestaltig ist, scheint es auch aus vielerlei Gesichtspunkten sinnvoll, zwischen verschiedenen Alterskonzepten zu unterscheiden (Kooij et al. 2008; Sterns/Miklos 1995): •
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Spricht man von ›Alter‹, meint man meist das chronologische Alter – also die gelebte Zeit. Das chronologische Alter spielt in der Arbeitswelt eine wesentliche Rolle, weil damit zahlreiche arbeits- und rentenrechtliche Regelungen verknüpft sind. Ein vieldiskutiertes Beispiel hierzulande war und ist die ›Rente mit 67‹. Ein weiteres Beispiel ist ein kürzlich verabschiedetes Gesetz der Europäischen Union, das es Berufspiloten nur noch bis zu ihrem 60. Lebensjahr erlaubt, allein ein Flugzeug oder einen Helikopter zu fliegen. Werden Altersgrenzen im Arbeitskontext festgelegt, geschieht dies meist in der Erwartung, dass Beschäftigte aufgrund alternsbedingter psychischer und körperlicher Veränderungsprozesse ab einem bestimmten Lebensalter ihre Arbeitsaufgaben nicht mehr in der erforderlichen Güte ausführen können. Das chronologische Alter ist allerdings nur ein mehr oder weniger genaues Schätzmaß für individuelle Veränderungen im Verlauf des Lebens und damit auch für die Leistungsfähigkeit im Beruf (Kanfer/Ackerman 2004). Ein alternatives Alterskonzept ist daher das funktionale Alter (Anstey et al. 1996; Sterns/Miklos 1995). Der Begriff ›funktionales Alter‹ bezieht sich direkt auf die vorhandenen psychischen, körperlichen und sozialen Ressourcen eines Menschen. Veränderungen dieser Ressourcen gehen nur zum Teil mit dem chronologischen Alter einher. Wann altersbedingte Ver-
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änderungen beginnen und wie ausgeprägt diese sind, ist von Mensch zu Mensch verschieden (Birren/Schaie 2006). Unterschiedliche Lebensstile und Lebensereignisse, soziale Schicht, Zugang zu medizinischer Versorgung, Generationeneffekte, aber auch Berufsbiografien tragen wesentlich dazu bei, dass Menschen auf unterschiedliche Weise altern. Demnach unterscheiden sich ältere Jahrgänge in ihrer Leistungsfähigkeit zumeist stärker voneinander als jüngere Jahrgänge (z.B. Morse 1993; Spirduso/ MacRae 1990). Man kann sagen, dass das chronologische Alter in älteren Altersgruppen ein weniger zuverlässiger Indikator für Gesundheit und Leistungsfähigkeit eines Menschen ist als in jüngeren Altersgruppen. Praktisch sollten absolute (chronologische) Altershöchstgrenzen, z.B. für die Ausübung von bestimmten Berufen, daher kritisch hinterfragt werden. Durch sie könnten möglicherweise ältere Beschäftigte ungerechtfertigt aus dem Berufsleben ausgeschlossen werden. Schließlich gibt es, wie bereits angedeutet, Erwartungen oder soziale Normen hinsichtlich des angemessenen Alters, in einem bestimmten Beruf tätig zu sein, für eine bestimmte Organisation zu arbeiten oder eine bestimmte Berufsrolle oder Position einzunehmen (psychosoziales Alter, Kooij et al. 2008). Diese Normen unterscheiden sich je nach Kontext. Weicht das Alter eines Beschäftigten von dieser Norm ab, kann dies zu Abwertungen (sog. Altersstereotypen) und Benachteiligungen führen (Hummert 2011). In diesem Falle entstehen negative Konsequenzen also nicht durch alternsbedingte Veränderungen, sondern durch soziale Bewertungen. Daher ist es praktisch wichtig, solche negativen Altersbilder und deren Folgen im Arbeitsalltag zu erkennen und ihnen bei Bedarf gegenzusteuern.
A LTERNSBEDINGTE FUNK TIONALE V ER ÄNDERUNGEN UND L EISTUNGSFÄHIGKEIT ÄLTERER B ESCHÄF TIGTER Der Begriff ›Altern‹ bezieht sich auf unterschiedlichste psychische, körperliche und soziale Veränderungen im Verlauf des Lebens. Einerseits nimmt, bedingt durch neurophysiologische Veränderungen des Gehirns, unsere Fähigkeit ab, kurzzeitig mehrere Informationen im Gedächtnis zu behalten oder Informationen schnell zu bearbeiten (Salthouse 2004). Zahlreiche weitere Körperfunktionen – wie z.B. die Muskelkraft – unterliegen einer ähnlichen Abnahme (Voorbij/Steenbekkers 2001). Diese Alternsverluste können dazu beitragen, dass ältere Beschäftigte durch einzelne Arbeitsanforderungen möglicherweise stärker beansprucht werden. Überforderung, Fehler oder Stress können die Folge sein. Andererseits sammeln wir im Laufe des Lebens immer mehr Wissen und Erfahrung (Baltes 1999). Dieser Erfahrungsschatz hilft uns bei der besseren
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Bewältigung vieler Alltagsanforderungen und dabei, die geschilderten Alternsverluste auszugleichen. Salthouse (1984) beobachtete beispielsweise, dass ältere und erfahrenere Schreibkräfte – trotz geringerer Reaktions- oder Anschlaggeschwindigkeit – Texte ähnlich schnell abschreiben konnten wie ihre jüngeren KollegInnen, weil sie Textpassagen besser vorausplanen konnten. Insgesamt sind – trotz Altersverlusten in einzelnen Leistungsbereichen – ältere Beschäftigte in der Regel ebenso leistungsfähig wie ihre jüngeren KollegInnen. Dies zeigt eine Vielzahl von Studien (Ng/Feldman 2008). Ältere Beschäftigte sind zumeist sogar zuverlässiger, sozial kompetenter und achten stärker darauf Qualitätsstandards einzuhalten (Ng/Feldman 2008). Nur in Berufen, in denen die skizzierten alternskritischen psychischen und physischen Fähigkeiten in sehr hohem Maße gefordert werden und keine Kompensation durch Alternsgewinne möglich ist, sind systematische und praktisch relevante Nachteile älterer Beschäftigter zu erwarten (Warr 1993). Ein Beispiel ist die Flugverkehrskontrolle, da hier große Informationsmengen sehr schnell verarbeitet und im Gedächtnis behalten werden müssen (z.B. Müller et al. 2011). In der Mehrzahl der Berufe ist es prinzipiell möglich, Gesundheit und Leistungsfähigkeit bis ins hohe Erwerbsalter zu erhalten. In Betrieben noch immer verbreitete Stereotype vom defizitären Alter sind falsch (Ng/Feldman 2012). Mit zunehmendem Alter sinkt demnach die Leistung von Beschäftigten nicht. Die aktuelle Forschung zur Arbeitsfähigkeit zeigt aber, dass ältere Beschäftigte offenbar durch berufliche Anforderungen häufig stärker beansprucht werden: In vielen Berufen berichten Beschäftigte, dass es ihnen mit zunehmendem Alter schwerer fällt, die Anforderungen im Beruf zu erfüllen (z.B. van den Berg et al. 2009). Die Konsequenz daraus ist, dass es für ältere Beschäftigte immer wichtiger wird, unter guten Arbeitsbedingungen zu arbeiten. Viele Alternsverluste sind »menschgemacht« (Hacker 2004), das heißt, mögliche Leistungsverluste im Verlauf des Lebens müssen nicht notwendigerweise durch biologische Alterungsprozesse hervorgerufen werden, sondern können unter anderem die langfristige Folge von schlechten Arbeitsbedingungen sein (z.B. Bosma et al. 2002). Mehr noch, ungünstige Arbeitsbedingungen können biologische Alternsverluste beschleunigen oder verstärken und Alternsgewinne minimieren.
A RBEITSSTRESS UND G ESUNDHEIT Alternsgünstige Arbeitsbedingungen sind in Grundzügen identisch mit gesunder und humaner Arbeit. Permanente Überforderungssituationen insbesondere gepaart mit geringen Spielräumen für eigene Entscheidungen (Bakker/Demerouti 2007; de Lange et al. 2003; Karasek 1979), unfaire Behandlung und mangelnde Beteiligung an betrieblichen Entscheidungsprozessen (Kivi-
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mäki et al. 2003) oder ungenügende Gratifikation in Form von Anerkennung, Entlohnung, Arbeitsplatzsicherheit und Karrierechancen (Siegrist 1996) erhöhen das Risiko zu erkranken wesentlich und fördern einen vorzeitigen freiwilligen oder erkrankungsbedingten Ausstieg aus dem Erwerbsleben, wie die umfangreiche Forschung zu Arbeitsstress zeigt (Dragano/Schneider 2011; Hoogendoorn et al. 2000; Kivimäki et al. 2006; Stansfeld/Candy 2006). Ein Beschäftigter, der in seinem Beruf keinen oder nur wenigen dieser schädigenden Einflüsse ausgesetzt war und der bei seiner Arbeit Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten, Autonomie und ein wertschätzendes und anerkennendes Arbeitsklima vorfand, wird im höheren Erwerbsalter mit hoher Wahrscheinlichkeit gesünder und leistungsfähiger sein als ein Beschäftigter, der unter schlechten Bedingungen arbeitete. Aus der vorliegenden Forschung zu Arbeitsstress können damit wichtige Ansätze für eine alternsgerechte Gestaltung von Arbeit abgeleitet werden. Durch gute Arbeitsbedingungen werden die »Vernutzung« sowie der vorzeitige Verlust menschlicher Ressourcen und damit auch ein »arbeitsinduziertes Altern« (Hacker 2004) vermindert. Bei der Arbeitsgestaltung zu wenig berücksichtigt wurden hingegen bislang altersbedingte Veränderungen. Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist, wie es älteren Beschäftigten gelingt, die beschriebenen Verluste von psychischen und körperlichen Ressourcen auszugleichen, und wie diese Bemühungen durch gut gestaltete Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz unterstützt werden.
H ANDLUNGSSTR ATEGIEN › ERFOLGREICHEN A LTERNS ‹: S ELEK TION , O P TIMIERUNG UND K OMPENSATION (SOK) Altern kann als Entwicklung verstanden werden, in deren Verlauf sich persönlich verfügbare Ressourcen verändern (Baltes/Lang 1997; Hobfoll/Wells 1998). Wie bereits beschrieben, treten dabei sowohl Verluste (z.B. körperliche Fitness, Gesundheit, sensorische Fähigkeiten und allgemeine kognitive Funktionen) als auch Zugewinne (z.B. Wissen, Erfahrung und sozialer Status) auf. Leider verliert man jedoch im Laufe des Lebens mehr Ressourcen als man hinzugewinnt (Baltes 1999). Es wird im Altersverlauf zunehmend schwieriger, Ressourcenverluste durch Hinzugewinne von Ressourcen auszugleichen. Eine der wichtigsten Fragen zum erfolgreichen Altern im Arbeitskontext ist daher, wie ältere Beschäftigte trotz eines relativen Ressourcenverlusts Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit erhalten (Baltes/Dickson 2001). 1990 haben Paul und Margret Baltes (Baltes/Baltes 1990) ein theoretisches Modell vorgeschlagen, welches eine umfangreiche Forschung zu dieser Frage angeregt hat: Ihr Modell besagt, dass jeder menschliche Entwicklungsprozess
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eine Kombination von drei adaptiven Verhaltensweisen umfasst: Selektion, Optimierung und Kompensation (SOK). Baltes (1999) zitiert in diesem Zusammenhang ein Interview mit dem Pianisten Arthur Rubinstein. Rubinstein wurde gefragt, wie er es schafft, bis weit über sein achtzigstes Lebensjahr hinaus so überaus erfolgreich Konzerte zu geben. Rubinstein antwortete: Er spiele weniger Stücke als früher (Selektion), er übe diese Stücke häufiger (Optimierung) und er verstärke die Kontraste zwischen langsamen und schnellen Passagen eines Stückes, um sein langsamer gewordenes Spiel auszugleichen (Kompensation). Diese von Rubinstein genannten Verhaltensstrategien entsprechen recht genau den Annahmen des SOK-Modells. Das SOK-Modell besagt, dass eine erfolgreiche Entwicklung voraussetzt, persönliche Ressourcen zunehmend auf wenige ausgewählte und persönlich bedeutsame Ziele zu konzentrieren, anstatt diese Ressourcen auf eine Vielzahl von Zielen zu verteilen (Selektion). Die Wahl der Ziele kann dabei auf persönlichen Motiven und Wünschen beruhen (selektive Selektion). Oder aber individuelle Ansprüche und Ziele werden bei Verlusten, Problemen oder Hindernissen angepasst (verlustbasierte Selektion). Selektion bahnt unser individuelles Verhalten und damit die persönliche Entwicklung und trägt dazu bei, dass wir Sinn und Bedeutung im Leben empfinden (Freund/Baltes 2002). In verschiedenen Lebensphasen stehen dabei jeweils verschiedene Entwicklungsziele im Vordergrund (Baltes 1997). Während in der Kindheit und Jugend die Entwicklung typischerweise auf Wachstum von Ressourcen und verbesserte Anpassungsfähigkeit ausgerichtet ist (z.B. durch Schule, Ausbildung oder zunehmend selbständigere Lebensführung), stehen im Erwachsenenalter die Aufrechterhaltung und Wiederherstellung von Ressourcen und im hohen Erwachsenenalter die Regulation von Verlusten im Vordergrund. Optimierung bezieht sich auf die geeigneten Mittel und Wege zum Erreichen von Zielen (Freund/Baltes 2002). Genauer meint ›Optimierung‹ Verhaltensweisen, mit denen man sich solche Mittel aneignet sowie diese fortwährend verbessert und effektiv nutzt, um wichtige Ziele zu erreichen (bspw. Merkfähigkeit trainieren oder die körperliche Bewegungsfähigkeit erhalten). Kompensation bezieht sich, ähnlich wie ›Optimierung‹, auf die Mittel und Wege der Zielerreichung (Freund/Baltes 2002). Hier geht es speziell um die Frage, wie Menschen, die durch Verluste oder Hindernisse bisher eingesetzte Handlungsstrategien nicht mehr einsetzen können, alternative individuelle Mittel oder Wege finden, um dennoch das gewünschte Funktionsniveau zu halten und angestrebte Ziele zu erreichen (bspw. sich bei eingeschränkter Merkfähigkeit mehr Notizen machen oder bestimmte körperliche Bewegungen langsamer ausführen). Kurz gesagt, gibt Selektion die Richtung, das Ziel der menschlichen Entwicklung vor, Optimierung den bestmöglichen Einsatz der Mittel zur Erreichung der Ziele und Kompensation die Reaktion auf den Verlust von Mitteln
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(Baltes 1999). Eine wesentliche Annahme ist, dass eine koordinierte Anwendung dieser drei Strategien einen effektiveren Einsatz persönlicher Ressourcen ermöglicht (Baltes/Baltes 1990). Baltes (1999) spricht daher auch von »selektiver Optimierung mit Kompensation«. Damit, so die Vermutung, kann dem eingangs festgestellten relativen Verlust von Ressourcen im Verlauf des Lebens bis ins hohe Alter weitgehend begegnet werden.
SOK BEI DER A RBEIT : Ü BERBLICK ZUM K ENNTNISSTAND Das SOK-Modell hat zahlreiche Forschungsarbeiten angeregt und umfangreiche empirische Unterstützung erhalten (für eine Übersicht siehe z.B. Riediger et al. 2006). In den letzten Jahren haben mehrere Studien zu SOK bei der Arbeit gezeigt, dass mit dem Modell auch der Umgang mit Arbeitsbelastungen sowie mit altersbedingten Veränderungen im Beruf erklärt werden kann (Baltes/Dickson 2001). Beschäftigte, die mehr SOK-Verhaltensweisen bei der Arbeit anwenden, berichten besseres Wohlbefinden, höhere Arbeitszufriedenheit und haben positivere Erwartungen bezüglich zukünftiger Arbeitschancen (Baltes/Heydens-Gahir 2003; Schmitt et al. 2012; Wiese et al. 2000; Young et al. 2007). Aus mehreren Studien geht hervor, dass SOK im Beruf dazu beiträgt, die eigene Kompetenz und Leistung im Beruf beizubehalten: Bajor und Baltes (2003) beobachteten in einer Umfrage mit Bankangestellten, dass der positive Effekt von Gewissenhaftigkeit auf die Arbeitsleistung zum Teil durch SOK-Nutzung vermittelt wird. In einer Studie von Abraham und Hansson (1995) wurde deutlich, dass insbesondere ältere Angestellte ihre berufliche Kompetenz beibehalten können, wenn sie SOK nutzen. Yeung und Fung (2009) beobachteten ähnliche Ergebnisse bei chinesischem Verkaufspersonal. Die zwei Studien sind besonders deshalb nennenswert, da beide betonen, dass SOK in der Arbeit vor allem ältere Beschäftigte in ihrem Bemühen unterstützen kann, Leistungsvermögen und die Funktionstüchtigkeit bei der Arbeit aufrechtzuerhalten. Einige wenige der genannten Studien weisen darauf hin, dass die Anwendung und die Effekte von SOK bei der Arbeit durch die jeweiligen Arbeitsbedingungen mit beeinflusst werden: In der Studie von Abraham und Hansson (1996) wendeten Beschäftigte, die mehr Stressoren am Arbeitsplatz berichteten (z.B. Rollenkonflikte oder widersprüchliche Arbeitsanforderungen), auch mehr Selektions- und Kompensationsstrategien an. Yeung und Fung (2009) beobachteten einen stärkeren positiven Zusammenhang zwischen SOK und der Arbeitsleistung bei älteren Beschäftigten, die mit schwierigeren Aufgaben umzugehen hatten. Zacher und Frese (2011) berichten, dass nur bei wenig komplexen Tätigkeiten ein Zusammenhang zwischen SOK und positiven beruflichen Zukunftserwartungen besteht. In der Studie von Schmitt et al.
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(2012) verminderte SOK den positiven Zusammenhang zwischen Arbeitsbelastungen und Erschöpftheit. All diese Studien weisen übereinstimmend darauf hin, dass SOK besonders dann hilfreich ist, wenn die Arbeitsbedingungen eher ungünstig und nur wenige Ressourcen am Arbeitsplatz vorhanden sind, das heißt, wenn die Arbeitsbedingungen das Erreichen von Arbeitszielen nicht ausreichend unterstützen, Arbeitsbelastungen und die individuellen assoziierten Kosten hoch sind oder die persönliche Entwicklung nicht stimuliert wird (Bakker/Demerouti 2007).
SOK BEI DER A RBEIT : F ORSCHUNGSBEDARF UND AK TUELLE B EFUNDE Trotz dieser ermutigenden Ergebnisse zu den unterstützenden Effekten von SOK in der Arbeitswelt sind bislang einige wichtige Fragen unbeantwortet geblieben: Erstens wissen wir bislang noch wenig darüber, was Beschäftigte genau tun, wenn sie SOK am Arbeitsplatz anwenden. Es ist beispielsweise zu vermuten, dass die Art der Tätigkeit wesentlich dazu beiträgt, wie sich SOK-Strategien im Beruf manifestieren und wirksam werden (z.B. Bajor/Baltes 2003). Z.B. sollten spezifische Optimierungs- und Kompensationsstrategien am Arbeitsplatz davon abhängen, welche Arbeitsmittel oder Hilfsmaterialen relevant oder zugänglich sind. In der Konsequenz sollten Beschäftigte, die unterschiedliche Tätigkeiten ausführen, auch unterschiedliche SOK-Strategien anwenden. Zweitens ist noch zu wenig darüber bekannt, wie effektiv SOK in Berufen mit überwiegend »alternskritischen« Anforderungen ist, da die Mehrzahl der bislang vorhandenen Studien Beschäftigte mit eher alternsunkritischen Bürotätigkeiten einbezog (Abraham/Hansson 1996; Bajor/Baltes 2003; Baltes/Heydens-Gahir 2003; Schmitt et al. 2012; Wiese et al. 2002; Young et al. 2007). Es ist anzunehmen, dass in Berufen mit alterssensitiveren Anforderungen SOK wichtiger ist, weil hier die individuellen Ressourcen älterer Beschäftigter mehr gefordert sind (Abraham/Hansson 1996). Drittens ist bislang kaum untersucht worden, welche Arbeitsbedingungen vorhanden sein müssen, damit Beschäftigte SOK bei der Arbeit überhaupt effektiv anwenden können. Die vorhandenen Studien, die sich mit dem Zusammenspiel zwischen Arbeitsbedingungen und SOK beschäftigten, konzentrierten sich hauptsächlich darauf, wie durch SOK die negative Wirkung ungünstiger Arbeitsbedingungen abgemildert wird (Abraham/Hansson 1996; Yeung/Fung 2009; Zacher/Frese 2011). Um eine individualisierte Handlungsstrategie wie SOK bei der Arbeit jedoch überhaupt erfolgreich anwenden zu können, sollten Beschäftigte beispielsweise ein gewisses Maß an Tätigkeitsspielräumen haben – also eigenständige Entscheidungen über Arbeitsziele oder -mittel und -methoden treffen können (Humphrey et al. 2007; Ulich 2005).
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Diese Fragen wurden im Rahmen eines gerade abgeschlossenen Forschungsprojektes zu SOK im Pflegebereich behandelt (DFG MU 3079/1-1). Der Pflegeberuf umfasst zahlreiche alternskritische Arbeitsanforderungen, z.B. hohe körperliche Belastungen wie Heben, Tragen und Lagern von Patienten (vgl. Heiden et al. 2013). Entsprechend berichten ältere Pflegekräfte häufig von einer verminderten Arbeitsfähigkeit (Camerino et al. 2006) – das heißt, sie nehmen im Vergleich zu ihren jüngeren Kollegen deutlicher wahr, dass sie über weniger körperliche und geistige Ressourcen verfügen, die für die Ausübung ihres Berufs wichtig sind (Tuomi et al. 1998). Diese verminderte Arbeitsfähigkeit geht wiederum mit schlechterer Gesundheit, emotionaler Erschöpfung, dem Vorsatz den Pflegeberuf zu verlassen sowie einem erhöhten Risiko der Erwerbsunfähigkeit einher (Ahlstrom et al. 2010; Camerino et al. 2008). In einer qualitativen Studie haben wir ältere Pflegekräfte (> 45 Jahre), die im Durchschnitt mehr als 35 Jahre im Pflegeberuf gearbeitet haben, gefragt, was sie tun, um ihre beruflichen Belastungen gut zu bewältigen (Müller et al. 2012): Mehr als drei Viertel (77 %) der berichteten Handlungsstrategien können als SOK-Strategien klassifiziert werden. Das heißt, ältere Pflegekräfte scheinen in hohem Maße SOK bei ihrer Arbeit anzuwenden. 88 % der Befragten berichteten die Selektionsstrategie, »bei der Erledigung von Arbeitsaufgaben Prioritäten zu setzen«. An zweiter und dritter Stelle wurden Optimierungsstrategien genannt, wie »Verbesserungsvorschläge machen« (76 %), gefolgt von »sich körperlich fit halten« oder »sich fortwährend anstrengen« (jeweils 70 %). Die am häufigsten berichtete Kompensationsstrategie war »Hilfe holen« (52 %). Während die berichteten Selektionsstrategien in der Pflege »allgemeinen« Selektionsstrategien (vgl. Baltes et al. 1999) sehr ähnlich waren, scheint es vor allem pflegespezifische Optimierungs- insbesondere aber Kompensationsstrategien zu geben: Die in den Interviews berichteten Kompensationsstrategien bezogen sich besonders auf die körperlichen Anforderungen des Pflegeberufs. Dieser Befund steht im Einklang mit Studien, die ein erhöhtes Gesundheitsrisiko älterer Pflegekräfte durch hohe körperliche Belastungen berichten (Müller et al. 2010). Eine Befragung von Pflegekräften im Krankenhaus ergab, dass bei Pflegekräften, die in hohem Maße solche pflegespezifischen SOK-Strategien anwenden, kein negativer Zusammenhang zwischen Alter und Arbeitsfähigkeit zu beobachten ist (Müller et al. 2012). Das bedeutet, dass durch pflegespezifische SOK-Strategien die Arbeitsfähigkeit von Pflegekräften möglicherweise bis ins hohe Erwerbsalter erhalten werden kann. Ähnliche »Puffer-Effekte« von pflegespezifischen SOK-Strategien wurden auf den Zusammenhang zwischen körperlichen Funktionsbeeinträchtigungen und Arbeitsfähigkeit beobachtet (Müller et al. 2011): Nur bei Pflegekräften, die eine geringe Anwendung von SOK-Strategien berichten, haben ärztlich diagnostizierte körperliche Funktionseinschränkungen einen negativen Effekt auf die Arbeitsfähigkeit. Bei Pflegekräften, die eine häufige Anwendung von
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SOK berichten, besteht dieser negative Zusammenhang nicht. Das folgende Beispiel soll verdeutlichen, wie es gelingen kann, mit einer Kompensationsstrategie die Arbeitsfähigkeit trotz körperlicher Funktionseinschränkungen zu erhalten. Eine chirurgische Pflegekraft aus dem OP (die häufig lang am OP-Tisch instrumentieren und stehen muss) berichtete in einem Interview folgende Begebenheit (Müller et al. 2012): […] ich war vor langen Jahren mal bei einer Kur wegen meiner Wirbelsäule und da habe ich den Therapeuten gefragt, was man machen kann. […] Wir haben so Säckchen, die man an den OP-Tisch hin tut für Abfall; und dann sagt [der Therapeut]: ›Stellen Sie sich den Abfalleimer ein Stück weit weg, so dass Sie immer, wenn Sie was wegzuschmeißen haben, rauf und runter müssen.‹ Und das mache ich. Und ehrlich gesagt, ich habe keine Beschwerden mehr mit meinem Kreuz, nicht ein Stück.
Dieses Beispiel verdeutlicht auch, dass diese Pflegekraft ihre Kompensationsstrategie nur deshalb erfolgreich einsetzen konnte, weil sie den erforderlichen Spielraum hatte, ihren Arbeitsplatz an ihre Bedürfnisse anzupassen (d.h. die Möglichkeit vom Tisch kurz wegzutreten). Ein solcher förderlicher Effekt von Tätigkeitsspielräumen auf die Anwendung und Nützlichkeit von SOK-Strategien ließ sich auch in einer weiteren Untersuchung nachweisen: Weigl et al. (2012) beobachteten, dass ältere Beschäftigte ihre Arbeitsfähigkeit insbesondere dann erhalten können, wenn sie SOK-Strategien anwenden und von hohen Tätigkeitsspielräumen berichten. Zusammenfassend weisen diese Ergebnisse unserer arbeitspsychologischen und -medizinischen Untersuchungen (Interviews, Befragungen, körperliche Untersuchungen) erstmals darauf hin, dass Beschäftigte neben den bekannten globalen SOK-Strategien auch tätigkeitsspezifische SOK-Strategien zum Erhalt ihrer Gesundheit und Arbeitsfähigkeit nutzen. Zudem wird deutlich, dass SOK-Strategien insbesondere dann die Arbeitsfähigkeit von älteren Beschäftigten fördern können, wenn Tätigkeitsbedingungen günstig gestaltet sind. Damit liegen empirische Befunde vor, wie durch günstige Arbeitsbedingungen gezielt individuelle Bewältigungsstrategien von Beschäftigten unterstützt werden können und so gesundes und aktives Altern bei der Arbeit gefördert werden kann. Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus diesen Ergebnissen hinsichtlich geeigneter Interventionsmethoden?
B E TRIEBLICHE M ÖGLICHKEITEN ZUR ALTERNSGERECHTEN A RBEITSGESTALTUNG Gut gestaltete Arbeit ist ein Wert an sich, da sie Quelle für persönliches Wachstum, Identität und Selbstwert ist. Sie ist jedoch gerade in Anbetracht der er-
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warteten Konsequenzen des demographischen Wandels wichtiger denn je: Gut gestaltete Arbeit ist Voraussetzung, um rare Fachkräfte langfristig an Unternehmen zu binden, um Erwerbsquoten und damit die Finanzierung von Sozialsystemen zu sichern und um der wachsenden Zahl älterer Menschen gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Was können und sollten Betriebe also tun? Grundsätzlich sollen verhältnisbezogene Maßnahmen – also Ansätze, die auf die Verbesserung der Arbeitsumgebung abzielen – Vorrang haben vor verhaltensbezogenen Maßnahmen, in denen Beschäftigte lernen, besser mit ungünstigen Arbeitsbedingungen umzugehen. Diese Maßnahmen sollten sich nicht nur auf die älteren Beschäftigten von heute, sondern vorbeugend (primärpräventiv) auch auf die älteren Beschäftigten von morgen konzentrieren. Mit anderen Worten, Arbeit sollte gesundes und aktives Altern ermöglichen und fördern. Arbeit sollte alternsgerecht sein. Wie bereits skizziert, hat die arbeitspsychologische und -soziologische Forschung in den vergangenen Jahrzehnten wissenschaftlich gut abgesicherte Konzepte humaner Arbeitsgestaltung vorgelegt (z.B. Hacker 2005; Ulich 2005). Diese Konzepte gelten auch und gerade für eine alters- und alternsgerechte Arbeitsgestaltung, da mit ihrer Hilfe die individuellen Ressourcen von Beschäftigten über die Lebenspanne erhalten werden können: 1) Um vorzeitige ›arbeitsinduzierte‹ Verluste von Ressourcen zu vermeiden, müssen Stressoren wie zeitliche Überlastung, Störungen, körperliche Belastungen, ungünstige Arbeitszeitmodelle etc. besser erkannt und wirksamer beseitigt werden. Ganz praktisch sollten vor allem die im Arbeitsschutzgesetz vorgeschriebenen ›Gefährdungsbeurteilungen‹ in Betrieben wesentlich systematischer als bisher umgesetzt werden. Gerade bei der Beurteilung psychischer Belastungen gibt es hier noch erheblichen Nachholbedarf (Beck et al. 2012). Eine konsequente Umsetzung des Arbeitsschutzes wäre daher schon ein großer Schritt hin zu einer alternsgerechten Arbeit. 2) Aufgrund der Vielfältigkeit von Altersprozessen werden zukünftig in älteren Belegschaften Beschäftigte zusammenarbeiten, die unterschiedlichste Leistungsvoraussetzungen besitzen. Das bedeutet, es wird in Betrieben nicht den optimal standardisierten Arbeitsplatz für erfolgreiches Altern in der Arbeit geben. Vielmehr muss die Arbeitsorganisation individuell passfähige Lösungen ermöglichen, die es den Einzelnen besser erlauben, individuelle Alternsveränderungen und -verluste von Ressourcen auszugleichen. Dazu gehört unter anderem, dass Beschäftigten mehr Autonomie für eigene Entscheidungen eingeräumt wird, eigenständig über Arbeitsabläufe oder Arbeitsmittel zu entscheiden (Weigl et al. 2012). Im Sinne des SOK-Modells ist anzunehmen, dass mit solchen Spielräumen vor allem Selektion – also eigene Prioritäten bei der Verrichtung der Arbeit – und Kompensation – alternative Arbeitsweisen zum Ausgleich von Verlusten – möglich werden. Wie im oben aufgeführten Beispiel der OP-Pflegekraft können mithilfe des SOK-Modells so auch Maßnahmen der
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tertiären Gesundheitsprävention abgeleitet werden, also Ansätze, die darauf abzielen, Folgeschäden von Erkrankungen zu vermeiden. Gerade für sehr große Unternehmen mit zentralisierten und hoch regulierten Abläufen wird es eine enorme Herausforderung darstellen, notwendige betriebliche Standards mit Einzellösungen in Einklang zu bringen. Hier brauchen insbesondere Führungskräfte Unterstützung und ausreichende Kapazitäten, um diese Diversität angemessen und gerecht zu organisieren (Chin 2010). 3) Schließlich sollten Beschäftigte durch vielseitige Anforderungen und Lernmöglichkeiten bei der Arbeit unterstützt werden, persönliche Ressourcen zu vermehren (Kohn/Schooler 1978; Marquié et al. 2010). Dies betrifft vor allem die Vermehrung von Wissen und Erfahrung. Verschiedene Studien zeigen, dass geistig anspruchsvolle Arbeit vor kognitiven Beeinträchtigungen im höheren Alter schützt (Bosma et al. 2002). Im Sinne der SOK-Theorie tragen Lernmöglichkeiten so zu einer ›optimalen‹ Verfolgung eigener Ziele bei. Jedoch ist es kaum möglich, bei monotonen und einförmigen Tätigkeiten wertvolle Erfahrung und Wissen zu sammeln. Ja, es gibt sogar Hinweise, dass unter solchen Bedingungen vorhandene Kompetenzen nach und nach verkümmern (Bosma et al. 2002).
B E TEILIGUNG VON B ESCHÄF TIGTEN ALS E RFOLGSFAK TOR FÜR ALTERNSGERECHTE A RBEITSGESTALTUNG ? Vielfach wird darauf hingewiesen, dass die Beteiligung von Beschäftigten ein Schlüssel für die Gestaltung guter Arbeitsbedingungen ist (z.B. Bamberg et al. 1998; Nielsen et al. 2010). Ausgehend von unseren vorherigen Überlegungen liegt es nahe, speziell auch bei der alternsgerechten Arbeitsgestaltung partizipative Interventionsmethoden – wie etwa Gesundheitszirkel – einzusetzen. Die erforderlichen maßgeschneiderten individualisierten Arbeitsgestaltungsmaßnahmen sollten zielgerichteter entwickelt werden können, wenn dabei die betroffenen Beschäftigten aktiv einbezogen werden. Durch eine Beteiligung der Beschäftigten als Experten ihrer Tätigkeit werden bei der Planung und Durchführung von Maßnahmen spezifische betriebliche Bedingungen vor Ort besser berücksichtigt. Darüber hinaus ist Beteiligung an sich bereits eine wichtige gesunderhaltende Ressource, da sie zu gerechteren betrieblichen Entscheidungen führt (vgl. Kivimäki et al. 2005). Bei Gesundheitszirkeln handelt es sich um betriebliche Arbeitsgruppen unterschiedlicher Zusammensetzung (MitarbeiterInnen, Führungskräfte, Betriebs- oder Personalrat, Betriebsärzte, Sicherheitsfachkräfte etc.), die über eine begrenzte Zeit zusammenkommen, um gemeinsam Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu entwickeln und umzusetzen (Westermayer/Bähr 1994). Die Ergebnisse von elf Studien zu 81 Gesundheitszirkeln
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in 30 Unternehmen (Aust/Ducki 2004) zeigen trotz methodischer Mängel der Studien, dass Gesundheitszirkel wirksam sein können: 45-86 % der in den Gesundheitszirkeln entwickelten Maßnahmen wurden umgesetzt. Vier von fünf Studien berichteten positive Gesundheitseffekte. Fünf von sieben Studien zeigen eine Verringerung krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeitstage durch Gesundheitszirkel. Gelingende Beteiligung von Beschäftigten in Betrieben ist jedoch an zahlreiche Voraussetzungen geknüpft und stößt in der Praxis häufig an Grenzen. Die Kernfrage ist, (wie) ist Beteiligung in zumeist hierarchisch strukturierten Unternehmen möglich? Wirkliche Beteiligung setzt eine wertschätzende und angstfreie Kultur voraus, in der es möglich ist, in einen konstruktiven Dialog zur Lösung der Probleme vor Ort zu treten und langfristig, d.h. über Jahre hinweg, zu planen. Es muss gewollt sein, dass Beschäftigte ihren Arbeitsplatz aktiv mitgestalten. Beteiligung wird also vermutlich eher dort gelingen, wo bereits vergleichsweise günstige Arbeitsbedingungen herrschen. Darüber hinaus sind Handlungsmöglichkeiten der Betriebe durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen eingeschränkt. Häufig sind es gerade auch diese Rahmenbedingungen, welche die Arbeitsbedingungen vor Ort bestimmen. Beispielsweise wurden in Deutschland in den vergangenen Jahren trotz weniger Krankenhäuser mehr Patienten stationär im Krankenhaus versorgt und mehr intensivmedizinische Behandlungen durchgeführt, was zu einer erheblichen Arbeitsverdichtung im Pflegebereich beigetragen hat (Isfort et al. 2012). Trotz guten Willens und der Kooperationsbereitschaft aller Parteien vor Ort lassen sich solche Probleme nur bedingt auf ausschließlich betrieblicher Ebene lösen. Schließlich sind Gesundheitszirkel und andere Foren betrieblicher Beteiligung oft zeit- und personalaufwändig. Nach eigenen Berechnungen sind beispielsweise für einen Gesundheitszirkel mit fünf Teilnehmern, die sich an sechs Terminen zu je zwei bis drei Stunden treffen, insgesamt ca. 150 Arbeitsstunden einzuplanen, wenn man den Zeitaufwand für vor- und nachbereitende Treffen sowie Besprechungen mit Entscheidungsträgern mit einrechnet. Ein solch hoher Aufwand trägt oft zu vorübergehenden Zusatzbelastungen bei und kann vor allem bei hoher Arbeitsverdichtung und knappem Personal nur schwer erbracht werden. Beteiligung von Beschäftigten erscheint also essenziell, gerade bei der alternsgerechten Arbeitsgestaltung. Die Einführung von Beteiligungsstrukturen in die betriebliche Praxis ist jedoch nicht einfach: Instrumente – wie Gesundheitszirkel – müssen mit Augenmaß an die verfügbaren personellen, zeitlichen und strukturellen Ressourcen im Betrieb angepasst werden, ohne dabei die Grundidee – Mitarbeiterbeteiligung zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen – aus den Augen zu verlieren. Intensive Vorbereitungen sind erforderlich, um angemessen mit unrealistisch hohen oder aber negativen Erwartungshaltungen (»hier tut sich ja eh nichts«) umgehen zu können, um
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möglichen Ängsten und Befürchtungen insbesondere seitens der Vorgesetzten entgegenzutreten und um Abläufe und Verantwortlichkeiten zu vereinbaren und zu kommunizieren. Langfristig sollten beteiligungsorientierte Instrumente routinemäßig in bestehende organisationale Strukturen und Abläufe – etwa des betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes oder des Gesundheitsmanagements – integriert werden, um parallele Strukturen zu vermeiden und Nachhaltigkeit zu sichern.
S CHLUSSFOLGERUNGEN Negative Begleiterscheinungen des Alters und Alterns bei der Arbeit sind oft nicht Folge unabänderlicher biologischer Prozesse, sondern häufig »menschgemacht« (Hacker 2004), das heißt, durch ungünstige Umwelt- oder soziale Faktoren mitbedingt. Genau hier liegen Ansatzpunkte für alternsgerechte Gestaltung von Arbeit. Unter gut gestalteten Arbeitsbedingungen werden Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch länger im Erwerbsprozess verbleiben können und wollen. Dies nützt nicht nur den Unternehmen und entlastet die Sozialsysteme. Arbeit, die nicht nur Mühe und Last ist, sondern auch Quelle für Sinn, Identität und Selbstwert, kann späte Lebensjahre bereichern. Gerade die gegenwärtig lebhaft geführte Diskussion um psychischen Stress am Arbeitsplatz zeigt (vgl. Lohmann-Haislah 2013), dass die meisten Unternehmen mehr tun können, um Arbeitsbedingungen zu schaffen, die das Wohlbefinden von Beschäftigten nicht dauerhaft beeinträchtigen und individuelles Wachstum und Entwicklung fördern.
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Prävention von Gewalt in der Pflege durch interdisziplinäre Sensibilisierung und Intervention von stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen Britta Gahr und Stefanie Ritz-Timme
In einer alternden Bevölkerung, die zudem soziokulturell immer diverser wird, ist Gewalt in der Pflege ein Thema, das von großer gesellschafts- und gesundheitspolitischer Relevanz ist. Das Thema wurde gerade in den letzten Jahren wissenschaftlich intensiv beleuchtet. Es liegen gut belegte Daten zu Risikofaktoren und ›Red Flags‹ (potentiellen Indikatoren, Hinweisen) vor, und es gibt bereits seit Jahren fundierte Empfehlungen für auch gender- und diversity-sensible Präventionskonzepte. Dennoch wird das Ausmaß des Problems offenbar nicht kleiner; nach wie vor werden hohe Prävalenzraten und Hinweise auf ein großes Dunkelfeld publiziert (Carpenter u.a. 2004; Görgen/Greve 2005; WHO 2008; Walentich 2005). Hier setzt ein Projekt des Institutes für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Düsseldorf an, das durch das MGEPA NRW (Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter Nordrhein-Westfalen) gefördert wird. Seine Zielsetzung ist die Entwicklung eines Interventionsansatzes zur Prävention von Gewalt in der Pflege für stationäre und ambulante Settings, und zwar wissenschaftlich basiert und ausgerichtet am tatsächlichen situativen Kontext in der Praxis. Die Entwicklung der Interventionsstrategie zur Gewaltprävention wird wissenschaftlich basiert über die Klärung folgender zwei Forschungsfragen erfolgen: 1. Welche Barrieren hindern den Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Prävention von Gewalt in der Pflege in die Praxis? 2. Wie muss ein Interventionskonzept aussehen, um praxistauglich zu sein und diese Barrieren effizient zu adressieren? Nach Abschluss des Projektes sollen ein praxistaugliches Konzept mit konkret ausgearbeiteten Verfahrensweisen sowie Instrumenten für die Prävention von Gewalt in Vollzeit- und ambulanten Pflegeeinrichtungen vorliegen. Außer-
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dem sollen Empfehlungen für die Übertragung des Modells auf andere Pflegebereiche gegeben werden. Im Folgenden werden der aktuelle Stand der Wissenschaft zu der Thematik ›Gewalt in der Pflege‹ und die einzelnen Arbeitspakete innerhalb des Projektes vorgestellt. Ferner wird ein Ausblick auf die zu erwartenden Auswirkungen des Projektes und anschließende Arbeitsschritte gegeben.
S TAND DER W ISSENSCHAF T Eine einheitliche Definition von ›Gewalt in der Pflege‹ bzw. ›Gewalt gegen ältere Menschen‹ existiert nicht, mehrheitlich wird jedoch die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterstützt: Unter Gewalt gegen hilfsbedürftige/ältere Menschen versteht man eine einmalige oder wiederholte Handlung oder das Unterlassen einer angemessenen Reaktion im Rahmen einer Vertrauensbeziehung, wodurch einer hilfsbedürftigen/älteren Person Schaden oder Leid zugefügt wird (WHO 2008).
Von zentraler Bedeutung ist für diese Definition, dass zwischen einem potenziellen Täter und einem potenziellen Opfer ein Vertrauensverhältnis besteht. Unterschieden wird zwischen körperlicher Gewalt (z.B. Schlagen oder Treten), psychischer Gewalt (z.B. Drohungen), sexueller Gewalt (z.B. gewaltsam herbeigeführter Sexualkontakt), finanzieller Ausbeutung (z.B. Diebstahl und Unterschlagung von Eigentum) und Vernachlässigung (z.B. unangemessene Versorgung mit Nahrung und Getränken). Laut Görgen und Greven (2005) schwankt die Prävalenz der Gewaltbetroffenen unter den über 65-Jährigen zwischen 1-10 %; die AdHOC-Studie (»Aged in Home Care«) (Carpenter 2004; Cooper 2005) ergab eine Prävalenz von 9,6 % unter Patientinnen und Patienten in Pflegeheimen. Derartige Zahlen zu Phänomenologie und Epidemiologie des Themenfeldes lassen ein großes Dunkelfeld erahnen, das in der häuslichen Pflege noch größer und unzugänglicher scheint als in organisierten Pflegeheimen. Untersuchungen, die auf subjektiven Aussagen von pflegenden Angehörigen basieren, zeigten auf, dass etwa 81 % der Personen schon einmal psychische und mit 36 % mehr als jede dritte Person physische Gewalt gegenüber einem Schutzbefohlenen ausgeübt hatten (Pillemer/Moore 1989). In verschiedenen Studien wurden Risikofaktoren für das Auftreten von Gewalt identifiziert, sowohl auf der Seite der Pflegenden als auch auf der Seite der pflegebedürftigen Person. So gelten dementielle Erkrankungen, körperliche und geistige Behinderungen, Abhängigkeiten von Dritten und soziale Isolie-
Prävention von Gewalt in der Pflege
rung als Risikofaktoren bei Pflegebedürftigen, wohingegen insbesondere psychische, finanzielle und Sucht-Probleme sowie eine eigene Suchtbiographie, mangelnde Unterstützung und Qualifikation bei den Pflegenden prädisponierende Faktoren darstellen (Jackson/Hafemeister 2011). Will man Gewalt in der Pflege erkennen, ist die Kenntnis von gewissen potentiellen Indikatoren, sogenannten Red Flags (s. Tabelle 1) unverzichtbar (Apelbaum/Wiener 2010; Stark 2011). Patientenimmanente Red Flags beschreiben in diesem Zusammenhang die Befunde am Patienten selbst, die zirkumstantiellen Red Flags Auffälligkeiten innerhalb der Gesamtumstände. Patientenimmanente Red Flags
Zirkumstantielle Red Flags
Kontrakturen
übermäßig aufmerksames, kontrollierendes Pflegepersonal
Druckgeschwüre
häufige oder sehr seltene Arztkonsultationen
Anzeichen für Unterernährung/ Austrocknung
große Zeitspanne zwischen Verletzung und medizinischer Versorgung
schlechter Hygienezustand
häufiges Nichteinhalten von Terminen
Verletzungen, die mit der Erklärung unvereinbar sind
Non-Compliance bei der Behandlung
Mehrseitigkeit der Verletzungen
wechselnder Arztkontakt (›doctor hopping‹)
Mehrzeitigkeit der Verletzungen Suizidgedanken und -versuche Tabelle 1: Red Flags (Indikatoren für Gewalt in der Pflege)
Aber auch chronische Beschwerden ohne offensichtliche körperliche Ursache können ein Hinweis auf ein Gewalterleben durch die pflegebedürftige Person sein. Immer mehr Studien finden auch einen Zusammenhang zwischen körperlichen Verletzungen durch Gewalt und negativen Folgen für physische Gesundheit. Dabei gibt es deutliche Hinweise darauf, dass derart verletzte Personen u.a. häufiger unter chronischen Schmerzen (besonders Kopf, Rücken, Becken), Migräne oder gastrointestinalen Beschwerden (z.B. Reizdarm) leiden als Menschen ohne Gewalterleben (Macy 2009; Paras 2009). Um Gewalt in Pflegesituationen frühestmöglich zu erkennen und optimal handeln zu können, werden in der Literatur verschiedene Möglichkeiten und
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Wege diskutiert (Görgen/Greve 2005; Graß/Walentich 2006), die Kenntnis der oben ausgewiesenen Risikofaktoren und Verdachtsmomente bildet dabei die Grundlage. Die Entwicklung und Etablierung eines speziellen Monitoring-Systems, mit dem Gewalt gegen Ältere in der Langzeitpflege erkannt und erfasst werden kann, war Gegenstand des von der Europäischen Union geförderten Projektes milcea (monitoring in long-term care – pilot project in elder abuse; www. milcea.eu/pdf/Milcea-deutsch-Internet.pdf). Zwischen 1996 und Ende 2008 untersuchten wissenschaftliche Institutionen aus den Niederlanden, Luxemburg und Spanien sowie das Österreichische Rote Kreuz Definitionen und Erscheinungsformen von Gewalt gegen ältere, pflegebedürftige Menschen im internationalen Vergleich. Koordiniert wurde das Projekt durch den Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (mds). Empfehlungen für eine routinemäßige Erfassung von Gewalt gegen ältere Menschen in der Langzeitpflege sollen so europaweit eine gemeinsame Grundlage für die Umsetzung eines Monitorings schaffen. Neben einer Förderung des Bewusstseins für das Thema Gewalt innerhalb der allgemeinen Bevölkerung, aber insbesondere auch der in der Pflege tätigen Berufsgruppen, werden an der Praxis orientierte Schulungs- und Screening-Instrumente, unabhängige Supervisionseinheiten und ein niederschwelliges Meldesystem gefordert. Verschiedene Maßnahmen zur primären Prävention von Gewalt an Pflegebedürftigen und Älteren erörtern unter anderem Görgen (2010), Diesfeld (2011) und Fraser (2010), wobei O’Brien (2011) insbesondere davor warnt, bestehende Präventionskonzepte aus dem Bereich des Kinderschutzes zu übernehmen und nur marginal zu adaptieren. Das primär positive Anliegen könnte so die Betroffenen bereits durch Infantilisierung und ›gut gemeinte Entmündigung‹ traumatisieren. Auch ethnische, kulturelle und religiöse Unterschiede sind im Rahmen von Präventions- und Interventionsmaßnahmen nicht außer Acht zu lassen; während eine Art der Behandlung für eine pflegebedürftige Person optimal ist, kann sie bei einer ebenso eingeschränkten Person mit anderem soziokulturellem Hintergrund erhebliche Traumatisierungen hervorrufen (Beach 2010; Dakin/Pearlmutter 2009; Horsford 2011; Lee/Eaton 2011), beispielweise das Waschen einer muslimischen Patientin durch eine männliche Pflegekraft. Der Einfluss von Gender und Diversität auf das Erleben von Gewalt in der Pflege ist bislang nur in vereinzelten Studien untersucht worden (Amstadter u.a. 2011; Golding u.a. 2005). Konkrete allgemein anwendbare Erkenntnisse ergeben sich aus diesen Untersuchungen jedoch nicht. Obwohl also umfangreiche Daten zu Risikofaktoren und Red Flags sowie Vorschläge für Monitoring- und Präventionskonzepte vorliegen, gibt es kein Indiz dafür, dass die Prävalenz von Gewalt in der Pflege sinkt. Daraus ist zu schließen, dass der Transfer von Wissen und Konzepten aus der Forschung in die Praxis bislang nicht optimal gelingt.
