Material und künstlerisches Handeln: Positionen und Perspektiven in der Gegenwartskunst 9783839434178

What role do materials and material processes, materiality and immateriality play in contemporary art? How are materials

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German Pages 256 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Materialität inszenieren
Material und Prozess
Kunst und Kulinarik
Material und Geste
TransFORMationen
»Von Jedem Eins«
Zwischen zweiter, dritter und vierter Dimension schraubt sich Form in den Raum
Der Künstler als Alchemist?
Mit Sockel oder ohne
Honda & Daewoo und andere …
Modellierungen in Eis und Schnee
dry area
Richard Serra
Vom Finden, dem Raum und dem Verschwinden
Autorinnen und Autoren
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Material und künstlerisches Handeln: Positionen und Perspektiven in der Gegenwartskunst
 9783839434178

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Sabiene Autsch, Sara Hornäk (Hg.) Material und künstlerisches Handeln

Image | Band 90

Sabiene Autsch, Sara Hornäk (Hg.)

Material und künstlerisches Handeln Positionen und Perspektiven in der Gegenwartskunst Unter Mitarbeit von Susanne Henning

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Susanne Henning Satz: Michael Rauscher, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3417-4 PDF-ISBN 978-3-8394-3417-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung Materialhandlungen. Greifen, Stellen, Legen, Zerstören, Zeigen, Inszenieren Sabiene Autsch/Sara Hornäk | 7

Materialität inszenieren Ein Desiderat im Handlungsfeld künstlerischer Lehre Petra Kathke | 23

Material und Prozess Künstlerische und kunstpädagogische Notizen Sara Hornäk | 53

Kunst und Kulinarik Über Lebensmittel als Kunstmaterial Sabiene Autsch | 71

Material und Geste Klavierzerstörungen in den 1960er Jahren zwischen Per formance und Acting-out Gunnar Schmidt | 95

TransFORMationen Vom Essen zur Kunst Judith Samen | 121

»Von Jedem Eins« Oder: Der Umgang mit den Dingen im Archiv für Gegenwar ts-Geschichte Karsten Bott im Gespräch mit Sabiene Autsch | 133

Zwischen zweiter, dritter und vierter Dimension schraubt sich Form in den Raum Das Ding, sein Abbild und seine Vorstellung Julia Kröpelin | 147

Der Künstler als Alchemist? Mar tin Walde und seine Materialer forschungen Roland Nachtigäller | 159

Mit Sockel oder ohne Der Sockel als künstlerische Handlung in der Bildhauerei des 20. Jahrhunder ts Guido Reuter | 169

Honda & Daewoo und andere … Armin Hartenstein | 187

Modellierungen in Eis und Schnee Das Material des Bergfilms Lisa Gotto | 197

dry area Bea Otto | 211

Richard Serra Or tsbezug, künstlerischer Prozess und Material Kunibert Bering | 223

Vom Finden, dem Raum und dem Verschwinden Johanna Schwarz | 237

Autorinnen und Autoren  | 249

Einleitung Materialhandlungen. Greifen, Stellen, Legen, Zerstören, Zeigen, Inszenieren Sabiene Autsch/Sara Hornäk Mit welchen Materialien arbeiten gegenwärtig Künstlerinnen und Künstler? Auf welche historischen Referenzen beziehen sich die jeweiligen künstlerischen Äußerungen? Inwieweit kann angesichts der aktuellen Materialvielheit und -verfügbarkeit zugleich von einer Generation der »material natives« gesprochen werden? Was geschieht, wenn unterschiedliche Materialien sich begegnen und neue Konstellationen entstehen? Was ereignet sich zwischen den Materialien? Welchen Einfluss hat das Hinzukommen medialer Arbeitsweisen auf das künstlerische Handeln mit Material? Welche Verschiebungen setzen dadurch innerhalb tradierter Disziplinen, Diskurse, Gattungen und Genres ein und welche methodischen Verkettungen finden statt? Der aktuell vielfach forschende und experimentelle Umgang mit verschiedenen Werkstoffen führt zu verschiedenartigen künstlerischen Formfindungsprozessen. Diese lassen sich in ihrem spezifischen kommunikativen Potenzial zugleich auch auf ihre didaktischen Möglichkeiten hin befragen: Wie läuft ein materialgebundener künstlerischer Schaffensprozess ab, wie unterscheidet sich dieser von künstlerisch-gestalterischen Prozessen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, auf welche Weise entzünden sich künstlerische Prozesse am Material und Materialexperiment, wie lassen sich künstlerische Prozesse im Kunstunterricht oder in der studentischen Projektarbeit anregen? Welche Geschichten erzählen Materialien nicht nur über die Inszenierung, sondern grundlegend über das Material selbst?1 Die künstlerische Orientierung am Material und die damit verbundene Frage, wie Materialien die Wirkung und Bedeutung eines Kunstwerks generieren, bilden den Ausgangspunkt unseres künstlerischen, kunstpädagogischen und kunstwissenschaftlichen Interesses. 1 | Aus einer stärker kultur- und medienästhetischen bzw. designorientierten Perspektive auf das Material s. Martin Scholz/Friedrich Weltzien (Hg.): Die Sprachen des Materials. Narrative – Strategien – Theorien, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2016.

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Mit dem Paradigmenwechsel durch eine materialikonografisch orientierte Kunstwissenschaft konnte die »Materialsublimierung« überwunden und Material als ästhetische Kategorie etabliert werden.2 Die Materialikonografie fragt danach, welche Aufgaben Materialien in konkreten historischen Zusammenhängen übernehmen und welche signifikanten Veränderungen für den Kunstbegriff und die künstlerische Arbeit daraus resultieren.3 Die Hinwendung der Künste und der Kunst- und Kulturwissenschaften zur Materiellen Kultur, zum Phänomenologischen, zu dem, was nicht nur gesehen, sondern auch ertastet, erfühlt, gerochen oder geschmeckt werden kann, entspricht in den Kunstwissenschaften einem relativ neuen Phänomen, das sich in den letzten Jahrzehnten parallel zu einer Veränderung des Materialbegriffs in den Künsten selbst beobachten lässt. Gleichzeitig deutet sich in den Sozial- und Geisteswissenschaften ein sogenannter »Neuer Materialismus« an, der an philosophische Denktraditionen anknüpft, die sich für die besondere Wirkmacht des Materials und des Materiellen interessieren und diese fokussieren.4 Auch in den Medienwissenschaften ist das Material zu einer zentralen Kategorie avanciert. Insbesondere im Kontext von Medienumbrüchen, von Digitalisierung und digitaler Produktionen hat sich das Interesse u. a. auf Trägermedien, auf Darstellungsbzw. Übermittlungssysteme von Bildern, Sprache, Ton verschoben, was sich in Intermedialitätsmodellen abbildet.5 Die bislang vorherrschende Differenzierung zwischen Medien und Materialien konnte in Hinblick auf ihre jeweiligen 2 | Vgl. Thomas Strässle: »Einleitung. Pluralis materialitatis«, in: Thomas Strässle/ Christoph Kleinschmidt/Johanne Mohs (Hg.), Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten. Theorien/Praktiken/Perspektiven, Bielefeld: transcript 2013, hier S. 9. Mit dem Hinweis auf die Begriffsgeschichte und den Wandel des Materialbegriffs in theoriefähige Konzepte s. grundlegend K. Ludwig Pfeiffer: »Materialität der Kommunikation?«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeifer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 15–28. 3 | Vgl. dazu die Forschungen und Veröffentlichung von Monika Wagner, wovon nachfolgend nur folgende erwähnt werden sollen: Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München: C. H. Beck 2001; Dies.: »Material«, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in 7 Bänden, Bd. 3, Stuttgart-Weimar: J. B. Metzler 2000-05, S. 866–882; Dietmar Rübel/Monika Wagner/Vera Wolff (Hg.): Materialästhetik. Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2005; Monika Wagner/Dietmar Rübel/Sebastian Hackenschmidt (Hg.): Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn, München: C. H. Beck 2. Auflage 2010. 4 | Aktuell dazu s. auch Susanne Witzgall/Kerstin Stakemeier (Hg.): Macht des Materials. Politik der Materialität, Zürich: Diaphanes 2014. 5 | Vgl. Joachim Paech/Jens Schröter (Hg.): Intermedialität – Analog/Digital. Theorien – Methoden – Analysen, München: Fink 2008. Zur Wirkungsrelevanz s. Dieter Burdorf/

Einleitung

essentiellen Wesenszüge in Kontexten von Hybridisierung und Simulation zugunsten »intermedialer Formulierungen« verschoben und systematisch konzeptionalisiert werden.6 Adäquate Betrachtungen von intermaterialen und intermedialen Praktiken, die eine »materialgerechte Medialität« hervortreten lassen, entwickeln sich jüngst verstärkt durch Bezugnahmen auf praktische Elemente und Verfahren, die auf die permanenten Verschiebungen und Umordnungen reagieren und neue ästhetische Erfahrungen ermöglichen.7 Vor dem Hintergrund der weit ausdifferenzierten Materialitätsdebatte, interdisziplinärer Forschungen und methodischer Orientierungen der letzten beiden Jahrzehnte richten wir den Blick auf künstlerisches Handeln mit Material und fragen besonders nach der ästhetischen und erfahrungsgeschichtlichen Grundierung von Material, verortet in der aktuellen Materialvielheit und Materialexposition. Angesichts unterschiedlicher Materialkonjunkturen im Laufe des 20. Jahrhunderts und der zunehmenden Erweiterung des Materialspektrums, zuletzt verstärkt seit den 1960er Jahren, die allesamt eng mit zeitspezifischen Signaturen, insbesondere historischen und mediengeschichtlichen Umbrüchen korrespondieren, wollen wir die handlungsorientierten Verkettungen und daraus resultierenden Werk-Konstellationen sichtbar werden lassen. Künstlerisches Handeln ist seither angeregt durch die Auseinandersetzung mit spezifischer Materialität und umgekehrt: Das spezifische Verhalten des Materials verändert sich durch die unmittelbare körperliche Arbeit, durch Handhabung und Erforschung ebenso wie durch performative Arbeitsweisen. Mechthild Fend/Bettina Uppenkamp (Hg.): Anne Hoormann. Medium und Material. Zur Kunst der Moderne und der Gegenwart, München: Fink 2007. 6 | »Zunächst gilt, dass Intermedialität, wie wir sie heute verstehen, nicht mehr nur auf die Beziehungen in Form von Differenzen zwischen den Künsten auf der Grundlage ihrer medialen Eigenschaften, also der Schwere des Steins einer dreidimensionalen Skulptur, der zweidimensionalen Leinwand und des Farbauftrags der Malerei, des Buchdrucks und der Schrift der Literatur etc., verweist, vielmehr sind sie Formen jeder intermedialen Formulierung.« Joachim Paech/Jens Schröter: Intermedialität, S. 10. 7 | Den Begriff »materialgerechte Medialität« erörtert Johanne Mohs für eine analytische Betrachtung von künstlerischen Arbeitsweisen, für die wiederum die Auseinandersetzung mit medialer Materialität zugleich einen ästhetischen Wert darstellt. Sie spricht daher von einer »apparativen Medialität« und einer »verfahrenstechnischen Materialität«, hinzu käme eine weitere Kategorie, die der »ästhetischen Materialität«. Johanne Mohs: »Materialgerechte Medialität«, in: T. Strässle/C. Kleinschmidt/J. Mohs (Hg.), Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten, S. 239–261, bes. S. 243 und 258; für eine Medientheorie, in der mediale Ereignisse auch auf ihre materiellen Bedingungen und Eigenschaften entwickelt werden und die diese als Medienkonstellationen in den Blick nimmt s. aktuell Julia Genz/Paul Gévaudan (Hg.): Medialität, Materialität, Kodierung. Grundzüge einer allgemeinen Theorie der Medien, Bielefeld: transcript 2016.

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Die jeweilige künstlerische Arbeit am Material entspricht dabei einem Prozess, der selbst Werkcharakter erlangen kann. Eine solche Perspektivierung, die das Materialhandeln grundsätzlich als eine Bewegung versteht, die zwischen Theorie und Praxis, Kopf und Hand, Erfahrung und Experiment oszilliert, schafft zugleich den notwendigen Rahmen für die Beschreibung von kollektiven Arbeitsweisen, Handlungen, Konditionen und Mentalitäten. Inwieweit kann eine solche Perspektivierung zugleich auch zur Profilierung von Künstlergenerationen herangezogen werden? Zu fragen wäre, ob auf die sogenannte »Pictures-Generation«, die Ende der 1970er Jahre im Umkreis von Douglas Crimps Ausstellung Picture zum Referenzpunkt diverser künstlerischer Debatten um die Bedeutung der Postmoderne wurde, eine »Material-Generation« folgte?8 War für die »Pictures-Generation« der künstlerische Umgang mit Problemen der Repräsentation in der Weise kennzeichnend, dass sie auf das Repräsentierte störend einwirkten und so die Bedeutungsfunktion ihrer Vorlagen und Motive subvertierten, indem sie das Bestimmte unbestimmbar machten, so lassen sich kollektive Absichten von Künstlerinnen und Künstlern gegenwärtig sehr viel schwerer auf einen Nenner bringen. Das aktuelle künstlerische Interesse am Material bezieht sich zwar auf historische Referenzen, verschreibt sich aber weniger nachmodernen Theorieansätzen und lässt sich daher auch nur bedingt in Kategorien von Autonomie und Ästhetik reflektieren und beschreiben. Vielmehr scheinen die verstärkt im 20. Jahrhundert einsetzenden Entgrenzungen bzw. Grenzüberschreitungen und die daran gebundene Abkehr von in sich geschlossenen Werken ein grundlegendes und weiterwirkendes Paradigma für künstlerische Entwicklungen und kuratorische Entscheidungen zu sein. Innerhalb der zu beobachtenden materialistischen Wenden der Kunst des 20. Jahrhunderts und insbesondere in der Gegenwartskunst lässt sich sowohl ein Wandel der verwendeten Materialien als auch ein damit einhergehender Wandel im Umgang mit Material konstatieren. Das Material selber gewinnt eine spezifische Produktivität, wird in seinen flüchtigen, weichen und ephe­ meren Formen veränderlicher und beweglicher. Material wird nicht länger einer Form subsumiert, sondern im Prozess in seiner Plastizität genutzt.9 Sei8 | Zur Pictures-Generation s. Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg: Junius 2013, bes. S. 150–164; wie die aktuelle Künstlergeneration auf die Bilderflut im Netz reagiert, für die der digitale Wandel geradezu selbstverständlich geworden ist und welche Rolle den Bildern als »Anonyme Materialien« in der Bildaneignung, -wiedergabe und -repräsentation zukommt, zeigte 2014 die Ausstellung »Speculations on Anonymous Material«, Museum Fridericianum, Kassel. Vgl. Susanne Pfeffer (Hg.): Speculations on anonymous Material, Kassel/Berlin: Merve 2014; auch Maurice Godelier: The Mental and the Material, London: Verso 2012. 9 | Vgl. Dietmar Rübel: Plastizität. Eine Kunstgeschichte des Veränderlichen, München: Verlag Silke Schreiber 2012. Rübel macht diesen Paradigmenwechsel hin zu »Forma-

Einleitung

ne Verortung in Raum und Zeit ist eine andere, wenn nicht länger das Statische, Harte, Wertvolle des Materials dominiert, sondern Alltägliches und Leichtes, Weiches und Verformbares in die Kunst Einzug halten und damit der Prozesscharakter des Werkes an Bedeutung gewinnt. Aktuelles künstlerisches Handeln mit Material, das lassen die in diesem Band versammelten Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen und Gattungen deutlich werden, d. h. der Umgang mit physischen Stoffen wie Stein, Holz, Metall oder mit Alltagsmaterialien und Lebensmitteln, mit edlen, ewigen oder ephemeren, instabilen und armen Materialien, mit immateriellen Daten oder dinglich-physischen Formen, ist stets kognitiv und sinnlich motiviert. Paradigmatisch für aktuelles Materialhandeln sind Transformationen und Wechselwirkungen. Darüber entstehen jene Öffnungen, worüber Immaterielles, Experimentelles, aber auch Störungen, Umwege und Scheitern mitreflektiert bzw. mitkalkuliert werden kann. Künstlerisches Handeln mit Material bezieht gegenwärtig die Vielheit, das Differente und Dazwischen ein, wodurch Prozesse der Entgrenzung freigesetzt werden und das Material von seiner konkreten Bestimmtheit befreit wird. Materialhandeln artikuliert sich so als ein Ver- und Aushandeln: In diesem Dazwischen können sich unterschiedliche Materialien begegnen, d. h. disparate Materialien treffen aufeinander und werden durch Biegen, Verschieben, Zerstören, Stellen oder Legen, Transformieren und Inszenieren in neue Gruppierungen oder Formate überführt. Insbesondere die aus destruktiven Praktiken hervorgehenden Materialreduktionen, Ruinöses, Teilchen und Fragmente motivieren zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit und einem verstärkten Interesse an Materialeigenschaften.10 Materialreste und Details lösen zugleich Fragen nach dem Zusammenhang aus, aus dem sie stammen und herausgelöst sind und eröffnen auf diese Weise Verbindungen zu historischen Wirklichkeiten und sozialen Wahrnehmungen. Insofern ließe sich auch von Materialdispositiven sprechen, die nicht nur künstlerisches Handeln, sondern auch den Betrachter in seinen ästhetischen Erfahrungen affizieren. Der Umgang mit Material ist seither eng mit der Vorstellung von Unmittelbarkeit, Konkretheit und Haptik verbunden. Damit hat sich die Illusion verfestigt, Material und Dinge seien unmittelbar und konkret zu fassen und eröffnen einen direkten Zugang zur Welt und zum Ich. Materialhandeln heißt aber auch Zeigen, Präsentieren, Exponieren und ist daher immer auch eine rhetorische bzw. inszenatorische Angelegenheit. Zur Vermittlung von experimentellen und temporären Materialhandlungen, zur Darstellbarkeit offener tionen des Formlosen« einleitend sehr eindrücklich deutlich anhand des Werkes »Mud Muse« (1968–1971) von Robert Rauschenberg. 10 | Dario Gamboni: Zerstörte Kunst. Bildersturm und Vandalismus im 20. Jahrhundert, Köln: DuMont 1998.

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Prozesse, situativer Materialereignisse und Versuchsanordnungen oder zur Überprüfung und Wiederholung realisierter Praktiken und gewonnener Erfahrungen und Kenntnisse greifen Künstlerinnen und Künstler u. a. auf fotografische oder filmische Dokumentationen, auf Notizen, Skizzen oder Essays zurück. Das konkrete Materialhandeln produziert auf diese Weise zugleich einen umfassenden Quellenbestand, Paratexte, die zugleich rekonstruierend und reduzierend verfahren und das Materialhandeln auf diese Weise diskursiv anschlussfähig machen. Die so mit dem Materialhandeln immer wieder argumentativ in Verbindung gebrachte Un-Mittelbarkeit, in der sich Hand und Auge verschränken, Sinn und Geist verbinden, Anschauung und Erkenntnis zusammengehen, produziert und erfordert zugleich ein Setting an Medien und Narrativen.11 Damit findet eine Anbindung an medienanthropologische Überlegungen statt: So hat Helmuth Plessner in seiner Darstellung »Die Einheit der Sinne« u. a. auf das Zusammenspiel des Optischen und Haptischen hingewiesen.12 Für das Gelingen dieses Zusammenspiels hebt er das Moment der Einfachheit und der Kürze hervor und spricht in diesem Zusammenhang von einem »griffigen Handeln«. Das »griffige Handeln«, das Plessner erwähnt, benötigt aber zugleich immer auch Ansatzpunkte, was er an anderer Stelle mit der »Treffsicherheit des Blicks« präzisiert. Materialhandeln impliziert somit immer auch ein genaues und geschultes Sehen. Mit Material handeln, heißt daher auch: Das Material sehen, den Blick am Material schulen, um sich letztlich auf diese Weise seines Materialhandelns zu vergewissern und dieses zu vermitteln. Materialhandeln ist daher bestimmt von einer spezifischen Eigengesetzlichkeit sowie von einer reflexiven Spannung: Material ist somit Ausgangsstoff, zugleich vermittelte Materialität und Produkt diskursiver Praktiken.13 Aktuelles künstlerisches Handeln mit multiplen Materialien, d. h. mit ewigen und alltäglichen, festen und veränderlichen und vergänglichen Stoffen konfiguriert sich letztlich selbst zwischen Modellierung, Exposition und ästhetischer Sinnstiftung. 11 | Martin Scholz/Friedrich Weltzien (Hg.): Die Sprache des Materials. Narrative – Theorien – Strategien, Berlin: Reimer 2016. 12 | Helmuth Plessner: »Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes«, Bonn 1923, in: Helmuth Plessner, Gesammelte Schriften, Bd. 3. Herausgegeben von Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 7–316, hier bes. S. 246. 13 | Vgl. Thomas Strässle: »Einleitung. Pluralis materialitatis«, in: T. Strässle/C. Kleinschmidt/J. Mohs (Hg.), Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten, S. 7–26, hier S. 9. Als weiterführenden Impuls s. auch Werner Oechslin: »Auf einen Blick«, in: Heike Gfrereis/Marcel Lepper (Hg.), deixis – Vom Denken mit dem Zeigefinger (= marbacherschriften, neue folge, band 1, hg. v. Ulrich Raullf/Ulrich v. Bülow/Marcel Lepper), Göttingen: Wallstein 2007.

Einleitung

Ü berblick über diesen B and Die Beiträge in diesem Band basieren auf Vorträgen und Künstlergesprächen, die im Rahmen der SILOGESPRÄCHE stattgefunden haben. 2007 wurden die SILOGESPRÄCHE von Sabiene Autsch und Sara Hornäk als Forum für künstlerische, kunstwissenschaftliche und kunstpädagogische Fragestellungen im Fach Kunst an der Universität Paderborn gegründet. Diese Publikation setzt damit den 2010 im transcript Verlag erschienenen Sammelband »Räume in der Kunst. Künstlerische, kunst- und medienwissenschaftliche Entwürfe« fort. Auch für den vorliegenden Band greifen wir auf das erprobte Nebeneinander von Text- und Bildbeiträgen zurück und erhoffen uns davon, das Thema des künstlerischen Handelns mit Material aus verschiedenen Perspektiven heraus zu reflektieren und anschaulich werden zu lassen. Der Schwerpunkt der Beiträge in diesem Band liegt auf künstlerischen Handlungen in Bildhauerei, Fotografie, Installation und im Umgang mit dem Raum. Filmisches, Digitales Material, Material-Sammlungen und Archive, Lebensmittel, Sockelfragen und Klavierzerstörungen werden als Themen und Motive in den Blick genommen. Petra Kathke erörtert in ihrem Beitrag »Materialität inszenieren. Ein Desiderat im Handlungsfeld künstlerischer Lehre« zentrale Positionen innerhalb der Materialitätsdebatte aus kunstpädagogischer Perspektive. Die theoretischen Implikationen eines künstlerischen Umgangs mit Materialität, der eine Enthierarchisierung dualistischer Konstruktionen von Geist und Materie oder Stoff und Form mit sich bringt, nutzt sie, um die Bedeutung von Materialhandlungen in künstlerischen Lernprozessen aufzuzeigen und an Lehrbeispielen zu konkretisieren. Petra Kathke fragt bei ihrem Blick auf künstlerische Lehr- und Lernprozesse an Schnittstellen kunstwissenschaftlicher, kunstpraktischer und kunstdidaktischer Bezugsfelder nach dem Bezug zur greif baren Dinglichkeit vor dem Hintergrund aktueller neurophysiologischer Erkenntnisse. Ihre Überlegungen basieren dabei auf aktuellen Untersuchungen zum Zusammenspiel von Hand und Auge, d. h. zum Erkenntnispotential haptischer Sinneserfahrung im Erkunden von Materialitäten. Mit Blick auf Beispiele aus der Lehrpraxis vor allem aus der Primarstufe zeigt sie, wie in Zeiten der zunehmenden Digitalisierung der Umgang mit stofflicher Materialität zu einer Aufwertung der Materie als aktives Prinzip führt. Dabei lotet sie Möglichkeiten von Selbst- und Welterfahrung im künstlerischen Handeln aus, die unmittelbar vom Material ausgehen. Den Zusammenhang von Material und Prozess untersucht Sara Hornäk aus kunstpädagogischer Perspektive. Impulse werden dargestellt, mit denen Materialprozesse in der Lehre im Fach Kunst initiiert werden und Forschung am und mit Material als Einstieg in künstlerische Schaffensprozesse dienen kann. Am Beispiel dreier Werke von Eva Hesse, Ulrike Kessel und Björn Dahlem legt Sara Hornäk dar, auf welche Weise die materiellen Möglichkeiten

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in der Skulptur im 20. Jahrhundert um Schnüre, Strumpfhosen, Dachlatten, Neonröhren und anderes erweitert werden. Das Lehrprojekt, in dem die künstlerischen Beispiele die Diskussion über eine materialgebundene Kunstgeschichte und einen philosophischen Materialdiskurs eröffnen, umfasst eine Reihe von im Seminar entstandenen studentischen Werken, die vorgestellt werden. Hier galt es für die Studierenden, zunächst neue Materialien zu entdecken, den Unterschied von »künstlerischen« und »unkünstlerischen« Materialien zu hinterfragen und dann von Fahrradschläuchen über Taschentücher hin zu Kunststoff bechern aus diesen heraus einen neuen handelnden Umgang zu entwickeln. Die Bildhauerei besteht nicht (nur) aus bereits existierenden Techniken, die als eng umrissenes handwerkliches Repertoire zu erlernen wären, sondern jedes Material bedarf neuer skulpturaler Handlungsweisen und Verfahren, die zum Teil erst erfunden werden müssen. Das intensive Interesse an weniger kunstaffinen Materialien thematisiert der Beitrag von Sabiene Autsch und eröffnet zugleich Einblicke in den Themenund Lehrbereich »Kunst und Kulinarik«. Ein in den 1960er Jahren parallel zu Pop Art, Concept und Minimal Art einsetzendes künstlerisches Interesse an Essen, Kochen und Küche – insbesondere die Arbeit mit Naturalien und Esswaren als Gestaltungsobjekte in der Arte Povera und die Einbeziehung der Materialwertigkeiten von Lebensmitteln durch Joseph Beuys – bilden für aktuelles künstlerisches Handeln mit Essen eine wichtige Grundierung. Parallel dazu haben im Feld der Kulinarik in den letzten zwei Jahrzehnten ebenfalls radikale Veränderungen eingesetzt. Diese sind durch Entgrenzung, Inszenierung und Erweiterung gekennzeichnet und im Sinne einer »Kochkunst«, d. h. in der theoretischen Reflexion und Wahrnehmung zugleich anschlussfähig an ästhetische Phänomene und visuelle Konzepte. Der Beitrag nimmt exemplarische Projekte mit Studierenden in den Blick, in denen Materialerprobungen, Produktionsformen und damit verbundene Prozesse des Experimentellen, der Unbestimmtheit und der Störung sowie der Transformation als Kompetenzpotenziale in der künstlerisch-kunstwissenschaftlichen Lehre konzeptionalisiert sind. Auf destruktive Materialverfahren in den 1960er Jahren geht Gunnar Schmidt am Beispiel von Klavierzerstörungen in seinem Beitrag ein. In diesem Zeitraum tritt eine junge Künstlergeneration an, die mit ungewöhnlichen Strategien die Künste geradezu schockhaft erneuert: Materialkunst, Performance Art und Intermedia Art liefern die Stichworte für die Erweiterung des Kunstbegriffs. Dass diese Epoche des Auf bruchs nicht nur von euphorischen Neuerkundungen gekennzeichnet, sondern ebenso von desperater Destruktivität grundiert war, legt der Beitrag der Klavierzerstörungen Nam June Paiks und Joseph Beuys’ dar. Dabei spielen die Räume des Ateliers und der Galerie eine besondere Rolle: Jenseits der etablierten Kulturinstitutionen werden die neuen

Einleitung

Handlungsmaximen habitualisiert und als repetierbare Gesten konventionalisiert, aber auch einem Prozess der Befragung und Transformation ausgesetzt. In den Werken von Judith Samen spielen Nahrungsmittel eine große Rolle, die als Objekt fotografiert, gezeichnet, in Installationen inszeniert oder in Performances benutzt werden. In den für ihren Bildbeitrag zusammengetragenen Abbildungen greift sie Elemente aus dem Alltag auf, die in künstlerische Formen transformiert und dem Betrachter innerhalb eines Realraums begegnen. Wie wird Essen zur Kunst? Scheinbar Gewöhnliches wird erst durch die Inszenierung bildwürdig. Lebensmittel als »Material« überführt Judith Samen in eine Bildform und ästhetisiert es dabei. So nimmt der verschwenderische Umgang mit Reibekuchen eine Form von Wandverkleidung an, die uns das essbare Material fast vergessen lässt. Bei den Objekten tierischen Ursprungs wird dem Betrachter der Umgang mit Nahrungsmitteln drastischer vor Augen geführt. Auch die Materialität des Fleisches geht ein in die Inszenierung. Wurstobjekte liegen auf einem Tisch aufgerollt oder fliegen im Raum umher und erzeugen dabei ein Gefühl anhaltender Irritation. Das Interview von Sabiene Autsch mit Karsten Bott im Kontext der SILOGESPRÄCHE thematisiert den künstlerischen Umgang mit Dingen. Dabei handelt es sich um Dinge, die wir als wert- oder kulturlos empfinden, die in dem von Bott seit 1988 begonnenen »Archiv für Gegenwartsgeschichte« Eingang finden: Stempel, Büroklammer, Einkaufszettel, Spielsachen, Küchenmaschinen, Kaugummis, Schirmständer, Zahnbürsten. Dinge in unterschiedlicher Materialität, Größe, Haptik. Das bis jetzt mehr als eine halbe Millionen Objekte umfassende Archiv ist der Versuch einer Bestandsaufnahme des Alltäglichen. Die Dinge gelten Karsten Bott als »Geschichtsdokumente der Menschheit«. Ihn interessiert dabei, welche Dinge die Menschen brauchen und was sie tatsächlich damit machen. Die Dinge werden in Ausstellungen in Vitrinen, Regalreihen oder flächendeckend auf dem Boden gezeigt, über die Stege gebaut sind, die eine Draufsicht ermöglichen. Was auf diese Weise entsteht, ist eine riesige Sammlung, in der die Dinge und Materialien zunehmend abstrahieren und nur noch als farbige Flächen oder Felder wahrgenommen werden können. Alles hängt jedoch mit allem irgendwie zusammen, denn Karsten Bott geht es immer um die historische und gesellschaftliche Dimension beim Prozess des Sammelns, Archivierens und Erinnerns. Damit teilt er einen das Leben bestimmenden Gedanken mit vielen Konzeptkünstlern: Vollständigkeit zu erreichen, im Bewusstsein, dass man dabei scheitern muss. Der Beitrag von Julia Kröpelin macht deutlich, auf welche Weise künstlerische Prozesse in der Bildhauerei durch sehr unterschiedliche, aus verschiedenen Seins- und Wirklichkeitsebenen herausgegriffene Materialien und Dingwelten angeregt werden. Auf Papier gedruckte Fotos oder bemaltes Papier werden zu Hohlformen aufgebaut, anschließend ausgeschäumt und zu einer plastischen Form verbunden, die sich durch den Raum erstreckt. Das Formen-

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spiel im Raum gerät durch gebogene und gedrehte Kanten in Bewegung. Durch die leicht vorgewölbten Flächen erlangt die Skulptur plastische Qualitäten. In ihren Werken gestaltet die Bildhauerin aus zweidimensionalem Material Oberflächen, die dann wiederum in dreidimensionale Formen überführt und in raumgreifende Installationen verwandelt werden. Aus einem Netz verspannter Einzelheiten erschafft Julia Kröpelin Orte, in denen verschiedene Bildwelten aufeinandertreffen. Dinge entsprechen dabei realen Gegenständen oder treten als nachgebaute Plastiken in Erscheinung. So verbinden sich Vorstellung und Beobachtung, Bild und Abbild. Der österreichische Künstler Martin Walde arbeitet mit Materialien, die flexibel, veränderlich und instabil sind. Am Beispiel künstlerischer Arbeiten und Projekte, die Walde zwischen 2009 und 2016 im Museum Marta Herford realisiert hat, zeigt Roland Nachtigäller auf, wie das Material selbst zum Ausgangspunkt der künstlerischen Untersuchung genommen wird. Der Künstler agiert dabei zunehmend als Materialforscher oder Alchemist, der Ausstellungsraum transformiert in eine Küche oder in ein Labor. Dabei geht es sowohl darum, die materiellen Bedingungen skulpturalen Handelns zu erkunden, als auch dem Material einen neuen Bedeutungsrahmen zu verleihen. Künstlerische Strategie ist dabei, durch Verschiebungen von Funktionsfeldern und ästhetischen Rahmenbedingungen den Blick neu zu fokussieren und gewohnte Dinge zwischen Absurdität und Tiefgründigkeit in ein verändertes Licht zu setzen. Aber auch die individuelle Handlung, die physische Begegnung mit Substanzen, Oberflächen und Objekten stehen dabei im Mittelpunkt. In seinem Beitrag »Mit Sockel oder ohne. Der Sockel als künstlerische Handlung in der Bildhauerei des 20. Jahrhunderts« thematisiert Guido Reuter die räumliche Ausrichtung der Skulptur als künstlerische Handlung des Stellens, Legens oder Anordnens des Werkes im Ausstellungsraum. An ausgewählten Werken von Anthony Caro zeigt er, auf welche Weise der Verzicht auf den Sockel den Werken eine neuartige Unmittelbarkeit verleiht, die durch die spezifische Materialität, die aus industriellen Kontexten stammt, verstärkt wird, insofern als auch diese durch den Verweis auf die Alltagswelt einen spezifischen Realitätscharakter besitzt. Guido Reuter untersucht in seinem Beitrag den Zusammenhang zwischen der Verwendung neuer Materialien und der Entstehung der sockellosen Skulptur. Die Sockelproblematik betrifft eine zentrale Schnittstelle zwischen künstlerischen Fragen und Ausstellungsfragen, zwischen Kunstpraxis und Kunsttheorie. Die Frage, wie eine Skulptur präsentiert werden kann, wie wir das Werk positionieren, beschäftigt Künstlerinnen und Künstler selbst, die Ausstellungsmacher, seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber auch die kunstwissenschaftliche Forschung. Über die Positionierung des Kunstwerks  – mit Sockel oder ohne  – lässt sich über zentrale kunsttheoretische Fragen nachdenken, über das Verhältnis des Werkes zur Dingwelt, zum Betrachter und zum (Betrachter-)Raum, über Nähe und

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Distanz, über Rahmen und Erhöhung des Werkes, über seine Autonomie und Fragen der Partizipation des Betrachters. Armin Hartenstein lotet in seinen Werken die Grenzen zwischen Natur und Kultur aus. In seinen gemalten und gebauten Vulkankratern, Fels- und Gebirgsformationen erschafft er imaginäre Bilder der Natur. Ganz anders in den in seinem Beitrag dokumentierten frühen künstlerischen Arbeiten, die Armin Hartenstein unter dem Titel »Honda & Daewoo und andere …« zusammenstellt. Verschiedene großblättrige Topfpflanzen sind verdichtet in ein Auto gepackt. Einerseits scheinen sie durch die Glasscheiben des Autos gebändigt und am weiteren Wildwuchs und Ausbruch gehindert zu werden, andererseits könnten sie aber auch weiterwuchern und die Scheiben bersten lassen. Im Werk »Prototyp«, das aus einer Glasscheibe besteht, die gegen zwei vor einer Zimmerwand stehende Topfpflanzen gelehnt ist, tritt die Konfrontation des lebendigen, sich ausbreitenden Stoffes der Pflanzen mit der technisch hergestellten Glasscheibe, die die Pflanzen begrenzt, in reduzierter Form auf. Armin Hartenstein deutet in dieser Arbeit nur an, dass die Scheibe, gegen die sich einzelne Blätter quetschen, dem Wachstumsprozess im Wege steht. Als Topfpflanze wird die Natur gebändigt und vom Menschen in einen überschaubaren Zustand überführt, in eine isolierte Form gebracht und ins Hausinnere gebracht. Grünpflanzen, die in ihrer Anhäufung dann allerdings doch wieder Dschungelqualitäten erreichen, ein Auto oder später nur noch eine Glasscheibe dienen Armin Hartenstein als Material für seine skulpturalen Werke, die sich durch ihre spezifische Dinglichkeit auszeichnen. Seine Skulpturen entstehen aus wenigen zusammengesetzten Materialien, Materialfragmenten oder Objekten. Die Materialität ist auf besondere Weise greif bar. Durch die Kombination der einzelnen Teile wird der Readymade-Charakter aufgehoben. Den Realitätscharakter, der durch einzelnen Bestandteile evoziert wird, überführt Armin Hartenstein in surreale Bildwelten. Der Beitrag von Lisa Gotto zum Thema »Modellierungen in Eis und Schnee: Das Material des Bergfilms« führt in die Kinematografie der 1920er Jahre. Das filmische Schneebild wird dabei als eine kinematographische Reflexionsform betrachtet, in der sich Gestaltbildung und Gestaltauflösung verschränken. Grundlegend ist dafür ein Wechselverhältnis, das im Weiß selbst angelegt ist: das Oszillieren zwischen Auf bau und Abbau, zwischen Präsenz und Absenz, zwischen Musterbildung und Musterverlust. Dieses Wechselverhältnis kann der Film durch die Inszenierung der Eislandschaft nicht nur assoziativ aufrufen. Er kann durch den Rückgriff insbesondere auf seine materiellen Grundlagen auch die Beweglichkeit seiner eigenen Bildgebung in den Blick nehmen und als ästhetische Wandlungsprozesse vorführen. Aus dieser Perspektive ist es neben dem Material Schnee insbesondere das Weiß, die Leere, das Kristalline oder die Passage, die als strukturelle und zugleich symbolische Bedeutungsträger aufscheinen. Wenn sich der Film ins Weiß begibt, dann beschäf-

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tigt er sich auch mit seiner eigenen Medialität. Das Bild der Schneelandschaft gleicht einer planen Fläche und weist auf sie zurück. Es wirft den Blick von der Leinwand auf die Leinwand. Und es macht deutlich: Hier stehen die Erscheinungsbedingungen von Objekt und Bewegung zur Disposition. Bea Otto arbeitet nicht nur vor Ort, sondern sie erschafft innerhalb von Räumen neue Orte. In ihrem Beitrag wird deutlich, dass sie sich auf vorgefundene Materialspuren bezieht, auf Landschaften sowie auf Gebautes, die Rahmen und Ausgangspunkt eines Prozesses skulptural-installativer Aneignung und Transformation sind. Wichtig sind dabei auch die vielen Eindrücke ihrer Reisen und Auslandsaufenthalte, die in den entstehenden Bildwelten anklingen. Ihre Installationen und Skulpturen konstituieren also Orte, manche in Auseinandersetzung mit dem vorhandenen Raum und den vorgefundenen Materialien, andere aber auch in der Verortung von Dingen, die ihr Eigenleben führen. Die Arbeiten scheinen beiläufig aufgebaut und angeordnet. Auffällig ist die vorherrschende Leere, eine Kargheit, die durch minimale Eingriffe und präzise Setzungen unterbrochen ist. Jede Linie und Fläche, die sich durch die in den Raum gebauten Objekte, Böden oder Wandverkleidungen ergibt, ist streng komponiert. Einzelne Gegenstände wie ein Skistock oder ein Koffer lassen sich identifizieren und erzeugen Assoziationsspielräume, die den abstrakten Arbeiten eine narrative Komponente verleihen. Mit dem Ortsbezug, der Bedeutung des Prozesses und der spezifischen Materialität skulpturaler Werke von Richard Serra beschäftigt sich Kunibert Bering. Er geht dabei von Serras Film Hand catching lead (1968) aus, in dem der Bildhauer modellhaft seine Vorstellung eines künstlerischen Prozesses vor Augen führt: Die Hand des Künstlers packt herabfallendes Blei, lässt sich auf seine Materialität ein, formt es. In seiner Verb List (1968) reflektiert Serra diese vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten und bezieht sich dabei keinesfalls auf das Produkt der Aktionen, sondern auf das Prozessuale des Schaffens. Bering untersucht in seinem Text den Weg von der Aktion des Schleuderns flüssigen Bleis in Splashing über House of Cards bis hin zu jenen Stahlskulpturen, die Serra als Visualisierung »arretierter Bewegung« versteht. Dabei geht er der Frage nach, welche Auswirkungen der Gedanke des Prozesses auf die Umgebung hat, in der Serras monumentale Stahlskulpturen präsentiert werden. Ort und Prozess hängen auch dadurch zusammen, dass Serra einen »Betrachter in motion« fordert, der das Werk in beständiger Interaktion durch die eigene Bewegung und stets wechselnde Betrachterstandpunkte erfasst. Der vorhandene Ort dient als Ausgangs- und Bezugspunkt für die Entstehung raumgreifender Installationen von Johanna Schwarz. In ihrem künstlerischen Bildbeitrag für diese Publikation ordnet sie ihre Fotografien, Filme, Zeichnungen, Skulpturen, Installationen und ihre Collagen den Rubriken »Fundstücke«, »Raum« und »Textil« zu. Kennzeichnend für ihre Arbeiten sind die Einfachheit der Mittel sowie die Reduktion der verwendeten Objekte

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und zum Einsatz gebrachten Materialien. Ironie und Melancholie bilden den semantischen Rahmen, wenn sich Eselsmaske, Vogelgerippe oder handgeschnitzte Figur begegnen. Eine Installation besteht aus einem Boden, der mit Stroh bedeckt ist. An die Wand des früher einmal als Stall dienenden Raumes wird ein Video projiziert, in dem eine als Schaf verkleidete Person spricht. Tücher kommen in verschiedenen Arbeiten als überlanger Vorhang, der aus einem Haus herausweht, oder als Verhüllung von Personen zum Einsatz. Die Kombinatorik der Gegenstandwelten unterstreicht Johanna Schwarz durch den Kontrast der verwendeten Mittel, indem sie beispielsweise eine kauernde, verhüllte, abfotografierte und ausgeschnittene Figur auf einem gezeichneten Tisch anordnet oder eine stehende und vollständig verhüllte Figur montiert auf einem fotografierten Geländer balancieren lässt. Wir danken Susanne Henning für die kritische Durchsicht der Beiträge und die aufwendige redaktionelle Arbeit, Filis Wojciechowski für das Lektorat, Alfons Knogl für die Unterstützung beim Layout und der Universität Paderborn und der Fakultät für Kulturwissenschaften für die finanzielle Unterstützung der SILOGESPRÄCHE und der vorliegenden Publikation.

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Materialität inszenieren Ein Desiderat im Handlungsfeld künstlerischer Lehre Petra Kathke

Die Auseinandersetzung mit Fragen rund um Materie, Material und Materialität, die in den letzten Jahrzehnten in allen Wissensbereichen, besonders aber in den Kultur- und Geisteswissenschaften stattgefunden hat, reflektiert eine Fülle unterschiedlicher Diskurse und Handlungspraktiken.1 Bedeutsam an diesem Material Turn ist, dass es sich in den Worten von Christiane Heibach und Carsten Rohde »nicht um eine Rückkehr zu einem simplen Primat des konkreten Dings, sondern um ein komplexes wissenschaftliches Narrativ [handelt], das materielle und dingorientierte Aspekte in der Beschreibung von Kultur und Gesellschaft zwar in den Vordergrund rückt, ihre immateriellen Ordnungs- und Spiegelungsfunktionen aber nicht leugnet und Dinge als Akteure von Netzwerken kultureller Prozesse versteht.« 2

Insofern die neuen Prämissen auch Prozesse »der Weltkonstituierung und -aneignung«3 betreffen, fordern sie in der kunstpädagogischen Praxis eine Vergewisserung bezüglich des Umgangs mit Material heraus. So wird in rezeptiven Lernphasen stärker zu berücksichtigen sein, dass sich im Begriff des Materials nicht nur ein Ausgangsstoff, sondern immer auch ein Produkt künstlerischer Modellierung und Inszenierung verbirgt. Materie wäre in ihrer jeweiligen Kon1 | Vgl. die zusammenfassende Darstellung der Theoriegeschichte von Christiane Heibach/Carsten Rohde: »Material turn?«, in: Dies. (Hg.), Ästhetik der Materialität (HFG Forschung Vol. 6), Paderborn: Fink 2015, S. 9–30. Die Beiträge des Tagungsbandes widmen sich »bestimmte[n] Konzeptionen von Materialität, die in den Wissenschaften und der Philosophie, den bildenden Künsten, dem Design und der Literatur, aber auch im Alltag leitend sind, die Gesellschaften und ihre Subjekte zu einer bestimmten Zeit auf jeweils spezifische Weisen beeinflussen.« Ebd., S. 16. 2 | Ebd., S. 14. 3 | Ebd.

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zeptualisierung ein heterogenes Konstrukt unterschiedlicher Kodierungen und Kontexte4, unter dem Vorzeichen eines New Materialism sogar ein »Produkt performativer diskursiver Praktiken«, dem jegliche »Vorgängigkeit« abgesprochen wird.5 Neben Fragen nach der Materialität von Bildlichkeit oder anderen Darstellungs- und Übermittlungssystemen wie etwa der Schrift gehört damit eine vom Material ausgehende Interpretation von Dingwelten, die zugleich die Vermitteltheit des Weltbezugs durch Zeichensysteme und die Materialität von Medien fokussiert, zur theoretischen Grundlage kunstpädagogischer Professionalisierung.6 In didaktisch initiierten Prozessen künstlerischen Handelns erscheint eine Vergewisserung der theoretischen Implikationen des Umgangs mit Materie, Material und Materialität allein deshalb sinnvoll, weil das Material der Kunst seit der klassischen Moderne nicht mehr unter dem Primat der Form, sondern als autonome ästhetische Kategorie künstlerischer Arbeit betrachtet wird.7 Bezogen auf die Konsequenzen dieses Paradigmenwechsels für die kunstpädagogische Praxis regt die Enthierarchisierung der Differenz zwischen Form und Stoff bzw. Geist und Materie an, über die Bedeutung des Materials in Prozessen künstlerischen Lernens nachzudenken, genauer über seine potentia, jenen Aufforderungswert, der in der klassischen Aristotelischen Unterscheidung zwischen Form und Stoff (hylé und morphé) angelegt ist.8 Während die Repräsentationstheorien der 4 | Vgl. Sigrid G. Köhler: »Intermaterialität als Programm. Zu einer Kultursemiotik der produktiven Materie«, in: Thomas Strässle/Christoph Kleinschmidt/Johanne Mohs (Hg.), Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten. Theorien/Praktiken/Perspektiven, Bielefeld: transcript 2013, hier S. 43–67. 5 | Vgl. Thomas Strässle: »Einleitung. Pluralis materialitatis«, in: T. Strässle/C. Kleinschmidt/J. Mohs (Hg.), Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten, S. 9. 6 | Vgl. Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München: Fink 2002, hier insbesondere das Kapitel »Zeichen und Materialität«, S. 133–185. 7 | Vgl. insbesondere die Veröffentlichungen von Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München: C. H. Beck 2001; Dies.: »Material«, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in 7 Bänden, Stuttgart-Weimar: J. B. Metzler 2000-05, Bd. 3, S. 866–882; Monika Wagner/Dietmar Rübel (Hg.): Material in Kunst und Alltag, Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte, Berlin: Akademie Verlag 2000. 8 | Während morphé die durch den Logos erkannte Form meint, ist in hylé die potentia des Stoffes angesprochen, »die noch nicht realisierte Möglichkeit, in der aber ein Vermögen bzw. eine dispositio zur Realisierung liegt«. Dieter Mersch: »Erscheinung des Un-Scheinbaren. Überlegungen zu einer Ästhetik der Materialität«, in: T. Strässle/C. Kleinschmidt/J. Mohs (Hg.), Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten, S. 30. Durch menschliche Arbeit (technē) nimmt die allem zu Grunde liegende stoffliche Materie Gestalt oder Form an.

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frühen Neuzeit den Stoff gänzlich der Form unterordneten, eine Auffassung, die der »eklatanten ›Materialitätsbetonung‹ der Künste der Avantgarde vehement entgegensteht«9, negiert Aristoteles – so argumentiert Dieter Mersch mit Adorno – nicht den Stoff schlechthin, vielmehr gehe dieser »der Form als deren ›Möglichung‹ immer schon voraus; als potentia sehnt er sich gleichsam nach seiner Formung, wie diese umgekehrt der Materie bedarf, um überhaupt erscheinen zu können und für die Wahrnehmung sichtbar zu werden.«10 Material sei damit immer etwas Zuvorkommendes, etwas, von dem wir herausgefordert werden, »eine ›Passibilität‹, eine Empfänglichkeit, die uns allererst in eine Beziehung zur Welt, zu den Dingen und ihrem Symbolischen bringt, die uns allererst das Visuelle ›nahe bringt‹«.11 Als Voraus-Setzung des Ungemachten oder Unmachbaren verdankt der Mensch der materiellen Stofflichkeit eine Präsenz des Daseienden, in die er nicht nur selbst eingestellt ist, sondern an und mit der er sein Denken und seine Orientierungsfähigkeit in der Welt aufbaut. Das Materielle spielt uns also etwas zu, bringt etwas als Grundlage des Existenten zum Erscheinen, das Heranwachsenden die Konstruktion von Wirklichkeit ermöglicht und ihnen in Phasen des Handhabens und Gestaltens zugleich das Gefühl der Selbstwirksamkeit vermittelt. Indem es zum manipulierenden Umgang herausfordert, trägt es zur Ausbildung eines geistigen Anschauungsraumes wie zum Einprägen und Vergewissern individueller Weltund Selbstwahrnehmung im Kontext ästhetischen Lernens bei. Entscheidend dafür wäre ein Vorgehen, bei dem Form dem Material nicht aufgezwungen, sondern in einem dialogischen Geschehen entwickelt wird.12 Im schulischen Kunstunterricht ist es dagegen vielfach die Regel, Material in seiner Verwendung und Bedeutung festzuschreiben. Ohne dass es erkundet oder gedanklich durchdrungen wird, dient es einem meist von anderen erdachten Vorhaben. In der allgemeindidaktischen Engführung von Zielsetzungen, Mitteln und Methoden erweisen sich etablierte Zweck- und Funktionsbindungen als zu fest verankert, als dass dem Material zugetraut wird, die ihm eigene potentia in Interaktionen sinnvoll entfalten zu können.13 Ein Weg, sie in künstlerischen Lehr-/Lernprozessen trotz einschränkenden schulischen 9 | Ebd., S. 29. 10 | Ebd., S. 32–33. Dort auch das Adorno-Zitat: »Sie finden bei ihm [Aristoteles, Anm. d. Verf.] nicht die Platonische Wendung der Nichtexistenz des sinnlichen Materials«. 11 | Ebd., S. 28. 12 | Dialogisches Gestalten als künstlerische Haltung in kunstpädagogischen und kunsttherapeutischen Prozessen thematisiert Kirsten de Vries: Im Dialog mit dem Material, Norderstedt: Books on Demand 2011. 13 | Zur Bedeutung des Unbestimmten in erfahrungsoffenen Bildungsprozessen siehe Birgit Engel/Katja Böhme (Hg.): Didaktische Logiken des Unbestimmten, München: kopaed 2015.

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Rahmenbedingungen wirksam werden zu lassen, ist das Exponieren der Materialität, um in zunächst ergebnisoffenen Situationen darauf zu verweisen, was Material kann, welche Kräfte es freisetzt. Kunstpädagogisches Denken vom Material aus führt zum Inszenieren von Materialität14 und überschreitet die Schwelle zur Medialität, ein hier nur am Rande berücksichtigter Aspekt. Der Begriff der Materialität, der nach Dieter Mersch nur im Plural zu denken ist 15, fokussiert das, was ein Material zuallererst auszeichnet, was im Sinne eines vielgestaltigen, zum Erscheinen kommenden »Wirkens« an der Oberfläche hervortritt, sich quasi im Augenblick ereignet.16 Damit bezieht sich das Inszenieren von Materialität auf sich zeigende Eigen-Arten nicht nur von Stofflichkeit, sondern von all dem, »was sich von dort her erst ereignet«, was am Material wirksam wird, was geschieht.17 Werden solche Wirkweisen durch didaktisch begründete Inszenierungen markiert, so kommt ein aktives Moment ins Spiel, das die Grenze zwischen dem Material und seiner Handhabung durchlässig macht. Mit Blick auf die Entwürfe einer produktiven und eigendynamischen Materie, einer Materialität mit agentischen Eigenschaften, wie sie seit einigen Jahren von Vertreterinnen und Vertretern eines New Materialism18 entwickelt werden, lässt sich die Handhabung von Dingen der physischen Welt im Sinn eines Material Engagement weitreichender als bisher begründen. Über dynamische, korrespondierende Wechselwirkungen wäre eine nicht allein für künstlerische Gestaltungsprozesse erforderliche sensitive und reflexive Bezüg14 | Vgl. Petra Kathke: »Opening Space for Opportunities. Staging Materials as an Art Education Intervention«, in: Georg Peez (Hg.), Art Education in Germany, Münster: Waxmann 2015, S. 29–34. »Spielräume materieller Inszenierung im Handlungsfeld künstlerischer Lehre«, in: Zeitschrift für Ästhetische Bildung. 1, Nr. 1 (2009) (www.zaeb.net/). Dies.: »Material-Inszenierungen als Impuls zur Bricolage. Der Beginn ist die Hälfte des Ganzen«, in: Die Grundschulzeitschrift Nr. 202(2007), S. 10–16; Dies.: Sinn und Eigensinn des Materials. Projekte, Anregungen, Aktionen, 2 Bde., Neuwied: Luchterhand 2001. Zum Aspekt der Materialinstallation im kunstdidaktischen Feld vgl. Katja Böhme: »Kunstdidaktische Installationen. Erfahrungsräume zwischen Kunst und Didaktik«, in: Birgit Engel/Katja Böhme (Hg.), Kunst und Didaktik in Bewegung. Kunstdidaktische Installationen als Professionalisierungsimpuls (= Didaktische Logiken des Unbestimmten, Band I), München: kopaed 2014, S. 34–59. 15 | D. Mersch: »Erscheinung des ›Un-Scheinbaren‹. Überlegungen zu einer Ästhetik der Materialität«, in: T. Strässle,/C. Kleinschmidt/J. Mohs (Hg.), Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten, S. 29. Der Autor räumt zugleich ein, dass sich beide Begriffe – Material und Materialität – kaum getrennt voneinander denken lassen. 16 | D. Mersch: Was sich zeigt, S. 133. 17 | Ebd. 18 | Vgl. zuletzt: Susanne Witzgall/Kerstin Stakemeier (Hg.): Macht des Materials/ Politik der Materialität (1. Aufl. ed.), Zürich u. a.: Diaphanes 2014.

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lichkeit den stofflich-materiellen Dingen der Welt gegenüber auszubilden bzw. im Umgang mit ihnen zu stärken und zu legitimieren. Zwei praxisrelevante Themen grundschulischer Lehr-/Lernkontexte – ein Argumentations- und ein Handlungsfeld – stehen vor diesem Hintergrund im Mittelpunkt der folgenden Betrachtung: Zum einen geht es um die Bedeutung von Materie und Material als dinghafte Ausgangsstoffe gestaltenden Handelns. Auch vor dem Hintergrund der historischen Diskurse um eine prima materia ermöglicht materielle Stofflichkeit ein unmittelbares Präsenzerleben, das über Sinnlichkeit und Leiblichkeit für die Ausbildung eines geistigen Anschauungsraums wie für ästhetische Erfahrungsbildung grundlegend ist. Zum anderen wird – weil die mit diesem Präsenzerleben angestrebte ästhetische Sensibilisierung sich nicht von selbst bei der Konfrontation mit Materiellem einstellt – an einem Beispiel beschrieben, wie sich das Potenzial eines Materials wirksam entfalten lässt.19 Nur am Rande und im Ausblick kann auf seine Bedeutung im kontrastierenden Zusammenspiel flächen- und raumbezogenen Gestaltens sowie materieller und immaterieller Korrespondenzen verwiesen werden. Von hier aus ließen sich inspirierende Schnittstellen zwischen analogen und digitalen künstlerischen Vorhaben aktivieren, die zugleich Relationen zwischen Materialität und Medialität erfahrbar machen. Als Interferenzen zwischen intermaterialen und intermedialen Praktiken markiert das Bewusstsein von der Materialität eines Mediums und der Medialität eines Materials20 eine weitere Ebene kunstpädagogischer Reflexion.

W elt wissen  – K ünstlerisches L ernen  – Ä sthe tische  B ildung Unter welchen Voraussetzungen werden Materialien zu Medien kunstpädagogischen Handelns? Auf welche Weise initiieren oder intensivieren sie ästhetische Erfahrungsprozesse insbesondere im Kunstunterricht der Grundschule? Anregungen für inspirierende und Sinn generierende Inszenierungen von Materie und Material als den elementaren Gegebenheiten unserer Welt verdan19 | Der Beitrag basiert auf einem abbildungsreichen Vortrag zum kunstpädagogischen Potenzial unterschiedlicher Materialien und Strategien des Umgangs mit ihnen. Hier wurde er um die Praxisbeispiele gekürzt (vgl. Stichworte unter Kategoriebildung, s. u.). Abbildungen von vergleichbaren Aktivitäten mit Grundschulkindern finden sich auf einer DVD, die der Publikation des Grundschulverbandes beiliegt: Petra Kathke/Georg Peez: Ästhetische Bildung: Kunst. Materialien für Klasse 1–4, GSV Pädagogische Leistungskultur Band 124, Heft 4, GSV 2008. 20 | Vgl. hierzu Johanne Mohs: »Materialgerechte Medialität«, in: T. Strässle/C. Kleinschmidt/J. Mohs (Hg.), Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten, S. 239–261.

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ken wir in erster Linie Künstlerinnen und Künstlern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Über den tradierten Kanon kunstwürdiger Materialien hinaus haben sie Dinge aller Art ebenso wie Werkzeug und Bearbeitungsspuren als eigenwertige ästhetische Kategorien entdeckt und Sinnkonventionen zwischen Gegebenem und Symbolischem aufgebrochen.21 Dabei rückten Weisen der Repräsentation von und Auseinandersetzung mit Welt in den Blick, die entgegen der wachsenden Dominanz sprachlicher und bildlicher Vermittlung auch den vernachlässigten dritten Modus, den des unmittelbaren Umgangs mit materieller Dinglichkeit, berücksichtigen. So zeigen Werkreihen des amerikanischen Künstlers Joseph Kosuth aus den sechziger Jahren, wie z. B. One and three chairs oder One and three saws, beide 1965 entstanden, jeweils drei Weisen, wie ein vertrautes Objekt uns erscheinen kann: unmittelbar dinglich, als bildliche Darstellung sowie in der schriftsprachlichen Repräsentation eines lexikalischen Eintrags. Abb. 1: Joseph Kosuth, One and three chairs, 1965

Unterschiedliche materielle Repräsentanten evozieren hier zugleich drei Arten des Zugriffs: dinglich-materielle Präsenz fordert zur Handhabung auf, Abbildhaftes will betrachtet, geschriebene Sprache gelesen bzw. in Kenntnis des verabredeten Zeichencodes entschlüsselt werden. Kosuths Werk repräsentiert damit jene drei Wissensbereiche, die es nach Ansicht des Hirnforschers Ernst

21 | In den Kunstwissenschaften wird daraufhin verstärkt die Verlagerung von Sinn und Bedeutung in das Material und seine Inszenierung untersucht. Vgl. v. a. die Veröffentlichungen von Monika Wagner und Dietmar Rübel, Anm. 7.

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Pöppel für optimales Lernen miteinander zu vernetzen gilt: implizites Handlungswissen, bildlich anschauliches und explizites sprachliches Wissen.22 Rezipieren und Produzieren von Bildern, hantierender Umgang mit Dinghaftem sowie Sprechen über gestalthafte Erscheinungen sind Lern- und Erfahrungsfelder, die sich in Prozessen künstlerischen Lernens beziehungsreich entfalten lassen. Wenn Kinder im Umformen und Verändern eines Materials durch Berühren und Betrachten, durch Zusammenwirken des visuellen und taktilen Sinns, Gestalthaftes hervorbringen, das – da auf Resonanz angelegt – auch sprachliche Reaktionen einfordert, werden die von Kosuth materiell präsentierten und von Pöppel für den Auf bau neuronaler Wissensstrukturen angeführten Felder vernetzt und an Facetten individuellen Erlebens gebunden. Entgegen Pöppels Schlussfolgerungen, »[…] dass man vom ästhetischen Wissen als einem Grundprinzip ausgehen kann und dass alle drei Wissensformen nur dann gut in uns verankert sind, wenn dem ästhetischen Prinzip bei jedem Wissen Rechnung getragen wird«23, scheint im schulischen Alltag ein Übermaß an verbaler Belehrung die Einheit handelnder, bildnerischer und sprachlicher Re-Aktionen auf Welt zunehmend auseinander zu dividieren. Bereits in der Primarstufe geht es vorrangig um explizit sprachliche Wissenspotenziale. Vorschulische Bildung favorisiert die Bildung durch Bilder. Beide Vermittlungsarten vernachlässigen handelnde Aktivitäten an und mit stofflichmateriellen Dingen einer physischen Lebenswelt, durch die sich ein geistiger Anschauungsraum allererst ausdifferenziert.

»B e vor ich es nicht berührt habe  …« – H ap tische und visuelle W elterkundung »Ich berühre etwas und erfahre, wie warm es ist. Ich erfahre, wie rauh es ist oder wie glatt. Ob trocken oder feucht. Trocken vor Wärme oder vor Kälte. Pulsierend oder still. Ob es dem Druck meines Fingers nachgibt oder sich mit seiner Oberfläche wehrt. Wie es wirklich ist. Bevor ich es nicht berührt habe, weiß ich nichts.« 24

In den Worten der polnischen Künstlerin Magdalena Abakanowicz, die durch ihre Webarbeiten der siebziger Jahre bekannt geworden ist, scheint der Gedanke eines Erkenntnis generierenden handelnden Tuns auf, der Künstlerinnen 22 | Ernst Pöppel: »Drei Welten des Wissens – Koordinaten einer Wissenswelt«, in: Christa Maar/Hans Ulrich Obrist/Ernst Pöppel (Hg.), Weltwissen – Wissenswelt. Das globale Netz von Text und Bild, Köln: DuMont 2000, S. 21–39. 23 | Ebd., S. 30. 24 | Magdalena Abakanowicz: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 25, München: WB Verlag 1994, S. 14.

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und Künstlern, vor allem aber Kindern zugstanden wird und durch neurowissenschaftliche Erkenntnisse an Gewicht wie an Kontur gewinnt. Es war die unkonventionelle Handhabung des Materials, die Abakanowicz über traditionelle textile Herstellungsverfahren im Dienst gebundener Funktionen hinausführte. Als sie textile Fasern und Fäden in biomorphe plastische Körperhüllen verwandelte, imprägnierten sich diese zugleich mit jener Haltung, die in ihrer Aussage mitschwingt. Gemeinhin als zweite Haut des Menschen begriffen, bildet textiles Material in einer Reihe von figürlichen Arbeiten – etwa den 80 Backs, die auf der documenta  6 (1977) gezeigt wurden  – skulpturale, halboffene Hüllen, die Raum zugleich einschließen wie ausgrenzen. Abb. 2: Magdalena Abakanowicz, Backs, 1976/82

Sie erscheinen als stoffliche Membranen, an denen ein Außen endet und ein Innen beginnt, ohne dass sich beide Bereiche klar voneinander scheiden lassen. Austauschprozesse an dieser Körpermembran bestimmen unser Leben. Aus neurophysiologischer Sicht bildet sich durch zunehmende Repräsentanz äußerer Gegebenheiten ein individueller geistiger Anschauungsraum.25 Dies setzt die Aktivität der Sinne wie die Bewegung des Körpers im Raum voraus. Zugleich trägt der Mensch Aspekte seines inneren Empfindens und Erlebens nach außen, indem er sich auf bestimmte Weise verhält, schöpferisch tätig ist, (Lebens-)Räume gestaltet. Als ganzheitliche Form sinnlicher Wirklichkeitserfassung ist ästhetisches Erleben ein Modus dieser voneinander abhängigen, nach innen und nach außen gerichteten Prozesse, bei denen Wahrnehmen und Handeln, Empfinden und Reflektieren, Körper und Geist untrennbar aufeinander bezogen sind. Aktive Aneignungsweisen und ein materielles Gegenüber vorausgesetzt, vernetzt ein solches Erleben erfahrene Wirklichkeit mit persönlicher Sinngebung. 25 | Ich stütze mich hier auf Axel Buether: Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz. Neurobiologische Grundlagen für die methodische Förderung der anschaulichen Wahrnehmung, Vorstellung und Darstellung im Gestaltungs- und Kommunikationsprozess (= Schriftenreihe Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle, Band 23), Halle 2010.

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Auf die Bedeutung der Hände und des haptischen Sinns wurde in diesem Zusammenhang vielfach hingewiesen. Sehen, nach Wolf Dieter Huber »eine auf Können und Geschicklichkeit basierende Tätigkeit der Umweltexploration«, ist auf die Hände angewiesen, die als »intelligente Erkenntnisinstrumente den Sinnesorganen und dem Gehirn zuarbeiten«.26 Beim Spüren und Erkunden von Materialitäten ist im Kontext ästhetischer Bildung zugleich jene Selbstwirksamkeit entscheidend, die im Moment einer Form oder Gestalt verändernden Handhabung spürbar wird. Hände sind somit auch beim Greifen und Formen von Material mehr als nur Werkzeuge, die etwas herrichten oder herstellen, etwas manipulieren. Mit sensiblen Tastrezeptoren ausgestattet, erfühlen sie Formen, Oberflächen und Raumbegrenzungen. Zugleich bewirkt das ›Außen-Ding‹ durch seine Widerständigkeit, seine Nachgiebigkeit, Anschmiegsamkeit oder Elastizität, dass sich der Mensch in der Berührung des Dinghaften selbst spürt und als reagierendes Wesen erfährt. Dieser bipolar aufeinander bezogene und voneinander abhängige Austausch zwischen Innen- und Außenwelt, der in den textilen Skulpturen von Abakanowicz anschaulich wird, ist Motor des ästhetischen Erlebens, bei dem Wahrnehmen und Handeln, Empfinden und Reflektieren eine untrennbare Einheit bilden.27 Der Einsatz der Hand als formendes und spürendes ›Werkzeug‹ ist zugleich unverzichtbar für die Konstituierung eines Wahrnehmungsraums in der Vorstellung. Nach Axel Buether, der aufschlussreiche Erkenntnisse zur Ausbildung der räumlich-visuellen Kompetenz aus neurophysiologischer Perspektive darlegt, lässt vor allem das Zusammenwirken haptischer und visueller 26 | Hans Dieter Huber: »Das Gedächtnis der Hand«, in: Johannes Kirschenmann u. a. (Hg.): Kunstpädagogik im Projekt der allgemeinen Bildung, München: kopaed 2006, S. 40. Axel Buether erinnert daran, dass es haptische Erfahrungen sind, die der Aufnahme der Beziehung zum Raum in der 16.–26. Lebenswoche vorausgehen. Alle weiteren Sinneswahrnehmungen bauen auf diesen auf und differenzieren das komplexe Wirkungsgefüge zwischen Körper und Umraum weiter aus. Vgl. A. Buether: Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz, S. 306. 27 | Dass der Form verändernde Zugriff beim Plastizieren unmittelbar an die haptische Erfahrung der Selbstwirksamkeit gekoppelt ist, macht die Arbeit mit formbaren Massen im Kunstunterricht so wertvoll. Durch seine Geschmeidigkeit und Wechselwirkungen zwischen Zugriff und Formveränderung reagiert besonders Ton auf unterschiedliche Arten von Berührung und konserviert sie als Spur. Der kausale Zusammenhang zwischen dem Zugriff der Hände und dem Zustand des Materials wird dabei nicht nur fühl- sondern zugleich auch sichtbar. Ein Tonklumpen in der Hand ist das jederzeit veränderbare Resultat eines behutsamen, fahrigen, zielstrebigen, kraftvollen Zugriffs. Vgl. Petra Kathke: »Mit den Augen den Händen folgen, die dem Verstand vorauseilen … Haptisch-visuelle Erfahrungen und raumbezogenes Gestalten«, in: Kunst + Unterricht Nr. 381/382 (2014), S. 88–92.

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Eindrücke Denken und Handeln als voneinander abhängige Teilaspekte eines Wahrnehmungsvorgangs erscheinen. Dies relativiert nicht nur die Vorstellung einer ausschließlich visuell zugänglichen Anschauungswirklichkeit, es ermöglicht dem Menschen eine »unmittelbare Rückbestätigung oder Gewissheit über die Art und Weise seiner eigenen Existenz«28.

E xkurs : M ultisensorische E rfahrungen und geistiger A nschauungsr aum Wie Magdalena Abakanowicz den haptischen Sinn für den Erkenntnisgewinn stark macht – Berühren bedeutet Wissen – erinnert daran, dass Worte wie begreifen und erfassen das erkennende Vermögen im handelnden Zugriff verankern. Heute, mehr als eine Generation später, bietet sich Kindern und Jugendlichen immer weniger Gelegenheit, mit ursprünglicher Materie zu hantieren. Schnell und routiniert gleiten ihre Finger über Displays und Bildschirme, um durch leichte Berührung Bilder und Schriftzeichen, ein Wissen über die Welt, auf glatte LED-Flächen zu holen. Ihre Körper bleiben dabei auf das starre Gegenüber einer Fläche gerichtet. Fast scheint es paradox, dass parallel zum entkörperlichten, bildfokussierenden Erleben die Bedeutung handelnder Auseinandersetzung mit materieller Dinglichkeit für Lern- und Bewusstseinsprozesse neurophysiologisch zunehmend besser verstanden und ein pädagogischer Allgemeinplatz damit empirisch bestätigt wird. Buether rekonstruiert, wie die eigenständige multisensorische Erfahrungsbildung von Kindern letztlich jenen geistigen Anschauungsraum erzeugt, der als Gedächtnisreferenz für effizientes Denken und Handeln unverzichtbar ist. Nur unter besonderen Bedingungen kann es dafür Kompensationsmöglichkeiten geben. »Wo immer wir etwas berühren und zugleich betrachten«, so Buether, »bilden sich assoziative Verknüpfungen in der Form und Materialstruktur unseres Anschauungsraums. […] Ein großer Teil der Oberflächen und Materialien wird uns über das Erregungsprofil der Netzhaut sichtbar, sobald wir dieses auf eine Referenz in der ›Texturbibliothek‹ unseres Anschauungsraums zurückführen können. Die Form- und Materialstruktur des Anschauungsraums bilden daher die Gedächtnisreferenz, über welche wir den Dingen ihre Plastizität, Temperatur, Festigkeit und Oberflächenbeschaffenheit schließlich ansehen können. Die Voraussetzung für die Möglichkeit der ›Blickberührung‹ – des Sehens als Fähigkeit eines vorausschauenden Berührens [Anm. d. Verf.] – bildet die visuell-haptische Auseinandersetzung mit der Umwelt.« 29

28 | A. Buether: Die Entwicklung der räumlich-visuellen Kompetenz, S. 308. 29 | Ebd., S. 304.

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Anders ausgedrückt: »Der Blick kann die haptische Exploration der Umwelt in dem Maße ersetzen, wie das Individuum lernt, die damit verbundenen Erfahrungen in die Erkenntnisstruktur seines Anschauungsraums zu integrieren.«30 Wo sich durch mangelnde Kontaktaufnahme mit der physischen Umgebung, durch Defizite im Ausbalancieren und Erspüren des Verhältnisses Ich – Körper/Raum – Welt kein solcher Anschauungsraum bilden kann, fehlen wichtige Referenzdaten. Eine Schlussfolgerung Buethers lautet: Die Erfahrungsbildung über Bilder und Sprache reicht nicht aus. Unmittelbares Handhaben stofflich-materieller Dinglichkeit kann im kindlichen Bildungsprozess nicht übergangen werden, weil das visuelle Interesse an der Umwelt letztlich erst aus der Bildung von Gedächtnisrepräsentationen des eigenen Anschauungsraums erwächst. Sie verlangt ein Mindestmaß an multisensueller Erfahrung, an unmittelbar-leibsinnlichem Kontakt zwischen Körper und Welt, was die Relevanz von Gestaltungsprozessen in der Kindheit aus neurophysiologischer Sicht unterstreicht.31 Sich auf den Schein der Dinge verlassen zu können, setzt voraus, ihr Sein erfahren zu haben. Mit dem Einsatz von Material, das Gefügigkeit oder Widerstand spürbar und Formveränderung als unmittelbare Reaktion auf körperliche Aktivität erlebbar macht, kann die frühkindliche Bildung eines Anschauungsraums durch multisensorisches Erleben im Kunstunterricht der Grundschule aufgegriffen, Persönlichkeit bildend fortgeführt und ausdifferenziert werden. Auch Abakanowicz gibt sich mit »Blickberührung« nicht zufrieden. Sie setzt auf den tatsächlichen Kontakt der Hand mit dem zu formenden Stoff, möchte sich des haptischen Eindrucks der Materialität durch unmittelbares Ertasten vergewissern. Die Aussage »bevor ich es nicht berührt habe, weiß ich nichts« ist dabei weniger auf das Erfassen expliziten Wissens zu beziehen  – als das Wissen ja oft nur erscheint –, als vielmehr auf ein Spüren, das als Grundlage schöpferischen Handelns dem Verstand quasi vorauseilt, das nicht den sichtbaren Formen und nachvollziehbare Fakten, sondern den texturalen Oberflächen und wirksamen Kräfte verpflichtet ist.

30 | Ebd., S. 236/37. 31 | Ebd., S. 211–230. Forderungen nach anregender Umgebung, nach physischer und multisensueller Auseinandersetzung und nach sprachlicher Verständigung darüber sind nicht neu. Nur lässt sich heute erklären, warum die Bildung eines inneren Anschauungsraums als Referenz für alle folgenden räumlich-visuellen Kompetenzen und damit auch für den Ausbau eines Netzwerks von semantischen Strukturen allein über Bilder nicht funktioniert. Für Blindgeborene, die durch einen operativen Eingriff ihre Sehfähigkeit wiedererlangen, bleiben Bilder von Dingen zunächst missverständliche symbolische Repräsentanten, eben weil sie nicht auf das unmittelbare physisch-räumliche Erleben rückbezogen werden können.

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Abb. 3: Hände folgen dem Aufforderungscharakter des Materials

M it den A ugen den H änden folgen , die dem V erstand vor auseilen Können Hände im Zugriff auf materielle Dinglichkeit etwas noch nicht Vorgedachtes bilden? Etwas, das scheinbar folgerichtig aus einem individuellen Zugriff entwickelt wird? Im Seminar sind Studierende dieser Frage nachgegangen. Blind wählten sie aus einem Materialangebot etwas aus, um mit ihren Händen dem haptischen Aufforderungscharakter der Materialität zu folgen. Das tun, was Hände mit Schnüren, Sand, Alufolie, Glasplättchen, Draht, Papier oder Hölzern im Moment tun wollen, fiel nicht leicht. Geprägt von der Auffassung, jedem Handgriff müsse planendes Denken und bildhaftes Antizipieren dessen vorausgehen, was entstehen soll, war die Freiheit des direkten Zugriffs für alle ungewohnt. Zögernd begannen die Hände aktiv zu werden und der Materialität des Dinghaften nachzuspüren. Dabei machte die bewusste Entkoppelung visueller und haptischer Sinneseindrücke zunächst erfahrbar, dass sich auch beim tastenden Formen eine Anschauung und beim Anschauen eine materielle Struktur vermittelt. Im Zurücksetzen des planvollen Tuns und im Verzögern jenes Moments, in dem etwas für etwas anderes

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zu stehen beginnt, wird das Vorauseilen des Symbolhaften, Narrativen und Stereotypen unterlaufen. So zeigten die entstandenen Gebilde Form als Resultat aus Materialqualitäten und individueller Handhabung. Erst dann brachten weitere Überlegungen Sinn und Bedeutung ins Spiel. Die zunächst irritierende Offenheit dieser Übung bot die Chance, in Übereinstimmung mit Abakanowicz über den unmittelbaren körperlichen Zugriff etwas Vorbewusstes, Eigenes zu entdecken: »Mein Verhältnis zu dem Material, mit dem ich arbeite, ist unmittelbar. Mit den Händen suche ich es aus. Mit den Händen forme ich es. Durch meine Hände übertrage ich ihm meine Kraft. Meine Hände lassen den Gedanken zur Form werden, sie übermitteln etwas, das sich meinem Bewußtsein entzieht.«32 Deutlich wurde zugleich, dass sich Handwerklichkeit im künstlerischen Gestaltungsprozess nicht in manueller Fertigung, in der materialtechnischen Ausführung erschöpft, bei der ein erdachtes Konzept lediglich umgesetzt wird. Oft sind es intuitive Handlungen, Reaktionen auf eine zuvor nicht beachtete Potenz des Materials, die jenseits von Fertigungsmustern Ungedachtes, Überraschendes, Irritierendes hervorbringen und Gedanken freisetzen. Dabei schreibt sich der Körper über den manipulierenden Zugriff in die Gestaltbildung ein.33 Auch bei Kindern setzt das Arbeiten mit den Händen konkrete Vorstellungen nicht zwingend voraus. Hantieren sie mit Material, das Gefügigkeit oder Widerstand spürbar und Formveränderung als unmittelbare Reaktion auf körperliche Aktivität erlebbar macht, kann nicht nur formendes, konstruierendes oder dekonstruierendes Vorgehen, sondern auch körperbezogener Umgang mit Farben einem inneren Bild vorauseilen und dabei Sinnzusammenhänge und Folgehandlungen freisetzen.

K ind und M aterial Unter dem Vorzeichen künstlerisch-ästhetischen Lernens ist Material immer mehr als das »Um-Zu-Ding«, das lediglich der Verwirklichung von Gestaltungsideen dient. Der sinnlich erkundende und Gestalt gebende Umgang mit dem, was in historischen Materialdiskursen als prima materia bezeichnet wird und über seine materiellen Eigenschaften nicht nur bestimmte Neigungen und Eignungen mitbringt, sondern auch kulturell und semantisch determinierte Vorstellungen transportiert, bietet eine Fülle von Erfahrungsmöglichkeiten und Erkenntnisweisen. Vor allem für die sinnliche Welterschließung 32 | M. Abakanowicz: Künstler, S. 2. 33 | Vgl. den Beitrag des Designers Max Lam: »Ich habe meine Hände buchstäblich in die Materialien gesteckt«, in: T. Strässle/C. Kleinschmidt/J. Mohs (Hg.), Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten, S. 75–98.

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des Kindes gehen vom Material wichtige Impulse aus, bildet doch der handelnde Umgang mit Dingen die Grundlage für sein Denken und Wahrnehmen, auch in Zeiten technischer Medialisierung und Digitalisierung. Indem es Gestalt gebend Erfahrungen mit unterschiedlichen Materialien sammelt, wird es sich zugleich seiner schöpferischen Aktivität bewusst. Dabei findet die Phantasie im Materiellen einen inspirierenden Gegenpart, an dem sie sich konkretisieren kann. Sprödigkeit, Glätte, Härte oder Formbarkeit  – Material kommt entgegen oder bietet Widerstand. Das, womit Kinder gestalten, sei es Materie wie Sand, Wasser, Schaum oder bereits zugerichtetes Material wie Farbe, Papier, Holz, Textil, fordert aufgrund seiner Eigenschaften bestimmte Manipulationen heraus, lässt sich bspw. ausschütten, auftürmen, falten, biegen, zerschneiden, brechen oder zusammendrücken. Es verlangt dem Kind permanent Reaktionen und Entscheidungen ab. Dabei konkretisieren sich Gestaltungsabsichten. Während es anfangs spielerisch und ziellos, aus Freude am momentanen Tun erkundet, misst es das Ergebnis der Manipulationen zunehmend an einem Ausdrucksbedürfnis, indem es Zustände verwirft oder weiter verändert. Das Material kann sich fügen oder in seiner Widerständigkeit Intentionen modifizieren und zu bisher Ungedachtem anregen. Es kann sich auch als ungeeignet für ein Vorhaben erweisen. Beides, erkennende Aneignung des Gegebenen wie darüber hinaus denkende Umdeutung und Umgestaltung kennzeichnen den Prozess schöpferischer Produktivität. Aus dem Zusammenspiel von subjektiver Handhabung und Sinngebung auf der einen und physischen Qualitäten des Materiellen auf der anderen Seite erwächst die ästhetische Wirkung. Wenn Material im kunstpädagogischen Kontext also nicht lediglich Werkstoff, sondern Gegenstand bewusstseinsverändernder Interaktionen sein soll, setzt das die leibsinnliche und reflektierende Vergewisserung seiner Möglichkeiten in Phasen der Annäherung voraus, in denen es weder vorschnell gedeutet noch auf eine vorgegebene Verwendung verkürzt wird. Der erste Schritt phänomenologischen Erkundens baut darauf, dass allein in der Präsenz des Materiellen, seinen Qualitäten und strukturellen Eigenschaften, Zugriffsweisen und Gestaltungspotenziale gegeben sind, die sich mit Blick auf ein besonderes Begehren durch eine sparsame Inszenierung erschließen lassen.

M aterialität inszenieren  – ein B eispiel In allen Lehrplänen des Faches Kunst in der Grundschule wird produktives Erarbeiten auf der Grundlage eines variationsreichen Materialangebots eingefordert, das Entscheidungsfreiräume und Möglichkeiten experimentellen Handelns bietet. Lehrende sind in der Regel angehalten, Wahrnehmung und Motorik der Kinder beim Gestalten von Bildern, Objekten und Räumen mit

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unterschiedlich bearbeitbaren und kombinierbaren Materialien zu fördern. Für ästhetische Erfahrungsbildung ist allerdings weniger entscheidend, dass mit vielfältigem Material gearbeitet wird, als vielmehr wie mit ihm gearbeitet wird. Erst indem Materialität auf eine bestimmte Weise eingeführt, gehandhabt, freigestellt, transformiert und reflektiert wird, kann es als Medium kunstpädagogischen Handelns künstlerische Weisen der Weltbegegnung anbahnen. Eine mögliche Art, mit dem unspektakulären, aber in Grundschulen omnipräsenten Material Farbe umzugehen, mag das Zusammenwirken der Parameter exemplarisch verdeutlichen: Kinder im Alter von fünf bis sieben Jahren experimentieren mit Farben an aufgestellten Malbrettern im Freien. Es geht um Wasser, um das Flüssige, genauer um die Eigenart des Wassers, immer der Schwerkraft folgend an den tiefsten Punkt zu fließen und sich dort auszubreiten. Für die einstündige Aktivität sind Papiere auf Malbrettern vorbereitet, die an einer Mauer lehnen. Daneben stehen kleine Plastikflaschen mit verdünnten Farben und Wasserspritzen bereit. Eine ungewöhnliche Handlung leitet die Aktion ein: Die Farbe wird am oberen Rand des Papiers vorsichtig aus der Flasche gedrückt. Der Schwerkraft folgend rinnt der Tropfen mehr oder weniger schnell am Papier herab. Die Kinder lassen sich auf das materielle Angebot ein. Vorsichtig hantieren sie mit den Farbbehältern, treiben die Farbspur mit der Wasserspritze oder halten sie mit dem Lappen auf. Beobachten und Reagieren wechseln bei konzentrierter Versunkenheit einander ab. Die Materialien – flüssige Farben, Wasser und Werkzeuge – regen, indem sie auf ungewöhnliche Weise gehandhabt werden, unterschiedliche Vorgehensweisen an: Farbrinnsale werden nebeneinandergesetzt, changierend übereinander geschichtet, vorangetrieben, vernebelt oder weggeschwemmt. Bei diesem Tun wird einerseits das Kind aktiv und reagiert, andererseits scheinen seine Handlungen in den Worten des Phänomenologen Merleau-Ponty »aus den Dingen selbst hervorzugehen«34, mithin als Potenz in ihnen verankert zu sein. Der Aufforderungscharakter des Materials wird durch eine bedachte Auswahl nicht nur von Dingen, sondern von situativen Bedingungen wirksam. Ihr Zusammenspiel gibt den nonverbalen Impuls, körperlich agierend zu untersuchen, wie sich flüssige Farbe auf mehr oder weniger senkrechten Flächen verhält und setzt die Potenz des Fließens frei, die Farbe und Wasser gleichermaßen eigen ist. Dass die engagiert und fasziniert ausgeführte Handlung sich zugleich bildhaft materialisiert und für andere nachvollziehbar wird, zeichnet ästhetisch-künstlerische Welterkundung als eine besondere aus. Auch geht es dabei weniger um sachkundiges Verstehen faktischer Zusammenhänge als 34 | Maurice Merleau-Ponty: »Auge und Geist«, in: Ders., Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg: Meiner 2003, S. 286 (Originalausgabe: L’Œeil et l’Esprit, Paris: Gallimard 1964, S. 31).

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Abb. 4: Mit flüssiger Farbe die Eigenschaften des Materials und das Wirken von Kräften bildnerisch erkunden

vielmehr um sinnliches Erleben, das sich im dialogischen Handeln mit elementaren Gegebenheiten ereignet. Da das Material Farbe hier jeden Handgriff sichtbar macht und auf jede Aktion eine visuell erfassbare Reaktion folgt, erlebt sich das Kind als verursachende und wahrnehmende Person. Farbe wird also nicht eingesetzt, um ein Bild des Wassers malen zu lassen, was mit Blick auf den Aspekt des Erkennens zum Hervorbringen konventioneller Bildzeichen (Wellenformen) oder blauer Flächen führt. Sie dient der Inszenierung eines Erfahrungsraums, in dem Kinder sich lebensweltlich bedeutsame Phänomene  – wie das Zusammenspiel von Schwerkraft und Flüssigkeiten  – auf ästhetische Weise erschließen. In einer Variante dieses Vorgehens werden Tropfen flüssiger Farbe oder Zeichentusche auf waagerecht positionierte Papiere verteilt. Mit den großfor-

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matigen Malbrettern in beiden Händen dirigieren Kinder diese als Laufspuren über die Fläche. Motorische Aktivität und das Erzeugen von Farbspuren sind dabei aufeinander bezogen und lassen vernetzte Linien als Kartographien eigener Bewegung entstehen. Da das Geschehen langsam abläuft, wird den Akteuren zugleich bewusst, dass sie etwas aus sich heraus wirksam werden lassen. In der Schule schreiben oder zeichnen Kinder häufig das auf, was ihren Vorstellungen und Gedanken Ausdruck verleiht. Graphit, Tinte oder Farben sind dienende Materialien dafür, während sich die Hand in ihrer Rolle als ausführendes Werkzeug übt. In der beschriebenen Aktion hingegen fordert die Eigendynamik des Materials körperliches Reagieren ein. Dabei bildet sich etwas ab, was weder dekodierbare Gestalt, noch symbolisches Zeichen, sondern Ergebnis einer Aufzeichnung ist, die die Grenze zwischen Körperaktion im Raum und ihrem Niederschlag auf der Fläche umspielt. Der Fokus verschiebt sich vom bildhaften Produkt zum Prozess, zur Erfahrung, dass flüssige Farbe Bewegungen auf der Fläche nachzeichnet und bildhaft werden lässt. Was zur Darstellung kommt, überrascht, weil es jenseits geläufiger Schemata eine im Dialog mit dem Material entwickelte Sichtweise auf Wirklichkeit zeigt, bereichert um Aspekte sinnlichen Erlebens und körperlichen Empfindens. Bezogen auf die potentia des Materials und die Implikationen seines Einsatzes lässt sich schlussfolgern: Indem Merkmale seiner Materialität durch eine Inszenierung spür- und sichtbar gemacht werden, dient Material hier als Anreiz und Impuls zur erkundenden Handhabung. Wie sich diese Merkmale bildnerisch zeigen, hängt vom Vorgehen und den Bewegungen des einzelnen Kindes ab. Als wortlose Regieanweisung fordert die Zusammenstellung von Dingen (das Setting) Aktivitäten heraus, die aufgrund ihrer Eigendynamik lustvoll erlebt werden, gerade weil sich das Material dem Willen nicht restlos fügt. Wenn Farbe veranlasst wird, der Schwerkraft folgend über das Papier zu laufen, dann macht die Handhabung bestimmte Aspekte seiner Materialität wie das elementare Phänomen des Fließens oder allgemein das Wirken von Kräften gegenwärtig, verleiht ihnen bildhaft Präsenz. Nur beim achtsamen Reagieren auf die Eigenaktivität des Materials wird das Ineinanderlaufen der Farben verlangsamt, kann beobachtet, beeinflusst und als selbst verursachtes Schauspiel genossen werden. Kinder erfahren bei dieser Aktivität Entscheidendes über das Zusammenwirken ihrer Körperaktion mit ihrem physischen Lebensraum. Sie entdecken eine Möglichkeit, nicht sichtbare Phänomene der Welt bildhaft werden zu lassen. Material dient hier sowohl der experimentellen Erkundung wirkender Kräfte als auch der bildhaften Dokumentation, in die sich Spuren kindlicher Erfahrungsprozesse einschreiben. Damit fordert die inszenierte Materialität die im Kind angelegte Disposition zur handelnden Welterschließung heraus. Vom Erhalt dieses Forschungsdrangs hängt nach Buether das Maß seiner

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Kompetenzentwicklung stärker ab, als von den Bedingungen seiner Lebensumwelt und seinen physiologischen Voraussetzungen.35

S innfelder öffnen  – S inn generieren Materialität ist ein weites Forschungsfeld künstlerischen Handelns, denn Künstlerinnen und Künstler lassen sich heute nicht mehr nur vom Material inspirieren36, sie begreifen den Umgang mit Material selbst als ästhetische Erkenntnispraxis, setzen künstlerische Mittel zur seiner Erforschung oder (Re-) Konstruktion ein. In künstlerischen Lehr-/Lernprozessen kann die Befragung von Materialität und Dinglichkeit in den Dienst ästhetischer Erfahrungsbildung gestellt werden. So löst die Freude am Dirigieren von Farbspuren, daran, etwas anstoßen zu können und zum Choreographen eines Ereignisses zu werden, bei Kindern zugleich Assoziationen und Erinnerungen aus. »Es gibt keine Wahrnehmung, kein Sehen, Hören oder Fühlen, die nicht gleichzeitig auch Erinnerung oder emotionale Bewertung sind. Jedes Gefühl bezieht sich auf Erinnerungen, jede Handlungsabsicht taucht in Erinnerungen ein und ist durch Gefühle gefärbt und durch Wahrnehmungsereignisse bestimmt.«37 Wenn also die Eigenaktivität der Farbe auf dem Papier eine Resonanz hervorruft, sich mit Gedanken und Empfindungen der Kinder anreichert, mündet der Erkundungsprozess in ein zielgerichtetes, vom eigenen Erleben inspiriertes Gestalten. Im Gespräch lassen sich dafür Anregungen sammeln: Wo erleben wir fließendes Wasser oder das Laufen von Flüssigkeiten? Wann ist solch ein Fließen – wie beim abendlichen Duschen – erwünscht, wann wird es unterbunden? Lässt sich das Verschütten von Kakao bildhaft machen, indem das Geschehen mit Farbe auf Papier simuliert und weiter ausgestaltet wird? Solche bildnerischen Transformationen des erkundeten Phänomens in den individuellen Erfahrungsbereich ermöglichen die Verknüpfung von erfahrener Wirklichkeit (Welterfahrung) mit persönlicher Sinngebung (Selbsterfahrung), die – auch weil sie in ein Verhältnis zum Welterleben anderer rückt – ästhetische Erfahrungsbildung anbahnt. 35 | Vgl. A. Buether: Die Entwicklung der räumlich-visuellen Kompetenz, S. 240. 36 | Dazu hat sich bspw. Antoni Tàpies konkret geäußert: »Wie ein Forscher in seinem Labor nehme ich als erster [sic!] die Anregungen wahr, die der Materie entrissen werden können. Ich entlocke ihr Ausdrucksmöglichkeiten, auch wenn ich anfangs keine klare Vorstellung habe, worauf ich mich einlasse. Während der Arbeit formuliere ich gleichsam meine Gedanken, aus dem Kampf zwischen Wollen und vorhandenem Material entsteht ein Gleichgewicht von Spannungen.« Antoni Tàpies: Die Praxis der Kunst. St. Gallen: Erker 1976, S. 42–43. 37 | E. Pöppel: Drei Welten des Wissens – Koordinaten einer Wissenswelt, S. 36.

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Abb. 5: Das Fließen des Wassers in der eigenen Erfahrung verankern und bildhaft kontextualisieren

Wenn das Fließen selbst zum Thema wird und Kinder entdecken, wo überall Flüssigkeiten in verzweigten Bahnen transportiert werden, kann mit Joseph Beuys weiter gedacht und der formenden Kraft des Flüssigen oder den Zusammenhängen zwischen flüssigen und festen Stoffen nachgegangen werden. Letztlich verbirgt sich in jedem Ast eines Baumes eine Leitungsbahn und in seiner gewachsenen Gestalt die materialisierte Bewegung des Fließens. Wo kommt Fließendes zur Ruhe, wie breitet es sich atmosphärisch aus? Auch für solche Phänomene lassen sich Handhabungen mit flüssiger Farbe

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Abb. 6: Das Fließen bildhaft in andere Zusammenhänge bringen

entwickeln. Weiterhin können die über das Papier gelaufenen Farbspuren malerisch umgedeutet werden, denn jedes materielle Ereignis ruft in seiner Präsenz Aspekte immaterieller Bedeuten auf.38 So lässt Bewegung Wege entstehen, bilden zum Beispiel rote Spuren die Kartographie eines Labyrinths, in dem der griechische Held Theseus den Minotaurus tötete. Körperliche Aktivität verweist im ›Laufenlassen‹ des roten Fadens zurück auf einen Mythos, der bis heute in der Sprache fortlebt. Entscheidend bei solchen Ausdeutungen und Sinngebungen ist, dass die Ursachen von Formentstehung oder Formauflösung beim Handhaben des Materials berücksichtigt und in Momenten erlebter Körperlichkeit verankert werden, womit der Prozess des Bildens vor den des Abbildens rückt. Dabei inspiriert auch der Wechsel in den medialen 38 | Zur Duplizität von Materialität und Bedeutung vgl. D. Mersch: Was sich zeigt, S. 132–185.

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oder skulpturalen Bereich, um das Fließen einerseits als Gestalt zu bannen oder es andererseits mit einer filmischen Endlosschleife in fortwährender Bewegung zu halten. Bei der Überblendung des einen mit dem anderen rücken medienspezifische Möglichkeiten in den Blick. Dabei ist das Inszenieren von Materialität dann mehr als ein motivierender Einstieg, es wird zur Gestaltungsaufgabe. Über Reproduktionen von Werken der US-amerikanischen Künstlerin Pat Steir, einiger Tachisten und abstrakten Expressionisten (Jackson Pollock, Fred Thieler), der Land Art (Robert Smithson, Klaus Rinke, Hans Haacke) oder einer Videoskulptur von Fabrizio Plessi kann das handelnd erkundete und bildhafte ausgedeutete Phänomen zugleich in der Kunst verankert werden. Letztlich öffnet die Inszenierung eines unscheinbar anmutenden Aspekts von Materialität künstlerische und kulturelle Denk- und Handlungsfelder und führt über Aktivitäten ästhetischen Forschens in bildnerische oder raumgreifende, in installative, mediale oder performative Vorhaben.