Prävention von Gewalt in der Pflege
Mit einer ganz ähnlichen Ausgangssituation beschäftigte sich das durch das BMBF geförderte Projekt MIGG (Medizinische Intervention gegen Gewalt gegen Frauen). Obwohl es auch hier umfangreiche wissenschaftliche Erkenntnisse, Publikationen und Fortbildungsangebote zu dieser Problematik gab, schlug sich das nicht ›automatisch‹ in der Qualität der Versorgung von Gewaltopfern in der ärztlichen Praxis nieder; das Wissen kam nicht in der Praxis an, im Umgang mit dem Thema Gewalt waren die Praxisteams ausgesprochen verunsichert, Gewaltopfer wurden als solche oft gar nicht identifiziert und/ oder nicht optimal versorgt. Mögliche Gründe für diese Problematik können zu wenig praxisorientierte Schulungsprogramme, ein zu geringes Problembewusstsein aller mit der Pflege befassten Personen und die erhebliche Tabuisierung des Themas Gewalt in der Pflege sein. Durch die Interventionsstrategie des Projektes MIGG wurde die Identifikation von Gewaltopfern und deren Versorgung in eindrucksvoller Weise professionalisiert und optimiert (Sellach u.a. 2012). Dieser Erfolg war vor allem zurückzuführen auf den sehr abholenden, an den Erfordernissen und Bedürfnissen der Modell-Arztpraxen ausgerichteten Interventionsansatz (Ritz-Timme/Graß 2009). Die Erfahrungen aus dem erfolgreich abgeschlossenen Modellprojekt MIGG werden in das hier vorgeschlagene Projekt einfließen.
A RBEITSPROGR AMM In enger Zusammenarbeit mit Modelleinrichtungen der stationären und ambulanten Pflege werden wissenschaftsbasiert praxistaugliche Instrumente und Verfahrensweisen zur Prävention von Gewalt in der Pflege entwickelt und etabliert. Danach werden die Einrichtungen etwa ein Jahr in ihrer Arbeit begleitet und die Effekte der Intervention untersucht, um zu einem optimalen, praxistauglichen Präventionskonzept zu gelangen und auf dieser Basis Empfehlungen auch für weitere Pflegebereiche zu entwickeln. Ein interdisziplinäres Expertenteam u.a. aus den Bereichen Pflege/Pflegewissenschaften, Gerontologie/Gerontopsychiatrie und der hausärztlichen Versorgung, wird die Arbeit der Projektgruppe unterstützen und den Modelleinrichtungen beratend zur Seite stehen. Die Projektarbeit umfasst drei Arbeitspakete; Arbeitspakete 2 und 3 sind im Sinne einer besseren Strukturierung in jeweils zwei Teilpakete a. und b. unterteilt, diese beiden Teile sind jeweils eng miteinander verknüpft und bedingen sich gegenseitig.
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Arbeitspaket 1: Akquise der Modelleinrichtungen Meilenstein 1: Zwölf Pflegeeinrichtungen (ca. sieben Vollzeitpflege, ca. fünf ambulante Pflege) stehen als Modelleinrichtungen zur Verfügung. Maximal zwölf Einrichtungen (sieben Vollzeitpflege, fünf ambulante Pflege) sollen wegen der Begrenztheit der Ressourcen als Modelleinrichtungen in das Projekt eingeschlossen werden. Sollten mehr Einrichtungen ihre tatsächliche Bereitschaft zur Teilnahme bekunden, erfolgt eine Auswahl unter Berücksichtigung der Diversität der Einrichtungen im Blick auf Größe, Trägerschaft, Organisation sowie religiöse und kulturelle Besonderheiten. In diesem Zusammenhang interessant erscheinen z.B. unterschiedliche situative Konstellationen durch Arbeitsbelastung (z.B. Personalschlüssel) oder Besonderheiten auf Seiten der Gepflegten (z.B. besonders hoher Anteil von Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, bestimmte Erkrankungen). Zu den gegebenenfalls nicht ausgewählten Einrichtungen wird Kontakt gehalten, ihnen könnte nach Absprache mit den ausgewählten Einrichtungen z.B. die Teilnahme an geeigneten Schulungsveranstaltungen eröffnet werden. Arbeitspaket 2: Entwicklung einer Intervention ›Prävention von Gewalt in der Pflege‹ unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse und den Bedürfnissen pflegerischer Praxis Das Projekt will wissenschaftsbasiert praxistaugliche Strategien entwickeln. Ausgehend von einer ersten theoretischen Herleitung des Interventionsansatzes aufgrund aktueller Forschungsergebnisse (s.o.) verfolgt das Projekt deshalb (wie bereits MIGG; Ritz-Timme/Graß 2009; Sellach u.a. 2012) einen ›abholenden‹ Ansatz und orientiert sich zunächst am Status quo der Praxis, der durch die Erstbefragung der Verantwortlichen in den Modelleinrichtungen (Arbeitspaket 2a.) erhoben wird. Unter Berücksichtigung der Informationen aus dieser Befragung wird die finale Entwicklung der Interventionsstrategie und der Interventionsinstrumente sowie deren Etablierung in den Einrichtungen erfolgen (Arbeitspaket 2b.). Arbeitspaket 2a: Erstbefragung der Modelleinrichtungen unter Berücksichtigung des aktuellen Wissensstandes aus der Literatur Meilenstein 2a: Ergebnisse der Erstbefragung Die Erstbefragung soll den Status quo der Praxis in den Modelleinrichtungen erheben. Wünschenswert wäre jeweils die Befragung von Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher Organisationsebenen, mindestens aber die Einbeziehung der Leitungsebene und unmittelbar in der Pflege eingesetzter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ziel ist die möglichst umfängliche Erfassung
Prävention von Gewalt in der Pflege
des Betreuungssystems. Da Befragungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aber nur mit Einverständnis der Leitungsebene möglich sind, müssen die konkreten Details des Vorgehens in Gesprächen mit der Leitungsebene geklärt werden. Für die Befragung wird ein Fragebogen entwickelt, der v.a. folgende Punkte adressiert: •
• • •
Wie sind die Einrichtungen im Blick auf das Thema ›Gewalt in der Pflege‹ konkret aufgestellt? Dabei werden Fragen angesprochen wie: Wie ist ›Gewalt‹ in den Pflegeeinrichtungen definiert? Wo und wie wird das Thema adressiert? Welches Wissen haben die Verantwortlichen zu Prävalenz, Risikofaktoren und Red Flags? Und welches Wissen haben sie zu gender- und diversitysensibler Pflege? Wie sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dazu geschult? Gibt es konkrete Strategien zur Prävention? Gibt es Richtlinien/Handlungsempfehlungen zum Umgang mit einschlägigen Fällen? Wird das Thema z.B. im Rahmen von Qualitätssicherungsmaßnahmen adressiert? Wie viele Fälle sind in den letzten fünf Jahren bekannt geworden? Wie wurde damit umgegangen? Wird Handlungs-/Unterstützungsbedarf gesehen? Wenn ja, welcher ? Welche Barrieren im Umgang mit diesem Thema gibt es? Welche Wünsche gibt es im Blick auf die geplanten Interventionsinstrumente? Wie muss ein Handlungsleitfaden sein, damit er praxistauglich ist (Inhalte, Umfang etc.)? Wie sollte ein interdisziplinäres Supervisions-/Beratungsteam zusammengesetzt sein und arbeiten, damit es Akzeptanz findet?
Die Erstbefragung wird mithilfe des zu entwickelnden Fragebogens strukturiert im persönlichen Interview geführt, um auch zusätzliche, spontane Informationen erfassen zu können. Arbeitspaket 2b: Entwicklung und Etablierung von Instrumenten zur Gewaltprävention in Pflegeeinrichtungen Meilenstein 2b: Die Instrumente (SOP und Supervisions-/Beratungsteam) sind in den Modelleinrichtungen etabliert. Auf Basis der Ergebnisse der Erstbefragung (Meilenstein 2a.) und im fortgesetzten informatorischen Dialog (z.B. per Telefonkonferenz) mit den Modelleinrichtungen werden folgende Instrumente zur Gewaltprävention entwickelt: • •
Praxistaugliche Handlungsanweisung (SOP) Interdisziplinäres Supervisions-/Beratungsteam unter Einbeziehung von Experten
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Eine erste Version der Handlungsanweisung sowie der Vorschlag zur Zusammensetzung und Arbeit eines interdisziplinären Supervisions-/Beratungsteams werden mit den Modelleinrichtungen diskutiert und entsprechend überarbeitet. Danach erfolgt die Implementierung in den Modelleinrichtungen. Dazu gehört eine Schulung, die die sichere Etablierung der Instrumente sicherstellt; das Schulungskonzept ist zu erarbeiten. Die Schulung umfasst auch die Möglichkeiten der Vernetzung mit Beratungsangeboten des Düsseldorfer Netzwerkes für Gewaltopfer einschließlich des Beratungsangebotes des Institutes für Rechtsmedizin. Arbeitspaket 3: Prüfung der Machbarkeit und Praxistauglichkeit des Interventionsansatzes, Erhebung deskriptiver Daten zu den Effekten des Interventionsansatzes (prä/post) Die Modelleinrichtungen werden in einer Arbeitsphase (Arbeitspaket 3a.) eng begleitet und anschließend nachbefragt (Arbeitspaket 3b.), um die Fragen der Machbarkeit, der Praxistauglichkeit und der Effekte des Interventionsansatzes zu untersuchen. Arbeitspaket 3a: Arbeitsphase Meilenstein 3a: Die Arbeitsphase ist abgeschlossen; der Umgang mit den gemeldeten Fällen ist dokumentiert. In der Arbeitsphase wird der Umgang der Modelleinrichtungen mit (Verdachts-)Fällen von Gewalt in der Pflege unter Nutzung der etablierten Instrumente strukturiert erfasst. Möglichkeiten der Beratung durch das Expertenteam oder auch der rechtsmedizinischen Unterstützung werden angeboten. Die Beratungen erfolgen bei Bedarf. Dazu werden Erfassungsbögen entwickelt, die Fragen adressieren wie: • • • • • • • •
Was genau ist geschehen oder soll geschehen sein? In Rede stehende Art und Form von Gewalt ? Wer ist involviert? Gab es Risikofaktoren? Waren diese bekannt? Gab es Red Flags? Wurden sie gesehen? Woraus ergab sich der Verdacht? Wer hat ihn an wen gemeldet? Welche Maßnahmen wurden ergriffen? Mit welchen Konsequenzen? Welche Schwierigkeiten/Barrieren wurden wahrgenommen?
Nach Entwicklung des Regimes zur Fallerfassung unter Beteiligung der Modelleinrichtungen werden die Einrichtungen in einer Schulung (etwa 4-6
Prävention von Gewalt in der Pflege
Stunden) in das Prozedere der Fallmeldung eingearbeitet; zuvor wird mit jeder Einrichtung besprochen, wie die Informationen zu diesem System innerhalb der Einrichtung effizient implementiert werden; nach dem Ergebnis dieser Beratungen werden die Schulungen ausgerichtet. Sämtliche gemeldeten Fälle werden strukturiert und pseudonymisiert unter Wahrung datenschutzrechtlicher Bestimmungen erfasst. Bei Bedarf werden Sitzungen des interdisziplinären Supervisions-/Beratungsteams organisiert; die Beratungsergebnisse, die Empfehlungen des Gremiums und die abschließenden Entscheidungen der zuständigen Modell-Einrichtung werden dokumentiert. Weiter besteht während der Arbeitsphase bei Bedarf die Möglichkeit (rechts-)medizinischer Beratung. Im Dialog mit den Modelleinrichtungen werden Probleme im Umgang mit den Interventionsinstrumenten erfasst und dokumentiert. Arbeitspaket 3b: Nachbefragung und Auswertung, Optimierung des Interventionskonzeptes, Entwicklung von Empfehlungen, Veröffentlichung der Ergebnisse Meilenstein 3b: Die Datenerhebung ist abgeschlossen, die Daten sind ausgewertet. Ein praxistaugliches Interventionskonzept mit konkret ausgearbeiteten Verfahrensweisen und Instrumenten liegt vor, außerdem Empfehlungen für die Übertragung des Modells auf andere Bereiche der Pflege. Ein Abschlussbericht ist erstellt, wissenschaftliche Publikationen sind vorbereitet. Die Nachbefragung der Vertreterinnen und Vertreter der Einrichtungsleitungen sowie die Auswertung der Falldokumentationen und der Dokumentation der Arbeit des interdisziplinären Supervisions-/Beratungsteams schaffen die Basis für eine Optimierung des Interventionskonzeptes und tragen wesentlich zur Klärung der beiden zentralen Forschungsfragen des Projektes (Welche Barrieren hindern den Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Prävention von Gewalt in der Pflege in die Praxis? Wie muss ein Interventionskonzept aussehen, um praxistauglich zu sein und diese Barrieren effizient zu adressieren?) bei. Auch im Rahmen der Nachbefragung sollten Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Organisationsebenen mit unterschiedlichen Perspektiven befragt werden, mindestens aber die Leitungsebene und unmittelbar in der Pflege eingesetzte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Auch hier ist jedoch das konkrete Vorgehen mit der Leitungsebene zu klären.
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Bei der Nachbefragung, die strukturiert und aufsuchend erfolgt, geht es insbesondere darum, die Erfahrungen der Modelleinrichtungen während der Arbeitsphase abzufragen: • • • •
Was hat funktioniert, was nicht? Welche Barrieren gab es? Wie wurden die etablierten Instrumente (SOP, Expertenteam) angenommen? Wie wird ihre Funktionalität gesehen? Sehen die Verantwortlichen eine Zunahme an Handlungs- und Entscheidungskompetenz? Welche Optimierungsmöglichkeiten werden gesehen?
Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Nachbefragung sowie der Auswertung der Falldokumentationen und der Dokumentation der Arbeit des interdisziplinären Supervisions-/Beratungsteams werden der Interventionsansatz und seine Instrumente gegebenenfalls optimiert; Empfehlungen für eine Übertragbarkeit des Modells auf andere Pflegebereiche und für ein weiterführendes Evaluationskonzept werden erarbeitet. Das interdisziplinäre Expertenteam wird dazu Input anhand der Erfahrungen aus den Fallbesprechungen mit den pflegerischen Einrichtungen liefern. Falls notwendig, werden auch in diesem Arbeitspaket weitere konkrete Fälle besprochen.
A USBLICK Aus der Erfahrung mit einem ähnlich konzipierten Projekt in Zusammenarbeit mit zahlreichen Arztpraxen lässt sich die begründete Hoffnung ableiten, dass das Projekt möglicherweise bereits während der Projektlaufzeit in den Modelleinrichtungen zu einer deutlichen Optimierung von Entscheidungsund Handlungskompetenz der Verantwortlichen führen kann. Damit würde konkret zur Qualitätssicherung in den Pflegeeinrichtungen beigetragen und die Sicherheit älterer Menschen in Pflegeeinrichtungen, deren Versorgung und Lebenssituation verbessert. Damit würde das Gesundheitswesen in einem entscheidenden Aspekt gestärkt, der auch vor dem Hintergrund des demographischen Wandels erheblich an Bedeutung gewinnen wird. Weiter wird das Projekt von Anfang an zur Ausbildung von Vernetzungsstrukturen und Kooperationen zwischen Pflegeeinrichtungen einerseits und dem Netzwerk für Gewaltopfer (insbesondere Rechtsmedizin) sowie wissenschaftlichen Einrichtungen aus Medizin und Pflegewissenschaften andererseits führen. Geschlechtsbezogene und interkulturelle Aspekte der Gewaltprävention in der Pflege stehen erstmalig in dieser Form im Fokus; ihre Bedeutung in der Praxis erfährt durch den vorgeschlagenen Ansatz eine konkrete Berücksichtigung.
Prävention von Gewalt in der Pflege
Diese Optimierung der Kompetenz der Verantwortlichen und der Vernetzung kann mittelfristig über die zu formulierenden Empfehlungen auf weitere Einrichtungen der Pflege nachhaltig ausgedehnt werden. Abschließend sollen die Ergebnisse der Studie sowie insbesondere Empfehlungen zu der Anwendung der verbesserten Verhaltensweisen veröffentlicht werden; so soll der Übertrag der theoretisch erarbeiteten Informationen in die praktische Arbeit gelingen.
L ITER ATUR Amstadter, Ananda B.; Cisler, Josh M.; McCauley, Jenna L.; Hernandez Melba A.; Muzzy, Wendy; Acierno, Ron: Do Incident and Perpetrator Characteristics of Elder Mistreatment Differ by Gender of the Victim? Results from the National Elder Mistreatment Study, in: Journal of Elder Abuse & Neglect 23 (2011) H. 1, 43-57. Apelbaum, Tal; Wiener, Zeev: Domestic Violence – the Physician’s Role: Screening, Diagnosis and Primary Intervention, in: Harefuah 150 (2011) H. 4, 369-372, 418. Beach, Scott R.; Schulz, Richard; Castle, Nicholas G.; Rosen, Jules: Financial Exploitation and Psychological Mistreatment Among Older Adults: Differences between African Americans and non-African Americans in a Population-Based Survey, in: The Gerontologist 50 (2010) H. 6, 744-757. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Implementierungsleitfaden zur Einführung der Interventionsstandards in die medizinische Versorgung von Frauen, Berlin 2010. Carpenter, Iain; Gambassi, Giovanni; Topinkova, Eva; Schroll, Marianne; Finne-Soveri, Harriett; Henrard, Jean-Claude; Garms-Homolova, Vjenka; Jonsson, Palmi; Frijters, Dinnus; Ljunggren, Gunnar; Sørbye, Liv W.; Wagner, Cordula; Onder, Graziano; Pedone, Claudio; Bernabei, Roberto: Community Care in Europe. The Aged in Home Care project (AdHOC), in: Aging Clinical and Experimental Research 16 (2004) H. 4, 259-269. Cooper, Claudia; Carpenter, Iain; Katona, Cornelius; Schroll, Marianne; Wagner, Cordula; Fialova, Daniela; Livingston, Gill: The AdHOC Study of Older Adults’ Adherence to Medication in 11 Countries, in: American Journal of Geriatric Psychiatry 13 (2005) H. 12, 1067-1076. Dakin, Emily; Pearlmutter, Sue: Older Women’s Perceptions of Elder Maltreatment and Ethical Dilemmas in Adult Protective Services: A Cross-Cultural, Exploratory Study, in: Journal of Elder Abuse & Neglect 21 (2009) H. 1, 15-57. Diesfeld, Kate: Analysis of Legal Cases for Prevention of Elder Abuse: Decisions from New Zealand, in: Journal of Law and Medicine 18 (2011) H. 4, 737-748.
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Britta Gahr und Stefanie Rit z-Timme
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Prävention von Gewalt in der Pflege
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A Fulfilling Case of Action Research in Japan My 10-Year Engagement in a Tokyo Lifelong Learning Group Akihiro Ogawa
W HY ACTION RESE ARCH ? I have been managing an action research project at SLG (pseudonym), a lifelong learning group located in Kawazoe (pseudonym), in the eastern or traditional shitamachi district of Tokyo, since September 2001. My project has consisted of trying to solve actual problems we face at SLG, along with key research collaborators, in order to enhance the quality of our own organizational life. Action research is a strategy for making research more socially relevant and dynamic. As a professional researcher, I have intentionally chosen this strategy instead of a more conventional one in seeking for the meaning of my position as a researcher in society. Beginning with my research experience in my graduate student days, this paper primarily examines how I engage with the people at my field site and how we jointly produce knowledge to make changes. I provide a narrative concerning recent developments in SLG to demonstrate how an action research project like this continually unfolds. It was a snowy December in 1999 when I first encountered action research. I was a second-year graduate student exploring a relevant method for developing my research project on Japanese society. I happened to pick up a book titled Introduction to Action Research (Greenwood/Levin 1998) at a main library in my university. It was the first time I had heard the term ‘action research’. I remember that the book’s subtitle – Research for Social Change – also sounded very attractive to me. I had already known exactly what I wanted to do as research for my graduate project: Japanese civil society. Prior to that, after graduating from college, I had been a journalist for five years in Japan. I covered many issues as a relatively new staff reporter at a major Japanese wire service, but the most impressive matter I covered was the emerging power of the civil society sector. The Hanshin Awaji earthquake, which hit western Japan on January 17, 1995, generated a huge wave of disaster-relief volunteers. Statistics showed that 1.3 million volunteers visited the disaster site
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to aid victims (Economic Planning Agency 2000). Japanese media called 1995 the “borantia gannen”, or the first year of volunteers in Japan. I was fortunate enough to cover this phenomenon as a member of the earthquake coverage team at Kyodo News, a leading wire service in Japan. The volunteers’ impressive work prompted the Japanese government to ease rigid government control over the incorporation of third sector or civil society organizations and to make a law supporting the establishment of non-profit organizations (NPOs); in March 1998, the national diet passed the Law to Promote Specified Non-profit Activities, the popularly-named NPO Law. Under this law, Japan began its institutionalization of civil society. Two years later, in April 2000, the Japanese government introduced the long-term care insurance scheme. In order to operate the new insurance system at relatively low cost, the government needed to invite unpaid volunteers organized under NPOs to deliver the social services. In fact, social welfare has been the most popular area for the Japanese NPO sector. Japanese civil society has been viewed primarily as monolithic, with little delineation between the state and society, and as weak, co-opted by the state. Susan Pharr argues that Japan is an “activist state”, by which she means that through funding and tax treatment, the state has successfully institutionalized specific kinds of civil society groups to achieve state ideology (Pharr 2003: 324). In the new process of making civil society under the NPO Law, however, I was interested in illuminating how the grassroots Japanese have responded to the state’s deliberate actions to institutionalize civil society in Japan. I had a few questions: Can civil society be successfully constructed by a state? What are the ways in which states seek to shape their relations with their populations, and how effective are policies designed for such a purpose likely to be? I left journalism in August 1998 to start graduate school in order to explore this emerging phenomenon in my own society. At that time in my graduate program on political science and public policy, I was mainly required to take the type of social science courses that lean heavily towards a number-oriented, rational-choice model. I felt extremely uncomfortable with this kind of knowledge production, however, and came to realize that I needed a different research paradigm. I had already established my own methods of data collection as a journalist: identifying sources, going to see people who were relevant to my research, having conversations with them, asking directly what I want to know, and documenting all of what I heard and observed. My writing always had a strong tendency to promote change. Meanwhile, honestly speaking, what I was required to learn in my graduate program seemed like research for the sake of research, theory for the sake of theory. To me, a former journalist who knew about people’s complicated daily lives at the grassroots level through daily coverage, such research seemed like static knowledge production which would have almost nothing to do with ordinary people in the real world.
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Luckily enough, one of the authors of the book I had found was a professor of anthropology at my university. The following spring, I enrolled in an introductory course on action research. The course did not have a pre-set syllabus. What I learned was how to facilitate group processes, how to set up and run a search conference, and how to set an agenda collaboratively for working in groups. We students learned all our skills by practicing ourselves on the topics we chose we were not lectured in a one-way manner (Greenwood 2012: 125). In the middle of the semester, I started the procedure for transferring to the anthropology program to studying this research strategy further. Since then, action research has become the core of my work. I decided to stop being a silent observer; rather, I have set off on a mission of action. Action research can be defined as social research carried out by a team that includes a professional action researcher and the members of an organization, community or network (i.e. the ‘stakeholders’) who are seeking to improve the participants’ situation (Greenwood/Levin 2007: 3). In other words, I understand it as a style of co-generative knowledge production whereby researchers and members of community jointly (1) identify a problem, (2) gather information, (3) analyze the collected data, (4) plan for transformation, (5) take action, and (6) interpret the results through broad participation of the stakeholders in the research process; it is a cyclical process for problem solving (Ogawa 2009: 186).
C IVIL SOCIE T Y IN WHICH I CAN BE INVOLVED Civil society is a public sphere that broadly refers to non-state institutions and associations that are critical to sustaining modern democratic participation. Civil society was originally a product of Western culture or an ethnocentric idea; it is a particular set of relationships between the state and society or individuals in the West. However, the concept is now becoming more widespread in other cultures. In fact, I would argue that each society and culture molds its own version of civil society, reflecting its most important values, including individual liberty, public solidarity, pluralism, and nonviolence, all of which sustain a vibrant civic culture. Meanwhile, the concept of civil society itself has been highly idealized, mostly among political scientists. They are looking at abstract, theoretical formulations or analyses of high level political institutions. My research interests lie not so much with the structural or political role of Japanese civil society but rather in exploring everyday practices, cultural values and beliefs at the local level. One of my major research interests is indeed addressing the social, cultural and political developments in Japanese society, using civil society as an analytical lens. I am an anthropologist by training, and we anthropologists have made relatively limited contributions to the discussion on civil society, as William
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Fisher (1997) points out. However, I contend that anthropologists have been contributing information about crucial features of the construct of civil society all along. We have been actively documenting, as a form of ethnography, reciprocity and exchange, the elaboration of communal advantage, modes of affiliation, and patterns of public participation – all of which are critical elements of civil society studies. Ethnography, or what anthropologists do, is indeed a powerful method because it employs open-ended, naturalistic inquiry and inductive reasoning to understand local perspectives. Furthermore, going beyond means-end analysis allows the examination of reflexive loops in ethnography, making my own self-existence more apparent. Having said that, I understand civil society to be an active, dynamic process, in which I myself can be involved, rather than a static abstract model. This understanding was a major reason I chose action research as my key research strategy. My research aim is not to argue about what civil society is but to discover what civil society does. Since I joined a lifelong learning group in downtown Tokyo, which I call SLG, I have been seeking to improve the members’ organizational life – with their participation. Our interaction does not consist of simple knowledge transference from my side. Instead, we jointly produce knowledge for making changes within the organization to support “a more just or satisfying situation for the stakeholders” (Greenwood/Levin 2007: 4). In fact, central to my research is a method advocated by public anthropology that “takes us away from a solely inquiry-based methodology and towards one that is dialogic and change oriented” (Beck 2009: 1). As a form of ethnography, which is my academic work as a researcher, I document what is happening at my field site as well as how I engage in the activities, aiming to reveal a different picture of social and political life in Japan from the grassroots up instead of from the perspective of political elites.
E NCOUNTERS WITH SLG SLG is at a local public lifelong learning center in Kawazoe, which was established by the ward government in the early 1990s. It was created as a community-oriented lifelong learning NPO in September 2000 under the 1998 NPO Law, just a year before I entered the field site. In terms of aging research SLG has an important role to play in its context because lifelong learning is a key feature for the aging Japanese society (Ohasako/Sawano 2006). In the mid 2000s, more than 20 % of the total population in Kawazoe, a central Tokyo district, was sixty-five years of age or older a little ahead of the national average (19.5 % in 2005). My field site, SLG, indeed plays a significant role in providing learning opportunities to this expanding aged population. SLG successfully absorbs the local aged population as course-tak-
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ers and even mobilizes these residents as volunteers. SLG offers nearly 100 individual courses to local residents per year in particular, targeting local aging populations. The courses include liberal arts subjects, foreign languages, sports, after-school activities for kids, music and fine arts. One class, Kawazoe Studies, is a kind of community or area studies, and it is one of the most popular subjects among the local residents (Ogawa 2009: 53); around 2,000 local people register for the courses every year, and the majority of course participants, or 60 percent, are women over 50 years of age. Further, SLG is one of the biggest NPOs promoting lifelong learning in Japan, both in terms of the membership and the budget scale. Every year, some 130 people register as volunteers, all of whom are members with voting rights at the annual general meeting. The majority of these volunteers are housewives and retired men. The volunteers plan lifelong learning courses, attend the courses in order to help course takers’ learning, and also collect and provide information on learning opportunities to local residents via the Internet, local cable TV and newsletters. Meanwhile, SLG has 22 secretariat staff members (as of September 30, 2012), who are mainly in charge of administrative work and who annually spend some 100 million yen for its operation. Dennis Young (2000: 149) classified NPOs into three categories in terms of their relationship with the government: those that (a) operate independently as supplements to the government, (b) work as complements to the government in a partnership relation, or (c) are engaged in an adversarial relationship of mutual accountability with the government. SLG can be categorized in group (b) because the ward government led the institutionalization of NPO and has maintained a significant level of control over the organization. Originally, the local government responded to a national initiative – the enactment of the law for the promotion of lifelong learning in 1990, which envisions Japan’s aging society. In fact, Japan is one of the most greying societies in the world. The government then created a public facility promoting lifelong learning activities in the local community. However, after the asset-inflated bubble economy ended in the early 1990s, the government could not finance the public facility and thus organized – or I would say, ‘invited’ – local residents in 1993 to form a volunteer group for operating the public lifelong learning center and maintained a relationship with the volunteers (Ogawa 2004). After the enactment of the NPO Law of 1998, the ward government told the group that it should incorporate as an NPO, which I would describe as a government-led, top down process of NPO-ization (Ogawa 2009: 51–92). In September 2000, SLG registered as an NPO under the 1998 NPO Law. Meanwhile, the relationship with the government continued. The SLG president remained a government appointee, and SLG continued to receive most of its funding from the ward government. Further, I would say that SLG is a typical NPO in Japanese civil society. Many NPOs are quasi-public, like SLG, especially in social welfare and lifelong learn-
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ing. The Asahi Shimbun (2009), a major daily, called these NPOs “GoNPOs” or government-led NPOs. According to the Cabinet Office’s (2008) research from 2008, about 55 %of Japanese civil society organizations’ revenues are from their various projects with the government, 28 % from governments’ subsidies, 5 % from donations and 5 % from membership fees. From 2001 to 2003, I was working at SLG as an unpaid secretariat staff member in charge of developing lifelong learning courses and coordinating volunteers. This period coincided with my intensive fieldwork as a doctoral student. Since 2004, then, I have been involved as a volunteer. I recognized that my dissertation project would be just the beginning of my long-term action research, and it is still continuing. Looking back over the past 10 years, I believe one of the most important things in developing this kind of action research project is to find research collaborators. As mentioned earlier, action research is a collaborative process of producing knowledge, which should be directly used for improving the stakeholders’ situation. My research collaborators and I have jointly developed the research process; I believe this is an experience that builds up “trust”, one key aspect of an ethnographer’s – that is, my own – way of experiencing life, as James Peacock (2001: 137) points out. In the initial stage of my research, I tried to facilitate the process by primarily taking a strong initiative. However, I expected that my role could be gradually transferred to my research collaborators, and I did successfully accomplish this. Most people at my field site apparently did not understand my intention. I was expected to be the conventional, silent researcher; however, such a role was not what I expected. Whenever I had a chance, I tried to talk directly about my research mission to the would-be collaborators. I talked about why I would do this type of research, touching upon my own experience as a journalist, without using any academic jargon. Some of them understood my research well, and as stakeholders, they helped establish my research. I have kept at least five collaborators inside SLG and three outside for my continuing project over the ten years. The most interesting finding in the initial stage of my research was that the SLG people were frustrated with the origins of their organization. Since I explained to them that I was a researcher on civil society and NPOs, they often asked me what it would be like to be a real, independent civil-society organization. The SLG people regarded SLG is a quasi-government organization, even though they are incorporated as an NPO. They knew they had been mobilized by the government for the purpose of cost cutting. Even now, more than ten years since the organization’s establishment, this frustration remains among the volunteers. Some NPOs, like SLG, were indeed established at the behest of local governments, which sponsored NPOs as a more cost-efficient means of delivering services that the state could no longer afford to provide. This subcontracting
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enabled the government to provide the same social service at a minimum cost through the mobilization of community volunteers. While demographic change or aging accelerates, Japanese ‘civil society’ has been formed partly as a neoliberal attempt to outsource expensive care-related work. Thus, one item on our research agenda is exploring solutions to their frustration and finding ways to be independent of the government’s control. My first book The Failure of Civil Society? (2009) documents the grassroots struggle between ordinary citizens and the local government that developed in the late 1990s and mid 2000s.
SLG TEN YE ARS L ATER In summer 2012, I visited SLG for the first time in a year. Compared to a decade ago, I would say that many volunteers and secretariat staff have been replaced, and new people have joined. The majority of new volunteers are people who have recently retired – from Japan’s first generation of baby boomers, born between 1947 and 1949. They were coming back to their local communities, and SLG became a place for them. The total number of volunteers has not changed much, though. Another difference is that SLG’s neighborhood is becoming a sightseeing spot in Tokyo. Just a couple of kilometers away from SLG’s building, the Tokyo Sky Tree the tallest freestanding tower in the world was built in 2012. The formerly traditional Tokyo neighborhood is becoming one of the most popular tourist destinations in Japan. One major problem that SLG now faces is actually related to this Sky Tree tower. The Sky Tree opened a planetarium with state-of-the-art technology that is operated by a major Japanese camera manufacturer. Meanwhile, SLG also had a planetarium attached to the lifelong learning center in which SLG was housed. It has been operated by SLG under a yearly contract with the ward government since April 2002 when I was a secretariat staff member. This type of collaboration popularly called kyōdo in Japanese between NPOs and the government in policy making and implementation has been a fashionable administrative technique since the enactment of the 1998 NPO Law. Such policymaking intends to facilitate successful, effective policy implementation while achieving cost cutting. The SLG planetarium was very old, one of the few public planetarium facilities left in central Tokyo. I visited it several times and left with the impression that it was very cozy with a good atmosphere. SLG volunteers took responsibility for creating the learning programs projected in the planetarium. As part of their science classes at school, third-grade students in Kawazoe and its neighborhood municipalities regularly visited the planetarium, and SLG volunteers mostly the elderly handled the logistics for their visits. The SLG planetarium
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thus offered an important place for exchanges between generations in the local community. One of the volunteers who took leadership in coordinating the projection program was a retired scientist and told me that she was happy doing this volunteer work because she enjoyed nurturing the local children’s curiosity of the universe. However, in August 2012, the ward government suddenly told SLG that they would no longer continue the entrustment contract, starting in April 2013 with the beginning of the next fiscal year. The end of the contract simply meant that the SLG planetarium would likely be forced to close because of a financial deficit. The SLG volunteers were surprised, and some were even angry because the planetarium operation had gone smoothly without any major trouble. Some, on the other hand, had anticipated that this would someday happen. They knew that the planetarium facility was old, having been built more than two decades ago, and that some parts would not be available when the inevitable breakdowns would begin to occur. The government had already told SLG that they did not have enough money to replace it. I had a chance to talk to one government official about the government decision. He pointed out to me the opening of the new planetarium attached to the Tokyo Sky Tree. The Sky Tree is located one subway station away from SLG, and it takes only 15 minutes to go there on foot. Under this situation, the old SLG planetarium was not likely to get many general visitors. The government was also considering transferring the third-grade students’ regular visit to the new Sky Tree planetarium. Further, operating the old planetarium was costly: The total of 42 million yen spent for operating costs in 2011 included 20 million yen of personnel expenses for four staff members, 17 million yen for maintenance, and the rest for taxes and miscellaneous. “We are not eligible to say anything against the government’s decision,” the president of SLG told the volunteers. His rationale stemmed from the fact that SLG is a business partner with the government under the annual entrustment contract. “If the government says no, we just follow the decision.” The president’s logic was supported by the general secretary of SLG, a former government official who took his current post after his retirement, and by the ‘invited’ volunteers, who are still powerful as core members of the current SLG volunteers. “Since I am a tax payer, a user of this planetarium, and also a resident of this ward, there are reasons to say something against the government’s decision,” one SLG volunteer responded to the president’s comment. Indeed, a solid number of people were against the president’s stance. The leader of this camp was Mr. Iwata, one of my key research collaborators since 2001, who became a director of SLG in 2009. The two of us are of the same generation and I have developed a good relationship with him over the past ten years. I also joined this camp with him. Mr. Harada former SLG president was also a collaborator
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with us. When I was at the SLG secretariat, I went to his office to speak directly with him about my research. He is a local landlord who has played a key role in the associational life of Kawazoe. In order to formulate a strategic response to the president’s logic, Mr. Iwata and I attempted to form a network group for jointly generating knowledge to improve this difficulty facing SLG. Our network was diverse: it included Mr. Harada; Mrs. Takata, a former SLG vice president; and two government officials who played a significant role in establishing SLG and supporting the SLG activities, in addition to SLG volunteers and local residents who wanted planetarium operations to continue. In fact, one neighborhood association near SLG started to collect signatures to support the current operation of the planetarium, aiming to submit them to the mayor. Meanwhile, we developed an e-mail list for sharing information and organizing ideas because of events that had placed limitations on our ability to communicate physically. Mr. Iwata, an engineer in a mobile phone company, was transferred to Osaka in May 2012, even though he was still a director of SLG and often came to Tokyo; Mrs. Takata needed to be at home to take care of her 90-year-old mother. Thus, e-mail exchange was a realistic way for most of us to communicate for the time in question. Meanwhile, Mr. Iwata and I (because I am a researcher with relative flexibility, compared to the others) arranged several direct meetings with the research collaborators to augment our e-mail communication. The mailing list included some 30 stakeholders in this issue.
N E W POSSIBILITIES E XPLORED First of all, in our e-mail exchanges, we confirmed that a main goal was to protect the employment of SLG’s paid staff members who were in charge of the planetarium operation. We considered several ideas: Would it be possible to start up a new business by using the current (though old) planetarium facility? Or, could we cut costs to generate salaries for the current staff members? SLG had hired four staff members for the planetarium operation, but one of them was scheduled to leave in March 2013 for personal reasons. Thus, we needed to think about the salaries for the three remaining staff members, which meant we needed to generate 15 million yen (5 million yen x 3) per year. One suggestion that came from the mailing list was to review current actual costs. For example, we found that SLG spent 10 million yen per year in publication costs for its monthly newsletter. Someone on the e-mail list proposed that if we were to publish the paper bimonthly instead of monthly, the cost would be half, leaving enough to fund one person. We performed other similar calculations with the rest of the budget.
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As we worked, our anger toward the government was amplified. We realized that the SLG planetarium operation had been a collaboration between citizens and the government. One network member said: This is not a simple business contract or an administrative thing. I don’t think we volunteers are expected by the government to make a lot of money through the SLG planetarium operation. If they wanted money, they could make an entrustment contract with for-profit corporations, instead of non-profit corporations like us.
Another member said, How does the government think of its relationship with us citizens? The management of the planetarium itself is an issue that the government is responsible for. If the current management style is going to fail and no profit can be expected because of the newly created Sky Tree planetarium, the issue is not our fault, but obviously the government’s fault. In a sense, I would say that our planetarium staff members are victims of the government’s mismanagement. Why are they and their families going to be lost under the current bad economy?
Yet another volunteer said, “Volunteers played a significant role in developing citizens’ activities in the local community. If the planetarium were closed, we would lose a key place for volunteering in the local community”. Our conversation gave us a good chance to reflect on the position of planetarium volunteers within SLG. Because the planetarium volunteers require special skills and training in handling the facility, they did not interact with other SLG volunteers in the daily operation. In fact, the planetarium volunteers were relatively young compared to other volunteers at SLG, and they were very interested in science and space. Further, some of the current planetarium volunteers pointed out that their tasks have to be limited to entrustment-related work and activities. However, the planetarium volunteers belonged to the Planetarium Operation Department, an independent department within SLG that was not part of the government. Thus, they could create something new. They could collaborate with other SLG volunteers and could plan lifelong learning courses – the main business of SLG. For example, they could create some courses that would use the dome-shaped facility (or the planetarium). It would also be a nice place for music concerts. Some even proposed that the planetarium could be used as a wedding hall. A completely a new business for SLG was a possibility.
M ISSION RE - CONFIRMED One of our network members Ms. Miyabe, the SLG director in charge of planetarium operation had a chance to talk to a planetarium user while exploring several
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new prospects. The user, who was visiting the SLG planetarium with her small children, already knew that there was a possibility the planetarium would be abolished. She asked Ms. Miyabe, “What will happen to current users like us if the SLG planetarium is closed?” Ms. Miyabe responded, “You might want to go to the Sky Tree planetarium…” to which the user responded, “No. What you mean is that the opportunity [to visit the new planetarium] will be guaranteed, but the quality [the SLG planetarium provides to the local user] would not be guaranteed.” Ms. Miyabe disclosed this episode to the members of the mailing list, startling all of us into the realization that we had, in a sense, forgotten our real mission. Ten years after SLG was established, the organization itself may have matured. The reality, though, was that we had begun to forget our mission as the NPO that we (in a strict sense, the former SLG volunteers, as most of us are relatively new) had created in 2000. The original mission of SLG was to create learning for local residents by the local residents themselves. Our network members were driven mainly by the original logic in terms of staff members’ employment, volunteering opportunities, cost-benefit analysis, organization, money, etc. However, we should have realized that the users would be the most troubled following the government’s decision on the SLG planetarium. The users were local residents – in particular, elementary school students. Thus, we started to reflect upon what kind of learning the local residents had themselves created and what kind of learning programs we offered to our the local residents as users in the planetarium. We then listed what SLG offered to our users, and our list highlighted the differences between ours and the commercial planetarium, as follows: •
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Our learning projection is always conducted by trained specialists (staff members), and a Q & A session follows the projection. SLG volunteers assist at the projection, including content making, and facilitate the Q & A session. Interaction always occurs between our specialists and the users. Such personal attention is never expected in a commercial planetarium, which is usually like a movie theatre. Our specialists have developed a strong network with science teachers at the local elementary school and can respond to any request from the local teachers in a flexible manner. In other words, the projection content is flexible, able to be modified based on both the students’ learning needs and the teachers’ requests. We also offer a special projection program to students who are going to summer camp so that they are well prepared for what they will experience. We have a free projection program for local kindergarten children. We have a reduced-price projection program for local mothers and children. We can accommodate the handicapped and the elderly. On all occasions, SLG volunteers always assume full responsibility for offering these services with the trained specialists.
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About the same time we made this list in September, Mr. Harada the former president of SLG and three SLG volunteers sat in on the education committee meeting of the ward assembly. Asked about the entrustment contract with SLG on the planetarium operation, Ms. Kaneta head of the lifelong learning section on the Board of Education – responded: I understand that it is not necessary to have the learning projection for all of our school children because that is not defined in the current teaching guideline made by the education ministry. However, students in this ward can continue to see the project at the Sky Tree, and we could arrange it if there is a demand from our local schools. But, I don’t think we need to take care of the students from our neighboring wards, although the SLG planetarium is currently accepting them. That is not our responsibility since they are coming from outside [of this ward].
Mr. Harada and SLG volunteers were annoyed with this comment, which was made by a young education bureaucrat who had been dispatched to the ward government from the Tokyo Metropolitan government. As SLG people, we believed it was our responsibility as adults to make sure that children, regardless of where they were from, are not disadvantaged. It was apparent that the quality of service would deteriorate if this policy were carried out. Instead, we believed that we should develop a user-centered approach or, in this case, a child-centered approach. That is what we could offer; meanwhile, the government was looking only at the cost-benefit analysis. Since our establishment, we have made serious efforts to offer benefits to local users as the goal of our daily operations. If the new planetarium option were to provide the same content as SLG does at a cheaper price, nobody would complain. However, that is not the case. The cost itself is probably less since the government will pay only a discounted groupentrance fee for the Sky Tree planetarium with no additional costs, such as personnel fees; but the service content itself will not be the same. Nobody will respond to children’s questions, for example. Thus, current users/taxpayers were not willing to accept the change. What the ward government was doing went against the ten-year achievement that SLG and the government had jointly produced. SLG was greatly contributing to the public welfare in the local community through the volunteers’ personal care. Even though it did, indeed, cost a certain amount of money, our work was in line with our mission – that local residents themselves would create learning for local residents. In my previous work (Ogawa 2009), meanwhile, I have located Japanese NPOs or ‘civil society’ as a form of agency in neoliberalism, a dominant ideology in contemporary global politics and economies. As such small government ideology is expanding to the local level, the government has taken advantage of the 1998 NPO Law. A decade ago, the ward government actively transferred or pushed what was originally the government’s job to SLG
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under the name of cost cutting. Now, the government seems to be transferring the job from the civil society organizations to commercial-based entities, which are even cheaper and can develop more business-like relations. In this process, the meaning which SLG volunteers have found in the policy collaboration with the government has never been discussed. It is ironic that I must always think about the role of government when I do research on civil society.
TOWARD THE NE X T CYCLE In early October, the government finalized the budget for the next fiscal year (starting April 2013) and officially decided to end the entrustment contract with SLG on the planetarium operation, which means the loss of more than 40 million yen for SLG. However, the government told SLG that they could use the planetarium facility if they wanted to pay for it because SLG had developed their own content for the planetarium projections. Further, for the time being – for only a year – the government will pay for SLG to employ the three staff members currently in charge of planetarium operations. During this period, SLG will be able to build up a new business strategy for the planetarium. In fact, I heard from one government official that SLG volunteers directed a certain amount of pressure toward the government after they had observed the education committee meeting of the ward assembly. The former government officials who are currently in our network group informally told the government about SLG volunteers’ frustration and anger against the government’s decision concerning planetarium operations. This case demonstrates SLG’s weak advocacy capacity as a civil society organization. It is true that the time they had to act was extremely limited: it was August when SLG volunteers first knew that the government was considering ending the planetarium contract, and the deadline for decisions on the next year’s budget was the end of September. Thus, it was difficult to develop a campaign against the government, mobilize the entire SLG community, and create solid alternatives to submit as a proposal to the government in two months. However, following our discussion primarily via e-mail exchange, several new developments happened at SLG. First, SLG volunteers began to consider possibilities for a new business with the current planetarium staff members. Further, several relatively new volunteers who were on the mailing list, such as Mr. Asada and Mrs. Nakata, took a leadership role in building a study group within SLG. This study group intends to review the history of SLG – why SLG was established as an NPO and what we can and should pursue. In other words, the study group will directly address SLG’s mission. Mr. Iwata my research collaborator also took part in this effort. I was not involved with this development at all, however. I was just an observer.