P otenziale des M aterials und die I nszenierung von M aterialität Material, das üblicherweise der Farbgebung dient und mit Pinsel auf Papier oder andere Oberflächen aufgetragen wird, vermag durch minimale Verschiebungen der Gebrauchskonvention erkenntnisreiche, bildnerische Aktivitäten anzustoßen. Als Medium seiner Eigenschaften eingeführt, kann es durch die sinnreiche Verknüpfung von Handhabung, Reflexion und Ausdeutung ein (elementares) Phänomen vergegenwärtigen, den Prozess seiner ästhetischen Erkundung dokumentieren und Transformation in den individuellen Erlebensbereich auslösen. Als entgegenkommender oder zuwiderlaufender ›Dialogpartner‹ lädt es zur Zwiesprache mit Aspekten seiner Materialität ein, die auf Empfänglichkeit setzt und die ohne sprachliche Instruktionen in individuelle Handhabungen und Sinngebungen mündet.39 Die Vielfalt kunstpädagogischer Inszenierungen von Materialität wird hier abschließend mit einer knappen, an den kunstpädagogischen Implikationen des Materials orientierten Kategoriebildung angedeutet:

39 | Zur Reduktion von Sprachanteilen in der Einstiegsphase durch sinnlich wahrnehmbare Impulse einer Inszenierung vgl. Petra Kathke: »Spielräume materieller Inszenierung im Handlungsfeld künstlerischer Lehre«, in: Zeitschrift für Ästhetische Bildung 1, Nr. 1 (2009) (www.zaeb.net/).

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1. Inszenierte Materialität lädt zum ästhetischen Erkunden, zum sinnlichen Vergegenwärtigen und gestalthaften Dokumentieren naturnaher Prozesse ein und ist einem prozessualen Verständnis von Materialität verpflichtet. Inszenierungen von vertrauten wie rätselhaft irritierenden Dingen, Fragmenten oder Stoffen inspirieren dazu, sie mit künstlerischen Mitteln zu untersuchen und in Gestaltungvorhaben zu überführen. Materialspezifische Prozesse, die bildhaft, skulptural, installativ oder medial manifest werden, machen Form und Formbildung als Ergebnis wirkender Kräfte erlebbar. Indem Dinge und Materialien elementaren Kräften ausgesetzt und zum Gestaltwandel veranlasst werden, erschließt sich über die Eigenaktivität der Stoffe ein innerer Zusammenhang zwischen Erscheinungsweisen in Kunst und Natur sowie die unterschiedliche Zeitlichkeit und Bedingtheit transformatorischer Prozesse.40 Beispiele: Rostende Metallteile für mehrere Tage in feuchte Tücher hüllen/Wachs verflüssigen und in kaltes Wasser gießen/Zweige und Äste verkohlen/Dinge für längere Zeit in der Erde vergraben oder ins Wasser hängen/Verflüssigung durch Hitze oder Kälte herbeiführen/ Feuchtigkeit oder Druck auf Materialien wirken lassen/Trocknungs- und Schwindungsprozesse provozieren/…

2. Inszenierte Materialität fordert körperliche Eingriffe und das Erspüren von Oberflächen und stofflichen Qualitäten heraus. Gegen die zunehmende Vereinnahmung des menschlichen Körpers als passives Wissensobjekt kann inszenierte Materialität zum Umformen und Umorganisieren des Materials anstiften. Wenn der eigene Körper durch Größe und Masse des objekthaften Gegenübers herausgefordert wird, mobilisiert dieser Widerstand Kräfte, deren Einsatz jeden gestalterischen Eingriff leiblich spürbar macht. Beim Formen und Manipulieren von Material wird neben der Wirksamkeit der Aktivität der Hände Körperlichkeit als Basis von Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit erlebbar. Beispiele: Eingriffe in verformbare Material wie Ton, Erde, Schnee provozieren/Holz, Stein, Glas, Gips und andere harte oder sperrige Materialien bearbeiten/Objekte dekonstruieren/ optisch und taktil wahrnehmbare Oberflächen präparieren/…

40 | Vgl. bspw. Petra Kathke: »Verwandlung durch Feuer. Vorschläge für den Kunstunterricht«, in: PÄD Forum Nr. 4 (2008), S. 210–214.

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3. Inszenierte Materialität lädt zum Erleben von Körper-Raum-Beziehungen ein und lässt Sinnhaltigkeit von Positionen und Anordnungen einsichtig werden. Während aufgerichtete und gestapelte Objekte den Einsatz von Kraft und ein Ausbalancieren gegen das Wirken der Schwerkraft erlebbar machen, bieten (Feld-)Auslegungen durch Bodenbindung und Flächenbezug einen Überblick. Beide Möglichkeiten  – das Neben- wie das Aufeinander  – stellen Beziehungen zwischen Dingen untereinander wie zu ihrem Umraum her. So können Gegensätze bzw. Übergänge aller Art markiert werden: Tragen und Lasten, Hängen und Stehen, Leichtigkeit und Schwere, Enge und Weite, Fülle und Leere, außen und innen, unten und oben. Beispiele: zwei oder mehrere Materialien beziehungsreich zueinander positionieren/gleiche, ähnliche und verschiedene Dinge stapeln oder auslegen/Dinge auf ungewöhnliche Weise im Raum positionieren/Anordnungen von Dingen im Innern von Behältnissen sichtbar machen/mit Feldauslegungen Sinnzusammenhänge andeuten/Räume durch das Einstellen, Verstreuen, Aufhängen oder Umorganisieren von Dingen, Stoffen und Materialien verändern/Zwischenräume besetzen/…

4. Inszenierte Materialität kann irritieren und Imagination als Handlungsimpuls freisetzen. Durch Freistellung aus ihrem gewohnten Kontext fordern Teile von Dingen, Materialfragmente oder verschiedene Stofflichkeiten zum Ergänzen, Umbilden oder Kombinieren heraus. Einzelobjekte lassen sich bildhaft auf der Fläche oder als Assemblagen in den Raum hinein erweitern. Das Zusammentreffen zweier oder mehrerer Dinge ohne offensichtliche Beziehungen regt das Vorstellungsvermögen an, neue Verbindungen zu schaffen. Auch Kombinationen eines Materials mit ungewöhnlichem Werkzeug (Mehl und Klebeband, Blech und Nähgarn) können über direkte Handhabungen sinngenerierende Formbildungen auslösen. Beispiele: Fragmente isoliert auf freiem Grund präsentieren/den Werdegang eines Objekts bildhaft, installativ oder performativ rekonstruieren/Materialien in ungewöhnliche Beziehungen zueinander bringen/Stoffe wie Sand, Sägespäne oder Linsen ausstreuen/irritierende Material- und Werkzeugkombinationen bereitlegen/Kleidung als Hinweis auf menschliche Eingriffe inszenieren/Hüllenformen von Dingen herstellen/…

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Abb. 7: Beispiele für inszenierte Materialität

5. Inszenierte Materialität kann Übergänge zum Immateriellen und zur Medialität markieren und produktiv machen. Dinghafte Materialität lässt sich durch Projektionen und abbildende Verfahren des Kopierens, Scannens, Fotografierens oder Filmens so inszenieren, dass Differenzen zwischen Körperlichkeit und Flächigkeit, Materialität und Immaterialität, zwischen anschaulichen und haptischen Qualitäten sowie materialen und medialen Eigenschaften in den Blick rücken. Vergrößerungen, Verzerrungen und Vervielfältigungen zweidimensionaler Flächenformen verweisen auf mehrdimensionale Annäherungen an Körperhaftes und Stoffliches und zeigen überraschende Korrespondenzen. Um Übergänge zwischen Sein und Schein zu markieren sind Materialien geeignet, die sich durch Transparenz oder Reflexionen optisch unkenntlich machen. Projektionen verweisen auf Differenzen zwischen Körper- und Bildlichkeit. Insbesondere der Wechsel von der Körper- oder Raumgestalt in diverse Arten zweidimensionaler Bildlichkeit oder in das Atmosphärische, das Gernot Böhme in den Kontext ästhetischer

Materialität inszenieren

Erfahrungsbildung gerückt hat41, bietet die Chance, sich der Besonderheit medialer Strategien, ihrer Qualitäten und Ausdruckwerte, zu vergewissern und das »Dazwischen« als Handlungsfeld zu aktivieren. Beispiele: Schattenprojektionen von körperhaften oder halbtransparenten Objekte erzeugen/Drahtgebilde mit Projektionen ihrer selbst überblenden/Projektionen von körperhaften Dingen in Bewegung versetzen/Dinghaftes mit Spiegeln erkunden/Objekte flächig zusammenpressen/Ungewöhnliche Bild-Objekt-Konstellationen präsentieren/Dinge als Grund für Projektionen nutzen …

F a zit und A usblick In Zeiten nicht nur des Verschwindens der Dinge, sondern ihrer digitalen Produzierbarkeit gibt es gute Gründe, den herausfordernden Umgang mit stofflicher Materialität in künstlerischen Lehr-/Lernprozessen ernst zu nehmen und jenseits einer bloßen »Handwerklichkeit« zu kultivieren. Das anregende Inszenieren von Materialität und die Kompetenz der Lehrenden, im Sinn ästhetischer Erfahrungsbildung zwischen dem Material und den kindlichen Akteuren zu vermitteln, sind zwei einander bedingende Voraussetzungen, dem Desiderat in der Grundschule zu begegnen.42 Wollen sie Prozesse individuellen Gestaltens über unmittelbare Erfahrungen anbahnen, werden Lehrende immer beides berücksichtigen müssen: das Antizipieren einer Handlung oder Aktivität am Material wie das Freistellen derselben im Rahmen künstlerischer Denk- und Handlungsfelder. Zugänge jenseits routinierter und ergebnisorientierter Verwendungspraktiken zu öffnen, verlangt nach einem beziehungsreichen Spiel des Offenlegens und Verbergens, um am scheinbar Selbstverständlichen, Banalen oder schlichtweg Übersehenen etwas zum Erscheinen zu bringen, das als Sinn generierendes Potenzial für den Einzelnen wirksam und in Gestaltungsprozessen transformierbar wird. 41 | Vgl. Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik und allgemeine Wahrnehmungslehre, Paderborn: Fink 2001. 42 | Neben der Beziehung des Kindes zum Material wären – darauf verweisen die Kategorien vier und fünf – auch Beziehungen zwischen den Dingen untereinander ein lohnendes Thema kunstpädagogischen Forschens und Nachdenkens, nicht nur weil zunehmend mehr Werke aktueller Kunst auf ein beziehungsreiches Zusammenspiel einzelner Materialitäten setzen. Materialinteraktion, Materialtransfer und Materialinterferenz sind drei von Thomas Strässle in Anlehnung an die Intermedialitätsforschung genannte Modi, mit denen sich der Bereich der Intermaterialität auch kunstpädagogisch ausleuchten ließe. Vgl. T. Strässle/C. Kleinschmidt/J. Mohs (Hg.): Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten, S. 14–15.

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Das Inszenieren von Materialität ist damit zugleich eine Strategie, um den Dualismus von Stoff und Form, von passiver Materie und aktiver Umbildung, auch im schulischen Kunstunterricht zu unterwandern. Handlungen, die nach den Vorstellungen von Merleau-Ponty aus den Dingen hervorgehenden, sowie die von Aristoteles bescheinigte »empirische[n] Aufwertung der Materialität zur ›Kraft‹ (dynamis), zur ›Gabe‹«43 machen Mut, etwas an die Materialien abzugeben, ihnen eine aktivere Rolle im kunstpädagogischen Denken und Handeln zuzubilligen. Mit den Mitteln der Inszenierung wäre das, was nach Mersch auf der Ebene der Materialität ›Aus-sich-heraustritt‹, als das Wirkende, Sich-Ereignende zu markieren.44 In diese Richtung weisen auch die bereits angeführten Positionen von Vertreterinnen und Vertretern des New Materialism, indem sie Materie als aktives Prinzip begreifen, das die Erforschung, den Einsatz und Gebrauch der Dinge wesentlich mitprägt. KünstlerInnen wie M. Abakanowicz würden vermutlich zustimmen, wenn Materie »als selbstorganisierend und emergent« beschrieben wird, »als ein dynamisches Spiel der (Un)bestimmtheit«, als »aktives Prinzip mit intrinsischer Vitalität«.45 Verstanden als eine »Verdichtung der Fähigkeit zu reagieren, zu antworten«46, wie es die amerikanische Philosophin und Wissenschaftsforscherin Karen Barad formuliert, kann Materie über erhellende oder irritierende Inszenierungen ihrer Materialität genau dieses Potenzial in der künstlerischen Lehre entfalten.

L iter atur Abakanowicz, Magdalena: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 25, München: WB Verlag 1994. Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik und allgemeine Wahrnehmungslehre, Paderborn: Fink 2001. Böhme, Katja: »Kunstdidaktische Installationen. Erfahrungsräume zwischen Kunst und Didaktik«, in: Birgit Engel/Katja Böhme (Hg.), Kunst und Di43 | D. Mersch: Erscheinung des ›Un-Scheinbaren‹, S. 33. 44 | D. Mersch: Was sich zeigt, S. 132–133. 45 | Susanne Witzgall hat diese und andere Beschreibungen in ihrer Einführung unter dem Titel ›Eine neue Ontologie‹ zusammengefasst. Mit Bezug auf Diana Coole und Manuel DeLanda fährt sie fort: »Grundlegend hierfür ist das […] neue Verständnis der Materie, die nicht mehr als etwas Solides und Passives angesehen wird, das auf die gestaltende Kraft der Form oder den belebenden Funken der Idee, des Geistes […] wartet, sondern intrinsische selbst-transformative Potentiale besitzt und sich in ständiger Metamorphose und Morphogenese befindet.« S. Witzgall/K. Stakemeier: Macht des Materials/Politik der Materialität, S. 14. 46 | Ebd., S. 15.

Materialität inszenieren

daktik in Bewegung. Kunstdidaktische Installationen als Professionalisierungsimpuls (= Didaktische Logiken des Unbestimmten, Band I), München: kopaed 2014, S. 34–59. Buether, Axel: Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz. Neurobiologische Grundlagen für die methodische Förderung der anschaulichen Wahrnehmung, Vorstellung und Darstellung im Gestaltungs- und Kommunikationsprozess (= Schriftenreihe Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle, Band 23), Halle 2010. Engel, Birgit/Böhme, Katja (Hg.): Didaktische Logiken des Unbestimmten. Immanente Qualitäten in erfahrungsoffenen Bildungsprozessen (= Didaktische Logiken des Unbestimmten, Band II), München: kopaed 2015. Heibach, Christiane/Rhode, Carsten: »Material turn?«, in: Christiane Heibach (Hg.), Ästhetik der Materialität (Vol. 6). Paderborn: Fink 2015, S. 9–30. Huber, Hans Dieter: »Das Gedächtnis der Hand«, in: Johannes Kirschenmann et al. (Hg.), Kunstpädagogik im Projekt der allgemeinen Bildung, München: kopaed 2006, S. 39–51. Kathke, Petra/Peez, Georg: Ästhetische Bildung: Kunst. Materialien für Klasse 1–4, GSV Pädagogische Leistungskultur Band 124, Heft 4, GSV 2008. Kathke, Petra: Sinn und Eigensinn des Materials. Projekte, Anregungen, Aktionen, 2 Bde., Neuwied: Luchterhand 2001. Dies.: »Die Komplexität des Elementaren. Ästhetische Alphabetisierung und kunstpädagogische Lehre«, in: Zeitschrift für Ästhetische Bildung 6, Nr. 2 (2014), (www.zaeb.net/). Dies.: »Material-Inszenierungen als Impuls zur Bricolage. Der Beginn ist die Hälfte des Ganzen«, in: Die Grundschulzeitschrift, Nr. 202 (2007), S. 10–16. Dies.: »Mit den Augen den Händen folgen, die dem Verstand vorauseilen  … Haptisch-visuelle Erfahrungen und raumbezogenes Gestalten«, in: Kunst + Unterricht 381/382 (2014), S. 88–92. Dies.: »Opening Space for Opportunities. Staging Materials as an Art Education Intervention«, in: Georg Peez (Hg.), Art Education in Germany, Münster: Waxmann 2015, S. 29–34. Dies.: »Spielräume materieller Inszenierung im Handlungsfeld künstlerischer Lehre«, in: Zeitschrift für Ästhetische Bildung 1, Nr. 1 (2009), (www.zaeb. net/). Dies.: »Verwandlung durch Feuer. Vorschläge für den Kunstunterricht«, in: PÄD Forum Nr. 4 (2008), S. 210–214. Köhler, Sigrid G.: »Intermaterialität als Programm. Zu einer Kultursemiotik der produktiven Materie«, in: Thomas Strässle/Christoph Kleinschmidt/ Johanne Mohs (Hg.), Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten, S. 43–67.

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Lam, Max: »Ich habe meine Hände buchstäblich in die Materialien gesteckt«, in: T. Strässle/C. Kleinschmidt/J. Mohs (Hg.), Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten, S. 75–98. Merleau-Ponty, Maurice: »Auge und Geist«, in: Ders., Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg: Meiner 2003 (Originalausgabe: L’Œeil et l’Esprit, Paris: Gallimard 1964). Mersch, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München: Fink 2002. Ders.: »Erscheinung des ›Un-Scheinbaren‹. Überlegungen zu einer Ästhetik der Materialität«, in: T. Strässle/C. Kleinschmidt/J. Mohs (Hg.), Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten, S. 27–44. Mohs, Johanne: »Materialgerechte Medialität«, in: T. Strässle/C. Kleinschmidt/J. Mohs (Hg.), Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten, S. 239– 261. Pöppel, Ernst: »Drei Welten des Wissens – Koordinaten einer Wissenswelt«, in: Christa Maar/Hans Ulrich Obrist/Ernst Pöppel (Hg.), Weltwissen  – Wissenswelt. Das globale Netz von Text und Bild, Köln: DuMont 2000, S. 21–39. Strässle, Thomas/Kleinschmidt, Christoph/Mohs, Johanne (Hg.): Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten. Theorien/Praktiken/Perspektiven, Bielefeld: transcript 2013. Tàpies, Antoni: Die Praxis der Kunst, St. Gallen: Erker 1976. de Vries, Kirsten: Im Dialog mit dem Material. Dialogische Gestaltung als künstlerische Haltung, Norderstedt: Books on Demand 2011. Wagner, Monika/Rübel, Dietmar (Hg.): Material in Kunst und Alltag, Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte, Berlin: Akademie Verlag 2000. Wagner, Monika: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München: C. H. Beck 2001. Wagner, Monika: »Material«, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in 7 Bänden, Stuttgart-Weimar: J. B. Metzler 2000-05, Bd. 3, S. 866–882. Witzgall, Susanne/Stakemeier, Kerstin (Hg.): Macht des Materials/Politik der Materialität 1. Aufl. ed., Zürich (u. a.): Diaphanes 2014.

A bbildungen Abb. 1: Joseph Kosuth, One and three chairs, 1965. https://www.moma.org/col​ lections/works/81435 vom 15.12.2016. Abb. 2: Magdalena Abakanowicz, Backs, 1976/82, Gruppe von 30 Skulpturen, Sackleinen und Harz. In: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 25, München: WB Verlag 1994, S. 5, Abb. 5.

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Die folgenden Abbildungen stammen aus dem Bildarchiv der Verfasserin: Abb. 3: Hände folgen dem Aufforderungscharakter des Materials. Abb. 4: Mit flüssiger Farbe die Eigenschaften des Materials und das Wirken von Kräften bildnerisch erkunden. Abb. 5: Das Fließen des Wassers in der eigenen Erfahrung verankern und bildhaft kontextualisieren. Abb. 6.: Das Fließen bildhaft in andere Zusammenhänge bringen. Abb. 7: Beispiele für inszenierte Materialität.

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Material und Prozess Künstlerische und kunstpädagogische Notizen Sara Hornäk

M aterial und S pr ache »Materialien, die eine eigene Sprache sprechen, werden von mir grundsätzlich nicht benutzt. Deshalb suche ich mir ›ungehobeltes, dummes Material‹, das keine Fragen aufwirft.«1 Georg Herold beschreibt mit diesem Zitat als Bildhauer die Auswahl seiner scheinbar unvorbelasteten Materialien wie Teppiche, Klebeband, Dachlatten oder Ziegelsteine. Da diese aus dem Kontext des Baumarktes stammen, sind sie seines Erachtens frei von künstlerischen oder kunsthistorischen Konnotationen. Ob sich Materialien in der gegenwärtigen Kunst jedoch in klassische Materialien der Kunst wie Ton, Bronze, Holz oder Stein und »sprachlose« Alltagsmaterialien unterscheiden lassen, wird in diesem Beitrag untersucht. Dabei soll gezeigt werden, dass die Unterscheidung in »künstlerische« und »alltägliche« Materialien mit Blick auf den prozessorientierten Umgang mit Material in der Kunst der letzten Jahrzehnte obsolet ist. Ebenso wichtig wie die Geste, ein spezielles Material auszuwählen, ist die Art und Weise, wie mit diesem Material umgegangen wird. Ob wir Penatencreme streichen, Holz behauen, mit Ton modellieren oder mit Fahrradschläuchen weben – der eigene experimentelle Umgang mit Material erschafft künstlerische Inhalte und Formen zugleich, die ich hier darstellen und erörtern möchte. Dazu werden nach einem kurzen Blick auf die Veränderung des Materialbegriffs in der Kunst drei künstlerische Positionen vorgestellt, die unter1 | www.museum-brandhorst.de/de/ausstellungen/georg-herold-multiple-choice. html vom 30.08.2016. Ganz ähnlich formuliert Hartmut Böhm in einem im Rahmen der Ausstellung »Raw Materials« geführten Künstlergespräche: »Ich habe mich in den Baumarkt begeben in der Hoffnung, unbelastetes Material vorzufinden.« Amelie Deiss/ Rasmus Kleine: »Interviews. Hartmut Böhm«, in: Amelie Deiss/Tobias Hoffmann (Hg.): Raw Materials: Vom Baumarkt ins Museum, Berlin: Kerber 2012, S. 99–102, hier S. 99.

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schiedliche Weisen, im Material zu denken und zu handeln, verdeutlichen. Allen dreien ist ein Gebrauch von Material gemeinsam, der dieses nicht einer Form oder einem Inhalt unterordnet, sondern es als eigene ästhetische Kategorie begreift, aus der heraus künstlerische Prozesse entstehen. Anhand eines Lehrprojektes an der Universität Paderborn werde ich im Anschluss beschreiben, welche Materialien Studierende des Faches Kunst unter der Thematik »Raw Materials – Material und Prozess«2 für sich entdeckt haben, wie sie diese auf vielfältige Weise untersucht und auf dieser Basis eigene künstlerischen Problemstellungen aufgeworfen haben. Von besonderem Interesse ist dabei die skulpturale Handlung. Die künstlerische Herausforderung besteht nicht nur darin, neue Materialien zu erschließen, sondern vor allem auch in der Entwicklung eines handelnden Umgangs mit neuartigem Material und dem Erfinden künstlerischer Prozesse. Aus künstlerischer, kunstwissenschaftlicher und kunstpädagogischer Perspektive wird dazu untersucht werden, welche Impulse gesetzt werden können, um Materialprozesse zu initiieren und zu Forschung am und mit Material anzuregen. Dies bildet eine zentrale Grundlage künstlerischen Schaffens und besitzt damit zugleich eine kunstpädagogische Relevanz. In der Skulptur spielen handwerkliche Vorgehensweisen wie abtragende Verfahren, Modellier- oder Gusstechniken seit Jahrtausenden eine zentrale Rolle. Künstlerische Techniken prägen die Skulptur besonders stark. Daraus resultieren vielfältige Künstlertheorien, die sich mit dem Wert des Könnens, d. h. den zur Bearbeitung von Stein, Holz oder Bronze erforderlichen Fertigkeiten auseinandersetzen. Welche vorher nie dagewesenen Praxen aber existieren, um Fahrradschläuche zu verbinden, aus Eierkartons neue Formen zu erschaffen oder um aus Papiertaschentüchern raumgreifende Installationen zu bauen? Mit dem Wandel der künstlerischen Materialien weg vom »Wertvollen«, Festen und Stabilen hin zu kurzlebigen, weichen, verformbaren oder auch ephemeren und flüchtigen Materialien kommt dem Prozessualen eine neue Rolle zu. Materialität und Prozess hängen eng zusammen, wenn ein Zeitaspekt und Bewegung ins Werk einziehen, formauflösend wirken, dem Veränderlichen Raum geben und plastische Strukturen das Skulpturale ergänzen.3 2 | Der Titel der Lehrveranstaltung nimmt Bezug zur oben genannten Ausstellung »Raw Materials – Vom Baumarkt ins Museum« im Museum für Konkrete Kunst in Ingolstadt 2012. 3 | Dietmar Rübel widmet sich in seinem in diesem Zusammenhang wichtigen Werk »Plastizität. Eine Kunstgeschichte des Veränderlichen« künstlerischen Prozessen zu, die mit einer veränderten Auffassung von Materialität einhergehen. »Unter dem Schlagwort Plastizität werden Phänomene des Veränderlichen untersucht, die die moderne Kunst auf ihrem Weg vom Ewigen zum Flüchtigen hervorgebracht hat und die damit in der Geschichte der Plastik neuartig waren. Es handelt sich um eine Plastizität, die zu

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Schon im frühen 20. Jahrhundert lässt sich eine starke Erweiterung des Spektrums der in der Bildhauerei verwendeten Stoffe beobachten. Damit einher geht eine Reflexion dieser Veränderungen, die zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen kann. Naum Gabo beispielsweise entdeckt transparente oder leichte Materialien für sich und löst damit das Volumen und die Masse auf, die die Bildhauerei lange bestimmt haben. Für ihn wird die »Entwicklung einer Plastik […] durch ihr Material bestimmt. Das Material bildet die emotionale Grundlage einer Plastik, es gibt ihr den Grundakzent und bestimmt die Grenzen ihrer ästhetischen Wirkung.«4 Dagegen formuliert ein Künstler wie Kurt Schwitters: »Das Material ist so unwesentlich, wie ich selbst. Weil das Material unwesentlich ist, nehme ich jedes beliebige Material […].«5 Indem er dem Material jeden Gehalt abspricht und die Materialmöglichkeiten so ins Beliebige erweitert, wendet er sich gegen aus seiner Sicht überkommene Bedeutungszuschreibungen der bis dahin gebräuchlichen Stoffe. Zeitlich etwas verzögert konzentriert sich auch die Kunstgeschichtsschreibung seit einigen Jahrzehnten auf die Veränderungen von Bedeutungszuschreibungen und untersucht, zu welcher Zeit sich welche Materialien antreffen lassen und welche Gründe zu diesen Entwicklungen geführt haben. Sie nimmt sich der Frage nach Bedeutung und Wirkung, d. h. nach der Ikonographie von Material und der Geschichte des Materials in historischen Zusammenhängen an.6 »Macht es einen Unterschied, ob ein Künstler mit Gold oder Marmor, Holz Metamorphosen fähig ist. Jahrhundertelang hatten besonders wertvolle Materialien sowie Unveränderlichkeit, Stabilität und Dignität garantierende Stoffe die Materialhierarchien in Europa angeführt und soziales Prestige ausgewiesen.« Dietmar Rübel: Plastizität. Eine Kunstgeschichte des Veränderlichen, München: Verlag Silke Schreiber 2012, S. 8. 4 | Naum Gabo: »Plastik: Bildnerei und Konstruktion im Raum«, in: Circle (1937), Nachdruck in: Herbert Read/Leslie Martin (Einführungen), Naum Gabo: Bauten, Skulptur, Malerei, Zeichnungen, Grafik, Neuchâtel: Editions du Griffon 1961, S. 173. 5 | Kurt Schwitters, »Der Ararat«, 1921, zit. n. Eduard Trier, Bildhauertheorien im 20. Jahrhundert, Berlin: Gebr. Mann 1992, S. 57. 6 | In der Kunstgeschichte ist hier vor allem Monika Wagner zu nennen, die schon in den 1980er Jahren mit ihren materialikonographischen Studien wegweisende Arbeit geleistet, die kunsthistorischen Analysemethoden um einen wichtigen Aspekt bereichert und verändert hat: »Ohne eine Materialangabe lässt sich auf einem Foto nicht erkennen, ob es sich um eine Venusstatue aus persischem Marmor, Gips, Zement oder Styropor handelt. Für die Anmutungsqualität wie für die ästhetische Wertschätzung ist der Unterschied jedoch keineswegs belanglos, und zwar weniger deshalb, weil ein Zentner Zement billiger ist als ein Zentner Marmor, sondern weil sich bestimmte kulturelle Traditionen an den Marmor oder den Zement aufgrund der jeweiligen Verwendungsgeschichte angelagert haben. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat sich die Materialverwendung

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oder Bronze, Fett, Filz oder Kunststoff arbeitet – und wenn ja, welchen? Transportiert Beton eine andere Botschaft als Wachs? Ist das Material nur Träger der Idee, oder hat es Anteil an der Bedeutung eines Kunstwerks?«7 sind zentrale Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen. Dabei untersucht die historisch orientierte Materialikonographie, auf welche Weise bestimmte Materialien in bestimmten Zeiten ideologisiert werden oder als Gegenkonzept zu herrschenden Strömungen dienen. Monika Wagner und Dietmar Rübel haben beispielsweise herausgearbeitet, welche Vorstellungen dem Umgang mit Naturstoffen oder industriellen Materialien zugrunde liegen. Sie analysieren in diesem Zusammenhang detailliert, welche Materialien in der Kunst der letzten Jahrzehnte zum Einsatz kommen und stellen unter anderem dar, wie sich in der Land Art oder teilweise auch in der Arte Povera in den späten sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts verstärkt Naturmaterialien vorfinden lassen, und auf welche Art mit den verwendeten natürlichen, oder mit anderen »einfachen« oder »armen« Materialien Gegenentwürfe zur technisierten und industrialisierten Welt entwickelt wurden.8 Neben der Frage, wann verstärkt Naturstoffe anzutreffen sind oder wo und warum industrielle Materialien zum Einsatz kommen, untersucht die Materialforschung beispielsweise, aus welchem Grund Kunststoffe an Bedeutung gewinnen oder wer seinen Blick auf welche Weise auf Alltägliches, also auf nicht aus dem bisherigen Kunstkontext entstammende Werkstoffe richtet.

S chnüre , S trumpfhosen , D achl at ten . M aterialität in der K unst der G egenwart Ich werde in diesem Beitrag drei skulpturale Werke betrachten, anhand derer die veränderte Materialität sowie der veränderte Umgang mit Materialität und die damit einhergehende Prozessorientierung in der zeitgenössischen Kunst sehr deutlich werden. Folgende Materialaspekte möchte ich dabei thematisiein den Bildkünsten gegenüber vorausgehenden Jahrhunderten, in denen ›ewige‹ Materialien wie Bronze, Stein oder auch Holz dominierten und die Malerei vornehmlich in Öl oder Tempera betrieben wurde, so grundlegend verändert, dass sich die Einbeziehung des Materials in die kunstgeschichtliche Analyse geradezu aufdrängte.« Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München: Beck 2001, S. 11. 7 | Monika Wagner: »Vorwort«, in: Dies. u. a. (Hg.), Lexikon des künstlerischen Materials: Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn. München: Beck 2010, S. 2. 8 | Vgl. Dietmar Rübel/Monika Wagner/Vera Wolff: »Natur als Material«, in: Dies. (Hg.), Materialästhetik: Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur, Berlin: Reimer 2005, S. 16.

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ren: die Erweiterung des Materialkanons um industrielle Materialien in den späten 1960er Jahren bei Eva Hesse, die Arbeiten mit textilem Material und Kleidungsstücken im Werk von Ulrike Kessl, in denen Material und Objekt eine spezifische Verbindung eingehen, und die Hinwendung zu Bau- und Alltagsmaterialien im Werk von Björn Dahlem.

S chnüre und L ate x Während das Materialspektrum heute so stark erweitert ist, dass praktisch alles zum bildhauerischen Material werden kann, Baumarktmaterialien, Alltägliches, aber auch Immaterielles wie Klänge oder Gerüche, stellt es in den 1960er Jahren noch eine wesentliche Erweiterung des künstlerischen Materialspektrums dar, wenn eine Künstlerin wie Eva Hesse beginnt, mit kunstfremden, aus industriellen Zusammenhängen stammenden Materialien wie Fiberglas, Latex, Gummi und Kunststoffen zu experimentieren und diese mit Seilen, Schnüren, Schläuchen, Draht zu kombinieren. Abb. 1: Eva Hesse, Untitled (»LeWitt Glass Case«), 1967–68

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In der Arbeit Untitled (»LeWitt Glass Case«) aus dem Jahr 1967–68 stellt Eva Hesse eine Glasvitrine aus, die mit sechs verschiedenen durch Gummischläuche, Draht oder Gips verbundenen Latexgüssen und latexüberzogenen Materialfragmenten bestückt ist. Eva Hesse arbeitet in diesen Materialstudien, in denen sie die die Materialien faltet und verklebt, ineinandersteckt oder ausgießt wie in vielen ihrer ungegenständlichen Plastiken mit einer Reihe von Materialgegensätzen: hart und weich, innen und außen, rau und glatt, transparent und blickdicht, glänzend und matt. Es ist sehr deutlich zu erkennen, dass nicht eine Form gestaltet wird, sondern der experimentelle Umgang mit dem Material neue Formen erzeugt. Dadurch wird nicht nur eine hierarchische Struktur, nach der die Form dem Material übergeordnet ist, sondern auch das dieser Struktur zugrunde liegende dualistische Verständnis von Material und Form überwunden. In radikaler Abkehr von einer europäischen Kunsttradition erscheint Form hier zugleich als Antiform im Sinne des nicht explizit Geformten, sondern aus dem Handlungsprozess Erwachsenen. Die Vitrine verdeutlicht dabei ihre prozessorientierte Arbeit an Variationen, Teststücken, Modellen und kleineren Arbeiten, die wie Forschungsobjekte nebeneinander und übereinander angeordnet präsentiert werden. Momentaufnahmen des künstlerischen Schaffensprozesses werden dabei zu Ausstellungexponaten. Die Idee der Präsentation konzipiert Hesse gemeinsam mit Sol LeWitt, der die kleinen Objekte als Geschenk erhalten hatte. Durch ihre Anordnung in dieser und weiteren Vitrinen, die in verschiedenen Versionen um 1968 entstehen, erlangen die versammelten Studien einen Werkcharakter, der sie aus dem Zustand des Unfertigen und aus der Banalität des vorgefundenen Materials erhebt und den künstlerischen Forschungsprozess zugleich als Ergebnis präsentiert. »Mir erscheint der Prozess einfach notwendig, um dorthin zu gelangen, wo ich hin wollte. […] Ich möchte, dass etwas direkt im Moment der Herstellung aus dem Material heraus entsteht. In diesem Sinne interessiert mich der Prozess.«9 Das künstlerische Werk von Hesse zeigt eine erweiterte und experimentelle Handhabung von Material, die in ihrer Prozessorientierung beispielhaft für viele künstlerische Positionen von den späten 1960er Jahren an ist. Ihr Blick auf das Material fokussiert dessen Eigenproduktivität. Es wird nicht länger in eine Form gepresst, sondern beginnt selbst Form anzunehmen, etwas zum Ausdruck zu bringen und in seiner Plastizität künstlerische Prozesse zu eröffnen.

9 | Cindy Nemser: »Ein Interview mit Eva Hesse«, in: Volker Rattelmeyer/Renate Petzinger (Hg.), Eva Hesse. Museum Wiesbaden 2002, S. 249–264, hier S. 259 f.

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R öcke und S trumpfhosen Auch Ulrike Kessl verwendet in ihren Skulpturen keine traditionellen plastischen Werkstoffe. Der Einbezug von Alltagsmaterialien und die Umdeutung von Funktionen zeichnet das Werk der Bildhauerin aus. So umspannt sie beispielsweise Gebäude mit farbigen Strumpfhosen oder stapelt Röcke zu Säulen. Dabei arbeitet Ulrike Kessl meist mit textilen Materialien, die durch ihre jeweiligen Materialqualitäten, wie beispielsweise die Dehnbarkeit und Elastizität von Strumpfhosen, die Volumina einschließenden Faltenwürfe von Röcken oder die Struktur bunt gemusterter Bettbezüge ausgezeichnet sind. Mit dem Einsatz dieser besonderen Qualitäten bespielt sie Ausstellungsräume auf verschiedene Art und Weise. Dadurch dass es sich um Kleidungsstücke oder Gebrauchsgegenstände handelt, beinhalten die Objekte ein menschliches Maß, das nun ins Verhältnis zur Raumproportion gesetzt wird. Das Material behält auf der einen Seite seine Gebrauchskonnotationen, es zeigt sich aber zugleich in seiner Plastizität, wenn sich Formen, Farben und andere Materialqualitäten zu eigenen Gestaltungsmitteln verselbständigen. Aus dem flächigen Stoff entstehen in den Werken von Ulrike Kessl durch Verspannung, Hängung oder Füllung Volumina. Dabei werden die textilen Materialien von ihrem Zweck, einen Körper zu umhüllen, ihn zu schützen oder zu schmücken, losgelöst, und in neue körper- und raumbezogene Formationen überführt.

Abb. 2: Ulrike Kessl, Rocksäulen, 2003

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In ihrem Werk Rocksäulen (2003) bilden übereinander gehängte farbige Röcke drei im Raum installierte Säulen. Die Säulen haben keinen Bodenkontakt. Die Falten der Röcke erzeugen auch hier eine Plastizität, die das Volumen des inneren Luftraumes umschreibt. Gemeinsam ist den Werken, dass ihr Material – sei es der Rock, die Strumpfhose oder die neongelbe Schutzweste – als Impuls dient, Erzählräume zu eröffnen. Dennoch beharren die Kleidungsstücke auf der Autonomie ihrer Form, ihrer Materialität und ihrem Objektcharakter und changieren so zwischen Abstraktion und Narration.

D achl at ten und N eonl ampen Dachlatten und Neonlampen dienen Björn Dahlem dazu, raumgreifende Skulpturen zu konstruieren. Abb. 3: Björn Dahlem, The Milky Way, 2007

In seinem Werk The Milky Way (2007) setzt er einen geometrischen Körper aus Drei-, Vier- und Fünfecken zusammen, der sich über einen ganzen Raum erstreckt. Björn Dahlem erschafft seine Skulptur, indem er ein schlichtes Gerüst aus Latten baut und die daran befestigte Beleuchtung aus Neonröhren zum formgebenden Material macht. Linien aus Licht werden zu Flächen aneinandergesetzt und diese wiederum erzeugen in ihrer Verbindung einen fragil und leicht wirkenden plastischen Hohlkörper. Er verweist auf die interstellare Formation der spiralförmig angeordneten Galaxie der Milchstraße, die aus Milliarden

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von Sternen besteht und nachts als langgezogene Aufhellung am Himmel erscheint. Der geometrische Körper, in dem einzelne Punkte miteinander verbunden werden, dreht sich in den Raum hinein. In den Werken des Bildhauers Björn Dahlem werden mit geringem Materialeinsatz einfacher Baumarktstoffe und Rohmaterialien, mit Fundstücken oder Alltagsmaterialien großformatige Gebilde erschaffen, die an popkulturelle Motive von Science-Fiction, an die Faszination unendlicher Weiten, die Belebung ferner Galaxien oder die Faszination von schwarzen Löchern und anderer astrophysikalischer Fragestellungen anknüpfen. Björn Dahlem erschafft Bilder analog zu naturwissenschaftlichen Darstellungen, die allerdings eher fiktiven Konstruktionen oder plastischen Annäherungen an komplexe astronomische Phänomene als wirklichkeitsgetreuen Nachbildungen entsprechen. Licht kommt als bildhauerisches Material zum Einsatz und lässt Materielles und Immaterielles zusammenspielen, wobei die Lampen und Neonröhren gerade mit einer Banalisierung der an sich nur sehr schwer fassbaren und sich teilweise unserer Wahrnehmung entziehenden kosmologischen Phänomene spielen.10

E ierk artons verkleben , F ahrr adschl äuche weben , Papiertaschentücher auffädeln . M aterialprozesse ent wickeln Aus den beschriebenen Erweiterungen des Materialspektrums und aus dem seit längerer Zeit bei vielen Bildhauerinnen und Bildhauern zu beobachtenden Phänomen, »Baumarktmaterialien« resultiert das Seminarthema Raw Materials  – Material und Prozess. Die Studierenden beschäftigen sich dabei ergänzend zu ihrer eigenen künstlerischen Arbeit mit einer Reihe skulpturaler Positionen, die Ihnen verdeutlichen, auf welch vielfältige Weise in der zeitgenössischen Kunst Materialstudien betrieben werden, wie experimentelle Ansätze mit Material aussehen können, welche Möglichkeiten des Einbezugs von Alltagsmaterialien existieren, welche Setzungen der Auswahl einer bestimmten Materialität innewohnen und wie durch Umdeutungen, durch Untersuchung charakteristischer Materialqualitäten sowie durch die Arbeit mit Materialgegensätzen künstlerische Fragestellungen aufgeworfen werden. Der Fokus der eigenen Arbeit der Studierenden liegt auf einer von den Werkstoffen ausgehenden Prozessorientierung im künstlerischen Schaffen sowie auf der Auswahl eines Materials, das Erzähl- und Assoziationsräume eröffnen kann. 10 | Vgl. Björn Dahlem/Anne Ellgood: Die Theorie des Himmels, Berlin: Distanz Verlag 2010; Hilke Wagner/Nina Mende/Björn Dahlem (Hg.): Björn Dahlem. The End of It All. Bönen: Kettler Verlag 2013.

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Die im Seminar vorgestellten künstlerischen Positionen werden so ausgewählt und eingebracht, dass sie als Impulsgeber dienen, den Blick für die Vielfalt des Materials bis hin zu immateriellen oder ephemeren Phänomenen und vor allem für Möglichkeiten eines neuartigen Materialumgangs zu öffnen. Inwiefern die Erweiterung des Kunstbegriffs und Erweiterungen der Handlungsweisen mit den in der Skulptur verwendeten Materialien zusammenhängen, bildet dabei das Zentrum unseres Interesses. Die Beispiele sollen über die vielfältigen eigenen Ansätze der Studierenden hinaus einen Blick auf die sich entgrenzende Gattung der Skulptur ermöglichen und zeigen, dass wir in einer materialgebundenen Welt leben, die eine Vielzahl künstlerischer Anknüpfungsmöglichkeiten bietet. Sie eröffnen damit zur eigenen künstlerischen Tätigkeit hinzukommend zugleich den Einstieg in einen Diskurs über eine materialgebundene Kunstgeschichte und in aktuelle kulturwissenschaftliche und philosophische Materialdiskurse. Innerhalb des genannten Seminares untersuchen die Studierenden, wie künstlerisches Handeln durch die Auseinandersetzung mit spezifischer Materialität angeregt wird, welche skulpturalen Handlungsformen und Prozesse existieren. Aus dem Schneiden, Stapeln, Quetschen, Abformen oder Zerknüllen von vorgefundenen sowie gesammelten Stoffen entsteht ein materialgebundener künstlerischer Schaffensprozess, der zugleich in einen Formfindungsprozess übergeht. Von kunstpädagogischer Relevanz ist dabei, welche ästhetischen Impulse die Beschäftigung mit Material auslösen kann und wie der Prozess in eine forschende Haltung übergeht, aus der heraus sich eigene künstlerische Problemstellungen entwickeln lassen. Nach der Untersuchung eines selbst entdeckten Materials besteht die Aufgabe darin, die Materialforschung als künstlerischen Schaffensprozess zu begreifen, in dem der Prozess entweder in ein Werk überführt wird oder selber Werkcharakter annimmt. Eine kleine Portion Penatencreme dient als Einstieg in die Thematik der verschiedenen Bedeutungsebenen und Qualitätsmerkmale eines Materials. Die Studierenden untersuchen diese auf olfaktorische Aspekte hin, diskutieren die plastische Qualität des Materials und betrachten im Anschluss Werke von Thomas Rentmeister, in denen der Bildhauer Kühlschränke mit Penatencreme zu kubischen Blöcken verspachtelt.11 Zum einen lernen sie an diesem Beispiel kennen, welches Spektrum an Materialien sich in der zeitgenössischen Kunst findet. Darüber hinaus verstehen sie, dass auch die plastischen Qualitäten einer cremigen Gebrauchsmasse, die hinsichtlich ihrer Struktur und Farbe Ähnlich11 | Vgl. zum Beispiel sein Werk Nearly 100 fridges in a corner (2008) (www.thomas​ rentmeister.de/de/startseite/bildarchiv-thumbnails/objekt.html?doc=125&details=​ 1&back=52 vom 16.12.2016)

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keiten zu gips- oder kunststoff haltigen Spachtelmassen aus dem Baustoff handel besitzt, die aber ursprünglich aus einem medizinischen und pflegerischen Kontext stammt, skulptural genutzt werden können. Rentmeister führt hier vor, auf welche Weise eine Transformation des Materials über die künstlerische Nutzung einer charakteristischen Materialeigenschaft geschieht: Eine Hautcreme wird in eine plastische Spachtelmasse verwandelt und trägt unter anderem durch die olfaktorische Komponente eine weitere Bedeutungsebene ins Werk. Die Studierenden erhalten für ihr Projekt zunächst den Auftrag, ein ungewöhnliches Material in ihrer Umgebung oder im Alltag zu entdecken, an dem eine bestimmte Eigenschaft das Interesse weckt, sei es die Struktur, der Geruch, die Farbe, der Fundort, die verborgene Bedeutung. Nach dieser Phase der Sensibilisierung für die Materialität der uns umgebenden Dinge gilt es, das ausgewählte Material künstlerisch zu untersuchen und zu beschreiben. »Was ist das Besondere an Ihrem Material und wie lässt es sich verwenden?« lauten die Leitfragen, die den Übergang zum handelnden Umgang mit dem Material markieren. Welche Bedeutungsebenen besitzt die jeweilige Materialität, die in die künstlerische Arbeit einfließen? Welche inhaltlichen Ebenen schwingen mit? Welche Formensprache wird ausgelöst? Welche Transformationen sind denkbar? Ergibt sich daraus eine künstlerische Idee? Lassen sich größere Mengen des Materials beschaffen? »Spätestens seit Marcel Duchamp müsste man dahintergekommen sein, dass der kreative Prozess nicht festgelegt ist, dass es kein speziell künstlerisches beziehungsweise unkünstlerisches Material gibt – weil nie das Material selbst die Kunst ist, sondern dessen Verwendung«12

Auf der Art der Verwendung des Materials liegt der eigentliche Fokus innerhalb des Lehrprojektes. So geht es auch hier, wie in diesem Zitat von Ottmar Hörl beschrieben, darum, aus dem Prozess des Experimentierens mit dem Material heraus diesem entsprechende künstlerische Verfahren zu entwickeln. Mit dem Prozess des Konstruierens, Modellierens, Abgießens, Abtragens ergeben sich zugleich eine Form und ein inhaltliches Konzept. Wichtig dabei ist vor allem zu verstehen, dass Material und Prozess einander bedingen. Die Studierenden können im eigenen künstlerischen Handeln nachvollziehen, dass ein Material kein passives Substrat ist, das mit Inhalten versehen und in eine Form gefüllt wird, sondern dass es selbst eine Wirkmacht besitzt, die es zu erkunden und zu aktivieren gilt. Anknüpfend an philosophische Konzepte im 12 | Amely Deiss/Rasmus Kleine: »Interviews. Otmar Hörl«, in: Amelie Deiss/Tobias Hoffmann (Hg.), Raw Materials: Vom Baumarkt ins Museum, Berlin: Kerber 2012, S. 112–114, hier S. 112.

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Kontext eines »Neuen Materialismus« kann so der Dualismus von Form und Materie in Frage gestellt werden. Hilfreich für die künstlerische Arbeit der Studierenden mit dem vorgefundenen Material ist ein Zitat von Robert Morris, das den Fokus auf den Umgang mit Materialien lenkt, auf den künstlerischen Schaffensprozess: »Die Konzentration auf Material und Schwerkraft als künstlerische Mittel führt zu Formen, die nicht im Voraus geplant wurden. Aspekte von Ordnung erscheinen notwendigerweise zufällig, ungenau und beiläufig. Regelloses Aufstapeln, lockeres Schichten und Hängen geben dem Material eine vorübergehende Form. Der Zufall wird angenommen, Unbestimmtheit vorausgesetzt, denn wenn etwas ausgetauscht wird, führt dies zu einer neuen Anordnung. Die Loslösung von vorab geplanten, dauerhaften Formen und Ordnungen der Dinge ist eine positive Setzung. Sie ist Teil jener Weigerung des Werks, die Form weiterhin als ein vorbestimmtes Ziel zu ästhetisieren.«13

Aus dem experimentellen Umgang mit Material heraus entwickeln die Studierenden plastische Gestaltungen. Von Bedeutung ist dabei vor allem, mit den Eigenarten und dem physikalischen Verhalten des mitgebrachten Materials zu spielen, herauszufinden, wie sich das Material verarbeiten lässt und welche Techniken ihm entsprechen könnten. Lässt es sich knicken, falten, rollen, zerschneiden, ineinanderstecken, montieren oder verschrauben? Brauchen wir Zusatzmittel und -stoffe oder gibt das Material selbst die Verbindungweisen vor? Die Studierenden werden aufgefordert, Handlungsweisen zu entwickeln und zu sammeln, die dem Material angemessen sind, sodass sich Material und Prozess aufeinander beziehen und auseinander ergeben. Bei den einen führen diese Verfahren eher zu einer Auflösung des bisherigen Materialcharakters, andere bedienen sich genau dieser Tätigkeiten, um spezifische Materialeigenschaften zu fokussieren. Nach der Anfangseuphorie für das entdeckte Material zeigt sich bei vielen der Studierenden das Problem, wie in einem zweiten Schritt aus der bloßen Materialanhäufung ein gestaltetes Form-Inhaltsgefüge, ein künstlerisches Werk entsteht. Auf welch unterschiedliche Weise dabei vorgegangen wird, werde ich an vier Beispielen zeigen. Sandra Flegler entwickelt aus einem großen Fundus von aussortierten Fahrradschläuchen zunächst ein gewebtes Feld. Die in die Schlauchformen hineingesehenen Tentakeln finden sich auch im parallel einsetzenden zeichnerischen Prozess in der Darstellung wieder, in denen Sandra Flegler das hängende Moment der Schläuche betont, die serielle Anordnung der Ventile vorführt, die 13 | Robert Morris: »Anti-Form (1968)«, in: Susanne Titz/Clemens Krümmel (Hg.), Robert Morris: Bemerkungen zur Skulptur. Zwölf Texte, Zürich: JPR/Ringier 2010, S. 55– 60, hier S. 59.

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geknickten und gebogenen Volumina der langgezogenen Formen untersucht oder verschiedene Webstrukturen zeichnerisch ausprobiert. Schon in ihren vorangehenden Zeichnungen ist zu erkennen, dass die Studentin krakenartige Gebilde mit einer Vielzahl von Armen aus den linearen Formen ableitet. Auch hier erkundet die Studentin die besonderen Materialeigenschaften der Schläuche: biegsam und ineinander verschlungen vereinen sie in ihrem nicht aufgepumpten Zustand Linie, Fläche und Volumen. Ohne die eingeschlossene Luft hängen sie schlapp nach unten, lassen sich zu flächigen Bändern pressen, ihre Plastizität ist an den sich öffnenden Enden nur angedeutet. Abb. 4a und 4b: Sandra Flegler, o. T., Bleistiftzeichnungen, 2016

Sowohl in der unmittelbaren Arbeit am Material als auch in der Zeichnung, die der Erkundung der Technik- und der Formfindung dient, entwickelt die Studentin ihr künstlerisches Themenfeld. Aus der zunächst zweidimensional gestalteten Webfläche entsteht begleitend zur Zeichnung ein zweites kugelförmiges Gebilde. Die Schläuche werden dazu über einem unsichtbaren Hilfsgerüst miteinander verwebt und verbunden und fransen nach unten hin aus. Die Oberfläche des elastischen Kautschuks ist zu den Öffnungen der aufgeschnittenen Schläuche hin matt mit Talkum bestäubt. Die Plastik bewegt sich zwischen Gegenständlichem und Ungegenständlichem. Wir assoziieren einen über den Meeresboden gleitenden vielarmigen Tintenfisch und  sehen doch zuallererst eine sich kugelförmig wölbende Fläche aus alten Fahrradschläuchen, an denen Flicken, Ventile und kaum lesbare Aufdrucke hervorstechen und auf die ursprüngliche Funktion verweisen. Sandra Flegler konzentriert sich dabei, ähnlich wie von Morris beschrieben, auf die Eigenschaften des Materials und macht diese zu ihrem bildnerischen Problemfeld: die Elastizität, die Schwerkraft, die Oberflächeneigenschaften, die Farbe. An diesem Beispiel lässt sich sehr gut erkennen, wie Material im Prozess an Selbstausdruck gewinnt und die

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gegenständlichen Assoziationsräume von einem nicht endgültig abgeschlossenen künstlerischen Prozess überlagert werden. Sandra Flegler transformiert in ihrem Werk das Material insofern, als es sich nicht mehr um eine Ansammlung aus Fahrradschläuchen handelt, sondern im Weben und Wölben etwas Neues und Anderes entsteht. Abb. 5: Sandra Flegler, o. T., Fahrradschläuche, Gummiball, 2016

Im Werk von Theresa Buck bestechen Eierkartons durch ihre Materialität, Farbigkeit und Form. Sie sind aus Papierpulpe hergestellt und haben aufgrund des recycelten Papiers und der verwendeten Einfärbung gedeckte pastellfarbige Töne, die sich zwischen Grau, Altrosa, Beige, Gelbbeige oder Grünbeige bewegen. Bei der Überlegung, wie sich die herausgetrennten pyramidenartigen Zackenformen der Kartons miteinander verbinden lassen, ergibt sich für Theresa Buck sehr schnell die Idee, das Material selbst zu reproduzieren. Indem die Studentin die Pulpe aus dem gerissenen Karton mit Kleister versetzt, beginnt ein Formprozess, in welchem die Einzelteile zu einer neuen Konstellation verbunden werden. Dieser entsteht nicht, wie bei der Herstellung der Kartons, durch Auftragen der Pulpe in eine Negativform, sondern durch die Verbindung von Elementen zu einem neuen Gebilde. Die stelenartige Konstruktion ergibt sich durch die Verknüpfung von sternförmigen Einzelteilen. Die Geometrie der Tetraederformen erhält durch das Material der Papierpulpe und die aufgetragene breiige Verbindungsmasse eine amorphe Anmutung, da es keine klaren Kanten gibt.

Material und Prozess

Abb. 6: Theresa Buck, o. T., Eierkartons, 2016 Kaum noch zu erkennen ist auch das Ausgangsmaterial in der Arbeit von Annika Josina Trautzsch. In einem zeitaufwändigen Prozess nimmt die Studentin einzelne Papiertaschentücher auseinander, zieht sie auf Schnüre und stellt durch die Verdichtung eine begehbare hängende Zeltform her. Die gespannten und bestückten Schnüre werden anders als in der Ausgangszeichnung nicht zu einer Fläche verbunden, sondern behalten den linearen Charakter. Die sich durch die Schichtung der unzähligen weißen Einzelblätter auflösende Form erzeugt einen weichen Eindruck. Die Kontur wird unscharf. Anders als in einem zunächst angefertigten zeichnerischen Entwurf bleiben die einzelnen Schnüre bestehen, ermöglichen den Blick durch das Innere hindurch und werden nicht zu einem geschlossenen Zelt verbunden. Die Behausung bleibt durchlässig und schafft fließende Übergänge zwischen Innen und Außen. Den Werkbeispielen der Studierenden ist gemeinsam, dass sie neben »klassischen« Materialien alltägliche und neuartige Materialien in ihren Skulpturen verwenden, deren inhaltliche und formale Qualitäten entdecken und damit das Spektrum der zu verwendenden Stoffe stark erweitern. Bezogen auf eine je eigene Materialsprache führen die Studierenden einen handelnden Um-

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Abb. 7: Annika Josina Trautzsch, o. T., Papiertaschentücher, Schnüre, 2016

gang mit Material vor und gelangen über den Selbstausdruck des Materials zu eigenen künstlerischen Problemfindungen. Ob der Prozess der Herstellung jemals abgeschlossen sein wird, ist nicht immer klar. Es eröffnen sich im Tun vielfältige neue Möglichkeiten und Verfahren. Der Prozess aber bleibt nicht auf einer Stufe des offenen Experimentierens stehen, sondern wird durch ein spezifisches, sich einander bedingendes Verhältnis von Material und Prozess in ein skulpturales Werk überführt.

L iter atur Dahlem, Björn/Anne Ellgood: Die Theorie des Himmels. Berlin: Distanz Verlag 2010. Dahlem, Björn/Wagner, Hilke (Hg.): Björn Dahlem. The End of It All. Bönen: Kettler Verlag 2013. Deiss, Amely/Hoffmann, Tobias (Hg.): Raw Materials: Vom Baumarkt ins Museum, Berlin: Kerber 2012. Gabo, Naum: »Plastik: Bildnerei und Konstruktion im Raum«, in: Circle (1937), Nachdruck in: Herbert Read/Leslie Martin (Einführungen), Naum Gabo:

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Bauten, Skulptur, Malerei, Zeichnungen, Grafik, Neuchâtel: Editions du Griffon 1961. Goll, Tobias/Keil, Daniel: Critical Matter: Diskussionen eines neuen Materialismus, Münster: edition assemblage 2014. Haus, Andreas/Hofmann, Franck/Söll, Änne (Hg.): Material im Prozess: Strategien ästhetischer Produktivität, Berlin: Reimer 2000. Heibach, Christiane (Hg.): Ästhetik der Materialität (Vol. 6), Paderborn: Fink 2015. Kathke, Petra: Sinn und Eigensinn des Materials. Projekte, Anregungen, Aktionen, Neuwied: Luchterhand 2001. Köhler, Sigrid G. (Hg.): Prima materia. Beiträge zur transdisziplinären Materialitätsdebatte (= Kulturwissenschaftliche gender studies, Bd.  6), Königstein/Taunus: Helmer 2004. Martin, Silvia/Ermacora, Beate (Hg.): Living in the material World. Materialität in der zeitgenössischen Kunst, Köln: Snoeck 2014. Morris, Robert: »Anti-Form (1968)«, in: Susanne Titz/Clemens Krümmel (Hg.), Robert Morris: Bemerkungen zur Skulptur. Zwölf Texte, Zürich: JPR/Ringier 2010, S. 55–60. Nemser, Cindy: »Ein Interview mit Eva Hesse«. In: Renate Petzinger (Hg.): Eva Hesse. Museum Wiesbaden 2002. Raff, Thomas: Die Sprache der Materialien: Anleitung zu einer Ikonologie der Materialien, Münster: Waxmann Verlag 2008. Rübel, Dietmar/Wagner, Monika/Wolff, Vera (Hg.) Materialästhetik: Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur, Berlin: Reimer 2005. Rübel, Dietmar/Wagner, Monika/Hackenschmidt, Sebastian (Hg.): Lexikon des künstlerischen Materials: Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn, München: C. H. Beck Verlag 2010. Rübel, Dietmar: Plastizität. Eine Kunstgeschichte des Veränderlichen, München: Verlag Silke Schreiber 2012. Schwitters, Kurt: Der Ararat, 1921. Strässle, Thomas/Kleinschmidt, Christoph/Mohs, Johanne: Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten: Theorien – Praktiken – Perspektiven, Bielefeld: transcript-Verlag 2013. Wagner, Monika/Rübel, Dietmar (Hg.): Material in Kunst und Alltag, Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte, Berlin: Akademie Verlag GmbH 2000. Wagner, Monika: Material in Kunst und Alltag, Berlin: Oldenbourg Akademieverlag 2002. Wagner, Monika: Das Material der Kunst: Eine andere Geschichte der Moderne. 2. Aufl. München: C. H. Beck 2013. Witzgall, Susanne/Stakemeier, Kerstin (Hg.): Macht des Materials/Politik der Materialität, Zürich (u. a.): Diaphanes 2014.

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A bbildungen Abb. 1: Eva Hesse, Untitled (»LeWitt Glass Case«), 1967–68, Glass and metal case containig six units of latex, wire, rubber, cords, plaster mod, 37,1 × 26 × 26 cm. In: Bill Barette (Hg.), Eva Hesse, Sculpture, New York: Timken Publishers 1992, S. 142. Abb. 2: Ulrike Kessl, Rocksäulen, 2003, Forum Kunst, Rottweil, je 0,4 × 0,4 × 7 m, 47 Röcke. In: Ulrike Kessl, 2001–2009, Ausstellungskatalog Kunstverein Heinsberg 2009, S. 21. Abb. 3: Björn Dahlem, The Milky Way, 2007. http://news.bbcimg.co.uk/media/ images/53009000/jpg/_53009072_dahlem976.jpg vom 15.12.2016. Abb. 4a + b: Sandra Flegler, o. T., Bleistiftzeichnungen, 2016. Foto: Sara Hornäk. Abb. 5: Sandra Flegler, o. T., Fahrradschläuche, Gummiball, 2016. Foto: Sara Hornäk. Abb. 6: Theresa Buck, o. T., Eierkartons, 2016. Foto: Sara Hornäk. Abb.  7: Annika Josina Trautzsch, o. T., Papiertaschentücher, Schnüre, 2016. Foto: Sara Hornäk.

Kunst und Kulinarik Über Lebensmittel als Kunstmaterial Sabiene Autsch

»I m D a z wischen « Entgrenzung und Verflechtung, nomadische und instabile Identitäten, »rasen­ der Stillstand« (Paul Virilio), inszenierte Authentizität  – Stichworte, die fast schon zu Standards alltagstauglicher Lebensformen geworden sind, die gegenwärtig selbst zwischen Optionalität und Optimierung oszillieren. An die Stelle von Kanon und Topik tritt Modellhaftes; Mikro-Ichs behaupten sich neben »situativen Kollektivkörpern«, Episodisches neben Monumentalem. Die »Gesellschaft des Spektakels« (Guy Debord) ist längst von der »Erregungsgesellschaft« (Peter Sloterdijk) überformt worden. Viele technologische Entwicklungen und digitale Parameter der Gegenwart, die sich in alle Lebensbereiche einschreiben, entziehen sich zugleich aber auch ihrer Konkretheit, Anschaulichkeit und Präsenz, weil »[…] sie jenseits unseres Sinnenfensters liegen und mit einer Geschwindigkeit arbeiten, die durch keine menschliche Vorstellung ›nahe‹ gebracht werden kann. Das zeigt, dass unsere Technokultur dabei ist, die Dimension des Menschlichen prinzipiell zu überschreiten. Ein Stahlwerk konnte noch als erhaben, eine Megalopole als Labyrinth oder Dschungel unserem ästhetischen Sensorium nahegebracht werden. Und Nähe brauchen wir; wir müssen uns unsere Welt gleichsam einverleiben können […].«1

Das Themenfeld Kunst und Kulinarik gehört eingeordnet in diese nur knapp skizzierten zeitspezifischen Strömungen. In beiden Bereichen haben Entgrenzungstendenzen und Kontextverschiebungen vielfältige Um- und Ausbrüche 1 | Hartmut Böhme: »Wollen wir in einem posthumanen Zeitalter leben? Geschwindigkeit und Verlangsamung in unserer Kultur«, in: Markus Brüderlin (Hg.), Die Kunst der Entschleunigung. Bewegung und Ruhe in der Kunst von Caspar David Friedrich bis Ai Weiwei, Ostfildern: Hatje Cantz 2011, S. 2–7, hier S. 5.

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bewirkt, die insbesondere nachhaltige Auswirkungen auf die Aneignungsund Strukturierungsleistung ästhetischer Erfahrungen besitzen. Angesichts aktueller Popularisierungs- und Eventtendenzen (z. B. von Kochshows) scheint es so, als ob in Teilen dieser Felder ein (neuer) identitätsbildender Sinn eingeschrieben ist, worüber ästhetische Orientierung ermöglicht wird. Ein kurzer Blick auf die Spezifik und Relevanz des Themenfeldes Kunst und Kulinarik und die daran gekoppelten alltagspragmatischen und kulturellen Praxen verweist auf eine Reihe informeller Lernpotenziale, wodurch normative Oppositionen zunehmend aufgehoben werden. Die daraus hervorgehenden Gestaltungsspielräume, in denen sich Verortungsmodi wie Neu und Alt, Fremdes und Eigenes treffen und vermischen, bewirken dabei sogenannte CrossoverEffekte. Sie stehen »in einem Transformationsprozess den Beteiligten zur Verfügung […]«2 und eröffnen jene handlungs- und orientierungspraktischen Erprobungen, so dass etwas Drittes mit eigenem Identitätspotenzial entstehen kann. Vertretern der Cultural Studies geht es dabei nicht mehr um ein Ausbalancieren von Alt und Neu, sondern vielmehr »um die Akzeptanz des Unreinen und die Artikulation und Repräsentation der neuen Gemischtheit […].«3 Kunst und Kulinarik kann als Crossover-Beziehung verstanden werden, die die interaktionistisch-materielle Seite von Kultur betont und dabei deutlich anti-binär verfährt.4 Dafür wird die Indifferenz gegenüber zweiwertigen Unterscheidungen zugunsten einer Perspektive aufgehoben, die das Mehrwertige priorisiert. Angesichts kultureller Transformationsphänomene, denen Thomas Düllo in seiner umfassenden Studie nachspürt, sind es insbesondere die daraus hervorgehenden Hybridbildungen, die für den Erwerb von Handlungserfahrungen zunehmend relevant erscheinen.5 Die künstlerische Arbeit mit Lebensmitteln repräsentiert ein solches mehrwertiges Zusammenspiel von Diskursen, Medien, Dingen und Materialien. Diese Überlegung lässt sich gut an der folgenden Abbildung verdeutlichen. Die beiden ausgewählten Fotografien (Abb. 1) stammen von Kim-Sarah Hiestermann, die als Studentin am Projekt »Lunch Box« teilnahm. Sie sind als Reihe angelegt und verweisen auf Prozesse und Praktiken der Transformation. Zum einen geht es um eine materialbedingte Transformation und damit um ein Handeln des Materials, zum anderen um eine Handlung auf bzw. mit dieser Materialtransformation. Die 2 | Thomas Düllo: Kultur als Transformation. Eine Kulturwissenschaft des Performativen und Crossover, Bielefeld: transcript 2011, S. 471. 3 | Ebd., S. 43. 4 | Ebd., bes. S. 21–27. Vgl. Dirk Baecker: Wozu Kultur?, Berlin: Perlentaucher 2001. Vgl. mit Blick auf das Thema Kulinarik Alois Wierlacher/Gerhard Neumann/Hans Jürgen Teuteberg (Hg.): Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder, Berlin: Akademie Verlag 1993. 5 | Vgl. T. Düllo: Kultur als Transformation, S. 11–18.

Kunst und Kulinarik

beiden Abbildungen zeigen eine Avocado in ihrem zunehmenden Verfall, der sich uns in einem konturlosen, amorphen Zustand darbietet. In der fotografischen Übersetzung scheint der Zerfall Thema und Motiv der Reihe zu sein. In einem »Dazwischen« jenseits kalkulierter Komposition und Figuration wird zugleich aber auch ein Materialhandeln evident, um zu den malerisch anmutenden Ergebnissen zu kommen, die im Medium der Fotografie realisiert werden. Das hier zu beobachtende Materialhandeln, auf das im Folgenden noch näher einzugehen sein wird, resultiert aus der Präsenz der Avocado und ihrer unmittelbaren Beobachtung. Durch den für die Aufnahme notwendigen Prozess des Inszenierens (Wahl des Bildausschnitts, Lichteinfall, Perspektive, Zoom usw.) werden Voraussetzungen geschaffen, durch die das Material gleichsam »Aus-Sich-Heraus-Treten« (D. Mersch) kann. Die eigentümliche Verbindung von Material und Medium kann dabei darin gesehen werden, dass die Fotografien auf die Entdifferenzierung der Avocado in ihrer Form und Materialität aufmerksam machen und diese darin überhaupt erst in den Blick gerät. Der Verfallsprozess der Avocado ist zugleich medienkonstituierend, d. h. die Fotografien erhalten ihre inhaltliche Qualität nicht durch Kunst-Formen, sondern durch Nicht-Formen, was in den Fotografien als »Inter-Materielles« in Erscheinung tritt.6 Abb. 1: Lunch Box: Avocado

Annette Simonis historisiert und konkretisiert diese Beobachtungen. Sie weist darauf hin, dass insbesondere künstlerische Arbeiten mit Lebensmitteln in den 6 | Dieter Mersch: »Erscheinung des ›Un-Scheinbaren‹. Überlegungen zu einer Ästhetik der Materialität«, in: Thomas Strässle u. a. (Hg.), Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten, S. 27–44, hier S. 41. Vgl. zu dem Aspekt des künstlerischen Einsatzes unterschiedlicher Medien und Materialien auch Martin Germann: »Biegen, Flechten, Kneten – Editieren, Formatieren, Maskieren. Über Medien und Materialien«, in: Sprengel Museum Hannover/Kestner-Gesellschaft/Kunstverein Hannover (Hg.), Made in Germany Zwei, Nürnberg: Verlag für Moderne Kunst, 2012, S. 242–246.

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jeweiligen konjunkturellen Hochphasen des 20. und 21. Jahrhunderts dazu beigetragen haben, dass Material aufgrund ihrer materiellen Ausdifferenzierung sichtbar und so überhaupt auch erst für die Kunstbetrachtung relevant wurde.7 Die mit der modernen Kunst einsetzende Tendenz zur ästhetischen Sichtbarwerdung von Materialität, so Simonis, ist insbesondere durch die Collage immens vorangetrieben worden. Dieser Ansatz findet eine Fortsetzung in aktuellen künstlerischen Arbeiten, dabei vielfach akzentuiert um technikbasierte und mediale Ausdrucksformen: Etwa als Materialarrangements oder in Form multipler, dynamischer und materialer Ruinenberge und Abfallhaufen oder als verstreute Fragmente, womit auf das interne Zusammenwirken von Materialien, Medien und ästhetischer Erfahrungen aufmerksam gemacht wird. Versteht man dieses materialbedingte Zusammenspiel im Heideggerschen Sinne immer als etwas Ungemachtes, Unmachbares, zugleich aber auch als etwas, was sich als Gegebenes aus seinem Gebundensein löst, allenfalls in der Gegenwärtigkeit einer Gegenwart gefasst werden kann, dann gewinnt das »Dazwischen« als Kategorie und optische Figur an Bedeutung. An diesem Punkt sehe ich zugleich jenes Bildungs- und Lern-Potenzial eingeschrieben, was für die künstlerische Lehre und Kunstvermittlung nutzbar gemacht werden kann, worauf im weiteren Verlauf noch näher eingegangen wird. Für die folgenden Ausführungen zu Lebensmitteln als Kunstmaterial im Kontext von Kunst und Kulinarik liefern diese knappen Überlegungen, die sich auf Ansätze aus dem Umfeld der Cultural Studies, des New Historicism und der Material Culture stützen, wichtige Impulse.8 Insbesondere für die kunstpraktische Arbeit und theoretische Reflexion von Lebensmitteln als Kunstmaterial, die von de-klassierten, alimentären Materialien ausgehen, sind Nicht-Formen ebenso kleine Formen und Formate repräsentativ.9 Darüber hinaus kennzeichnen das Materialhandeln mit Lebensmitteln, wie noch zu zeigen sein wird, Metaphern wie Zufälligkeit, Unbestimmtheit, Unordnung usw., worüber das Unverwertbare zu (neuen) ästhetischen Werten, das Nichtzeigbare vorzeigbar und die Rückseiten zu den Schauseiten exponieren. Dabei sind es, so die Überlegung, insbesondere die aus Crossover-Effekten resultierenden Praxen, die in ihrer »authentischen Unmittelbarkeit« (Soeffner) zugleich als Verortungs- und Orientierungskategorien fungieren. Welche Be7 | Vgl. Annette Simonis: »Der Traum von der Materialität. Ein ästhetischer Diskurs über Visualität und Materialität in den Künsten«, in: T. Strässle u. a. (Hg.), Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten, S. 221–238, bes. S. 233–234. 8 | Einen Überblick bietet Moritz Bäßler: »New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies«, in: Ansgar und Vera Nünning (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften, Stuttgart: Metzler 2003, S. 132–155. 9 | Vgl. Sabiene Autsch/Claudia Öhlschläger/Leonie Süwolto (Hg.): Kulturen des Kleinen. Mikroformate in Literatur, Kunst und Medien, Paderborn: Fink 2014.

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deutung in diesem Zusammenhang jenen Disziplinen in der künstlerischen Lehre zukommen, die zwischen Theorie und Praxis pendeln und durch Projektarbeit gekennzeichnet sind, ist Gegenstand der folgenden Ausführungen. Dafür wird Bezug genommen auf Beispiele aus eigenen Lehrveranstaltungen, die exemplarisch und materialnah Hybridnachweise nachvollziehbar machen. Zur besseren Einordnung von Kunst und Kulinarik werden zunächst stichwortartig Tendenzen in beiden Bereichen benannt, woraus sich Analogien herleiten und die Wissenschaftlichkeit und Praxisorientierung dieses Bündnisses begründen helfen.

M aterialsein  – »E ating the U niverse « Prozesse von Entgrenzung und Erweiterung in der Kunst, die im Kontext von Eat Art, Arte Povera und Objektkunst in den 1960er Jahren eng mit dem Künstler Joseph Beuys verbunden sind, spielen sich auf der Ebene der Kuns in der Verbindung von Kunst und Leben ab. Künstlerinnen und Künstler suchten besonders in diesem Zeitraum des künstlerischen und medialen Auf- und Umbruchs enge Bezüge zu elementaren und existenziellen Grundlagen des Alltagslebens durch organische Materialien und vergängliche Stoffe herzustellen.10 Die Verwendung von Fett, Honig, Käse, Salami neben Holz, Bronze oder Gips als Kunstmaterialien trug entscheidend zur Erweiterung des engen und begrenzten Gegenstandsbezugs der Kunst und ihren traditionellen Ausdrucksmitteln einerseits und zu einem veränderten Verständnis zwischen Werk und Betrachter andererseits bei.11 Der von Beuys kulinarisch und materialästhetisch erweiterte Kunstbegriff und seine interventionistische Kunstpraxis bezogen außerdem ökonomisch relevante Überlegungen mit ein. Lebensmittel wurden nicht nur als Kunstmaterial in die Kunst integriert, sondern auch als Wirtschaftswaren und Werte im institutionellen bzw. im nicht-institutionellen Kunstraum metaphorisch inszeniert. Eine andere Entwicklung nahm Daniel Spoerri mit seinen materialreichen Arbeiten und Aktionen. Mit seinen nachträglich fixierten Mahlzeiten und Tischsituationen, die er in Ausstellungen als Bilder an der Wand präsentierte, setzte Spoerri zugleich jenen Widerstand fort, den Marcel Duchamp bereits mit seinen Readymades und der damit verbundenen Infragestellung und Negation von Meisterwerk, Autorschaft und 10 | Vgl. Harald Lemke: Die Kunst des Essens. Eine Ästhetik des kulinarischen Geschmacks, Bielefeld: transcript 2007, bes. S. 80–85. 11 | Monika Wagner verweist auf die daraus resultierende Um-Ordnung der Materialien: Monika Wagner/Dietmar Rübel/Sebastian Hackenschmidt (Hg.): Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn, München: Beck 2002, S. 7.

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philosophischer Ästhetik initiierte. Ihm ging es stärker um Bedeutungsverschiebungen durch alltägliche und triviale Materialien und Praktiken, durch Lebensmittel oder Küchengeräte, um durch Prozesse von Vergänglichkeit, Verfall und Variation mit traditionellen Kategorien und Zuordnungen zu brechen.12 Spoerris koch-künstlerisches Denken, sein aktionistischer Einsatz und zugleich konservierender Umgang von Nahrungs- und Lebensmitteln sowie die Anerkennung von Zufall und Beliebigkeit als bildgenerierende Phänomene können in diesem Zusammenhang vielmehr als ein kritischer Kommentar auf den kunstgeschichtlichen Kanon verstanden werden. Die vielfach schäbig montierten, vergammelten und verschimmelten Esswaren motivierten daher auch zu einer ästhetischen Erfahrung an und mit einer nicht-ästhetischen Kunst, mit dem Ziel, eine Umwertung ästhetischer Kategorien und eine reflektierte Wahrnehmungs- und Geschmackssteigerung hervorzurufen. Spoerris Gastronomisches Tagebuch (1967) markiert in dieser knapp skizzierten künstlerischen Entwicklung noch einmal eine Erweiterung. Seine theoretisch fundierten Ansätze liefern zugleich die konzeptionelle Fundierung von Eat Art. Dafür setzte Spoerri nun stärker an den materiellen Gegebenheiten und Grundlagen von Essen und Lebensmitteln an und erweiterte diese um den Prozess des Kochens. Die Speisenzubereitung und -gestaltung betrachtete er als Lebenskunst. Sein Interesse an der Kochpraxis, eingeschlossen die Zubereitung und Darbietung, war zugleich ein Interesse an ästhetischer Kreativität als Grundlage für eine aktive und experimentelle Lebenspraxis.

M olekul ares und »M ilchhaut mit G r as « Auch im Feld der Kulinarik haben sich in den 1980er und 1990er Jahren immense Ausdifferenzierungen vollzogen, die insbesondere mit der Entwicklung der Molekularküche eng verbunden sind.13 Die Molekulargastronomie ist gekennzeichnet durch ein naturwissenschaftlich begründetes Interesse an Koch12 | Vgl. Renate Buschmann: »Evokationen von Genuss und Ekel. Daniel Spoerri und die Etablierung der Eat Art«, in: Kunsthalle Düsseldorf u. a. (Hg.): Eating the Universe. Vom Essen in der Kunst. (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Kunsthalle Düsseldorf 28. November 2009 bis 28. Februar 2010 u. a.). Köln: DuMont 2009, S. 20–57, bes. S. 22. 13 | Ihr bekanntester und innovativster Vertreter ist der Spanier Ferran Adrià und das Restaurant elBulli in Cala Montjoi in der nordspanischen Provinz Girona. Das Restaurant wurde 2011 geschlossen und wird seither als Stiftung geführt. (S. auch www.elBulli. info, 15.12.2016). Vgl. Ferran Adrià/Juli Soler/Albert Adrià (Hg.): Ein Tag im elBulli. Einblick in die Ideenwelt, Methoden und Kreativität von Ferran Adrià, Berlin: Phaidon 2009.

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vorgängen und Zubereitungsarten, was die Schwerpunkte auf biochemische Prozesse, Temperaturen, Texturen und Strukturen, Konsistenz und Transparenz verlagert. Durch Dekonstruktion traditioneller Rezepte, Produkte, Abläufe und Zubereitungsarten, durch Extrahieren, Experimentieren und Kombinieren sowie mit Hilfe neuartiger Technologien entstehen ungewöhnliche, skulpturale Kreationen, ästhetische Verfeinerungen. Das ›artifizielle Essen‹ der Molekularküche erweitert somit tradierte kulinarische und stilistische Konzepte, zugleich begründet sie durch festgelegte Essabfolgen und Anleitungen neue Regelsysteme. Auf diese Weise fundierte sich jener Zweig in der Kulinaristik, der sich auch als angewandte Wissenschaft versteht und unter Bezeichnungen wie Modernist Cuisine, Culinary Physics oder Experimental Cuisine firmiert. Harald Lemke spricht in diesem Zusammenhang von einem ›kulinarischen Neofuturismus‹ und nimmt damit zugleich eine kunsthistorische Verortung dieser Entwicklungen in der futuristischen Küche vor. Gleichwohl, so Lemke, fehlen jene ethischen und sozialkritischen Implikationen, die die künstlerischen Positionen und Aktivitäten sowohl der Futuristen als auch der zeitgenössischen Eat Art gastrosophisch auszeichnen.14 Eine andere, aber nahezu zeitgleiche Entwicklung innerhalb der Kulinarik lässt sich mit der New Nordic Cuisine mit ihrem offenkundig kreativsten Vertreter René Redzepi anführen. Durch die Wiederentdeckung saisonaler nordischer Produkte (Cook it raw), ferner einer zeitgenössisch ausgeweiteten Aromatik und modern gedachten Sensorik sowie spielerischem Experimentieren mit Konsistenz, Temperatur und Textur optimiert Redzepi noch einmal die Entwicklungen in der europäischen Hochküche, eingeschlossen deren klassischer Orientierung an einem Materialkanon.15 Im Sinne einer »Culinary Research« wird dafür ein ausdifferenziertes Handlungsspektrum aktiviert, das vom Sammeln, Recherchieren und Erforschen, über das Experimentieren, Skalieren und Systematisieren bis zum Ordnen und Archivieren reicht. Neben der Kultivierung sinnlicher Geschmackserlebnisse ist es besonders ein Aspekt, auf den Olafur Eliasson in seinem Artikel »Milchhaut mit Gras« im opulenten NOMA-Band aufmerksam macht.16 Die Realisierung dieser kulinarischen Richtung basiert einerseits grundlegend auf dem gemeinschaftlichen Experimentieren, wofür Experimental-Workshops »Life in Space« (LIS) mit Köchen, Wissenschaftlern, Künstlern und Freunden durchgeführt werden. Darüber hinaus geht es um eng mit Biografien, Orten und Zeiten zusammenhängende Geschmackserinnerungen, die Redzepi als ›Erfahrungsarchiv‹ versteht. Der Fokus auf regio14 | Vgl. H. Lemke: Die Kunst des Essens, bes. S. 17–39. 15 | Vgl. Allessandro Porcelli (Hg.): Cook it Raw, London: Phaidon Press Limited 2013. 16 | Vgl. Olafur Eliasson: »Milchhaut mit Gras«, in: René Redzepi (Hg.), Noma. Zeit und Ort in der nordischen Küche. Hamburg: Edel Verlag, 2011, S. 6–9. (engl. Noma. Time and Place in Nordic Cuisine, London: Phaidon Press 2010).

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nal naheliegende und natürliche Materialien korrespondiert mit der Entgrenzung des kulinarischen Gegenstandsbereichs in benachbarte Disziplinen und Handlungsfelder und macht die Ausdifferenzierung der Produkte, Materialien und Rezepte einerseits sowie ein an Verfahren von Oral History ausgerichtetes multiples Methodenarsenal andererseits erst wirksam und nachvollziehbar. Der erwähnte NOMA-Band, der zwischen Kochbuch, Ausstellungskatalog, Lexikon, Rezept- und Materialsammlung oszilliert, initiiert ein crossreading, durch das flexible Spielarten in der Anordnung, der Wortbildung und Sinndeutung ermöglicht werden. Redzepis konzeptionelles Denken repräsentiert beispielhaft jene experimentell-prozesshafte Vermischung verschiedener Stile, in denen Rhetoriken und Praktiken aus populären Diskursen ebenso aufscheinen wie Referenzen an die Kunstfotografie der 1920er Jahre. In der Weise wie alltägliche und vergängliche Materialien in einer geradezu unüberschaubaren Weise erneut Einzug in die Kunst gehalten haben, die gesamte Infrastruktur künstlerischen Handelns erweiterten, hat auch die Kulinarik grundlegende Veränderungen erfahren. Die Produktorientierung und Materialerforschung, das verstärkte Interesse an Mikrostrukturen und Texturen, das Erforschen, Zerlegen und Atomisieren, die Tendenz zur Fusionierung und Sequenzierung, aber auch ausdifferenzierende Techniken, Abläufe und Handlungen usw. haben, wie bereits erwähnt, eine grundlegende Ästhetisierung von Essen, Kochen und Küche bewirkt und ikonografisch analysierbar gemacht.17 Parallelen zwischen dem Werk und den Produktionsbedingungen von Köchen und Künstlern, aber auch zwischen Küche und Atelier sind evident.18 Magdalena Holzhey, Kuratorin der Ausstellung Eating the Universe (2009), weist zwar auf die historischen Vorläufer der Eat Art von den Futuristen über Joseph Beuys, Daniel Spoerri und Dieter Roth hin. Zugleich aber sieht sie im gegenwärtigen künstlerischen Handeln mit alimentären Materialien eine autonome Auseinandersetzung gegeben.19 Aus künstlerischer Perspekti17 | Vgl. Sabiene Autsch: »Telleranalysen: Molekularküche zwischen Werkstatt, Atelier und Labor«. (Plate Analysis: Molecular Gastronomy between Workshop, Studio and Laboratory). (Gekürzte Fassung der Antrittsvorlesung, in: PUR, Paderborner Universitätsreden, Heft 116, 2010), in: Marta Herford GmbH (Hg.), Atelier + Küche = Labore der Sinne. (Publikation anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, 12. Mai – 16. September 2012), Ostfildern: Hatje 2012, S. 134–145. 18 | Vgl. auch Sabiene Autsch/Andreas Käuser: »Der Koch und der Kurator. Zur Medienästhetik von Ausstellen, Schmecken und Geschmack«, in: Achim Barsch/Helmut Scheuer/Georg-Michael Schulz (Hg.), Literatur – Kunst – Medien. [= Festschrift für Peter Seibert], Berlin: Meidenbauer 2008, S. 171–187. 19 | Vgl. Madgalena Holzhey: »Eating the Universe«, in: Kunsthalle Düsseldorf/Galerie im Taxispalais Innsbruck/Kunstmuseum Stuttgart (Hg.), Eating the Universe. Vom Essen in der Kunst, Köln: DuMont 2009, S. 10–19, hier S. 14 ff.

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ve interessieren Lebensmittel als Kunstmaterial in ihrem »Materialsein«, d. h. zwischen Materialauflösung und -konstitutierung, Materialität und Immaterialität, materieller Konkretheit und Imaginärem. Diese Orientierung bedinge differenzierte künstlerische Befragungen von Lebensmitteln und schließe Erkundungen und Erprobungen von Materialeigenschaften mit ein, wodurch Experimentieren, Prozesshaftigkeit und Ergebnisoffenheit als diskursive Faktoren in den Mittelpunkt künstlerischen Handelns mit Lebensmitteln treten. Was aber geschieht, wenn, wie eingangs gezeigt wurde, ephemere Materialien wie Zucker, Butter, Salami u. a. aus dem Werk ›verschwinden‹, Motiv oder vielleicht auch das Werk durch Verschimmeln sogar vernichten? Was bedeutet die unaufhaltsame Material- und Werkzersetzung für das künstlerische Handeln, für das Kuratieren, Exponieren und Rezipieren? Über was kann gesprochen, was kann bewertet und was und wie kann letztlich etwas präsentiert werden, das einer permanenten Dynamisierung und Veränderung ausgesetzt ist, die bis zur völligen Zerstörung reichen kann?

I nszeniertes M aterialhandeln – P rojek te aus K unstgeschichte und K unstpr a xis Die für diesen Beitrag ausgewählten Projekte stammen aus dem Forschungsund Lehrbereich Kunst und Kulinarik. Dieser wurde 2008 im Fach Kunst an der Universität Paderborn von der Verfasserin etabliert und konnte seither in unterschiedlichen Lehr- und Lernformaten erprobt und profiliert werden. Das Material der folgenden Handlungsprozesse sind Naturalien, Lebensmittel, durch die ästhetische Praktiken in Gang gesetzt werden, die sich in der jeweiligen materiellen Bezugnahme zunehmend annähern. Impulsgebend für die Einbeziehung von Kulinarik in die kunstwissenschaftliche und künstlerische Lehre war die von Peter Kubelka an der Frankfurter Städelschule gegründete Klasse für »Film und Kochen als Kunstgattung«, die er von 1980 bis 2000 leitete. Kubelka verfolgte mit diesem Projekt das universale Ziel, Kochen als kulturelles Phänomen bewusst zu machen und als eine erweiterte visuelle Kunst zu etablieren. Das Kochen als eine elementare kreative Fähigkeit sollte dazu beitragen, mit den Produkten aus der eigenen Umwelt unmittelbar, bewusst und kreativ umgehen zu lernen.20

20 | Peter Kubelka: »Kochen die älteste bildende Kunst«. Ein Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks, in: Kunstforum International 2002, Nr. 159, S. 93–109.

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»K ochwerkstat t« – E ssen k artogr afieren und Teller analysieren Einen ersten Zugang zum Thema eröffnen Materialerkundungen im lebensgeschichtlichen Zusammenhang unter der Fragestellung: Welchen Stellenwert besitzt das Essen im persönlichen Alltag und in der Biografie? Im semesterbegleitenden Projekt »Kochwerkstatt«, das prozessorientiert auf theorie- und praxisbezogene Themensegmente aufbaut, werden die Studierenden als Einstieg in das Projekt aufgefordert, die eigenen Essgewohnheiten, Lieblingsrezepte oder Tischszenen und Orte bzw. Räume über mehrere Wochen täglich zu dokumentieren.21 Abb. 2: Mind-Maps

Mittel und Medien für diese künstlerische Forschung werden gemeinsam mit den Studierenden vorab insbesondere mit Blick auf den prozesshaften und experimentellen Charakter diskutiert. Dabei kristallisieren sich folgende Formate heraus: Mind-Map, fotografische Serie, Video bzw. Film, Tagebuch bzw. Künstlerbuch. Biografische Recherchen stellen eine Möglichkeit dar, eine 21 | Zum Format »Kochwerkstatt«/»Lunch Box«: »Der seit geraumer Zeit anhaltende und öffentlichkeitswirksame Ess-, Koch- und Küchenboom dient als Ausgangspunkt für eine intermediale Betrachtung von Kunst und Kulinarik. Wir suchen nach Konstellationen und Konzepten, Motiven und Materialien, Praktiken und Positionen, Wegen und Wirkungen u. a. in Kochshows, Foodfilmen, Kochbüchern, Kritiken, in der Literatur, Kunst und im Ausstellungsbereich. Die LUNCH BOX dient als Grundlage und Ausgangspunkt der theoretischen Reflektion und praktischen Erprobung von Lebensmitteln: Etwas Kleines wird auf die Reise geschickt, mit der Hoffnung eine Fülle an Erfahrungen, Entdeckungen und Erinnerungen mit nachhaltiger und großer Wirkung zu ermöglichen. Arbeitsschritte, Eindrücke, Fragen und Ergebnisse werden in einem Blog veröffentlicht.« (S. unter: www. upb-lunchbox.blogspot.de).

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persönliche Nähe zum Thema bzw. Gegenstand herzustellen, die zugleich durch Methoden der Feldforschung, des Kartografierens oder des Mappings Prozesse des Recherchierens, Sammelns und Dokumentierens anregen und diese in Darstellungsformen überführen, die, wie die Arbeiten zeigen, vielfach dokumentarischen und abstrahierenden Charakter haben (Abb. 2). Einen Impuls für die Fortsetzung der Projektarbeit liefert Pauls Essen, ein Bildband, in dem der Autor Paul Claessen über einige Monate jeden Tag sein Essen auf dem Teller mit dem Fotohandy dokumentierte, chronologisch ordnete und auf diese Weise ein Speisetagebuch erstellte.22 Der Band lebt von der Spannung zwischen der existenziellen Notwendigkeit und der visuellen Simplifizierung der täglichen Nahrungsaufnahme. Die abgebildeten Teller, die im Format des Buches eine Erzählung suggerieren, generieren zudem eine Ikonografie, die in ihrer reduzierten und überschaubaren Materialität, in Form, Farbe und Fläche zugleich les- und beschreibbar wird. Einige Studierende dokumentieren ihr tägliches Essverhalten und wählen dafür die Speisen auf ihren Tellern. Charakteristisch für die entstandenen Fotoreihen ist die zunehmende Abstraktion eines vertrauten und alltäglichen Gegenstandes und die damit verbundene Distanznahme von der Alltagserfahrung, d. h. vom alltäglichen Umgang mit dem eigenen Teller (Abb. 3). Durch sogenannte »Telleranalysen«, in denen der Teller als Bildträger verstanden wird, können konzeptuelle Strategien wie Serialität, Reihung und Wiederholung herausgearbeitet werden. Abb. 3: Telleranalysen

Die mit Methoden von Mapping und Kartografie eng zusammenhängende Verbindung von Praxis und Theorie trägt mit dazu bei, dass die Studierenden in unterschiedliche experimentelle Haltungen versetzt werden. Sie lernen, den Prozesscharakter des Projekts in Hinblick auf Gegenstand, Material und Form bzw. Vermittlungsformate zu reflektieren, um darüber zu erkennen, dass künstlerische Verfahren, wissenschaftliche Methoden und selbstreflexive Prozesse einander bedingen. Das Vertraute, Bekannte und Schon-Gewusste gerät auf diese Weise selbst in die Schwebe und muss immer wieder ausgehandelt werden, worüber letztlich neue ästhetische Erfahrungen und Einsichten begründet werden. 22 | Paul Claessen: Pauls Essen, Frankfurt a. M.: Nizza Verlag 2008.

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Diese Beispiele, in denen die biografische Relevanz und lebensgeschichtliche Prägung durch Essen und Alltagsdinge wie Teller, Besteck und Tisch thematisiert und in ästhetische Entwürfe übersetzt werden, tragen mit dazu bei, »uns im Einklang mit Geschichte und Gesellschaft zu formen, indem sie eine Form durch ihren Gebrauch vorgeben oder überliefern. […] Form heißt hier Erinnerung, Erfahrungsbestand, Verhalten und Vollziehen; Form heißt auch Selbstbildung, Selbstaneignung im Gebrauch der Dinge. In diesem Sinne ist sie ein tiefreichendes ästhetisches Ereignis, dem man sich nicht entziehen kann.« 23

»Tatort K üche « Die Küche, ein inzwischen durch vielfältige kultur- und kunstwissenschaftliche Arbeiten sehr gut erforschtes Themen- und Motivfeld, setzt an diesen offenen Prozessen und transformierenden Vorgehensweisen an.24 Das Thema eröffnet zudem Möglichkeiten, denkende und handelnde Anteile, alltägliche und künstlerische Praktiken eng miteinander zu verweben und als ästhetisch relevant zu begreifen. Darüber hinaus lassen sich in aktuellen künstlerischen Arbeiten zum Motiv Küche vielfältige historische Bezüge zur Koch-Kunst und dadurch auch auf die gestalterischen Aspekte des Essensmachens verweisen. Diese wiederum sind eng mit den Futuristen einerseits und Joseph Beuys und Daniel Spoerri andererseits verbunden, worüber avantgardistische Impulse epochenübergreifend thematisiert werden können. Auf diese Weise geraten kulinarische Praktiken des Zubereitens, ferner geschmacklicher Genuss, insbesondere aber auch Setting und Topografien sowie Tischsituationen und Tischgespräche in den Blick, die an grundlegende philosophisch-ästhetische Denktraditionen anschlussfähig sind. Am Beispiel von ausgewählten künstlerischen Arbeiten, die ein weiteres Projekt begleiten, sind es insbesondere auch soziale und kommunikative Aspekte, die nicht nur installative Kunstformen kennzeichnen, sondern auch den Ort der Küche in einen temporären Treffpunkt, destabilen Arbeitsort, in ein Atelier oder Labor transformieren.25

23 | Gert Selle/Jutta Boehe (Hg.): Leben mit den schönen Dingen. Anpassung und Eigensinn im Alltag des Wohnens, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1986, S. 23. 24 | S. dazu u. a. Oliver Seifert: »Von Brueghel zu Beuys: die Wiedergeburt der Küche aus dem Geist der Alchemie«, in: Marta Herford (Hg.), Atelier + Küche = Labore der Sinne, S. 208–217; Ralf Beil: Künstlerküche. Lebensmittel als Kunstmaterial von Schiele bis Jason Rhoades, Köln: DuMont 2002. 25 | Vgl. hierzu die Arbeiten u. a. von Rirkrit Tiravanija, Pad Thai (1990), Andreas Wegner, Frankfurter Küche (1989/90), Liam Gillick, Eine Küchenkatze spricht (2009), Ka-

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Abb. 4: Philip-Lorca diCorcia: Hartford (Auden with Knife), 1988

Ausgangspunkt für eine weitere künstlerische Arbeit ist die Fotografie Hartford von Philip-Lorca diCorcia. Durch den nachgestellten Titel Auden with Knife wird die abgebildete Szene personifiziert; die Frau erhält einen Namen und das Messer in ihrer Hand begründet eine Handlung, die vordergründig im Schneiden von Gemüse liegt. Doch bei intensiverer Betrachtung erscheinen die abgebildeten Dinge und Handlungen des zunächst als Momentaufnahme gedeuteten Bildes nicht in den Raum zu passen und verweigern sich dadurch auch der Begründung als alltägliche Küchenszene. Im Gegenteil: Messer, Teller, Schüsseln, Bleche, Gemüse usw. erscheinen in ihrer Plastizität geradezu lebendig. Man hat den Eindruck, als handele es sich um Dinge, die eine Identität haben, die kombinierbar sind und in Bezugnahme aufeinander immer wieder neue Geschichten hervorbringen können. Der Bildausschnitt motiviert dazu, ein zeitliches Vorher und Nachher zu imaginieren und Möglichkeiten für einen narrativen Erzählrahmen zu entwickeln. Am Beispiel der fotografischen Arbeit von diCorcia werden die Studierenden nicht nur mit einer fotografierten Küchenszene, sondern vielmehr mit medial-narrativen Bedingungen konfrontiert, die in das fotografierte Küchenmotiv eingeschrieben sind. Die Aufgabe besteht darin, sich das dargestellte Motiv handelnd anzueignen und (weiter) zu erzählen. Dies kann über einen Text (Geschichte) oder eine spielerische Aktion erfolgen. Monique Breuer und Peter Lepp haben eine Performance entwickelt, in denen sie die Szene motivisch nachstellen. Ein Handlungsskript, das hier verkürzt wiedergegeben wird, dient als innerer Monolog der Frau. tharina Fritsch, Tischgesellschaft (1988), Martin Honert, Photo (1993), die stets einen anderen Aspekt im Kontext der Küchen- und Tischthematik akzentuieren.