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The first study group meeting was held in mid-October. The group invited Mrs. Tasaka, a retired government official and former director of the lifelong learning department in the ward government. She played a significant role in establishing SLG in the late 1990s. Mrs. Tasaka was also on our mailing list, and she was very supportive to us, giving insider’s knowledge about the government’s decision making. Mrs. Tasaka re-confirmed the SLG mission – creating learning for local residents by the local residents themselves. Although I have described SLG as the direct result of government-led NPO-ization (Ogawa 2009), it was also a collaborative project by local residents and some government officials like Mrs. Tasaka (I would say, in particular, pro-citizens’ activities officials). Having such support from within the government, the volunteers at SLG have actively developed the organization’s unique learning activities based on their mission. Such a style sounds unique because civil society organizations should be viewed as being independent of the state. However, since its establishment in 2000, this is the style that SLG, one of the biggest Japanese NPOs promoting lifelong learning, has been pursuing as a citizen-based group deeply embedded in the local community. This collaborative style, which might be called ‘GoNPO’, is a major feature of Japanese NPOs. One volunteer who attended the study group pointed out, “Because we do not share our mission among us, our activities sometime lose direction. I am worried that people outside SLG can’t understand what we are doing.” Indeed, the planetarium case has provided a great opportunity for SLG (as well as the government) to reflect on their organizational history, business strategy and learning program. As a specific next step, Mrs. Tasaka actually proposed that SLG make a mid-term (3-5 year) plan; the task should definitely aim to re-confirm or regenerate their mission through the evaluation of the current activities. When I left SLG at the end of my visit, I had a chance to talk with Mr. Aota the current SLG president over a cup of coffee. He was a vice-president when I was a secretariat staff member. Mr. Aota and I shared a sense of crisis concerning the current situation at SLG, especially after the planetarium incident. Our conversation ended with a plan to create a dynamic, participatory evaluation process of our own activities at SLG for 2015 – the 15th anniversary of SLG’s establishment. We considered a diverse group of people who could participate in the evaluation process, including current and former SLG volunteers, former and current government officials, former and current SLG directors and secretariat staff members, local users, etc. Thus, our action research project at SLG never ends; the next cycle of research has already begun.
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N OTES Because of the confidential nature of the materials upon which this paper draws, no identifying individual names for data sources are provided.
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A brief overview of the potential (pitfalls) of CA in research with cognitively impaired individuals Hilke Eng fer
D ISCOURSE STUDIES AND COGNITION In this “decade of the brain” (Jones et al. 1999) there is a strong tendency to study cognition hand-in-hand with progress in the neurosciences. Yet, an increasing number of cognitive scientists have recognized that cognitive skills are often difficult to assess under lab conditions (see Eysenck/Keane 1995). The discrepancy between people’s routine cognitive achievements in everyday life and their often poor performance under lab conditions is evidence of the fact that, as Norman (1993) puts it, “the power of the unaided mind is highly overrated” (Norman 1993: 43). Cognition needs to be studied “in the wild” (Hutchins 1995) with the methods of social scientists, since it involves language and social interaction. In fact, these phenomena which are usually summarized under the umbrella term cognition, i. e. memory, learning, linguistic performance, and comprehension, enjoy equally high and long-established interest from those disciplines traditionally more interested in the social level of analysis, for instance sociology, ethnomethodology, and conversation analysis. Representing a social scientific perspective, Lynch (2006: 96) therefore thinks that “a decision to join the cognitivist movement might seem (to pardon the expression) ‘a no-brainer’ for those associated with ethnomethodology and conversation(al) analysis (ethno/CA)”. Before explaining his position, he nevertheless highlights reasons for joining: We can trade the sense of isolation that comes from being part of a small, scattered, fractious, and possibly declining field, for the sense of being part of a vibrant, robust, and forward-looking science of human behavior. Moreover, for many of us there may seem to be solid intellectual reasons for joining the movement, because, after all, we already study empirical phenomena such as speech production and recognition, recollec-
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tion and forgetting, perceptual reports, and categorization. The fact that the cognitive sciences are now open to the ideas of ‘distributed’ and ‘situated’ cognition taking place in everyday settings should further encourage us to join the larger movement (ibid.: 96f.).
For Lynch, ‘joining the movement’ apparently means ‘switching teams’ rather than ‘joining forces’. Hence, he concludes that there are “good reasons to resist the allure of cognitive science” (ibid.: 97) as ethnomethodology and CA can instead offer an alternative empirical treatment of cognitive activities. That is, a focus on “pragmatic actions or performances that evidently involve perception, recognition, recollection, and so forth” (ibid., emphasis in the original).
W E CANNOT BR ANCH OUT WITHOUT ROOTS Arising within sociology, ethnomethodology emerged in the heydays of the ‘cognitive revolution’ that swept across the social sciences in the 1960s, placing a novel emphasis on participants’ orientation to social and cultural constructs. Within a sociological context in which the dominant approach to the analysis of action was the product of the classical Parsonian framework, Garfinkel was considered a renegade and his approach radically new. Central to the dominating Parsonian perspective was a tripartite analytic conception of cultural, personality, and social systems in which cultural values, once internalized as personality dispositions, were conceived as the causal drivers of social behavior. Within this perspective, mutual understanding and shared communicative meaning were treated as the unproblematic outcome of pre-existing common knowledge of language and cultural symbols (Goodwin/Heritage 1990: 285).
Writing his doctoral thesis under the supervision of Parson, it was Garfinkel who massively criticized this conceptual approach to action that prepared the way for macro social systems analysis. He coined the term ethnomethodology to offer an alternative view that does not set aside a detailed empirical analysis of social action and interaction. At the heart of this approach is thus to produce “studies of practical activities, of common-sense knowledge, of this and that, and of practical organizational reasoning” (Garfinkel 1974: 18). More particularly, ethnomethodology’s “central recommendation is that the activities whereby members produce and manage settings of organized everyday affairs are identical with member’s procedures for making those settings ‘account-able’” (Garfinkel 1967: 1).That is, as individuals in a society go about their everyday practical affairs, their observable actions and practices display their own methodical basis. An action and its context are reflexively related – the action being shaped
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and made meaningful by its context while the context itself is constantly being redefined through action. According to Garfinkel, the orderliness of social life is therefore produced through the moment-to-moment work of society’s members. Ethnomethodology’s task is then to explicate just how this work is done. We also want to introduce the works of Erving Goffman as he is frequently associated with the ethnomethodologists’ camp, and the following summary shall turn the attention to the question yet to be answered: Which methods of data collection do ethnomethodological studies employ to achieve their goal? For Goffman, social order is based on the collective maintenance of particular definitions of the situation which allow the systematic exclusion of ‘troubles’: [We] have then a kind of interactional modus Vivendi. Together the participants contribute to a single over-all definition of the situation which involves not so much a real agreement as to what exists but rather a real agreement as to whose claims concerning what issues will be temporarily honoured […] Ordinarily the definitions of the situation projected by the several different participants are sufficiently attuned to one another so that open contradiction will not occur (Goffman 1959: 9f.).
Goffman argues that individuals are expected to suppress their “immediate heartfelt feelings” (ibid.: 9), conveying a view of the situation which he feels the others will be able to find at least temporarily acceptable. However, based on his recordings and field notes on interactions on the Shetland Islands, Goffman is able to provide striking examples that show that “[m]any crucial facts lie beyond the time and place of interaction or lie concealed within it. For example, the ‘true or – real’ attitudes, beliefs and emotions of the individual can be ascertained only indirectly, through his avowals or through what appears to be involuntary expressive behavior” (ibid.: 8): Knowing that the individual is likely to present himself in a light that is favourable to him, the others may divide what they witness into two parts; a part that is relatively easy for the individual to manipulate at will, being chiefly his verbal assertions and a part in regard to which he seems to have little concern or control, being chiefly derived from the expressions he gives off. The others may then use what are considered to be the ungovernable aspects of his expressive behavior as a check upon the validity of what is conveyed by the governable aspects. In this a fundamental asymmetry is demonstrated in the communication process, the individual presumably being aware of only the stream of his communication, the witnesses of this stream and one other. Now given the fact that others are likely to check up on the more controllable aspects of behaviour by means of the less controllable, one can expect that sometimes the individual will try to exploit this very possibility, guiding the impression he makes through behaviour felt to be reliably informing (ibid.: 7).
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What Goffman tried to capture with the help of ethnographic methods is what Malinowski called imponderabilia of actual life. The anthropologist Malinowski was a pioneer in emphasizing the importance of detailed participant observation. He argued that anthropologists must have daily contact with their informants in order to adequately record “a series of phenomena of great importance which cannot possibly be recorded by questioning or computing documents, but have to be observed in their full actuality” (Malinowski 1922/1961: 18f.). For his seminal book Asylums. Essays on the social situation of mental patients and other inmates (1961), Goffman therefore undertook a year of field research at St. Elizabeth’s Hospital (Washington, DC). Merging the goal of the ethnographer with the ones of ethnomethodology, Goffman posed as a pseudo-employee “to grasp the native’s point of view, his relation to life, to realize his vision of his world” (Malinowski 1922/1961: 25). Experiencing the everyday life of the ‘hospital world’, Goffman gathered ethnographic data on selected aspects of the patients’ social life and presented a ‘partisan view’ in order to faithfully describe the patients’ situation. He was criticized for exclusively focusing on the perspectives of the patients and omitting the voices of the staff members. Yet, his work is considered to be one of the first sociological examinations of the social situation of mental patients as subjectively experienced by the patients themselves (Weinstein 1982).
THE EMERGENCE OF CONVERSATION ANALYSIS Conversation analysis (CA) developed as a field of study in the 1960s through intense collaboration among the sociologists Harvey Sacks, Emanuel Schegloff and Gail Jefferson. Sacks in particular was heavily inspired by Goffman and Garfinkel and the novel idea to research “the objective reality of social facts as an on-going accomplishment of the concerted activities of daily life” (Garfinkel 1967: vii) and actions ‘from within’ actual settings, as on-going accomplishments of those settings” (ibid.: viii). Sacks is widely acknowledged as the founder of CA. For different reasons, however, it is difficult to put Sacks’s works in one line with modern CA. Despite the title of his posthumously published works (Lectures on Conversation, 1992), Sacks used in his lectures not only transcribed conversations, but also newspaper articles, ethnographic accounts, training manuals for psychotherapists; a very broad variety of effectively ‘found’ objects that, as Sacks repeatedly said, he “just happened to have” (Sacks 1992: 292). Although he could draw on extensive data he had recorded (in a fashion not unlike Goffman’s practices) while working at a helpline, his approach to data collection differs in that his view was that cultures exhibit “order at all points” or “in all venues” (ibid.: xlvi). That is, if one has an instance of the generally available (and observable) ‘machinery’ that generates cultural ob-
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jects such as, for instance, a psychiatric diagnoses, then any instance will do. If the cultural order is visible there, it will be visible in every instance. Therefore, conversations ought not to be thought of in any way as particularly privileged ‘fragments’ of everyday social action. Ever since his untimely death in 1975, conversation analysis has established itself across disciplinary boundaries as one of the most popular methods used for the analysis of the underlying social organization through which orderly and intelligible social interaction is made possible (Goodwin/Heritage 1990). However, as the following section on conversation analytic research in health settings shall highlight, the importance of the ethnomethodological basis of CA has weakened and analysis is in many cases restricted to verbal language.
O VERVIE W OF CONVERSATION ANALY TIC RESE ARCH IN HE ALTH SE T TINGS
Over the last three decades, conversation analytic (CA) studies have illuminated some of the fundamental organizational features and interactional processes in a broad array of medical encounters. Investigations of interactions between physicians and patients have been a cornerstone of this field since the early 1980s. Beginning in the late 1970s, a few conversation analysts began videotaping primary care consultations. Their work shares with other types of observational research in the sociology of medicine (e. g. Silverman 1987; Byrne/Long 1976) a concern to witness and document naturally occurring social interactions in medical settings. These days, CA is increasingly being used to analyze conversations with people with neurogenic language disorders because “it allows for the description of how trouble in a conversation is signaled, how it is repaired and to what extent these conversational repairs are successful” (Watson et al. 1999: 195). Schegloff, Jefferson, and Sacks (1977) distinguish between several interactional types of repair. First of all, there is a distinction between the initiation of repair after a trouble-spot (‘initiation’) and the potential outcome of the repair (‘correction’). Not all repair-initiations need necessarily lead to the correction of the item in need of repair. Levelt (1983) calls this the reparandum, and the repair-item itself the reparans. As far as repair-initiation is concerned, Schlegloff, Jefferson, and Sacks (1977) make a distinction between initiation by the speaker herself (‘selfinitiation’), or initiation by another participant (‘other-initiation’). Accordingly, there is correction by the speaker herself (‘self-repair’) and correction by another person (‘other-repair’). Altogether this system allows for four different scenarios: self-initiated self-repair, self-initiated other-repair, other-initiated self-repair, and other-initiated other-repair. There is agreement in CA that self-repair is always favored and self-initiated other-repair virtually impossible (Levinson 1983).
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In their conversational data that includes one patient with Alzheimer’s disease, Watson et al. (1999) identified and analyzed trouble-indicating behavior, specific repair types, and the successfulness of these repair types. They claim that trouble-indicating behavior signals a “breakdown” in the conversation (ibid.: 195). Whilst the authors acknowledge that indicating trouble is an interactive enterprise, they state that the “normal partner” (ibid.) is the one who carries “a greater burden” (ibid.) negotiating the repair sequence. Concerning the role of the individual with Alzheimer’s disease in these interactions, Watson et al. claim that “there were more instances of inappropriate repair by individuals with AD that were sometimes accepted by the normal partner in an attempt to preserve the self-esteem of the subjects with AD or to maintain the flow of conversation” (ibid.: 216). Or, as Small et al. (2003) put it: “Caregivers carry the burden of managing breakdowns in communication because people with AD are often unable to modify their communicative behaviour” (ibid.: 353). In their study, Gentry/Fisher (2007) define two types of listener repair responses: indirect and direct repairs. They claim that there are two repair types: in an indirect repair, the listener paraphrases the speech of the person with Alzheimer’s disease, while in a direct repair response, the listener interjects with corrective. They conclude that indirect repair responses may decrease “the risk of excess verbal deficits” (ibid.: 97). In line with their argumentation they hence recommend that caregivers should “reinforce rather than punish verbal behaviour” (ibid.: 97) and thereby improve the “‘quality’ of life” (ibid.) for both parties. The problem we identify in these studies is that they contextualize and employ CA’s notions of trouble and repair in a way that comes dangerously close to Chomsky’s ideal speaker. As described earlier, this, however, is at odds with Harvey Sacks’s unconditional commitment to focus on how participants create meaning themselves. Contrary to his belief and motivation, the discussed studies rely on the researcher’s preconceived notions and definitions of interaction instead. This pattern in discourse studies with individuals who suffer from cognitive impairment is alarming. First of all, certain features of speech such as word substitutions, pauses, and a slowing down, are established as markers of the deterioration of communication. Based on this assumption, an increasing number of research therefore aims at developing communication strategies for family caregivers and trained staff. These studies agree in advising families and skilled staff to modify their communicative behaviors – almost exclusively linguistic behavior, such as simplified speech (Kemper et al. 1994) – to avoid outbursts of anger or anxiety. This in turn will affect their own emotions through reducing frustrating experiences. Accordingly, one can find a high number of studies that focus on verbally aggressive outbursts (Spayd/ Smyer 1988) and negative accusations (Green/Linsk/Pinkston 1986). In Savun-
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dranayagam et al. (2007), we can find “communication-enhancing strategies” (ibid.: 47). Among other strategies they focus on simplified language, concluding that “simplified language enhanced those effects by showing staff as less patronizing and residents as more competent” (ibid.: 62). Yet, this representation of selfhood is the legacy of Western philosophy’s tendency to split mind from body in a Cartesian fashion and to position the former as superior to the latter. Consequently, lucidity and clear communication in the face of advanced Alzheimer’s disease seem to be inexplicable, given that cognition and memory have come to be equated with selfhood in Western culture (Basting 2003 in Kontos 2006). There are thus deep philosophical roots to the prevalent assumption that cognitive impairment implies a loss of selfhood. In this sense, the presumed existential erosion of selfhood is, to a large extent, owed to a certain philosophical inheritance (Kontos 2006). Pia Kontos (2003; 2004; 2005; 2006) challenges the mind/body dualism that underlies the assumed loss of selfhood in this particular understanding of Alzheimer’s disease, endorsing a theoretical framework of embodiment. In her seminal ethnographic study of an Orthodox Jewish Alzheimer’s support unit in Canada, Kontos (2004; 2005; 2006) explored the notion of selfhood in the face of severe cognitive impairment. She integrates Merleau-Ponty’s (1962) radical reconceptualization of perception and Bourdieu’s (1977; 1990) theory of the logic of practice (see for instance Kontos 2004: 830ff.). Drawing in particular on the works of Merleau-Ponty, an embodied understanding of cognition is manifest in her perspective. Kontos approaches the body focusing on its “concrete, spatial, and pre-reflective directedness toward the lived world” (2006: 203), endorsing an understanding of the “active presence of the past in the body itself” (ibid.: 209). From this perspective, contrary to studies cited above, the construction of self is not reliant on language per se, it can be “enacted in the actual movements of the body” (ibid.: 209). Shifting the focus on appearance, etiquette and dance, for instance, [T]he residents did not communicate with each other with words alone. Gestures, movements of the body, limbs, hands, head, feet and legs, facial expressions (smiles, frowns), eye behaviour (blinking, winking, direction and length of gaze and pupil dilation) and posture carried implication and meaning. Constantly and everywhere these gestures were employed. They played a large role in inter-personal communication, and often conveyed praise, blame, thanks, support, affection, gratitude, disapproval, dislike, sympathy, greeting or farewell. Slight head nods, eye and small lip movements, chin thrusts, shoulder nods, hand and finger movements, as well as leg and foot shifts were intentional, informative, communicative and interactive. A short sequence of acts might signal for another resident’s attention: a directed gaze towards another person, a smile, a lift of an eyebrow, a wave, and a quick head nod. Likewise, gaze avoidance sig-
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nalled a desire not to communicate, often accompanied by particular body movements or postures, such as turning away (Kontos, 2004: 835).
Considering the remarkable observations in her studies, we are certainly with Kontos when she argues that [i]f we could shift the discourse on selfhood in Alzheimer’s disease towards a greater recognition of the way that humans are embodied, it would critically challenge the widespread presumption of the loss of agency with cognitive impairment. It would do so by disentangling selfhood from the cognitive categories upon which long-standing notions of selfhood are presumed, and it would ground selfhood in corporeality. Rather it promotes a perspective on the body and selfhood that provides new insight and direction for future investigation of Alzheimer’s disease, and more broadly of embodied ways of being-in-the- world (Kontos 2004: 846).
A DISTRIBUTED VIE W ON L ANGUAGE AND CA Charles and Marjorie Goodwin promote a very similar perspective in their research on the active participation in conversations of individuals who suffer from brain damage. Through changing participation displays, including concurrent assessments and appropriate use of the visible body, hearers not only co-construct an assessment being given voice by another speaker but, more importantly, display through their embodied actions their detailed understanding of the events in progress. Hence, the focus is not just on the (proper) language abilities of the individual whose brain has been damaged, he takes as the basic unit of analysis sequences of talk constructed through the collaborative actions of multiple parties. In particular the Goodwins’ research with ‘Chil’, a New York lawyer who after having had a stroke is left with the ability to produce merely three distinct words (yes, no, and), provides striking examples of distributed cognition (Goodwin 1995; 2000; 2002; 2003; Goodwin/Goodwin 2000). In contrast to the studies presented above, Chil’s communicative ‘problems’ are never contextualized in the light of declining cognitive functions. In fact, what Goodwin focuses on is how Chil gets others to produce the words he needs by embedding his talk within sequences of action co-constructed with his interlocutors. If the analysis were restricted to the structure of his utterances in isolation, most of his competence in understanding and using language to build meaningful action in concert with others would be hidden. Thus, the Goodwins (2000) show that someone who is not able to produce multi-word utterances on his own might nevertheless display detailed understanding of the talk in progress, by performing relevant participation displays at appropriate places. Hence, the authors develop an approach to the analysis of action within
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interaction that takes into account the simultaneous use of multiple semiotic resources. This means different kinds of signs are identified that are produced in different media which mutually elaborate each other. Goodwin (2000) calls these “semiotic fields”. According to Goodwin, new semiotic fields can be added [as action unfolds], while others are treated as no longer relevant, with the effect that the contextual configurations which frame, make visible, and constitute the actions of the moment undergo a continuous process of change. From a slightly different perspective, contextual configurations provide a systematic framework for investigating the public visibility of the body as a dynamically unfolding, interactively organized locus for the production and display of meaning and action (Goodwin 2000: 1489).
In investigating action as contextual configurations, the Goodwins bridge the (disciplinary) analytical gap between language and material structure, analyzing both as integrated components of the process of the social production of meaning and action. The emphasis is on cognition as a public, social process embedded within a historically-shaped material world. In showing how meaning arises as gestures are coordinated with verbal activity, the Goodwins document that “[h]uman sense-making integrates wordings with what we hear, expectations, physical events and, indeed, contents of working memory” (Cowley 2007: 8).
C ONCLUSION There is a risk of prioritizing the positioning of one’s research along the lines of the Cartesian tradition sketched above. We argued that in certain studies the symbols therefore attract a lot more attention and hence analysis is preoccupied with the discursive constructs and definitions instead of reality itself. Livingston (2008) urges contemporary conversation analysis to remember its ethnomethodological roots – all too often studies are mere collections of and examples of ‘droning with data’. Instead he states that analysis should consider the ways in which these ‘fragments’ (as used in the sense above by Harvey Sacks) may be part of the observable social order. Where the study of conversational talk is divorced from its situated context it takes on the character of a purely “technical method” and “formal analytic enterprise in its own right” (Rawls 2002: 41) – it is no longer a form of ethnomethodology understood in the traditional sense as it ignores the fundamental principle in ethnomethodology of the embeddedness of talk in a specifically situated social order. The “danger”, as Rawls (ibid.) notes, is that CA in this sense becomes just another
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formal method which brings an analytical toolbox of preconceptions, formal definitions and operational procedures to the situation/setting under study. Based on ethnographic methods, researchers are able to provide a thoroughness and thickness of description of how meaning and remembering evolves dialogically rather than by essentialising the self. Kitwood (1993) highlighted the importance of relationships with patients suffering from Alzheimer’s disease. Therefore, it is crucial to produce further empirical data on the lived relationships, as the environment and relationships become most important. At the same time, there is a need to produce more studies that no longer assume the independence of participants’ cognition, emotion and actions, to help restore the voices of those whose verbal language is long lost. This cross-disciplinary endeavor will broaden our understanding of the range of abilities and disabilities, which in turn will help in the development and evaluation of treatments and therapies “as we work toward solving the myriad mysteries that lie at the intersection of language, dementia, and society” (Hamilton 2008: 104).
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A brief over view of the potential (pitfalls) of CA
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To know, state, record and prove age in the inquisitorial documentation at the end of the Middle Ages Didier Lett
In the inquisitorial documentation, at the end of the Middle Ages, men and women are increasingly required to state their age, requested by judges, inquisitors, commissioners or notaries. The inquisitorial sources I use are the major canonization processes and smaller trials from the justice of the Italian towns of the late Middle Ages. The mention of age is often a part of an “identity card”, more or less rich, that was created at the beginning of the deposition of each witness. This “identity card” includes several elements: an anthroponymy composed by one nomen, followed by two or three or more nomina in a genitive form (like Berardus Thomassii Raynaldii…), names of the father and grand-father, honorific titles (nobilis, miles, dominus, domina) or epithets of honor (maginificus, potens, sapiens, discretus), signs of kinship, especially for women, with mediation of uxor and/or filia, terms of relationship between the two nomina (like Berardescha uxor Berardii, filia Thomassii), the mention of a region (parish, diocese, etc) and sometimes (almost exclusively for men) the mention of an occupation. So, what already seems important is that in the late Middle Ages, the age is frequently mentioned, a necessity when presenting a witness in the inquisitorial processes. It seems to be one of the most important components if we summarize what a witness is asked when he or she presents himself or herself in front of those who question him or her or is needed in order to identify a man or a woman: anthroponymy (and, thereby, the sex), title(s), attachment to a region, attachment to relatives (especially for women), age, and occupation. The primary question is: why does age become so important in this kind of identification process? When we study age, we can not separate these references from other elements of identity. I would like to give two examples to illustrate this remark. Studying the identity of witnesses, I have noted that the mediation of filius in a chain of names (nomina) refers to a young age for boys (but not for girls).
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Sometimes, diminutives indicate youth and are therefore associated with an early age, or, when there is no mention of age, the diminutive allows us to deduce the youth of the witness. Studying the anthroponymy of the Emilia (Italia) in the central Middle Ages, Olivier Guyotjeannin writes that diminutives in inus or in ucius have been a way to avoid homonymy with an older relative, especially with the parents, when they transmit to their child a nomen by repetition (when a father, named Robertus, calls his son Robertus). When the homonymous relative is dead or out of business, the name of his descendant can change from the diminutive form to the full form: Thomassucius, for example, becomes Thomassus or Thomas. Olivier Guyotjeannin (1994) evokes “a sort of onomastic majority”. We cannot detach the reference to age from the documentary context and the aim of the narrative: mention of age is never neutral. In the “letters of remission”, from 1380 to 1424, the victim’s age is mentioned in only 5 % of the cases while the accused’s age appears more often because in this kind of documentation, the mention of age is conditioned by the effect produced on the Royal Chancellery. So the “letters of remission” mention the age of younger persons more often because youth is a mitigating circumstance and therefore has no reason to be hidden (Gauvard 1991: 348–354). My study will be based on hagiographical sources (accounts of miracles), on some processes or trials, and especially (for parts I and II) on the canonization process of Nicholas of Tolentino, a member of the Augustinian order (Mendicants) of the Marches (Italy) who died in 1305 and for whom Pope John XXIInd accepted to open a canonization process in 1325 (Occhioni 1984); an analysis of this text can be found in Lett 2008). In this trial, there were 371 witnesses. We know the age of more than half of them: 188. In part III, I use other processes from municipal documentations in Italy and, more briefly, from England.
THE AGE OF THE WITNESSES The extreme ages to testif y If there is no lower age limit, except for the incapacity to give a testimony, there is a testimonial majority: 12 years for girls and 14 for boys. But it seems that in the reality of the canonization processes or others inquisitorial sources, the bar is set higher. It is very rare to see people testify before 18–20 years of age. In the canonization process of Nicholas of Tolentino, the youngest witness (witness 348) is 17 years old and the oldest (witness 246) is older than 94. The youngest women are 20 years of age (witnesses 301, 330, 355, and 362) while the oldest women are 60 years old (witnesses 238, 245, 276, 279, and 288).
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In others contemporary canonization processes, the commissioners have often accepted the deposition of younger people. In the process of Thomas Cantilupe (1307), we encounter three girls, aged 14, 15 and 19 years, and two boys of 16 and 17 years of age; in that of Louis of Anjou (1308), a girl of 9 years (surprisingly), one of 15, and another of 16; in that of Yves de Tréguier (1330), a girl of 16 and two boys of 12 and 15 years; in that of Charles de Blois (1371), a boy of 14 years; in that of Dauphine of Puimichel or of Sabran (1363), a girl of 16; and in that of Giovanni Bono (mid-13th century), a girl of 16 and four others of 18 years.
Old witnesses The distribution of age is dependent on the documentary context. One asks for older witnesses in a process of acquiring information on a person who has lived a long time ago: Nicholas of Tolentino died 20 years before his canonization process. He was born in 1245. He died at the age of 60. Those who knew him well were quite close in age to him. In this process, 76 men (almost 70 % of them) and only 29 women (nearly 38 %) were older than 40 years; 28 men (compared to 5 women) are older than 60 years (a quarter of the total). As it is mostly men who are interviewed on the fama sanctitatis and on the miracles in vita, it is logical that their age is higher. Guarantors of the virtues of the saint during his lifetime, they are necessarily, 20 years after the death of Nicholas, old people. Half of the 28 men are clerics (6 Augustinian, 1 Dominican, 5 secular clerics, and 2 regulars). The other half is constituted by lay magistri, notaries, and juris periti. Regarded as men of experience, these old male witnesses are often preferred in investigations or trials. This is the case, for example, in the Venetian justices Piovego (late 13th century to first half of the 14th century) (Crouzet-Pavan 1991: 192). It is obvious that age distributions do not give us any indication on the age of the population of Tolentino in 1325. Especially in this kind of process, there is a desire for increasing diversification of social status, sex, and age to show that the saint intercedes for everybody. The more varied the ages, the more universal is the intercessor and the more the success of the sanctuary is provided. The phenomenon is clearly visible in the accounts of miracles of Louis IXth (Saint Louis), reported by Guillaume (William) of Saint-Pathus (early 14th century), accounts which are written from the canonization process of Louis IX.: all social sets and age groups are represented. Among those who received a miracle, there are 13 artisans or laborers, 7 liberal or commercial professions, 5 farmers, 6 clerks, 5 noble men, 8 beggars, and 4 servants. There are, among adults, 22 women and 22 men, and, among children, 11 boys and 10 girls. The age of 18 of these children are noted: 21 months, 2 years and a half, 3 and a half years, 4 years (twice), 5 years (twice), 6 years, 8 years (twice), 10 years, 11, 13 (3 times), 14, 16, 16 and a half (see Chennaf/Redon 1983; Lett 1997: 33f.). This perfect equilibrium resulted from
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a conscious desire of the author (and/or the trial’s commissioners) to give the image of an ideal society in which harmony and order, disrupted for a time, is restored by the holy king, guarantor, even after his death, of the proper functioning of his kingdom.
Age, sex and social status The historian has just a written record of the age, without knowing if the witnesses were all asked to give their age or not. Why did some people mention age and others did not? Did they know it? It seems that there is a correlation between social level and mention of age. The age of witnesses with a title or an epithet of honor is noted far more often than the age of witnesses without these attributes. In the canonization process of Nicholas of Tolentino, the age of 22 priors or abbots from a total of 29 (nearly 76 %), of 26 magistri from a total of 39 (more than 66 %), and 6 domini from a total of 7 is noted. These percentages are considerably lower for those who did not have a title. We can deduce that persons bearing a title know their age better than others, that they are asked to state it more often than others, and that perhaps the commissioners and the notariés were more interested in this kind of information from witnesses belonging to a social or professional group close to them. The age of men is noted more often than the age of women: we know the age of 111 from a total of 196 men (56,6 %) compared to the age of 77 from a total of 169 women (45,5 %). Can this difference be explained by a lesser attention paid to women by the commisioners or by the greater incapacity of women to know and state their age? Before these large inquiries and inquisitorial processes (so before the 13th century) there already exist collections of miracle stories functioning in the same way: before recounting the miracle, the narrator presents the miraculously healed person or the witness. In these collections, witnesses are often the miraculously healed persons or their parents in the case that the healed person is a child. But since the papal commissioners were less demanding compared to canonization processes, the “identity card” is much less rich. Age is less often noted. We note that the age of children is more often noted than the age of adults. In the collections of English and French miracles of the 12th and 13th century I studied for my thesis (L’Enfant des miracles), the age of only 26 from a total of 930 healed adults (3 %) is mentioned. Moreover, the age of 103 from a total of 284 miraculously healed children is noted (over 36 %) (Lett 1997). The younger the child is, the more often its age is known and accurate. When the hagiographers (narrators of miracle stories) report the age of children younger than three, they use a countdown in days, months, or half-years (like today). We can say the same thing for apprenticeship contracts concerning children as well as adolescents: in Orléans
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(France), between 1380 and 1450, the age of the child is mentioned in more than 60 % of all employment contracts (Michaud-Fréjaville 1982). It is clear that, in the account of miracles, when age is mentioned, it must serve the effectiveness of the story. We note, for example, that miracles of resurrection are those in which the age is mentioned most often. The age of 32 “resurrected” children from a total of 54 (among the 284 children mentioned in the collections of English and French miracles of the 12th and 13th century) is noted (nearly 60 %). This type of miracles, often discussed, that one must support with convincing evidence, requires a lot of precision.
The role of the notar y in the mention of age It is very important to take into account the notarial mediation between what “really” happened in the past and the written record we have, the role of the notary in the organization of the accounts. The notary plays an essential role in the recording of statements about age. Some notaries are more zealous than others. For the canonization process of Nicholas of Tolentino, I noticed, by lexicographical work, that the notary Stephanus Symonitii (who consigned testimonies 221–371) almost always noted the age of the witness, namely, in more than 97 % of 145 cases. In contrast, his colleague Neapoleone Guillelmi (who recorded the 218 first depositions), was much more careless, if not in the answer of age, in any case in the recording of it: the age of only 22 % from a total of 218 witnesses is mentioned (Lett 2008: 191).
S AYING ONE ’S AGE : THE “ PRECAUTIONARY PRINCIPLE ” Rounded ages In our documentation, ages are often rounded to the lustrum (span of five years) or to the decade, especially after 40 or 50 years: this is the case in Claude Gauvard’s study on the “letters of remission” (letters given by the king of France to pardon a person) of the 14th century (Gauvard 1991: 349) and in canonization processes, too (see table below).
Mention of the age of witnessesin the canonization process of Nicholas of Tolentino (1325) Men 70, 70, 64, 50, 56, 46, 70, 30, 50, 50, 60, 40, 46, 35, 45, 45, 35, 80, 60, 60, 38, 75, 52, 40, 60, 43, 76, 34, 40, 18, 60, 50, 40, 45, 45, 65, 50, 45, 50, 25, 35, 40, 50,
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30, 94, 60, 70, 55, 60, 50, 50, 40, 30, 25, 30, 55, 38, 36, 60, 36, 40, 34, 36, 60, 26, 60, 25, 60, 25, 28, 30, 37, 25, 55, 40, 60, 50, 67, 60, 33, 20, 50, 53, 70, 25, 60, 40, 45, 30, 40, 60, 40, 30, 25, 30, 40, 40, 17, 40, 35, 40, 25, 36, 30, 40, 40, 66, 60, 50, 50. Women 40, 36, 30, 42, 25, 23, 50, 32, 26, 26, 45, 25, 25, 30, 40, 38, 26, 32, 40, 60, 50, 24, 60, 30, 32, 50, 30, 40, 50, 40, 50, 30, 30, 35, 60, 35, 35, 60, 28, 35, 50, 30, 37, 40, 28, 50, 28, 26, 30, 20, 40, 26, 28, 45, 20, 42, 38, 31, 26, 50, 30, 40, 40, 30, 40, 50, 50, 30, 30, 22, 50, 25, 30, 20, 40, 30, 35, 20. As in the vast majority of inquisitorial sources, ages rounded to the lustrum and, more often, to the decade dominate. In the canonization process of Nicholas of Tolentino, 75 % of all witnesses have a rounded age. The rounded number calls those who are close to him, that explains why we do not meet any age ending by 9 and just one age ending by 1 (31 years old). The call of the lustrum is less powerful than the attraction of the decade because there are some ages ending by 4 or 6.
Age and gender distinction In the canonization process of Nicholas of Tolentino, Gratia (witness 336) is indicated as being 50 years of age. Yet, at the beginning of the manuscript, in the list of people who were summoned (citationes testium), she is five years younger1 . Clarucia (witness 357) is cited (in the part citationes testium) as being 25 years old while at the beginning of her deposition (in her “identity card”), she is 30 years old. The age of the two women has risen by five years between the subpoena and the deposition (these are divided by several days). Perhaps these two witnesses, in the first context, stated their respective age quickly. Then, in the second context, before being heard, it was increased, with some aid of the environment or of the commissioners having seen them (de visu). This tendency of women to give an age lower than their “real” age has already been observed in other canonization processes. Studying the canonization process of Françoise Romaine (1384–1440), Arnold Esch showed that the age of witnesses can vary 1 | The process is divided into four parts: documenta et mandata, where one finds the principal letters which allowed the opening of the inquiry; the twenty-two articuli interrogatorii, a prepared list of questions on the life and qualities of Nicholas, put in the way of influencing the answers; the part citationes et juramenta testium, which gives us the date of the statement and describes the way the witnesses were called to come to the inquisitors; and, the most important part, depositiones testium, where the testimonies were consigned.
To know, state, record and prove age in the inquisitorial documentation
from one day to another, in the same trial, with women having a tendency to state a lower age and men having a tendency to increase it. Arnold Esch writes: “Männer erinnern ihr Alter und Zeit besser als Frauen”. He continues: “Junge besser als Alte, Städter besser als Bauern, Reiche besser als Arme” (Esch 1973: 101; Esch 1984: 337, 345). Can we infer that the lustrum added at the time of speaking, either by the women themselves or by the commissioners, either intentional or unintentional, gives more authority to the testimony?
The formula of precaution It is very common (exceptions in only 6 cases among 188 in the canonization process of Nicholas of Tolentino) that a formula accompanies the mention of the age of a witness in the “identity card”. So the statement of age is almost always followed by a formula such as “as he says” (ut dixit or ut asseruit), which represents approximately 65 % of the cases, or followed by a specification like et plus or et ultra (over 31 %). Three formulas appear marginally: etatis XXXIV vel XXXV annorum prout dicebat (witness 273), prout sibi videtur, ut asseruit (witness 307), and vel ad circa ut dixit (witness 234). In other documentations, the age is always accompanied by a formula such as vel circa, ferme, fere, circiter, nondum, etc. The question is: why are one or another of these formulas almost systematically used? Within the past several years, scholars have studied how notaries indicate age and use these formulas. Elisabeth Mornet and Claude Gauvard have suggested that the formula vel circa, very frequent in the legal documentation, reveals less the imprecision of the age (and so, the ignorance of age) than a juridical prudence on the part of the notary in case there would be a contestation (Mornet 1988: 122–124; Gauvard 1991: 349). I agree with this point of view. So we can add to the formula vel circa (only found once in the canonization process of Nicholas of Tolentino), or to fere or circiter, formulas like ut dixit or et plus, allowing to cast doubts on the real age of the witness. The fact that, in the process of Nicholas of Tolentino, the 67 people interviewed on 9 September (in the part citationes testium), when the age is mentioned for the witnesses cited for subpoena, predominantly (about 78 %) indicated their age without these formulas supports the idea that the et ultra or the vel circa belong to the “precautionary principle” and do not reveal imprecision. These witnesses (in the part citationes testium) were cited to appear on 9 September and were not consigned (with the exception of five) and, therefore, were not exposed to criticism 2 . The notary was obliged to record the deposition with such caution and prudence.
2 | In the case of the 67 people noted on 9 September, whose age is mentioned, the age is accompanied by a formula in 52 cases. Et ultra appears nine times, ut asseruit five times, and ut dixit once.
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The age in words Besides numerical ages, people of the Middle Ages use specific vocabulary to designate a particular age group: infans, puer, adolescens, or qualitative expressions. For example, a child who had arrived at the end of their infantia was said to “go to the childish years” (pueriles annos agenti) while another had “not yet surpassed the puerile years” (nondum pueriles annos excedentem). If the hagiographer evokes an older child, he says the child has “already entered the years of puberty” (annos jam pubertatis ingredientem) or has “already entered the teens” (adolescentiæ jam annos ingressus) or “seemed to have entered the early years of adolescence” (primos adolescentiæ annos ingredi videbatur). These expressions show that people at the end of Middle Ages made the difference not only between infantia and pueritia but also between childhood and adolescence. For teenage girls, the mention of marriage is sometimes a way to suggest an age. That is how a hagiographer, William, in the 12th century, presents two women coming to Canterbury to tell their miracle: “And here are two women, one married“ (matrimonio copulata), the other who “was not yet ripe for a man” (nondum viro tempestiva). In contrast, another girl is already “ripe for marriage” (matrimonio tempestiva jam) and another “has been nubile for almost three years” (Agebat virgo [...] quasi tertium ætatis annum a nubili tempore) (see Lett 1997: 39).
Proving age Sometimes, in the inquisitorial sources, it is essential to prove age, one’s own age or the age of one’s child. I will discuss two examples.
Prove the age of a child At San Severino Marche, in 1458, during a game of Battaglia (a game of stones between two districts of the village, more and more reserved to children and adolescents at the end of the Middle Ages in Italian towns), a child, Beninicasa smashed the skull of another child. A trial was held. Among the main arguments put forward by those who sought to avoid the banishment of the child were the place of the accident (one must show that the tragedy occured during the fight, not outside of it, and in an authorized place) and especially the child’s age because the municipal statutes of San Severino in 1436 held children responsible as soon as they reached an age of ten. Witnesses were fully aware of municipal statutes and knew the arguments used in the trial (see Lett (forthcoming)). In this trial, six witnesses were interviewed on nine articuli interrogatorii. The seventh and eighth articuli were the most important ones in the defense
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system organized by Beneamato, the father of the child, because they focused on the age of Benincasa. The child’s mother, Bartolomea, was only interviewed on these two articles. A witness, Ansovino, said that Benincasa was less than ten years because when he had been married eight years ago, the child’s mother had participated in the wedding with the baby in her arms, a baby who had not yet been two years of age3 . Two witnesses were more precise regarding the age of the child than the others. They were the only two witnesses to give the month and the year of the birth of Benincasa: Lucarello di Bartolomeo and Bartolomea, the child’s mother. Lucarello confirmed that Benincasa was less than ten years old because he remembered his birth in June 1449: his wife had visited the mother, after the delivery, while she was still in bed. According to this deposition, Benincasa was nine years old in June 1458, two months before the battaglia. Bartolomea confirmed the date of 1449. She was sure of this date because seven months after Benincasa’s birth the Holy Year began. While the father appeared on the institutional scene to “rescue” his son or to save himself (avoid the banishment of the son and the loss of the kinship’s honor), only the mother was the custodian of the origin of the child 4 . In the Coutumes de Beauvaisis de Philippe de Beaumanoir (1283), french custom, we can read: “women must be heard to prove a children’s age” (Beaumanoir 1899–1900: art. 1197).
The trials concerning “proofs of age” As we can see from this example, in the inquisitorial sources, proofs of age are always interesting in order to observe the anchoring of memory. In this case of San Severino, births or marriages were temporal marks. Some historians, such as John Bedell, have used a very original source: the trials of “proofs of age”, for trials under the reigns of Edward I. and II. (between 1272 and 1327) (Bedell 1999). These “proofs of age” (the first such proof dates from 1180) were necessary because when a vassal died and his heirs were minors, they came under
3 | Interogatus super 7 et 8 dixit quod dictus Benemcasa est minor decem annorum/et ita tenetur et reputatur. Interogatus in causa scientie dixit quod dum ipse testis duxit/ uxorem et sunt jam otto anni mater dicti Benemcase intervenit in nuttis ipsius testis/ et habebat dictum Benemcasam in brachiis et apparebat quod dictus Benemcasa non erat/etatis duorum annorum, ASCS, Liber mallefitiorum, fol. 206v. 4 | Item/interogatus super 7 et 8 dixit quod dictus Benemcasa est minor decem annorum./ Interogatus in causa scientie dixit se bene recordari de nativitate dicti Benemcase qui/natus fuit in anno 1449 et mense junii et uxor ipsius testis ivit/ad vigitandum matrem dicti Benemcase dum erat in partu et in lecto propter/nativitatem dicti Benemcase et ita dixit dictus Benemcasa haberi et reputari/pro minore decem annorum, ASCS, Liber mallefitiorum, fol. 207.
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the judicial authority of the lord who administred their land and then ensured their education and marriage, until they reached maturity. Since no birth certificate existed, one had to find systems in order to know when a pupil became a major. Witnesses not only had to say that the pupil was major but how they knew this. The anchor points of the memory were births (of one’s own children who were born shortly before or shortly after the person one’s age one had to testify); these represented about a third of anchor points of memory. Marriages (20 %) and deaths were further anchor points besides events that affect the entire community (climatic accidents, battles) or personal events (a broken leg, an attack by bandits), etc. To conclude, I would like to emphasize some points. Statements of age are highly dependent on documentary contexts. The increasing use of inquisitorial processes at the end of the Middle Ages, in canonization processes against heretics, before municipal, manorial or royal justice in daily life, obliged people to know their age better, to make an effort of memory, to answer these questions, to find chronological marks in thier own memory to tell their age or that of another person and to prove it. In return, these high demands from the Church, from the municipal authority, and, more and more, from the state, had implications on the way people understood their identity and built it. Before the development of identity papers in modern times, the late Middle Ages represents an important moment in the construction of personal identities, “individual” identities of which age was a central component.
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Lachen mit den und über die Alten Kulturhistorische Reflexionen über den frühneuzeitlichen Diskurs zum Alter mit Schwerpunkt auf der deutschen Schwankliteratur des 16. Jahrhunderts Albrecht Classen
Jede Altersstufe im Leben des Menschen hat schon immer tiefe Spuren in der Kulturgeschichte hinterlassen und diese entscheidend geprägt, sei es die Kindheit, sei es das hohe Alter. Genauer betrachtet könnten wir formulieren, dass der literarische bzw. künstlerische Ausdruck ganz wesentlich dafür dient, dem Individuum die Möglichkeit zu bieten, sich mit den einzelnen Altersstufen auseinanderzusetzen, die unabänderlich auftreten und Reaktionen erfordern. Weder Kindheit noch Alter erweisen sich als unproblematisch im gesamtgesellschaftlichen Kontext, sei es, dass die eine Gruppe als für zu jung empfunden wird, um ernst genommen zu werden, oder für zu alt, um noch Respekt von den Jüngeren zu erfahren. Die frühere Forschung hat daher auf relativ schlichte Paradigma zurückgegriffen, um beide Phänomene, wie sie sich in der Dichtung oder Kunst der Vergangenheit gespiegelt haben, kritisch zu beschreiben. Die Gefahr bestand dabei jedes Mal darin, vorschnell und simplifizierend auf grobschlächtige Vorstellungen zurückzufallen, so als ob sich die Charakteristika einer ganzen Generation schlichtweg über einen Kamm scheren ließen. Während man sich früher dazu berechtigt fühlte, die einschlägigen Quellen zur Kindheit in der Vormoderne gerne in Anschluss an Philipp Ariès (1960) als nichts anderes als Spiegel einer Frühphase der Erwachsenenwelt zu interpretieren, tendierte man gleichzeitig dazu, die jeweiligen Aussagen zum Alter etwa in der Literatur des Mittelalters stark stereotypisierend auszulegen. Die Forschung hat inzwischen deutlich Abstand davon genommen (vgl. Classen 2005; Shahar 1991) und zugleich die neue Frage aufgeworfen, wie man in der Vormoderne alte Menschen beurteilte (vgl. Schultz 1995; Orme 2001; MacLehose 2008; Langmuir 2006; Grands textes du moyen âge 2010). In beiderlei Hinsicht können wir auf die methodologischen Untersuchungsmethoden der
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Mentalitätsgeschichte zurückgreifen, wie sie nicht nur von der französischen Annales-Schule (Le Goff, Duby, Braudel etc.) entwickelt wurde, sondern auch von Forschern wie Peter Dinzelbacher (2003: 139) und Johannes Grabmayer (2004: 119-124; vgl. Reinalter 2011). Hierbei handelt es sich um eine Untersuchungsmethode, die nicht auf enge historische Fakten abhebt, sondern anhand von einer Fülle an unterschiedlichen Text- und Bildquellen (andere sind nicht ausgeschlossen) darauf hinzielt, das Meinungsbild einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit zu eruieren. Es geht konkret um die Erfassung von Gefühlen, Ängsten oder Sorgen, um Grundeinstellungen, somit also auch um Vorurteile, Haltungen und globale Ideen. Gerade in Bezug auf den alten Menschen erweist sich die Mentalitätsgeschichte als ungemein ergiebig, denn die Beziehungen zwischen den einzelnen Generationen haben sich stets noch als kulturdeterminierend herausgestellt. Immerhin haben erst vor wenigen Jahren auf thematisch konzentrierten Tagungen zwei Forschungsgruppen ihre Aufmerksamkeit darauf gerichtet, wie Dichter, Künstler, Chronisten oder Komponisten vor 1800 den Alterungsprozess im Leben des Menschen bewertet haben (vgl. Classen 2007; Vavra 2008). Zu überprüfen wäre nun sogleich, welche Relevanz solche Untersuchungsschwerpunkte über den engen literatur- und kulturhistorischen Rahmen hinaus besitzen könnten, denn abgesehen von einem epistemologischen Erkenntnisgewinn scheint doch zunächst der alternde Mensch heute wenig davon zu profitieren, wenn ihm ein Bewusstsein davon vermittelt wird, wie man im Mittelalter oder in der Frühneuzeit über Altersphänomene und die gesellschaftliche Stellung des alten Menschen gedacht haben mag. Müssten wir eventuell sogar davon ausgehen, dass solche brennenden sozialen Fragen eigentlich nur dann eine adäquate Antwort erfahren, wenn man sich ganz auf die Gegenwart konzentriert? Die bisherige Forschung hat aber zu Recht darauf insistiert, dass die Untersuchung von Alter wesentlich dazu beitragen kann, die Sozial- und Mentalitätsgeschichte einer bestimmten Epoche wahrzunehmen (vgl. Borscheid 1987; Hazan 1994). Schließlich erweisen wir uns alle als Konstrukte bzw. Erben eines kulturellen Diskurses, der Wertigkeit verteilt, die wiederum historisch verankert ist, denn wir befinden uns alle in einem unablässigen Prozess der Selbstvergewisserung und des Wandels. Alter ist zunächst einmal nicht einfach Alter, und kein alternder Mensch befindet sich ohne Weiteres in der gleichen Lage wie alle anderen in seiner spezifischen historischen Wirklichkeit. Altern und Altsein sind auch nicht dasselbe, und der alte Mensch in einer Kultur- oder Sprachgruppe, was immer wir darunter auch verstehen mögen, unterscheidet sich erheblich von demjenigen in einer anderen. Der Alterungsprozess tritt immer und überall ein, aber er verläuft niemals genau nach dem gleichen Schema oder nach dem gleichen Bewertungsraster. Das Phänomen Alter kann daher als analytisches Kriterium benutzt werden, um die kulturellen, geistigen und religiösen Werte einer Gesellschaft zu
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beurteilen, und dies eben nicht in einer letztlich sehr unbefriedigenden Nabelschau, sondern historisch-komparatistisch, womit der eigene kulturelle Standpunkt und die Konstruiertheit der Selbstbefindlichkeit besser in den Blickwinkel geraten. Es macht schon einen großen Unterschied aus, ob sich das alternde Individuum in einer Welt befindet, die ganz dem Jugendideal hingegeben ist, oder in einer solchen, die jede spezifische Altersstufe für sich genommen wertzuschätzen weiß. Der Blick in die Vergangenheit unserer Kulturgeschichte erlaubt mithin, Antworten für die eigene Identitätsfindung bereitzustellen, die abgewogen und ausgelotet werden können, ohne dass wir uns einem anachronistischen Optimismus verschreiben müssten (Classen 2012; Lett 2013). Die Forschung hat inzwischen einen breiteren, aber noch nicht umfassenden oder gar erschöpfenden Fächer an Methoden und Theorien entwickelt, um die kulturhistorische Wahrnehmung von Alter überhaupt einmal zu erfassen. In Chroniken, Heldenepen, Heldenliedern, später höfischen Romanen, gelegentlich auch in höfischen didaktischen (oder gnomischen) Liedern, später in moralisch-komischen Verserzählungen (mæren) stoßen wir viel häufiger, als wir dies bisher vermutet hätten, auf die Darstellung von sehr alten, oft würdigen und angesehenen Figuren. Wenn den Autoren an Satire gelegen ist, kippen sie gerne dieses Bild um und präsentieren im Pendant dazu eine alte Figur, die sich eben unwürdig oder lächerlich verhält. Widmen wir uns der Kunstgeschichte, sehen wir uns hingegen recht anders gestalteten Fragestellungen gegenüber, denn die christliche Ikonographie war stark biblisch bestimmt, womit eben zahlreiche alte Figuren sowohl in der gotischen Skulpturkunst als auch in den Manuskriptillustrationen auftreten. Seit der Renaissance entdecken wir dann zunehmend realistischere Porträts auch von alten Menschen, die keineswegs grotesk abgebildet werden. Weiterhin gilt zu berücksichtigen, dass auch schon in der Vormoderne die Suche nach medizinischen Hilfsmitteln, die den Alterungsprozess verlangsamen (wenn nicht gar rückgängig machen), intensiv betrieben wurde. Nicht weit davon entfernt befindet sich der philosophiehistorische Ansatz, denn schon seit der Antike beschäftigte man sich intensiv mit der Überlegung, wie der Mensch angemessen und ausgefüllt den Schritt hin zum natürlich auftretenden Alter vollziehen sollte. In jüngerer Zeit haben auch Archäologen und historische Anthropologen wichtige Beiträge zur Altersforschung vor 1800 geleistet, indem sie Gräberfunde auswerteten und statistische Analysen der Skelette durchführten, um Erkenntnisse über die Lebenserwartungen in den verschiedenen Epochen und Kulturen bzw. Gesellschaften zu gewinnen. Generell trifft jedenfalls zu, dass populäre Meinungen, Menschen in der Vormoderne seien im Durchschnitt kaum älter als 30 geworden, so jedenfalls nicht stimmen. Die Aussagen der literarischen und kunsthistorischen Zeugnisse, dazu die Belege in Chroniken und anderen historischen Dokumenten bestätigen zunächst, dass viele Individuen durchaus ein hohes Alter von 60 bis 80 Jahren erreichten. Alte Men-
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schen, die sich bereits im ›Ruhestand‹, das heißt im Altenteil befinden oder die Position des Patriarchen abgegeben haben, treten allenthalben auf, was jedoch vorläufig noch nichts über ihre Beurteilung seitens der sozialen Umwelt aussagt, denn einen wirklichen ›Ruhestand‹ im modernen Sinne des Wortes gab es nicht. Die literaturwissenschaftliche Untersuchung, die wiederum auf eine Fülle von diversen Methoden beruht (s.o.), hilft jedoch, das Spektrum der verschiedenen Meinungen aufzudecken, wie sie in der Öffentlichkeit vertreten wurden. Damit ist nicht ›die‹ Realität erfasst, sondern nur der dominante Diskurs. Historische Quellen erlauben dazu, genauso wie philosophische Traktate, Bestätigungen oder Korrekturen zu gewinnen, wozu auch das kunsthistorische Belegmaterial tritt, auf das ich mich aber hier nicht genauer einlasse (vgl. Classen 2007; Hülsen-Esch/Westermann-Angerhausen 2006). Literarische Werke helfen uns genauso wie andere Textsorten, genauer zu greifen, worüber eine Gesellschaft zu einer bestimmen Zeit spricht, was ihre Anliegen sind, worüber sie sich Sorgen macht, wie man die Sozial- und Altersstrukturen beurteilt und welche Stellung junge bzw. alte Menschen in der Öffentlichkeit oder im Privatleben einnehmen. Methodologisch gesehen ermöglicht also die Analyse literarischer Texte aus kulturhistorischer und mentalitätsgeschichtlicher Sicht, klarer zu erkennen, was den Altersdiskurs ausmacht, das heißt wie man den alten Menschen wahrnimmt und beurteilt. Nachfolgend werde ich zunächst eine Reihe von Beispielen anführen, um die diversen Perspektiven auf das Alter, wie wir ihnen in der Literatur der Vormoderne begegnen, kritisch zu erfassen. Der Schwerpunkt wird aber auf der Schwankliteratur des 16. Jahrhunderts ruhen, um bisher nicht berücksichtigtes literarisches Material in die Diskussion einzuführen und insbesondere methodologisch vor Augen zu führen, auf welche Weise insbesondere in der Literaturwissenschaft bzw. Mediävistik das Thema ›Alter‹ kritisch behandelt wird, wenn es sich nicht nur um die ›gebildete‹ Literatur handelt, sondern auch um die breitere Unterhaltungs- oder Trivialliteratur (vgl. Minois 1987; Vieillesse et viellissement au Moyen Âge 1997; Shahar 1997). Zahlreich begegnen wir im Mittelalter und in der Frühneuzeit den Darstellungen der einzelnen Lebensstufen, zu denen also auch das Alter gehört, ob wir an Illustrationen in Handschriften oder in der plastischen Kunst denken (vgl. Arnold 2008; Joerißen 1983), aber ebenso häufig ist die Gestaltung des Motivs vom Jungbrunnen gewesen, der sich weit bis in die Frühneuzeit großer Beliebtheit erfreute und bis heute immer und überall anzitiert wird, ob in der Werbung oder in alternativer Medizin, weil das Alter als negativ beurteilt wird (Rapp 1976; Knöll 2006). Zwei polare Positionen sind bisher in dem Zusammenhang stets noch zitiert worden, zwischen denen das Bild des Alten bzw. des Alters geschwankt hat. Zum einen hat man immer wieder wahrgenom-
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men, wie sehr Menschen über den törichten, eigentlich senilen Alten gelacht haben; zum anderen finden sich überall auch Beispiele dafür, wie sehr der alte Mensch als ein Weiser und Führer seines Volkes bzw. seiner Familie angesehen worden ist. Aber die Forschung hat doch inzwischen eine wesentlich breitere Palette an Perspektiven aufgedeckt, die bei der Behandlung von Alter relevant gewesen sind, sei es, dass der medizinische oder der philosophische Ansatz berücksichtigt wurde (Tavormina 2006), sei es, dass das Alter in hagiographischen Quellen oder in didaktischen Werken zum Thema wurde (vgl. Rosenthal 1995; Johnson/Thane 1998; Krötzl/Mustakallio 2001). Medizinische Fragen bezogen auf mögliche Mittel, die den Alterungsprozess verlangsamen, wenn nicht gar rückgängig machen, wurden ebenso aufgeworfen wie solche hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Präsentation von alten Menschen in der Literatur des Mittelalters und der Frühneuzeit (Vavra 2008). Bemerkenswerterweise trifft aber auch schon in der Vormoderne zu, dass alte Menschen besonderer Fürsorge und Betreuung bedurften, worauf sich sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft rechtzeitig in finanzieller und pragmatischer Hinsicht vorbereiten mussten. Altersversorgung gab es sowohl bei den Karolingern als auch später im hohen und späten Mittelalter, indem viele Klöster genau diese Aufgabe übernahmen, was letztlich zu ihrer erheblichen Reichtumssteigerung beitrug (vgl. Gleba 2004; Homet 1997: 101ff.). Im Alter macht sich häufig ein Sündenbewusstsein bemerkbar, vor allem während des zutiefst christlichen Mittelalters, und es gehörte zu den häufig auftretenden Phänomenen, dass ein reuiger Adliger sich dem Kloster anschloss oder sogar seine Burg in ein Kloster umwandelte (vgl. Lyon 2007). Sozial gesehen konnten alte Menschen, wenn sie physisch wieder abhängig wurden, Probleme darstellen, oder man betrachtete sie missgünstig wegen ihres Reichtums und ihrer Macht. Darüber hinaus, wenn nicht sogar zentral, bestand für die Alten die größte Notwendigkeit, sich rechtzeitig auf das Nachleben vorzubereiten, was in enger Verbindung mit der Kirche durchgeführt wurde, denn die christliche Lehre dominierte natürlich im Mittelalter praktisch jeden menschlichen Lebensbereich. Gicht und andere typische Alterskrankheiten plagten Menschen schon in der Vormoderne, und Spannungen mit jüngeren Familienmitgliedern waren dem Mittelalter überhaupt nicht fremd. Diese Spannungen traten meistens dann auf, wenn die neue Generation der älteren die frühere Autorität streitig machte oder wenn es um die Verteilung von Geldern bzw. Erbschaft ging. Alte Frauen wurden oftmals in satirischer Literatur als Kupplerinnen verschrien (z.B. Celestina in Fernando de Rojas Roman von 1499), während alte Männer vielmals das Schicksal erlebten, als töricht und senil verspottet zu werden (Classen 2007). Auf der anderen Seite begegnen wir vielen Fällen, in denen alte Männer ihre finanziellen Möglichkeiten dafür einsetzen, um im hohen Alter noch einmal zu heiraten, was unweigerlich Anlass zu viel Spott und Hänselei abgab (Marie de France, Gui-
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gemar [ca. 1170]; Chaucer, The Merchant’s Tale [ca. 1395-1400]). Zugleich stoßen wir auf viele alte Figuren, die hohes Ansehen genießen und bis zu ihrem Tod als Führer ihres Volkes auftreten (Beowulf, Pfaffe Konrad; Rolandslied [ca. 1170]; Njals Saga [ca. 1280-1290]). Richten wir also unsere Forschungslinse genauer auf diesen Themenbereich, entdecken wir das verblüffende Phänomen, dass Alter schlechthin, ob satirisch oder ehrenvoll beurteilt, in der Vormoderne keineswegs einfach ignoriert wurde. Wir entdecken leicht zahlreiche Fälle von würdig beschriebenen alten Herrschern, Kriegern und Helden; alte weise Frauen treten immer wieder auf, die entscheidenden Einfluss auf ihre Gesellschaft ausüben, wobei allerdings stets auch die Möglichkeit besteht, dass ihre Beurteilung ins Ambivalente abrutschen konnte, wenn wir etwa an die Fee Morgana denken (vgl. Larrington 2006). Jüngste Forschung hat zudem aufgedeckt, welche große Rolle alte Witwen in der spätmittelalterlichen Gesellschaft spielen konnten, vor allem wenn sie mit ihrem Vermögen geschickt umzugehen und ihren persönlichen Einfluss auszuspielen verstanden (Ingendahl 2006; Kruse 2007; Classen 2003; Mirrer 1992; Walker 1993). Es hat sich hierbei interessanterweise gezeigt, dass der früher so bevorzugte historische Einschnitt um 1500 als die Markierung, die das Mittelalter von der Frühneuzeit trennte, heute nicht mehr als so relevant angesehen wird, was sich auch in den neueren Studien zu unserem Thema zu erkennen gibt (vgl. Cavallo/Warner 1999; Foehr-Janssens 2000; Fischer 2002; Classen 2002; Haug 1999). Alte Frauen haben wohl auch deswegen so besonders viel Interesse auf sich gelenkt, weil wir gemeinhin davon ausgegangen sind, ihre soziale Stellung sei eher beschränkt gewesen, während sich nun fast das Gegenteil dazu herausgestellt hat (Janssen 2007; Peacock 2007; Bennewitz 2008; Doležalová 2008). Außerdem wissen wir überaus gut von dem fürchterlichen Phänomen der Hexenverfolgung, die vor allem seit dem späten 15. Jahrhundert stärkere Umrisse annahm und in den nächsten dreihundert Jahren tausende, wenn nicht hunderttausende von Opfern, vor allem ältere Frauen, in einen schrecklichen Tod riss (vgl. Roper 2004; Scholz Williams 1995). Fassen wir dies alles nun kurz zusammen, ergibt sich ein hochinteressantes Bild aus der neueren Forschungsgeschichte, denn der alte Mensch im Mittelalter und in der Frühneuzeit war keineswegs eine marginale Figur, auch wenn wir dazu tendiert haben u.a. angesichts der Gestalt des alten Josephs in zahllosen Krippenbildern, stets am Rande verharrend, diesen Eindruck zu generalisieren (vgl. Meier 2010: 325-327). Alte Menschen treten überhaupt öfters in der Kunstgeschichte auf, vor allem wenn wir an die zahllosen biblischen Motive denken (vgl. Hülsen-Esch/Westermann-Angerhausen 2006). Wie hat sich nun die öffentliche Meinung im späten 15. und 16. Jahrhundert mit alten Menschen auseinandergesetzt? Trotz verschiedener Ansätze in der
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jüngsten Forschung bezogen auf Alter im frühen und hohen Mittelalter (vgl. Mohrmann 2008; Trepp 2008) fehlen uns weiterhin klare Einblicke oder zumindest Einsichten in den vorherrschenden Diskurs. Wenden wir uns daher populäreren Texten zu, die meistens die unterschiedlichsten sozialen Klassen, Altersgruppen oder Geschlechter ins Auge fassen, ist uns eine Möglichkeit geboten, wichtige literarische Reflexe über die Wahrnehmung alter Menschen zu finden. In Sebastian Brants enorm beliebten Narrenschiff von 1494, in dem gewissermaßen die gesamte Menschheit satirisch gespiegelt wird (vgl. Mausolf-Kiralp 2002), können wir einige Aussagen auch über alte Menschen finden, die bisher, soweit ich es überblicken kann, noch nicht kritisch untersucht worden sind. Insofern als Brant natürlich beißenden Spott auf alle Menschen gießen will, ist nichts anderes zu erwarten, als dass er auch in diesem Kontext wenig Gutes an den Alten belässt, die er im 5. Kapitel als »alte narren« bezeichnet (Brant 1494/1962: 10f.). Der Sprecher identifiziert sich selbst als Narr trotz seines Alters: »Eyn boeßes kynt von hundert jor« (ebd.: 3), das den jungen Menschen die Schelle vorantrage, das heißt durch seine eigene Torheit ein schlechtes Beispiel abgebe: »Ich gib exempel vnd boess rodt« (ebd.: 8). Noch schlimmer, der alte Mensch rühme sich seiner eigenen Schandtaten: »Das ich beschissen hab vil land« (ebd.: 12) und grabe sich selbst immer tiefer in böse Handlungen ein. Auch wenn der Tod bald auftreten werde, hegt der Alte Hoffnung, seinem Sohn noch rechtzeitig so viel an Beispiel seines eigenen bösen Charakters gegeben zu haben, dass dieser später selbst auf die schiefe Bahn geraten werde: »Der würt thuon/was ich hab gespart« (ebd.: 19). Während der Alte bislang alleine das Narrenschiff bestiegen habe, bestehe doch gute Aussicht darauf, dass sein Sohn ihm direkt nachfolgen werde (ebd.: 25f.). Voller Klagen schließt dann der Erzähler mit der Bemerkung: »Alter will gantz kein witz me han« (ebd.: 30), was er mit einem Hinweis auf die zwei alten Richter abschließt, die im Alten Testament (Buch Daniel – Vulgata, Buch XIII) gemeinsam versucht hatten, die reine Susanna zu verführen, durch den Propheten Daniel aber dann als Verbrecher bloßgestellt wurden, was ihr Todesurteil besiegelte (vgl. Classen 1999). Damit entsprachen sie, wie Brant urteilt, dem gängigen Sprichwort, ›Alter schützt vor Torheit nicht‹, denn auch alte Menschen bedenken nicht rechtzeitig ihr Seelenheil: »Ein alter narr syne sel nit schont« (Brant 1494/1962: 33). Bedenken wir freilich, dass Brant praktisch keine Möglichkeit auslässt, alle und jeden satirisch aufzuspießen, das heißt als Reisenden auf dem Narrenschiff lächerlich zu machen, müssen wir auch diese Passage über alte Menschen in ihrem angemessenen Kontext beurteilen, denn der Dichter bemühte sich ja ganz explizit, sich der Narrenliteratur anzupassen und jedes Mitglied der Gesellschaft im Licht des Toren Revue passieren zu lassen, ohne jemals auch das Gegenteil vorzustellen (Könneker 1991: 54-68). Niemand kommt hier also gut weg, alle werden satirisch präsentiert, lächerlich gemacht und beißend
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verurteilt, und somit auch, sehr früh im Text, die alten Menschen, worauf aber Brant dieses Thema ganz fallen lässt. Durchaus ähnlich, selbst wenn ein anderes Genre benutzend, ging der anonyme Verfasser – es mag wohl der Braunschweiger Zollbeamte Hermen Bote gewesen sein (vgl. Blume 2009; Drittenbass/Schnyder 2010; Classen 1995: 185-212) – der Schwanksammlung Eulenspiegel vor, in der zwar der Protagonist zentrales Gewicht einnimmt, insoweit als er ständig Streiche spielt und seine soziale Umwelt foppt, in der aber ebenso der breite Fächer der menschlichen Gesellschaft des frühen 16. Jahrhunderts vor unsere Augen tritt. Wir beobachten den Protagonisten sowohl auf dem Land als auch in der Stadt, sowohl am Fürstenhof als auch im Vatikan, sowohl in der Werkstatt als auch in der Badestube, und überall macht er sich über die Menschen lustig, ob sie Universitätsprofessoren oder Kleriker, ob sie Bauern oder Handwerker sind (vgl. Tenberg 1996; Cramer 1978). Es geht Eulenspiegel nicht um irgendwelche besonderen sozialen oder religiösen Gruppen. Geschlechterunterschiede bedeuten ihm nichts, schließlich bleibt er stets und überall der Außenseiter und lacht über die Torheiten und Schwächen der Individuen (vgl. Classen 2007; 2008). Die Gemeinsamkeiten mit Sebastian Brants Narrenschiff erweisen sich mithin, trotz der beträchtlichen Gattungsunterschiede, als beträchtlich. Nur einmal jedoch stoßen wir auf eine, offensichtlich erst später integrierte Historie, oder Erzählung, in der auch alte Leute auftreten, die sich mit Eulenspiegel auseinandersetzen. Erstaunlicherweise verkehren sich aber hier die Verhältnisse, denn während üblicherweise der Protagonist die anderen reinzulegen vermag und sich über sie lächerlich macht, verläuft hier die Handlung fast einzigartig genau umgekehrt, insoweit als Eulenspiegel am Ende als derjenige dasteht, der nicht nur einen Verlust zu beklagen hat, sondern auch als derjenige, über dessen Torheit das Publikum zu lachen aufgefordert wird – eventuell eine Bestätigung dafür, dass dieser Text nicht in der ursprünglichen Fassung enthalten war. Der Titel gibt diese ungewöhnliche Wendung von vornherein zu erkennen: Die 67. Historie sagt, wie Ulenspiegel von einer alten Bürin verspottet ward, do er sein Desch verloren het (anonymus/Lindow 1966/1978). Zunächst handelt es sich auch gar nicht um Eulenspiegel, sondern um einen gierigen und gewissenlosen Priester, der überall in seiner Gemeinde alle Feste und Feiern dafür ausnützt, um kostenlos schlemmen und trinken zu können (vgl. Dykema/Oberman 1992; Beine 1999). Allerdings muss stets ein konkreter Anlass vorliegen, was nun bei einem alten Ehepaar, das bereits um die fünfzig Jahre verheiratet war, nicht der Fall ist, denn ihre Kinder sind bereits erwachsen: »Nun hetten die zwei alten Leut in vil Jaren keine Kirchwei, Kindtouff oder Gastung, da der Pfaff ein Schlamp von haben möcht, das ihn verdroß« (anonymus/Lindow 1966/1978: 195). Den Priester wurmt es freilich, dass er dort keine freie Kost erhält, und beruft daher den alten Mann zu sich, befragt
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ihn, wie lange er bereits im Ehestand mit seiner Frau lebe, und warnt ihn, weil dieser die Antwort nicht genau weiß, vor der Gefahr, sein Seelenheil darüber zu verlieren: »So ihr nun fünfftzig Jar beinander gewesen sent, so wär die Gehorsam des eelichen Stats uß als eins Münichs in einem Closter« (anonymus/ Lindow 1966/1978: 195). Zwar handelt es sich dabei um eine Lüge, aber das alte Ehepaar lässt sich von der Notwendigkeit überzeugen, erneut vom Priester verheiratet zu werden, was mit einem großen Fest einhergehen müsse. Dieses wird auch veranstaltet, und Eulenspiegel taucht nun endlich dort auf, nämlich als Gast des Propst von Ebstorf, den wiederum der gerissene Priester eingeladen hatte. Während der Festlichkeiten fühlt sich die alte Frau plötzlich müde und geht zum Bach, um ihre Füße zu kühlen. Zu dem Zeitpunkt reiten nun der Propst und Eulenspiegel nach Hause, aber der letztere lässt seinen jungen Hengst übermütig vor der alten Frau tänzeln, so als ob er sich über sie lustig machen wolle. Unbemerkt von ihm verliert er dabei eine Tasche und entfernt sich dann. Die alte Frau entdeckt die Tasche und nimmt sie, um bequemer am Bach zu sitzen. Eulenspiegel bemerkt bald den Verlust der Tasche, reitet zurück und erkundigt sich bei der Frau, ob sie diese Tasche eventuell gefunden habe. Diese lügt nicht, benutzt aber unbeabsichtigt eine etwas zweideutige Aussageweise, indem sie sich auf ihre neue Rolle als Braut bezieht: »›[…] in meiner Hochzeit uberkam ich ein ruhe Desch, die hab ich noch und sitz daruff, ist es die?‹« (anonymus/Lindow 1966/1978: 196). Eulenspiegel missversteht sie jedoch, glaubt, dass sie auf ihre Geschlechtsteile anspiele, mit denen er nun nichts zu tun haben möchte wegen des hohen Alters: »da du nun ein Braut warest, das muß vonnöten nun ein alte rostige Desch sein« (anonymus/Lindow 1966/1978: 196). Obwohl er selbst normalerweise als derjenige auftritt, der die anderen mittels seines Sprachwitzes hereinlegt, indem er meistens alle Ausdrücke wortwörtlich versteht oder einsetzt, vermag er in dieser Situation die Ambivalenz selbst nicht wahrzunehmen und muss deswegen den Verlust seiner Tasche hinnehmen, weil er die Formulierung der alten Frau sofort sexuell deutet, während sie sich ganz unbedarft auf das Objekt selbst bezieht. Der Erzähler geht anschließend auf die Sexualität von alten Frauen generell ein, verspottet alle alten Frauen in dem Dorf von Gerdau in der Nähe von Lüneburg, vor allem die Witwen, deren Bedürfnis nach sexueller Befriedigung nicht gestillt werde, und fordert diejenigen Männer auf, die ein sexuelles Abenteuer mit solchen Frauen suchten, sich dorthin zu begeben. Es handelt sich hierbei um einen Topos, der häufig in der spätmittelalterlichen Literatur auftritt und zum Lachen anregen soll (vgl. Mieszkowski 2006; 2009; Pratt 2009; Scarborough 2009), wie wir es unter anderem von den Liedern Oswalds von Wolkenstein kennen (»Ain burger und ain hofman« [Kl. 25], zit.n. Klein 31987: V. 133f.), nur verrät sich der Erzähler selbst in seiner zotigen Ausdrucksweise, denn nichts im Text deutet darauf hin, dass diese alte Frau sich in irgendeiner
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Weise schuldig gemacht hätte oder dass sie in ihrer Sexualität zügellos wäre. Sie ist vielmehr einfach müde und erschöpft von den Festlichkeiten, und auf die Frage Eulenspiegels hin erwähnt sie nur die Tatsache, dass der Priester sie erneut mit ihrem Mann verheiratet habe. Eulenspiegel, der sonst niemals sexuelle Interessen verrät und sich auch überhaupt nicht zu Frauen hingezogen fühlt, interpretiert nun in dieser Historie den Hinweis auf die grobe Tasche als Metapher für ihre Geschlechtsteile (Herchert 1996: 151f.; Müller 1988: 40f.), wendet sich aber schaudernd von ihr ab wegen des hohen Alters. Bedenken wir nun etwas genauer, wie das alte Ehepaar geschildert wird, denn im Kontext der Satire enthüllen sich meist grundsätzliche Gegebenheiten der Mentalitätsgeschichte. Die zwei Leute haben offensichtlich problemlos fünfzig Jahre miteinander verheiratet gelebt und einige Kinder gezeugt, die nun selbst groß geworden sind, es bleibt aber unklar, ob bereits Enkelkinder vorhanden sind, denn das alte Ehepaar hat keinen Grund, irgendwelche Anlässe zu feiern. Auf die Aufforderung des Priesters hin, die genaue Zahl von Jahren zu bestimmen, die schon ihre Ehe gedauert hat, grübeln beide lange und gründlich nach, schaffen es aber nicht, bitten daher den Priester um seine Hilfe, was diesem natürlich sehr gelegen kommt und ihm hilft, sein geheimes Vorhaben in die Tat umzusetzen. Abgesehen davon bemerken wir jedoch, dass diese zwei alten Menschen gut miteinander auskommen, sich gemeinsam beraten und zusammen den Priester aufsuchen. Die Hochzeit wird offensichtlich zur Zufriedenheit aller durchgeführt, nur fühlt sich dann die ›Braut‹ erschöpft und schwach, weswegen man es ihr freundlich gestattet, sich nach draußen zu begeben, wo es dann zur Begegnung mit Eulenspiegel kommt. Zwar endet diese Schwanksammlung mit dem Tod Eulenspiegels, aber das Alter an sich wird dabei nicht thematisiert, obgleich seine sicherlich recht betagte Mutter herbeieilt und sich noch einmal mit ihm unterhält. Auch in seinen letzten Stunden beweist sich Eulenspiegel als unverbesserlicher Narr, der auf die Fragen und Bitten seiner Mutter nur mit Schalkheit antwortet. Aber weder sein Sterben an sich noch der Zustand der alten Frau kommen dabei zu Wort. So kümmerlich also die Auslese bei Till Eulenspiegel ist, ergibt sich doch ein wichtiger Aspekt, der das Ergebnis unserer Untersuchung von Sebastian Brants Narrenschiff bestätigt: Alte Menschen treten schon auf, und das Menschenalter an sich wird sicherlich auch berücksichtigt, es steht aber nicht im Mittelpunkt des erzählerischen Interesses, weil das Panorama der verschiedenen Figuren, die die Gesellschaft bilden, zu breit ist. Genauso wie Kindheit eigentlich nur gestreift wird, so besitzt Alter auch nur eine marginale Funktion, trotzdem wird es zumindest einmal motivisch gestaltet. Als interessant für unser Untersuchungsthema erweist sich auch die große Schwanksammlung des hessischen Landsknechtautors Hans Wilhelm Kirchhof (1523-1603), der eine unglaubliche Fülle von unterhaltsamen und didaktischen Kurzerzählungen in seinem Werk Wendunmuth zusammentrug, das
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einen beträchtlichen Erfolg erlebte und aus vielerlei Sicht gut dafür dienen kann, mentalitätsgeschichtlich ausgewertet zu werden. Einerseits bestätigen die hohen Verkaufszahlen, dass diese Schwänke offensichtlich auf große Beliebtheit stießen, womit festliegt, dass wir in diesen Texten Spiegel des generellen Interesses oder breiter Anliegen der Menschen der damaligen Zeit erkennen können. Andererseits besitzen Kirchhofs Schwänke den besonderen Wert, dass sie zum Teil das breite Bildungsgut seiner Zeit wiedergeben, und dies sogar auf europäischer Ebene, teilweise aber ganz konkret auf seinen eigenen Erlebnissen und Beobachtungen beruhen (Gotzwkowsky 1991: 513-516; Classen 2009). Dies bedeutet für uns allerdings nicht, dass wir hier auf einen geschlossenen Corpus von Schwänken stoßen würden, die sich konzentriert mit dem Thema ›Alter‹ beschäftigen. Vielmehr treten unter den tausenden von Prosastücken nur einige deutlich hervor, die sich mit dem Verhalten von alten Menschen beschäftigen bzw. diese beurteilen, was aber nur bestätigt, was wir oben bereits konstatieren konnten. In Ein recept einer apoteckerin (Kirchhof 1869/1980 I, Nr. 111) stoßen wir z.B. auf das sehr bekannte Phänomen, dass ein reicher alter Mann nach dem Tod seiner ersten eine junge Frau geheiratet hat, was aber, worin der Zentralpunkt des Schwanks besteht, praktisch gar nicht gut gehen kann (Kirchhof 1869/1980; Röcke 1991; Meierhofer 2010). Der Erzähler hebt als erstes hervor, dass das Verhalten des alten Mannes, der sich erneut auf Brautschau begeben hat, als töricht und lächerlich anzusehen sei: »Lieff all winckel auß und buolete, in der lieb entzündet, wie ein junger esel« (Kirchhof 1869/1980: 142). Kaum aber hat er eine spezielle junge Frau ausgewählt, wird sofort deutlich, dass es ihr allein um sein Geld geht und nicht um ihn, was er nicht wahrzunehmen vermag. Von Bedeutung ist außerdem, dass ihm von allen Seiten dringendst geraten wird, von dieser Werbung abzulassen: »[V]iel mehr zuo einem zimlichen betagten weib, denn zuo dieser gerahten warde, wolt er von seinem fürnehmmen doch nicht ablassen« (ebd.: 143). Aber er achtet nicht darauf, verfolgt weiterhin unablässig sein Ziel und gewinnt tatsächlich diese junge Frau als Braut, doch muss er nur zu schnell erkennen, dass sich daraus eine Menge Schwierigkeiten für ihn ergeben, mit denen er nicht gerechnet hatte. Der Erzähler konzentriert sich aber nur auf einen einzigen Punkt, um seinen Protagonisten deftig bloßzustellen, ohne auf weitere Komplikationen einzugehen, sei es, dass sie einen Geliebten hätte, sei es, dass sie ihn seines Geldes beraubte. Ihre Unzufriedenheit mit ihm ergibt sich sogleich daraus, dass er sie nachts sexuell nicht zu befriedigen vermag. Anstatt sich dem Liebesspiel hinzugeben, verlangt es ihn nur nach Schlaf, vor allem weil er ständig unter Husten leidet. Der Alte merkt schnell, woran es ihm selbst mangelt, aber anstatt sich in die frustrierende Situation zu fügen, sucht er nach medizinischem Rat und würde sich gerne, wenn es das damals schon gegeben hätte, Viagra besorgen, hofft aber auf jeden Fall auf etwas Äquivalentes.
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Der Apotheker ist jedoch nicht zu Hause, nur dessen Frau steht zu Diensten bereit, aber der alte Mann scheut sich lange Zeit, mit der Wahrheit herauszurücken, lässt sich aber schließlich dazu überreden und gesteht ihr, wo es bei ihm fehlt. Sie nimmt ihn sogleich mit sich in den Laden, um, wie es den Anschein hat, nach dem rechten Mittel zu suchen, das ihm helfen soll, seine alte Kraft wiederzugewinnen. Anstatt jedoch sogleich die gewünschte Medizin zu holen, stellt sie sich ihm gegenüber und schürzt ihr Kleid ein wenig. Dies bewirkt jedoch keinerlei Reaktion bei ihm, worauf sie auf eine Leiter steigt, vermeintlich um nach den notwendigen Zutaten zu suchen. Weil er unter ihr steht, vermag er unter ihr Kleid zu schauen, worauf sie es ja angelegt hatte, aber als sie ihn erneut fragt, ob sich denn nun eine Veränderung bei ihm eingestellt habe, verneint er es erneut. Dies erfordert von ihr, das Kleid noch mehr zu schürzen und weiter nach oben zu steigen, das heißt ihm noch mehr Einblicke zu gewähren, doch leider auch dies ohne jeglichen Erfolg, weil sogar ihr attraktiver Körper bei ihm nichts bewirkt. Während der alte Mann, der nicht versteht, welches Spiel mit ihm getrieben wird, nun auf ihre Hilfe verzichten will, um auf die Rückkehr des Apothekers zu warten, erwidert sie ihm, dass er jegliche Hoffnung aufgeben solle: »[W]enn euch das, so ir ietzund gesehen, kein kraft bringt, ist es vergeblich, wenn ihr auch schon die gantze apotecken mit allen büchsen fresset« (ebd.: 143). Sie teilt ihm also unumwunden mit, dass bei ihm keine Libido mehr vorhanden sei, ihm also auch mit künstlichen Mitteln nicht geholfen werden könne. Damit ist das Publikum eingeladen, sich über diesen alten Mann lustig zu machen, der glaubte, in seinen hohen Jahren noch eine junge Frau sexuell befriedigen zu können, was für ihn aber in einem Fiasko endet, aus dem ihn auch keine Medizin befreien kann. Der Erzähler bietet also ein köstliches Beispiel dafür, welches Ergebnis auf einen alten Mann wartet, der sich so töricht verhält, nach dem Tod seiner Frau einer jungen Dame den Hof zu machen, obwohl ihm doch ganz die Kraft dafür fehlt, ihren sexuellen Wünschen gerecht zu werden. Erstaunlicherweise mündet aber der Schwank in ein Vers-Epimythion, in dem eine ganz andere Aussage den Ton angibt, insoweit als Kirchhof seinem Publikum die Warnung vermittelt, sich vor einer Missheirat zu hüten, in der es ständig zu Streit zwischen den Eheleuten kommen könne. Um den Altersunterschied geht es hier praktisch gar nicht, nur um törichtes Verhalten, das bewirkt, dass zwischen zwei Seiten unablässig Konflikte ausbrechen, weil sie unterschiedliche Wünsche verfolgen: »Ein alter mann und ein junges weyb/Die leben selten one keib« (ebd.: 143). Trotzdem enthüllt sich in diesem Schwank eine bemerkenswerte Szenerie, die zwar einerseits stereotyp den alten aber nur scheinbar lüsternen Mann vor Augen führt, andererseits mittels der Apothekerin die Erklärung dafür bietet, warum kein Rezept ihm würde helfen können, ist ja die Libido in ihm eingetrocknet. Aber auch darum geht
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es eigentlich nicht, sondern um die Frage, ob eine alte Person noch einmal ans Heiraten denken solle, und wenn ja, mit welcher Person. Der Schwank formuliert eindeutig die Empfehlung, dass die zwei Personen doch annähernd im gleichen Alter sein sollten, weil sonst die zu extrem unterschiedlichen Befindlichkeiten zu tiefen Konflikten führen können. Im deutlichen Unterschied zu Albrecht Dürers Darstellung seiner alten Mutter von 1514, die er zwar sehr realistisch, zugleich aber auch würdig gestaltete, griffen Schwankautoren wie Kirchhof, noch schärfer aber sein Zeitgenosse Michael Lindener, auf das Bild der abstoßenden, hässlichen und geradezu widerlichen alten Frau zurück. Dieser wurde 1520 in Leipzig geboren, wo er später auch studierte. Später finden wir ihn in Nürnberg und Augsburg, wo er als Lehrer, Autor und Gehilfe in Druckereien arbeitete. Wegen eines Mordfalls wurde er 1562 in der Nähe von Augsburg hingerichtet. Lindener interessiert uns hier vor allem wegen seiner zwei Schwanksammlungen Katzipori (1558) und Ratzipori (viermal gedruckt von 1568 bis 1578), während ich sein wesentlich beliebteres Werk Des Suenders Spiegel (bis 1630 im Druck) hier nicht berücksichtige (Classen 2009: 148f.). In Ein altes beschaben Bockfel/zuo Zwencke von einer alten Huore gesagt (Lindener 1991: Katzipori Nr. 52) entwirft Lindener ein extrem negatives Bild einer alten Frau, die er im Titel sogar als Hure verurteilt, ohne im Text selbst auf diesen Aspekt einzugehen (vgl. Lindener 1991; Rieche 2007). Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie schmutzig auftritt, unbändig fressgierig ist und gerne andere Menschen beim Einkauf von Lebensmitteln betrügt. Ein frommer Mann erzählt ihr eines Tages vom Himmel, um sie zur Bekehrung in ihrem Verhalten zu bringen, erhält aber nur eine freche Antwort darauf: »Auwe mir/ es stinckt mir mein Mawl nit nach dem Hymmel/sonder nach Ducaten« (Lindener 1991: 118). Trotzdem erkundigt sie sich, womit sie ihre völlige Ignoranz von geistigen Dingen zu erkennen gibt, ob es denn im Himmel guten Alkohol zu trinken gäbe, denn sie selbst trinkt sehr gerne zu allen Tageszeiten. Auf den Einwand, man wisse ja niemals, wann der Todestag eintrete, reagiert sie nur mit Spott, »ja es ist warlich war/ich weiß ja nit ob ich Morgen frue auff stehe oder nicht« (ebd.: 118), und gibt dann zu erkennen, dass allein sinnliche Genüsse (Essen und Trinken) für sie eine Rolle spielen. Lindener greift allerdings durch diese satirische Darstellung nicht alte Menschen schlechthin an, sondern benutzt diese höchst abstoßende Person, um seine Leser generell vor lasterhaftem Verhalten zu warnen: Der Gotlosen Leüt man yetziger zeyt vil findt/die da vermeinen das sie allein leben/ das sie schlemmen/vnd demmen/fressen/vnnd sauffen muessen/vnd nicht zymmlich Essen vnd Trincken (Lindener 1991: 119).
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Gerade weil es sich bei ihr um eine alte Frau handelt, die wohl von selbst an ihr Seelenheil denken müsste, steigert sich die Kritik Lindeners, während er das Alter an sich nicht speziell thematisiert. In Ein glaubwirdige Historia von einem alten Bauren erzelet (Lindener 1991: Katzipori Nr. 74) stoßen wir auf einen alten Bauern, der sich zunächst als ein rational denkender Mensch erweist, insoweit als er die Nachrichten der bevorstehenden Apokalypse, wie sie ihm von einem anderen aus Venedig berichtet wird, als eine törichte Angelegenheit behandelt, über die er nur lachen kann. Sein Gegenüber insistiert aber darauf, dass man hinsichtlich des Jüngsten Gerichts vorsichtig handeln solle, denn »jr wisset nit die stund oder zeit/inn welcher der Herr kommen wirt« (ebd.: 140). Nach dem Grund für seine Skepsis befragt, verweist der alte Bauer auf die Aussage eines Pfarrherren in Bayern, der ihm während seiner Jugend einmal die Auskunft gegeben hatte, erst wenn Frauen für zwanzig Jahre kein Kind mehr gebären würden und wenn dann eine Bademagd einen Sohn mit dem Namen Demmel zur Welt bringe, sei die entscheidende Stunde nahe. In Anbetracht der Tatsache, dass all diese Bedingungen noch nicht eingetreten seien, wäre jegliche Angst vor der Apokalypse als barer Unsinn anzusehen. Sein Nachbar aber weist ihn zurecht, von solch einer Bademagd und ihrem Demmel stehe nichts in der Bibel, mithin sei diese Prophezeiung als dummes Gerede abzutun. Spöttisch endet der Erzähler dann damit, dass er sich über Bauern generell lustig macht: »Also glauben die Bawren« (ebd.: 140). Die widersprüchliche Wendung in diesem Schwank, die plötzliche Umkehrung in der Bewertung des alten Bauern und die anscheinend ernstzunehmende Warnung vor dem kommenden Jüngsten Gericht deuten an, dass Lindener als Erzähler versagt und nicht merkt, welche gravierenden Brüche in der Darstellung auftreten. Für uns aber interessiert nur, dass hier ein alter Mann auftritt, der sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen lässt und die Katastrophenmeldung als kindisches Gerede zurückweist. Selbst wenn der Bürgermeister solche Nachrichten verbreiten würde, wäre er nicht bereit, deren Wahrheitsgehalt anzuerkennen: »vnnd erzürnet sich der alte Mann hart drüber« (ebd.: 140). Es wird nicht ganz klar, ob seine eigene Erklärung ernst genommen werden soll oder ob der Erzähler selbst davon überzeugt ist, dass das Jüngste Gericht naht. Wieso er dann zuletzt den Bauernstand generell als töricht charakterisiert, will sich nicht so recht aus dem Gespräch ergeben, und der Leser sieht sich vor dem Problem, zunächst Sympathie mit dem alten Mann zu empfinden, dann aber aufgefordert wird, den Topos vom dummen Bauern als generell gültige Regel anzuerkennen (vgl. Classen 2012). Dagegen steht aber die Ausgangsbasis dieses Schwanks, wo der alte Bauer nicht nur als eine eher kritisch denkende Person charakterisiert wird, sondern auch als ein rhetorisch geschickter Mensch, der wenig von solchen Ammenmärchen hält, wie sie ihm von seinem Nachbarn vorgesetzt werden. Lindener wechselt
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jedoch plötzlich die Richtung radikal und macht den Bauern dann doch zur Zielscheibe seines Spottes, obwohl viel eher anzunehmen wäre, dass die gebotene Erklärung ironisch aufzufassen wäre. Der Wert dieses Schwanks besteht aber insgesamt für uns darin, dass überhaupt eine alte Person auftritt und, was noch bemerkenswerter ist, über etwas reflektiert, was sie in der Vergangenheit, also in ihrer Jugend, von einem Pfarrer gelernt hatte. Einen weiteren Beleg dafür, dass in der Vormoderne alte Menschen eine Rolle spielten, liefert der Schwank Ein glaubwirdige Historia/von einem Sawrsenffer begangen (Lindener 1991: Katzipori Nr. 194). Dort heiratet ein 18 Jahre alter Mann eine alte Frau, was nur deswegen möglich ist, weil er schwer betrunken ist und nicht versteht, was wirklich vorgeht. Als er wieder nüchtern wird, vermag er aber nicht mehr, einen Rückzieher zu machen, und stellt nun fest, dass diese Ehefrau bereits »sechsvndachtzig Jar allt« ist (ebd.: 173), wie die Nachbarn versichern. In seiner Torheit errechnet der junge Mann ein Alter von 36 bei ihr, muss sich dann aber eines Besseren belehren lassen, was somit für den Erzähler als Beispiel dafür dient, wovor sich die Männer in seinem Publikum zu hüten hätten. Es ist an der Zeit, ein Resümee zu ziehen, um nicht in der Masse an literarischen Einzelfällen zu ersticken (s. auch Jörg Wickram). Alter an sich, das heißt das Leben als alter Mensch und die Probleme, die damit verbunden sind, kommt eigentlich ganz selten zur Sprache, denn die Autoren verfolgen gemeinhin primär soziale, ethische, religiöse und politische Ziele. Die didaktischen Intentionen hinter der Schwankliteratur zielen nicht so sehr darauf, Menschen in bestimmten Lebensstufen vorzustellen, sondern viel eher darauf, häufig auftretendes Fehlverhalten, Laster und sogar Verbrechen literarisch zu gestalten. Damit ist selbstverständlich die Absicht zur Unterhaltung nicht ausgeschlossen, ganz im Gegenteil, wobei sowohl persönliches Ungeschick und Dummheit als auch sprachlich geschickte Ausdrucksweise die Basis dafür abgeben können. Zugleich aber spiegelt die Masse an Schwänken das bemerkenswerte Phänomen, dass praktisch jede soziale Gruppe, jeder Stand, jedes Alter und Geschlecht zur Sprache kommt. Genauso häufig wie alte Figuren in den Schwänken auftreten, begegnen wir auch Kindern, und beide Male geben die jeweiligen Autoren zu erkennen, auch wenn sie noch so satirisch oder sarkastisch vorgehen, wie bewusst es ihnen war, worum es sich beim Alter handelt. Alte Menschen fungieren hier genauso selbstverständlich wie junge, kranke, gesunde, traurige oder glückliche, starke und schwache. Der besondere Wert der Schwankliteratur besteht insgesamt darin, dass sie einen mehr oder weniger fiktionalen Spiegel für die ganze Gesellschaft abgibt. Hinsichtlich des Alters dürfen wir daher konstatieren, dass von Sebastian Brant bis hin zu Hans
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Willhelm Kirchhof das breite Spektrum von Erfahrungen im Alter eines Menschen gestaltet wird. Die Leser werden u.a. dazu aufgefordert, über törichte alte Männer oder Frauen zu lachen, die immer noch auf Freiersfüßen gehen, obwohl sie physisch dazu eigentlich nicht mehr fähig sind. Insoweit als die Schwankautoren das Publikum unterhalten (und belehren) wollen, greifen sie ganz verständlich ungewöhnliche Situationen heraus, wie sie stets und überall im Leben des Menschen auftreten können. Genau das gleiche trifft also auch auf alte Männer und Frauen zu, von denen wir in der Literatur des 16. Jahrhunderts immer wieder hören. Der Altersdiskurs, den wir schon im Mittelalter deutlich wahrgenommen haben, setzte sich also in der Frühneuzeit fort, wobei allerdings die satirische Beurteilung von alten Leuten zunehmend an Gewicht zunahm, sehen wir von dem bemerkenswerten Beispiel in der Historie ab, die in Till Eulenspiegel enthalten ist. Es war den Autoren von Schwankliteratur ein zentrales Anliegen, törichtes und albernes Verhalten satirisch aufzuspießen und lächerlich zu machen. Zugleich liegen uns genügend Beispiele dafür vor, wie sehr sterbende Menschen von ihren Angehörigen Pflege und Hilfe erhalten, auch wenn gelegentlich ein Todkranker heftigst gegen die Kleriker polemisiert und sie sogar als Beichtväter ablehnt. Dann haben wir auch beobachten können, dass alte Menschen gelegentlich dafür benutzt werden, um durch ihre Bemerkungen das lächerliche Verhalten von Autoritätsfiguren bloßzustellen. Insgesamt trifft allerdings zu, dass alte Menschen in der zeitgenössischen Literatur nicht gesonderte Beachtung finden, ohne darüber vergessen zu werden. Wie unsere Analyse zu Tage gebracht hat, gehörten sie einfach dazu und wurden in die fiktionale Handlung einbezogen, wenn sich eine passende Gelegenheit dafür bot. Wirklich würdige alte Personen treten hier nicht auf, was wohl auch der Gattung des Schwanks widersprochen hätte – ganz anders etwa das mittelalterliche Heldenepos! Wir erfahren von Witwen und Witwern, sehen uns mit lüsternen Personen, sterbenden Menschen, alten Ehepaaren u.a. konfrontiert und können so gut wahrnehmen, dass Alter an sich nicht etwas Ungewöhnliches darstellte, ohne von den Schwankautoren speziell berücksichtigt zu werden. Der Altersdiskurs, den die Forschung bisher im Mittelalter zu identifizieren vermocht hat, setzte sich also, wenn auch unter etwas anderen Vorzeichen, in der Frühneuzeit fort, geriet aber dann zunehmend in den Griff von satirischer Betrachtungsweise. Ganz anders reflektierten die Autoren von Autobiografien über ihr eigenes Alter (vgl. Ulbricht 2008), und auch Maler und Bildhauer verstanden Alter in ganz anderen Begriffen (vgl. Janssen 2007). Die Auseinandersetzung mit Alter verlief also im 16. Jahrhundert auf unterschiedlichen Wegen, die alle letztlich dazu beitrugen, einen Diskurs über Alter zu formen, der recht vielfältig gestaltet war.