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Abb. 5: Performance Monique Breuer und Peter Lepp

»Die Protagonistin steht in einem Raum, bewegt sich nicht, atmet leise, aber angestrengt. Es ist still im Raum, zeitweise hört man eine fordernde, männliche Stimme aus einem Nebenraum, der Gedankenstrom wird von einer weiblichen Person langsam und mit vielen Pausen (…) vorgetragen: Der schon wieder? Was will er denn? Noch mehr Gemüse? Ich weiß noch (…) ach ja, als ich jung war (…) ich wollte Krankenschwester werden (…). Und nun: Gemüse. Karotten, Salatköpfe, Porrée, Tomaten (…). Ich wollte was Sinnvolles machen (…). Sinnvoll!!! Leben, Gemüse retten, Leben retten (…), aber nun, ach, wie lange bin ich schon hier unten im Keller, in meinem kleinen Raum, abgeschottet, unwichtig, wer weiß schon, dass ich hier bin? Diese Leere in diesem Raum – diese Leere in MIR!!! Ich ertrage mich nicht mehr, dieses hier (…) Leere!!! Eine Küche? Bin ich eine Küchenhilfe in einem Raum, der nicht mal wie eine Küche aussieht (…). Kein Mensch hier, keine Hektik, nur ich und ja meine Freunde: (…) Gemüse (…) Messer! Karotten, Salatköpfe, Gurken (…), Messer!!! Wer und was bin ich? Jeden Tag aufs Neue, nichts bewirken, verändern (…) etwas Gutes tun, Leben retten! Leben (…) Nur Gemüse, mein Messer, nur das Gemüse, mein Messer und ICH, ich, ich, ich, Gemüse (…). Oh, was schreit er denn wieder so? Was will er denn? Soll er doch herkommen, soll er mich doch wieder (…). Ist es zu spät? Zu spät für einen Umbruch, einen Neuanfang? Neuer Anfang? Nimm das Gemüse, wirf es hin und geh, aber nimm eins mit: das Messer! Dein Werkzeug, deine Macht, dein Leben (…).«

Die performative Arbeit setzt voraus, dass die Fotografie als ästhetisches Material verstanden und eingesetzt wird. Sie liefert narrativen Bausteine, die in ihrem fragmentarischen und episodenhaften Charakter zugleich auf Phänomene des Umformens und Umdeutens aufmerksam machen und so Bedin-

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gungen medialer Konstruktion erfahrbar werden lassen. In der Performance der Studierenden transformiert die Küche von einem vertrauten überschaubaren Mikrokosmos in einen vieldeutigen, offenen Makrokosmos (Abb. 5). In der Performance bildet dieser den Handlungsrahmen für die Entfaltung des inneren Monologs. Die fotografisch abgebildete Frau, Auden, repräsentiert eine Existenzform, die durch mediale Konstruktion, diskursive Mittel bzw. durch performative Äußerungen hervorgebracht wird: situativ, präsentisch, wiederholend. Ihre Identität und Lebendigkeit bekommt dadurch etwas Artifizielles; Ausdruck und Gesten nehmen statuarischen Charakter an, Sinnbildung und Fragen nach dem eigenen Leben werden in einen Monolog verlagert bzw. durch diesen entäußert. Indem die Performance hier als ein gemeinsames (Erkenntnis)-Spiel mit offenem Ausgang realisiert wird, gewinnt die Frage nach der performativen Transformationsleistung insbesondere als Ermöglichungspraxis und Strategieleistung an Bedeutung.26 Diverse Performativitätskonzepte nach Erika Fischer-Lichte betonen insbesondere die sozial-kollektive Inszenierungskompetenz, die den Modus des Gegenwärtigen und des Möglichen ebenso mit einschließen wie Prinzipien von Wiederholung und Unmittelbarkeit.27

Z ucker und S al ami  – Z ufall und V erfall Ging es in diesen Beispielen um Annäherung an das Thema über Fotografie und Performance, so stehen in anderen Projekten das ästhetische Handeln und die unmittelbare, d. h. sinnlich-taktile Erfahrung mit Lebensmitteln als Materialien im Mittelpunkt (s. dazu den Beitrag von Petra Kathke in diesem Band). Dazu gehören u. a. Zucker, Salami, Butter, Schokolade, Käse oder Reis, Materialien, die eine unterschiedliche Materialität aufweisen und sich durch Farbigkeit, Konsistenz und Textur deutlich voneinander unterscheiden. Die im Seminarprojekt zum Thema »Materialität« verwendeten Ausgangsmaterialien stammen aus der Alltagswelt der Studierenden. Im Kunstkontext sollen die Lebensmittel die Funktion von Material einnehmen, was bedeutet, sie mehreren Transformationsprozessen zu unterziehen. Diese Transformationsleistung kann, wie bereits im lebensgeschichtlichen Zusammenhang erprobt, auch im Beispiel von Zucker zunächst durch intensives Erkunden des Materials und sogenannte Zuckerschüttungen initiiert und begonnen werden (Abb. 6).

26 | Vgl. ausführlicher zur Dimension des Performativen T. Düllo: Kultur als Transformation, bes. S. 542–555. 27 | Vgl. u. a. Marie-Luise Angerer: »Performance und Performativität«, in: Hubertus Butin (Hg.): DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, 2. Aufl. Köln: Snoeck 2014, S. 280–288.

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Abb. 6: Zuckerschüttungen und Zuckerarbeiten

Hilfreich für die experimentell-künstlerische Auseinandersetzung mit Zucker sind u. a. folgende Fragestellungen: Durch welche Eigenschaften ist das Material gekennzeichnet? Welche Rolle kommt den Materialexperimenten zu? Wie verändert die Art des Schüttens die Form der Anhäufung? Welche Formgebilde entstehen, welche Farbigkeit des Materials ruft das Schütten auf dem Tisch, dem Boden oder auf unterschiedlichem Papier hervor und welche Assoziationen werden jeweils hervorgerufen? Wie lässt sich Zucker als ›Bild‹ fixieren und wann ist der Prozess des Experimentierens abgeschlossen? In Einzel- oder Gruppenarbeit ließen sich durch Recherche von Informationen zu diesem kristallinen Lebensmittel erste Zugänge eröffnen, ferner Aussagen zu Haptik, Farbe, Form, Flächigkeit, zu Textur und Struktur von nicht-kunstaffinen Materialien verdichten. Weitere Materialerprobungen durch Schüttungen, Rieseln, Ausstreuen u. a. motivierten zu selbständigen experimentellen Handlungen. Die haptischen Erfahrungen lassen sich nachfolgend weiter ausdifferenzieren, eigenständige Formbildungen können gefunden, zusätzlich variiert und fotografisch oder filmisch dokumentiert werden. Das haptisch-visuelle Vergewissern von Materialität erhält dadurch einen integrierten Stellenwert im künstlerischen Prozess. So war es möglich, die Arbeit mit Zucker zugleich als Materialhandlung zu erweitern und auch als »Strategie materieller Welterkundung« zu thematisieren.28 Unter dem Thema »Zufall und Verfall« lassen sich unterschiedliche Materialprozesse initiieren und realisieren. Die Studierenden experimentieren eigenständig mit Verfahren des Erhitzens, Abtragens, Freilegens, durch Verbinden, 28 | Vgl. Hans Dieter Huber: »Das Gedächtnis der Hand«, in: Johannes Kirschenmann u. a. (Hg.), Kunstpädagogik im Projekt der allgemeinen Bildung, München: kopaed 2006, S. 39–51.

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Einwickeln, Einfärben usw. Dabei stehen die Erprobung der Materialqualitäten und die Transformation von Material im Mittelpunkt (Abb. 6). Auf diese Weise ist es möglich, das Zusammengehen von Material und Handlung in der eigenen künstlerische Praxis zu vertiefen. Durch Experimente mit verschiedenen Lebensmitteln und Bildträgern oder durch Druckverfahren kann eine Bildsprache entwickelt werden, wodurch Zufall, Verfall, Fehler usw. als bildgenerierende und -erweiternde Kriterien erkannt werden (Abb. 7). Abb. 7: Drucken mit Salami

Am Beispiel ausgewählter künstlerischer Arbeiten z. B. von Thomas Rentmeister, Dieter Roth, Jana Sterbak oder Sonja Alhäuser, die von Zuckerbergen, Schimmelobjekten, Fleischkleidern oder Butterbanketten handeln, findet die kunsthistorische Rahmung und vergleichende analytische Auseinandersetzung statt. Die Studierenden lernen über eigene experimentelle Zugänge die besondere Werkspezifik dieser Arbeiten kennen und schätzen, zugleich Fehler und Störungen als integrierte ästhetische Ausdrucksformen mit zu kalkulieren. Im Zeigen und Sprechen über die eigenen Arbeiten wird außerdem der Stellenwert von Materialserien besonders exponiert.

R ezep t  – R edzepi Eine enge Verbindung zum aktuellen material- und prozessorientierten Denken einiger prominenter Köche wurde in einem anderen Projekt erprobt. Am Beispiel des dänischen Kochs René Redzepi, der ein umfassendes kulinarisches System begründete, das global und regional argumentiert, lässt sich zunächst die diskursive Qualität seines Konzepts exemplarisch verdeutlichen. Hilfreich dafür ist der von ihm 2011 herausgegebene Band Noma. Zeit und Ort in der nordischen Küche.29 Die darin aufgeführten Rezepte, die u. a. durch Statisti29 | René Redzepi: Noma. Zeit und Ort in der nordischen Küche, S. 6–9.

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ken, Grafiken, Modelle, aber auch durch Künstlerbeiträge und Tagebucheinträge ergänzt werden, setzen das minimalistische Materialverständnis Redzepis mit der Diskursivität der Kochpraxis in Beziehung. Auf diese Weise wird das auf Ursprünglichkeit und Rohheit basierende »Wild Food« Redzepis vermittelbar. Ausgangspunkt für die künstlerische Arbeit sind diverse Rezepte aus dem NOMA-Bildband. Die Aufgabe besteht darin, die ungewöhnlichen Rezepte in ihren Bestandteilen und Materialien, in ihrer Farbigkeit und Gegenständlichkeit in eine Bildsprache zu übersetzen. Das Finden einer eigenen Bildsprache kann dabei über das Nachkochen des Rezepts und in der Entwicklung einer eigenen Teller-Komposition erfolgen. Es kann aber auch an der im Rezept angelegten Visualität angesetzt werden, die zu ganz eigenen Interpretationen und Ergebnissen führt und auf diese Weise Fragen nach der künstlerischen Relevanz, nach Werkprozess und Werkkriterien in den Mittelpunkt der Überlegungen rückt (Abb. 8). Die Herausforderung besteht bei dieser Aufgabe grundlegend darin, Lesarten des Rezepts zu entwerfen und durch unterschiedliche Praktiken zu erproben, wodurch das Material (als Text, Buch, Grafik oder als Gericht) unterschiedliche Prozesse der Transformation durchläuft, die in eine zunehmende Abstraktion münden. Abb. 8: Studentische Arbeiten nach Rezepten von René Redzepi

Tr ansformatorische K ompe tenzbildung ? Das Themenfeld Kunst und Kulinarik verweist auf ein grundsätzliches Interesse an Handlungsprozessen als Aneignungsprozesse, worüber (neue) Subjektivitätsformen sowie Produkt- bzw. Werkinnovationen innerhalb eines spezifischen Arrangements erzeugt werden. Die skizzierten künstlerischen Arbeiten mit materialgebundenen Werken gewinnen dabei als ein »In-Betweening«, (Thomas Düllo) innerhalb künstlerischer Lehre und Forschung, Bildung und

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Ausbildung an Bedeutung, so dass gefragt werden kann: Welchen Lern- bzw. Bildungswert besitzen die skizzierten (performativen) Handlungsformen mit Essen als Material? Kann die Verbindung Kunst und Kulinarik über einen erweiterten Materialbegriff hinaus zugleich zu einem ›Mehr‹ an individueller Ausdrucksmöglichkeit und Wahrnehmungssensibilisierung, an Geschmacksbildung und Genussfähigkeit, aber auch an transformierender Bildkompetenz beitragen? Lässt sich auf diese Weise möglicherweise auch eine von Jürgen Dollase in die Diskussion gebrachte »kulinarische Intelligenz« anstreben? Können auf der Grundlage einer »kulinarischen Allgemeinbildung«, (Ines Heindl), Pädagogik und Subjekt mit Blick auf aktuelle Anforderungen einer globalen Welt neu verschaltet werden und durch eine künstlerisch-kulinarische Perspektivierung von Nahrung und Essen zugleich Strategien der Lebens-Gestaltung und -bewältigung initiiert werden? Und: Wo sind die institutionellen Foren, in denen wir lernen können, Nahrung und Essen in größere Zusammenhänge zu perspektivieren. Den sozialen und verantwortungsvollen Umgang mit Lebensmitteln und Zutaten aus der Perspektive einer »Essethik«, reflektieren zu lernen und anzuwenden? Die hier vorgestellten exemplarischen Arbeiten und Projekte aus dem Themenfeld Kunst und Kulinarik werfen in dem eröffneten Zusammenhang von Lebensmitteln als Kunstmaterial, von Crossover und Transformationspraktiken zugleich auch Fragen nach Erkenntnisgewinn und Kompetenzbildung auf. Deutlich wird, dass es bei den ausgewählten Beispielen in diesem Zusammenhang um ein gleichsam doppeltes Materialhandeln geht: Zum einen handelt das Material, zum anderen sind es die Studierende, die mit dem handelnden Material handeln. Ein solches Materialhandeln jenseits kanonisierter Regelwerke zeigt, dass bislang erprobte Zugänge und Ansätze, aber auch das Denken über Materialien stets neu ausgelotet werden müssen. Das mit Studierenden erprobte Materialhandeln von Lebensmitteln ist zugleich nie zweckfrei. Ihm kommt die Aufgabe zu, bestehende Autoritätsverhältnisse durch formale und inhaltliche Widerstände mit zu reflektieren, im besten Sinne auch zu klären. Heterogenitätsprinzipien, Denkfiguren des Bruchs, der Störung und des Fehlerhaften, Metaphern des Zufälligen und Provisorischen, des Instabilen und Temporären, Prozesse statt Zustände generieren dabei das Materialsein aus dem »Dazwischen« Dieser Begriff eignet sich in diesem Zusammenhang besonders gut, um das Material aus einer lange Zeit vorherrschenden binären Perspektive herauszulösen, was für die Veränderlichkeit der Materialrealität und einer insgesamt dynamischen Ordnungsstruktur ausschlaggebend ist. Die aufgeführten Beispiele aus Kontexten der künstlerischen und kunstgeschichtlichen Lehre und Kunstvermittlung haben verdeutlicht, wie das Materialhandeln als Prozess des Umgestaltens und Umdeutens dabei immer zu anderen Praktiken, Formen, Trägern gesetzt bzw. darüber fortgesetzt wird, woraus Hy-

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bridbildungen resultieren.30 Deutlich wird dabei auch, dass die Studierenden durch das Materialhandeln in die Lage versetzt werden, die Bedingungen des Materialseins zu reflektieren und für die eigene künstlerische Arbeit nutzbar zu machen. Ein durch die beschriebenen Projekte initiiertes Materialhandeln mit Lebensmitteln als Kunstmaterial fördert insbesondere transformatorische und performative Kompetenzbildung. Gemeint sind damit Fähigkeiten des Kombinierens und Konstellierens, des Umdeutens und Verschiebens, Wiederholens und Übersetzens. Es handelt sich hierbei um ein am und mit dem Material erprobtes Handlungsrepertoire, das mit Blick auf zeitspezifische Umbrüche, Kontextwechsel und Re-Kontextualisierungen als Haltung besonders wirksam erscheint.31 Diese im Kontext von künstlerischer Praxis erprobten »Bricolage-Techniken« können dazu beitragen, dass die Studierenden in die Haltung einer »bastelenden Inbezugsetzung« versetzt werden. Norbert Bolz spricht in diesem Zusammenhang von »Komplexitätsempfindlichkeit«, womit er die Anpassung an das Unvorhersehbare – und in Ergänzung dazu: auch an das Uneindeutige und Unreine – meint: »Um flexibel reagieren zu können, braucht man Redundanz und lockere Verknüpfungen. […] Wer nicht auf Nachhaltigkeit und Perfektion, sondern auf Flexibilität und Spannkraft setzt […], der muss an Stelle einer positiven Zielorientierung eine völlig neue Kultur der Fehlerfreundlichkeit entwickeln.« 32

L iter atur Angerer, Marie-Luise: »Performance und Performativität«, in: Hubertus Butin (Hg.): DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, 2. Aufl. Köln: Snoeck 2014, S. 280–288.

30 | Vgl. Carina Plath: »Vernetzungen«, in: Sprengel Museum Hannover u. a. (Hg.), Made in Germany Zwei, Nürnberg: Verlag für Moderne Kunst 2012, S. 44–47. 31 | »In einer Gegenwart, in der bildliche Phantasmen des Realraums bis zur Ununterscheidbarkeit penetrieren, erscheint es sinnvoll, die oben bereits angedeutete Technik der Übersetzung als zeitgemäßes Medium anzuerkennen: In einer Matrix aus vermeintlich nahen und fernen, physischen und immateriellen Lebensräumen, -zeiten und -sprachen scheint die Übersetzung am ehesten imstande, Fehler, Grenzen, Lecks, blinde Flecken aufzuspüren.« Martin Germann: »Biegen, Flechten, Kneten«, in: Sprengel Museum Hannover u. a. (Hg.): Made in Germany Zwei, S. 246. 32 | Norbert Bolz: »Mapping the Unknown. Oder: Soll man über die Zukunft besser nicht sprechen«, in: Dirk Matejovski (Hg.), Metropolen. Laboratorien der Moderne, Frankfurt a. M./New York: Campus 2000, S. 343–354.

Kunst und Kulinarik

Autsch, Sabiene/Käuser, Andreas: »Der Koch und der Kurator. Zur Medienästhetik von Ausstellen, Schmecken und Geschmack«, in: Achim Barsch/ Helmut Scheuer/Georg-Michael Schulz (Hg.), Literatur – Kunst – Medien. [= Festschrift für Peter Seibert], Berlin: Meidenbauer 2008, S. 171–187. Autsch, Sabiene: Telleranalysen: »Molekularküche zwischen Werkstatt, Atelier und Labor«. (»Plate Analysis: Molecular Gastronomy between Workshop, Studio and Laboratory«). (Gekürzte Fassung der Antrittsvorlesung, in: PUR, Paderborner Universitätsreden, Heft 116, 2010), in: Marta Herford GmbH (Hg.), Atelier + Küche = Labore der Sinne. (Publikation anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, 12. Mai – 16. September 2012), Ostfildern: Hatje Cantz 2012, S. 134–145. Beil, Ralf: Künstlerküche. Lebensmittel als Kunstmaterial von Schiele bis Jason Rhoades, Köln: DuMont 2002. Bolz, Norbert: »Mapping the Unknown. Oder: Soll man über die Zukunft besser nicht sprechen«, in: Dirk Matejovski (Hg.), Metropolen. Laboratorien der Moderne, Frankfurt a. M./New York: Campus 2000, S. 343–354. Claessen, Paul: Pauls Essen, Frankfurt a. M.: Nizza Verlag 2008. Dollase, Jürgen: Kulinarische Intelligenz, Wiesbaden: Tre Torri 2006. Düllo, Thomas: Kultur als Transformation. Eine Kulturwissenschaft des Performativen und des Crossover, Bielefeld: transcript 2011. Germann, Martin: »Biegen, Flechten, Kneten – Editieren, Formatieren, Maskieren. Über Medien und Materialien«, in: Sprengel Museum Hannover/ KestnerGesellschaft/Kunstverein Hannover (Hg.), Made in Germany Zwei, Nürnberg: Verlag für Moderne Kunst 2012, S. 242–246. Heindl, Ines: »Kulinaristik und Allgemeinbildung«, in: Alois Wierlacher/ Regina Bendix (Hg.), Kulinaristik. Forschung – Lehre – Praxis, Berlin: LIT 2008. S. 129–146. Huber, Hans-Dieter: »Das Gedächtnis der Hand«, in: Johannes Kirschenmann u. a. (Hg.), Kunstpädagogik im Projekt der allgemeinen Bildung, München: kopaed 2006, S. 39–51. Kubelka, Peter: »Kochen die älteste bildende Kunst«. Ein Gespräch mit HeinzNorbert Jocks, in: Kunstforum International (2002), Nr. 159, S. 93–109. Kunsthalle Düsseldorf u. a. (Hg.): Eating the Universe. Vom Essen in der Kunst. (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Kunsthalle Düsseldorf 28. November 2009 bis 28. Februar 2010 u. a.), Köln: DuMont 2009. Lemke, Harald: Die Kunst des Essens. Eine Ästhetik des kulinarischen Geschmacks, Bielefeld: transcript 2007. Marta Herford (Hg.): Atelier + Küche = Labore der Sinne (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, 12. Mai bis 16. September 2012, Marta Herford), Ostfildern: Hatje Cantz 2012. Nussbaummüller, Winfried: Materialtendenzen des 20. Jahrhunderts im Spannungsbereich von Bild und Objekt, Frankfurt a. M.: Lang 2000.

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Sabiene Autsch

Plath, Carina: »Vernetzungen«, in: Sprengel Museum Hannover/KestnerGesellschaft/Kunstverein Hannover (Hg.), Made in Germany Zwei, Nürnberg: Verlag für Moderne Kunst 2012, S. 44–47. Seifert, Oliver: »Von Brueghel zu Beuys: die Wiedergeburt der Küche aus dem Geist der Alchemie«, in: Marta Herford (Hg.), Atelier + Küche = Labore der Sinne, S. 208–217. Simonis, Annette: »Der Traum von der Materialität. Ein ästhetischer Diskurs über Visualität und Materialität in den Künsten«, in: T. Strässle/C. Kleinschmidt/J. Mohs (Hg.), Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten, S. 221–238. Spoerri, Daniel: Gastronomisches Tagebuch. Itinerarium für zwei Personen auf einer ägäischen Insel nebst Anekdoten und anderem Kram sowie einer Abhandlung über die Boulette, Neuwied/Berlin: Luchterhand 1970. Strässle, Thomas: »Pluralis materialitatis«, in: T. Strässle/C. Kleinschmidt/J. Mohs (Hg.), Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten, S. 7–26. Wierlacher, Alois/Neumann, Gerhard/Teuteberg, Hans Jürgen (Hg.): Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder, Berlin: Akademie Verlag 1993.

A bbildungen Abb.  1: Kim-Sarah Hiestermann, Avocado in verschiedenen Zuständen (gekocht, vakuumisiert, verschimmelt). Fotografie, mehrteilige Serie. (Projekt: Lunch Box I: Kulinarik als Thema und Motiv in Kunst, Film und Literatur (SS 2014)/Lunch Box II: Kochwerkstatt (SS 2014)). Abb. 2: Mind Maps. Reihe mit Arbeiten von Katharina Schmitz, Miriam Döring, Laura Schmitz. (Projekt: Lunch Box I: Kulinarik als Thema und Motiv in Kunst, Film und Literatur (SS 2014)/Lunch Box II: Kochwerkstatt (SS 2014)). Abb. 3: Luisa Schürmann, Ess-Biografie (Jeden Tag ein Teller). (Projekt: Lunch Box I: Kulinarik als Thema und Motiv in Kunst, Film und Literatur (SS 2014)/Lunch Box II: Kochwerkstatt (SS 2014)). Abb.  4: Philip-Lorca diCorcia: Hartford (Auden with Knife), 1988, Ektacolor Print, 40,64 × 50,8 cm (aus: Marta Herford (Hg.): Atelier + Küche = Labore der Sinne (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, 12. Mai – 16. September 2012, Marta Herford), Ostfildern: Hatje Cantz 2012, S. 82/83). Abb. 5: Monique Breuer und Peter Lepp, Performance. (Projekt: Lunch Box I: Kulinarik als Thema und Motiv in Kunst, Film und Literatur (SS 2014)/ Lunch Box II: Kochwerkstatt (SS 2014)). Abb.  6: Zuckerschüttungen. Studentische Arbeiten aus Zucker auf verschiedenen Bildträgern, verschiedene Zustände. (Private Fotografien, Projekt: Avantgarde und Materialität – Seminar und Atelier (WS 2012)).

Kunst und Kulinarik

Abb. 7: Salamidrucke, diverse Bildträger (Papier, Pappe, Krepp), Presse (Private Fotografien, Projekt: Avantgarde und Materialität  – Seminar und Atelier (WS 2012)). Abb. 8: Rezept René Redzepi, Arbeiten von Miriam Döring und Florian Salim. (Projekt: Lunch Box I: Kulinarik als Thema und Motiv in Kunst, Film und Literatur (SS 2014)/Lunch Box II: Kochwerkstatt (SS 2014)).

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Material und Geste Klavierzerstörungen in den 1960er Jahren zwischen Performance und Acting-out Gunnar Schmidt Will man die Kunst der 1960er Jahre erfassen, so lassen sich schematisch zwei Strömungen unterscheiden: Dominant erscheint die Pop Art, die mit Leuchtfarben die Zeichenwelt des entsublimierten Konsumismus reproduzierte. Weniger ausgeprägt ist dem gegenüber die körperliche Kunst der zweiten Avantgarde, die allerdings mit weitaus größerer Durchschlagskraft die bis dahin geltenden Kunstparadigmen einer Zerreißprobe unterzog. Zwei Tendenzen liefen in dieser Kunst aufeinander zu: Materialien, die als kunstfern galten, wurden in enigmatisch-auratische Objekte verwandelt. Der Material Turn im System Kunst ermöglichte es, dass nahezu jeder Stoff, auch der billigste und unscheinbarste, Kunstwürdigkeit erlangen konnte: Schwere Industriemetalle, weiche Kunststoffe, fließende Textilien, Dämpfe und sogar unsichtbare Wellen und Strahlungen. Weiterhin wurden Kulturstoffe wie Abfall, Asche und Gebrauchsdinge des Alltags, die ihrer Nutzbestimmung entzogen wurden, artifiziert. Anstatt einem mimetischen Ikonografismus zu folgen, wurden sinnliche Dinghaftigkeit und Prozessualität zu Leitbegriffen künstlerischer Praxis. In Parallelaktion entstanden performativ-gestische Praktiken, mit denen destruktiv auf die Materialien eingewirkt wurde. Der Hang zur Zerstörung – vor allem von Konsum-, Kultur- und Alltagsgegenständen – trug entscheidend zur Entwicklung von Material- und Performance-Kunst bei. Materialmisshandlungen wie Verbrennung (Annea Lockwood, Arman), Kompression (César), Zerschlagung (Wiener Gruppe, Raphael Montañez Ortiz), Zersägung (Arman, Robert Bozzi), Ertränken (Annea Lockwood, Mieko Shiomi), Beschießung (Wolf Vostell, Niki de Saint Phalle), Übernagelung (Günther Uecker, George Maciunas), Fallenlassen (Al Hansen), Säureangriff (Gustav Metzger), Abreißen (Jacques de la Villeglé, François Dufrêne), Explosion (Jean Tinguely) und Tierschlachtung (Raphael Montañez Ortiz, Hermann Nitsch) gehörten zum Repertoire

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einer neuen Expressivität.1 Fluxus, Neuer Realismus, Happening/Aktionismus, Destruction Art unternahmen Attacken auf Gegenstände des Alltags und definierten Kunst als Manifestationen des Widerstands gegen eine Kultur, die gerade im Begriff war, sich von den Beschädigungen des Krieges zu erholen. Das Auto und der Fernsehapparat als Fetische der neuen Konsumkultur, aber auch das Klavier waren Objekte des Angriffs, die mit Krach, frecher Attitüde oder pathetischem Gestus destruiert wurden. Das Klavier nimmt als symbolträchtiger Repräsentant der künstlerischen Hochkultur eine Sonderstellung ein, denn die Beschädigung dieses Gegenstandes impliziert eine selbstreflexive Operation innerhalb des Kunstsystems: Was bis dahin ein Medium für elaborierte klangliche Kunsthaftigkeit war, wurde in Schlachtfesten in einen lärmenden Materialhaufen verwandelt. Die folgende Darstellung einiger Klavierperformances der 1960er Jahre wird einige Aspekte der künstlerischen Selbstthematisierung benennen und die damit einhergehenden ambivalenten affektiven Intensitäten im kulturellen Kontext interpretieren. Um dieser Tendenz einer aggressiven Epochenstimmung auf die Spur zu kommen, ist eingangs aus Alan Ginsbergs Gedicht Howl (1955) zu zitieren, in dem es heißt: »I’m with you in Rockland/where you bang on the catatonic piano«.2 Mit den Zeilen adressiert Ginsberg seinen Freund Carl Solomon, Insasse einer psychiatrischen Klinik, die mit dem mehrdeutigen Namen Rockland bezeichnet wird. Das literarische Bild des Verrückten oder für verrückt Gehaltenen, der das verkrampfte Klavier attackiert, nimmt das Image des Künstlers vorweg, der die versteinerte Normalität durch verzweifelten Aufruhr beunruhigt. Oder sind es doch eher der Spaß, der Rock’n Roll, das Tanzen und die Ausgelassenheit, mit denen der Druck überkommener kultureller Konventionen vergessen gemacht werden soll? Ein Künstler, der zur Gruppe der Rocklander gezählt werden kann, ist der junge Nam June Paik. Paik war nicht der erste Künstler, der sich taktlos dem Instrument genähert hat, doch deutet sein Beispiel das Oszillieren zwischen den affektiven Valeurs an.3 »Das Klavier ist ein Tabu. Es muß zerstört werden.«4 Paik hat diesen Satz 1963 in einem Gespräch über Fluxus geäußert und ihn auch späterhin paraphrasierend wiederholt. Das Zitat, herausgelöst aus seinem Kontext, eignet 1 | Eine Reihe von künstlerischen Zerstörungsverfahren beschreibt Dario Gamboni: Zerstörte Kunst. Bildersturm und Vandalismus im 20. Jahrhundert, Köln: DuMont 1998. 2 | Alan Ginsberg: »Howl«, in: www.poetryfoundation.org/poem/179381 3 | Zur Geschichte der Klavierzerstörung siehe: Gunnar Schmidt: Klavierzerstörungen in Kunst und Popkultur, Berlin: Reimer 2012. 4 | John Anthony Thwaites/Gottfried Michael Koenig/Wolfgang Ramsbott: »magnumInterview. Die Fluxus-Leute. Interviews mit Jean-Pierre Wilhelm, Nam June Paik, Wolf Vostell, Carlheinz Caspary«, in: Magnum – die Zeitschrift für das moderne Leben, 47 (1963), S. 32–35, 62–67, hier S. 64.

Material und Geste

sich zum propagandistischen Slogan, weil man sogleich meint zu verstehen, was damit gesagt werden soll: Wer das Klavier durch Destruktion der Kunst entzieht, erweist sich als hellsichtiger Kritiker bürgerlicher Aufführungspraktiken, erstarrter Rezeptionssituationen und obsoleter Ästhetiken. Die Tabuverletzung kann im Gegenzug allerdings auch eine ganz andere Reaktion auf Beobachterseite hervorrufen: die Sorge um den Bestand kultureller Übereinkünfte und die Furcht vor einem wahnsinnigen Anliegen. Die ›Verrücktheit‹ spielt im Falle Paiks eine leise Hintergrundmelodie, die zum Handlungs- und Werkmotiv gerechnet werden kann. Vor allem in der Frühzeit seiner Kunstentwicklung, in der das ursprüngliche musikalische Anliegen in das Genre der Performance transformiert wurde, erlebten einige Weggefährten Paik als wahnsinnig  – im klinischen Sinne.5 Die Performances von Hommage à John Cage (1959) und die mit ähnlichen künstlerischen Mitteln operierende Etude for Piano Forte (1960), die im Kölner Atelier von Mary Bauermeister stattfanden und in denen Paik sich nicht nur dem Klavier, sondern auch Zuschauern und sich selbst gegenüber aggressiv verhielt, bildeten Momente der Unentschiedenheit. Ob seine ›Verrücktheit‹ während der Performance gespielt oder echt war, konnte von den Zuschauern nicht ergründet werden. Die Performances zeigten in jedem Fall einen Akteur, der eine eindringliche psychische Intensität und physische Präsenz ausstrahlte. Wie zwischen gespieltem Angriff und Selbstverletzung nur ein schmaler Grat lag, war auch der Unterschied zwischen Repräsentation und unmittelbarer Präsenz unklar.6 Was aber gab er dem Publikum zu sehen und zu hören? Wie auf einer Tonaufnahme der Etude for Piano Forte vom Oktober 1960 zu hören ist 7, bot er in ungefähr zehn Minuten eine Mischung aus fragmentarischem konventionellem Klavierspiel, eingestreuten Tonbandaufnahmen mit Geräuschen, verfremdeter Musik und teilweise schrecklichem Geschrei. Die klanglichen Elemente 5 | Ken Hakuta, Neffe und späterer Manager Paiks, äußerte sich dazu in Maria Anna Tappeiner (Reg.): Nam June Paik. Open your Eyes, Westdeutscher Rundfunk 2010; Die Künstlerin Nancy Chunn schreibt: »Nam June was as crazy as a loon.« Nancy Chunn: »Reflections«, in: Richard Hertz (Hg.), Jack Goldstein and the Cal Arts Mafia, Ojai, Kalifornien: Minneola Press 2003, S. 85–107, hier S. 92. Im selben Sinne äußerte sich Benjamin Patterson in einem Gespräch mit mir am 7. November 2011. 6 | Mary Bauermeister beschreibt, wie sich Paik während der Aufführung von »Etude« beim Zerschlagen einer Glasscheibe die Hand blutig riss. Vgl. Gregor Zootzky (Reg.): psst pp Piano. Hommage à Mary Bauermeister, 2009. Und John Cage erinnert sich, dass Paik bei gleicher Gelegenheit derart heftig agierte, »daß man nicht verwundert gewesen wäre, wenn er sich vom fünften Stock auf die Straße gestürzt hätte.« John Cage: »Zum Werk von Nam June Paik«, in: Tony Stooss/Thomas Kellein (Hg.), Nam June Paik. Video Time – Video Space, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 1991, S. 21–24, hier S. 22. 7 | Siehe: www.ubu.com/sound/paik.html

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wurden durch performative Anteile ergänzt oder abgelöst: Paik wirft ein Ei und einen Rosenkranz, zerschlägt eine Glasscheibe, ein Motorroller knattert, ein Radio plärrt, Knallkörper explodieren, dann stürzt er das Klavier um, traktiert es mit Hammer oder Säge, trampelt darauf herum, schreit und rast wie ein Berserker, wirft sich hinter das Klavier und geht in Deckung, als müsste er sich vor einem Angriff schützen und zielt mit einem Besenstil auf das Publikum.8 Was die Affektsituation auf Seiten des Publikums betrifft, so ist diese nicht nur aus der Tonaufnahme zu ermitteln: In den zeitgenössischen Besprechungen wird das Stück als »schaurig-lautes Schreckenswerk« beschrieben, das enthusiastischen Beifall erzeugte, aber auch Stille hinterließ.9 Die Tonaufnahme belegt diese Schilderungen auf eindrückliche Weise, denn das Publikum reagiert auf einige Aktionen mit dezentem Lachen, das sich zu kollektiver Fröhlichkeit steigert, um sodann wieder abzuebben. Nach dem Schreien und Wimmern von Paik herrscht betroffenes Schweigen, das jedoch bei Paiks Arbeit mit Hammer und Säge am Klavier in verhaltenes Lachen übergeht. Es wird erkennbar, dass die Handlungen die entscheidenden Momente waren, die das Publikum zwischen den Polen von unbekümmertem Überschwang und meditativer Ergriffenheit hin- und herrissen. Die dadaistische Aktion mit ihrer clownesken Witzigkeit war offenbar der Inszenierungstrick, um den Einbruch des Dunklen, des Wahnsinns und der Verzweiflung umso eindringlicher zu gestalten. In der Literatur zur Performancekunst und zur Musikentwicklung bleibt der energetische Aspekt von Etude for Piano Forte und Hommage à John Cage zumeist unerwähnt, wie auch die offensichtliche Botschaft unterschlagen wird: Paik agiert nämlich einen Bericht, er gibt eine Erinnerung mittels Handlungen wieder. Was er vorführt, ist die Re-Inszenierung der Kriegsgräuel. Wenn er ein Ei wirft, dann erkennt der Zuschauer eine Handgranate, der fortgeschleuderte Rosenkranz bezeugt den Verlust des Glaubens, das Krachen des Klaviers imitiert den Einschlag einer Bombe, das Schreien ist das Schreien der Traumatisierten, der Rückzug hinter das Klavier die Haltung des Kriegers im Feuer der Geschütze. Mögen sich auch noch andere Assoziationen an die Performance knüpfen, die beiden Stücke wären aus heutiger Sicht als lächerliche Illustrationen unsagbarer Leiden zu kritisieren. Es ist bemerkenswert, dass Paik in zwei Briefen, in denen er seine Stücke beschreibt, durchgängig nur seine formalen Ideen und keine inhaltlichen Überlegungen kommuniziert. Lediglich an einer Stelle durchbricht er diese Stummheit: »Zweite Satz 8 | Abbildung in: Historisches Archiv der Stadt Köln (Hg.): Intermedial kontrovers experimentell. Das Atelier Mary Bauermeister in Köln 1960–62, Köln: Emons 1993, S. 118. 9 | Vgl. Die Besprechungen von zwei Aufführungen in der Düsseldorfer Zeitung (1959) und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1960), abgedruckt in: Nam June Paik: Werke 1946–1976. Musik-Fluxus-Video, Köln: Kölnischer Kunstverein 1976, S. 42–43.

Material und Geste

ist eine Verwarnung zu den Wirtschaft Wunder der Deutschen, wo Fleißigkeit und Dummheit in Eins gebunden ist.«10 Mary Bauermeister ist eine der wenigen, die die einfache Wahrheit dieser frühen Performances Paiks ausgesprochen hat: »Es war sicher ein pazifistischer Beitrag zum Kriegsgeschehen von Paik.«11 Dieses Geschehen hat er, so Bauermeister, »grauenhaft nachgemacht«.12 Schreckliche Vergangenheit und verblödete Gegenwart – beides wurde mit einfachen metaphorischen Darstellungsmitteln wiedergegeben. Diese Mittel entziehen sich jedoch einem negativen künstlerischen Werturteil, weil ein Verrückter mit ganzem Einsatz und tiefem Ernst die Szene zur Aufführung brachte. Es sind eben nicht die Formalien einer so genannten avantgardistischen Kunstentwicklung, die zur Beurteilung anstehen und die nur allzu oft glorifiziert werden; zu beurteilen ist der Versuch, einer unaufgearbeiteten Erfahrung eine Gestalt zu geben. Ebenso wie Paik, der mit 18 Jahren aufgrund des Koreakrieges nach Japan flüchtete, ist George Maciunas ein Kriegsgeschädigter; auch er floh als Kind mit seiner Familie aus Litauen vor der russischen Armee 1944 nach Deutschland und erlebte dort Fliegerangriffe, die ihn selbst mehrfach bedrohten. Maciunas kann wohl als derjenige gelten, der die Klavierzerstörung im Kontext der Kunst mit dem größten Aufmerksamkeitseffekt versehen hat, als er 1962 in Wiesbaden während der von ihm organisierten Internationalen Festspiele neuester Musik Philip Corners Komposition Piano Acitivities gemeinsam mit Emmett Williams, Wolf Vostell, Nam June Paik, Dick Higgins, Benjamin Patterson und Alison Knowles auf ungewöhnliche Weise interpretierte.13 Maciunas ließ seine Akteure ein furioses Demolierspektakel veranstalten, wohingegen in Philip Corners Handlungsanleitung lediglich ungewöhnliche Spielweisen für mehrere Teilnehmer am Klavier vorgesehen sind. Im Gegensatz zu Paiks absurder Darstellung karikierten die Akteure in Wiesbaden das konventionelle Konzertgebaren und gestalteten eine komische, slapstickartige Situation. In der Literatur zu Fluxus wird regelhaft auf den Provokationismus dieser Performance verwiesen. Dem Geschehen lag allerdings auch eine neue Klang- und Materialästhetik zugrunde. Im gleichen Jahr der Piano Activities verfasst Maciunas seinen Grundsatztext Neo-Dada in Musik, Theater, Dichtung, Kunst, in dem es heißt:

10 | Nam June Paik: Niederschriften eines Kulturnomaden. Aphorismen, Briefe, Texte, Köln: DuMont 1992, S. 52. 11 | Mary Bauermeister zit. n. G. Zootzky: psst pp Piano. 12 | Ebd. 13 | Siehe: TV-Bericht von 1962 des Hessischen Rundfunks über die »Internationalen Festspiele neuester Musik«: https://www.youtube.com/watch?v=ADX5KnWGZDo

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Abb. 1: Piano Activities, 1962

»Material oder konkret nennt man einen Ton, der eine enge Affinität zum tonproduzierenden Material besitzt – also einen Ton, dessen Obertonmuster und entsprechende Vielfarbigkeit eindeutig auf die Natur des Materials oder der konkreten Realität verweisen, die ihn hervorbringt. Daher ist eine Note, die auf einem Klavier angeschlagen wird, oder eine Belcantostimme weitgehend immateriell, abstrakt und artifiziell, denn

Material und Geste der Ton verweist nicht eindeutig auf seine wahre Quelle oder materiale Realität – die Zusammenwirkung von Saite, Holz, Metall, Filz, Stimme, Lippen, Zunge, Mund usw. Ein Ton zum Beispiel, der dadurch hervorgebracht wird, daß man das Klavier selbst mit einem Hammer anschlägt oder gegen seine Unterseite tritt, ist materialer und konkreter, weil er viel deutlicher die Härte des Hammers, die Hohlheit des Pianoklangkörpers und die Resonanz der Saiten anzeigt.«14

2012 wurden erstmals Tonaufnahmen von zwei Aufführungen der Piano Acti­ vities veröffentlicht. Die Bedeutung der von Maciunas angefertigten Aufnahmen liegt nicht nur in der Dokumentation der brutistischen Klanglichkeit der Aufführung, mindestens ebenso wichtig sind die aufgezeichneten Reaktionen des Publikums. Auf einer dieser Aufnahmen kann man ein äußerst euphorisiertes Auditorium hören; während des gesamten Stücks wird gesprochen, erschallen Anfeuerungsausrufe, wird laut gelacht, brandet Zwischenapplaus auf. Das habituelle Szenario erinnert an Rock’n-Roll- oder Hot-Jazz-Events.15 Nicht nur wird die auf anarchisch-volkstümliche Unterhaltung ausgerichtete Tendenz von Fluxus deutlich, es wird zudem verständlich, warum die zeitgenössische Kritik hauptsächlich die anti-musikalischen Anteile erkannte.16 Der Doppelcharakter der Performance als Störaktion gegen das Konventionelle einerseits und als Aufbruch in eine neue klangliche Ästhetik andererseits verweist auf zwei Möglichkeiten der Wahrnehmung: Das theatrale Ereignis konnte sich gegenüber der neu-musikalischen Entwicklung verselbstständigen und einen eigenen Bereich des gestischen Ausdrucks markieren. In Wiesbaden blieb diese Zweiteilung nicht auf die beteiligten Künstler beschränkt, die zwar eine Grenze überschritten, dies jedoch mit gespielter Ernsthaftigkeit und Gefasstheit taten, wie man es von Konzertmusikern kannte. Das Publikum in seiner karnevalesken Ausgelassenheit ließ hingegen jede konventionelle Konzertanständigkeit vermissen und gab sich gleichsam einem affektiven Acting-out hin. Genau diese Verhaltensdisposition zeigte auch Joseph Beuys, als er ein halbes Jahr nach dem Wiesbadener Spektakel unerwartet bei Nam June Paiks erster Soloausstellung Exposition of Music – Electronic Television in Wuppertal erschien, und eines der ausgestellten Paik-Klaviere in einer Aktion zerhackte. Beuys, der insgesamt wenig destruktive Neigungen in seinen Performances zeigte, schien 1963 gemäß dem Affektklima der Epoche einer reaktiven Zer-

14 | George Maciunas: »Neo-Dada in Musik, Theater, Dichtung, Kunst«, in: Charles Harrison, Paul Woods (Hg.), Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, Bd. II, Ostfildern-Ruit : Hatje Cantz 1998, S. 894–896, hier S. 895. 15 | Soundfile unter: www.piano-activities.de 16 | »Musik und Antimusik«, in: Allgemeine Zeitung, 3. September 1962, S. 13. Vgl. auch die Artikel im Wiesbadener Kurier vom 4., 11. und 12. September 1962.