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Die literarischen Aussagen helfen uns mithin, kulturhistorische Perspektiven wahrzunehmen, die die Gegenwart mit der Vergangenheit verbinden. Der entscheidende Punkt besteht darin, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie der alte Mensch in der Vormoderne angesehen und beurteilt wurde, wie das Verhältnis der Generationen zueinander gestaltet gewesen war und wie bzw. ob man demgemäß alte Figuren würdigte oder brutal ablehnte. Mentalitätsgeschichtlich gesehen bietet gerade die Schwankliteratur, vielleicht die Trivialliteratur der Frühneuzeit, wichtige Einblicke in die Einstellung der Menschen zueinander über die Altersgrenzen hinweg, insbesondere weil die verschiedenen Autoren niemals zögerten, in ihren Texten alte Menschen auftreten zu lassen. Die literarischen Zeugnisse bestätigen, dass auch in der Vormoderne die Beziehungen zwischen den Generationen nicht unproblematisch gewesen sind, dass Alter als etwas Schwieriges angesehen wurde, weil es mit einer sozialen Marginalisierung einherzugehen drohte. Andererseits zwingt uns die literarische Analyse, genauso auch anzuerkennen, wie unterschiedlich alte Menschen gezeichnet wurden. Literarische Aussagen helfen uns mithin, frühe Stufen des Altersdiskurses zu greifen und diesen mit sozialhistorischen, wirtschafts- und politikwissenschaftlichen Erkenntnissen zu verbinden. Für die Gegenwart verspricht dies zwar auf den ersten Blick nicht unbedingt, wesentlich zum Verständnis von Alter an sich in der menschlichen Existenz beizutragen, aber alle Altersstufen sind in ihrem Selbstverständnis stark kulturhistorisch konstruiert, womit eben auch vormoderne Perspektiven wichtig sind, den Werdegang dieses Diskurses zum und über das Alter zu verstehen und für unser eigenes Leben nutzbringend auszuwerten.
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“It’ll remain a shock for a while” Resisting Socialization into Long-Term Care in Joan Barfoot’s Exit Lines Ulla Kriebernegg Her new home, sweet home. But mustn’t start on a sour note, or a dubious one. […] This will be fine. Fine enough. It only takes getting used to, and a little while to get settled. It’ll remain a shock for a while, being incarcerated in this genteel, open-doored prison. (Barfoot 2009: 16)
When Sylvia Lodge, one of the protagonists in Joan Barfoot’s novel Exit Lines (2008) decides to move into the Idyll Inn, a retirement lodge in a small city somewhere in North America, she is aware of the fact that this transition may be the last time she moves house in her life – unless she has to relocate from the retirement lodge to a nursing home, “the next step downwards en route to incapacity’s basement”, (Barfoot 2009: 20) as she cynically puts it, using the common spatial metaphor of aging as decline. “Currently, nursing homes signal failure – of old people to remain independent and of family members to provide adequate care”, Canadian literary gerontologist Sally Chivers argues and continues, “nursing homes invite fear partly because they house a conglomeration of what people often dread about old age. If old age were not necessarily to conjure up negative opinion, nursing homes may, in turn, not seem or be as threatening” (Chivers 2003: 57–58). The fears Chivers addresses are reflected and processed in literature and film, and fictional representations of institutionalized eldercare are currently booming. When nursing homes are represented in novels or films, such depictions usually put emphasis on the fact that a care home is more than simply a building. Rather, it is “a micro-complex of architectural, administrative, financial, clinical, familial, symbolic, and emotional interactions and power relations” (Katz 2005: 204). Although it is rather difficult to theorize the nurs-
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ing home due to the vast differences not only in terms of geographical, cultural, socio-political and economic contexts (Chivers 2003: 60), the last decades have witnessed, as Stephen Katz observes (2005: 204), the production of institutional ethnographies and socio-gerontological studies that deal with the conditions of living and working in institutional, residential, and community-care spaces1 . This development is paralleled in the field of literature where the creation of a genre can be observed that could be called ‘care home narratives’, fictional texts and films that are either set in such facilities or deal with the complex array of problems and feelings associated with moving oneself or relatives into a long-term care-giving institution. Although Joan Barfoot’s novel Exit Lines is set in a retirement lodge and its residents “are touchy if it’s confused with a nursing home” (Barfoot 2009: 66), the space of the institution still impacts its residents’ self-identity, and the institutional processes that interpellate the characters into their roles as residents/patients (“Here, people are residents, at least to their faces” (ibid.: 29) can be traced in the novel, as I will show in this paper. A vast body of work has been produced on the space of the care home and its relation to aging and identity by sociologists, critical gerontologists, cultural gerontologists, and cultural geographers (Dyck et al. 2005; Kontos 2012; Katz 1996; Gubrium 1999; Gubrium 1997; Diamond 1992; Johnson et al. 2012; Andrews/Shaw 2008), and a few studies have been conducted that look at the aging body in institutional frameworks, most notably Julia Twigg’s (2006; 2007; 2010) analyses of bathing and clothes; One study, however, is outstanding in so far as it is the only one that examines the institutional processes by which new residents are socialized into nursing home life and culture. In their recent article “Becoming institutional bodies: Socialization into a long-term care home”, Elaine Wiersma and Sherry Dupuis describe five institutional-level processes from a health science perspective that transform individuals into “institutional bodies”. Based on qualitative interviews with long-term care residents and staff, they were able to determine five distinct processes of disindividualization that begin with a person’s entry into the care environment and end with what they refer to as a “silencing of the self” (Wiersma/Dupuis 2010: 290). In this paper, I will show that the five processes Wiersma and Dupuis describe in their study are also traceable in Canadian author Joan Barfoot’s novel Exit Lines. When I read the novel, I was struck by the similarities of Barfoot’s fictional account of the retirement home with the description presented in Wiersma and Dupuis’ study. The impact of institutionalization on their self-iden1 | In this context, Katz mentions Timothy Diamond’s Making Gray Gold. Narratives of Nursing Home Care (Diamond 1992) and Jaber F. Gubrium’s Living and Dying at Murray Manor (1997) which are inspired by Erving Goffman’s Asylums (1961).
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tities as aging individuals and the subsequent transformation into “institutional bodies” is clearly visible in both accounts. Yet, Barfoot’s protagonists manage to subvert and undermine institutionalization, carving out niches of individual agency that allow them to redefine themselves as individuals in the new environment. In Wiersma’s and Dupuis’ study, on the other hand, “residents’ bodies became institutional property” (ibid.: 288) and are not reported to have in any way attempted to subvert, resist or challenge the silencing of the self (Wiersma/Dupuis 2010: 290). Hannah Zeilig has formulated two questions in this respect. She asks, “[i]s it feasible to extrapolate from literature in order to gain insight into other fields of inquiry? If so, what can be gained from literature, what is the type of information which it can yield?” (Zeilig 1997: 40). In this context, my analysis focuses on the question what it is that literary critique lends to our understanding of the transition process into institutional care that we do not get from other disciplines, or that can only be tapped in an interdisciplinary approach that incorporates literary criticism. As the intersections of space, time, age, embodiment, and identity have not yet sufficiently been tackled from a literary gerontological perspective,2 this article aims to fill this gap. As a literary gerontologist, my approach is indebted to Anne Wyatt-Brown who argued that it was “a daunting task” for literary scholars to “study gerontological issues and theories, master an unfamiliar social science vocabulary, and attract an interdisciplinary audience capable of responding intelligently and critically to their insights” (Wyatt-Brown 1990: 299–300). I fully agree with Wyatt-Brown, because I think that in order to work interdisciplinarily, it is crucial to be familiar with the discourses and approaches of other disciplines, but I also support Roberta Maierhofer’s point of view who adds that “the field of literary gerontology can only be established with a better understanding of what literature is and how it works rather than with literary critics having to use traditional gerontological methods” (Maierhofer 1999: 256). In this article, I will try to bridge both arguments, Maierhofer’s and Wyatt-Brown’s, by comparing Wiersma’s and Dupuis’ health-studies based analyses to Barfoot’s fictional account of the care home as a space and the institutional processes represented in the novel. Highlighting the significance of spatial arrangements as a critical and experiential framework through which contemporary cultural constructions of home and embodied subjectivity can be understood, my analysis of Exit Lines will also explore representations of transition experiences from home into institutional care to unveil the complex operation of spatial and institutional dynamics for the construction and redefinition of self-identity. On the one hand, I will focus on how 2 | A notable exception being Sally Chivers’ book chapter “Here, Every Minute Is Ninety Seconds” in her groundbreaking study From Old Woman to Older Women (2003).
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moving into a care facility affects the characters’ senses of self. How do they cope with the adaptations demanded by the care-giving institution, and how do the processes Wiersma and Dupuis define play out in the novel? Here, the residents’ perspectives and their points of view are foregrounded by focusing on their subjective experiences while adjusting to a new place – that of the Idyll Inn. On the other hand, I will analyze how the institution itself is narrated, paying attention to the structural mechanisms that objectify the characters by defining them as “institutional bodies” (Wiersma/Dupuis 2010). Most importantly, however, I will try to show how the literary representation of life in the care home can, despite its incorporation of all sorts of disciplinary processes, pave the ground for subversion and agency also among ‘institutional bodies’ and thus serve as a challenging counter-narrative in order to defeat the nursing-home specter.
B ECOMING INSTITUTIONAL BODIES When Elaine Wiersma and Sherry Dupuis described the institutional processes by which new residents were socialized into nursing home culture and environment, they argued that “there is much yet to learn about the body–place relationship, particularly surrounding long-term care. The long-term care environment is an illuminating example of the body–place relationship, and of the ways in which place can so completely structure body and body-identity” (Wiersma/Dupuis 2010: 289). They conducted nine qualitative interviews with residents and fifteen interviews with staff of a long-term care facility in Ontario, Canada over a period of six month where they also spent time with participant observation. The interviews focused on residents’ experiences during their transition periods, on aspects of life in the residence, changes in life and routines, perceptions of self and identity, social interactions, and staff assistance (ibid.: 280). Wiersma and Dupuis base their argument on the work of Jaber Gubrium’s Living and Dying at Murray Manor (1997) and his ‘bed-andbody work’ approach where he describes how staff limited their tasks to merely focusing on residents’ bodily needs and on making beds (ibid.: 123, quoted in Wiersma/Dupuis 2010: 278). This approach to care-giving, they argue, has striking consequences for residents of long-term care settings, most noticeably the tendency of residents to dismiss any self-definition (Wiersma/Dupuis 2010: 278). Similar findings have been made by Timothy Diamond in Making Gray Gold: Narratives of Nursing Home Care (1992) who describes life inside a care home “where he witnessed the processes by which residents’ identities were erased” (Wiersma/Dupuis 2010: 279). Wiersma and Dupuis open their article with a reference to Erving Goffman and his classical work Asylums, arguing that care homes are often likened to his description of “total institutions”: A
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total institution, Goffman argues, may be defined as “a place of residence and work where a large number of like-situated individuals, cut off from the wider society for an appreciable period of time, together lead an enclosed, formally administered round of life” (Goffman 1961: xiii). Although many care-giving institutions have changed significantly in the last decades and allow for more agency and freedom on the part of residents or patients than in Goffman’s days, many of the elements Goffman describes are still prevalent. The Idyll Inn in Exit Lines is not a nursing home, but a retirement lodge, which is pointed out at several occasions in the novel, and thus rather a “pseudo-total institution” (Heinzelmann 2004) where the characteristics established by Goffman (1961) are still traceable but determine residents’ lives to a lesser extent, and where for instance more privacy and agency is possible. Yet, the residents in Exit Lines undergo systematic institutionalization processes similar to those Wiersma and Dupuis have defined in the context of Goffman’s approach. Moving into institutional care redefines notions of individualism and self-determination and thus also impacts the development of a life-course narrative. The processes that lead to this “mortification”, Goffman argues, are “fairly standard in total institutions” (ibid.: 14) and include everyday chores such as bodily care performed by staff, which can be particularly threatening, “rendering older people as bodies that need to be cleaned, dressed, maintained, and treated” (Ryvicker 2009: 13). In Foucauldian terms, these bodies are “docile bodies“ (Foucault 1995: 135) and thus subject to the clinical or social “gaze” (ibid.: 174). As such, they are positioned as ‘other’ in relation to staff. In their study, Wiersma and Dupuis also conceptualize place as the constituting element of social life in the home, particularly in caring encounters, and define placing the body, defining the body, focusing on the body, managing the body, and relating to the body as processes that lead to a disregard of emotional and cognitive aspects, silencing the self (Wiersma/Dupuis 2010: 290). The study “offers the possibility of understanding social structures through understanding individuals’ lived experiences within specific contexts” (ibid.: 279).
E XIT L INES Joan Barfoot’s novel tells the story of three women, Sylvia, Greta and Ruth, and one man, George, who meet – or meet again, the city being rather small – as they become residents of the Idyll Inn. Soon, the four characters become friends and subvert the rigid rules imposed by the management. Barfoot sets her novel in a luxurious place boasting a sun deck, large suites, a shuttle service into town and birthday cakes for people “with healthy incomes but varying hopes, despairs, abilities and infirmities” (Barfoot 2009: 231). The
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care home she describes no longer has much in common with the Victorian poorhouse that informed the “nursing home specter” Betty Friedan talked about in The Fountain of Age (1993) where she writes about her and her friends’ personal experiences with care giving institutions, equating them with “death sentences, the final interment from which there is no exit but death” (ibid.: 510). This exit is also what the novel’s title Exit Lines plays with. It refers to the words that an actor or actress utters before leaving the stage – in the case of the nursing home, the metaphorical stage of life that Ruth, the “baby” with only 74 years of age, intends to leave by committing suicide at a certain point, namely exactly on her 75th birthday. To prepare for her exit, she carefully crafts her speech with which she intends to ask her three friends for help as she cannot carry out her elaborate plan without them. Ruth, having carefully considered and dismissed a number of ways to kill herself as too unreliable, messy or painful, decides on a simple method: “Dry cleaner bags, duct tape, little scissors – primitive tools, but as Ruth says, ‘Simple is best’” (Barfoot 2009: 263). After being rather shocked at Ruth’s request, her three friends eventually decide to help her. Becoming sort of partners in crime, they start to experience a new quality of friendship as there is now a certain common goal. When the night has come, they gather in Ruth’s room, once more trying to convince her to re-evaluate her decision. Ruth, however, seems quite determined. Just before they actually set out to wrap plastic around Ruth’s head, Greta suddenly collapses with a severe heart problem. Sylvia instantly runs for her medicine, while Ruth gets up from her bed to let Greta lie down in it. Together, they competently manage to save Greta. Ruth, recognizing the new quality friendship has given to her life, determines to put aside her suicide plans. The plot is resolved when Ruth realizes that the support of her new friends makes life meaningful (cf. Life 2012: n. p.).
P L ACING THE B ODY In Wiersma’s and Dupuis’ article, “placing the body” refers to new residents’ experiences of where they were located “within the physical and social environment” (2010: 281) of the institution. “Residents did not have much body privacy,” Wiersma and Dupuis write, “since staff had access to their bodies whenever and however they demanded it. […] Residents had to re-define how they thought about privacy in the context of a long-term care environment” (ibid.). In order to maintain a semblance of privacy, the concept had to be redefined or disregarded altogether. In this context, residents reported having problems sleeping and being nervous during the first days spent in the facility. They had to learn “the physical place in which their bodies would be residing. They had to learn their way around, become accustomed to the sights and sounds of the facility,
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and for some, adjust to having a roommate. Placing the body also reflected the meanings of a place that was not defined as ‘home’ by any of the participants” (ibid.: 281). In Exit Lines, this process can be clearly traced with all four protagonist residents as focalization oscillates between the four characters (and Annabel Walker, the manager, in some instances) who all develop different coping strategies. As Sylvia Lodge functions as the prime focalizer in large parts of the book, I will mostly concentrate on her perspective. The novel opens with her account of the transition: She must learn not to think home of the place she has left, even if she lived there for half a century and has been here for maybe ten minutes. So much will need swift redefining; for instance, what’s referred to here as the living room, with its sturdy bluey-grey spillproof carpeting and pale yellow blank walls ... it will be her sitting room. That being, she expects, her main activity in it. (Barfoot 2009: 13)
What used to be “living” – connoted with activity – is now reduced to mere “sitting”, which can in itself be very emotionally and mentally active, but is here, through its opposition to “living”, connoted with dying, or at least idleness. The residence’s ambiguous name “Idyll Inn” that can also be heard as “Idle Inn” foregrounds this stereotype of inactivity in old age and emphasizes a decline narrative. Equally, Sylvia’s interpretation of the spillproof floor-cover underlines the narrative of physical decline. Although the room does not have a linoleum floor as common in a hospital or nursing home room, the easy-to-clean carpeting has been put there for reasons of institutional efficiency and hygiene. Sylvia has moved into the retirement lodge on her own initiative, a sign of agency in late life – before actually becoming a burden for her daughter Nancy, and – in a passive-aggressive mode – has not even told her about her decision. She also tries to justify this move by imagining a positive future for herself, forcing herself to see it in an optimistic light: “Her suite is the seventh door on the left down this wide hallway. Her sanctuary; her vacant sanctuary at the moment, pending the arrival of her possessions. The remains of her life. Don’t think of them that way” (ibid.: 12). Always having been very disciplined, Sylvia forbids herself to let herself go and tries to shut out even the smallest doubt that moving into a home eventually means that she will have to deal with thoughts about the finiteness of her being. Clinging to her independence, she is determined to enjoy life in her new home, imagining herself on her private sundeck that she will furnish with “her own private lawn furniture… She sees herself out there in loose trousers and shirt, a book and binoculars, the world of the sitting room left well behind” (ibid.: 13). Sylvia imagines a space of her own, outside of
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the home and at the same time part of it – a transitory space that allows her to benefit from both places, uniting aspects of institutional care-giving and independence. She feels the need to reinforce her freedom and stresses the fact that she will be able to freely move, or at least imagine such choice, between institutional and private space as she intends to replace the “clinically white vertical blinds” with “a second door to the outdoors and her own private deck” (ibid.: 13). Sylvia will decide herself to what extent she is symbolically and literally inside or outside the institution, and the door, more substantial than mere blinds, will reinforce the borderline. Although she feels that her freedom to move about is jeopardized, she still tries to convince herself that keeping up a good spirit is what she needs to do. Determined to think positive, she tries to reformulate her concerns and fears into affirmative ideas, giving them “[t]he most positive possible spin” (ibid.: 16). In her fight to remain independent despite institutionalization she wins an argument with the institution’s manager Annabel Walker who tried to talk her into moving to the second floor “where the most lucid and able are supposed to gather in merry segregation” (ibid.: 14). As in many institutions, the residents’ or patients’ abilities determine which floor they live on. In the Idyll Inn, the upper floors are allocated to those who need little help while the main floor rooms are kept for residents who, as Annabel expresses it, “can’t move so independently” (ibid.: 14). Sylvia sees them as ‘other’ and defines herself as not being part of them, which she underlines by insisting on moving into a suite on this particular floor: “Having a deck suits me best. Have you considered that your plan is entirely backwards? Of course that’s up to you. And your other residents. But as for me, this is my choice” (ibid.: 14), Sylvia tells Annabel Walker. She will not simply be allocated a space, reduced to her body that is placed in the institution. She has a self-understanding as a paying customer and thus insists on her freedom to choose. The aspects of freedom and choice are linked to keeping personal control, which the narrative highlights when Sylvia cannot help noticing the small differences that seem to foreshadow her future as a more dependent person, “The toilet and shower feature bars to hold on to and lift off from as need be. It’s the little things, isn’t it? While other little things can turn at the flip of an ankle into quite large things” (ibid.: 12). As this passage shows, Sylvia’s move to the Idyll Inn redefines her first and foremost in terms of physical abilities. It is primarily her aging body that will be taken care of, and she learns that decisions on which floor she may reside are usually up to nurses and medical practitioners who cite physical aspects as a basis for such decisions. Sylvia’s adjustment process in the facility and her negotiation of her new self-identity mirror the process of placing the body Wiersma and Dupuis described, and although she is aware of it and manages to subvert many of the
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institution’s strategies, they are experienced as threatening to her identity as an independent and self-determined person.
D EFINING THE B ODY Shortly after residents come to live in an institution, there are a number of examinations and other tasks that staff are required to perform with the newly arrived individuals. Wiersma and Dupuis noticed that while residents themselves did not discuss the process of defining the body, staff found in it a significant part of the arrival process. They describe how the staff discussed at length the tasks to be completed upon admission, all focusing on different aspects of the body and body care, stating that “there’s a lot of admission forms. There’s a choking risk assessment and a falls background, their diagnosis, weight gain, likes and dislikes for dietary” (Wiersma/Dupuis 2010: 282). From the first moment residents are admitted onwards, they are “made aware that the body was the focus of the attention of the staff of the facility” (ibid.), defining and assessing individuals as mere bodies. This process and its normalizing and disciplining effects have already been described by Michel Foucault who states in Discipline and Punish: The examination combines the techniques of an observing hierarchy and those of a normalizing judgment. It is a normalizing gaze, a surveillance that makes it possible to qualify, to classify […]. It establishes over individuals a visibility through which one differentiates them and judges them. That is why, in all the mechanisms of discipline, the examination is highly ritualized. In it are combined the ceremony of power and the form of the experiment the deployment of force, and the establishment of truth. At the heart of the procedures of discipline it manifests the subjection of those who are perceived as objects […]. (Foucault 1995: 184)
The institutional gaze Foucault mentions helps to interpellate individuals into their roles as patients. In Exit Lines, George Hammond experiences this definition process after his stroke when he is institutionalized: “Are you George Hammond? […] That’s the name that comes up on my screen. – is that you?” “Ahh”, he says (Barfoot 2009: 24). A little later, “[p]eople ask questions, they have him do this and do that, raising his right arm, for instance, and failing to raise his left one. And all these days, weeks, maybe months, time is nothing. It is day or night, but it no longer extends the way it used to into time passing or getting somewhere” (ibid.: 25). Through describing bodily symptoms and the process of assessing, evaluating, and documenting, emphasis is put on bodily infirmities and impairment. Al-
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though George experiences this process in hospital, not in the residence itself, it marks the transition phase into his new life as a dependent person who is confined to a wheelchair and subject to the institutional gaze. This gaze is embodied by Annabel Walker who offers him a space in the Idyll Inn, provided he does not get worse, defining as her “basic criteria for residents, […] necessarily, security of assets and degrees of health or ill health” (ibid.: 231). George’s body is defined as still healthy enough to stay in the Idyll Inn.
F OCUSING ON THE B ODY As opposed to hospitals, where acute medical treatment is offered and emphasis is put on healing and releasing the patient, retirement homes are seen as ‘maintaining’ the body through adequate body care. The focus on the body is especially prevalent when personhood is seen as disappearing, as is often the case with people diagnosed with dementia3, but the homogenizing and disindividualizing processes at work in long-term care facilities affect any resident moving into institutional care. Among such processes is a phenomenon referred to as ‘elderspeak’. Many residents feel uncomfortable when their names are replaced by diminutive forms such as ‘honey’ or ‘sweetheart’. Sylvia Lodge in Exit Lines experiences ‘elderspeak’ and feels that her personality is eradicated by the lack of privacy, the disrespectful treatment of her as an individual, and the mere focus on her body: On Sylvia’s very first night here, the evening-shift aide assigned to the main floor barged into her suite without knocking. ‘Hi hon, I’m Diane, I’m here to help you get ready for bed and give out your m e dications and night-time snack. Okay with you, sweetie?’ Did no one train these people? If they lacked the wits themselves, did someone not suggest that residents might be lonesome or homesick or just plain sad, or be lost in their own thoughts and adjustments, and shouldn’t be startled by some perky thing bouncing into their private space all unannounced, as if that were normal at the door of a stranger? […] She raised herself from the loveseat, then paused to make sure her voice wouldn’t for one reason or another carry tremor. Ditto her legs, and her hands. ‘How do you do? I am Mrs. Lodge, and I am by no means your hon, or your sweetie. In future, too, I would like to knock, as you would at any home. Also’ – she peered at her watch – ‘it is only seven-thirty. If you come back at ten, we’ll discuss what you might do for me then.’ (ibid.: 77–78)
3 | The mind-body dualism as well as the loss of personhood that is said to accompany dementia has been challenged by Pia Kontos (2012).
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This passage describes Sylvia’s first encounter with the nurse and shows how Sylvia sees herself in the role as a paying customer rather than a ‘patient’ – a role she keeps rejecting. She is the one most consciously defying the processes that interpellate her into the patient/resident role which leads to constant discussions with the facility manager and the staff who try to force her to behave according to the written and, more importantly, unwritten, rules of the institution. With regard to such rules, Erving Goffman argues, [i]n every social establishment, there are official expectations as to what the participant owes the establishment. [...] And behind these claims on the individual, be they great or small, the managers of every establishment will have a widely embracing implicit conception of what the individual’s character must be for these claims on him to be appropriate. Whenever we look at a social establishment, we find a counter to this first theme: we find that participants decline in some way to accept the official view of what they should be putting into and getting out of the organization and, behind this, of what sort of self and world they are to accept for themselves. [...] We find a multitude of homely little histories, each in its way a movement of liberty. Whenever worlds are laid on, underlives develop. (Goffman 1961: 304)
Sylvia’s and her three fellow residents’ friendship develops into such an underlife which gains its impetus also from the difficult adjustment and transition processes into long-term care. The most extreme form of such underlife is clearly their plan to help Ruth commit suicide, but apart from this most obvious subversion of institutional power, the four friends defy institutional structures also by gathering in Sylvia’s room in the early evenings to enjoy some chardonnay from the little fridge she has brought along, a small routine that is frowned upon by Annabel Walker, the manager who argues that “drinking is dangerous just for getting around, never mind for mixing with different medications” (Barfoot 2009: 83). Here again, the focus is on their bodily health; whether they enjoy a little bit of company and thus feel more at home is irrelevant; Annabel in her function as the institution’s manager is responsible for her residents’ bodily health and sticks rigidly to institutional rules. What the passage above also reveals is the lack of privacy, the lack of person-centered care-giving in terms of psychological needs, and the fact that Sylvia feels reduced to her body. All these aspects are included in her complaint to nurse Diane, and Sylvia hopes that her body will not give away how nervous she actually is. She experiences her legs, her hands and her voice as unpredictable, and is thus already in the middle of the process of being socialized into the institution. The unpredictability of the body is another experience the characters in Exit Lines share with the interviewees in Wiersma’s and Dupuis’ (2010: 283) study.
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Moving into long-term care made them more aware of their bodily shortcomings and thus the inevitability of aging: “It’s the knowledge that it [health and independence] will never return. That is the bitter end”, a resident remarked during one of the interviews (ibid.). “When your mind makes a promise your body can’t fulfill, you’re over the hill, Bill”, a resident cynically states, describing the symptoms of his Parkinson’s disease (ibid.), an illness that requires measures such as spillproof carpeting as Sylvia notices it in the novel. Moreover, the focus on the body is prevalent in every day relationships between care-givers and residents. “Everybody wants to know if I’m having a bowel movement”, one of the participants in Wiersma’s and Dupuis’ study stated, and a care-giver added, “it’s interesting, because lots of my conversations with people is about that. […] It’s like the focal point of people’s lives becomes around bodily functions” (ibid.). When asked how they felt, residents’ answers were usually centered on bodily symptoms. Also in Exit Lines, individuals are referred to not by their names, but by their ailments, and conversations focus on these aspects. Sylvia Lodge experiences the focus on the body when she moves in and meets new people. Instead of remembering their names, she remembers their ailments, “But for the time being there are new voices and sounds and new people, a two-storey Petri-dish of adjustments among the lame, the halt, the partly deaf, the half-blind, the liver-damaged, ovary-missing, joint-stiffened, determined veterans of decades of breathing: quite a crew” (Barfoot 2009: 62). In a strange way, Sylvia is almost growing attached, she says, to other people’s “offering up far too much information about bladders and bowels” (ibid.: 90). Focusing on the body already starts when the three women meet for the first time: ‘How do you do, I’m Sylvia Lodge. May I join you?’ ‘Yes, of course, please, I am Greta Bauer.’ ‘Ruth Friedman.’ Ruth notes arthritis that looks rheumatoid, the cumbersome, misshapen joints in a different category from her own osteo. (Barfoot 2009: 50)
Ruth’s focus here is on her and her colleagues’ illnesses which is also explained by the fact that Ruth used to be a gymnast. Contrary to the controlled movements she was able to perform in competitions, she now experiences her aging body as unpredictable: “Now, when bones bend and turn on themselves, the flamboyant boldness of the girl, along with comprehension and pity, are visited in old age on the woman, but what child thinks of these things?” (ibid.: 93) The unpredictability is hard for her to endure and eventually triggers Ruth’s decision to kill herself. Ironically, it is Greta’s unpredictable body that saves Ruth’s life and deepens their relationship. The unpredictable body is a “socialization
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agent” (Wiersma/Dupuis 2009: 284) which structures and alters residents’ lives.
M ANAGING THE B ODY The management of the body is a central component of institutional life and its routines. Institutional management requires functional body management. Wiersma and Dupuis observed that residents were made aware “of the expectations that the body fit into the structures of institution. […] Although body care was important, staff schedules and routines were much more important than the body. In this way, while the body was still in focus, it was managed to fit in with the day-to-day routines and structures of the institution” (ibid.), among them care routines such as toileting and clothing, and often these routines included substantial waiting times. Waiting was also used as a consequence for residents who did not conform to staff requests (ibid.: 285). “That’s the one thing you’ve got to learn around here – to wait”, a resident in Timothy Diamond’s study of long-term care Making Gray Gold complains (Diamond 1992: 95). Similarly, Ruth in Exit Lines has been made aware of the fact that waiting was part of the ways to make residents aware of their bodies being managed, and she observes many people aimlessly putting in time, “as if their lives freeze-framed when they moved here, and there’s nothing to be done now but wait” (Barfoot 2009: 89). Waiting for care is seen as a normal part of long-term care both by staff and residents, Wiersma and Dupuis confirm (2010: 284). George Hammond in Exit Lines also experiences the management of his body as a process that socializes him into the Idyll Inn. Being dependent on nurses for his bodily care demands a lot of readjustment on his part. When on his first night in the Idyll Inn nurse Diane helps him get ready for bed, he feels ashamed and is grateful for her friendliness: ‘My name’s Diane, I work evenings so you’ll see a lot of me at bedtimes. Want to start with a trip to the bathroom?’ She looked friendly and strong, and he didn’t too much mind having her arms locked around him as they located his place on the toilet, although he did mind that first she had to tug down his pants, and then he had to sit with his shanks showing, and under some pressure. But there too she was kind, because she said, ‘Are you ok here for a few minutes on your own? I can deke out and check on one or two of your neighbours while you have your privacy, okay, sweetheart?’ (Barfoot 2009: 79)
As soon as she has left, however, George is afraid she might forget him and imagines himself sitting there all night, “because what if she forgot?” (ibid.).
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Luckily he remembers the button he now wears around his neck on a cord. Still, waiting for her to return makes him aware of his role as a patient. His physical incapacity is experienced as shameful and humiliating, a feeling he had not encountered frequently earlier in his life. Confronted with his sudden dependency on the help of others, he craves for a little freedom of choice, thinking, “it does seem that things can just happen and boom, there you are, struggling for words and other things, for a bit of freedom, some choice independently made” (ibid.: 30). Trying to keep his autonomy, George manages to flush the toilet which requires him to lean forward, almost causing him to topple headfirst off the toilet. When Diane finds out, she scolds him. “‘Oh,’ she said, ‘you shouldn’t have done that.’ Maybe that’s what made her rougher: alarm” (ibid.: 79). This situation is an example of care-giving institutions’ risk management. The potential risk of George falling implies that his body is frail and needs protection. Wiersma and Dupuis argue in this context, [b]y managing risk, residents were taught that their bodies were frail and old, and needed to be protected at all costs. As such, desires to maintain independence and personal care were disregarded as staff set limits as to what residents were ‘allowed’ and ‘not allowed’ to do with their bodies. […] Risk management as an ideology structured residents’ day-to-day lives and experiences (2010: 286).
Here, carework becomes bodywork for the care-giver as well as for the recipient, as feelings such as shame and embarrassment emerge (Katz 2010: 359). In the novel, emphasis is put on those feelings which interpellate George into his role as a resident-patient. The positive aspects care-work can also entail, such as inter-generational understanding and the development of a good relationship that emphasizes the need for mutual support, are invisible in the narration. Yet, these aspects are also relevant in institutional care and should therefore be mentioned here. Canadian sociologist Stephen Katz (2010: 359) for instance argues that “carework can also provide an opportunity for equality and reciprocity that generates mutual respect, dignity and friendship between people who learn to care for each other, whether they give or receive care-work”. This aspect leads to the last process to be discussed here.
R EL ATING TO THE B ODY This theme includes relationships and their contexts, as institutional rules and processes do not only structure how bodies are placed, defined, focused on, and managed, but also how the facility and its very nature define the boundaries of such relationships. Wiersma and Dupuis (2010: 286) point out that relationships are defined by institutional rules and regulations as well as by
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architecture and the possibilities an institution creates for encounters. Their study revealed that institutions either facilitate and encourage or limit relationships between residents as well as between residents and staff. The Idyll Inn as a place also structures such relationships and exerts its power on its inhabitants, as the opening paragraph of the novel reveals: At three o’clock in the morning, that defenceless hour when anything feels possible and nothing human or inhuman out of the question, the Idyll Inn’s only sounds are the low hum and thrum a complicated building makes to keep itself going. Like any living body, even a sleeping or unconscious one, a building has to sustain its versions of blood and breath, so there’s a perpetual buzz to it, white noise to the night. With only those faint sounds of companionship, three o’clock in the morning is an uneasy hour for the wakeful. (Barfoot 2009: 1)
The simile and personification suggest that the building has a certain life of its own and thus affects its inhabitants, constantly making them aware of itself. Another perspective of the Idyll Inn that relates the house to the body is also presented in the next chapter: “This Idyll Inn, if viewed from the unlikely vantage point of the air, more or less resembles a sperm: a rounded head with a long two-storey tail” (ibid.: 4) with all the “friendly, communal, well-intentioned features located in the part of the building which would, from the air, form the plump head of the sperm” (ibid.: 5). Whether the shape of the building should underline the fact that it houses active life or even represents a new start in life, or whether the metaphor alludes to an eternal circle of life and death, it seems almost absurd and certainly bears some irony which is reinforced by the description of what the sperm’s head contains. It houses the staff office with “harried people, women, on a steep learning curve” (ibid.: 6) and the “illnamed library, a dark paneled room with no books” (ibid.: 6) – descriptions that highlight the fact that the emotional aspects of care-giving are not very well taken care of in the Idyll Inn. Yet, there is no point in complaining to anybody because “[c]omplaints risk retribution” (ibid.: 76), as Greta observes with an air of disillusionment and fear at some point – a phrase characteristic of the relationships between residents and staff at the Idyll Inn. Relationships among residents themselves are to be formed in the unwelcoming common areas such as the dining room with “a certain draftiness around some of the windows” (ibid.: 7), the crafts room and the coffee lounge where all sorts of gatherings can remain within the control of the staff. Sylvia, however, is suspicious of activities that are forged by planned encounters: “Relationships are bound to develop, but obviously it will be necessary to hold out against forced jollity. Presumptuousness. The sort of thing that leads to sing-alongs, and clumsy exercises from a seated position to the tunes of old ballads” (ibid.: 11). These disciplinary acts, as Sylvia understands them, reverberate Michel Foucault’s (1995: 174) notion of
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the institutional gaze, but Sylvia and her friends radically undermine all kinds of disciplining. For this reason, Annabel Walker, the embodiment of institutional discipline, is suspicious of the group meetings in Sylvia’s room – and she is right, as they are actually held to prepare for Ruth’s suicide. In Discipline and Punish, Foucault (1995: 201) talks about the effect of the panopticon to “induce in the inmate a state of conscious and permanent visibility that assures the automatic functioning of power”. It is precisely here that Exit Lines subverts discourses of normalization. While this consciousness has also been induced in the residents of the Idyll Inn, they still reject and even reverse, as Patricia Life has also pointed out, institutional discipline and any attempted administrative gaze. “They boldly move about the residence in the middle of the night in the dark, and they know more about the administrator’s private secrets than the administrator herself does” (Life 2012: n. p.). Life argues, alluding to the fact that Annabel Walker’s father used to be Sylvia Lodge’s secret lover, and Sylvia is well informed about Annabel’s turbulent family history. When they finally set out to euthanize Ruth, the rejection of the institutional gaze is at its peak. They manage to carve out a niche of independence and self-determinacy, and although the mutual euthanasia pact of the residents may be seen as a rather extreme example of personal agency, the text here suggests, as Patricia Life has argued, that the residents might seize the ultimate agency, that is, agency over their very existence (Life 2012: n. p.), challenging the spatial practices of the institution as well as the assumption that they had become institutional bodies.
C ONCLUSION What is it now that literary critique lends to our understanding of the interplay of age, identity and space in long-term care settings that we do not get from other disciplines? Where can literary criticism offer findings that go beyond the results offered by Wiersma and Dupuis? In their conclusion, they argue that “as the body was managed, it was also erased as experiencing. […] In the making of institutional bodies, and as a consequence of it, the self is silenced” (Wiersma/Dupuis 2010: 290). There is, as this passage shows, no room at all for any agency on behalf of the residents. This bleak statement reinforces a decline narrative and brings the nursing home specter back to mind. Yet, Wiersma and Dupuis argue at the very end of their paper, that [w]hile structural issues will more than likely be present in the future, there is tremendous opportunity in the little things that staff can do which will affirm the self – from letting a resident continue to sleep in a chair if s/he wishes, to acknowledging a resident
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when coming in and out of his or her room, to making sure a resident is cleaned after toileting. It is these simple acts that can affirm personhood and maintain dignity of residents, despite the institutional nature of long-term care facilities. Simple acts can maintain their humanity, and subsequently, our own. (ibid.)
Here, they argue for a re-thinking of caring encounters and daily routines. Most importantly, however, they address the interrelatedness of caregiver and patient/resident. It is this insight, I think, that is the most important future-directed outcome of their study. The relational understanding of identity proposed here might eventually contribute to a deconstruction of the binary opposition of young and old. This aspect is also referred to by Roberta Maierhofer who argues that in a rapidly aging society a shift in cultural values will be necessary that understands the interdependence of generations. She emphasizes “the necessity of mutual and supportive relationships as a key to the development of a personal identity” (Maierhofer 2003: 251) and points to the need to redefine individuals “not only as independent and self-supporting, but also as necessarily relying on the help and assistance of others” (ibid.: 249). Applied to questions of eldercare, such an approach that takes a life-course perspective and subverts the binary opposition of young and old by a concept of “self-in-relation” (ibid.: 251) has the potential to transform standards of care-giving. Although Exit Lines does at surface level not present staff-resident relations as helpful regarding the deconstruction of young-old binaries, the protagonists’ antagonistic relationship to Annabel Walker on a deeper level actually fulfills this function. It is exactly through the representation of badly educated staff, a grumpy, frustrated manager, and a carelessly built institutional space that defies all notions of “home” that readers are encouraged to imagine alternative ways of care-giving in later life. Even if the decline narrative associated with care homes continues to circulate, texts such as Exit Lines are creating a new and more positive narrative about life in care institutions, as Patricia Life has argued (2012: n. p.). In other words, literature “can take us out of ourselves and our usual settings, making us more conscious of our unexamined beliefs and assumptions and giving us new food for thought” (Frey-Waxman 2010: 83). This is, I would argue, what Joan Barfoot has accomplished in Exit Lines. With her novel, she draws readers into the world of the retirement home, permitting them to identify with her protagonists in their struggles against institutionalization. While this is clearly not the task nor focus of sociological, gerontological or medical texts such as Wiersma’s and Dupuis’ work, the “visceral prose” (Frey-Waxman 1990: 18) and aesthetics of literary texts such as Exit Lines can enable identification on the reader’s part. To conclude, it is the literary representation of the five institutional-level processes defined by Wiersma and Dupuis in Joan Barfoot’s Exit Lines that enables readers to temporarily put themselves into the shoes of residents, dissolving barriers between reality and fiction, ex-
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perienced and imagined, and young and old. In the words of Frey-Waxman, it “disburden[s] readers of many negative expectations about old age and Otherness of elders” (ibid.) and hence contributes to challenging the nursing home specter.
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Architektur in einer alternden Gesellschaft – ein methodischer Ansatz für eine nutzergerechte bauliche Umwelt Kathrin Büter und Tom Motzek
Die steigende Lebenserwartung führt gemeinsam mit dem Geburtenrückgang in Deutschland zu einer alternden Gesellschaft. Die Menschen werden heute aus vielfältigen Gründen immer älter und verbringen meist viele Jahre in der Lebensphase Alter in guter gesundheitlicher Verfassung (Kroll/Ziese 2009). Mit zunehmendem Alter steigt jedoch das Risiko von Krankheiten, Behinderungen oder dementiellen Erkrankungen (Steinhagen-Thiessen/Borchelt 1999), wodurch sich die Beziehung des Menschen zu seiner gebauten Umwelt maßgeblich verändern kann. So können funktionelle Beeinträchtigungen beispielsweise zu einer Einschränkung der Mobilität führen, die selbstständige Nutzung von Gebäuden und Räumen erschweren und Behinderungen in der Alltagsbewältigung hervorrufen. Die selbstbestimmte Lebensführung wird folglich gefährdet, und die Hilfsbedürftigkeit steigt. Eine an die Bedürfnisse älterer Menschen angepasste bauliche Umgebung kann derartige Einschränkungen jedoch kompensieren und zu einer Verbesserung der Selbstständigkeit, der Lebensqualität und des Wohlbefindens beitragen (Day et al. 2000; Tilly/Reed 2008). Somit steht auch die Disziplin Architektur durch den demographischen Wandel vor der Herausforderung, neue Wege für den Umgang mit der steigenden Anzahl älterer Menschen zu entwickeln, und es stellt sich die Frage, mit welchen baulichen und gestalterischen Mitteln die Architektur zur Unterstützung der selbstständigen Lebensführung und optimalen Versorgung älterer Menschen beitragen kann. Zu dieser Aufgabenstellung liegen bereits zahlreiche Forschungsergebnisse vor. Im Fachgebiet Architektur hat sich jedoch noch keine Vorgehensweise ausreichend etabliert, in der Erkenntnisse empirischer Forschung bei der Planung von Gebäuden berücksichtigt werden. Dies liegt unter anderem daran, dass Architekten in der Forschungsmethodik kaum geschult sind und daher Schwierigkeiten haben, die verwendete Methodik der
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Studien nachzuvollziehen sowie die Qualität der Ergebnisse zu bewerten, um daraus entsprechende Gestaltungslösungen abzuleiten. Architekten greifen daher bei Bauentscheidungen meist allein auf Erfahrungen aus Referenzobjekten oder eigene Beobachtungen zurück. Eine nicht überprüfte und unkritische Übernahme von Wissen kann jedoch Fehlentscheidungen im Planungsprozess nach sich ziehen und dazu führen, dass die Bedürfnisse der Nutzer nur bedingt erfüllt werden. Zukünftig sollten aktuelle und gesicherte Forschungserkenntnisse verstärkt in den Planungsprozess von Architekten integriert werden, um den Nutzer deutlicher in den Fokus der Planung zu rücken. Die von der DFG geförderte Emmy Noether-Nachwuchsgruppe Architektur im demographischen Wandel der TU Dresden hat sich zum Ziel gesetzt, mittels einer interdisziplinären Arbeitsweise und Verknüpfung von Architektur, Gerontologie und Gesundheitswissenschaft evidenz-basierte Gestaltungsempfehlungen für die zukünftige Planung von Sozial- und Gesundheitsbauten zu erarbeiten. Diese sollen Architekten als fundierte Grundlage für nutzerorientierte Planungsentscheidungen dienen. Die Arbeitsgruppe greift dabei auf die Methodik des evidence-based design (EBD) zurück. Durch diese Methodik lassen sich Forschungsergebnisse systematisch in die Designpraxis transferieren. Zudem wird hier der Austausch zwischen den verschiedenen für den Entscheidungsprozess wichtigen Nutzergruppen, Fachdisziplinen und Experten gefördert, so dass letztendlich eine optimale Baulösung entwickelt werden kann. Im folgenden Beitrag wird die Methodik des evidence-based design vorgestellt. Zunächst ist dafür jedoch einleitend eine eingehende Darstellung der Bedeutung und des Einflusses der Architektur auf ältere Menschen und die Erläuterung verschiedener Aspekte einer altersgerechten Architektur notwendig. Auch spielt die Frage, wie sich der Einfluss der baulichen Umgebung auf ältere Menschen untersuchen und messen lässt, eine wichtige Rolle.
E INFLUSS DER GEBAUTEN U MWELT AUF DEN M ENSCHEN Die gesundheitliche Verfassung eines Menschen hat einen großen Einfluss auf sein Verhältnis zu seiner Umwelt. Diese Beziehung lässt sich mittels Hypothesen aus der Umweltpsychologie, auch ›ökologische Psychologie‹ genannt, verdeutlichen, die sich mit den Wechselwirkungen zwischen dem Menschen und seinen physischen und soziokulturellen Umwelten beschäftigt. Der Einfluss von Umweltfaktoren auf das Erleben und Verhalten des Menschen sowie die aus dem Verhalten des Menschen resultierenden Veränderungen der Umwelt sind Gegenstände der Umweltpsychologie (Hellbrück/Kals 2012: 13). Laut der Person-Umwelt-Passung (person environment fit concept) nach Lawton und Nahemow (1973) stehen der Mensch und seine Umgebung in einem ständigen
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Wechselspiel, das sowohl seitens des Menschen als auch seitens der Umwelt beeinflusst werden kann. Die environmental docility hypothesis (Lawton/Simon 1968) besagt jedoch, dass das Maß an persönlicher Kompetenz des Menschen bedeutsam für die Fähigkeit ist, die Umwelt an die eigenen Bedürfnisse oder sich selbst an sich verändernde Umweltanforderungen anzupassen. Je mehr Kompetenz der Mensch besitzt, desto weniger wird sein Verhalten von Umweltfaktoren beeinflusst. Sind diese beiden Komponenten, Kompetenz und Umweltanforderung, im Einklang, so werden eine positive Befindlichkeit und hohe Leistungsfähigkeit erreicht. Eine Kompetenzminderung des Menschen, beispielsweise als Folge von gesundheitlicher Beeinträchtigung, bewirkt allerdings, dass die Person nur noch bedingt in der Lage ist, sich an ihre Umwelt anzupassen. Menschen mit körperlichen, sensorischen oder kognitiven Einschränkungen sind folglich verstärkt von ihrer Umgebung abhängig. Daher besteht die Notwendigkeit, Funktionseinschränkungen und Gesundheitseinbußen bei der Gestaltung der baulichen Umwelt zu berücksichtigen, um möglichst vielen Menschen eine eigenständige und selbstbestimmte Nutzung der Umwelt ohne Erschwernis oder fremde Hilfe zu ermöglichen.
A SPEK TE EINER ALTERSGERECHTEN A RCHITEK TUR Vor dem Hintergrund der Zunahme älterer Menschen ist bei zukünftigen Bauaufgaben auf eine barrierefreie und altersgerechte Gestaltung der Umwelt zu achten. Die Hauptaufgabe einer solchen Architektur besteht darin, die Autonomie älterer Menschen zu erhalten und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen. Die Förderung der Mobilität und Selbstständigkeit ist nicht zuletzt für die Lebensqualität und soziale Integration älterer Menschen von Bedeutung, sondern auch ein wichtiger Faktor für die Pflegequalität und Effizienz von Pflegeinstitutionen. Wenn ältere Menschen beispielsweise in der Lage sind, sich zu orientieren und Orte selbstständig aufzufinden oder alltägliche Aufgaben wie das Ankleiden oder die persönliche Hygiene eigenständig auszuführen, können Pflegende in ihrer Arbeit unterstützt und entlastet werden. Des Weiteren ist eine barrierefrei und altersgerecht gestaltete Umwelt nicht nur für diese spezielle Zielgruppe vorteilhaft, vielmehr kann man mit ihr die gesamte Gesellschaft erreichen. So sind stufenlose Eingänge beispielsweise sowohl für Menschen im Rollstuhl oder mit Gehbehinderung als auch für Familien mit Kinderwagen hilfreich. Die gebaute Umwelt den Bedürfnissen älterer Menschen entsprechend zu gestalten, bedeutet in erster Linie, alterskorrelierte physische, sensorische und kognitive Einbußen bei Bauaufgaben zu berücksichtigen und zu kompensieren. Zu den im Alter häufig auftretenden Funktionseinbußen zählen Einschränkungen im Bereich der Mobilität, der Koordination und des Gleich-
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gewichts sowie des Gehörs, der Sehschärfe und der Kognition (SteinhagenThiessen/Borchelt 1999). Da ältere Menschen meist von mehreren Einschränkungen und Krankheiten gleichzeitig betroffen sind, ist es bei der Planung von Gebäuden oder öffentlichen Räumen wichtig, verschiedene Aspekte der barrierefreien und altersgerechten Gestaltung einzubeziehen. Grundlage für eine solche Gestaltung bietet die DIN 18040 für barrierefreies Bauen. Diese Norm legt dar, welche technischen Voraussetzungen öffentliche Gebäude und Außenanlagen erfüllen müssen, um barrierefrei zu sein. Außerdem bietet sie konkrete Planungsempfehlungen für die Umsetzung an. Ziel der Norm ist es, dafür zu sorgen, dass Mindeststandards beim Bau von öffentlichen Gebäuden eingehalten werden, um weitgehend allen Menschen die Zugänglichkeit und Nutzung dieser Gebäude ohne Erschwernis oder fremde Hilfe zu ermöglichen. Die Norm umfasst daher unterschiedliche Dimensionen von Gestaltungsaufgaben und berücksichtigt neben motorischen Einschränkungen auch die Sensorik und Kognition. Einige Beispiele verschiedener altersbedingter funktioneller Einbußen und entsprechende Kompensationsmöglichkeiten durch die Architektur werden im Folgenden dargestellt. Bewegungsapparat: Besonders die Mobilität nimmt mit steigendem Alter ab. So reduzieren sich im Alter die Kraft und Beweglichkeit des Körpers (Weyerer et al. 2008), und auch das Gleichgewicht und der Gang werden zunehmend beeinträchtigt (Marsiske et al. 1999). Ältere Menschen können bestimmte Bewegungsabläufe nicht mehr oder nur noch mit Schwierigkeiten ausführen; Fortbewegung ist oftmals nur noch mit Hilfsmitteln möglich. Ein unsicherer Gang ist ein Risikofaktor für Unfälle und Stürze. Um solche zu vermeiden ist es wichtig, in der Architektur möglichst auf physische Barrieren wie Stufen oder Schwellen zu verzichten und zusätzlich Hilfestellungen wie etwa Handläufe zur Unterstützung des Gleichgewichts und eines sicheren Gangs anzubieten. Sehfähigkeit: Auch die Augen stellen für die sichere Bewegung und Orientierung im Raum ein sehr wichtiges Sinnesorgan dar, denn über sie werden Informationen zu Farben, Formen, Entfernungen und Bewegungen aufgenommen. Das zunehmende Alter ist jedoch mit Veränderungen des Sehvermögens, wie verminderter Sehschärfe (Marsiske et al. 1999) und Kontrastempfindlichkeit und erhöhter Lichtsensibilität, verbunden. Die altersbedingte Gelbfärbung der Linse führt des Weiteren dazu, dass Farben im Alter verändert wahrgenommen werden. Pastelltöne verblassen zunehmend, die Farben Blau, Grün und Violett können nur noch mit Schwierigkeiten voneinander unterschieden werden. Rot- und Gelbtöne hingehen werden von älteren Personen gut wahrgenommen (Breuer 2009: 12). Für eine eigenständige Nutzung und sichere Bewegung durch den Raum ist daher auf eine kontrastreiche Gestaltung zu achten. Die Wahrnehmbarkeit eines Objektes ist wesentlich von seinem Kontrast zur Umgebung beeinflusst. Beispielsweise ist ein weißes Waschbecken
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in einem weiß gefliesten Badezimmer für ältere Menschen mit vermindertem Sehvermögen kaum zu erkennen und nutzbar. Im Rahmen einer altersgerechten Gestaltung empfiehlt es sich daher, Objekte und auch die Grenzen eines Raumes – also die Abgrenzungen von Boden, Wand und Decke – durch eindeutige Hell-, Dunkel- oder Farbkontraste kenntlich zu machen. Des Weiteren spielt das Thema Licht bei der Unterstützung des Sehvermögens eine wichtige Rolle. Ältere Menschen sind auf eine hohe, jedoch blendfreie Grundausleuchtung von Räumen angewiesen, um diese ganzheitlich wahrnehmen und überschauen zu können. Auch das Zwei-Sinne-Prinzip, in dem dieselbe Information über zwei verschiedene Sinne vermittelt wird, kann im Falle von verminderter Sehfähigkeit hilfreich sein. Ein bekanntes Beispiel dafür sind taktile Bodenleitsysteme für blinde und sehbehinderte Personen. Derartige Leitsysteme sind häufig im öffentlichen Verkehrsraum wie z.B. an Bahnsteigen zu finden. Hier werden kontrastreiche, als Streifen parallel zur Bahnsteigkante verlaufende Platten mit Rillen- oder Rippenmuster eingesetzt, um den Weg zu leiten. Zusätzlich erleichtern Aufmerksamkeitsfelder, in Form von viereckigen Flächen mit Noppen, das Auffinden des Einstiegs in das Verkehrsmittel. Diese sogenannten Bodenindikatoren heben sich zum einen visuell durch ihre Farbigkeit und durch den Kontrast zum restlichen Boden ab. Zum anderen sind sie haptisch erfahrbar und können durch ihre andersartige Oberflächenbeschaffenheit mithilfe eines Blindenstocks oder auch der Füße ertastet werden. Die Bodenindikatoren sind somit durch zwei Sinne wahrnehmbar. Gehör: Eine weitere im Alter vorkommende Einschränkung ist die Beeinträchtigung des Gehörs. Dadurch wird das akustische Verstehen des Gegenübers besonders in lauten Umgebungen mit vielen Nebengeräuschen oder halligen Räumen erschwert, so dass es zu Kommunikationsproblemen kommen kann. Die Teilnahme an Gesprächen ist so kaum möglich, und die soziale Interaktion wird gemindert (Menning/Hoffmann 2009). Die geeignete Dimension, Oberflächenbeschaffenheit und Ausstattung eines Raumes kann die akustische Situation verbessern und die Verständlichkeit von Sprache unterstützen. Auch gibt es technische Assistenzsysteme für Menschen mit gemindertem Hörvermögen, die besonders in Kinos, Theatern oder Vortragssälen eingesetzt werden. Durch induktive Höranlagen können Audiosignale direkt und störungsfrei auf das Hörgerät des Zuhörers übertragen und somit eine optimale Verständlichkeit erreicht werden. Demenz: Demenz ist ein Oberbegriff für Krankheitsbilder wie z.B. die Alzheimer-Krankheit. Sie wird durch eine Abnahme von kognitiven, sozialen und emotionalen Fähigkeiten charakterisiert. Der Rückgang der kognitiven Funktionen betrifft beispielsweise Einschränkungen in den Bereichen Denken, Erinnern, Orientieren und dem Verknüpfen von Denkinhalten. Menschen mit Demenz können mit dem Verlauf der Krankheit alltägliche Aktivitäten nicht mehr eigenständig ausführen und sind immer mehr auf Unterstützung durch
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andere Personen angewiesen. Besonders die räumliche Orientierung ist bei vielen dementiell erkrankten Menschen beeinträchtigt. Bauliche Kompensation kann hier beispielsweise durch eine geeignete Gestaltung der Grundrissstruktur geleistet werden. So zeigen Forschungsergebnisse, dass die Orientierungsfähigkeit von Menschen mit Demenz in Gebäuden mit geradliniger Erschließungstypologie besser funktioniert als in solchen mit mehreren Richtungswechseln (Marquardt/Schmieg 2009). In Pflegeeinrichtungen für Menschen mit Demenz können zudem auf der Ausstattungsebene Orientierungshilfen wie Beschilderungen, persönliche Gegenstände oder Fotografien das Auffinden bestimmter Räume erleichtern (Nolan et al. 2002; Namazi/Johnson 1991). In zahlreichen Studien konnte bereits die positive Wirkung baulicher Interventionen auf das Verhalten, das Wohlbefinden, die Orientierung und Funktionalität älterer und besonders dementiell erkrankter Menschen nachgewiesen werden. Möglichkeiten, diese Beziehungen zu untersuchen und zu messen, werden im Folgenden erläutert.
W IE L ÄSST SICH DER E INFLUSS DER BAULICHEN U MGEBUNG UNTERSUCHEN ? Um den Einfluss baulicher Interventionen zu erforschen, wird auf die gesamte Bandbreite der quantitativen und qualitativen Forschung zurückgegriffen. Die Untersuchungen werden zumeist in Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern oder im häuslichen Wohnumfeld älterer Menschen durchgeführt. Die Realisierung von Experimenten oder Quasi-Experimenten ist in diesen Bereichen meist schwierig, da die Installation baulicher Interventionen oft mit großem Aufwand und hohen Kosten verbunden ist. Weiterhin können hohe methodische Ansprüche nicht immer umgesetzt werden, da es schwierig sein kann, Probanden beispielsweise per Zufall in die Untersuchungsgruppen zu verteilen. Dies trifft etwa auf ältere Menschen zu, die in einem Pflegeheim wohnen. Aus diesen Gründen greift man beim Testen baulicher Interventionen häufiger auf Querschnitt- und Längsschnittuntersuchungen sowie auf qualitative Untersuchungen zurück. Als Beispiel für die Evaluation von baulichen Interventionen wird im Folgenden die Querschnittstudie von Roger S. Ulrich View Through a Window may Influence Recovery from Surgery (1984) vorgestellt, die als Pionierarbeit in diesem Bereich gilt. Ulrich verglich in der Studie zwei Patientengruppen mit unterschiedlichen Fensteraussichten. Die eine Gruppe hatte einen Ausblick auf Laubbäume. Die andere Gruppe blickte auf eine braune Backsteinmauer. Um den Einfluss von Störvariablen zu minimieren, wurden nur Patienten mit gleichen bzw. sehr ähnlichen Eigenschaften eingeschlossen. Alle
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berücksichtigten Patienten, ob sie nun ein Zimmer mit Laubbaumaussicht oder mit Backsteinaussicht hatten, waren Patienten nach einer Gallenblasenentfernung – einer Routine-OP mit Standardabläufen. Weiterhin wurden die Patienten nach Geschlecht, Alter und Gewichtsklasse paarweise zusammengefasst ausgewählt: Für eine 50-jährige, 60 kg schwere Patientin, welche eine Laubbaumaussicht hatte, wurde also eine ebenfalls etwa 50-jährige, 60 kg schwere Patientin ausgewählt, die eine Backsteinaussicht hatte. Die Zimmer mit den verschiedenen Aussichten waren jeweils Doppelzimmer und nahezu identisch in ihrer Einrichtung. Alle Fenster waren jeweils gleich groß. Vom Bett sowie auch von anderen Punkten im Raum hatte man einen ungehinderten Blick aus dem Fenster. Die Datenerhebung erfolgte durch die Auswertung der Krankenakten und der Befragung der Pfleger. Die Ergebnisse zeigten, dass Patienten mit Laubbaumaussicht eine signifikant kürzere Aufenthaltsdauer (7,96 Tage vs. 8,70 Tage) sowie weniger negative Verhaltensauffälligkeiten hatten als die Patienten mit Backsteinaussicht (1,13 vs. 3,96 per Patient). Weiterhin nutzten Patienten mit Laubbaumaussicht zwischen dem 2. und 5. Tag weniger Schmerzmittel (0,96 vs. 2,48 Dosen) und hatten weniger postoperative Komplikationen als die Patienten mit Backsteinaussicht. Die Ergebnisse zeigen anschaulich, dass eine natürliche, stimulierende Aussicht einen positiven Einfluss auf den Heilungsprozess hat. Die monotone Aussicht verlangsamt hingegen den Heilungsprozess. Übertragen auf die Praxis, verdeutlicht die Studie die Wichtigkeit von Anregung und Stimulation. In Bezug auf Fensteraussichten kann dies beispielsweise auch durch Ausblicke in Richtung Gärten, Fußwege oder Spielplätze erreicht werden.
Ü BERTR AGUNG VON F ORSCHUNGSERGEBNISSEN IN DIE P R A XIS Die Studie von Ulrich lenkte die Aufmerksamkeit vieler Forscher auf das Thema der baulichen Intervention. Seitdem wurde eine Vielzahl von Studien durchgeführt. Um Nutzerbedürfnisse aber optimal erfüllen zu können, müssen Architekten und Designer unter anderem die gewonnen Forschungserkenntnisse in ihre Entwurfsprozesse integrieren. Es stellt sich die Frage, wie die zahlreichen Forschungserkenntnisse optimal in die Praxis umgesetzt werden können. Welche Studienergebnisse sind glaubhaft? Und wie kann man aus ihnen Gestaltungsempfehlungen ableiten? Um diese Fragen zu beantworten, ist eine kritische Auseinandersetzung mit den Forschungsergebnissen notwendig. Architekten und Designer müssen zunächst beurteilen, inwieweit die Ergebnisse der Studien überhaupt gültig und glaubhaft sind. Ohne diese kritische Beurteilung besteht die Gefahr, dass nicht adäquate Erkenntnisse übernommen werden. Die kritische Beurteilung der Studienergebnisse stellt für Architekten und Designer eine Herausforderung dar, denn sie sind
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oftmals nicht in Forschungsmethodik geschult. Sie fühlen sich häufig überfordert, die verwendete Methodik der Studien nachzuvollziehen und kritisch zu beurteilen. Infolgedessen entsteht die Schwierigkeit, Studienergebnisse in die Praxis zu übertragen und alters- bzw. demenzgerechte Designlösungen zu entwickeln. Um dieser Problematik zu entgegnen, wurde in der Architektur das Konzept des evidence-based design entwickelt. Diese Methodik bietet die Möglichkeit, Forschungsergebnisse zu bewerten und schließlich in die Praxis zu übertragen.
W AS IST EVIDENCE - BASED DESIGN ? Ziel des evidence-based design (EBD) ist es, Forschungsergebnisse systematisch in die Designpraxis zu überführen (Stichler 2010a). Der englische Begriff ›evidence‹ ist hierbei als ›Nachweis‹ oder ›Beleg‹ zu verstehen – es handelt sich also um nachweisorientierte Architektur. Das heißt Bauentscheidungen sollen auf Grundlage der aktuellsten und gesichertsten wissenschaftlichen Erkenntnisse getroffen werden. Vorhandene Studien werden dazu sortiert, analysiert, bewertet und gewichtet. (Rosswurm/Larrabee 1999). Dieser Prozess kann in sechs Schritten vollzogen werden: 1. Fragestellung und Suchstrategie: Der EBD-Prozess beginnt mit der Formulierung der Forschungsfrage. Auf dieser Grundlage wird eine systematische Literaturrecherche durchgeführt. Dazu wird eine Suchstrategie entwickelt, die den Anspruch hat, so gut wie alle Studien zur definierten Fragestellung aufzuspüren. Hierbei ist es wichtig, die Datensituation möglichst vollständig zu erfassen und Verzerrungen durch eine einseitige oder unvollständige Einbeziehung von Daten zu vermeiden. 2. Systematische Beschaffung und Sortierung der Studien: Im nächsten Schritt werden die Studien dann beschafft und inhaltlich sortiert. Bei der Sortierung werden die Studien, welche die Suchkriterien erfüllen, für den weiteren Prozess berücksichtigt. Studien, welche die Suchkriterien nicht erfüllen, werden ausgeschlossen. 3. Kritische Bewertung der Studienqualität (Evidenzbewertung): Der nächste Schritt ist von besonderer Bedeutung: Hier wird die methodische Qualität der Studien bewertet. Es soll beurteilt werden, in welchem Maße die Ergebnisse einer Studie gültig sind bzw. in welchem Maße es einer Studie gelingt, anhand des Studiendesigns, der Durchführung und der Auswertung Verzerrungen und systematische Fehler zu vermeiden. Die Studien werden dazu in Evidenzklassen eingeordnet. Eine vertiefende Beschreibung der Evidenzbewertung und der Evidenzklassen erfolgt im nächsten Abschnitt. 4. Gewichtung der Evidenz: In einem nächsten Schritt werden die Ergebnisse der Studien kombiniert und gewichtet. Dies erfolgt optimalerweise durch
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eine Gruppe verschiedener Experten. Zusätzlich zur methodischen Qualität werden nun auch externe Faktoren wie erwünschte und unerwünschte Folgen einer Intervention, Akzeptanz der Intervention sowie Relevanz und Übertragbarkeit betrachtet. Darauf basierend werden Empfehlungen ausgesprochen. 5. Entwicklung von Designempfehlungen: Im fünften Schritt werden aus den Empfehlungen konkrete Designvorschläge und Kriterien für den architektonischen Planungsprozess und deren Umsetzung entwickelt. 6. Implementierung und Evaluation der baulichen Entscheidungen: Im letzten Schritt werden diese Designempfehlungen umgesetzt und ihr Nutzen in einer wissenschaftlichen Studie evaluiert. Wie bereits betont, sind die Schritte »Kritische Bewertung der Studienqualität« und »Gewichtung der Evidenz« besonders wichtig. Daher soll auf diese beiden Schritte im Folgenden detaillierter eingegangen werden.
E VIDENZBE WERTUNG UND E VIDENZKRITERIEN Bei der Evidenzbewertung wird der Frage nachgegangen, in welchem Ausmaß die Ergebnisse einer Studie nach methodischen Gesichtspunkten gültig sind. Generell beurteilt die Evidenzbewertung somit, inwieweit das Studiendesign, die Studiendurchführung und die Studienauswertung dazu beitragen, die Ergebnisse vor systematischen Verzerrungen und Fehlern zu schützen. Je besser es einer Studie gelingt, vor Verzerrungen zu schützen, desto höher ist auch die Qualität der produzierten Ergebnisse (West et al. 2002). Möglichkeiten, vor Verzerrungen zu schützen, sind beispielsweise die Gruppenzuordnung, die Randomisierung und die Verblindung. Unter der Gruppenzuordnung ist die Aufteilung der Studienteilnehmer in mindestens zwei Gruppen (Interventionsgruppe und Kontrollgruppe) zu verstehen. Die Randomisierung ist die Zuordnung per Zufall. Das heißt, die Studienteilnehmer werden über das Zufallsprinzip in die Interventions- oder Kontrollgruppe eingeordnet. Bei einer einfachen Verblindung weiß der Studienteilnehmer nicht, ob er der Interventions- oder Kontrollgruppe zugeordnet ist. Wurde eine sogenannte doppelte Verblindung durchgeführt, weiß weder der Studienteilnehmer noch der Forscher, zu welcher Gruppe ein Studienteilnehmer gehört. Wie lässt sich die Qualität einer Studie nun aber konkret beurteilen? Für eine einfache Klassifizierung greift man zumeist auf hierarchische Qualitätsstufen, die Evidenzlevels, zurück. Die Klassifizierung basiert dabei größtenteils auf dem Design der Studie, da dem Studiendesign ein großer Einfluss auf die methodische Qualität zugesprochen wird. Experimentelle Studiendesigns, welche aus einer randomisierten und verblindeten Interventions- und Kontrollgruppe bestehen, haben beispielsweise eine höhere methodische Qualität
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als Studien, die nur eine einzige, nicht randomisierte Gruppe untersuchen. Zusätzlich zur Klassifizierung nach dem Studiendesign können auch weitere Qualitätskriterien herangezogen werden. Beinhaltet die Studie beispielsweise inkonsistente Ergebnisse oder besteht ein hohes Risiko von Verzerrungen, ist es möglich, die Studie auf ein niedrigeres Evidenzlevel abzustufen (Guyatt et al. 2008). Bewährte Hierarchien zur Evidenzbewertung finden sich im Bereich der Medizin, beispielsweise mit GRADE (Balshem et al. 2011) oder mit dem SIGNStatement (SIGN 50 2008). Für den Bereich des evidence-based design wurden entsprechende Adaptionen entwickelt, z.B. von Pati (2011), Stichler (2010b), sowie von Marquardt/Motzek (2013). Die Hierarchien zur Evidenzbewertung im Bereich des EBD beziehen eine Vielzahl verschiedener Quellen ein. Berücksichtigt werden neben wissenschaftlichen Studien auch Übersichtsarbeiten, Leitlinien, Expertenmeinungen oder Empfehlungen. Um die Vorgehensweise bei der Einordnung von Studien zu verdeutlichen, wird nachfolgend die Evidenzhierarchie von Stichler (2010b), modifiziert und ergänzt nach Marquardt/ Motzek (2013), skizziert: Die Einordnung von Meta-Analysen und systematischen Übersichtsarbeiten von Studien mit experimentellem oder quasi-experimentellem Design erfolgt in das Level 1. Unter systematischen Übersichtsarbeiten sind Studien zu verstehen, die Forschungsergebnisse mithilfe eines objektiven und sorgfältigen Ansatzes identifizieren, bewerten und zusammenfassen. Wird darüber hinaus ein übergreifender Effekt mithilfe statistischer Verfahren berechnet, spricht man von einer Meta-Analyse. In Level 2 werden alle Studien mit einem experimentellen oder quasi-experimentellen Design eingeordnet. Die Studien in Level 2 müssen aber hohen Qualitätskriterien gerecht werden, also z.B. randomisiert sein, eine niedrige Abbruchquote haben oder konsistente Ergebnisse aufweisen. In Level 3 werden alle Studien mit einem experimentellen bzw. quasi-experimentellen Design eingeordnet, welche die erhöhten Qualitätskriterien nicht erfüllen. Darüber hinaus werden hier die Beobachtungsstudien (Querschnittstudien, Kohortenstudien etc.) sowie qualitative Studien mit hoher methodischer Qualität zugeordnet. Eine qualitative Studie hat eine hohe methodische Qualität, wenn sie auf Literaturrecherchen und einem theoretischen Hintergrund basiert sowie die Methodik ausführlich beschreibt und in der Auswertung verschiedene Standpunkte berücksichtigt (Daly et al. 2007). Dem Level 4 werden Leitlinien oder Empfehlungen zugeordnet, welche die Ergebnisse anderer Studien einbeziehen. In Level 5 werden qualitative Studien, welche höhere Qualitätskriterien nicht erfüllen, sowie Expertenmeinungen eingeordnet. Qualitative Studien sind für die Theoriebildung unverzichtbar. Im evidence-based design-Prozess werden sie jedoch häufig in ein niedriges Level eingeordnet, da hier der quantitative Nachweis von Thesen und Theorien im Vordergrund steht. In Level 6 finden sich Empfehlungen, die von Herstel-
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lern bzw. von Gruppen mit einem eindeutigen finanziellen Interesse erstellt wurden. Um die Studien auf einfache Weise den verschiedenen Levels zuzuordnen, haben Marquardt/Motzek (2013) einen Algorithmus entwickelt. Über einen Schritt-für-Schritt-Prozess, in dessen Verlauf nacheinander Ja/Nein-Fragen beantwortet werden, wird der Benutzer durch den Algorithmus geführt. Am Ende kann er ablesen, welches Studiendesign in der vorliegenden Studie verwendet wurde und in welches Evidenzlevel die Studie schließlich einzuteilen ist. Durch die Evidenzbewertung können Architekten nun beurteilen, inwieweit die Ergebnisse der einzelnen Studien glaubwürdig sind. Fasst man die Ergebnisse mehrerer Studien bezüglich einer Fragestellung zusammen, erhält man ein Meta-Ergebnis. Mit diesem Meta-Ergebnis kann die Wirksamkeit einzelner baulicher Interventionen nun konkret beurteilt werden. Problematisch wird es aber, wenn zu einer Fragestellung widersprüchliche Ergebnisse oder Ergebnisse unterschiedlicher Evidenzstufen vorliegen. Hier stellt sich die Frage, welche Empfehlungen schließlich abzuleiten sind. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, die Meta-Ergebnisse konkret in die Designpraxis zu überführen. An diesem Punkt setzen der 4. und 5. Schritt des Evidenzprozesses an: die Evidenzgewichtung und die Entwicklung von Designempfehlungen.
E VIDENZGE WICHTUNG UND E NT WICKLUNG VON D ESIGNEMPFEHLUNGEN Ziel der Evidenzgewichtung ist es, zu beurteilen, inwieweit Interventionen empfohlen werden können bzw. nicht empfohlen werden können. Die Empfehlungen können dabei beispielsweise in vier Kategorien unterteilt werden: eine starke oder schwache Empfehlung für eine Maßnahme sowie eine starke oder schwache Empfehlung gegen eine Maßnahme (Andrews et al. 2013). Für die Evidenzgewichtung wird eine Leitliniengruppe, bestehend aus Patienten und Angehörigenvertretern, Vertretern von Fachgesellschaften und beteiligten Berufsgruppen sowie Fachexperten, gebildet. Die Leitliniengruppe erhält eine Übersicht mit den Ergebnissen der Evidenzbewertung sowie eine Übersicht über die methodischen Hintergründe der jeweiligen Studien. Anhand dieser Informationen wird die Evidenz der Studien gewichtet. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Qualität der Evidenz (siehe den Abschnitt zur Evidenzbewertung). Daneben werden weitere Punkte mit in die Betrachtung einbezogen: Welche wünschenswerten oder unerwünschten Folgen hat eine bauliche Intervention, wie sind die Akzeptanz und die Präferenz der Betroffenen bezüglich der Interventionen einzuschätzen und welche Auswirkungen auf die Ressourcen sind zu erwarten (Andrews et al. 2013)? Um zu einer Ein-
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schätzung zu gelangen, werden spezielle Methoden der strukturierten und formalen Konsensbildung genutzt. Wichtige Konsensverfahren sind beispielsweise die Delphi-Methode und der Nominale Gruppenprozess (AWMF 2013). Die durch die Leitliniengruppe empfohlenen Interventionen werden schließlich ausformuliert und für die Anforderungen einer speziellen Wohnform oder Versorgungseinrichtung, beispielsweise eines Akutkrankenhauses, weiter konkretisiert. Durch den Einbezug einer Leitliniengruppe bestehend aus Betroffenen, Experten und beteiligten Berufsgruppen in den Prozess der Evidenzgewichtung ist es möglich, die Bedürfnisse aller Beteiligten und speziell die Bedürfnisse der späteren Nutzer zu berücksichtigten.
F A ZIT Das evidence-based design ist eine wichtige Methodik, um Forschung und Praxis in der Architektur besser zu verknüpfen. Ziel des EBD-Prozesses ist es, Forschungsergebnisse zu baulichen Interventionen systematisch in die Designpraxis zu überführen und auf diese Weise bestmögliche Designentscheidungen im Interesse der Nutzer zu ermöglichen. Die Designempfehlungen und Bauentscheidungen basieren durch den Prozess des evidence-based design auf vielfältigen Quellen. Zum einen stützten sie sich auf die kritische Bewertung und den Einbezug verschiedenster empirischer Literatur. Zum anderen werden die Sichtweisen der zukünftigen Nutzer, beteiligten Berufsgruppen und Experten berücksichtigt. Da das evidence-based design eine relativ neue Methodik ist, sollte die Anwendbarkeit des Konzepts erprobt und weiterentwickelt sowie die Akzeptanz erhöht werden. Der Prozess des evidence-based design kann zwar von Architekten selbst durchgeführt werden, hierfür ist jedoch eine gewisse Methodenkenntnis notwendig. Daher ist die Kooperation mit anderen Disziplinen empfehlenswert. In Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen können entsprechende Leitlinien, Planungshandbücher oder Kriterienkataloge entwickelt werden. Diese sind zum einen evidenzbasiert und zum anderen – und das ist entscheidend – auch von Architekten und Designern ohne Kenntnisse in der Forschungsmethodik anwendbar. Die Arbeitsgruppe Architektur im demographischen Wandel der TU Dresden hat sich dieser Aufgabe gestellt: Für den Bereich des Krankenhauses soll ein evidenzbasierter Kriterienkatalog für das demenzgerechte Bauen entwickelt werden. Auf Grundlage einer umfangreichen systematischen Übersichtsarbeit zum Thema Bauen für Menschen mit Demenz werden dazu konkrete Designempfehlungen erarbeitet. Um bei zukünftigen Bauaufgaben den spezifischen Nutzerbedürfnissen besser gerecht werden zu können, ist eine Weiterentwicklung der Arbeitsweise hin zu einer evidenzbasierten Planungsweise in der Architektur notwendig.
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Dies gilt insbesondere in einer alternden Gesellschaft, da ältere Menschen aufgrund von gesundheitlichen Einschränkungen besonders auf eine ihren Bedürfnissen entsprechende bauliche Umwelt angewiesen sind. Für diese Entwicklung ist eine weitere interdisziplinäre Öffnung der Architektur notwendig. Das Einbeziehen von Erkenntnissen aus Medizin, Psychologie und Gerontologie ermöglicht der Disziplin Architektur zukünftig, fundierte und evidenzbasierte Designentscheidungen zu treffen.
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Forschen über die Alten – Forschen mit den Alten Partizipative Methoden in der Designforschung Minou Afzali
In den letzten Jahren wurde in der Designforschung den partizipativen Methoden zunehmend Beachtung geschenkt. Die Einbindung von Nutzergruppen in den Forschungs- und Gestaltungsprozess erfolgt unter anderem mit dem Ziel, die Bedürfnisse der Beforschten zu erkennen und entsprechende zielgruppengerechte und wirkungsvolle Maßnahmen zu gestalten. Dies erscheint nicht nur im Hinblick auf die Gestaltung von Produkten, sondern auch von Service- und Dienstleistungen sinnvoll. Inwiefern sich solche kollaborativen Methoden der Designforschung dazu eignen, mehr über die Bedürfnisse und Lebensweisen von alten Menschen zu erfahren, ist Gegenstand des derzeit laufenden Promotionsprojekts Kommunikationsdesign in kultursensiblen Alters- und Pflegeeinrichtungen, welches im Rahmen der Graduate School of the Arts (eine Kooperation der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern und der Berner Fachhochschule, Departement Hochschule der Künste Bern) durchgeführt wird. Der Fokus liegt dabei auf den bestehenden sogenannten ›mediterranen‹ Altersinstitutionen in der Schweiz, welche sich an die erste Generation von ArbeitsmigrantInnen aus Italien und Spanien richten. Diese Menschen sind nun im fortgeschrittenen Alter und aufgrund ihrer körperlichen oder kognitiven Verfassung zunehmend auf Pflege angewiesen. Kulturspezifische Wohngruppen sind eine Antwort auf das Bedürfnis, im Alter in einem Umfeld leben zu können, welches die persönlichen und kulturellen Bedürfnisse der BewohnerInnen berücksichtigt. Diese Institutionen zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass das Personal die Herkunftssprache der Migrantengruppe spricht, dass sowohl Speisepläne als auch das Aktivierungsangebot gruppenspezifisch angepasst sind und die Kommunikationsmittel in der entsprechenden Sprache über bestehende Angebote informieren. Aus gestalterischer Sicht drängt sich die Frage auf, inwiefern Kultur über die Gestaltung der Räumlichkeiten und der Kommunikationsmittel dieser Betreuungs-
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einrichtungen kommunikativ hergestellt wird. Ferner wird im Rahmen der Studie untersucht, inwiefern gestalterische Faktoren dazu beitragen können, dass sich die BewohnerInnen dieser Altersinstitutionen sicher, informiert und aufgehoben fühlen, um dann in einem weiteren Schritt die Übertragbarkeit dieser Faktoren auf Regelinstitutionen der Altenpflege zu überprüfen. Der folgende Beitrag soll einen Einblick in die qualitativen Methoden der Designforschung geben, welche innerhalb dieser Studie zum Einsatz kommen.
H INTERGRUND Die erste Generation von ArbeitsmigrantInnen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die Schweiz kam, hat längst das Rentenalter erreicht. Die meist aus Italien und Spanien stammenden Personen verließen in den 1950er und 1960er Jahren ihre Heimat, um im Ausland beruflich Fuß zu fassen. Während man zu Beginn der Schweizer Migrationspolitik noch davon ausging, dass diese Einwanderer nach ein paar Jahren wieder in ihre Heimatländer zurückkehren würden, kam es jedoch anders. Die früheren ArbeitsmigrantInnen sind geblieben, haben in der Schweiz Wurzeln geschlagen, Familien gegründet und verbringen nun ihren Lebensabend in der Schweiz. Dies stellt die Altenarbeit und -pflege vor neue Herausforderungen (Nationales Forum Alter und Migration 2010). Wie bei anderen alten Menschen findet auch bei ihnen oftmals eine Rückbesinnung auf die Herkunft statt. Ältere und vor allem demenzkranke MigrantInnen besinnen sich dann auf ihre Wurzeln, auf kulturelle Normen sowie religiöse Prägungen (IKoM 2004). Teilweise verlieren MigrantInnen mit Demenz gar die Fähigkeit, die Zweitsprache zu sprechen, und kommunizieren nur noch in der Herkunftssprache (Day/Cohen 2000; Hungerbühler 2007). 78 % der über 64-jährigen MigrantInnen kommen heute aus den Nachbarländern der Schweiz und nur gut 4 % von außerhalb Europas (Höpflinger 2010). Aus diesem Grund richten sich in der Schweiz die bestehenden kulturspezifischen Alterseinrichtungen für MigrantInnen ausschließlich an Personen aus Italien und Spanien. Die nachkommenden Generationen von MigrantInnen kommen jedoch nicht nur aus dem »kulturnahen Süden« (ebd.), sondern auch aus anderen Herkunftsländern und Kontinenten. Die Altenpflege ist in Zukunft also nicht mehr mit einer relativ homogenen MigrantInnengruppe konfrontiert, sondern mit einer Vielzahl verschiedener Bevölkerungsgruppen, die sich kulturell und religiös stark unterscheiden (ebd.; Hungerbühler 2007). In Fachkreisen ist es umstritten, ob die bestehenden kulturspezifischen Betreuungsmodelle auch auf diese Bevölkerungsgruppen übertragbar sind (Hungerbühler 2007). Dabei geht es einerseits um die beschränkten Ressourcen im Schweizer Gesundheitssystem, und andererseits führen auch integrationspolitische Argumente dazu, dass diese Modelle auch weiterhin in Frage gestellt
Forschen über die Alten – Forschen mit den Alten
werden. Ein Teil der Fachwelt fordert darum den transkulturellen Wandel in den Regelinstitutionen der ambulanten und stationären Altenpflege (Kayser 2010). Im Rahmen des Promotionsprojektes wird anhand der bestehenden sogenannten ›mediterranen‹ (hier und im Folgenden ist damit in der Regel der italienisch-spanische Kulturkreis gemeint) Alterseinrichtungen in der Schweiz das gestalterische und kommunikative Umfeld dieser Institutionen untersucht. Ziel der Studie ist es, Faktoren zu identifizieren, die von den BewohnerInnen positiv bewertet werden oder eine positive Wirkung auf deren Befinden haben. Von besonderem Interesse sind dabei die Gestaltung der Räumlichkeiten, deren Nutzung durch die BewohnerInnen und die Gestaltung und Wirkung der bestehenden Kommunikationsmittel, wie z.B. Informationsbroschüren und Signaletik. Ferner soll die Übertragbarkeit der identifizierten Faktoren auf Regelinstitutionen der stationären Altenpflege geprüft werden. Schließlich sollen Empfehlungen für die Gestaltung eines kultursensiblen Umfelds in Alters- und Pflegeinstitutionen erarbeitet werden, welche den von Fachleuten geforderten transkulturellen Wandel in Pflegeeinrichtungen unterstützen.
F ORSCHUNGSSTAND Die Studie tangiert verschiedene Forschungsfelder, deren Berücksichtigung eine umfassende Beleuchtung der Thematik aus verschiedenen Perspektiven erst möglich macht. Zu diesen zählen die Bereiche ›Migration und Gesundheit‹, ›Wohnen im Alter‹, ›Healing Environment‹ und ›Kultur und Kommunikationsdesign‹. Im Folgenden soll kurz auf den Forschungsstand der beiden zuletzt genannten Bereiche eingegangen werden. Diese sind aus gestalterischer Perspektive für die Studie von besonderem Interesse.
H E ALING E NVIRONMENT In den letzten Jahren hat das Interesse am Bereich des sogenannten ›Healing Environment‹ vor allem im englischsprachigen Raum (UK, USA) stark zugenommen. Verschiedene Studien, welche die Wirkung des räumlichen Umfelds beleuchten, wurden vor allem im Klinikbereich durchgeführt (Ulrich 1984; Ulrich u.a. 2004; Ulrich u.a. 2008). Studien, welche die Wirkung des räumlichen und kommunikativen Umfelds in Alters- und Pflegeheimen untersuchen, sind hingegen rarer. Im Fokus stehen vor allem die Atmosphäre auf den Stationen und deren Wirkung auf die BewohnerInnen und Mitarbeitenden. Nebst Interviews mit den Teilnehmenden wird dabei – je nach Studiendesign – auch deren Verhalten im Raum beobachtet (vgl. Edvardsson u.a. 2005). Vor allem bei kogni-
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tiv eingeschränkten Personen eignet sich dieses Vorgehen, um deren Nutzung des Raumes oder deren Orientierung im Raum näher zu untersuchen. Mit der personenzentrierten Methode Dementia Care Mapping (Brooker 2005; Cooke/ Chaudhury 2012) wird beispielsweise das Verhalten von dementen Personen in ihrem räumlichen Umfeld anhand von Verhaltenskategorien beobachtet und ausgewertet. Gestalterische Faktoren bleiben bei dieser Methode jedoch unberücksichtigt. Studien, welche die Gestaltung von Gesundheits- und Pflegeinstitutionen untersuchen, weisen hingegen darauf hin, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Gestaltung des räumlichen Umfelds und dem Wohlbefinden der BewohnerInnen besteht (Evans 2003; Barnes 2006). Bei der Sichtung der Forschungsliteratur zeigten sich folgende Tendenzen: Bei der Gestaltung des Umfelds von älteren Menschen soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die verschiedenen Sinne und Fähigkeiten (Sehkraft, Gehörsinn, Tastsinn, Mobilität, Reaktionsfähigkeit, Kognition) der einzelnen BewohnerInnen beeinträchtigt sein könnten (Breuer 2009). Folgende Aspekte des räumlichen Umfelds sollen die Bewältigung dieser Einschränkungen erleichtern (vgl. Phair/Heath 2001): eine adäquate Beleuchtung, der Einsatz von Farben, um eine bestimmte Stimmung oder ein bestimmtes Verhalten zu fördern, der Einsatz von Farbkontrasten, um Objekte hervorzuheben oder zu codieren (vgl. Dalke u.a. 2006), das Arrangement von Sitzmobiliar, um Bewegung und soziale Aktivität zu fördern (vgl. Ulrich u.a. 2004), ein akustisches Umfeld, das eine ruhige und freundliche Atmosphäre schafft.
K ULTUR UND K OMMUNIK ATIONSDESIGN Welche Rolle Kultur bei der Gestaltung, Wahrnehmung und Wirkung von visuellen Kommunikationsmitteln spielt, wird derzeit vor allem im Bereich des interaction design untersucht. Hertzum und Jacobsen (2001), Marcus und Gould (2000), Khaslavsky (1998) sowie Nielsen (1990) betonen in ihren Studien die Notwendigkeit, die kulturelle Vielfalt von Usern zu berücksichtigen. Dabei geht es nicht darum, Stereotype zu entwickeln, sondern die verschiedenen Werte und Gedanken der heterogenen Benutzergruppen zu erkennen: Not everyone in a society fits the cultural pattern precisely, but there is enough statistical regularity to identify trends and tendencies. These trends and tendencies should not be treated as defective or used to create negative stereotypes but recognized as different patterns of values and thought. (Marcus/Gould 2000: 43)
Kultur beschränkt sich hierbei nicht auf eine bestimmte geografische Region oder Ethnie: »When a group of people, no matter its scale, start sharing common ways of thinking, feeling and living, culture emerges« (Sato/Kuohsiang
Forschen über die Alten – Forschen mit den Alten
2008: 1). Auch im Bereich des klassischen Grafikdesigns wird die Notwendigkeit erkannt, Werte, Gedanken und das kulturelle Umfeld der Zielgruppen bei der Gestaltung von visuellen Kommunikationsmitteln zu berücksichtigen (McKoy 1995; Frascara 2002). McKoy beschreibt einen Trend hin zu einer zielgerichteten Botschaft und einer außergewöhnlichen Formensprache, welche auf den jeweiligen Charakter und die Kultur einer Zielgruppe eingeht (McKoy 1995: 201). Die Vielfalt von Kommunikationsmaßnahmen, welche an verschiedene Altersgruppen gerichtet sind, bewertet er als ein Ergebnis dieser Entwicklung (ebd.: 204). Frascara schreibt Designern als Fachpersonen die Fähigkeit zu, die Interaktion zwischen Mensch und Objekt zu analysieren (Frascara 2002: 36). Ferner sieht er jedoch die Notwendigkeit, ein besseres Verständnis für die Interaktion zwischen Mensch und Mensch zu entwickeln, und fordert deshalb eine interdisziplinäre Praxis (ebd.: 33), die auch kulturelle Aspekte als einen integralen Bestandteil von Design berücksichtigt (ebd.: 35). Im Bereich der Produktsemantik spricht Buchanan (2001) von der Verkörperung kultureller Werte: »Products embody cultural values and knowledge drawn from many fields of learning, and products express values and knowledge in a complex debate conducted not in words but in nonverbal language« (Buchanan 2001: 194). Der spezifische Zusammenhang zwischen Migration und Kommunikationsdesign wurde in der Schweiz bisher im Rahmen von zwei Studien untersucht. In dem Projekt DesignMigration (HKB/FSP KD 2009-2010), welches an der Hochschule der Künste Bern durchgeführt wurde, lag der Fokus vor allem auf der Nutzung und Wahrnehmung von Kommunikationsmitteln durch Personen mit Migrationshintergrund. Die Befragung von Personen mit und ohne Migrationshintergrund ergab, dass mehrsprachige Kommunikationsmittel durchweg positiv bewertet werden. Die Befragten fühlten sich vor allem dann von Kommunikationsmitteln angesprochen, wenn diese z.B. in den Abbildungen das persönliche oder kulturelle Umfeld der Teilnehmenden gestalterisch aufgriffen. Das an der Zürcher Hochschule der Künste durchgeführte Forschungsprojekt Migration Design – Codes, Identitäten, Integration (ZHdK/ith, 2009-2010) untersuchte »mediale und ästhetische Prozesse der Selbstrepräsentation und Kommunikation von Jugendlichen aus den Ländern und Regionen des ehemaligen Jugoslawiens« (www.ith-z.ch/forschung/migration+design/). Die Studie zeigt, dass visuelle Ausdrucksformen beim Prozess der Identitätsbildung von Jugendlichen eine wichtige Rolle spielen. Diese nutzen z.B. bildbasierte Social Networking Sites als »Handlungsraum für den Entwurf und die Erprobung von Identität und Zugehörigkeit« (Ritter/Muri 2010).