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störungswut zu unterliegen.17 Wie die Fluxus-Künstler trat Beuys – entgegen seines damals schon etablierten Images mit Hut und Arbeitskleidung  – in seriösem Habit auf, »angezogen wie ein richtiger Pianist in dunkelgrauem Flanell, mit schwarzer Krawatte und ohne Hut.«18 In einer selbstkarikierenden und distanzierenden Weise schildert Beuys seine Piano-Aktion Ende der 1970er Jahre wie folgt: »Ich spielte auf dem ganzen Klavier – nicht nur auf den Tasten – mit vielen alten Schuhen, bis es auseinanderfiel.«19 Aus Berichten von Augenzeugen weiß man allerdings, dass die Aktion selbst äußerst heftig ausgeführt wurde und Beuys auf einige Besucher wie ein Rasender gewirkt haben muss. Der Fotograf Manfred Montwé schreibt: »Er [Beuys] kam in die Halle, stand direkt vor dem liegenden Klavier, er hat die Axt geschwungen und richtig zugeschlagen. Mit unglaublichem Einsatz und Intensität […]. Das war wie eine Explosion, und der ganze Raum war plötzlich still. Völlig still. Das ging ganz schnell, in wenigen Minuten war alles vorbei. [Weil die Ehefrau des Galeristen beunruhigt war, hat Montwé einen Eimer Wasser von der Galerie im ersten Stock über Beuys ausgeleert.] Das war dann auch schon der Endpunkt. Da war sozusagen der Bann gebrochen. Beuys hat das nicht wirklich irritiert, er hat das mit einbezogen.« 20

Gegen wen oder was aber war die Aktion gerichtet? Gegen das Klavier als Symbol, gegen die Kunst des Kollegen Paik, gegen das anwesende Publikum? Die Kritik hat in der Handlung keinen Vandalismus erkennen wollen  – obwohl Beuys ohne Absprache ein Exponat Paiks zerstörte –, sondern darin einen »Eingriff mit künstlerisch demonstrativem Charakter an einem Werk aus gleichem Geist«21 erkannt. Diese Deutung ist plausibel, denn Beuys hatte von den ausgestellten Klavierobjekten jenes ausgewählt, das bereits umgestürzt am Boden lag und eine Reminiszenz des erlegten Klaviers von 1960 darstellte. In einer Anmerkung geht Beuys jedoch einen Schritt weiter: 17 | Aufgrund der Handlungsähnlichkeit und der historischen Nachbarschaft bezeichnet Uwe Schneede die beuyssche Klavierzerschlagung als »Wiederholung« der Wiesbadener Fluxus-Aktion. Uwe M. Schneede: Joseph Beuys. Die Aktionen, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 1994, S. 37. Abbildung in: Manfred Leve: Aktionen Vernissagen Personen, Köln: Rheinland 1982, S. 173. 18 | Joseph Beuys zit. n. Caroline Tisdall: Joseph Beuys, New York: Solomon R. Guggenheim Museum 1979, S. 87. 19 | Ebd., S. 87. 20 | »Erinnerungen an die Exposition of Music. Manfred Montwé im Gespräch mit Susanne Neuburger«, in: Nam June Paik, Exposition of Music Electronic Television, hg. v. Museum Moderner Kunst Wien, Susanne Neuburger, Köln: Walther König 2009, S. 89– 96, hier S. 91. 21 | U. M. Schneede: Joseph Beuys, S. 36.

Material und Geste »Meine Absicht war weder eine destruktive noch eine nihilistische: ›Heile das Gleiche mit dem Gleichen‹ – similia similibus curentur – im homöopathischen Sinne. Die Hauptabsicht war, einen neuen Anfang anzuzeigen, ein erweitertes Verständnis jeder traditionellen Form von Kunst, oder nur einen revolutionären Akt.« 22

Beuys unterlässt es, sein ›Außersichsein‹ zu kommentieren, ein wichtiger Aspekt, der ihn vom coolen Fluxus-Kollektiv unterschied. In Verbindung mit der rätselhaften Formulierung »Heile das Gleiche mit dem Gleichen« ergibt sich eine direkte Beziehbarkeit auf die Ambivalenz des emotionalen Erlebens in der damaligen Zeit. Beuys zitiert das Grundprinzip der Homöopathie, wonach zur Behandlung von Krankheiten in starker Verdünnung Medikamente eingesetzt werden, die bei Gesunden in höheren Dosen ein ähnliches Krankheitsbild erzeugen. Überträgt man diese Aussage, so wird die Aktion als Wahnhandlung in einer Kultur erfahrbar, die sich der Destruktion verschrieben hatte. Auch die Kultur war außer sich geraten, war irre geworden und hatte dem Todestrieb nachgegeben. Mag die Begründung durch Beuys eine nachträgliche künstlerische Rationalisierung darstellen und die Piano-Aktion aus heutiger Sicht kaum als homöopathisches, schamanistisches oder kathartisches Theater Geltung beanspruchen können, so kommt ihr dennoch ein Erkenntniswert zu, denn sie offenbart aufgrund ihrer Intensität und Involviertheit des Akteurs einen emotiven Unterstrom. Beuys’ Aktion lässt sich als Teil einer historischen Aufarbeitungsszene begreifen, die den Nachwirkungen einer unbewältigten und vielleicht nicht zu bewältigenden Belastung nachspürte: Der unbarmherzigen Rückverwandlung von Zivilisation in Materialhaufen während des Krieges. In diesem Zusammenhang ist Ben Vautiers Piano vivacio de Fluxus (1964) erwähnenswert. Die Partitur zu diesem Stück ist so kurz wie in ihrer denotativen Aussage treffend: »Démolir le Piano«.23 In der filmischen Dokumentation einer Aufführung in Nizza ist zu sehen, wie Vautier und zwei Mitstreiter in einer kurzen und heftigen Handlung das Instrument vernichten. Vautier hat angegeben, dass es das Ziel der Aktion war, das Klavier in kürzester Zeit zu zerstören. Entsprechend wild war das Vorgehen, in der Vautier wie außer sich auf das Instrument eindrischt; une scène extraordinaire hat er das filmische Zeugnis später genannt.24 Bewunderungswürdig an der Aktion ist nicht nur die Schnelligkeit und Zerstörungseffizienz, sondern auch der Umstand, dass es nicht zu Verletzungen bei der Auseinandersetzung kam, die, nach Vautiers eigenem Bekunden, fast jemanden das Leben gekostet hatte. Im Vergleich mit den Vorläufer-Destruktionen erscheint Piano vivacio de Fluxus wie eine nackte Tatsache. Weder wird inszenatorisches Brimborium betrieben, noch anschlie22 | Zit. n. C. Tisdall: Joseph Beuys, S. 87. 23 | Siehe: www.ben-vautier.com/fluxus/concert.html 24 | Sylvie Boulloud (Reg.): Ben par Ben, DVD 1, Paris: Les Poissons Volants 2011.

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ßend ein kunstlegitimatorisches Geschütz in Anschlag gebracht. In einem Interview aus dem Jahr 2006, in dem er die Situation am Anfang der 1960er Jahre darlegt, erwähnt er Piano vivacio zwar nicht, koppelt seine Ablehnung expressionistisch oder surrealistisch motivierter Artikulationsformen jedoch an eine imaginäre Destruktionsszene: »I was against symbolism. I was more clear. I was thinking: ›If you want to break a chair, break a chair and don’t make as if you are God coming down on earth to break chairs!‹«25 Man könnte annehmen, dass er Paik, Maciunas, Beuys und andere gemeint haben könnte, die wie Götter die Kunst heimgesucht und Botschaften überbracht hatten. Gibt es also nichts jenseits der Zerstörung  – kein Symbol, keinen Ausdruck, keine Referenz? Nicht die Unmöglichkeit ausdruckslosen Seins ist anzumerken, vielmehr ist der von Vautier formulierte Anspruch in seinem Symptomwert zu befragen. Die behauptete Klarheit im Falle der Destruktionshandlung ist nur die Brücke über eine abgründige Dunkelheit. Konfrontiert man nämlich den Energetismus der Handlung mit dem Titel Piano vicacio, so ahnt man, dass etwas Unheimliches in Rede steht. Dem Titel kommt dabei mehr zu, als nur eine sarkastische Parodie auf Kompositionstitel mit ihren Vortragsbezeichnungen zu sein. Sarkastisch mutet die Bezeichnung an, weil mit dem vivace die Vorstellung von Lebhaftigkeit aufs Engste mit der von Vernichtung zusammengeführt wird. Mit der Evokation der Vorstellungsbilder von Leben und Lebhaftigkeit wird offenbar der Wunsch nach Unbekümmertheit und Aufgedrehtheit artikuliert. Vautiers negationistische Performance hat den Charakter eines symptomatischen Abreagierens von unerträglichen Eindrücken. Mit seiner Haltung kommt er jenen unterhaltsamen Klavieraktionen nahe, die im Laufe der Dekade außerhalb der Kunstsphäre, an Universitäten, bei Volksfestivitäten und in TV-Unterhaltungsshows stattfanden. Philip Corner, ein Freund Vautiers, hat den Vergleich mit diesen quasi-sportlichen Veranstaltungen gezogen: »A 2-minute demolishun [sic!] is exactly his speed. I wonder if any of the American frats who used to compete in piano demolition-derbies ever managed that.«26 Bevor diese parallele Destruktionskultur thematisiert wird, sind zwei Klaviermanifestationen anzuführen, die im Gegensatz zu Vautiers symbolischem Minimalismus eine Maximalexpressivität anstrebten. Eine der weniger bekannten Klavierdestruktionsperformances stammt von dem postsurrealistischen Filmemacher und Theaterregisseur Alejandro Jodorowsky. Konzeptueller Hintergrund für seine Intervention war die Idee einer Kunst, die nicht mehr kontemplativ rezipiert wird, sondern in gelebten symbolischen 25 | Zit. n. Barbara Roosen: Benjamin Vautier. Einführung in das Werk und Überlegungen zur autothematischen Reflexion des künstlerischen Selbstverständnisses, Univ.-Dissertation, Bonn 2007, S. xxxvi. Publiziert unter: http://hss.ulb.uni-bonn.de/ diss_online 26 | Persönliche E-Mail-Mitteilung vom 11. Juli 2011.

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Handlungen zu Wunschrealisierungen führen sollte. Kunst nähert sich damit dem Bereich der Psychotherapie an. Die Idee der Ephemeren – so nannte Jodorowsky seine Performances – geht auf den Beginn der 1960er Jahre zurück, als er mit dem spanischen Dramatiker Fernando Arrabal und dem französischen Künstler Roland Topor in Paris das Mouvement Panique gründete. Das Wort Panik spielt auf Pan an, Gott des Priapismus, des Terrors und des Lachens. Mittels ästhetischer Schockinitiativen sollten tiefgreifende Affektmöglichkeiten aktiviert werden, um so zu einer gesteigerten Existenzerfahrung zu gelangen. Jodorowsky zufolge führen die teilweise bizarren Handlungen während der Ephemeren zu Zuständen, von denen man nicht mehr sagen kann, ob sie geträumt oder realiter gelebt werden. Die Klaviermanifestation, die Jodorowsky 1967 im mexikanischen Fernsehen durchführte, entstand aus einer sehr subjektiven, neurotischen Betroffenheit. In seiner Autobiografie schreibt er: »Was ich in meinen dunklen Jahren am meisten gehasst hatte, war das Klavier meiner Schwester. Das Instrument hatte mir mit dem sarkastischen Grinsen seiner schwarzweißen Zähne vorgeführt, dass meine Eltern Raquel bevorzugten. Sie bekam alles, ich nichts. Ich beschloss also, einen Flügel vor laufenden Kameras zu zerstören!«

Diese individuelle Psychologisierung stellt einen neuen Gesichtspunkt im Gefüge der Destruktionshandlungen dar. Doch ging es Jodorowsky nicht um ein öffentliches Bekenntnis seiner infantilen Prägung; für das TV-Publikum gab er eine ganz andere Begründung: »In Mexiko gilt der Stierkampf wie in Spanien als Kunst. Der Stierkämpfer verwendet zur Ausführung seiner Künste einen Stier. Am Ende des Gefechts, wenn er dank des Tiers seine Kreativität ausgelebt hat, tötet er den Stier. Das heißt: Er zerstört sein Instrument. Genau so will auch ich vorgehen. Ich werde ein Rockkonzert geben und dann meinen Flügel totschlagen.« 27

Jodorowsky thematisiert Gewalt, die tief in einer Kultur verwurzelt ist, indem er sie imitiert und gleichzeitig durch groteske Entstellung ihrer Selbstverständlichkeit beraubt. Begleitet von einer Rockband wurde mit einer Axt »auf brutalste Weise die Entjungferung der mexikanischen Kunst« vollzogen, wie Jodorowsky es ausdrückt.28 Mit steigender Wut und körperlichem Kraftaufwand vollzog er den zerstörerischen Akt und beendete ihn damit, dass er sich pathetisch unter einige Flügelstücke legte, die in Form eines Kreuzes angeordnet waren. 27 | Alejandro Jodorowsky: La Danca de la Realidad, Madrid: Siruela 2001, S. 206. Übersetzung Rike Bolte, Berlin. 28 | Ebd., S. 206.

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Abb. 2: Alejandro Jodorowsky, Klavier-Ephemere, 1967

Die offensive Psychologisierung entspricht dem allmählichen Wandel in der Affektökonomie am Ende der 1960er Jahre. Man entdeckte die Innerlichkeit als politische Dimension und das Interesse an Psychotechniken nahm – zumindest in Subkulturen – zu. Man muss konstatieren, dass Jodorowskys Aufnahme surrealistischer Konzepte für seine »Poetik des Aktes« 29 darauf zielte, jene psychischen Unterströme ernst zu nehmen, die in den teilweise ludisch-humoresken Fluxus-Performances verdeckt blieben. Der institutionell gerahmte Aufführungsort und der deutlich von Europa unterschiedene kulturelle Kontext stellen einen weiteren Wertigkeitszuwachs dar. Die Ausstrahlung per TV in einem weitgehend konservativen katholischen Milieu muss Effekte erzielt haben, die nicht vergleichbar mit Aufführungen an avantgardistischen Kunstorten in Europa oder in den USA sind. Mögen auch diese Wirkungen heute nicht mehr rekonstruierbar sein, die Klavier-Ephemere und der Diskurs von Jodorowsky beinhalten ein ästhetisches Anliegen, mit dem er auf spezifische mediale und kulturelle Rahmenbedingungen reagiert. Das Andocken an die Rock-Kultur macht zudem deutlich, dass die Performance das auf begehrende, auf Spontaneität basierende Lebensgefühl der Jugend aufnehmen wollte. Diese Kopplung findet ihren Vorläufer in dem Dokumentarfilm École de Nice (1966) von Gerard Patris, in dem unter anderem Arman zu sehen ist, ein

29 | Alejandro Jodorowsky: Psychomagic. The Transformative Power of Shamanic Psychotherapy, Rochester, Vermont: Inner Traditions 2010, S. 18.

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Künstler des Neuen Realismus, wie er ein Klavier in Brand setzt.30 Wieder und wieder schüttet er flüssiges Brennmittel in das in Flammen stehende Instrument, aus dem das Feuer aufschießt. Abb. 3: Arman, Klavierverbrennung, 1966

Dramatisch-affektiv wird die Szene dadurch, dass der Regisseur Bilder eines Konzerts mit dem französischen Rocksänger Johnny Hallyday einschneidet und zudem die hitzige Rockmusik dem Feuerungsakt unterlegt. Der schwitzende Shouter auf der Bühne und das kreischende, vorwiegend weibliche hysterisierte Publikum intonieren das Lied des Brandes, der so zu einem Bild der ekstatischen Entselbstung wird. Das Spektakel gleicht einer dionysischen Zusammenkunft, in der Lust und Zerstörung kaum mehr voneinander zu unterscheiden sind. Die künstlerische Auseinandersetzung mit den emotionalen Kräfteverhältnissen in der Kultur ist wahrscheinlich am konsequentesten von Raphael Montañez Ortiz geführt worden. Ortiz ist in der Historie der Klavierzerstörung insofern einzigartig, weil er nicht nur seit 1962 kontinuierlich am Projekt der Destruktionskonzerte arbeitet, sondern auch, weil sein gesamtes Œuvre von der Destruktion als künstlerisches Werkprinzip geprägt ist. Wie für Jodorowsky sind auch für Ortiz die Selbstwahrnehmung und die Einsicht in die Triebhaftigkeit grundlegende Motivation für das Kunstschaffen. Für Ortiz sind es vornehmlich die aggressiven Impulse, die er zu inszenieren sucht, um sie damit 30 | Gerard Patris (Reg.): École de Nice, 1966.

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zu bannen. Die Psychologisierung ist dabei keinesfalls gleichbedeutend mit weltfremder Innenschau, im Gegenteil, sie resultiert aus Erfahrungen in einer Welt voller rassistischer, kriegerischer und psychischer Gewalttätigkeiten. Exemplarisch kommt dies in einer Aussage von 1968 zum Ausdruck: »Destruction art is the symbolic artistic realization of all the inherent, hostile, destructive urges that have placed mankind in crises since the beginning. We are all natural Nazis, Fascists, murderers, full of repressions and hate. Instead of pouring out our natural aggressions on people, we should use them in an artistic framework on objects and animals.« 31

Innerhalb dieser konzeptuellen Rahmung nimmt das Klavier für Ortiz eine besondere symbolische Stellung ein, da es die Dialektik westlicher Zivilisationsprozesse repräsentiert: In dem Maße, wie das Instrument künstlerische Hochwertleistungen ermöglicht, fordert es eine disziplinierende Selbstkontrolle ein, durch die Lebendigkeit abgetötet wird. Ortiz, der sich mit indigenen Ritualen, psychoaktiven Techniken und der Psychoanalyse C. G. Jungs beschäftigt hat, nimmt eine anthropologische Perspektive ein, wenn er feststellt, dass eine Kultur, die sich von ihren Wurzeln entfernt, zerstörerische Wünsche und Handlungen hervorbringt. Für ihn sind Aggressionen, anders als in einigen avantgardistischen Konzeptionen, kein Befreiungspotenzial, im Gegenteil, sie sind die extremen Zeichen einer Unfreiheit und Lebensfeindlichkeit: »I see the piano as a structure that is the most oppressive imposition on my instinctual life. […] For me it’s to break down its authoritarianess, its repressiveness. The fact that it’s structural allowed me to realise these aggressive and destructive instincts because it is so absolute in its structure.« 32

Seine Arbeit mit und am Klavier geht auf das Jahr 1962 zurück; seine Piano Destruction Concerts wurden jedoch erst 1966 beim legendären Destruction in Art Symposium (DIAS) in London öffentlich aufgeführt. Die Destruction Concerts, die im Laufe der Jahrzehnte einen hohen Grad an formaler Ausgestaltung erreicht haben, standen am Beginn ganz im Zeichen der Wutartikulation. Nachvollziehbar wird das Affektbild in einem kurzen Bericht des Fernsehsenders ABC über eine der Klavierdestruktionen während des Destruction in Art Symposiums in London.33 Gezeigt wird zunächst, wie ein Pianist in einem Hof einige Takte eines Walzers auf einem Klavier anspielt. Dann erscheinen Ortiz und 31 | Zit. n. David L. Shirley: »The Destroyers«, in: Newsweek, 27. Mai 1968, S. 93. 32 | Raphael Montañez Ortiz: Duncan Terrace Piano Destruction Concert London 1966, Audio-CD, München: Belleville 2008. 33 | Siehe: https://vimeo.com/58260335

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ein Mitstreiter, die, nachdem der Pianist geflüchtet ist, mit Äxten unvermittelt und heftig auf das Instrument eindreschen. Ortiz agiert mit jugendlicher und athletischer Agilität und Vehemenz. Abb. 4: Raphael Montañez Ortiz, Piano Destruction Concert, 1966

Die Aktion vermittelt nicht den Eindruck der Inszeniertheit mit dramaturgischen Verläufen. Allein die brutale Körperlichkeit und Destruktivität dominieren das Geschehen. Von einem zweiten Konzert, dem Duncan Terrace Piano Destruction Concert, das ebenfalls während des DIAS aufgeführt wurde, liegt eine Tonaufnahme vor. Diese bestätigt den visuellen Eindruck: Das Konzert ist eine Dauerfolge von lautem Krachen, Dröhnen, Schlägen, Splittern, Schreien. Ortiz beschreibt aus der Rückschau das beinahe mystische Geschehen folgendermaßen: »I lost track of time … I became one with the voice of the piano … I remember someone shouting take a rest.«34 Es gibt eine beachtenswerte Bemerkung, in der Ortiz seine damalige Attitüde charakterisiert. Darin kommt der Rock’n-RollHabitus zur Sprache, der ebenfalls bei Jodorowskys Performance spürbar war: »I had the typical aggressive American attitude about going to England. You know, when Bob Dylan went to England, he seemed tough, New York tough. […] I had this fantasy, as an American ritual destruction artist, that I’d go to London and just blow them away, the way he did.« 35 34 | Ebd. 35 | Scott McDonald: A Critical Cinema 3, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 1998, S. 325–346, hier: S. 334.

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Die Mischung aus kalkulierter Härte und Kälte einerseits und ekstatischer Überhitztheit andererseits kann als generelles Signum der 1960er-Jahre angesehen werden. Das Gefühl der Auflehnung, der angestrengte Anti-Establishment-Impuls in Verbindung mit Partylaunigkeit lässt sich in den genannten wie in weiteren Klavierperformances der Epoche finden und wird gleichzeitig in der Jugendkultur artikuliert. Zum Beispiel in den erwähnten studentischen Wettbewerben, in denen es darum ging, ein Klavier in kürzester Zeit zu zerkleinern, sodass die Teile durch ein vorgegebenes Loch passten.36 Bereits 1961 wird von einer derartigen Aktion an einer amerikanischen Universität berichtet.37 Emmett Williams, der 1962 an den Piano Activities teilgenommen hatte, nimmt in einer Fotomontage, die er kurz vor seinem Tod erstellte, ironisch Bezug auf diese jugendlichen Ulk- und Radauveranstaltungen. Abb. 5: Emmett Williams, o. T. 1964/2006

In ein Pressefoto von 1964, das an der Freien Universität Berlin aufgenommen sein soll, setzt er das bekannte Fluxus-Symbol ein und schreibt darunter die Legende: 36 | Siehe Beispiele in: »Piano-Wrecking Fad«, in: LIFE, 8. März 1963, S. 43–45; »Education: Piano Lesson«, in: Time Magazin, 1. März 1963; »AOPi-ACACIA Set National Piano Smashing Mark«, in: The Argus, Illinois Wesleyan University, 5. März 1965, S. 1; »Piano smashing contest« (1966), in: www.seasphotography.org.uk/archives/photo/smashingpiano-contest/»Smashing Number« (1968), in: www.aparchive.com, Story No.: BM93917. 37 | »›Piano Smash‹ Hits Campus«, in: Gettysburg Times, 13. November 1961, S. 7.

Material und Geste »Wiesbaden 1962: Like Joan of Arc at the stake, George Maciunas (in red) defiantly faces a lynch mob of German music lovers set on murdering George and his »anti-art« Fluxus colleagues. But fasttalking George converted the unruly mob, who then happily destroyed a piano instead of killing George and his friends.« 38

Die Fiktion wertet die Fluxus-Anti-Künstler zu Virtuosen der Sublimierung auf, die in der Lage sind, gesellschaftlich verwurzelten Hass, ja, Mordlust, in etwas Leichtsinniges zu verwandeln. Ein kurzer Filmbericht der British Movietone von 1963 gibt einen Einblick in die emotionale Gestimmtheit bei einem dieser studentischen Piano Smashing Contests.39 Das ausschließlich männlich besetzte Happening, sowohl auf Seiten der Akteure wie des Publikums – auch das Foto aus Berlin zeigt kaum Frauen, ein Faktum, das noch zur Sprache kommen wird  – beginnt damit, dass die Mannschaft Äxte schwingend in einem offenen Auto durch eine johlende Menschenmenge zum Schauplatz gefahren wird. Der Off-Sprecher kommentiert: »Riot in New Jersey.« Was dann folgt, ist in der Tat ein Aufruhr: Während junge kräftige Männer äußerst sportlich ans Zerstörungswerk gehen, feuert das Publikum gestenreich und mit lautem »go, go, go« die Kameraden an. Der Bericht endet mit der lakonischen Bemerkung des Sprechers: »Not sure what it proves […] that some people perhaps don’t like music.«40 Die in diesem Bericht ausgestellte Rauschhaftigkeit der Jugend kann man im Zeitkontext als Symptom eines Ausbrechens deuten. Das Klavier fungiert dabei nicht unbedingt als Repräsentant von Musik schlechthin, sondern als Vertreter einer repressiven Kultur. Der Bruch mit der Vergangenheit wurde als Fest der Destruktion begangen. Darüber gibt auch der Erinnerungsbericht eines Musikers Auskunft, der in den 1950er Jahren aufwuchs: »In the 1950s, when I was a boy, it was the fashion in England to hold piano smashing competitions. Because television had arrived. The piano in the front parlor in most houses became suddenly redundant. And there was little or no demand for secondhand pianos. So all around the country, at school fêtes and country fairs, an orgy of piano smashing broke out. On village greens, on football pitches, teams of men with sledge hammers, axes, hacksaws and crowbars attacked upright pianos and reduced them to debris that had to pass through a hoop about two inches in diameter, to verify that the destruction was whole-hearted and thorough. […] Now, years later, I think that it was possibly also a symbolic act, the ritual destruction of repressive Victorian val38 | Emmett Williams: A Flexible History of Fluxus Facts and Fictions, London, Bangkok: Thames & Hudson 2006, S. 33. 39 | »Bashing the Ivories«, in: https://www.youtube.com/watch?v=2ef YjxoLprE; www. movietone.com, Story No.: 86330. 40 | Ebd.

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Die nachträgliche kulturanalytische Reflexion, in der sich der Autor um Erklärungen bemüht, ähnelt auf eklatante Weise den kunstlegitimatorischen Aussagen des Destruktionskünstlers Ortiz, wobei aus dem Subtext auch hervorgeht, dass die damaligen Amateur-Destruktionisten sich der Beweggründe ihres Tuns nicht bewusst waren. Und so endet die Reminiszenz mit dem Bekenntnis der Traurigkeit über die Verwüstungsaktionen. Damit schließt sich eine Frage an: Wie ist die Abwesenheit der Traurigkeit bei den damaligen Akteuren zu erklären? Wieso musste in dem historischen Moment, als eine neue Epoche anbrach – eine Epoche der Entsublimierung, des Wohlstands und neuer Verhaltensmöglichkeiten – ein tendenziell aggressives Aktionsmuster abgerufen werden, das von einem Hochgefühl begleitet war? Dass auch das neue Medium Fernsehen half, diesen Code kulturell zu implementieren, beschreibt ein anderer Musiker, der die 1960er-Jahre ebenfalls als Kind erlebt hat: »At that time the country was full of old pianos that nobody could play anymore. They were all left over from a time before radios and record players, when people had to make their own music. […] After this one showing of a piano being smashed on telly, piano smashing swept the country. No village fete was complete without a piano smashing contest. Soon all the pianos available for smashing in the country had been smashed. So piano-smashing faded from the place it held for a few years in the public imagination and popular culture.« 42

Ein altes Medium wurde für neue Medien entsorgt, wobei TV und Kino halfen, das zerstörerische Verhaltensmodell der Künstler und Studenten zu verbreiten. In England war es die sehr beliebte Sendung It’s a Knockout, die das brutale Spiel mit dem Klavier für ein breites Publikum schmackhaft machte und – wie zu vermuten ist – die Zerstörungshemmung minderte:

41 | Anthony Marshall: »Still Life with Goanna?« (2010), in: www.booksourcemagazine. com/story.php?sid=100. Es ist zu vermuten, dass die frühe Datierung auf die 1950erJahre einem Erinnerungsfehler geschuldet ist. 42 | Bill Drummond: »Has Fluxus had an Influence on you?« (2006), in: www.the17.org/ words/11.htm

Material und Geste »Back when I was little, the village carnival always included a version of ›It’s A Knockout‹, played against teams from neighbouring towns and colleges. It culminated in the piano smashing competition where each team had a clapped out piano, and the winner was the one who could get it all through the middle of a suspended tyre.« 43

In der TV-Show It’s a Knockout fand das Spiel The Grand Piano Smash zwei Mal statt, zunächst in der nationalen Version der Sendung am 14. August 196644, dann am 23. August 1967 in der internationalen Version des Programmformats.45 Live in mehreren europäischen Ländern ausgestrahlt, darunter auch in Deutschland unter dem Titel Spiel ohne Grenzen, wurde ein Millionenpublikum erreicht. In dem Spiel traten Teams aus sechs europäischen Ländern mit jeweils vier Männern gegeneinander an. Jede Mannschaft musste ein Klavier innerhalb von fünf Minuten derart zerkleinern, dass die Einzelteile durch den aufgerissenen Schlund einer Clownsfigur geworfen werden konnten. Abb. 6: It’s a Knockout, 1967

Die Idee für das Spiel war also nicht neu, die Sendung übernahm etwas längst Etabliertes aus der künstlerischen und nicht-künstlerischen Destruktionskultur. Der deutsche Off-Kommentar zum Geschehen auf dem Bildschirm ist er43 | Dez: Fallen Arches (2008), in: www.planet.mu/reviews/ZIQ218 44 | Siehe: www.hiddentigerbooks.co.uk/jsf/series_1966_iak.htm 45 | Siehe: www.hiddentigerbooks.co.uk/jsf/series_1967_ jsf.htm

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staunlich unaufgeregt, eher dominiert ironische Distanziertheit und improvisierte Witzigkeit. Trotz der abgeklärten Rhetorik wird ausgesprochen, dass mit der Zerstörung des Instruments eine Form des Bruchs mit der Vergangenheit vorgenommen wird. Der Sprecher sagt an einer Stelle: »Das ist also etwas ganz Neues, was Sie hier hören, meine Damen und Herren, liebe Fernsehzuschauer. Ein neuer Begriff ist geprägt worden: Kammermusik kannten wir bis jetzt, dies hier ist Hammermusik. […] Das hätte man sich damals wahrscheinlich anders vorgestellt, auf einem Klavier rumzuhämmern.« 46

Das, was mit »damals« bezeichnet wird, bleibt zeitlich unklar; doch wird deutlich, dass eine unwiederbringliche Vergangenheit gemeint ist. Am Ende des Kommentars lässt sich in der Humorigkeit sogar noch ein melancholischer Begleitton vernehmen, der einen Moment des Innehaltens anzeigt. Der Sprecher scheint zu ahnen, dass er bei einer unheilvollen Performance zugeschaut hat: »Das war also der Drahtkommode Abschiedsmelodie, ein Klavierbruchkonzert in Dur und Moll.«47 Die Frage aufnehmend, was die Welle der Destruktionslust in den 1960er Jahren verursacht hat, ist auf die zeitgenössische Darstellung der kulturellen und sozialen Verhältnisse in der Nachkriegszeit zu rekurrieren, die Jeff Nuttal 1968 in seinem Buch Bomb Culture gegeben hat. In diesem Schlüsseltext der Epoche entfaltet Nuttall eine denkwürdige These, die das biografische Schicksal seiner Generation, der um 1930 Geborenen, betrifft. Seiner Ansicht nach war es von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung von moralischen Haltungen und Wünschen, in welcher Entwicklungsphase sich ein Jugendlicher im Jahr 1945 befand. Wer die Pubertät erreicht hatte, als die Epoche des realisierten Weltbrandes zu Ende ging und mit der Atombombe auf Japan gleichzeitig die Drohung auf ein noch größeres Feuer in Szene gesetzt wurde, der, so Nuttall, war prädestiniert, Sicherheitszuversicht und Zukunftsoptimismus einzubüßen.48 Vor allem mit Beobachtungen an der Jugendkultur der Nachkriegszeit belegt der Autor eine psycho-mentale Disposition zum Stoizismus und zum coolen formalisierten Verhalten. Charakterpanzerung, Maskerade und tribalistische Routinen prägten das Verhalten vor allem männlicher Jugendlicher. Ihre Verletzbarkeit mussten sie mit dem Gegenteil schützen: »We, immediately after the war, had been senselessly brutal but we had not been insensitive.«49 Nuttalls Diagnose steht nicht allein; ein Jahr zuvor veröffentlichten Margarete und Alexander Mitscherlich ihre Studie »Die Unfähigkeit zu trauern«, in der sie mit Blick auf die spezifisch deutsche Situation eine ganz 46 | »Spiel ohne Grenzen«, Westdeutscher Rundfunk, 1967. 47 | Ebd. 48 | Jeff Nuttall: Bomb Culture, London: Paladin 1971, S. 20 ff. 49 | Ebd., S. 27.

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ähnliche sozialpsychologische Beschreibung geben. Apathie, Verleugnung der Trümmer sowie Ausfall von Mitgefühl dominierten die Seelenverfassung. Wie Nuttall betonen die Autoren, dass die 14- bis 17-Jährigen am Ende des Krieges keine »aus gegenseitiger Erlebnisidentifikationen geborene Wertorientierung kannten«, weil sie »den über sie hereinbrechenden Enthüllungen der in der Nazizeit verübten Verbrechen fassungslos gegenüber standen.«50 Dass die Destabilisierung des Wertgefühls während der Pubertät nachhaltig Effekte zeigt, lässt sich theoretisch stützen. Im Laufe dieser Entwicklungsphase zerbrechen für gewöhnlich die kindlichen Moralvorstellungen und Ideale; der Jugendliche tritt in eine Orientierungsphase ein, in der er sich auf die Suche nach neuen Verhaltensmustern, libidinösen Objekten und Rollenmodellen begibt. Offenbart sich während dieser Zeit die Welt als vollkommen entmoralisiert und respektlos den Dingen und Lebewesen gegenüber, dann ist eine Wendung zur inneren Entleerung nicht verwunderlich. Langeweile, Depression, Drogenkonsum und in der Folge Gewalt sind die Wirkungen des Paradiesverlusts.51 Die Wunde (Trauma) wird zum Modell. »An anti-gestalt became prevalent among young people, an instinct to leave nothing complete«.52 Die Folge waren Gewaltäußerungen unter jugendkulturellen Gruppierungen, aber auch gegen Frauen. Die auffällige Tatsache, dass vor allem Männer – Künstler wie rowdyhafte Jugendliche – den Hang zur Gewaltausübung hatten, gewinnt an diesem Punkt eine sozialpsychologische Begründung: Mädchen in der Pubertät waren selbstverständlich wie die Jungen dem gleichen Klima der Erkaltung ausgesetzt. Neben den weiterhin bestehenden Sozialisationsstrategien, die traditionell den Mädchen mehr Empathie ermöglichten, kam jedoch nun hinzu, dass sich die männlichen Jugendlichen als potenzielle Krieger, als Kriegsfutter in einer hoffnungslos erlebten Zeit imaginieren mussten. Al Hansen, von 1945 bis 1948 in Deutschland stationierter US-Soldat und späterer Fluxus-Künstler, macht eine Bemerkung, die nicht nur für Amerika gilt: »Anyone growing up in America, from the time of the Civil War on, it was a very earnest attempt to prep everyone to be cannon fodder«.53 Der verinnerlichte Krieg wurde von den jungen Männern in einer Außenwendung gleichsam habitualisiert. Im Hinblick auf die Kunst als Verstärkermedium dieses Kältestroms ist das bereits erwähnte Destruction in Art Symposium symptomatisch, an dem im September

50 | Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, München: Piper 1967, S. 258. 51 | Vgl. Julia Kristeva: This Incredible Need to Believe, New York: Columbia University Press 2009, S. 13 ff. 52 | J. Nuttall: Bomb Culture, S. 106. 53 | »Oral history interview with Al Hansen« (1973), in: www.aaa.si.edu/collections/ interviews/oral-historyinterview-al-hansen-12668

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1966 hauptsächlich Männer teilgenommen hatten54  – darunter auch die Klavier-Aktivisten Raphael Montañez Ortiz, Wolf Vostell und Al Hansen. Es muss als äußerst signifikant angesehen werden, dass Yoko Ono, eine der wenigen Teilnehmerinnen, in ihrer eindringlichen Performance Cut Piece keine Gewalt ausübte, sondern sich als Objekt der ›Material-Gewalt‹ ausstellte. Sie präsentierte sich in meditativer Unbeweglichkeit, während sie dem Publikum erlaubte, mit einer Schere ihre Kleidung zu zerschneiden.55 Nuttalls weitreichende Darstellung, in der auch Entwicklungen in der Kunst, Literatur und in politischen Bewegungen zu einem facettenreichen Gesamtbild zusammengeführt werden, lässt sich auf die männliche Künstlergeneration der Nachkriegszeit beziehen. Bis auf wenige Ausnahmen stellt sich die Gruppe der Klavierzerstörer altersmäßig als relativ homogen dar. Die meisten Künstler waren um 1930 geborene Europäer, lebten also in einem der Kernländer des Krieges. Andere, wie Nam June Paik oder Al Hansen, waren während ihrer Adoleszenz direkt mit Kriegssituationen konfrontiert, die in der Nachfolge des Zweiten Weltkrieges standen. Doch gilt generell, dass die Nachkriegszeit als eine pathologische Zeit gesehen werden kann. Nuttall schreibt: »Living with the bomb had made us all ill.«56 In der Tollheit der Klavierzerstörungen verdichtetet sich Widersprüchliches – werden Erleiden, Erkennen, Verleugnen, Bearbeiten und Wiederholen zum Kompromiss verbunden. Bei allem Amüsement ist nicht zu vergessen, dass die Menschen in einer Zeit lebten, für die George Orwell einen treffenden Epochennamen erfand: Kalter Krieg. Damit wird nicht nur der politische Großkonflikt bezeichnet, sondern auch ein Gefühlsklima, das sich durch Restriktionen, Unterdrückung und Feindseligkeit auszeichnete. Die tyrannische Aversion gegen das Musikinstrument, die in ihrer Häufung verstörend wirkt, wird erst verständlich, wenn man darin eine Stellvertreterhandlung erkennt, die jene große Drohung der finalen Auslöschung reproduziert. Der Effekt einer nicht zu ertragenden Trauer wird durch die Verkleinerung im ästhetischen Akt und durch den euphorischen Ausdruck gemildert. Mary Bauermeister hat das Aufeinanderschichten unterschiedlicher Erfahrungen aus der Kriegskindheit und der Zeit des künstlerischen Auf bruchs um 1960 eindringlich beschrieben. Als Zehnjährige war sie mit den Trümmern und Leichenteilen in Köln konfrontiert und erlebte den Verlust moralischer Orientierung. Die Reaktion auf die Ungeheuerlichkeiten war ein tiefer Unglaube und eine heroische Zerstörungswut: »Wir haben Terror betrieben«, sagt Bauermeister, »wir haben zunächst alles zerstört und in Frage gestellt, nichts akzeptiert.« 54 | Vgl. Kristine Stiles: »The Story of the Destruction in Art Symposium and the ›DIAS affect‹«, in: Sabina Breitwieser (Hg.), Gustav Metzger. Geschichte Geschichte, Wien, Ostfildern-Ruit: Generali Foundation und Hatje Cantz 2005, S. 41–65. 55 | Siehe: https://www.youtube.com/watch?v=3ahjdOaJ4JE 56 | J. Nuttall: Bomb Culture, S. 107.

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Bauermeister bekennt weiterhin, dass die Akte der Zerstörung damals nicht begriffen werden konnten  – auch nicht von den Künstlern selbst: »Du hast es nicht übersetzt ins Politische. Es gab nichts, worauf wir uns geschichtlich beziehen konnten.«57 Grundsätzlicher noch hat Peter Weibel nachträglich den Sachverhalt beschrieben. Als Teilnehmer des Destruction in Art Symposium kannte er die Akteure und konnte unmittelbar die prekäre Ununterscheidbarkeit zwischen Trauma-Bearbeitung und traumatisierender Zerstörungsaktion wahrnehmen: »Diese Kunst hat sich nicht wirklich vom Trauma befreit, sie hat gewissermaßen die Zerstörung fortgesetzt. Über solche schwierigen Themen zu sprechen, war damals nicht leicht.«58 Diese Bemerkungen stehen Seite an Seite mit denen Nuttalls und der Mitscherlichs. Damit wird deutlich, dass die Klavierzerstörungen von einer semantischen Konfusion bestimmt sind: So sehr die Destruktionshandlungen eine Revolte gegen ästhetische und Verhaltensnormen darstellen, so sehr sind sie Zeichen eines emotionalen Leidens an den generationsspezifischen Traumata; sie können als Fortsetzung des allgemeinen Todestriebes wie auch als Wunsch nach Lebendigkeit angesehen werden, als ein psychisches Abreagieren und als Mahnung an die Beobachter, als neue Musik – oder als ein sportlicher Riesenspaß. Die Tatsache, dass die Destruktionshandlungen sowohl im System Kunst, als auch außerhalb dieses Systems stattfanden, bereichert diese Konfusion. Mögen auch die Manifestationen im einen Fall mit der Dignität des Bedeutungsvollen belegt werden und im anderen Fall als bloßes bewusstloses Ausagieren erscheinen, es bleibt der Eindruck verwirrender Ähnlichkeit. Die performativen Materialbehandlungen der 1960er Jahre balancierten auf dem schmalen Grat, wo sich symbolischer Stoff, gelebte Geste und sinnliches Material vermischten. Die Übernahme von Alltäglichem, Trivialem und Spektakulärem in den poetischen Kanon der Künste mit dem Ziel, das Betätigungs- und Expressionsfeld auszudehnen, beinhaltete das kalkulierte Risiko, das Unterscheidungsvermögen zu verlieren. Das ambivalente Doppelspiel der Avantgarde, einerseits inszenatorisch ausgewiesene Sondersituationen des Ästhetischen zu gestalten, andererseits über die Handhabung unkünstlerischer Materialien und Adaption beobachtbarer destruktiver Gestenformen sich dem Realen zu öffnen, war für das Publikum nicht in jedem Fall durchschaubar. Diese Konstellation mag einer der Gründe dafür sein, dass die destruktiven Nachkriegsartikulationen gegen das Kulturmöbel Klavier im historischen Augenblick attraktiv erschienen. Aus dem gleichen Grund konnte das Ausdrucksformativ nicht überdauern; nur allzu passgenau fügte es sich in das Affektklima der Epoche ein.

57 | Zit. n. G. Zootzky: psst pp Piano. 58 | Peter Weibel: »Destruction in Art« (2011), in: www.br.de/radio/bayern2/import/ audiovideo/gespraech-weibel-destruction-in-art100.html

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TransFORMationen Vom Essen zur Kunst Judith Samen

Happy Westfalen II, Performance Planungszeichnung 2009, Realisierung am 27.3.15 zusammen mit Prof. Dr. Joseph Imorde, Bäckerei Moabit, Berlin bestehend aus Tisch, Zweiplattenherd, Pfanne, Frikadellen und Papierbahn an der Wand. Die Künstlerin backt Frikadellen und wirft sie an die Wand gegen das Papier. Derweil sitzen in der Version von 2015 Gäste an einer Tafel und lauschen dem Vortrag von Joseph Imorde »Schauessen. Inszenierte Festtafeln in Renaissance und Barock«, es findet also eine Parallelperformance statt. Das Werfen findet überraschend statt und stört den Vortrag unvermittelt. Einige Frikadellen werden zur Speisung gereicht. Es gibt Kartoffelsalat. Fleischreste am Boden werden am nächsten Tag entfernt.

Reibekuchenwand – P.O.P.II/Performance ohne Publikum 2002, Nr.1/10 Zeichnungsedition auf Reibekuchenfettabdruck auf Papier rechts: Reibekuchenwand/P.O.P.II, 2002, Reibekuchen, Nägel, Holz, Tisch, Zweiplattenherd, Pfanne; bisher realisiert: Städtische Galerie Gladbeck, 2002 Kunsthalle Düsseldorf, 2009 Galerie im Taxispalais Innsbruck, 2010 Kunstmuseum Stuttgart, 2010

Happy Westfalen IV, 2009, temporäre Plastik: Tisch, geräucherte Mettwurst

Happy Westfalen I: Wurstwald, 2009, Planungszeichnung für Installation, Aquarell/Bleistift auf Papier, 20 x 30 cm nächste Abbildung: Happy Westfalen I: Wurstwald, 2015, Rauminstallation mit Mett-Enden, Angelschnur, Bäckerei Moabit, Berlin, Fotografie: Heinz-Wulf Kunze, mit freundlicher Genehmigung alle Abbildungen Judith Samen © VG BILDKUNST, Bonn

Die Frage ist, was wann wie zu einem Bild wird. Ob sich das Bild im Visuellen erschöpft oder ob es darüber hinaus vom Charakter des Materials profitiert. Und ob sich so die Bildwirkung in den Realraum verlängern lässt.

»Von Jedem Eins« Oder: Der Umgang mit den Dingen im Archiv für Gegenwarts-Geschichte Karsten Bott im Gespräch mit Sabiene Autsch Sabiene Autsch: In unserem Alltag sind wir umgeben von materiellen Dingen: Dinge in unterschiedlicher Größe und Materialität. Dinge in Bewegung, Dinge, die man geben und entgegennehmen kann. Dinge, die uns begleiten, oder die nur kurz bei uns bleiben. Dinge, die alt sind und als kulturelle Zeugen wahrgenommen werden. Dinge, die es gar nicht mehr gibt, die wir überhaupt nicht sehen oder achtlos wegwerfen. Dinge haben eine Bedeutung, sie sind Zeichen und Medium und werden oftmals auch als Sachen, Gegenstände, Objekte, Souvenir oder als Artefakte bezeichnet. Dinge begründen unsere Materielle Kultur, sie stellen Identität und soziale Distinktion her und vermitteln diese dem Betrachter. Was waren Dinge, auf die Du aufmerksam geworden bist? Karsten Bott: Mit den Zahnbürsten habe ich angefangen. Das ist eine ganz alte Arbeit von mir im Gesundheitsamt Frankfurt. Es gab einen Aufruf: Zahnbürsten – alt gegen neu, damit die Zahngesundheit der Frankfurter Bürger gehoben wird. Da habe ich angefragt, ob ich an so einer Umtauschaktion mitmachen kann und die alten Zahnbürsten bekommen darf. Das löste zunächst eine riesige Diskussion innerhalb des Gesundheitsamtes aus, aber schließlich wurde eingewilligt. Aus dieser Aktion entstand dann die Arbeit in diesen Wunderkammer-Schränken mit etwa 2000 bis 3000 Zahnbüsten. Die Idee war, was machen wir mit den Dingen? Wichtig ist mir, das den Leuten immer wieder vorzuführen. Das heißt, die Zahnbürsten sind tatsächlich auch deswegen so präsentiert, sodass sie einem direkt in den Mund reinreichen könnten, wenn nicht die Glasscheibe wäre. Dann kam die Idee mit der Bestandsaufnahme: Von Jedem Eins. Welche Dinge haben wir? Und brauchen wir die alle? Und auch wie kreieren wir sie, warum gewinnen die Dinge eine Art von Menschlichkeit? Wie werden sie zu Wesen, zu einer Art Gegenüber?

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Karsten Bott im Gespräch mit Sabiene Autsch

Abb. 1: Karsten Bott: Zahnbürsten, 1991

Alltagsdinge, also Dinge des täglichen Gebrauchs spielen ja eine grundlegende Rolle nicht nur für die Materielle Kultur, sondern auch für unsere emotionale Verbundenheit. Wir ›hängen‹ ja geradezu an manchen Dingen und bilden unterschiedliche Gefühlslagen zu ihnen aus. Meine Sammlung hat mit Küchengeräten angefangen. Ich begann zu sammeln in der Küche meiner Mutter. Da habe ich immer die ganzen Geräte herausgeholt  – Kochlöffel, Quirle aus Holz, Schöpfkellen, Schneebesen  – und mitgenommen. Ich habe mich immer dafür interessiert, wie die funktionieren und was man damit alles machen kann. Zur Küche und den Küchenmaterialien habe ich immer noch einen sehr starken Bezug. Und das sind natürlich auch, wenn man die in die Hand nimmt, schon sehr komische Kultgeräte: zum Beispiel eine Eieruhr. Die ist schon sehr speziell, oder die Wecker, sogenannte Kurzzeitwecker. Was soll das alles? Zum Beispiel diese polnische Kühlwasserflasche, die manche Leute im Auto haben – die ist an und für sich schon fast ein Auto. Insbesondere häusliche Dinge und ihre Platzierung im Raum sind zugleich für die menschliche Verortung im Raum und ihre Habitualisierung enorm wichtig. Im Zuge des Material Turn ist unter anderem darauf hingewiesen worden, dass räumlich bedingte Weite oder Enge insbesondere durch große oder kleine Wohngegenstände, durch Design, Farben und Materialität erfolgt und geprägt wird. Wie spiegelt sich diese Überlegung in Deinem künstlerischen Handeln wider?