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S TUDIEN IM F ORSCHUNGSFELD DER A RBEIT Die Wirkung des gestalterischen Umfelds in einer Alterseinrichtung für Personen mit Migrationshintergrund ist bisher noch unzureichend erforscht. Vereinzelte Studien greifen diese Thematik zwar auf, lassen jedoch erkennen, dass in diesem Bereich noch Forschungsbedarf besteht. Day und Cohen (2000) unterstreichen in ihrer Studie die Notwendigkeit, kulturelle Aspekte bei der Planung von Pflegeinstitutionen für ältere Menschen mit Demenz zu berücksichtigen. Als zu berücksichtigende Aspekte nennen sie hierbei die kulturelle Vergangenheit einer Gruppe, deren Lebenserfahrungen, Werte, Glaube, kulturell geprägte Pflegekonzepte sowie Aktivitäten und Vorlieben. Ihre Untersuchung konzentriert sich auf ältere russisch-jüdische Immigranten in Amerika. Durch die Berücksichtigung kultureller Aspekte entwickeln die Forscher neue Ansätze für die Gestaltung eines sogenannten »kulturell kompetenten« Umfeldes (Day/Cohen 2000: 389). Brown u.a. (2008) untersuchen den Einfluss des baulichen Wohnumfelds auf die psychische und physische Verfassung von älteren BewohnerInnen. Dabei richten sie ihr Hauptaugenmerk auf lateinamerikanische Personen, welche in einem sozial benachteiligten Quartier von Miami, Florida wohnhaft sind. Von besonderem Interesse ist die Frage, ob architektonische Bauelemente, welche visuelle und soziale Kontakte mit Passanten ermöglichen sollen (wie z.B. überdachte Portale und Verandas), tatsächlich eine erhöhte Nachbarschaftshilfe zur Folge haben. Marsden (1999) hebt in Anlehnung an verschiedene Studien hervor, dass ein Zusammenhang zwischen einer vertrauten architektonischen Sprache und dem Wohlbefinden der BewohnerInnen besteht. Auch innerhalb der Pflegewissenschaften wird hervorgehoben, dass eine holistische, biographische und soziokulturelle Orientierung der professionellen Altenpflege Einfluss auf die Gestaltung der Räumlichkeiten nimmt: Die institutionellen Bedingungen, der Standort der Heime, die Architektur, die Gestaltung der Räume einerseits und die Organisation der Arbeitsabläufe und Qualifizierung der MitarbeiterInnen […] andererseits, werden der Situation der BewohnerInnen angepasst (Koch-Straube 1999: 293).
Im deutschsprachigen Raum sind Studien zur Wirkung des räumlichen und kommunikativen Umfelds auf ältere Menschen rar. Ansätze für eine visuelle Gestaltung für die Arbeit mit Demenzpatienten bietet Breuer (2009). Sie empfiehlt, vertraute und früher wahrgenommene Bilder (bewusst oder unbewusst) bei der Kommunikation mit dementen Personen zu verwenden (ebd.: 47). Diese Bilder könnten Verknüpfungen bilden, welche von den Personen – trotz ihrer kognitiven Einschränkung – verstanden werden. Breuer empfiehlt deshalb, einprägsame Bilder zu verwenden, welche die heute 70- bis 80-Jährigen bei-
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spielsweise aus der früheren Werbung, aus Filmen sowie aus dem öffentlichen Leben der 1950er und 1960er Jahre kennen (ebd.: 50). Die Orientierung von dementen BewohnerInnen von Altersinstitutionen bildet hingegen den Fokus der Studie von Marquardt (2007). Die Architektin untersucht dabei, inwiefern das bauliche Umfeld einen Einfluss auf das Orientierungsvermögen von dementen Personen hat (ebd.: 60). Anhand von definierten Wegen innerhalb der Einrichtungen wird untersucht, inwiefern diese Strecken von den einzelnen BewohnerInnen bewältigt werden (ebd.: 61). Um dieser Frage nachgehen zu können, wird von einer direkten Beobachtung der an Demenz erkrankten Personen abgesehen und das Pflegepersonal der jeweiligen Institutionen befragt. Diese Methode soll gewährleisten, dass nicht eine Momentaufnahme erfasst wird, sondern über eine längere Zeitspanne das Orientierungsvermögen der Personen beurteilt werden kann (ebd.). Migrationsspezifische Fragestellungen werden sowohl bei Breuer als auch bei Marquardt jedoch nicht berücksichtigt.
PARTIZIPATIVE M E THODEN DER D ESIGNFORSCHUNG – C ULTUR AL P ROBES Im Jahre 1999 beschrieben die Forscher Gaver, Dunne und Pacenti erstmals den Einsatz von sogenannten Cultural Probes. Die im Rahmen des EU-Projekts Presence eingesetzte Methode sollte Einblick in die Bedürfnisse und Lebensgestaltung von SeniorInnen geben (Gaver u.a. 1999). Seither wurde diese partizipative Methode immer wieder in verschiedenen Studien aufgegriffen und den jeweiligen Forschungsfragen und Studienteilnehmenden entsprechend angepasst. Den Personen werden dabei in der Regel Päckchen ausgehändigt, in denen sich verschiedene Materialien und Aufgaben befinden. Diese sollen in einem vorgegebenen zeitlichen Rahmen von den Teilnehmenden bearbeitet und an das Forschungsteam zurückgegeben werden. Die Bearbeitung der verschiedenen Materialien ist bei dieser partizipativen Methode freiwillig und erfolgt sehr spielerisch. Es steht den Studienteilnehmenden offen, welche, bzw. wie viele Aufgaben sie bearbeiten möchten. Am Forschungsschwerpunkt Kommunikationsdesign der Hochschule der Künste Bern wurden die Cultural Probes erstmals im Rahmen der Studie DesignMigration angewendet (HKB/FSP KD 2009-2010). Hier lag der Fokus vor allem auf die Nutzung und Wahrnehmung von Kommunikationsmitteln im Bereich der Gemeinwesenarbeit durch die Bevölkerung eines Berner Stadtteils. Mit Hilfe von Cultural Probes, Interviews und Workshops wurde der Frage nachgegangen, ob der heterogene kulturelle Hintergrund der BewohnerInnen einen Einfluss auf die Wahrnehmung von Bildern und Texten hat. Die Päckchen beinhalteten in dieser Studie folgende vom Forschungsteam gestaltete Materialien mit den dazugehörigen Arbeitsaufträgen:
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1. Eine Einwegkamera Mit dieser sollten die Teilnehmenden Orte und Gegenstände ihres persönlichen Umfelds fotografieren (wie z.B. »mein Lieblingsort im Quartier«, »mein Lieblingsgegenstand«, »das ist für mich Heimat«.
2. Fünf geographische Karten Nebst zwei Stadtteilkarten, einer Europakarte und einem Stadtplan von Bern befand sich auch eine Weltkarte in den Päckchen. Auf diesen Karten sollten die Personen mit beigelegten farbigen Klebepunkten bestimmte Orte markieren. Auf der Quartierkarte sollten beispielsweise die Orte markiert werden, an denen sich die betreffende Person oft, gerne oder nicht gerne aufhält. Auf der Rückseite der Karten konnte diese ihre Auswahl schriftlich begründen.
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3. Ein leeres, weißes DIN-A4-Blatt Papier Aus diesem sollten die Teilnehmenden eine fiktive Einladung zu ihrem wichtigsten Fest im Jahr gestalten. Auf einem separaten Blatt sollten die Personen außerdem erklären, um welches Fest es sich dabei handelt, wen sie dazu einladen, wo das Fest stattfinden wird und wie die eingeladenen Gäste die Einladung erhalten.
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4. Eine Postkarte Auf einer frankierten und an das Forschungsteam adressierte Postkarte sollte auf der Rückseite folgende Frage beantworten werden: »Gibt es etwas, das Sie uns mitteilen möchten?«
5. Ein leeres Tütchen Diese sollten die teilnehmenden Personen mit etwas füllen, das sie dem Forschungsteam gerne zeigen würden.
Während die Teilnehmenden bei der oben beschriebenen Berner Studie unterschiedlichen Altersgruppen angehörten, richteten sich die Cultural Probes in der Studie von Gaver, Dunne und Pacenti ausschließlich an eine ältere Bevölkerungsschicht. Dabei erwähnen die Forscher die motivierende Wirkung der partizipativen Methode auf die sonst müde scheinenden Teilnehmenden (Ga-
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ver et al. 1999: 22). Indem sie selbst etwas machen sollen, »werden sie zu Rechercheuren ihrer eigenen Alltagsumgebung, Empfindungen und Wünsche« (Bandyopadhyay 2010: 218). Vor allem die in den Cultural Probes beinhalteten Einwegkameras eignen sich, das Erforschte in die Bildsprache zu übersetzen: Die sprachliche Artikulation erfordert eine Kultur des »Über-sich-selbst-Sprechen-Könnens«, die unter Umständen bei SeniorInnen nicht gut entwickelt oder gepflegt ist. Hier kann die Kommunikation über Artefakte, wie beispielsweise Fotografien, unterstützen oder neue Informationen über das Leben der Beforschten hervorbringen (ebd.).
Kollaborative Designmethoden, wie sie das sogenannte Participatory Design vorsieht, eignen sich zur Erforschung der Lebensweisen und Bedürfnisse von älteren Menschen (Joost 2008). Um komplexen Sachverhalten und Fragestellungen in der Forschungsarbeit gerecht werden zu können, bietet sich oftmals eine Kombination von sozialwissenschaftlichen und partizipativen Methoden der Designforschung an. Die Kombination verschiedener Methoden sieht auch das laufende Forschungsprojekt Kommunikationsdesign in kultursensiblen Alters- und Pflegeeinrichtungen vor. Das qualitative Studiendesign ermöglicht, die Sicht der BewohnerInnen und Pflegenden auf das kommunikative Umfeld zu erfassen. Dabei sollen Erkenntnisse zur Gestaltung eines kultursensiblen Umfeldes gewonnen werden. Wie die Methoden innerhalb der Studie zum Einsatz kommen, soll im folgenden Abschnitt erläutert werden.
A NWENDUNG DER M E THODEN IM F ORSCHUNGSFELD Das Dissertationsprojekt wird mit zwei stationären Alterseinrichtungen in der Schweiz durchgeführt, welche sich speziell an Personen mit Migrationshintergrund richten. Die erste Institution beteiligt sich mit einer kulturspezifischen (›mediterranen‹) und einer nicht kulturspezifischen Wohngruppe an der Studie. Bei der zweiten Institution handelt es sich um eine Pflegewohnung für italienisch- und spanischsprechende ältere Menschen. Insgesamt nehmen rund 20 BewohnerInnen der beiden Institutionen an der Studie teil. In die Untersuchung eingeschlossen werden diejenigen BewohnerInnen der jeweiligen Alterseinrichtungen, welche keine, eine leichte oder eine mittlere Demenz aufweisen. BewohnerInnen mit sehr schlechtem physischem oder psychischem Gesundheitszustand werden von der Studie ausgeschlossen (z.B. schwere Demenz oder physische und psychische Krise). Die drei Wohngruppen werden in Bezug auf Kommunikationsmaßnahmen und gestalterische Kriterien miteinander verglichen.
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I NTERVIE WS UND TEILNEHMENDE B EOBACHTUNG Für die Erfassung der Raumsituation in den Wohngruppen werden in einem ersten Schritt leitfadengestützte Einzelinterviews mit den BewohnerInnen der Altersinstitutionen geführt. Um die Sicht der BewohnerInnen auf das kommunikative Umfeld um eine zusätzliche Perspektive zu erweitern, werden mit VertreterInnen des Pflegepersonals ebenfalls leitfadengestützte, offene Interviews geführt. Den Teilnehmenden werden Fragen zur Raumgestaltung, Raumnutzung und zur räumlichen Situation vor Ort gestellt. Da die Befragung von Demenzkranken und sehr alten Personen oftmals erschwert oder nicht möglich ist, werden zusätzliche Daten durch teilnehmende Beobachtung in den Wohngruppen erhoben. Die Beobachtungsdaten werden in Form eines Feldtagebuchs schriftlich und zeichnerisch festgehalten.
D ESIGNANALYSE In einem zweiten Schritt wird innerhalb der Designanalyse die zum Einsatz kommende visuelle Kommunikation der Altersinstitutionen stichprobenartig evaluiert. Dabei werden unter anderem Informationsbroschüren und Aushänge nach gestalterischen Kriterien analysiert und auf deren Wirkung hin untersucht. Zudem werden auch bestehende Serviceangebote wie Speisepläne und Aktivierungsprogramme untersucht.
C ULTUR AL P ROBES Der Einsatz von Cultural Probes gibt einen Einblick in das persönliche und kulturelle Umfeld der BewohnerInnen. Den an der Studie teilnehmenden BewohnerInnen werden Päckchen ausgehändigt, in denen sich folgende Materialien und Aufgaben befinden: •
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Ein Grundrissplan der jeweiligen Wohngruppe, auf dem die BewohnerInnen Orte markieren können, an denen sie sich oft, gern bzw. nicht gern oder gar nicht aufhalten. Eine Einwegkamera, mit der die Teilnehmenden im Alltag Fotos von ihrem persönlichen und räumlichen Umfeld machen können. Ein Tagebuch, in welches die Teilnehmenden Einträge über ihren Tagesablauf oder auch Skizzen anfertigen können.
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Die Bearbeitung dieser Materialien erfolgt individuell über einen Zeitraum von zwei bis vier Wochen.
W ORKSHOPS Im Rahmen von Workshops werden die BewohnerInnen der beiden Institutionen mit Hilfe von partizipativen Designmethoden zur räumlichen Situation vor Ort, zu deren Nutzung und zur persönlichen Einschätzung befragt. Dabei diskutieren jeweils fünf BewohnerInnen jeder Wohngruppe gemeinsam mit der beteiligten Designforscherin anhand von Fotos und Raummodellen (photo elicitation technique; Hurworth 2003; Clark-Ibáñez 2004) die bestehende räumliche Situation und visualisieren Verbesserungsvorschläge. Im Workshop soll zudem der Frage nachgegangen werden, inwiefern kulturspezifische Kommunikationsmaßnahmen dazu beitragen können, dass sich die entsprechende Zielgruppe angesprochen fühlt. Weiter soll geklärt werden, ob die bestehenden Maßnahmen ausreichend sind oder ob es Aspekte des gestalterischen und kommunikativen Umfelds gibt, die noch unzureichend berücksichtigt werden.
A USWERTUNG DER D ATEN Die semistrukturierten Interviews mit den BewohnerInnen und Pflegenden der Institutionen werden transkribiert und übersetzt. Die Transkripte werden paraphrasiert und inhaltsanalytisch ausgewertet (Mayring 2002). Die Raumund Gestaltungsparameter werden visuell dokumentiert und formalästhetisch sowie wirkungsorientiert analysiert. Methodisch kommt die rhetorische Designanalyse zum Tragen (Scheuermann 2009). Die in den Wohngruppen erhobenen Daten werden miteinander verglichen (qualitativer Vergleich). Die Datenanalyse soll die wesentlichen Faktoren des kommunikativen Umfelds identifizieren, die von den BewohnerInnen positiv bewertet werden oder eine positive Wirkung auf deren Wohlbefinden haben. Aufgrund der zuvor identifizierten Faktoren sollen Empfehlungen für die Gestaltung eines kultursensiblen Umfelds in Alters- und Pflegeinstitutionen erarbeitet werden, welche den von Fachleuten geforderten transkulturellen Wandel in Pflegeeinrichtungen unterstützen. Diese Empfehlungen sollen in Form eines Kriterienkatalogs dargestellt werden. Schließlich werden die gestalteten Kommunikationsmaßnahmen durch Expertenbefragungen validiert. Hierzu werden BewohnerInnen und Fachpersonen aus den Bereichen gerontologische Pflege und Kommunikationsdesign im Rahmen von Leitfadeninterviews zu den entwickelten Maßnahmen befragt. Ziel ist die Überprüfung der zuvor identifizierten Faktoren und Maßnahmen
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für ein gelungenes kommunikatives Umfeld in kultursensiblen Alterseinrichtungen und deren Übertragbarkeit auf Regelinstitutionen der stationären Altenpflege.
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Entwicklung und Durchführung museumspädagogischer Formate für pflegeund hilfsbedürftige Menschen in Oldenburg Susanne H. Kolter
Bereits 2002 definierte die World Health Organization das ›Active Aging‹ als einen Prozess mit dem Ziel, Möglichkeiten für Gesundheit, Teilnahme und Sicherheit zu optimieren und die Lebensqualität alternder Menschen zu verbessern (Weltgesundheitsorganisation [Hg.] 2002). Der Aspekt der kulturellen Teilhabe ist für eine solche Konzeptualisierung fraglos integral und basiert im Hinblick auf die Funktion von Museen in diesem Prozess wesentlich auf der Verknüpfung gerontologischen Wissens und museumspädagogischer Überlegungen. Für die kommenden Jahre wird eine steigende Nachfrage nach Bildungsangeboten bei älteren Menschen prognostiziert (Institut für angewandte Sozialforschung [Hg.] 2001). Nicht allein die Zahl der Konsumenten wächst, auch die soziokulturelle Verfasstheit der nachfolgenden Altersgruppen, die unter anderem eine stärkere Bildungsorientierung mitbringen, erhöht die Notwendigkeit einer entsprechend differenzierten Angebotsformulierung. Solche Prognosen und Überlegungen machen zugleich aber auch deutlich, dass das kulturelle Angebot an Ältere stetiger Aktualisierung bedarf. Ein statisches Konzept greift zu kurz, ein flexibles ist notwendig. Die grundsätzlich andersartige Sozialisierung, Orientierung, Herkunft, um nur einige Aspekte zu nennen, der jeweiligen Folgegeneration führt in diesem Sinne zu einer relativ kurzen ›Halbwertszeit‹ altersspezifischer museumspädagogischer Konzepte. Davon unabhängig ist bereits gegenwärtig die starke Heterogenität der Bevölkerungsgruppe ›60+‹ zu konstatieren (vgl. z.B. Lehr 2007; Hippe/Sievers 2006: 7; Kruse 2007). Gezielt an Hochaltrige und an Bewohner von Pflegeund Altenheimen richtet sich das vorzustellende Projekt in Oldenburg.
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Z UM P ROJEK T IN O LDENBURG Seit Anfang des Jahres 2012 besteht eine Kooperation zwischen der Diakonie Oldenburg und dem Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, die sich mit der Entwicklung und Durchführung von musealen Bildungsangeboten für Bewohner von Alten- und Pflegeheimen befasst. Das Projekt befindet sich noch in der Erprobungsphase und richtet sich momentan nur an eine spezielle Einrichtung: das Büsingstift. In diesem Seniorenstift ist man mit einer besonders guten Ausgangssituation konfrontiert: Es liegt zentral in der Fußgängerzone und fußläufig zu verschiedenen kulturellen Einrichtungen, kann auf eine erkleckliche Zahl ehrenamtlich Engagierter zurückgreifen und bemüht sich sehr um vielfältige Angebote für die Bewohner. Unter anderem gibt es auch Programme zur künstlerischen Praxis in Zusammenarbeit mit der Kunstschule Klex. Das aktuelle Angebot der Museumsführungen wird zurzeit aus Sondermitteln des Hauses und des Museums finanziert. Die Kosten sind allerdings sehr überschaubar. Neben dem Führungshonorar fallen lediglich in Ausnahmefällen geringe Transportkosten an, da die meisten Teilnehmer durch Ehrenamtliche auf dem kurzen Fußweg in das nahe gelegene Museum begleitet werden. Eine Einbeziehung weiterer Teilnehmergruppen und Einrichtungen wird vorbehaltlich einer positiven Evaluation – und sofern die Ressourcen weiterhin gegeben sind – erwogen. Die Erwartungen, die das Pflegeheim an eine solche Unternehmung stellt, sind recht klar zu umreißen. Die Faktoren Unterhaltung und Abwechslung, so einfach es klingen mag, stehen im Vordergrund. Darüber hinaus geht es um die momentane Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten und die Aktivierung des Wahrnehmungsvermögens. Positiv wird auch die Einbeziehung von Angehörigen, Freunden und Ehrenamtlichen bewertet. Auch das Miteinander von Bewohnern und Pflegepersonal kann vom Museumsbesuch durchaus profitieren, treten doch idealerweise in diesem Rahmen eine personenorientierte Interaktion und ein gemeinsames Erlebnis an die Stelle der aufgabenorientierten Pflege. Museumsbesuche und die aktive Beteiligung daran bieten zudem Möglichkeiten für Kompetenzerlebnisse, geht doch das Leben in einem Senioren- und Pflegeheim im Allgemeinen auch mit dem Wegfall beruflicher, familiärer und freizeitgestalterischer Aufgaben einher. Insgesamt muss aber speziell in der beteiligten Oldenburger Einrichtung der Eigenwert kultureller Aktivitäten nicht ständig über Transferleistungen legitimiert werden. Im Büsingstift bevorzugt man für den Museumsbesuch gemischte Gruppen, die sowohl weniger beeinträchtigte als auch stark pflegebedürftige oder auch demente Teilnehmer umfassen. Die Auswahl der Teilnehmer trifft das Pflegepersonal. Unternehmungen dieser Art bergen auch immer einen Stressfaktor: Nutzen und Belastungen
Entwicklung und Durchführung museumspädagogischer Formate
müssen fein abgewogen und über die Teilnahme kann letztlich in Absprache mit dem Bewohner nur kurzfristig entschieden werden. Wichtig ist die Gewährleistung von Sicherheit: Teilnehmer stellen oft Fragen wie »Ist für meinen Transport gesorgt?«, »Sind die sanitären Einrichtungen ausreichend?« oder »Schaffe ich das?«. Die Stimmigkeit der Rahmenbedingungen ist für die Teilnahmeentscheidung mindestens ebenso wichtig wie das eigentliche Angebot.
V ERGLEICHBARE P ROJEK TE Während die Generation ›50+‹ bereits insgesamt eine wichtige Zielgruppe von Museen und museumspädagogischer Aktivitäten ist (zu diesem Thema vgl. Groote/Nebauer 2008; Dreyer/Wiese 2004; Ermert/Lang 2006; Geißler 2006; Hausmann/Körner (Hg.) 2009; Kubicek 2009; Boyer 2007; Danielzyk 2005; Groote/Fricke (Hg.) 2010; Fricke/Winter (Hg.) 2011; Hausmann 2007; Mamerow 2003), sind Angebote im Hinblick auf die kulturelle Teilhabe Hochaltriger bzw. pflege- und hilfsbedürftiger Menschen immer noch unterrepräsentiert. Verschiedene Konzepte und Einrichtungen, die sich mit genau diesem Schwerpunkt beschäftigen, gibt es indes sehr wohl. So bietet sich beispielsweise in Münster die Möglichkeit, eine einjährige zertifizierte Fortbildung zum Kulturgeragogen zu absolvieren.1 Der vom Remscheider Institut für Bildung und Kultur und der Fachhochschule Münster gemeinsam betriebene Lehrgang widmet sich der Professionalisierung der kulturellen Arbeit mit Älteren und kombiniert Erkenntnisse der Gerontologie und Geragogik mit kulturpädagogischen Methoden, um den sich wandelnden Bedürfnissen Älterer angepasste Programme zu entwickeln. Zur theoretischen Ausbildung gehören auch Praxisprojekte, die von den Teilnehmern in unterschiedlichen Einrichtungen durchgeführt werden. Im Rahmen des ersten Ausbildungsjahrganges 2011/12 wurde beispielsweise das aktivierende und isolationsmindernde Potential von Kunstausstellungen speziell im Hinblick auf Demenzerkrankungen im Landesmuseum für Kunstund Kulturgeschichte Münster erprobt. Um die Etablierung eines geragogischen Programms hat sich auch die Kunsthalle Bielefeld bemüht. Zur Spezifizierung des Angebots differenziert man dort die Besucher zunächst in die drei Kategorien ›55plus‹, ›Akademiker‹ und ›Demenz‹. Die Kunsthalle kooperiert dabei mit dem Demenz-Servicezentrum und dem Seniorenrat der Stadt. Ambitioniert ist auch das dreiphasige Kursangebot in einem Wiesbadener Seniorenstift, das unter dem Titel Anschauungen eine gezielte Auseinandersetzung mit der modernen Kunst anvisiert. Ein Beispiel aus der hauseigenen 1 | Schon seit 2004 gibt es in Münster das Zertifikatsprogramm Musikgeragogik.
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Plakatsammlung wird theoretisch untersucht – wobei die Auseinandersetzung mit der ausgestellten Sammlung als Nebeneffekt zu einer stärkeren Identifizierung mit dem Heim führen kann. Daran knüpfen der Besuch einer Ausstellung im Landesmuseum vor Ort und schließlich als Praxisphase ein Malworkshop an. Auch unabhängig von dieser speziellen kulturgeragogischen Ausbildung reagieren Museen und andere Einrichtungen inzwischen verstärkt auf die kulturellen und sozialen Erfordernisse des demographischen Wandels, begreifen dies als Herausforderung und neue museumspädagogische Aufgabe, die sich grundsätzlich von der Arbeit mit der immer noch bevorzugten Zielgruppe ›Kinder und Jugendliche‹ unterscheidet, aber auch abhebt von den Angeboten für Senioren im Allgemeinen. Hervorzuheben ist hier beispielsweise das 2007 begründete Projekt Kultur trifft Demenz im Wilhelm Lehmbruck Museum, Duisburg, wo das aktive Kunsterlebnis Führungen und Praxisphasen kombiniert (Kastner/Winkler 2008; vgl. ferner Nebauer/Groote 2012). Auf internationaler Ebene ist etwa die renommierte amerikanische Organisation Artists For Alzheimer zu nennen, eine bereits seit elf Jahren bestehende Kooperation von Künstlern und Kulturinstitutionen. Beteiligt ist unter anderem das New Yorker Museum of Modern Art. Darüber hinaus ist in diesem Kontext auf Initiativen zu verweisen wie etwa die Ausstellung Demenz Art, 2006 in Berlin, und auf Tagungen wie Kultur und Alter, im November 2006 in Bielefeld, die internationale Fachtagung Pflegestufe Kunst, 2009 in Köln, oder auch den Ersten Fachtag Kulturgeragogik am 11. Oktober 2011 in Münster (Akademie Franz Hitze Haus). Tatsächlich ist insgesamt zu beobachten, dass die Zahl der Angebote, die sich speziell an Menschen mit Demenz richten, kontinuierlich steigt (vgl. z.B. Bremen/Grebs (Hg.) 2007; Ganß 2009; Gruber (Hg.) 2010; vgl. ferner die Ankündigungen aktueller Angebote unter www.dementia-und-art.de [Stand 08.01.2013]).
A LLGEMEINE P AR AME TER VON F ÜHRUNGSKONZEP TEN Angebote, die sich an hochaltrige und/oder physisch beeinträchtige Menschen, an Personen mit nachlassenden körperlichen oder geistigen Ressourcen und auch mit Demenzerkrankungen richten, sind nicht nur mit einem erhöhten personellen und organisatorischen Aufwand verbunden, sie erfordern auch andersartige, teilweise sehr spezielle Formate. Diese Formate ergeben sich einerseits aus den besonderen Bedürfnissen der Teilnehmergruppe und anderseits aus den Gegebenheiten vor Ort, sind doch längere Anfahrtswege in den meisten Fällen ausgeschlossen, so dass sich als Ziel zumeist nur die kulturellen Einrichtungen im engeren Umkreis ansteuern lassen.
Entwicklung und Durchführung museumspädagogischer Formate
In Oldenburg steht mit dem Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte ein Mehrspartenhaus zur Verfügung, das mit seinen Dauerausstellungen, aber auch mit aktuellen Ausstellungsprogrammen unterschiedliche thematische und methodische Schwerpunktsetzungen ermöglicht. Für die Bewohner des am Projekt beteiligten Senioren- und Pflegeheims wurden so zunächst drei Formate entwickelt – ein landesgeschichtlicher, ein kunstgeschichtlicher und ein kulturgeschichtlicher Ansatz –, die jeweils unterschiedliche Ausgangssituationen und Interessenschwerpunkte berücksichtigen. Unabhängig von der Spezifik des Führungsangebots lassen sich aber allgemeine Standards und Parameter für solche Museumsbesuche benennen. Im Wesentlichen wurden diese Aspekte bereits im Vorfeld für unser Projekt erwogen und festgelegt. Die Erfahrungen bei der tatsächlichen Durchführung der Besuche sowie die nachträgliche Auswertung führten aber zu einigen Nachbesserungen oder Variationen. Grundsätzlich ist beim Museumsbesuch eine weitgehende Barrierefreiheit zu gewährleisten und auch die Möglichkeit, sich aus der Führung zurückzuziehen. Dabei handelt es sich einerseits um notwendige Minimalstandards, andererseits birgt die Betonung solcher Aspekte aber auch Ausgrenzungstendenzen: Angebotsformulierungen perpetuieren häufig zumindest indirekt die defizitäre Dimension des Alters, indem beispielsweise als Besonderheiten des Formats vor allem Sitzgelegenheiten, Barrierefreiheit und Kopfhörer ausgewiesen werden (Löhr 1997: 39).2 Damit wird die defizitäre Argumentation, wie sie die Altersforschung lange ausgezeichnet hat, im Bereich der Museen weitergeführt. Der Paradigmenwechsel vom Defizit zur Kompetenz, den die Gerontologie schon seit fast zwanzig Jahren vollzogen hat, kommt mit dieser Perspektive nicht in den Blick (Gajek 2008: 8).
Wegen der Spezifik des Teilnehmerkreises beim Projekt in Oldenburg oder auch bei Angeboten vergleichbaren Zuschnitts ist dieser Aspekt jedoch eher nachrangig. Die Gruppe sollte nach unserer Erfahrung die Zahl von zehn bis zwölf Teilnehmern nicht überschreiten; hinzu kommen schließlich noch die begleitenden Personen, mitunter im Verhältnis eins zu eins. Auf eine geleitete Führung kann nicht verzichtet werden. Diese sollte die Besucher durchaus aktiv einbeziehen, sich aber keinesfalls im Sinne eines Ab- und Nachfragens entwickeln. ›Partizipieren statt Konsumieren‹ eignet sich als Motto und beschreibt eine dialogische Form der Führung, die auch Abweichungen vom Kernthema er2 | »Die Forschung zeigt, dass Ältere meist nicht als ›Senioren‹ angesprochen werden wollen. Oft möchten sie gerade keine Extraprogramme für SeniorInnen. Denn dies wird oft als stigmatisierend empfunden.« (Kollewe 2007: 36)
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laubt, Assoziationen und Emotionen zulässt. Darüber hinaus sollte auch den alterstypischen Lernmechanismen Rechnung getragen werden (vgl. u.a. Kade 2006). Die Führung sollte sehr klar strukturiert und nicht nur inhaltlich, sondern auch zeitlich begrenzt sein. Eine Gesamtdauer von etwa 45 Minuten hat sich als zweckmäßig erwiesen.3 Für die Unternehmungen sind insbesondere der Vormittag oder der frühe Nachmittag geeignet. Als besonders empfehlenswert erscheinen thematische Schwerpunkte, die emotionale sowie biographische Anknüpfungspunkte offerieren – sind doch im Bereich der kognitiven Veränderungen die fluidalen Leistungen stärker durch alterskorrelierten Abbau betroffen als die kristallinen –,4 allerdings nicht ausschließlich auf die Retrospektive beschränkt bleiben. Insgesamt gilt das Kriterium der Allgemeinverständlichkeit; Fachwissenschaftliches und Termini sollten nur sparsam eingesetzt, Anglizismen eher vermieden werden. Sinnvoll ist ferner, die reine Rezeption durch aktivierende Angebote zu bereichern und weitere Sinnesorgane anzusprechen. Die Anzahl der präsentierten Objekte ist zu begrenzen, ein häufiger Standortwechsel sollte nach Möglichkeit vermieden werden. Zu gewährleisten ist ferner ausreichender Platz vor den Ausstellungsobjekten und eine ausreichende Größe und Sichtbarkeit der Exponate. Ablenkungen durch veranstaltungsexterne Reize sollten minimiert werden. Auch der äußere Rahmen des Museumsbesuchs sollte inhaltlich nicht überfrachtet werden, wie die Statements der Beteiligten beinahe einhellig deutlich gemacht haben. Eine gezielte inhaltliche Vor- oder Nachbereitung wird eher nicht gewünscht. Dass Lernen oder auch das Erfahren neuer Dinge ein Wert an sich ist, wurde von beinahe allen Teilnehmern bekundet. Allerdings ist nicht immer sicher einzuschätzen, ob damit eine tatsächliche Überzeugung und ein Bedürfnis artikuliert werden oder ob sich hier lediglich fast omnipräsente Schlagworte verfangen haben. Vergleichbar anderen Bereichen, etwa im Zusammenhang mit der Nutzung neuer Medien oder medialer Angebote insgesamt, ist auch das kulturelle Interesse gesamtbiographisch fundiert. Wer in jüngeren Jahren kulturaffin – oder präziser: museumsaffin – war, zeigt im Allgemeinen auch später eine größere Bereitschaft, solche Angebote wahrzunehmen, und weiß vor allem deren Wert zu schätzen. In diesem Sinne hält auch der Sechste Altenbericht der Bundesregierung 2010 fest: »Während Menschen von einer in frühen Jah3 | Andere Museen und Einrichtungen projektieren zumeist länger dauernde Führungen (bis zu 120 Minuten). 4 | Während mit dem Begriff »fluidal« cum grano salis die angeborene, nicht durch Umweltfaktoren beeinflusste geistige Kapazität gemeint ist, bezieht sich der Begriff »kristallin« auf im Laufe des Lebens Erlerntes bzw. durch die Umwelt Bestimmtes.
Entwicklung und Durchführung museumspädagogischer Formate
ren erhaltenen Bildungsförderung offensichtlich auch in späten Jahren noch profitieren, akkumulieren Bildungsbenachteiligungen über den Lebenslauf« (Deutscher Bundestag: 84). Ferner verweist der Bericht auf die Auswirkungen positiver und negativer Altersbilder, die mit einer erhöhten bzw. verminderten Bereitschaft zur Nutzung von Bildungsangeboten einhergehen (ebd.: 81). In Oldenburg ließen sich – nebenbei bemerkt – keine geschlechtsspezifischen Unterschiede im Hinblick auf das Interesse und die Beteiligung beobachten. Das Geschlechterverhältnis der Teilnehmer entspricht im Wesentlichen dem Geschlechterverhältnis der Bewohner. Als besonders wichtig für das Gesamtpaket wurde bei den Teilnehmern übereinstimmend der kommunikative Faktor eingeschätzt, und zwar gerade das an den Museumsbesuch anschließende Beisammensein oder Kaffeetrinken. Aber auch schon der Hin- oder Rückweg wurde als Gelegenheit zum besuchsbezogenen Gespräch genutzt.
L ANDESGESCHICHTLICHE F ÜHRUNG Am Anfang unserer Besuchsreihe stand eine landesgeschichtliche Führung im Oldenburger Schloss. Im historischen Kostüm gab sich Graf Anton Günther (1603-1653) quasi selbst die Ehre, präsentierte ausgewählte Stücke seiner Residenz und berichtete aus seinem Leben. Mit Bedacht wurde bei der Auswahl dieses Formats für die Bewohner des Büsingstifts die Gestalt des Grafen ins Zentrum gestellt. Die meisten Teilnehmer/Bewohner waren alteingesessene Oldenburger, und Anton Günther ist in der Stadt allgegenwärtig: Sein Bild ziert den offiziellen Stadtplan, eine Schule und eine Straße tragen seinen Namen, an einer stark frequentierten Kreuzung in der Fußgängerzone prangt eine gut vier Meter hohe Darstellung in Silikatmalerei. 5 Aktuell polarisiert die Debatte um ein zeitgenössisches Bronzedenkmal die Stadt, eine Kontroverse, die es Anfang 2012 bis ins Feuilleton der FAZ geschafft hat.6 Des Grafen Nachruhm beruht vor allem darauf, dass er Oldenburg aus den Querelen des Dreißigjährigen Krieges heraushielt. Er gilt zudem als Begründer der inzwischen zwar kaum noch existenten Oldenburger Pferdezucht und wird daher zumeist auf seinem Lieblingspferd Kranich, dem mythischen Stammvater dieser Zucht, gezeigt. Auch der Kranich ist namentlich in Oldenburg mehrfach präsent. Im Anton-Günther-Kostüm werden Stadtführungen durchgeführt, das Landemuseum für Kunst und Kulturgeschichte führt als Maskottchen den Hasen Anton und die Ziege Günther. Und was vielleicht das Wichtigste ist: 5 | 1894/5, August Oetken. 6 | Vgl. Der geschenkte Gaul, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. Januar 2012, S. 30.
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Ein Anton Günther hoch zu Ross annonciert, eröffnet und begleitet alljährlich Ende September/Anfang Oktober den Kramermarkt, das größte Volksfest der Region, das auf eine Verordnung des Grafen von 1608 zurückgeht. Graf Anton Günther ist damit nicht nur im kollektiven Stadtgedächtnis fest verankert, aufgrund seiner starken Präsenz in unterschiedlichen Zusammenhängen verbindet auch die überwiegende Mehrheit der Bewohner des Büsingstifts ganz persönliche Erinnerungen mit dieser Person. Präzisere politische oder historische Kenntnisse liegen eher nicht vor, es handelt sich vielmehr um eine anekdotenhafte Präsenz, die im Allgemeinen überaus affirmativ ist. Tatsächlich weckte dann auch die Ankündigung einer Kostümführung durch das Schloss – das als Wahrzeichen der Stadt bei den Bewohnern ebenfalls sehr präsent ist – großes Interesse. Ursprünglich war lediglich eine Führung geplant, eine zweite musste dann aber aufgrund des Andrangs zusätzlich stattfinden. Wie erhofft, animierten Ausstellung und Führung die Bewohner, eigene Erinnerung und Wissen zu aktivieren. Insgesamt kam es dabei eher zu einer Bestätigung des bereits Gewussten oder Erlebten, nicht unbedingt zu einer Revision älterer Kenntnisse und Erfahrungen oder zur Entwicklung neuer Perspektiven. Die landesgeschichtliche Führung, die in hohem Maße mit eigenen Erfahrungen und Erinnerungen verknüpft werden konnte und zudem durch eine Mischung aus Kuriositäten und Alltagsobjekten, tragischen oder auch pikanten Anekdoten aus der Grafenfamilie besondere Anschaulichkeit besaß, bedurfte letztlich keiner weiteren museumspädagogischen Maßnahmen, um zu gelingen. Die Führung im historischen Kostüm – bei Bedarf kann auch die Gattin Cäcilie dazugebucht werden – wurde durchweg goutiert, sorgte für Erheiterung. Ironische Brechungen in den Erzählungen der Führungsperson wurden sehr differenziert als solche wahrgenommen.
K UNSTGESCHICHTLICHE F ÜHRUNG Das zweite Führungsprojekt war ein kunstgeschichtlich orientiertes: Zu den populärsten Exponaten des Landesmuseums gehört der 43-teilige Idyllenzyklus, den der Hofmaler und erste Galerieinspektor Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751-1829) im Auftrag Herzog Peter Friedrich Ludwigs 1819/20 vollendete. Tischbein versteht seine Idyllen als Mischform von Dichtung und Malerei und präsentiert ein buntes Potpourri aus Schäferstücken, Göttern, Satyrn, Nymphen, Mänaden und arkadischen Landschaften. Neben antiken Schriftquellen verarbeitet er in der Bildgestaltung auch Momentaufnahmen und Alltagserfahrungen (vgl. u.a. Tischbein 1982; Mildenberger 1989; Friedrich (Hg.) 1996).
Entwicklung und Durchführung museumspädagogischer Formate
Auf die Vorstellung dieser Doppelstrategie konzentrierte sich die Führung und machte sie anhand dreier Bildbeispiele deutlich (Satyr lehrt sein Kind die Syrinx blasen, Die Göttin der Obstbäume, Apollo beim Lyraspiel). Zur Belebung der rein rezeptiven Struktur wurden die Teilnehmer aktiv in die Präsentation einbezogen. Zudem wurden weitere sinnliche Kategorien erschlossen. So eignet sich Musik nicht nur zur emotionalen Weitung, sondern auch zur Paraphrasierung visuell oder verbal vermittelter Stimmungen. In zwei vorgestellten Idyllen wird musiziert, so dass überdies eine Verbindung zwischen Seh- und Hörerlebnis gegeben war. Ferner bot sich hier die Möglichkeit, andere sensorische Reize zu nutzen: Wie fühlen sich beispielsweise der pastose Farbauftrag oder auch die feinmalerische Oberfläche eines Kunstwerks an? Durch bereitgehaltene tastbare Objekte konnten auch im Werk dargestellte Texturen veranschaulicht werden (z.B. Fell). Im olfaktorischen Bereich konnten ebenfalls Motivelemente erfahrbar gemacht (z.B. Apfel) oder auch künstlerische Materialien vorgestellt werden.
D AS KULTURGESCHICHTLICHE F ORMAT Für Januar 2013 waren zwei Besuche in der kulturgeschichtlichen Ausstellung Mini, Mofas, Mao-Bibel. Die Sechziger Jahre in der Bundesrepublik geplant, mussten aber aufgrund widriger Wetterbedingungen – gerade solche erweisen sich, nebenbei bemerkt, für Unternehmungen wie die hier zur Debatte stehenden als veritables Hindernis – auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Ähnlich wie bei dem landesgeschichtlichen Format soll bei der kulturgeschichtlichen Ausstellung die Anknüpfung an eigene Lebenserfahrungen im Vordergrund stehen. Die Ausstellungsstücke aus den 1960er Jahren, aber auch Exponate wie Film- und Fernsehausschnitte sollten geeignet sein, kollektive Alltagserinnerungen und -erfahrungen zu mobilisieren. Insbesondere die in der Ausstellung nachgebauten Interieurs könnten zum Teilen von Erinnerungen anregen.
P ROBLEME DER E VALUATION Alle bisher in Oldenburg angebotenen Formate und Führungen sind aus der subjektiven Perspektive als positiv, als erfolgreich und wertvoll einzustufen. Jedoch: Eine objektive Einschätzung von Gewinn und Nutzen ist nicht so leicht zu formulieren, erweist sich doch eine zweckmäßige Evaluation als ausgesprochen schwierig. Die Auswertung der durchgeführten Besuche ist problematisch, und die Ergebnisse sind im Augenblick kaum aussagekräftig, weder qualitativ noch quantitativ. Die Entwicklung eines geeigneten Methodenpools
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und die Anpassung der Erhebungsinstrumente – mit retrospektiver wie prospektiver Orientierung – stehen letztlich noch aus. Dies gilt auch für die Ausbildung eines adäquaten Forschungsdesigns, das auf der Basis der gewonnen Ergebnisse abstrahiert 7. Insgesamt könnten sich dabei ex-ante- bzw. formative Evaluationen als sinnvoller erweisen als rein summative Evaluationen. Zurzeit werden im Hinblick auf die Auswertung der Museumsbesuche in Oldenburg zwei sich ergänzende Ansätze verfolgt, die Selbst- und Fremdbeurteilungsskalen nutzen: An erster Stelle stehen die Beobachtungen durch das Pflegepersonal, und zwar sowohl im unmittelbaren Umfeld des Besuchs als auch in der Pflegeeinrichtung selbst. Die Museumsbesuche wurden, wie bereits erwähnt, zudem durch ehrenamtliche Mitarbeiter sowie zum Teil durch Familienangehörige begleitet. Auch deren Eindrücke, Einschätzungen und Beobachtungen stellen einen Aspekt der Evaluation dar. Neben dieser indirekten Informationsgewinnung steht der unmittelbare Austausch mit den Teilnehmern. Eine direkte Befragung der Adressaten erweist sich dabei aber nicht selten als problematisch. Absolut kontraproduktiv ist beispielsweise die Frage »Wie hat es Ihnen gefallen?« Die allgegenwärtige Dankbarkeit in Alten- und Pflegeheimen führt hier zu einem immer gleichen: »Das war sehr schön. Vielen Dank, dass Sie sich die Mühe gemacht haben.« In Ermangelung anderer Möglichkeiten wurden aber im Nachgang der Besuche dennoch gezielte Befragungen durchgeführt. Allerdings sind nicht alle Teilnehmer in der Lage, bei einer solchen Evaluation mitzuwirken. Der Fragebogen, der in Form eines informellen Gesprächs abgearbeitet wird, vermeidet Suggestivfragen und nutzt zudem den Umweg über die Entpersonalisierung. D.h. etwa: Anstatt zu fragen »Haben Sie Interesse an einem Besuch im Museum?« hat sich eine Frage wie »Denken Sie, Ihre Mitbewohner haben Interesse an einem Besuch im Museum« als zielführender erwiesen. Es hat sich ebenfalls gezeigt, dass diese Gespräche aufschlussreicher, entspannter und ergiebiger sind, wenn sie nicht in einer Zweierkonstellation stattfinden, sondern zu dritt oder zu viert. Die Teilnehmer bzw. die Befragten empfanden es offensichtlich als angenehm, sich untereinander zu beraten. Als weiteren Vorteil bringt eine solche Vorgehensweise mit sich, dass der Museumsbesuch in einem informellen Rahmen noch einmal Revue passiert. Tatsächlich war sogar die Anregung kommunikativer Prozesse zu beobachten, auch zwischen Bewohnern, die sich sonst eher reserviert begegnen. Grundsätzlich darf keinesfalls der Eindruck einer Prüfungssituation entstehen, es muss klar sein, dass es keine richtigen oder falschen Antworten gibt, sondern lediglich ein freier Austausch angestrebt ist. Ganz praktisch heißt das 7 | Vgl. entsprechende Ansätze in Handreichungen des Museums of Modern Art, New York: www.moma.org/meetme/resources/#evaluation [Zugriff: 8. Januar 2013]; Hennefeld/Metje (Hg.) 2010.
Entwicklung und Durchführung museumspädagogischer Formate
zum Beispiel: Es ist angeraten, auf einen abzuarbeitenden Fragenkatalog in schriftlicher Form zu verzichten. Antworten sollten durch den Interviewer, wenn es sich vermeiden lässt, nicht unmittelbar schriftlich fixiert und keinesfalls elektronisch erfasst werden. Denn genau das führt bei den Befragten zu dem Eindruck, geprüft zu werden, und erzeugt nicht zu unterschätzende Stressmomente. Wie schon im Zusammenhang mit den Besuchen und Führungen ist auch hier ein Zeitlimit zu beachten. Die Schwierigkeiten, die bei der Auswertung des konkreten Projekts aufscheinen, korrespondieren mit einer allgemeinen Problematik bei der Bewertung künstlerisch-kulturell ausgerichteter psychosozialer Interventionen bzw. intellektueller Stimulation. Entsprechende Defizite beklagen beispielsweise schon die S3-Leitlinien Demenz von 2009 (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde und Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hg.) 2009), die aber nichtsdestotrotz solchen psychosozialen Interventionen eine hohe Relevanz bescheinigen. Auch die defizitäre Wirkungsforschung im Bereich der Künste behindert zum Teil die Entwicklung und Auswertung entsprechender Projekte und Formate. Diese Schwierigkeiten benannte etwa auch Anne Bamford, die im Auftrag der UNESCO Studien zur Qualität künstlerischer Bildung durchführte. Bamfords Untersuchungen fokussieren zwar vor allem Kinder und Jugendliche, Kernaussagen sind aber durchaus auch in Bezug auf andere Altersgruppen relevant. Aus den Kreisen der Wirkungsforschung gibt es beträchtliche Skepsis gegenüber der Qualität der Evaluation. Die Hauptkritik geht dahin, dass die vermeintliche Forschung oft kaum etwas anderes als eine verdeckte Parteinahme sei. Gewiss fehlt es im Feld der künstlerischen Bildung an nachhaltiger Längsschnittforschung und viele der Evaluationsberichte sind in der Tendenz eher illustrierend, nicht analytisch (Bamford 2010: 189).
Zudem gilt: Sowohl bei der Konzeptionierung von Führungen oder Programmen insgesamt als auch auf dem Sektor der Auswertung und der entsprechenden Grundlagenforschung sollte als Korrektiv die eigene Vorstellung vom Alter überprüft werden, ist diese doch nicht selten immer noch stärker biographisch geprägt als am aktuellen Forschungsstand ausgebildet.
L ITER ATUR Bamford, Anne: Der Wow-Faktor. Eine weltweite Analyse der Qualität künstlerischer Bildung, Münster 2010. Boyer, Johanna Misey: Creativity Matters: The Arts and Aging Toolkit, Washington 2007.
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Susanne H. Kolter
Bremen, Klaus; Grebs, Klaus (Hg.): Kunststücke Demenz. Ideen – Konzepte – Erfahrungen, Essen 2007. Danielzyk, Rainer: Auswirkungen des demographischen Wandels auf die kulturelle Infrastruktur, in: Kulturpolitische Gesellschaft (Hg.): Jahrbuch Kulturpolitik, Bonn 2005, 191-201. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde und Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hg.): S3-Leitlinien »Demenz«. Langversion, Bonn 2009. URL: www.dggpp.de/documents/s3-leitlinie-de menz-kf.pdf [Zugriff: 8. Januar 2013]. Deutscher Bundestag (Hg.): Drucksache 17/3815, 84. Dreyer, Matthias; Wiese, Rolf: Demographischer Wandel und die Folgen für Museen, in: Matthias Dreyer und Rolf Wiese (Hg.): Zielgruppen von Museen: Mit Erfolg erkennen, ansprechen und binden, Rosengarten-Ehestorf 2004, 163-180. Ermert, Karl; Lang, Thomas (Hg.): Alte Meister: Über Rolle und Ort Älterer in Kultur und kultureller Bildung, Wolfenbüttel 2006. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Der geschenkte Gaul, 3. Januar 2012, 30. Fricke, Almuth; Winter, Thorben (Hg.): Kultur im demografischen Wandel. Impulse für die kommunale Kulturarbeit, München 2011. Friedrich, Arnd (Hg.): Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, (1751-1829). Das Werk des Goethe-Malers zwischen Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur, Petersberg 1996. Gajek, Esther: »Generation Grau« und »Generation Schlau«. Schlaglichter auf Seniorenprogramme deutscher Museen, in: Standbein Spielbein. Museumspädagogik aktuell 82 (2008), 8. Ganß, Michael: Demenz-Kunst und Kunsttherapie. Künstlerisches Gestalten zwischen Genius und Defizit, Frankfurt a.M. 2009. Geißler, Clemens: Kulturelles Potenzial der alternden nachwuchsarmen Gesellschaft, in: Stiftung Niedersachsen (Hg.): »älter – bunter – weniger«: Die demographische Herausforderung an die Kultur, Bielefeld 2006, 51-63. Groote, Kim de; Fricke, Almuth (Hg.): Kulturkompetenz 50+ Praxiswissen für die Kulturarbeit mit Älteren, München 2010. Groote, Kim de; Nebauer, Flavia: Kulturelle Bildung im Alter. Eine Bestandsaufnahme kultureller Bildungsangebote für Ältere in Deutschland, München 2008. Gruber, Harald (Hg.): Kunsttherapie bei dementiell erkrankten Menschen, Berlin 2010. Hausmann, Andrea; Körner, Jana (Hg.): Kulturangebot und Kulturnachfrage in Zeiten des demographischen Wandels, Wiesbaden 2009. Hausmann, Andrea: Das Publikum von morgen. Herausforderungen des demographischen Wandels für Kulturbetriebe, in: Kulturpolitische Mitteilungen 117 (2007), H. 2, 54-57.
Entwicklung und Durchführung museumspädagogischer Formate
Hennefeld, Vera; Metje, Ute Marie (Hg.): Demografischer Wandel als Herausforderung für Kultur und ihre Evaluierung. Dokumentation der Frühjahrstagung 2010 des AK Kultur und Kulturpolitik Arbeitskreis »Evaluation von Kultur und Kulturpolitik« in der DeGEval – Gesellschaft für Evaluation e. V.), URL: www. degeval.de/arbeitskreise/kultur-und-kulturpolitik [Zugriff: 8. Januar 2013]. Hippe, Wolfgang; Sievers, Norbert: Kultur und Alter: Kulturangebote im demografischen Wandel, Essen 2006. Institut für angewandte Sozialforschung (Hg.): Bildung im Alter, 2001. Kade, Sylvia: Altern und Bildung – eine Einführung, Bielefeld 2006. Kastner, Sybille; Winkler, Friederike: Emotionen gegen das Vergessen. Menschen mit Demenz erleben Kunst im Museum, in: Standbein Spielbein. Museumspädagogik aktuell 82 (2008), 32-37. Kollewe, Carolin: Krieg der Generationen? Ein ethnologischer Blick auf Konstruktionen des Generationenverhältnisses, in: Staatliche Kunstsammlung Dresden (Hg.): Museum zwischen den Generationen, Dresden 2007, 35-40. Kruse, Andreas: Alter. Was stimmt? Die wichtigsten Antworten, Freiburg/Basel/ Wien 2007. Kubicek, Julia: Wie seniorengerecht sind Museen? Anforderungen im Praxistest, Berlin 2009. Lehr, Ursula: Psychologie des Alters, Wiebelsheim 11 2007. Löhr, Regine: Kulturarbeit für Senioren als Chance?, in: Stefan Thabe (Hg.): Alte Menschen im Stadtteil. Handlungsansätze für soziale und kulturelle Einrichtungen, Dortmund 1997, 39-41. Mamerow, Ruth: Projekte mit alten Menschen. Kreativ – praxisorientiert – finanzierbar, München/Jena 2003. Mildenberger, Hermann: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751-1829). Historienmalerei und niedere Bildgattungen vereint im Dienst monarchischer Restauration, in: Idea 8 (1989), 75-94. Nebauer, Flavia; Groote, Kim de: Auf Flügeln der Kunst. Ein Handbuch zur künstlerisch-kulturellen Praxis mit Menschen mit Demenz, München 2012. Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm: Idyllen, hg. v. Peter Reindl, Dortmund 1982. Weltgesundheitsorganisation (Hg.): Aktiv Altern. Rahmenbedingungen und Vorschläge für politisches Handeln, Genf 2002.
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Fotografische Bildwelten des Alter(n)s Sabine Kampmann
Alle reden über ›Altersbilder‹. Aber was meinen die verschiedenen Gesprächspartner eigentlich damit? Je nach wissenschaftlicher Herkunft können gesellschaftliche Vorstellungen vom Alter(n) ebenso gemeint sein wie individuelle Einstellungen gegenüber alten Menschen oder sprachliche Topoi des Alter(n)s. In diesem Text sollen die visuellen Artefakte selbst in den Blick genommen werden. Denn ›Bilder‹ sind nicht bloß Illustrationen gesellschaftlicher Vorund Einstellungen zum Alter, sondern spielen in ihrer spezifischen Medialität und Bildwirklichkeit für die Entwicklung des Altersdiskurses eine wichtige Rolle (Kampmann 2009). Eine besondere Bedeutung kommt dabei – allein in quantitativer Hinsicht – der Bildgattung Fotografie zu. Zugleich sind Fotografien durch die visuelle Gewöhnung aber so selbstverständlich, dass ihre medialen Besonderheiten wie unsichtbar erscheinen. In diesem Text soll die Fotografie selbst in den Fokus gerückt und ihre Rolle für die Entwicklung unserer Vorstellungen vom Alter(n) analysiert werden. Am Beispiel des Mediums der Fotografie werden die spezifischen Fragen diskutiert, die sich einer bildwissenschaftlichen Altersforschung stellen. Deshalb wird zunächst der Begriff der ›Altersbilder‹ ins Zentrum gestellt und in seine Bestandteile zerlegt: Nach ›Alter(n)‹ und ›Bilder‹ wird mit dem ›Körper‹ auch das häufigste Motiv der Bilder des Alter(n)s fokussiert und schließlich – an einigen Beispielen – die Bedeutung des ›Fotografischen‹ für die Produktion und Rezeption von Bildern des Alter(n)s diskutiert.
B ILDER – A LTER – K ÖRPER Bilder, künstlerische wie auch nicht-künstlerische, sind eigenständige, wirkungsmächtige Medien und nicht bloß visuelle Spiegelung gesellschaftlicher Formationen und Prozesse (Boehm 1994: 34). Das bedeutet, dass Bilder, die das Alter(n) zeigen bzw. thematisieren, selbst aktiv an der visuellen Bedeutungsproduktion dessen mitwirken, was wir das Alter(n) nennen. Es ist also nicht
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so, dass sich Vorstellungen und Stereotype des Alters tradieren und transformieren und schließlich in Bildmedien finden lassen. Gerade wenn es um den Austausch mit anderen nicht kunst- oder bildwissenschaftlich geprägten Fachrichtungen geht, verdient diese Annahme besondere Erwähnung: Das Alter ist nicht einfach im Bild, sondern befindet sich als Gegenstand bildlicher Darstellung stets in einem Repräsentationszusammenhang, den es je spezifisch zu analysieren gilt. Dass jedes einzelne dieser Bilder ebenso wie die Summe aller den ›visuellen Diskurs‹ zum Thema Alter prägen, ist zu vermuten – eine Arbeitshypothese, auf die ich am Ende zurückkommen werde. Einer solchen Auffassung von Bildlichkeit folgend geht es also nie um das Alter an sich, sondern stets um Semantiken des Alters. Gestützt wird diese zunächst bildwissenschaftlich hergeleitete Annahme eines offenen und wandelbaren Altersbegriffs durch jene besonders aus der Soziologie stammenden konstruktivistischen Ansätze, die das Alter als eine in der Kommunikation entstehende Zuschreibung begreifen. Irmhild Saake betont in ihrem Buch Die Konstruktion des Alters: »Überall dort, wo alte Menschen tun, was alle anderen auch tun, kann man sie nicht sehen, denn dann sucht man ja nach: Alter« (Saake 2006: 22). Ob wir einen Menschen als ›alt‹ adressieren, hängt vom jeweiligen Kontext ab. Alter wird also weder als biologischer Fakt noch als eine feste soziale Rolle verstanden, sondern als ein prinzipiell relationaler Begriff, der alt und jung voneinander trennt und dabei als Instrument der sozialen Markierung dient. Anschließen möchte ich an Gerd Göckenjans Formulierung des Alters als »Abgrenzungskonzept«, demzufolge »die Alten […] immer die anderen« sind (Göckenjan 2000: 12). Nimmt man also eine solche Perspektive der Beobachtung zweiter Ordnung ein, so lässt sich verfolgen, wie ›Alter‹ performativ hergestellt wird – in der sprachlichen Kommunikation ebenso wie auf der Bildebene. Eine sehr häufige und überaus naheliegende Art der Visualisierung des Alter(n)s im Bild ist die Darstellung alter(n)der Körper. Und vielleicht hat Göckenjan Recht, wenn er den »Greisenkörper [als] das wichtigste und unumgängliche Symbolsystem des Alters« bezeichnet (Göckenjan 2000: 20). Wie ist dabei das Verhältnis von Körper und Bild zu fassen? Zum einen kann der greise Körper als wichtigster ›Träger‹ des Alterungsprozesses begriffen werden. Es ist der menschliche Körper selbst, an dem das fortschreitende Alter gefühlt und zugleich abgelesen werden kann. Sobald wir den alternden Körper als ein Gegenüber wahrnehmen und wie ein Bild ansehen, entsteht Distanz. Zugleich ist das »Bild als Double und Repräsentant des Körpers« aber auch ein vertrautes Wahrnehmungsmuster (Schulz 2002: 16). Diese Ambivalenz zwischen distanzierter Betrachtung eines Anderen und Auseinandersetzung mit dem jedermann Vertrauten macht den besonderen Charakter von Körperbildern aus. Sie können als Abbildungen ›echter‹ Körper wahrgenommen werden, ebenso wie auch als bloße Vorstellungsbilder von Körpern oder gar als Stellvertreter ihres ›Vorbildkörpers‹.
Fotografische Bildwelten des Alter(n)s
Ob es dabei noch so etwas wie einen ›Originalkörper‹ gibt, ist mit Hans Belting zu bezweifeln: »Der Mensch ist so, wie er im Körper erscheint. Der Körper ist selbst ein Bild, noch bevor er in Bildern nachgebildet wird. Die Abbildung ist nicht das, was sie zu sein behauptet, nämlich Reproduktion des Körpers. Sie ist in Wahrheit Produktion des Körperbildes, das schon in der Selbstdarstellung des Körpers vorgegeben ist« (Belting 2001: 89). Für die Verbildlichung alter(n)der Körper bedeutet das, zunächst am einzelnen Bild das Verhältnis von Motiv und Darstellung als vermeintliche ›Abbildung‹ in Zweifel zu ziehen und den Greisenkörper selbst bereits als ein explizit präsentiertes, den Betrachtern zu sehen gegebenes ›Körperbild‹ zu begreifen.
E CHTES A LTERN ? J OHN C OPL ANS ’ FOTOGR AFIERTER G REISENKÖRPER Über die Annahme des Greisenkörpers als einem ›Körperbild‹ hinaus spielt der jeweilige Kontext eine wichtige Rolle dafür, ob Bilder als Altersbilder wahrgenommen werden. Exemplarisch sollen die Fotografien John Coplans’ dazu dienen, diese Kontextabhängigkeit zu verdeutlichen. Der frühere Maler, ehemalige Kunstkritiker, Mitgründer der Zeitschrift Artforum und Museumsdirektor hat im Alter von 64 Jahren damit begonnen, seinen eigenen (alternden) Körper zu fotografieren und dies zum einzigen Thema seiner künstlerischen Arbeit gemacht (Abb. 1-3). Aktuell werden Coplans’ Arbeiten erfreulicherweise (wieder)entdeckt und waren parallel in mehreren Ausstellungen zu sehen. So präsentierte die Wiener Albertina Ende 2012 ein umfangreiches Konvolut an Fotografien John Coplans’ unter dem Ausstellungstitel Körper als Protest. Ergänzt um Fotografien von Bruce Nauman, Vito Acconci oder Hannah Wilke lag der Schwerpunkt auf körperbezogener Kunst seit den 1970er Jahren. Der Kurator Walter Moser stellt in seinem Katalogtext die bedeutende Rolle von Coplans’ Fotografien im Kontext der Body Art heraus (Moser 2012). Zeitgleich waren Aufnahmen Coplans’ im Lentos Museum Linz in der Ausstellung Der nackte Mann zu sehen. Hier wurden die Bilder dem Ausstellungskapitel Ich zugeordnet, welches nackte Künstlerselbstporträts versammelte, obwohl es auch ein eigenes Ausstellungskapitel zum Alter gab (Ausst.-Kat. Der nackte Mann 2012).
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Abb. 1: John Coplans: Three Quarter View, Straight, 1986, 78,4 x 63,5 cm, Fotografie
Abb. 2: John Coplans: Upside Down No. 4 und Upside Down No. 11, 1992, je 215,9 x 109,2 cm, Fotografie
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Abb. 3: John Coplans: Back of Hand, No. 1, 1986, 104,1 x 99,1 cm, Fotografie Eine andere Einordnung nahmen die Ausstellungen in Schwaz und Bozen zum Thema Die Kunst des Alterns (2007) sowie die Ausstellung Ein Leben lang (2008) in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst Berlin vor. Hier wurden die Bilder explizit als Auseinandersetzungen mit dem Alter(n) gedeutet. Aber sind Coplans’ Fotografien nun in erster Linie ›Altersbilder‹? Oder steht bei ihnen auch das insgesamt groteske und hyperbolische Körperbild im Zentrum, das in den sonderbaren Posen, großen Formaten und fragmentierten Bildausschnitten zum Ausdruck kommt (Townsend 1998)? Ist, wie es die Ausstellung in der Albertina nahelegt, die Ablichtung des unperfekten, alternden Künstlerkörpers als ein radikaler Tabubruch zu werten und vorwiegend im Kontext der Body Art zu sehen – als Protest gegenüber Schönheits- und Jugendidealen? Oder sind die Bilder im Rahmen des Genres Künstlerselbstporträt zu lesen, wie es die Linzer Ausstellung nahelegt? Unsere Sehnsucht nach eindeutigen ›Schubladen‹, in die wir die Fotoarbeiten Coplans’ stecken könnten, wird nicht befriedigt. Folgen wir Stuart Halls Überlegungen zu Fotografien, so haben sie gar keine ursprüngliche, vorgängige oder wahre Bedeutung: »[…] es gibt nur eine Vielfalt von Praktiken und historischen Situationen, in denen der fotografische Text produziert, in Umlauf gebracht und eingesetzt wird. […] Jede Praxis, jede Verortung legt eine andere Bedeutungsschicht über das Bild« (Hall 2003: 75). Betrachten wir allein die Rezeptionskontexte der genannten Ausstellungen, so fällt die Bandbreite auf, in der die Bilder Coplans’ als Akte, Selbstport-
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räts, Body Art oder Altersbilder rezipiert werden. Zugleich ist die Rezeptionsvielfalt aber auch nicht grenzenlos, werden die Bilder doch immer eindeutig im Kunstkontext verortet. Dass die Aufnahmen als Kunst wahrgenommen werden und nicht als private Schnappschüsse, Familienbilder oder Werbeaufnahmen, hängt mit einigen irritierenden Charakteristika zusammen. Schauen wir uns exemplarisch eine der ersten und wohl bekanntesten Aufnahmen an, Back and Hands von 1984 (Abb. 4).
Abb. 4: John Coplans: Back and Hands, 1984, 106,7 x 81,3 cm, Fotografie Zu sehen ist die in Schwarz-Weiß fotografierte Rückenansicht eines vermutlich männlichen Körpers vom unteren Rücken bis zu den Schultern. Dort, wo der Betrachter den Kopf vermuten würde, sind nur die angewinkelten Hände und Ansätze der Arme zu sehen. Das Modell muss sich vornüberbeugen, um seinen Kopf derart verstecken zu können. Den Betrachtern wird die große, fast rechteckige Oberfläche des Rückens zu sehen gegeben, die wiederum mittig und fast perfekt in die ebenfalls rechteckige Kadrage des Fotoabzugs zu passen scheint. Der menschliche Körper nähert sich so einer abstrakten Form an. Die stark verschränkten Arme machen uns jedoch bewusst, dass es sich um eine sehr anstrengende Pose handelt und der Körper keineswegs abstrakt ist. Was an diesem Bild überdies fasziniert, ist die Darstellung der Haut. Sie ist haarig, faltig, weist Muttermale und Pigmentflecken auf. Und diese Haut umschließt
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nicht etwa einen harten, muskulösen Körper, sondern hält einen etwas weicheren, massigeren und eben älteren Körper zusammen. Irritierend an dieser Inszenierung ist vor allem die ungewöhnliche Pose, die den Körper wie ein nicht-menschliches Wesen erscheinen lässt, an dem die Hände wie Fühler nach oben ragen. Zudem ist der Rückenakt allein aus Darstellungen weiblicher Nackter bekannt; man denke etwa an Ingres’ Badende oder Man Rays Violon d’Ingres. Der männliche Rücken irritiert also nicht nur wegen seiner unperfekten Haut, sondern auch durch die fehlende typisch weibliche Kurve von Taille zu Hüfte, eben weil er ein männlicher ist. Dieser Körper, den die Aufnahme Back and Hands etwa in Lebensgröße zeigt, existiert real – so legt es das Medium Fotografie nahe. Es ist der ›Realitätseffekt‹, in der Fototheorie spätestens seit Roland Barthes vielfach diskutiert, der hier zum Zuge kommt (Barthes 1989). Das fotografische Bild als einen Abdruck der Wirklichkeit zu begreifen und eine indexikalische Verbindung zwischen Motiv und Abbildung anzunehmen, hängt mit den apparativ-medialen Bedingungen der Bildentstehung zusammen. Denn die fotografische Bildproduktion vollzieht sich vermeintlich autorlos, die ›Foto-Grafie‹ ist eine ›Lichtzeichnung‹, gewissermaßen als direkte Spur wird das Motiv durch chemische Prozesse auf das Fotopapier gebannt – ein technischer Umstand, der in diverse Theorien des unmittelbaren Abdrucks von Wirklichkeit mündete (Geimer 2009: 55-60). Auch wenn heute vielfältige Methoden der Digitalisierung und Bildbearbeitung verbreitet sind, gilt die Fotografie dennoch in weiten Rezipientengruppen als ein realistisches Medium. Der nackte behaarte Männerrücken ist also nicht bloß künstlerische Erfindung, da er ein fotografierter Rücken ist. Überdies wird der gealterte Körper bei Coplans auf ungewohnte und zugleich aufwändige Art zu sehen gegeben. Dass der Künstler die Aufnahmen nicht ohne Weiteres selbst aus der Hand geschossen haben kann, leuchtet aufgrund der Perspektiven und Posen unmittelbar ein. Doch Coplans hat nicht nur, wie man vermuten mag, einen Assistenten beauftragt, auf den Auslöser der Kamera zu drücken. Hinter den Bildern steckt ein noch viel aufwändigerer Herstellungsprozess, der zugleich ein »Selbstinszenierungsprozess« ist (Moser 2012: 21f.). Coplans filmt nämlich seinen posierenden nackten Körper mit einer Videokamera und kontrolliert die dabei entstehenden Bilder auf einem angeschlossenen Bildschirm, bevor er eine Assistentin ein Foto machen lässt. Coplans reflektiert und thematisiert also den Entstehungsprozess fotografischer Bilder im künstlerischen Prozess selbst und zeigt so, dass »die Bildwirklichkeit per se konstruiert ist« (Moser 2012: 21f.). Überdies legen die offensichtlich anstrengenden Verrenkungen und inszenierten Posen nahe, dass das Bild des Greisenkörpers immer bereits ein für den Blick der Anderen produziertes ist – ein vermeintlicher Originalkörper also in Zweifel gezogen wird. Coplans nutzt das Medium der Fotografie in ungewöhnlicher Weise: Mit seiner Wahl
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aktiviert er das ihm innewohnende Realitätsversprechen und stellt es durch die geschilderte Art und Weise des Medieneinsatzes zugleich in Frage.
N EUE A LTERSBILDER AUF B ESTELLUNG ? Diese künstlerische Praxis widerspricht jener Verwendung fotografischer Bilder, wie sie von weiten Kreisen der Altersforschung gewünscht und angeregt wird. Exemplarisch seien hier zwei öffentliche Fotowettbewerbe zur Produktion ›neuer‹ Altersbilder untersucht. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina haben 2009 und 2011 jeweils Fotowettbewerbe ausgelobt, in denen vorwiegend Hobbyfotografen aufgefordert wurden, Fotos und auch Videofilme zum Thema einzureichen. Diese wurden prämiert und sind seitdem im Rahmen einer Wanderausstellung in ganz Deutschland zu sehen. Beide Wettbewerbe wurden durch wissenschaftliche Expertenkommissionen zur Altersforschung flankiert, deren Mitglieder zum Teil auch die Jury bildeten. Beide Projekte zielten laut Ausschreibungstext darauf, vermeintlich ›stereotype‹ und ›überholte‹ Altersbilder durch jeweils ›neue‹ zu ersetzen.1 Sie folgen dabei der Annahme, dass die zur Verfügung stehenden Altersbilder mit der Entwicklung der Lebensrealität alter Menschen nicht Schritt gehalten hätten und zudem dafür verantwortlich seien, alte Menschen in eine passive Rolle abseits der Gesellschaft zu drängen. Prämiert wurden dementsprechend vorwiegend Fotografien, die positive Botschaften, Lebensfreude und die aktive Teilnahme an der Gesellschaft vermitteln.2 Zugrunde liegt diesen und weiteren Wettbewerbsprojekten – so meine These – die Idee einer nationalen ›Bild-Erziehung‹ zum Thema Alter. Fotografie ist dabei nicht zufällig das Medium der Wahl. Nicht nur, dass Amateure ohne große Vorkenntnisse ansehnliche Ergebnisse erzielen und das Medium weit verbreitet und verfügbar ist. Das Versprechen des Realismus, der besonderen Wahrheit und Echtheit des Gezeigten, soll hier – anders als bei Coplans – unhinterfragt genutzt werden. Nicht nur die Wettbewerbsteilnehmer, auch die Initiatoren und Kommissionsmitglieder scheinen die vermeintliche Abbildfunktion der Fotografie für ihre Zwecke einsetzen zu wollen. Pierre Bourdieu 1 | Vgl. den Foto- und Videowettbewerb Was heißt schon alt? des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend 2011: www.programm-altersbilder.de/aktio nen/wettbewerb-was-heisst-schon-alt/wettbewerb-was-heisst-schon-alt/sowie den Fotowettbewerb Neue Bilder vom Alter(n) der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften, Halle (Saale) 2010: www.leopoldina.org/ uploads/tx_leopublication/NALSu23Prob.pdf. 2 | Vgl. die Kritik am Aktivitätsparadigma des Alters durch van Dyk/Lessenich 2009.
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hat die Zuschreibung der Fotografie als einem realistischen Medium als historische und gesellschaftliche Konvention und Tautologie zugleich beschrieben: »Indem sie der Photographie Realismus bescheinigt, bestärkt die Gesellschaft sich selbst in der tautologischen Gewißheit, daß ein Bild der Wirklichkeit, das der Vorstellung entspricht, die man sich von der Objektivität macht, tatsächlich objektiv ist« (Bourdieu u.a. 1981: 89). Anders und in Hinblick auf die Fotografie alter Menschen formuliert: Fotografische Bilder, die das Alter(n) zum Thema haben, helfen durch die vermeintliche Abbildung ›echter‹ Altersbilder, diese zugleich zu etablieren. ›Performativ‹ ist der Begriff, der zur Charakterisierung dieses Prozesses häufig verwendet wird. Und das trifft sowohl auf die künstlerische Fotografie Coplans’ zu als auch auf diejenige von Amateurfotografen – freilich mit unterschiedlicher Reichweite und Rezipientengruppen.
F A ZIT Auf inhaltlicher Ebene lässt sich zusammenfassen, dass Coplans in dem hier näher betrachteten Bild den alternden Körper als spannenden Gegenstand künstlerischer Darstellung begreift und die Haut mit ihren Falten und Altersflecken als interessante, darstellungswürdige Oberfläche ins Bild bringt. Viele der prämierten Wettbewerbsbilder zu neuen Altersbildern orientieren sich mehr am visuellen ›Mainstream‹: Sie zeigen ›Schönheit‹ trotz typischer Alterskennzeichen wie Falten oder Runzeln durch eine insgesamt positiv-jugendliche Ausstrahlung der Dargestellten. Doch soll es nicht darum gehen, den Künstler gegen die Amateure, die High- gegen die Low-Culture abzugrenzen. Wenn man die Bilder als gleichberechtigte Teilnehmer an einem visuellen Diskurs begreift, gerät in den Blick, wie sie an der visuellen Bedeutungsproduktion dessen, was wir ›das Alter(n)‹ nennen, beteiligt sind. Fotografien greiser Körper sollen als komplexe Bedeutungsträger verstanden werden, die nicht bloß spezifische Alterskonzepte visualisieren, sondern das komplexe semantische Feld ›Alter(n)‹ kontinuierlich mit- und umgestalten. Ein visueller Diskurs der Altersbilder umfasst also ebenso jene Bildwelten, wie sie per Mausklick in Google erscheinen, als auch solche, die durch eine gezielte, gesellschaftlich geförderte Bildproduktion in Form von Fotowettbewerben entstehen. Teil des visuellen Diskurses sind auch auftragslos entstandene künstlerische Bilder. Auch wenn die Diskursanalyse nach Foucault explizit den sprachlichen Diskurs im Sinn hat, so soll ›visueller Diskurs‹ dennoch als Arbeitsbegriff dienen. Er legt nämlich nahe, die unterschiedlichen politischen, ökonomischen oder kulturellen Absichten und Funktionen (Holert 2005: 229), die mit den je spezifischen Bildern greiser Körper zusammenhängen, in den
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Blick zu nehmen. Für eine Forschungsrichtung, die sich Visual Ageing Studies nennen könnte, erscheinen mir besonders drei Aspekte wichtig: 1. Erst der genaue Blick auf das Einzelbild und dessen Situierung im konkreten Produktions- und Rezeptionskontext kann herausarbeiten, welche Zuschreibungen an das ›Alter(n)‹ jeweils aktualisiert werden. Für das Reden über Altersbilder ist es dabei wichtig, die Differenz von Image und Picture, also zwischen der Bildvorstellung oder -metapher, und der Darstellung oder Aufnahme präsent zu halten. Die genaue Bildanalyse offenbart dabei vielschichtigere Ergebnisse als die bloße Feststellung, dass ein bestimmtes – meist aus dem literaturwissenschaftlichen Kontext hergeleitetes – Altersstereotyp, dargestellt sei. Überdies ist es hilfreich, nicht nur den Bildbegriff, sondern auch ›Alter‹ und ›Körper‹ als offene, wandelbare Konzepte zu begreifen. 2. Die Rolle der verwendeten Bildmedien ist zu reflektieren. An den hier vorgestellten Beispielen hat sich gezeigt, dass Foto weit mehr ist, als eine bestimmte Art der Abbildung von Wirklichkeit. Vielmehr existiert ein ›fotografisches Dispositiv‹ im Sinne eines komplexen Handlungsgefüges. Ihm liegen spezifische technisch-mediale, soziale, kulturelle und ästhetische Bedingungen zugrunde, so dass dem Foto bestimmte Eigenschaften und Wirkungsweisen zugeschrieben werden.3 Neben dem hier herausgegriffenen zentralen Aspekt des Realismus wäre es weiterhin interessant, etwa die besondere zeitliche Struktur der Fotografie zu reflektieren, ihre Funktion der Erinnerung und Konservierung ebenso wie ihren Charakter der Nachträglichkeit in Bezug auf das spezifische Motiv des alternden Körpers. 3. Aufgabe einer bildorientierten Altersforschung muss zudem sein, die unterschiedlichen Bildpolitiken des Alters zu beobachten – in historischer, wie auch in gegenwärtiger Perspektive. Besonders deutlich zeigt sich etwa am Beispiel der staatlich initiierten und geförderten Fotowettbewerbe, welche gesellschaftspolitische Interessen hinter der Aufforderung zur Herstellung ›neuer Altersbilder‹ stehen. Denn ein allgemeiner Wandel der Vorstellungen vom Alter – weg vom ›Alter als Problem‹- und hin zum ›Alter als Chance‹-Diskurs – erscheint aus gesellschaftspolitischer wie auch aus ökonomischer Hinsicht erfolgversprechend. Genauso praktizieren aber auch im Kunstsystem situierte Bilder des Alter(n)s eine Bildpolitik, egal ob sie kunstimmanenten Anreizen folgen, eine Revolution des männlichen Aktes oder Selbstporträts anzetteln, ein Statement zur Body Art seit den 1970er Jahren abgeben oder eben Bilder des Alter(n)s sein wollen. Zu beackern und zu bestellen ist jedenfalls ein sehr weites visuelles Feld, das auf die kunst- und bildwissenschaftliche Expertise nicht verzichten sollte. 3 | Vgl. den thematischen Fokus des Graduiertenkollegs Das fotografische Dispositiv an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig: http//www.hbk-bs.de/ forschung/graduiertenkolleg-das-fotografische-dispositiv/
Fotografische Bildwelten des Alter(n)s
L ITER ATUR Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, übers. v. Dietrich Leube, Frankfurt a.M. 1989. Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001. Boehm, Gottfried: Die Wiederkehr der Bilder, in: ders. (Hg.): Was ist ein Bild?, München 1994, 11-38. Bourdieu, Pierre; Boltanski, Luc; Castel, Robert; Chamboredon, Jean-Claude; Lagneau, Gérard; Schnapper, Dominique: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt a.M. 1981. Der nackte Mann, Ausst.-Kat. Lentos Kunstmuseum Linz, Nürnberg 2012. van Dyk, Silke; Lessenich, Stephan (Hg.): Die jungen Alten. Analysen einer neuen Sozialfigur, Frankfurt a.M. 2009. Geimer, Peter: Theorien der Fotografie zur Einführung, Hamburg 2009. Göckenjan, Gerd: Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt a.M. 2000. Hall, Stuart: Rekonstruktion, in: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. II, Frankfurt a.M. 2003, 75-91. Holert, Tom: Kulturwissenschaft/Visual Culture, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden, Frankfurt a.M. 2005, 226-235. Kampmann, Sabine: Images of Ageing. Perspektiven einer bildwissenschaftlichen Altersforschung, in: Ines Breinbauer, Dieter Ferring, Miriam Haller, Hartmut Meyer-Wolters (Hg.): Transdisziplinäre Alternsstudien. Gegenstände und Methoden, Würzburg 2010, 267-285. Moser, Walter: Körper als Protest, in: ders., Klaus Albrecht Schröder (Hg.): Körper als Protest, Ausst.-Kat. Albertina Wien 5. September–2. Dezember 2012, Ostfildern 2012, 11-51. Saake, Irmhild: Die Konstruktion des Alters. Eine gesellschaftstheoretische Einführung in die Alternsforschung, Wiesbaden 2006. Schulz, Martin: Körper sehen – Körper haben. Fragen der bildlichen Repräsentation. Eine Einleitung, in: Hans Belting, Dietmar Kamper, ders. (Hg.): Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation, München 2002, 1-25. Townsend, Chris: Vile Bodies. Photography and the Crisis of Looking, München/ New York 1998.
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Abbildungsnachweise B EITR AG M EL ANIE H ÜHN Abb. 1: copyright L. Dominguez S.A., Málaga. Abb. 2, 3: eigene Darstellung. Leider konnten nicht alle Inhaber der Bildrechte ausfindig gemacht werden. Diesbezügliche Anfragen möchten bitte an die Herausgeber oder den Verlag gestellt werden.
B EITR AG M INOU A F Z ALI Abb. 1-6: Inhalt der Cultural Probes. Aus der Studie: DesignMigration (HKB/ FSP KD 2009/2010), Hochschule der Künste Bern, Forschungsschwerpunkt Kommunikationsdesign, Projektverantwortung: Arne Scheuermann, Projektleitung: Minou Afzali, (Fotos: H. Jordi, 2010).
B EITR AG S ABINE K AMPMANN Abb. 1:
Abb. 2:
Abb. 3: Abb. 4:
John Coplans: Three Quarter View, Straight, 1986, 78,4 x 63,5 cm, Fotografie, aus: John Coplans: A Body. John Coplans, New York 2002, S. 45. John Coplans: Upside Down No. 4 und Upside Down No. 11, 1992, je 215,9 x 109,2 cm, Fotografie, aus: John Coplans: A Body. John Coplans, New York 2002, S. 67. John Coplans: Back of Hand, No. 1, 1986, 104,1 x 99,1 cm, Fotografie, aus: John Coplans: A Body. John Coplans, New York 2002, S. 15. John Coplans: Back and Hands, 1984, 106,7 x 81,3 cm, Fotografie, aus: John Coplans: A Body. John Coplans, New York 2002, S. 39.
Autorinnen und Autoren
Minou Afzali geb. 1972, Dipl. Des., Diplom 1999 im Fachbereich Produktgestaltung an der Hochschule für Gestaltung, Offenbach am Main zum Thema Wohnkulturen. Von 1999 bis 2008 als Produktgestalterin in den Bereichen Produkt-, Möbelund Ausstellungsdesign tätig. Seit 2008 als künstlerisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsschwerpunkt Kommunikationsdesign an der Hochschule der Künste Bern im Forschungsfeld Social Communication. Seit 2011 Mitglied der Graduate School of the Arts, einer Kooperation der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Bern und der Hochschule der Künste Bern, Dissertationsthema: Kommunikationsdesign in kultursensiblen Alters- und Pflegeeinrichtungen. Forschungsschwerpunkte: Design und Gesundheit sowie Design und Migration.
Peter Angerer geb. 1958, Prof. Dr. med., Arzt für Arbeitsmedizin, Umweltmedizin, Innere Medizin und Kardiologie; er arbeitete nach ersten klinischen Jahren 1984-1986 in Landshut und Augsburg, von 1987-2011 am Klinikum der Universität München, zunächst in der Arbeitsmedizin, ab 1991 in der therapeutischen Medizin (Innere Medizin und Kardiologie), ab 2001 bis 2011 kontinuierlich klinisch und wissenschaftlich am Institut und der Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, als leitender Oberarzt und stellvertretender Institutsdirektor, seit 1.10.2011 Professor für Arbeitsmedizin und Sozialmedizin an der HeinrichHeine-Universität in Düsseldorf. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte sind die Themenkomplexe ›psychosoziale Belastungen und psychische Gesundheit bei der Arbeit‹, ›Schichtarbeit‹, die Auswirkungen dieser Faktoren auf kardiovaskuläre Erkrankungen, affektive Störungen und psychosomatische Erkrankungen, die Entwicklung von Interventionen in unterschiedlichen Settings zur Prävention dieser Erkrankungen, zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit Älterer und zur Verhinderung sozialer Folgen wie Arbeitslosigkeit. Im Vordergrund stehen Arbeitsplätze im Gesundheitswesen (Pflegekräfte und Ärzte).
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Methoden der Altern(s)forschung
Kathrin Büter geb. 1984, M.A., Studium der Innenarchitektur (Bachelor) sowie Design und Medien (Master of Arts) an der Fachhochschule Hannover, 2010-2012 freiberufliche Tätigkeit in verschiedenen Architekturbüros in Hannover und Hamburg, seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Emmy-Noether Nachwuchsgruppe Architektur im demographischen Wandel an der Technischen Universität Dresden. Forschungsschwerpunkte: Wohnen im Alter, Bauen für Menschen mit Demenz.
Albrecht Classen geb. 1956, Prof. Dr., Studium der Geschichte und der Germanistik an der Philipps-Universität Marburg, Millersville University, Pennsylvania, Friedrich-Alexander Universität Erlangen, Oxford University, University of Virginia, 1986 Promotion (Ph.D.) Zur Rezeption norditalienischer Kultur des Trecento im Werk Oswalds von Wolkenstein 1376/1377-1445, seit 1987 Assistant Professor an der University of Arizona, seit 1994 Full Professor, seit 1994 University Distinguished Professor, 2012 Verleihung des Preises Outstanding Academic Title für seine Publikation Handbook of Medieval Studies (2010), und 2012 Arizona Professor of the Year (Carnegie Foundation). Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Germanistischen Mediävistik, frühneuzeitliche Germanistik, europäische Literatur, Kultur, Mentalität und Gender zwischen 800 und 1800 u.a.
Tina Denninger geb. 1978, Dipl.-Soz., Akademische Rätin auf Zeit am Institut für Soziologie der LMU München. Ehemalige Mitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekt Vom ›verdienten Ruhestand‹ zum ›Alterskraftunternehmer‹? und Doktorandin am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: Körpersoziologie, Soziologie des Alter(n)s, Diskursforschung.
Silke van Dyk Dr., Akademische Rätin am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: Soziologie des Alter(n)s und der Demographie, Wohlfahrtsstaatsforschung, Gesellschaftstheorie, Diskurstheorie und empirische Diskursforschung.
Hilke Engfer geb. 1980, Dr. phil., Promotion 2011 zum Thema Emotionsmanagement in Gesprächen mit Alzheimer Patienten, derzeit Lehrkraft für besondere Aufgaben am
Autorinnen und Autoren
Institut für Anglophone Studien, English Linguistics & History of Language der Universität Essen. Forschungsschwerpunkte u.a.: Konversationsanalyse, Emotionsmanagement, embodied/distributed cognition.
Britta Gahr geb. 1979, Dr. med., derzeit tätig als Fachärztin für Rechtsmedizin am Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte u.a.: Gewaltopferversorgung, Identifikation, Altersschätzung.
Melanie Hühn geb. 1980, Dr. phil., Studium der Politikwissenschaft, Philosophie und Interkulturellen Wirtschaftskommunikation in Jena, Salamanca und Leipzig; 2005 Magistra Artium; 2008-2011 Stipendiatin am Graduiertenkolleg Transnationale Räume der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder); 2011 Dissertation mit dem Thema Die Lebenswelt(en) deutscher Ruhesitzwanderer. Transkulturelle Identitätsmuster in einer spanischen Stadt; 2012 Publikation von Migration im Alter. Lebenswelt, Identität und Transkulturalität deutscher Ruhesitzwanderer in einer spanischen Gemeinde; seit Oktober 2012 Lehrbeauftragte am Philosophischen Institut der Universität Leipzig sowie Veranstaltungskoordinatorin bei den Cammerspielen Leipzig.
Andrea von Hülsen-Esch geb. 1961, Prof. Dr. phil., Professorin für mittlere und neuere Kunstgeschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte u.a.: transdisziplinäre Forschungen zu Alter(n)sdarstellungen sowie zu Materialität und Produktion in der Kunst des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Bühnenbilder, Geschichte des Kunsthandels sowie Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte.
Sabine Kampmann geb. 1972, Dr. phil., Kunst- und Kulturwissenschaftlerin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig und derzeit Gastwissenschaftlerin am Graduiertenkolleg Alter(n) als kulturelle Konzeption und Praxis der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Promotion 2005 über Künstler sein. Systemtheoretische Beobachtungen von Autorschaft (Fink Verlag 2006), aktuell Arbeit an der Habilitationsschrift zur Neuen Sichtbarkeit des Alters. Greise Körper in Kunst und visueller Kultur. Weitere Forschungsschwerpunkte: Kunst und visuelle Kultur des 19. bis 21. Jahrhunderts, Bildwissenschaft und Kulturtheorie des Populären, Das Kunstsystem – Akteure und Funktionsweisen, Körperbilder und -konzepte.
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Methoden der Altern(s)forschung
Susanne H. Kolter geb. 1969, Dr. phil., Habilitation 2009 über die Historienmalerei im New Palace of Westminster, London, derzeit Privatdozentin am Kunstgeschichtlichen Seminar der Georg-August-Universität Göttingen. Freie Mitarbeiterin im Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg und im Oldenburger Kunstverein. Forschungsschwerpunkte u.a.: Englische Kunst, Historienmalerei, politische Ikonographie. Forschungen zu künstlerischen Evokationen nationaler, kultureller und individueller Identität.
Ulla Kriebernegg geb. 1972, ist Assistenzprofessorin am Center for Inter-American-Studies der Karl-Franzens-Universtität Graz (Österreich). Studium der Anglistik/Amerikanistik und der Deutschen Philologie an der Universität Graz (Österreich) und am University College Dublin (Irland). 2010 Promotion zum Thema: The Transatlantic Dialogue on Higher Education: An Analysis of Cultural Narratives. Derzeit Arbeit an der Habilitationsschrift Locating Life: Intersections of Age and Space in North-American Literature and Culture. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre inkludieren Age/Aging Studies, (Inter-)Amerikanische Literatur und Kulturwissenschaft und Interkulturalität sowie transatlantische Bildungskooperationen.
Stephan Lessenich geb. 1965, Prof. Dr., Leiter des Arbeitsbereichs Gesellschaftsvergleich und Sozialer Wandel am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Arbeitsschwerpunkte: Wohlfahrtsstaatsforschung, Soziologie des Alter(n)s, Soziologie des sozialen Wandels.
Didier Lett geb. 1959, Prof. Dr., Promotion zu dem Thema Enfances, Église et familles dans l’Occident chrétien du milieu du XIIe siècle au début du XIVe siècle (Perceptions, pratiques et rôles narratifs), 2006 Habilitation zu dem Thema Des différences sociales. Âges, sexes et statuts en Occident (XIIe-XIVe siècle), Professur für mittelalterliche Geschichte an der Université Paris-Diderot (Paris 7), Mitglied des Forscherverbundes Identités, Cultures et Territoires der Université Paris-Diderot und des Laboratoire de Médiévistique Occidentale de Paris (LAMOP). Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Familie und der Verwandtschaft (interfamiliäre Beziehungen), Geschlechtergeschichte, die Gesellschaft der Marken (Italien) im Spätmittelalter.
Autorinnen und Autoren
Tom Motzek geb. 1985, M.Sc., Studium der Gerontologie an der Hochschule Vechta (Bachelor), 2009 Auslandssemester am Department of Social Work, Stockholm University, 2009-2012 Studium der Health Sciences an der Westsächsischen Hochschule Zwickau (Master of Sciences), seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Emmy-Noether Nachwuchsgruppe Architektur im demographischen Wandel an der Technischen Universität Dresden. Forschungsschwerpunkte: Versorgungsforschung, Wohnen im Alter, Gerontologie, Gesundheitsökonomie: Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und Kosten depressiver Störungen im höheren Lebensalter.
Andreas Müller geb. 1971, Dr. phil., Habilitation 2013 zum Thema Alters- und Alternsgerechte Gestaltung von Arbeitstätigkeiten; derzeit am Institut für Arbeitsmedizin und Sozialmedizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Arbeitsanalyse, Arbeitsgestaltung, alternsgerechte Arbeit, psychische Gesundheit bei der Arbeit.
Akihiro Ogawa geb. 1968, Dr., 2004 Promotion (Ph.D.) zum Thema The Failure of Civil Society?: An Ethnography of NPOs and the State in Contemporary Japan an der Cornell University (USA), 2004-2007 PostDoc an der Harvard University und Columbia University (USA), 2009-2010 PostDoc-Stipendium der DFG am Institut für Ostasiatische Studien an der Universität Duisburg-Essen, 2009-2012 PostDocStipendium am National Graduate Institute for Policy Studies in Japan und der Danish School of Education an der University of Aarhus in Dänemark, 2010 Verleihung des Japan NPO Research Association Book Award für die Publikation seiner Dissertation (2009, Suny Press), seit 2012 Dozent am Institut für Japan Studien an der University Stockholm. Forschungsschwerpunkte: Politische Anthropology mit Schwerpunkt auf Zivilgesellschaften und soziale Bewegungen in Japan und Ostasien, Anthropologie und Ausbildung, Ethnographische Forschungsmethoden, Civil Society and Social Movements in Japan and East Asia.
Anna Richter geb. 1976, Dipl.-Pol., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialwesen der Universität Kassel, Fachgebiet Lebenslagen und Altern. Promotion zum Thema Altern und Geschlecht in biographischen Erzählungen ostdeutscher Frauen. Forschungsschwerpunkte: Soziologie des Alter(n)s, Geschlechterforschung und Intersektionalität, Ostdeutschlandforschung, Diskurs- und Biographieforschung.
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Methoden der Altern(s)forschung
Stefanie Ritz-Timme geb. 1962, Prof. Dr. med., Habilitation über Nutzbarkeit der in-vivo-Razemisierung von Asparaginsäure zur Lebensaltersbestimmung, derzeit Direktorin des Institutes für Rechtsmedizin im Universitätsklinikum Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Lebensaltersschätzung aufgrund posttranslationaler (altersabhängiger) Proteinmodifikationen, Entwicklung des kindlichen Gesichtes als Basis für Lebensaltersschätzungen, Qualität der Versorgung von Gewaltopfern, Entwicklung von Strategien zur Gewaltprävention.
Mark Schweda geb. 1975, Dr. phil., derzeit am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte u.a.: philosophische, medizinethische und soziokulturelle Aspekte des Alterns, Biomedizin und Bioethik im soziokulturellen Kontext, Fragen der Ethik und politischen Philosophie.
Miriam Seidler geb. 1975, Dr. phil., Dissertation 2010 zu Figurenmodellen des Alters in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, derzeit Akademische Rätin auf Zeit am Institut für Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Forschungsschwerpunkte u.a.: Literatur des 17. und 20. Jahrhunderts; Geschichte weiblichen Schreibens, Holocaustliteratur, literaturwissenschaftliche Gerontologie.
Christian Tagsold geb. 1971, Dr. phil., Professor am Institut für Modernes Japan der HeinrichHeine-Universität. Forschungsschwerpunkte: alternde Gesellschaft und Wohlfahrtstaat in Japan, Sport- und Kultursoziologie.
Matthias Weigl geb. 1976, Dr. phil., Habilitation 2013 zum Thema Psychosoziale Aspekte der Arbeit und Gesundheit bei Ärzten und Pflegekräften und Effekte auf die Versorgungsqualität; derzeit am Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Arbeit und Stress von Krankenhausärzten und Pflegekräften, psychische Belastungen in der Arbeit.