»Von Jedem Eins«

Abb. 2: Karsten Bott: Hosentaschensammlung, Forum Stadtsparkasse, Frankfurt und Galerie am Lützowplatz, Berlin, 1996

Eine Sammlung, die ich jeden Tag betreibe und immer so weiter mache, ist die »Hosentaschensammlung«. Da muss ich jetzt gleich mal schauen, was ich in der Hosentasche habe. Drei Gegenstände: Das sind ein Jägermeisterdeckel, eine gelb-weiße Tablette und ein blauer Schraubdeckel. In der Ausstellung wer-

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Karsten Bott im Gespräch mit Sabiene Autsch

den die Dinge für die Hosentaschensammlung chronologisch geordnet und nach ihrer Größe aufgestellt. Das heißt, es gibt immer ein Datum von der Woche und dann kommen die Gegenstände meistens der Größe nach. In der Schachtel fang ich oben mit den großen Dingen an und arbeite mich nach unten zu den kleineren Dingen weiter. Und das ist, wie gesagt, eine Sammlung, die ich schon 20 Jahre durchgängig mache. Das heißt, ich könnte jetzt auch eine riesige Auslage machen, wo halt alles, was ich jemals in der Hosentasche gesammelt habe, ausgestellt ist. Das sind alles Reste, Fragmente von irgendwelchen Geräten oder Filzstiftdeckel, also Dinge, die man einerseits als kleine Skulpturen betrachten kann oder andererseits als persönliche Erinnerungsobjekte. In jedem Fall kann man über die Details versuchen herauszufinden, was es ist oder was es eigentlich einmal war. Als was für eine Art Sammler-Typus siehst Du Dich? Jetzt in Mainz zum Beispiel: Da habe ich Kisten aufgemacht, die ich vielleicht 20 Jahre nicht angefasst habe. Als ich die geöffnet habe, dachte ich: Das besitze ich? Wieso habe ich denn das gesammelt? – Ich meine, es musste ja von mir sein. Ich sage es mal so: Wenn ich tatsächlich Sachen sortieren könnte, dann würde es vielleicht schon mal so sein, dass ich alle meine Milchtüten nebeneinander stelle und sage: Ok, die kann jetzt weg, von denen habe ich genug. Es ist schwierig – ein insgesamt schwieriges Thema. Natürlich ist es auch irgendwie pathologisch. Nein, ich mache es natürlich besser, aber die Sammelleidenschaft hat natürlich viel von einem Messie. Es scheint ja geradezu so, als verstricken wir uns biografisch in unsere Alltags- oder auch Hausdinge? Und umgekehrt könnte man fragen: Inwieweit sind diese Dinge ganz wesentliche Handlungsantreiber? Das ist ganz wesentlich. Die Dinge haben eine Biografie und sind selbstverständlich auch mit meiner Biografie wiederum eng verbunden. Also dieses Ding lag auf der Toilette am Frankfurter Bahnhof. Ich nehme an, es ist irgendwie ein Abziehbild aus der Straßen- oder U-Bahn, aber es hat irgendwie seinen Weg nicht geschafft. Was habe ich gesammelt? Hausnummern. Die habe ich tatsächlich von Ebay. Ebay ist natürlich schon eine riesige Fundgrube geworden. Das war früher nicht möglich, so genau Dinge zu suchen. Da habe ich einen ganzen Stapel von Büchern gefunden, die mit Messern bearbeitet worden sind. Das ist natürlich ein ungewöhnliches Beispiel. Der Milchschlauch ist sehr autobiografisch. Leute, die so alt sind wie ich, wissen, was ein Milchschlauch ist. Das war so ein ›Wabbelteil‹ und wenn man hingefallen ist, ist es kaputt gegangen. Die Devise ist schon Von Jedem Eins. Das heißt, ich versuche natürlich so zu schauen: Wo war ich noch nicht und was geht jetzt gerade verloren?

»Von Jedem Eins«

Welchen Eigensinn offenbaren die privaten Dinge und welchen erhalten sie, wenn sie entsprechend geordnet und ausgestellt werden? Von Jedem Eins war die erste größere Arbeit. Die fand 1993 im Offenen Kulturhaus in der Gruppenausstellung Speicher in Linz, in Österreich statt. Das ist ein ganz guter Ort, insbesondere für experimentelle Kunst. Bei dieser Ausstellung ging es um das Anhäufen von irgendeiner Art Material. Und da war ich sozusagen als ›manischer Deutscher‹ eingeladen, der die ehemalige Aula der Schule mit insgesamt 200 Quadratmeter Fläche bespielt hat. Alle Dinge dieser Ausstellung habe ich in Österreich, also in Linz gekauft. Da bin ich mit der Sackkarre in die Straßenbahn, habe Bananenkartons aufgeladen und bin in die Trödelläden gegangen, um dort die Regale leerzuräumen. Die Ladenbesitzer konnten es nicht glauben, was ich alles mitgenommen habe. Die waren ganz platt, weil die sonst nie etwas verkaufen von ihren alten Dingen. Abb. 3: Karsten Bott: Von Jedem Eins, Offenes Kulturhaus, Linz, 1993

Die Ausstellung sieht aus wie eine immense Dinglandschaft. Wie gehst Du dabei vor? Gibt es ein Konzept oder Kriterien, nach denen Du die Dinge ordnest, auf baust, inszenierst? Die Dinge in der Ausstellung folgen bestimmten Kategorien. Es gibt Dinge aus dem Badezimmer, also Badezimmergeräte, aus dem Wohnzimmer, der Küche usw. Daraus bilden sich Kategorien wie Kleidung, Medizin, Sexualität und Tod und Geschichte. In der Ausstellung fängt es meistens links an und geht weiter nach rechts herum. Das Grundprinzip ist, wenn man so will, eine Art Haus-

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Karsten Bott im Gespräch mit Sabiene Autsch

plan, ein Hausmodell, beziehungsweise die Art und Weise, wie ich ein Haus betrete: von außen nach innen. Es fängt mit Architekturmodellen und Bauplänen an, dann mit Baumaterialien, Backsteinen, dann Tapeten, Lichtschalter und Steckdosen. Dann kommen die verschiedenen Räume, der Flur mit dem Telefon, wo es früher meistens stand. Danach Küche, Badezimmer, Wohn- und Schlafzimmer und die Dinge aus diesen Räumen, wie zum Beispiel Kleidung. Weitere Kategorien sind Sport, Freizeit, Kultur, Geschichte, Glaube, Krieg, Staat, darauf folgen Fabrik, Handwerk, Verkauf, Verpackungen, Behälter und Plastiktüten, Lebensmittel, Tiere, Natur und Universum. Das ist so eine Art äußerer Ring, der führt in der Ausstellung einmal an den Wänden des Raumes entlang. Und innen differenziert sich noch einmal eine engere Auswahl: Abfall, Geld, Geburt, Kindheit, Schule, Jugend, Sex, Heirat, Familie, Krankheit und dann sterben die Menschen. Am Schluss steht der Tod. Da geht’s dann weiter mit der Religion beim äußeren Ring. Auffällig in der Linzer Ausstellung ist der Steg, der in unterschiedlichen Varianten auch in den nachfolgenden Ausstellungen immer wieder auftaucht. Welche Funktionen sind damit verbunden? Der Steg hat sich mit dem Ausstellen entwickelt. Das fing in Linz 1993 an. Da standen alte Schultische herum, die habe ich hin- und hergeschoben und versucht, eine Form zu finden, in der ich die Sammlung irgendwie begehbar machen kann. Die große Ding-Fläche erinnert ja an ein riesiges Meer und es war die Idee, dass man da praktisch oben drüber gehen kann. Ich hatte dann erst einen Steg mit verschiedenen kleineren Auslegern gebaut und letztendlich hat sich daraus dann ein Steg entwickelt, mit dem man durch die Arbeit geführt wird, das heißt, man geht auf der einen Seite herein und kann mehrmals darüber herum laufen. Die Form des Stegs resultiert auch aus der Idee, dass die Dinge im ungefähr gleichen Abstand auf dem Boden liegen und man diese sozusagen enzyklopädisch aufnehmen kann. Man kann die Dinge dadurch alle sehen. Es wird keines hervorgehoben oder bevorzugt und außerdem sind 90 Zentimeter Höhe auch die ›Diebstahlhöhe‹: Da muss man sich schon hinlegen und ordentlich strecken, um was herauszunehmen. In dieser Hinsicht lässt sich der Steg als Dispositiv verstehen: Er disponiert unser Gehen und Sehen und verhilft so auch zu einer mentalen Ordnung und Struktur? Die Arbeit bedient im Grunde zwei Grundstrukturen der Rezeption. Die Leute gehen da lang und sehen Dinge, die sie in ihrem Leben schon einmal gesehen haben und sie haben dann dazu ein Kino im Kopf. Das heißt, die Erinnerung, die die Dinge auslösen, ist eine große Geschichte in der Arbeit. Die Dinge als Masse und Haufen an sich sind natürlich schon eine Überforderung. Die an-

»Von Jedem Eins«

dere Leseweise ist natürlich die wissenschaftliche: Von Jedem Eins unterstellt, dass jedes Ding, das in der Welt existiert oder von uns produziert wird, damit auch hier vertreten ist. Das schafft Fülle und fordert dazu heraus, das alles als Abbild von den Dingen in der Welt zu sehen. Und da steckt auch Systemkritik drin: Brauchen wir das? Ist das nachhaltig? Nun verstehe ich Deine Arbeit mit den Dingen auch als ein permanentes Anarbeiten gegen den Verlust – ein Versuch, der ja letztlich Utopie bleiben muss. Auch wenn die riesigen Dingmassen suggerieren, es könnte von jedem Ding eins geben, so wird in den ortsspezifischen Inszenierungen zugleich auch das Scheitern dieses Versuchs zum Beispiel auch in den räumlichen Begrenzungen sichtbar. Bei der großen Ausstellung im Haus der Kunst in München 1997/98 habe ich mit einem gleich dimensionierten Steg gearbeitet, der aber zerlegbar war. Der musste in fünf Stationen in unterschiedlicher Form aufgebaut werden. Der Raum im Haus der Kunst war zehn mal zehn Meter groß, dafür aber auch zehn Meter hoch – das sind so Würfelräume. Die ganze Sammlung und damit ihre Anordnung waren im Gegensatz zur Linzer Arbeit sehr viel dichter. Vielleicht würde ich es heute auch nicht mehr so dicht mit diesem Steg auf bauen. Ich mag es eigentlich ganz gern, wenn alles offen ist und alles, wenn auch nur ausschnitthaft, überblickt werden kann. Ein anderes Problem ist, dass die Räume jedes mal verschieden sind und ich die Arbeit anpassen muss. Bei einer Ausstellung in England war das so, dass sie nicht wollten, dass ich den Steg einbaue. Das war irgendwie feuerpolizeilich unmöglich und sie wollten einen relativ breiten Gang haben. Da habe ich gesagt, ok, ich versuche hier etwas anderes. Ich habe da auf einem Stufenpodest nur große Dinge gezeigt: einen Brutkasten aus Metall, aus London aus dem St. Thomas Hospital, eine Versuchsübungspuppe für Krankenpfleger oder eine Hochzeitstorte aus Styropor. Das heißt, da ist Styropor drin und mit Zucker beschichtet, als wäre es eine normale Hochzeitstorte. Oder eine auf blasbare Hüpf burg aus Gummi. In so einer Ausstellung ist es natürlich gut, wenn man Dinge hat, die ein bisschen sperriger sind und mehr Volumen haben. Demgegenüber gibt es aber auch Ausstellungen mit ganz kleinen Dingen, Miniaturen, die ich zumeist in Vitrinen zeige. Du sprichst damit die Ausstellungslogistik an. Wie war das zum Beispiel bei »Deep Storage«? Für Deep Storage waren etwa 60 Künstlerinnen und Künstler eingeladen, wo ich dann auch mit dieser großen Arbeit gekommen bin. Ein Grundproblem beim Auf bau ist, dass ich da eigentlich herumlaufen muss, um die Dinge an ihren Platz zu legen, sie aber auch wieder umzulegen oder ganz herauszu-

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Karsten Bott im Gespräch mit Sabiene Autsch

nehmen muss. Dann tritt man auch mal auf etwas drauf und dann geht jenes kaputt, das ist ganz klar. Aber es ist einfach unmöglich, von der Wand aus zu legen. Ich hatte jetzt gerade in Mainz, wo wir einen Monat mit zehn Helfern aufgebaut haben, fast gar nichts mehr angefasst und nur die großen Dinge als ›Inseln‹ gruppiert. Da muss ich auch letztlich mit dem Ergebnis irgendwie zufrieden sein. Ich definiere im Vorfeld den Raum in einzelne Felder und markiere diese mit Schildchen – wie ich vorhin gesagt habe: Küche, Wohnzimmer usw. Dann wird von der Mitte des Schildchens angefangen zu legen und irgendwann kommen die Felder und damit die Dinge zusammen. Die Dinge treten in Nachbarschaft zueinander. Und wie das so ist: Es gibt Dinge, die vertragen sich und es gibt solche, die vertragen sich nicht unbedingt immer. Das ist schon auch ein wichtiger Aspekt der Arbeit, dass ich Dinge nebeneinanderlege, die eigentlich nicht miteinander wollen. Das heißt, neben Sammlung und Ausstellung kommt auch noch ein Archiv dazu? Was bedeuten diese Orte und der damit verbundene permanente Umzug der Dinge für Dein künstlerisches Handeln? Die meisten Arbeiten habe ich alle in den jeweiligen Ländern oder Städten gekauft, wo ich ausgestellt habe. Also in Linz in Österreich, wo ich die erste große Arbeit gemacht habe, hatte ich dann am Ende 100 Bananenkisten voll. Aber das ist ja natürlich gar nichts im Gegensatz zu dem, was ich dann nachher in Mainz gemacht habe. Da haben wir 150 Paletten mit Bananenkisten transportiert. Das sind fünf Sattelschlepper. Und da haben wir wirklich das meiste von meinem Lager genommen, da waren drei Viertel raus. Bei den AmerikaArbeiten war es schwierig, die Sachen nach Deutschland zu bringen. Andersherum war es auch unmöglich, von meiner normalen Sammlung Dinge nach Amerika zu transportieren. Wie diese Deep Storage-Arbeit, die in München, Düsseldorf und Berlin war und dann auch zwei Mal nach Amerika ging. Aber jetzt als Single-Künstler eine Arbeit irgendwo hinzuschicken in der Größe ist absolut unmöglich. Es ist auch ein großes Problem, mit den Ausstellungsmöbeln (Stege, Vitrinen, Regale) umzugehen. Die nehmen im Lager sehr viel Platz weg. Sagen wir mal, ein Viertel von meinem Lager ist nur mit diesen Möbeln bestückt. Wo ich dann immer denke: Blödsinn! Es ist ja viel einfacher, das eigentlich gleich wegzuschmeißen und dann wieder vor Ort neu zu machen. Das kostet auch nicht viel mehr. Ich muss unheimlich viel Lagergebühr bezahlen.

»Von Jedem Eins«

Abb. 4: Karsten Bott: Regal, Jesuitenkirche, Aschaffenburg 2004

Wir sprachen ja bereits von den Varianten des Stegs, die neben ihrer pragmatischen Funktion mehr als nur Wegführung sind. Siehst Du die disponierende und bedeutungsgenerierende Funktion auch bei den Vitrinen und Regalen, die Du ebenfalls immer wieder einsetzt? Das ist dasselbe: Wegführung und die Dinge zusammenbringen. Für eine andere Arbeit »Frankfurter Kreuz«, habe ich auf dem Dach eines 7 × 7 m großen Pavillons mit einem Gerüst gearbeitet. Man musste auf dieses Gerüst hoch wie auf einen Hochsitz. Diese Ding-Sammlung wurde zu einem riesigen Meer oder einer Landschaft. Hier fehlte der Steg, sodass es offener wirkte. Das war sehr schön. In der Jesuitenkirche in Aschaffenburg sind die Regale für die Altarsituation einfach aufeinander gestapelt. Vorher hatte ich bereits mit Regalarbeiten experimentiert und zwar innerhalb von Designmuseen. Dort habe ich praktisch das Trivialdesign geliefert (Das Jahrhundert des Designs, Hannover, Karlsruhe, Hamm).

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Karsten Bott im Gespräch mit Sabiene Autsch

Abb. 5: Karsten Bott: Gelbe Säcke, Zeil-Kunst, Frankfurt, 1996

Du überschreitest mit Deiner künstlerischen Arbeit an den Alltagsdingen einerseits die Grenzen von Kunst hin zu einer spezifischen Unauffälligkeit, andererseits betreibst Du mit Müll eine Art künstlerisches Forschen und bewegst Dich dadurch in wissenschaftlichen Feldern. Im Grunde handelt es sich bei allen Arbeiten um wissenschaftliche Arbeiten. Um soziologische Untersuchungen, wenn man so will, speziell bei den Gelben Säcken. Das ist Plastikabfall, der zugleich unsere Gesellschaft, unseren Wohlstand repräsentiert. Ich habe das den Leuten weggenommen, die die Säcke zur Müllsammlung an die Straße gestellt haben. Den ganzen Abfall habe ich gründlich gesäubert und anschließend in einem Schaufenster auf einem Treppenpodest in Fächer einsortiert. Eine Familie stellt immer ein Fach dar: Joghurtbecher, H-Milchtüten, Katzenfutterdosen. Aus dieser Perspektive funktioniert die Arbeit wie eine soziologische Studie. Die Aktion Gelbe Säcke fand im ehemaligen Kaufhaus Schneider auf der Zeil in Frankfurt statt. Dabei kam es darauf an, dass die von den Menschen stammenden Dinge, die zu Müll geworden sind, tatsächlich wieder in einem Schaufenster im Kaufhaus ›zurückdekoriert‹ wurden. Daneben standen die ganz ›normalen‹ Schaufensterpuppen. Das eine ist vor dem Kaufen und das andere nach dem Kaufen. Auffällig ist, dass Du sehr oft vom Dekorieren sprichst. Wann dekorierst Du, wann inszenierst Du?

»Von Jedem Eins«

In Mainz in der großen Arbeit habe ich das als Theaterkulisse bezeichnet und vorher vielfach von Dekoration gesprochen. Das ist natürlich zu allgemein und geht an der künstlerischen Geste vorbei. Bei den Dingen in den Regalen muss ich mich stärker entscheiden: Ein großes Ding vorne, dann etwas versetzt dahinter. Das hat schon was von Schaufensterdekoration. In der Regalarbeit kann ich natürlich Dinge an die Wand stellen. Auf dem Boden wiederum gehen große flache Dinge wie Plakate oder Schallplatten nicht, weil es unheimlich viel Platz wegnimmt. Das heißt, die Gewichtung muss stimmen. Das ist ja auch beim Steg so. Wenn man von dort herunterschaut, sieht man ein Thema. Da gibt es dann Flächen mit kleinen Dingen, die wiederum mit größeren aufgelockert werden. Nach hinten weg vom Steg werden die Dinge immer größer. Das sind zum Beispiel die Kriterien, welche sich dann zu einer ›Organisation‹ entwickeln und es zu der Möglichkeit kommt, dass kleine und große Dinge in der Ausstellung vorhanden sind. Ich will keine Dinge, die verdeckt sind und eigentlich auch keine, die übereinander liegen. Gleichzeitig muss es als Ganzes wahrgenommen werden. Ich habe ja Film studiert. Und beim Film ist es so: Wenn man die Schnitte merkt und dass dabei irgendwie Effekte oder Musik drauf sind, dann ist der Film schlecht. Aber wenn man es nicht merkt, dann geht der Film durch. Und so ist das hier auch. Man muss da oben auf dem Steg entlang laufen und die Dinge müssen sichtbar und gewichtet sein. Das hat dann auch etwas von Malerei. Abb. 6: Karsten Bott: Dinge mit Bergen, Senseo Art Initiative, Hamburg, 2006

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Karsten Bott im Gespräch mit Sabiene Autsch

Wie hat sich Deine Arbeit weiterentwickelt und verändert? Mit der Arbeit Dinge mit Bergen deutete sich bereits eine Veränderung an. In Hamburg-Altona ist das gewesen, in einem ehemaligen Karstadt-Kaufhaus. Dort habe ich ausprobiert, chaotischer zu sein. Das Problem dabei ist, dass ich aufpassen muss, dass es dann nicht wirklich wie ein Müllhaufen aussieht. Es ist ja wichtig, dass die Dinge schon alle sichtbar sind und dass diese auch kategorisiert sind, sodass man sieht: Die gehören zu dem jeweiligen Feld. Und dass es nicht so ist, dass man das Gefühl hat, es ist einfach nur so dahingeworfen. Diese Balance zu finden, ist recht schwierig und eine zentrale Aufgabe. Vieles ist Zufall: Welches Ding zuerst kommt, was von der Größe oder dem Zusammenhang besser passt, wobei auch eine kräftige Farbigkeit hilft. Zudem frage ich mich, wenn ich etwas auf der Straße finde: Wohin gehe ich gerade? Kann ich das tragen? Zu den Auswahlkriterien zählen: Prägnanz (besser als ich schon habe), Lückenschluss (das fehlte mir noch), Ungewöhnlichkeit (besonders schön/exotisches Stück). Beim Sperrmüll kann man das schon von Weitem sehen: Ist das jetzt Schrott oder ist das ein Keller, wo man meinetwegen Material aus den 1950er, 1970er Jahren finden kann. Das sind Dinge, die ich will. Das andere ist, dass ich versuche, immer ortsbezogene Dinge in die Ausstellungen zu bringen. Am liebsten ist mir natürlich eine Arbeit zu machen, die nur aus deutschen oder nur aus englischen Dingen besteht, da ich ja den Leuten ihre eigenen Dinge vorführen will. Aber die Mischung finde ich eigentlich ganz gut. Wenn man jetzt tschechische, deutsche und englische Sachen vergleicht, fällt auf, dass die sowieso nicht so besonders verschieden sind. Wenn ich jetzt nach Japan gehen würde oder wirklich nach Afrika, dann müsste ich mir überlegen, was dann eine Mischung ausmacht. Ich finde es ganz spannend, dass Leute Dinge sehen, die zunächst ähnlich aussehen und dann aber doch verschieden sind. Das ist ja auch sonst so, dass es ganz gut ist, wenn viele alltägliche Dinge da sind und dazwischen etwas ist, was ein bisschen anders und exotisch ist. Dadurch wird alles etwas aufgemischt. Das ist auch ein Sehanreiz. Jetzt haben wir immer wieder unterschiedliche Diskurse und Metaebenen für Deine Arbeit mit Dingen und Materialien angerissen: Die Verortung in der Archiv-Kunst und im Erinnerungs-Kontext der 1990er Jahre, Artistic Research, Material Turn, Dinge als Narrative im Sinne der Senses Studies, Ding und Unding nach Vilém Flusser, aber natürlich auch die Institutionskritik, die mitschwingt: Kontextwechsel und Umdeutungen der symbolischen Bedeutungen, wodurch ja auch die Ausstellung und insbesondere die Praxis des Kuratierens immens dynamisiert werden. Es gibt schon einen wissenschaftlich-theoretischen Überbau. Ich war aber auch unzufrieden mit den Museen: Was die Museen ausstellen, wie sie ausstel-

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len und mit was sich ein Museum überhaupt auseinandersetzt. Da sind zum Beispiel die Heimatmuseen, die natürlich auch total verbrämt das kultivieren, was eigentlich so gar nicht existiert hat. Ich finde es wichtig, die Dinge zu zeigen, welche die Leute benutzen und aus der Vergangenheit viel haptischer an das Thema heranzugehen, einfach mehr und vergleichender anstelle didaktisch auf bereitet mit Schrifttafeln. Die alten Sammlungen um 1900 waren solche Reihungen, z. B. der Insektensaal im Senckenberg Naturmuseum Frankfurt. Wenn wir über Museen sprechen, ist das auch noch einmal ein ganz anderes Kapitel. Ich finde es ja auch völlig furchtbar, dass man jetzt anfängt, Museen zu renovieren. Ich finde, man sollte Museen so belassen, wie sie eingerichtet wurden und daneben ein Neues aufmachen. An der Einrichtung eines Museums ist ja immer auch Geschichte beteiligt oder ablesbar. Natürlich betreibe ich auch eine Art Museum als Ein-Mann-Betrieb. Ich hab jetzt schon so viele Dinge, dass ich ein Museum bestücken könnte als ständige Sammlung, dass Leute kommen könnten. Ein Archiv und einen Präsentationsbereich. Zum Beispiel habe ich jetzt das Problem, dass ich in Frankfurt im Historischen Museum etwas zu bestimmten Themen machen soll. Aber das kann ich gar nicht leisten. Dazu müsste ich alle meine Kisten durchschauen, um die Dinge herauszusuchen. Ich habe ca. 5.000 bis 6.000 Bananenkisten plus einzelne große Gegenstände. Ich habe tatsächlich eine Zeit lang im Computer archiviert, aber dann habe ich gemerkt, dass es nicht geht. Das Kategorisieren und Katalogisieren habe ich über zehn Jahre lang gemacht. Das hat eine starke Strahlkraft auf die Art, wie ich die Dinge auslege und wie ich denke. Aber man muss sich halt sagen: Nein, so geht das nicht weiter, ich komme da nicht hinterher. Ich habe einen Bestandskatalog gemacht, eine Art Lexikon in Deutsch und Englisch mit 2.000 kleinen Fotos produziert, das eben wie ein ›Lexikon der Dinge‹ funktioniert. Das muss reichen.

A bbildungen Abb. 1: Karsten Bott: Zahnbürsten, 1991. Abb. 2: Karsten Bott: Hosentaschensammlung, Forum Stadtsparkasse, Frankfurt und Galerie am Lützowplatz, Berlin, 1996. Abb. 3: Karsten Bott: Von Jedem Eins, Offenes Kulturhaus, Linz, 1993. Abb. 4: Karsten Bott: Regal, Jesuitenkirche, Aschaffenburg (Detail), 2004. Abb. 5: Karsten Bott: Gelbe Säcke, Zeil-Kunst, Frankfurt, 1996. Abb. 6: Karsten Bott: Dinge mit Bergen, Senseo Art Initiative, Hamburg, 2006.

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Zwischen zweiter, dritter und vierter Dimension schraubt sich Form in den Raum Das Ding, sein Abbild und seine Vorstellung Julia Kröpelin

PAUSE 2015 KARTON, POLYURETHAN, ACRYSTAL PIGMENT, LACK

aus der bewegung meines armes schneide ich formen der kante entlang verbinde ich sie zu hohlen körpern die gebogene silhouette ihrer flächen wölbt sie

160 x 120 x 25 cm

KARTON, POLYURETHAN, ACRYSTAL, PIGMENT, LACK

DAS SCHÖNE UND DAS BIEST 300 X 300 X 300 CM Karton, Laserprints, Latex, Lack, halbes Bett

Der Künstler als Alchemist? Martin Walde und seine Materialerforschungen Roland Nachtigäller

Man könnte Martin Walde als den künstlerischen Materialforscher per se sehen, denn sein gesamtes Werk, das sich weniger über Einzelproduktionen als vielmehr über rhizomatisch miteinander verbundene Projekte definiert, folgt der Untersuchung eines gleichermaßen umfangreichen wie ungewöhnlichen Materialspektrums. Dazu zählen Styropor, Reis, Seife, Silikon, Latex, Aluminiumdraht, Acryl, diverse Gele, Mehl, Zellulose, Duftöle, Karbon und noch viele andere Substanzen, denen allesamt gemeinsam ist, dass sie flexibel, veränderlich, instabil sind. Oft spielen Übergangsprozesse zwischen Formen und Funktionen, Aggregatzuständen oder Wahrnehmungen eine große Rolle, und doch sind es vor allem plastische Fragen, die Waldes Forscherleidenschaft leiten. Sein Vorgehen ist von großer Präzision und zugleich von ausgeprägter Freiheit bestimmt, er lässt sich jedes Mal neu auf die jeweiligen Materialien und ihre Bedingungen ein, ver- und bearbeitet sie mit intuitiver Leidenschaft und geradezu wissenschaftlicher Konsequenz. Anhand einiger Werkbeispiele soll diese Ausnahmestellung des 1957 in Innsbruck/Österreich geborenen Künstlers näher erläutert werden.

Abb. 1: Martin Walde, Cooking Sounds, Video, 1997

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Es ist bezeichnend, dass Martin Walde im Jahr seiner Teilnahme an der documenta X auch ein Video veröffentlichte, welches ihn als eine Art Zauberlehrling zeigt: Man sieht den Künstler (das Video ist insgesamt fast eine Stunde lang) in seiner Küche stehen, umgeben von Töpfchen, Schalen und Schüsseln, die mit weißen Flüssigkeiten gefüllt sind, und hört ihn leise vor sich hinmurmeln. Dann protokolliert er etwas auf einem Blatt Papier, nimmt einen Gummischlauch zur Hand und bläst damit in die dicke Emulsion in einer der Schalen, notiert wieder etwas, mixt Neues hinzu, verrührt, bläst erneut und lauscht dem schweren blubbernden Geräusch der platzenden Blasen, murmelt, rührt – und immer so weiter. Wie in einem Labor wohnt man einer fast alchemistisch anmutenden Versuchsreihe für die Herstellung unbekannter Substanzen bei, die anscheinend eine ganz bestimmte Viskosität und Konsistenz haben sollen. Unweigerlich fällt einem ein, dass Martin Walde in anderen Zusammenhängen immer wieder mal von seinem familiären Hintergrund einer alten Seifenkocherfamilie erzählt hat und dass er diese geradezu manische Suche nach bestimmten Farben, Gerüchen und Konsistenzen nach einer besonderen Haptik und sensorischen Qualität im chemischen Labor seines Vaters entwickelt hat. Und von seinem Großvater gibt es die Geschichte, dass dieser für ein besonderes Seifensortiment stets nach außergewöhnlichen Düften suchte und als sein größtes Projekt danach trachtete, den Duft einer am Beginn ihres Verblühens stehenden Alpenrose in der Abenddämmerung einzufangen. Abb. 2: Martin Walde, Concoctions/Blurrping, 1991–2009, Installation Marta Herford

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Was bei Cooking Sounds (Abb. 1) schließlich auch öffentlich anschaulich wurde, ist ein unabdingbarer Vorbereitungsprozess für Installationen wie Concoctions (dt.: Gebräu, s. Abb. 2), die sich mit jeder Reinszenierung inhaltlich und formal weiterentwickeln. So wird auch die Ausstellung selbst zum Forschungsfeld. Der Besucher betritt einen multisensorischen bestimmten Raum, der neben den optischen Eindrücken vor allem damit verbundene Geräusche, aber auch Gerüche bereithält. In großen halbierten Gefahrgutbehältern lagern unterschiedliche weißlich zähe Flüssigkeiten, aus denen in unregelmäßigen Abständen mal mehr, mal weniger Blasen aufsteigen. Es schmatzt, blubbert und rülpst, es spritzt und schleimt, während an den Wänden ebenfalls blubbernde Substanzen mit entsprechendem Ton projiziert werden, die dort in kräftigen Rot- und Grüntönen wie eine märchenhafte Moorlandschaft wirken. Man fühlt sich unweigerlich inmitten eines Labors stehend, eher sogar noch in einer Hexenküche, in der es brodelt und köchelt, spuckt und spritzt – nicht selten steigen mit dem Zerplatzen der Blasen kleine Fontänen hoch und bedecken langsam den Boden mit entsprechenden Klecksen. Martin Walde geht es um dieses synästhetische Setting, um Material- und Substanzerfahrungen, die sich mit allen Sinnen und vor allem kaum frei von emotionaler Positionierung aufnehmen lassen. Die Kakofonie der Blubbergeräusche, die sich gegenseitig überstrahlenden Farben, die undefinierbaren zähen Flüssigkeiten, die Gefahr des Bespritzt-Werdens, die nur vage und damit umso unheimlicher wahrnehmbaren Gerüche; all das provoziert Reaktion, Spielfreude, Verunsicherung, Schaulust und Unwohlsein bis hin zur einsetzenden Übelkeit. Die hier offensichtlich werdende Forscherattitüde kommt jedoch ohne den Pragmatismus des Wissenschaftslabors aus. Dabei ist das »Forschen« noch ein Suchen, das mit Zufällen und dem Unerwarteten arbeitet, das gezielte Experimente mit unvermuteten Entdeckungen koppelt. Und da es sich nicht um einmalige Projekte handelt, sondern um ein faszinierend komplex vernetztes System aus Ideen, münden diese Unternehmungen in eine große Vielfalt an Projekten, die sich immer weiterentwickeln und kein forscherisches Ziel kennen. Was ist das Material der Kunst? Diese merkwürdigen Objekte waren einer der großen Publikumslieblinge der documenta X und brachten zugleich die Organisatoren an den Rand der Möglichkeiten. Sie greifen nicht nur die Material- und Formuntersuchungen früherer Projekte auf, sondern sie thematisieren auch das Museum selbst als Funktionszusammenhang. Während sich Waldes Installationen und Ideen von Ausstellung zu Ausstellung weiterentwickeln und einen niemals abgeschlossenen Prozess darstellen, stoßen sie in ihren Präsentationszusammenhängen immer wieder auf neue Bedingungen und damit auch auf neue Veränderungen. Rein formal handelt es sich bei den Handmates (Abb. 3) um Handschmeichler, elastische, glänzend eingefettete Gummikugeln, die einen festen Kern enthalten. Walde füllt dafür einen speziellen, unregelmäßig geformten Silikon-

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Abb. 3: Martin Walde, Handmates, 1995–2003, Installation, Städtische Galerie Nordhorn

kern zusammen mit einem eigens entwickelten Gel in einen Luftballon, verschließt diese Ballons mit einem Knoten und schneidet das Ende knapp darüber ab. In leuchtend grün und schwarz-violett liegen sie auf einem Tisch bereit, um unmittelbar an die Lust des Berührens zu appellieren. In der Tat ist es ausdrücklich erlaubt, die Objekte anzufassen, in die Hand zu nehmen und zu entdecken, dass der feste Kern in den Gummiobjekten mit ein wenig Geschick innerhalb der Kugel zu kreisender Bewegung gebracht werden kann. Und wieder gibt es diese Ambivalenz zwischen Zurückschrecken und Attraktivität. Wird das Berühren angenehm oder abstoßend sein, sind die Objekte eher ekelig oder samten? Vor allem aber gehört für Martin Walde dazu, welche Regeln sich im Zusammenspiel zwischen Künstler, Institution und Publikum etablieren. Wer stellt sie auf, wie werden sie gelebt, modifiziert oder unterwandert? Es gibt keine feste Vorgabe, wie die Objekte auszulegen sind, welche Ordnungen wiederhergestellt werden sollen und was man im Einzelnen damit machen darf. Walde beobachtet auch hier die sich aus einer bestimmten Materialität entwickelnde soziale Interaktion wie ein Forscher, platziert weit gefasste Eckpunkte und etabliert eine Laborsituation, die das Individuum und das Museum in ein experimentelles Verhältnis setzt. Frage: Wie wird das Objekt und sein Material, einerseits unverkennbar Skulptur oder Installation, andererseits unter den Augen und Händen der Besucher und in der Ausstellungsinstitution zu etwas, das seine eigene Dynamik entwickelt und seine eigenen Regeln kon­stituiert?

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Abb. 4: Martin Walde, Melting Compactor, 1991–2009, Installation, Marta Herford

Die mehrfache Realisierung der jederzeit neu ortsbezogenen Installation stellt auf den ersten Blick eine sehr simple Versuchsanordnung dar. Eine größere Menge Stearinpulver wird zu einer oben abgeflachten Schüttung arrangiert (im Marta Herford wirkte sie wie die Verflüssigung oder Pulverisierung einer Rigipssäule). Darüber hängt eine handelsübliche Wärmelampe, die jeden Tag zur Ausstellungsöffnung eingeschaltet wird und das Stearin langsam zum Schmelzen bringt. Über die Stunden entsteht ein klarer See in dem Pulverberg, der nicht nur (durch die Lampe) rot leuchtet, sondern auch pittoreske Ränder mit Abbrüchen und Bögen entwickelt. Am Ende des Tages wird dann die Lampe wieder ausgeschaltet und der See erstarrt über Nacht, um am nächsten Tag wieder in neuer Form zum See zu schmelzen. Zugleich entsteht im Inneren des Pulverberges ein langsam größer werdender verhärteter Kern, der bis zum Abbau der Ausstellung versteckt bleibt, dann allerdings als neue skulpturale Form geborgen wird.

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Wie in allen Projekten von Martin Walde schweben solche verführerischen Bilder und poetischen Installationen nicht im luftleeren ästhetischen Raum, sondern verfügen über konkrete Rückbindungen in die Lebenspraxis. In diesem Fall ging der Künstler von der Frage aus, warum das klassische Recycling eigentlich nicht im Alltag flächendeckend funktioniere. Zu seiner These, dass es letztlich zu wenig sinnliche Qualitäten mitbringe, um motivierend zu wirken, entwickelte er die Vision eines Melting Compactors (Abb. 4), ein Schmelzofen für den privaten Haushalt, in dem Umverpackungen aus neuen Materialien eingeschmolzen werden, während zugleich das alte Bild des Herdfeuers neu aktiviert wird. Dass eine solche sinnliche Aufladung eines banalen Einschmelzprozesses perfekt funktioniert, ist im Ausstellungsraum an den Besucherreaktionen deutlich nachzuvollziehen: Kaum jemand widersteht der Versuchung, das Pulver anzufassen, kleine Portionen davon in den See zu stoßen, den Finger in das flüssige Stearin zu tauchen usw., sodass sich auch diese Installation regelmäßig durch die Interaktion verändert. Der Besucher selbst wird zum Forscher, nicht nur in Bezug auf das Material, sondern auch hinsichtlich der anwesenden Aufsichten: Die Frage, wie weit man gehen kann, wird bei Walde explizit für Publikum und Institution thematisiert, während er die weitere wissenschaftliche Forschung zu den möglichen Materialien einschmelzbarer Getränkebehältnisse dann tatsächlich den entsprechenden Wissenschaftlern überlässt. Gerade in diesem Projekt wird deutlich, wie sehr sich Walde für Übergänge interessiert, für Aggregatzustände, Auflösungen institutioneller Ordnungen, Verflüssigungen sozialer Aktionsfelder sowie für die ästhetische Dynamisierung von Raumstrukturen. Abb. 5: Martin Walde, Eden Springs (Waterpoint, Blue Dolphin), 2006–2009, Installation Marta Herford

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Der Raum als veränderbare Konstruktion – sowohl durch künstlerische Eingriffe, als auch durch Aktionen der Besucher – das ist ein zentraler Aspekt dieser zweiteiligen Installation, in der sich erneut das Materialthema von Martin Walde manifestiert (s. Abb. 5). In extrem spitzem Winkel wurde eine 18 Meter hohe Styroporwand vor einer Museumswand errichtet. Daneben steht ein gewöhnlicher Wasserspender mit umgedrehter Spenderflasche (der Marke Eden Springs) und entsprechenden Trinkbechern. Es bedurfte keinerlei Hinweisschilder, damit sich Besucher einerseits beim Wasser bedienten und andererseits begannen, an der Styroporfläche zu kratzen. Lediglich ein vom Künstler in die Wand gearbeitetes erstes Loch, in dem ein mit Styroporkügelchen gefüllter Plastikbecher stand, reichte aus, den sich mit dem Eröffnungstag anschließenden Transformationsprozess in Gang zu setzen. Das Projekt lebt formal aus einem klassischen Spannungsverhältnis heraus: Hier die lebensnotwendige Flüssigkeit als Angebot zur körperlichen Stärkung, dort das umweltschädliche Erdölprodukt als stabiles Baumaterial. Beide Elemente treten durch die Aktionen der Besucher in ein raffiniertes Wechselspiel: Während durch den Wassergenuss mit dem leeren Becher neuer Abfall entsteht, durch die Entnahme einer Flüssigkeit also fester Abfall zurückbleibt, wird durch das Ritzen, Bohren, Kratzen im Styropor etwas Festes in einen quasi flüssigen Zustand versetzt. Beide Abfallprodukte, die kleinen weißen Kügelchen und der weiße Plastikbecher, finden erneut zusammen und füllen gemeinsam die entstehenden Hohlräume in der Wand. Zugleich entfaltet das zerriebene Styropor fast ein doppeltes Volumen und verbreitet sich nahezu unkontrollierbar im gesamten Gebäude. Martin Walde interessieren in solchen Installationen vor allem die Reibungsflächen zwischen Zufall und Absicht, zwischen Kontrolle und Grenzüberschreitung, zwischen Lust und Schauder (wer zuckt nicht zusammen, wenn an Styropor gekratzt wird), zwischen Verfestigung und Verflüssigung, zwischen Materialzuständen und Materialverwendungen sowie zwischen Museumsleitung und Besucherwille. Allerdings ist sein künstlerisches Interesse an solchen Konstellationen nicht das des Beobachters von Labortieren, sondern er arrangiert Material und Rahmenbedingungen so, dass die Akteure selbst in einen Beobachtungs- und Erkenntnisprozess eintreten. Damit emanzipiert er zudem den Museumsbesucher vom passiven Objekt zum Akteur, zum eigentlichen Veranstalter einer komplexen Interaktion. Als letztes Beispiel für die Materialuntersuchungen und -transformationen von Martin Walde sei hier das ebenso ästhetisch höchst ansprechende Projekt der zur Tasche gewendeten Bälle genannt (s. Abb. 6). Die Ausstellungsbesucher treffen auf einen Hybrid aus farbiger, in die Vertikale leitender Rauminstallation und Arbeitsplatz. Wie eine Art Mangrovenbaum hängen mehrere Stränge von Objekten herab, die einem Rugbyball ähneln und sich über einen Tisch mit Werkzeugen, Bändern sowie einer großen Kiste mit Basketbällen

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Abb. 6: Martin Walde, Ball-Turn-Bag, 2007–2009, Installation Marta Herford

ergießen. Nach einem genauen Plan lassen sich diese verbrauchten Basketbälle mit mehreren Schritten und einer anschließenden Vernähung in ungewöhnliche Handtaschen verwandeln. Einige MuseumsmitarbeiterInnen wurden zuvor vom Künstler geschult und standen dann bereit, gemeinsam mit dem Publikum diesen Arbeitsplatz zu nutzen. Man konnte entweder bei der Fertigung zuschauen, einige Handgriffe selbst versuchen oder aber sich nach Anmeldung mit der Anfertigung einer vollständigen Tasche beschäftigen. Während einerseits einmal mehr bei Walde der Recycling-Gedanke zu neuen, attraktiven und begehrlichen Verwandlungsformen führt, wird andererseits die Überführung von Materialeigenschaften in einen neuen Aggregatzustand visualisiert. Der prall aufgepumpte Basketball wird zu einer weichen, flexiblen Handtasche, das Innere nach außen gekehrt, die Funktionsfelder bekannter Materialien in neue Bereiche verschoben. Parallel dazu dient das Projekt der Verflüssigung von sozialen Strukturen: Einander vollkommen unbekannte MuseumsbesucherInnen, die es gewohnt sind, zumeist schweigend und für sich durch eine Ausstellung zu gehen, finden sich plötzlich zum Schwatz an einem gemeinsamen Arbeitstisch zusammen und schmieden neue, zwischenmenschliche Konstellationen. Alle diese Projekte von Martin Walde fokussieren die Veränderung und Veränderbarkeit von Verfestigungen. Dabei zieht er mit sinnlich ästhetischen Mitteln eine Verbindung von Materialeigenschaften zu sozialen Prozessen und nutzt die Unbestimmtheitszonen dieser Aktions- und Forschungsfelder für ver-

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blüffende Parallelisierungen und Auflösungen. So wird das Material bei ihm zum Bedeutungsträger für individuelle Assoziationen und spontane Interaktionen. Künstlerische Strategie ist es dabei, durch Verschiebungen von Funktionen und ästhetischen Rahmenbedingungen den Blick neu zu fokussieren und vertraute Alltagsdinge zwischen Absurdität und Tiefgründigkeit in ein verändertes Licht zu setzen.

A bbildungen Abb. 1: Martin Walde, Cooking Sounds, Video (55:55 min.), 1997. Abb. 2: Martin Walde, Concoctions/Blurrping, 1991–2009, Installation, Marta Herford. Abb. 3: Martin Walde, Handmates, 1995–2003, Installation, Städtische Galerie Nordhorn. Abb. 4: Martin Walde, Melting Compactor, 1991–2009, Installation, Marta Herford. Abb. 5: Martin Walde, Eden Springs (Waterpoint, Blue Dolphin), 2006–2009, Installation, Marta Herford. Abb. 6: Martin Walde, Ball-Turn-Bag, 2007–2009, Installation, Marta Herford.

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Mit Sockel oder ohne Der Sockel als künstlerische Handlung in der Bildhauerei des 20. Jahrhunderts Guido Reuter Da der Sockel zur Skulptur wie der Rahmen zum Bild ein Parergon, ein Beiwerk zum eigentlichen Hauptwerk, darstellt, ist es wenig verwunderlich, dass es kaum theoretische Diskurse über dieses Nebenwerk bildhauerischer Praxis gibt.1 Im Vergleich zum Skulpturensockel ist der Bilderrahmen jedoch weitaus häufiger Gegenstand der kunstgeschichtlichen Forschung.2 Der britische Bildhauer Anthony Caro hat wie kaum ein anderer Bildhauer des 20. Jahrhunderts in seinem Œuvre  – insbesondere in den Arbeiten der 1950er und 1960er Jahre – Fragen nach der Bedeutung des Sockels gestellt und diese in künstlerische Handlungen umgesetzt. Aus diesem Grund wird Caros Umgang mit dem Sockel beziehungsweise seine Entscheidung gegen diesen im zweiten Teil des Beitrags den Schwerpunkt der Ausführungen bilden. Diesen Darlegungen werden eingangs anhand exemplarischer Skulpturen, die vor den Werken Caros entstanden sind, einige Bemerkungen zur sockellosen Skulptur und zur Integration des Sockels in dieselbe vorangestellt, um den kunstgeschichtlichen Horizont zu skizzieren, vor dem die Entscheidungen und Handlungen Caros ihren spezifischen historischen Sinn erhalten. Grundsätzliche Aspekte für die Entwicklung der sockellosen Plastik im 20. Jahrhundert sind die Verwendung neuer Materialien in der Bildhauerei sowie das verstärkte Interesse der Künstler, die ästhetische wie ideelle Gren1 | Zu den wenigen Veröffentlichungen der letzten Jahre zählen: Städtisches Museum Heilbronn/Gerhard Marcks-Haus Bremen/Arp Museum Bahnhof Rohlandseck (Hg.): Das Fundament der Kunst. Die Skulptur und ihr Sockel in der Moderne, Bönningheim: Edition Braus 2009. Johannes Myssok/Guido Reuter (Hg.): Der Sockel in der Skulptur des 19. und 20. Jahrhunderts, Köln u. a.: Böhlau 2013. 2 | Aktuellere Literatur zu diesem Thema: Hans Körner (Hg.): Format und Rahmen, Berlin: Reimer 2008. Hans Körner/Karl Möseneder (Hg.): Rahmen. Zwischen Innen und Außen. Beiträge zur Theorie und Geschichte, Berlin: Reimer 2010.

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ze, die zwischen der Welt des Kunstwerks und der des Betrachters entsteht, aufzulösen. Insbesondere aber die Verwendung neuer Materialien mit einer höheren Festigkeit und geringeren Anfälligkeit gegen Verletzungen wie Eisen und Stahl erlaubten den Künstlern eine größere Freiheit bei der Aufstellung ihrer Arbeiten. Die neuen Materialien sicherten den Kunstwerken eine eigene Standfestigkeit, die keines Sockels oder keiner Plinthe als stabilisierenden Grundes mehr bedurfte. In diesem Sinne äußerte der britische Bildhauer Tony Cragg gegenüber dem Autor in einem Gespräch, dass es heute nur noch dreier Aufsatzpunkte bedarf, um eine Skulptur fest auf den Boden zu positionieren. Auguste Rodin war es, der am Ausgang des 19. Jahrhunderts als erster Bildhauer bei der Aufstellung seiner Skulptur Eva im Salon von 1899 darauf verzichtete, einen Sockel für die Präsentation zu benutzen. Des Weiteren wurde die Bodenplatte der Skulptur so im Sand eingegraben, dass die durch Sockel und Bodenplatte markierte ästhetische Grenze aufgelöst wurde. Hierdurch sei, wie Arie Hartog ausführt, der Realismus des Werks in besonderer Weise betont worden. Rodins Entscheidung sei zuallererst »inhaltlich« motiviert gewesen. »Der Betrachter sollte direkt mit dieser sich ihrer Sünde bewussten Gestalt konfrontiert werden. Die Modernität dieser neuartigen Präsentation sollte daher differenziert werden, da sie für den damaligen Betrachter durchaus ihre Logik hatte: Die realistische Komponente der Kunst Rodins, ihr inhaltlicher Anspruch, hier und jetzt Bedeutung zu haben, wurde dadurch unterstrichen«. 3

Im selben Jahr (1899) präsentierte Rodin seine Figur in einer weiteren Ausstellung in Rotterdam, ebenfalls ohne Sockel und mit der Plinthe direkt auf dem Boden stehend. Hartog sieht in dieser Präsentation eine folgenreiche Veränderung gegenüber der Aufstellung in Paris, da anders als dort die Plinthe nicht im Sand eingegraben wurde bzw. werden konnte, wodurch das Kunstwerk in Rotterdam weniger illusionistisch erschienen sei, sondern dem Betrachter objekthaft gegenübergestanden habe. Rodins Eva sei auf diese Weise, im Sinne Michael Frieds, die erste radikal modern präsentierte Skulptur, da sie durch die Aufstellung ihre Bedeutung aus sich selbst heraus generiert und ihre inneren Beziehungen nachvollziehbar vorgeführt habe.4

3 | Arie Hartog: »Die Frage der Augenhöhe. Beobachtungen zu Sockeln in der Bildhauerei um 1900«, in: Städtisches Museum Heilbronn/Gerhard Marcks-Haus Bremen/Arp Museum Bahnhof Rohlandseck (Hg.), Das Fundament der Kunst. Die Skulptur und ihr Sockel in der Moderne, S. 37–43, hier S. 42. 4 | Ebd., S. 43. Siehe dazu an späterer Stelle im Text die Ausführungen von Michael Fried im Hinblick auf die Werke von Anthony Caro.

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Im öffentlichen Ausstellungskontext des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Präsentation bildhauerischer Arbeiten auf uniformen Sockeln. Diese Entwicklung war ein Ergebnis der auseinandergebrochenen Einheit von Architektur, Malerei, Bildhauerei und weiterer Dekorationselemente als Folge von Aufklärung und Säkularisation im späten 18. Jahrhundert. Auguste Rodin war wohl der erste Bildhauer, der sich im ausgehenden 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert gegen die Präsentation seiner Arbeiten auf uniformen Sockeln wandte, indem er die ersten Bildhauersockel schuf. Rodin entwickelte Skulpturen und Sockel, die in der Form von Gipsassemblagen eine Einheit bildeten. Abb. 1: Werke von Auguste Rodin im Saal des Pavillon d’Alma auf der Weltausstellung 1900

Auf diesen künstlerischen Schritt Rodins baute Constantin Brancusi auf, der Unterkonstruktionen für seine Arbeiten fertigte, die sich in ihrer Materialität von der eigentlichen Skulptur unterscheiden, jedoch mit dieser einen intensiven formalen Zusammenhang herstellen, wodurch die Frage, ob die Unterkonstruktionen als Sockel oder Bestandteil des Werks zu verstehen sind, nicht mehr eindeutig geklärt werden kann. Marcel Duchamps Fahrradrad von 1913 stellt das erste plastische Objekt dar, bei dem es noch einmal anders als bei Brancusis Werken unentscheidbar ist, ob der Hocker ein genuines Element der Plastik ist, da das Readymade seine ästhetische und inhaltliche Spannung aus der Konfrontation des statischen und des beweglichen Elements bezieht, und/oder als integrierter Sockel dient, auf

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dem das Fahrradrad, seiner eigentlichen Funktion beraubt, ausgestellt ist. In Duchamps Readymade von 1913 ist jedoch nicht nur das Fahrradrad als Element der Fortbewegung seiner eigentlichen Funktion beraubt, sondern in gleicher Weise auch der Hocker, da dieser ebenfalls nicht mehr seiner ursprünglichen Bestimmung dienen kann. Hinsichtlich der öffentlichen Ausstellung des Fahrradrades ist jedoch zu fragen, ob es bei seiner ersten Präsentation 1951 in der Ausstellung Climax in 20th Century Art in der Sidney Janis Gallery in New York unmittelbar auf den Boden oder auf einen Galeriesockel gestellt wurde. Die Frage nach der Präsentation ist insofern bedeutend, da die Readymades ihre Spannung ja nachgerade aus der Gegenüberstellung von Kunst- und Alltagskontext beziehen. Die Präsentation auf einem Galeriesockel würde die Konfrontation in dieser Hinsicht verschärfen. Nimmt man jedoch das Foto einer Ausstellung des Werks im MoMa, die zehn Jahr später stattgefunden hat, als Hinweis für dessen öffentliche Präsentation, so zeigt das Bild die dritte von Duchamp geschaffene Replik des Fahrradrades direkt auf dem Museumsboden an die Wand gerückt stehend. Die Präsentation ähnelt der Aufstellung des Objekts, wie es das Foto von Duchamps Atelier 1913 zeigt. Abb. 2: Ansicht des Ateliers von Marcel Duchamp in Paris

Der Betrachter wurde in beiden Fällen in seiner Realität unmittelbar mit der Ideenwelt des Readymades konfrontiert. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang der Auf- und Ausstellung allerdings, dass der Raum des Museums eine indirekte Art der Sockelung darstellt, die letztlich für das Funktionieren der Readymades entscheidend ist, da das Museum als ausgewiesener Raum

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der Kunst die semantische Folie darstellt, vor der das Objekt seine neuen Fragen nach dem, was Kunst ist, aufwirft. Eine Skulptur zu schaffen, die ohne Sockel auskommt, setzt nicht zuletzt bestimmte Eigenschaften auf Seiten des Kunstwerks voraus, die mit dessen Material zusammenhängen. Erst die Verwendung neuer Materialen in der Bildhauerei des 20. Jahrhunderts wie Eisen und Stahl und die mit diesen Werkstoffen zusammenhängenden Strukturprinzipien – wie die Festigkeit der Werkstoffe sowie deren spezifische Möglichkeiten der Ponderation – haben neue künstlerische Handlungsweisen im Umgang mit dem Sockel eröffnet. Die Stabiles Alexander Calders, die ab den 1930er Jahren entstehen, sind dafür historisch bedeutsame Belege, da sie nachweislich bereits in ihrer Entstehungszeit direkt auf dem Boden stehend ausgestellt wurden. Aufschlussreiche Dokumente hierfür sind erhaltene Ausstellungsfotos der Arbeiten im Jahr 1937 in Helsinki und New York. Abb. 3: Ausstellungsansicht mit Arbeiten von Alexander Calder in der Pierre Matisse Gallery in New York, 1937

Die Fotos dokumentieren, dass mit Calders Werken Inszenierungen durchgeführt wurden, die den Betrachter in den Räumen der Galerien unmittelbar mit den Werken konfrontierten, sodass dieser vollständig in die neue und eigene Welt der filigranen, spielerischen, wandlungsreichen Objekte auf dem Boden und an der Decke eintauchen konnte. Da der Sockel als ästhetische Grenze, die

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den Raum des Kunstwerks von der Wirklichkeit des Betrachters trennt, vollständig wegfiel, kam es zu einer Verschmelzung beider Realitäten. Das Œuvre des 1924 geborenen britischen Bildhauers Anthony Caro war bis zu einem mehrmonatigen Amerikaaufenthalt im Herbst 1959 durch die intensive Beschäftigung mit der menschlichen Figur geprägt. Neben Arbeiten Henry Moores, dessen Assistent der Bildhauer von 1951 bis 1953 war, hatten Picassos Erfindungen sowie die Werke von Francis Bacon, Jean Dubuffet und Wilhelm de Kooning einen nicht geringen Einfluss auf die Entwicklung der figürlichen Plastik des jüngeren Künstlers.5 Abb. 4: Anthony Caro, Womans Body, 1958

In der Literatur zu Caro wird zu Recht darauf verwiesen, dass die Plastik Woman’s Body von 1959 im Kern eine Zielsetzung beinhaltete, der sich der Bildhauer ab 5 | Den Einfluss dieser Maler auf Caros Werke betont Diana Waldman: Anthony Caro, New York: Abbeville Press 1983, S. 26.

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1960 in gänzlich neuer Form widmen sollte.6 In dem heute zerstörten 188 cm hohen Werk wurde durch verschiedene Mittel eine gezielte Verknüpfung desselben mit dem Betrachter erstrebt: Die massige, in den Körperformen abstrahierte und als Torso gestaltete weibliche Figur saß auf einer einfachen, aus Stahl gebildeten Bank und berührte mit ihren Füßen unmittelbar den Erdboden. Sowohl die relative Lebensgröße der Gestalt (hätte diese sich von der Bank erheben können, dann hätte sie die meisten Betrachter überragt und wäre somit mehr als lebensgroß gewesen) als auch die aufgrund ihrer Größe für den Betrachter selbst nutzbar wirkende Bank und der Verzicht auf eine die Plastik vom umliegenden Raum abgrenzende Standfläche, Bodenplatte oder Sockel, erwirkten zusammen ein partielles Verschmelzen der Realität des Kunstwerkes mit der Wirklichkeit des Betrachters. Über die Bedeutung des Sockels für die Abgrenzung der Skulptur von der Wirklichkeit des Betrachters hatte der Kunsthistoriker Wilhelm Waetzold bereits 1912 in allgemeiner Weise formuliert: »Die wichtigste Aufgabe des Sockels ist die, das plastische Gebilde von der realen Welt zu trennen, es gegen die Wirklichkeit deutlich abzugrenzen und im wörtlichen Sinne aus ihr herauszuheben in eine höhere Daseins- und Wirkungssphäre«.7 Anthony Caro bemerkte 1985 rückblickend in einem Interview über seine Absicht, Ende der 1950er Jahre in Woman’s Body die ästhetische Grenze des Kunstwerkes aufzubrechen und es unbedingter in die Realität des Betrachters eindringen zu lassen: »Ich wollte, dass meine Skulptur eine geradezu physische Wucht erlangte […]. Damit sie in deiner Welt ist, positionierte ich sie auf dem Boden […], und mein zentrales Anliegen auf dem Weg von dort hin zur Abstraktion war immer, auszuprobieren und echter zu sein [to be more real]. Damit das Werk mehr Bedeutung für den Betrachter erlangt, nahm ich es von der Basis herunter. Das kam vor der Abstraktion, es von der Basis herunterzuholen und auf den Boden zu stellen. Das Werk so echt, wie du und ich es sind, zu machen«. 8 6 | Unter anderen betonen dies Michael Fried: »Introduction«, in ders., Anthony Caro, London: Hayward Gallery 1969, S. 6 und Ian Barker: Anthony Caro. Quest for the New Sculpture, London: Lund Humphries 2004, S. 81. 7 | Wilhelm Waetzold: Einführung in die bildenden Künste, Leipzig: Ferdinand Hirtz und Sohn 1912, S. 113 f. Einen kursorischen historischen Überblick über das Verhältnis von Skulptur und Sockel unter besonderer Berücksichtigung des Sockels als ästhetischer Grenze bietet Bernhard Kerber: »Skulptur und Sockel. Probleme des Realitätsgrades«, in: Gießener Beiträge zur Kunstgeschichte 8, Gießen: Wilhelm Schmitz 1990, S. 113–176. 8 | »I wanted my sculpture to have a kind of impact almost physically […]. To be in your world [I sat] that figure on the ground, and my key thing from going from there to abstraction was always to try and to be more real. To make it have more meaning for the onlooker […]. That was taking it off the base. That came before abstraction, taking it off

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Weshalb Caro jedoch glaubte, dass sich eine Intensivierung der Beziehung von Kunstwerk und Betrachter in seinem Sinne nicht weiter auf dem Gebiet der figürlichen Plastik erzielen lasse und er folglich in eine künstlerische Krisensituation geriet, erläuterte er 1959 in einem Gespräch, das erstmals 2004 veröffentlich wurde: In Gemälden und Skulpturen diene der menschliche Körper als Behelf (vehicle), um Emotionen auszudrücken, so der Bildhauer. Er selbst habe sich erst spät dadurch gestört gefühlt, als er herausfand, dass diese Art der Darstellung dazu tendiere, sich als Barriere zwischen die Intention und das Werk zu schieben, da doch die Skulptur selbst das Vehikel sein solle. Die Gefahr einer menschlichen Darstellung sei, so Caros Schlussfolgerung, dass das Objekt in solcher Form Oberhand gewinne, dass die Arbeit zu einer Art von Illustration werde, wenn auch in einem sehr hohen (künstlerischen) Grad.9 Was in Caros Ausführungen deutlich wird, war sein Bestreben, der Plastik eine größere Autonomie und auf diesem Weg eine neue, direktere Wirkung zu verschaffen. Die unmittelbare und ausschließliche Erfahrung ihrer individuellen Struktur sollte in den Fokus der Betrachtung rücken. Die menschliche Figur erschien ihm dazu ungeeignet, da sie – vom Künstler gewollt oder nicht – als Mittler von Etwas erscheint, was der direkten Erfahrung der physischen Faktizität wie auch der spezifischen Struktur des Kunstwerkes selbst entgegenwirkt. Allein durch den Verzicht auf einen Sockel war das Ziel nicht zu erreichen. Der Charakter der Plastik selbst musste eine grundlegende Änderung erfahren. Einen starken Einfluss auf die Entwicklung von Caros Arbeiten ab 1960 hatten Clement Greenbergs Thesen zur Modernität von Malerei und Bildhauerei im Sinne der von dem Kunstkritiker propagierten modernist reduction. Vereinfacht ausgedrückt, forderte der amerikanische Kunstkritiker eine Loslösung der Malerei von der gegenständlichen Welt. Formal sollte sich diese Befreiung in der Malerei durch Flatness ausdrücken – jede Beziehung zur dreidimensionalen außerbildlichen Wirklichkeit sollte im Akt eines Selbstbezuges des zweidimensionalen Bildes getilgt werden. the base [and] putting it on the floor. Making it as real as you and me«. Anthony Caro im Gespräch mit Diana Eichler, zitiert nach: I. Barker: Anthony Caro, S. 81. Soweit nicht anders vermerkt, stammen alle Übersetzungen aus dem Englischen vom Autor selbst. 9 | »The Human Image, pinned down and intensified, is used in painting and sculpture as a vehicle for expressing the emotions. Personally I have lately become disturbed by this, as I found that this sort of Image is inclined to be a barrier between the intention and the work, and that the vehicle should in fact be the sculpture itself. This is not to say that a Human Image cannot rely on its own essential qualities. […] With a human image the danger is that the subject takes over to such a degree that the work becomes a sort of illustration, even if of a very high order«. Auszug aus »Unpublished talk on image 1959«, abgedruckt ebd., S. 82.

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Für die Bildhauerei forderte Greenberg das Abrücken von der monolithischen Form, das heißt von Objekten, die in den traditionellen Materialien Stein und Bronze aus einem Stück bestehen. An ihre Stelle sollten konstruierte Plastiken aus modernen Materialien treten.10 Damit einhergehend sollte die neue Plastik im Unterschied zur monolithischen, in der die Gesetze der Schwerkraft in einem stärkeren Maße anschaulich sind, durch Leichtigkeit (weightlessness) gekennzeichnet sein. Mit der Abkehr vom monolithischen Block sollte jedweder von Greenberg für überkommen gehaltene Repräsentationscharakter der Skulptur getilgt werden. Der Kritiker und Theoretiker verglich den neu anzustrebenden Realitätscharakter plastischer Bildwerke mit Objekten aus der alltäglichen Gegenwart des Menschen. In seinem bereits 1949 veröffentlichten Essay The New Sculpture, über dessen Bedeutung Alex Potts in neuerer Zeit in der Einführung des Modern Sculpture Reader bemerkt, es sei wichtig zu beachten, dass Greenberg in seinem Essay die Vision einer neuen Skulptur formuliert habe, die zu dieser Zeit in der Tat noch Vision und nicht schon gegenwärtige Praxis der Bildhauerei gewesen sei,11 heißt es zur Gestalt der neuen Skulptur: »Die neue Skulptur ist auch […] von den Anforderungen der nachahmenden Darstellung befreit. […] Dieselbe Entwicklung der Sensibilität, die der Malerei die Illusion von Tiefe und der gegenständlichen Darstellung untersagte, machte sich in der Skulptur bemerkbar, indem sie ihr den monolithischen Block weitgehend verwehrte, der in der dreidimensionalen Kunst zu viele Assoziationen an die Gegenständlichkeit beinhaltet. Die von der Masse und der Kompaktheit befreite Skulptur sieht nun eine viel größere Welt vor sich und ist in der Lage, alles das zu sagen, was die Malerei nicht mehr sagen kann. Derselbe Prozess, durch den die Malerei verarmt ist, hat die Skulptur bereichert. Die Bildhauerei war schon immer in der Lage, Objekte zu erschaffen, die eine dichtere, wirklichere Realität zu besitzen scheinen als die Erzeugnisse der Malerei. Was früher ihr Nachteil war, begründet heute ihre größere Anziehungskraft für unsere neuartige, positivistische Sensibilität, und dies verleiht ihr auch größere Freiheiten. Sie kann nun unendlich viele neue Objekte erfinden und verfügt über einen potentiellen Reichtum an Formen, an denen unser Geschmack prinzipiell nichts aussetzen kann, da sie alle eine offenkundige physische Realität besitzen, so greifbar und eigenständig und gegen10 | Clement Greenberg: »The New Sculpture«, 1949, in: Ders., The Collected Essays and Criticism, Bd. 2, Arrogant Purpose (1945–1949), hg. von John O’Brian, Chicago: University of Chicago 1988, S. 313–319, hier S. 317. Deutsche Übersetzung in: Karlheinz Lüdeking, Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken. Aus dem Amerikanischen von Christoph Hollender, Amsterdam/Dresden: Philo Fine Arts 1997, S. 163–173, hier S. 169. 11 | Alex Potts: »Introduction: The Idea of Modern Sculpture«, in: Jon Wood/David Hulks/ Alex Potts (Hg.), Modern Sculpture Reader, Leeds: Henry Moore Institute 2007, S. XIII– XXX, hier S. XXII.

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Guido Reuter wärtig wie die Häuser sind, in denen wir wohnen, und die Möbel, die wir benutzen. Die Bildhauerei, die ursprünglich die transparenteste Kunst war, weil sie der physischen Natur ihrer Sujets am nächsten kam, genießt heute den Vorteil, die Kunst zu sein, der die wenigsten Assoziationen von Fiktion und Illusion anhaften«.12

Caros Empfänglichkeit für Greenbergs Thesen, die seiner eigenen Suche nach einer plastischen Gestalt von gesteigerter Unmittelbarkeit durch formale Autonomie entgegenkamen, ebenso sein Zweifel daran, ob dieses Ziel mit figür12 | »The same evolution in sensibility that denied to painting the illusion of depth and of representation made itself felt in sculpture by tending to deny it the monolith, which in three-dimensional art has too many connotations of representation. Released from mass and solidity, sculpture finds a larger world before it, and itself in the position to say all that painting can no longer say. The same process that has impoverished painting has enriched sculpture. Sculpture has always been able to create objects that seem to have a denser, more literal reality than those created by painting; this, which used to be its handicap, now constitutes its greater appeal to our new-fangled, positivist sensibility, and this also gives it its greater license. It is now free to invent an infinity of new objects and disposes of a potential wealth of forms with which our taste cannot quarrel in principle, since they will all have their self-evident physical reality, as palpable and independent and present as the houses we live in and the furniture we use. Originally the most transparent of all the arts because the closest to the physical nature of its subject matter, sculpture now enjoys the benefit of being the art to which the least connotation of fiction or illusion is attached«. C. Greenberg: The New Sculpture, S. 317–318. Deutsche Übersetzung in Ders.: Die Essenz der Moderne, S. 170. Dass Greenberg sich zur Stärkung seiner Ideen auf paragone-Argumente bezieht, die annähernd genau 400 Jahre zurückliegen – der künstlerische wie theoretische Diskurs um die Hierarchie der künstlerischen Gattungen erlebte um die Mitte des 16. Jahrhunderts in Florenz seinen großen Höhepunkt – mag einerseits Zufall sein. Anderseits ist es nicht untypisch für Greenberg, seine Argumentation mit historischer Kunsttheorie zu verweben bzw. diese als Basis seiner Darlegungen zu verwenden, wodurch seine Thesen eine historische Fundierung erhalten, die sie bedeutungsvoller machen. Zugleich mutet sein Vorgehen widersprüchlich an, da er einerseits für die Kunst seiner Zeit einen radikalen Bruch mit der Tradition westlicher Kunstgeschichte fordert, andererseits zur Stärkung seiner Argumente auf eben diese Tradition und ihre Theorien zurückgreift. Das radikal Neue soll gleichzeitig eine Absicherung erhalten, was widersprüchlich und inkonsequent erscheint. Siehe dazu auch ders.: »Towards a Newer Laocoon« (1940), in: John O’Brian (Hg), The Collected Essays and Criticism, Bd. 1, Chicago: University of Chicago 1986, S. 23–38. Deutsche Übersetzung: »Zu einem neueren Laokoon« (1940), in: Ders., Die Essenz der Moderne, S. 29–55. Eine Zusammenfassung des paragone in Guido Reuter: »Die Bedeutung der Ansichtsseiten in den Schriften zum paragone von Malerei und Skulptur«, in: Ders., Statue und Zeitlichkeit 1400–1800, Petersberg: Imhof 2012.

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licher Bildhauerei überhaupt (noch) zu realisieren sei, führten ihn wie seine in Amerika gewonnenen Eindrücke zu Twenty-Four Hours – seiner ersten abstrakten Plastik – und den dieser wegweisenden Arbeit nachfolgenden Werken. Abb. 5: Anthony Caro, Twenty-Four-Hours, 1960

Für die Konzeption von Caros Plastiken, die ab 1960 entstanden, war es von grundlegender Bedeutung, dass nicht allein die Abwesenheit eines Sockels das Besondere darstellte. Der Verzicht auf den Sockel war eine Begleiterscheinung der neuen Struktur der Plastiken. Die Gestalt der Arbeiten machte es notwendig, den Sockel auszugliedern, damit dieser der neu gewonnenen Unmittelbarkeit der Werke nicht entgegenwirkte.13 Der amerikanische Kunstkritiker und -wissenschaftler Michael Fried, der seit den frühen 1960er Jahren Englandkorrespondent des amerikanischen Arts Magazine war, ab 1961 in einem intensiven Kontakt zu Anthony Caro stand und seit 1963 zu den bedeutenden Interpreten des britischen Bildhauers zählt, äußerte sich mehrfach in grundlegender Form über den Wegfall des Sockels in Caros Arbeiten: 13 | Diane Waldman formulierte 1982 bündig und treffend: »As the nature of sculpture changed from the representation of things to the representation of sculpture, the base was progressively winnowed away, it was absorbed into the body of the sculpture or rendered obsolete«. D. Waldman: Anthony Caro, S. 39. Die Autorin analysiert in ihrer großen Studie sehr feinsinnig, wie Caro in den Werken der frühen 60er Jahre den Sockel ersetzt. Siehe dazu ebd., S. 41 f.

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Guido Reuter »Zu Anthony Caros Entschluss, bei seinen ersten abstrakten Skulpturen 1959/60 jede Art Fußplatten oder Sockel wegzulassen und sie direkt auf den Boden zu stellen, ist vieles gesagt und geschrieben worden. Die meisten Beiträge liefen darauf hinaus, dass dieser Schritt einem Fortschritt an sich gleichkam, und es wurde sogar gesagt, dass Caros eigentliche Leistung bei diesen frühen Stücken hauptsächlich in der Befreiung der Skulptur vom Sockel läge«.14

Im weiteren Verlauf seiner Erläuterungen weist Fried darauf hin, dass der Künstler nicht der erste gewesen sei, der eine Plastik auf den Boden gestellt habe. Der amerikanische Kunstkritiker und spätere Kunsthistoriker nennt unter anderem Alberto Giacometti, der diesen Schritt bereits 1932 mit Femme égorgée vollzogen habe (die Bronze lag in Giacomettis 18 Quadratmeter großem Atelier auf dem Boden). Über die individuelle Leistung Caros bemerkt Fried weiter: »Wenn Caro nur Skulpturen, die normalerweise auf einem Sockel ständen, auf den Boden gestellt hätte, wäre das künstlerisch lediglich trivial. Caros frühe abstrakte Stücke beinhalten dagegen aber tatsächlich eine fundamentale Umformung der plastischen Form. […] Eben weil diese Veränderung so tief ging, wurde Caro geradezu gezwungen, den Sockel wegzulassen. Unter diesem Gesichtspunkt können wir Caros originale Leistung so definieren: Er hat als Erster Plastiken hergestellt, die man frei auf den Boden stellen musste und deren besonderer Charakter verleumdet worden wäre, hätte man sie anders aufgestellt. Aber auch das soll nicht heißen, Caro habe die Skulptur von irgendwas befreit oder eine Konvention, die sich als unwesentlich erwiesen hatte, über Bord geworfen oder ein für allemal außer Kraft gesetzt«.15

Hinsichtlich des besonderen Charakters der Plastiken Anthony Caros, der eine Aufstellung ohne Sockel bedingte, hatte Fried 1969 erstmals ausgeführt, dass dieser in der neuen immanenten Logik einer reinen und vollständig inneren Beziehung der Arbeiten (that logic […] of pure and exhaustive internal relation) bestehe. Mit der Hinwendung des Künstlers zu nicht-darstellenden oder abstrakten – wie es im englischen Sprachgebrauch heißt – Plastiken, die auf der reinen und vollständig inneren Beziehung ihre Bestandteile basierten, sei es dem Bildhauer gelungen, so Fried, eine neue und undistanzierte Beziehung seiner Werke zum Betrachter zu erzeugen, wie er es zuvor bereits angestrebt habe.16 Die Folge davon war der zwangsläufige Verzicht auf Sockel oder Basis, deren Verwendung der Beziehung abträglich gewesen wäre. 14 | Michael Fried: »Anthony Caros Tischskulpturen«, in: Dieter Blume (Hg.), Anthony Caro. Catalogue Raisonné Bd. 1. Table and Related Sculptures 1966–1978, Köln: Galerie Wentzel o. J., S. 21–29, hier S. 21. 15 | Ebd., S. 21. 16 | M. Fried: Introduction, S. 10.

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Der anscheinende Widerspruch, dass ein auf einer reinen und vollständig inneren Beziehung seiner Elemente basierendes Kunstwerk in ein neues und unmittelbareres Verhältnis zum Betrachter tritt  – die Entstehung einer Distanz erscheint nahe liegender, da sich das Kunstwerk aufgrund der intendierten Selbstbezüglichkeit in sich selbst verschließt –, lässt sich wie folgt auflösen: Die Autonomie der Plastiken Caros, die durch die Verwendung industriell erzeugter Materialien zustande kommt, die innerhalb der Werke auf neuartige Weise zusammengefügt sind und nur auf sich selbst und nicht über sich hinaus auf einen anderen Inhalt verweisen, als dessen Mittler sie fungieren, bedingt eine gesteigerte Präsenz derselben, wodurch sie in ein unmittelbareres Verhältnis zum Betrachter treten. Indem Caro in seinen ab 1960 entstandenen Plastiken jedwede Form von Transparenz tilgte, entstand deren neuartige Weise von Unmittelbarkeit. Abb. 6: Ausstellungsansicht mit Werken von Anthony Caro in der Whitechapel Art Gallery London, 1963

Obschon der Bildhauer mit der Form seiner Werke einerseits das Ziel verfolgte, ihnen eine neuartige Unmittelbarkeit zu verleihen, wodurch zugleich ein neuer Realitätscharakter entstand, da sie aufgrund der verwendeten Materialien und deren Montage sowie der damit einhergehenden Absage an die Tradition figürlicher Skulptur tendenziell mehr industriellen Objekten ähnelten, war er andererseits strikt darum bemüht, dieselben als plastische Kunstwerke von der alltäglichen Objektwelt zu scheiden. Bryan Robertson bemerkte in dieser Hinsicht 1963 im Katalog der Whitechapel Gallery anlässlich Anthony

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Caros erster großer Ausstellung der neuen Plastiken der frühen 1960er Jahre zu Recht, dass die Arbeiten keinerlei Kommentar zum städtischen Umfeld, zur Architektur oder zum Maschinenwesen darstellten, sondern gänzlich abstrakt, ohne Bezüge oder Parallelen zur Außenwelt seien.17 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Bemerkung Caros in einem 1965 verfassten Brief des Künstlers an den englischen Kurator, Ausstellungsmacher und Autor Ian Barker: »Ich denke, du maßt dir viel an, wenn du sagst, dass wenn man keine Objekte auf Sockeln oder Monumente hat, hat man keine Skulptur. Es ist genau diese Annahme, hinsichtlich der Natur von Skulptur, die durch meine Aussage, die du anführtest, und anhand meiner Herangehensweise an eine Skulptur hinterfragt werden soll. Schließlich leben wir in einer Welt voll mit Objekten, Tischen, Stühlen, Geschirr, Autos usw. Was macht Skulptur besonders, isoliert sie tatsächlich von all diesen Dingen? Oft grenzt sie ihre Welt von unserer ab. Wir als Bildhauer finden es schwierig, unserer Arbeit zu gestatten, die alltägliche Welt zu bewohnen, in der sie außer Stande sein kann, ihr Eigenes gegenüber den Dingen zu behalten, die ich nannte. Wir stellen sie auf eine Basis und befestigen sie an einem Kaminsims; es ist als ob die Basis sagt, ›Meine Welt endet hier – jetzt beginnt die des Betrachters‹ – oder wir stellen die Arbeit an einem öffentlichen Ort auf einen Sockel – die Bronzestatue eines lebensgroßen Mannes ist vielleicht die klägliche, schwache Nachahmung eines wirklichen Mannes aus Fleisch und Blut; aus diesem Grund geben wir ihr etwas Spezielles, indem wir sie auf einen Sockel, einen Thron, stellen. Jetzt, indem du die Skulptur vom Sockel runter bringst, beginnt sie nur den Wert zu haben, der ihr von Natur aus gegeben ist – entweder ist sie lebloser Abfall oder sie führt eine Absicht mit sich, sie besitzt Poesie oder sie ist nichts. […] Meine Definition von Skulptur […] beinhaltet etwas, was außerhalb und nicht innerhalb (davon) [der Welt des Betrachters, der Tische, Stühle, d. V.] sein würde. Dennoch denke ich, dass die Geschichte der Malerei im 20. Jahrhundert den Weg in Richtung dieser Art von Skulptur gewiesen hat, die sich tatsächlich in den Betrachterraum ausdehnt und sichtbarer wird«.18 17 | »Caro’s work does not comment in any way on the urban scene, or architecture, or machinery. He has made a series of sculptures which are abstract, without any outside correspondences or parallels«. Bryan Robertson: »Preface«, in: Ders., Anthony Caro. Sculpture 1960–1963, London: Whitechapel Art Gallery 1963, o. S. 18 | »I think you are assuming a great deal when you say that ›If one cannot have objects on pedestals or monuments one cannot have sculpture‹ and it is just this sort of assumption of the nature of sculpture that my statement that you quoted and my pursuit of sculpture intends to question. After all we live in a world full of objects, tables, chairs, crockery, motorcars etc. What makes sculpture more special, isolates it in fact, from all this? Often it is the delimiting of its world from ours. We find it difficult as sculptors to allow our work to inhabit the every day world where it may be unable to hold its own with the things that I have mentioned. We put it on its base and stick it on the mantelpiece, [it

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Caros Brief an Ian Barker ist nicht nur wegen des Hinweises aufschlussreich, dass der Ausschluss des Sockels aus seinem Werk Mitte der 1960er Jahre noch keinen vorbehaltlosen Anklang erfahren hatte.19 Er bietet auch Aufschluss darüber, wie der Künstler zu dieser Zeit über seine eigenen Arbeiten dachte. Insbesondere seine Bemerkung, die Plastiken beinhalteten etwas, was sie »außerhalb der Welt des Betrachters stelle«, obschon sie sich in dessen Raum hinein ausdehnten, verdeutlicht, dass er nachdrücklich darum bemüht war, seinen Werken eine künstlerische Eigenwertigkeit und Selbstständigkeit zu verleihen, die bewirken sollte, dass sie, trotz ihrer neu gewonnenen physischen Präsenz, nicht vollständig in der Welt oder Wirklichkeit des Betrachters aufgehen – geschweige denn, dass dieser in der Betrachtung zu einer Art von Mitschöpfer werden sollte. »Da Werk und Betrachter sich nunmehr auf einer gemeinsamen Fläche gegenüberstehen, hat die unsichtbare ideelle Begrenzung des ästhetischen Hoheitsbereichs der Plastik allein durch deren spannungsreiche Konstruktion zu erfolgen«.20 Caros Plastiken unterscheiden sich aufgrund ihrer Disposition in gravierender Weise von den zeitgleich aufkommenden Objekten der Minimal Art, wenngleich beide auf den ersten Blick eine gewisse Ähnlichkeit besitzen, was auf den verwendeten Materialien, der bewusst eingeschränkten Formensprache sowie der sockellosen Präsentation beruht. Rosalind E. Krauss bekräftigt, dass in Skulpturen, wie sie Caro in jener Zeit schuf, eine deutliche Kritik an dem objekthaften Zustand der Minimal Art existiert. Die Kritik ziele darauf ab is as if] the base says, ›My world ends here – now yours, the spectator’s, starts‹ – or we put it on a pedestal in a public square – the bronze statue of a man life-size is a feeble imitation of a real flesh and blood man perhaps, so we give it a specialness by putting it on a pedestal, a throne. Now if you bring the sculpture off its base it begins to have only those merits that are intrinsic in its nature – either it is lifeless junk or it carries an intention, it has poetry about it or it’s nothing. […] My definition of sculpture would I think have something in it about being ›outside it‹ not ›inside it‹. But I do think that the history of the 20th Century Painting has indicated the direction towards this sort of sculpture, sculpture that in fact expands into the spectator’s space, and in fact does become more optical«. Caro zitiert nach I. Barker: Anthony Caro, S. 90. 19 | In einem Artikel des »Evening Standard« vom 04. November 1965 mit dem Titel »Sculpture you look down at – and admire« bemerkte der Autor Ian Dunlop zwar, dass der Ausschluss des Sockels, den Caro in seinen Arbeiten seit einigen Jahren betreibe, nun bereits von jüngeren Bildhauern nachgeahmt werde, doch macht die Aussage in Caros Brief deutlich, dass es noch keine vorbehaltlose Akzeptanz gegenüber dieser Neuerung gab. Ian Dunlop: »Sculpture you look down at – and admire«, abgedruckt in I. Barker: Anthony Caro, S. 151. 20 | Hannelore Kersting zitiert nach Bernhard Kerber: »Bemerkungen zur Bodenplastik«, in: Bodenskulptur, Bremen: Kunsthalle 1986, o. S.

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zu betonen, so Krauss, dass es die Aufgabe des Künstlers sei, mittels seiner Werke den Unterschied herauszustellen, der zwischen einem Alltagsobjekt und einem Kunstwerk bestehe.21 Bis heute gibt es nach wie vor Bildhauer, die Skulpturen schaffen, die für eine Präsentation auf Sockeln wie im 19. Jahrhundert vorgesehen sind. Seit Brancusi ist es jedoch auch selbstverständlich geworden, dass Skulpturen keinen Sockel mehr benötigen, weil sie diesen entweder schon als integrierten Bestandteil mit sich führen oder direkt auf dem Boden stehen oder liegen können. Anthony Caros intensive künstlerische Auseinandersetzung mit dem Sockel und der Entwicklung einer Skulptur, die denselben folgenreich ausscheidet, verdeutlichen in diesem Zusammenhang nachdrücklich, dass der Sockel selbst nie nur als unumgängliches Beiwerk diente, sondern den Bildhauer aufgrund seiner besonderen Wirkung für das Werk immer schon zu individuellen künstlerischen Handlungen herausforderte.

L iter atur Barker, Ian: Anthony Caro. Quest for the New Sculpture, London: Lund Humphries 2004. Fried, Michael: »Anthony Caros Tischskulpturen«, in: Dieter Blume (Hg.), Anthony Caro. Catalogue Raisonné, Bd. 1. Table and Related Sculptures 1966–1978, Köln: Galerie Wentzel o. J., S. 21–29. Greenberg, Clement: »Die Essenz der Moderne«, in: Karlheinz Lüdeking (Hg.), Ausgewählte Essays und Kritiken, Amsterdam/Dresden: Philo Fine Arts 1997. Ders.: »The New Sculpture« (1949), in: John O’Brian (Hg.)/Clement Greenberg, The Collected Essays and Criticism, Bd. 2, Arrogant Purpose (1945– 1949), Chicago: University of Chicago 1988, S. 313–319. Ders.: »Towards a Newer Laocoon« (1940), in: John O’Brian (Hg.)/Clement Greenberg, The Collected Essays and Criticism, Bd. 1, Chicago: University of Chicago 1986, S. 23–38. Hayward Gallery (Hg.): Anthony Caro, London: Hayward Gallery 1969. Körner, Hans (Hg.): Format und Rahmen, Berlin: Reimer 2008. Körner, Hans/Möseneder, Karl (Hg.): Rahmen. Zwischen Innen und Außen. Beiträge zur Theorie und Geschichte, Berlin: Reimer 2010. 21 | »In Sculpture like Caro’s there is an impact criticism of the object-like condition of minimal art. This criticism insists that there is an essential difference between the nature of art and that of objects, a difference which it is the sculptor’s particular duty to preserve«. Rosalind Krauss: Passages in Modern Sculpture, New York: MIT Press 1977, S. 199.

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Kerber, Bernhard: »Bemerkungen zur Bodenplastik«, in: Siegfried Salzmann (Hg.), Bodenskulptur, Bremen: Kunsthalle 1986, o. S. Kerber, Bernhard: »Skulptur und Sockel. Probleme des Realitätsgrades«, in: Gießener Beiträge zur Kunstgeschichte 8, Gießen: Wilhelm Schmitz 1990, S. 113–176. Krauss, Rosalind: Passages in Modern Sculpture, New York: MIT Press 1977. Myssok, Johannes/Reuter, Guido (Hg.): Der Sockel in der Skulptur des 19. und 20. Jahrhunderts, Köln u. a.: Böhlau 2013. Potts, Alex: »Introduction: The Idea of Modern Sculpture«, in: Jon Wood/David Hulks/Alex Potts (Hg.), Modern Sculpture Reader, Leeds: Henry Moore Institute 2007, S. XIII–XXX. Reuter, Guido: Statue und Zeitlichkeit 1400–1800, Petersberg: Imhof 2012. Robertson, Bryan: »Preface«, in: Anthony Caro, Sculpture 1960–1963, London: Whitechapel Art Gallery 1963, o. S. Städtisches Museum Heilbronn/Gerhard Marcks-Haus Bremen/Arp Museum Bahnhof Rohlandseck (Hg.): Das Fundament der Kunst. Die Skulptur und ihr Sockel in der Moderne, Bönningheim: Edition Braus 2009. Waldman, Diana: Anthony Caro, New York: Abbeville Press 1983.

A bbildungen Abb. 1: Werke von Auguste Rodin im Saal des Pavillon d’Alma auf der Weltausstellung 1900. In: Josette Grandazzi, Musée du Luxembourg (Hg.), Rodin en 1900. L’exposition de l’Alma, Paris, Éd. de la Réunion des musées nationaux 2001, S. 69, fig. 49. Foto: M. Bauche. Abb. 2: Ansicht des Ateliers von Marcel Duchamp in Paris. In: Arturo Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp. Bd. 1, New York: Delana Greenridge Editions 2000, S. 186. Foto: Jacques Faujour. Abb. 3: Ausstellungsansicht mit Arbeiten von Alexander Calder in der Pierre Matisse Gallery in New York, 1937. In: Kunst und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg., Alexander Calder (Ausstellungskatalog Bonn 1993), Ostfildern-Ruit: Edition Cantz 1993, S. 125. Foto: Herbert Matter. Abb. 4: Anthony Caro, Womans Body, 1958, Gips, 188 cm (zerstört). In: Diana Waldman: Anthony Caro, Oxford: Phaidon Press Ltd 1982, S. 7. Abb.  5: Anthony Caro, Twenty-Four-Hours, 1960, Stahl bemalt, 138 × 223,5 × ​ 89 cm, Tate Gallery London. In: Diana Waldman. Anthony Caro, Oxford: Phaidon Press Ltd 1982, S. 13. Abb. 6: Ausstellungsansicht mit Werken von Anthony Caro in der Whitechapel Art Gallery London, 1963. In: Anthony Caro: Sculpture 1960–1963, London: Whitechapel Art Gallery 1963, o. S.

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Honda & Daewoo und andere … Armin Hartenstein

diese und folgende Seiten: AUTOS UND PFLANZEN GROSSE PFLANZE IM MASCHENDRAHTKÄFIG/Zeichnung, Marker, Papier, 1999 HONDA/Auto (Honda Civic Baujahr 1985), gefüllt mit lebenden Pflanzen und Pflanzenimitaten; Bildobjekt: GROSSER VORTEX/Mischtechnik, Holz, 2000, escale-Ausstellungsraum Düsseldorf, 2001 PROTOTYP, Topfpflanze und Glasscheibe, 2000 DAEWOO-ODONGDO/Zeichnung, Marker, Papier, 2010, Studie für DAEWOO auf Einladung des YIAF in Yeosu, Südkorea 2010; Koreanischer Kleinwagen (Daewoo Tico Baujahr 1985), gefüllt mit lebenden Pflanzen und Pflanzenimitaten, geparkt im Freizeitpark auf der Insel Odongdo

Modellierungen in Eis und Schnee Das Material des Bergfilms Lisa Gotto

Wenn der Film die Landschaft im Schnee versinken lässt, dann versenkt er sich selbst ins Weiß – so weit das Auge reicht. Im Bild des bodenlosen Weißen scheint der Film für einen Moment hinter eine seiner wesentlichen Leistungen zurückzugehen: Die Illusion räumlicher Tiefe. Auf einmal gibt es keine Relationen mehr, keine verlässlichen Beziehungen, keine Koordinaten, die das Sehfeld strukturieren. Das Bild der Schneelandschaft gleicht der planen Fläche und weist auf sie zurück. Es wirft den Blick von der Leinwand auf die Leinwand. Und es macht deutlich: Hier stehen die Erscheinungsbedingungen von Objekt und Bewegung zur Disposition. Wenn der Film sich ins Weiß begibt, dann beschäftigt er sich mit seiner eigenen Medialität. Das Weiß kann vor diesem Hintergrund als Randbedingung, als Außenbezirk des Filmischen verstanden werden, und zwar insofern, als dass es gewissermaßen das Außerhalb der filmischen Logik (etwa der strukturierten Handlungsführung) markiert: Das Rätselhafte, das Begriffslose, das schwer Fassbare. Gleichzeitig kann es in besonderer Weise darauf aufmerksam machen, welchen materiellen und ästhetischen Bedingungen das unterliegt, was auf der Grundlage des Weißen zur Erscheinung gebracht wird. Anders gesagt: Im Schneebild kann der Film einen Möglichkeitsraum nicht nur darstellen, sondern selbst hervorbringen. Ein ausgezeichnetes Beispiel dafür ist der Bergfilm, denn hier ist der Schnee kein peripheres Material, keine Dekoration, kein beliebiger Zusatz. Hier ist er die Grundlage des Bildes selbst, die Bedingung seiner Formbarkeit und Gestaltbarkeit. Der Bergfilm entsteht in den 1920er Jahren in Deutschland als eigenes Filmgenre. Untrennbar verbunden mit seiner Genese und Entwicklung ist der Regisseur Arnold Fanck, der bis in die 1930er Jahre die größten und aufwändigsten Bergfilm-Produktionen realisiert. Arnold Fanck, ein Freiburger Geologe und Skilehrer, beginnt seine Karriere als Regisseur im Jahr 1913, als er einen Dokumentarfilm über die Besteigung des Monte Rosa dreht. 1920 gründet er die Berg- und Sportfilm GmbH Freiburg, eine Firma, die es sich zur Aufgabe macht,

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alpine und filmtechnische Professionalität zu verbinden. Fest zu seinem Team gehören mit Sepp Allgeier und Hans Schneeberger zwei Kameramänner, die zu Pionieren des Bergfilms werden. Zusammen mit Fanck experimentieren sie mit Aufnahmetechniken, die etwas ganz anderes sichtbar machen sollten, als das, was bis dahin auf der Leinwand zu sehen war. Jenseits der Konventionen der Atelier-Produktionen, also der Studio-Filme, deren Szenarien sich an der Künstlichkeit der kontrollierten Innenaufnahmen ausrichteten, ging es ihnen um die Untersuchung und Dokumentation von Naturereignissen. Unentwegt war die sogenannte Freiburger Kameraschule auf der Suche nach neuen technischen Optionen wie der Entwicklung von speziellen Objektiven, dem Einsatz von Nachtsichtgeräten oder der Möglichkeit, Kameras auf Schlitten oder Skiern zu montieren. Dabei erkannten die Filmemacher, dass die Eislandschaft der Berge ganz eigene Bedingungen für ihre Abbildbarkeit schafft und damit auch besondere Operationen verlangt. Schnee und Eis sind nicht einfach so ins Bild zu setzen. Sie absorbieren und reflektieren das Licht, sie organisieren Bewegungen, sie trüben den Blick oder weiten ihn. Das liegt vor allem daran, dass die Materialität des Schnees selbst nichts Festes hat. Schnee kann fallen, liegen oder aufgewirbelt werden. Eis kann schmelzen und wieder erstarren. Betroffen davon ist nicht nur der Boden, auf dem sich die Menschen bewegen, sondern auch die sich ändernden Lichtverhältnisse und Witterungsbedingungen, all jene Umschläge also, die sich nicht als Fixum fassen lassen, sondern allein als prozessualer Wandel existieren. Für die filmischen Produktionsverhältnisse bedeutet das, dass kein Drehtag wie der andere ist und dass kein Bild einer planenden Organisation oder regulierenden Festschreibung gehorcht. Immer kann etwas in das Bild hineingelangen, das eigentlich nicht vorgesehen war; ein minimaler Wechsel, der etwas anders macht und dadurch das Bild selbst verändert. Für Arnold Fanck, den Naturwissenschaftler und Naturfotografen, war das erklärtermaßen nicht das Problem, sondern die Ausrichtung und Zielsetzung seiner Filmarbeit. Wichtig war ihm, so erklärte er 1931, ein sachlicher und dokumentierender Ansatz, ein »fotografische[r] Stil, den ich auch später immer beim Film beibehielt, nämlich die einfache, rein realistische Wiedergabe.«1 Arnold Fanck interessierte sich für die wirklichkeitsnahe, ja wirklichkeitsgetreue Aufzeichnung einer unverstellten Realität. Tatsächlich sah er darin die größte Leistung der Kinematographie. Anders als die Malerei schließe sie den artifiziellen Zugriff aus. Stattdessen halte sie das Vorfindliche fest, ohne es zu verändern. Was ihn an der fotografischen Wiedergabe der Wirklichkeit faszinierte, war, so Fanck, dass sie »von vorneherein keine grafische[n] und maleri-

1 | Arnold Fanck: Der Kampf mit dem Berge, Berlin: Reimar Hobbing 1931, S. 12.

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sche[n] Kunststücke zuließ, [sondern] am saubersten und in reinster Form die Natur zu zeigen [vermöge], so wie sie ist.«2 Was sind das also für Bilder, die Fanck erschafft, was zeigen sie? Die reine Natur? Ganz sicher nicht, denn es gibt keine Natur ohne Spur. Was immer ein Medium zu zeigen vermag (sei es die Malerei, die Fotografie oder die Kinematographie), das zeigt im Vorgang des Zeigens auch immer sich selbst. Das mediale Zeigen hinterlässt Spuren, selbst wenn dies von den Bildgestaltern gar nicht beabsichtigt ist. Wer die Natur einzufangen versucht, der gestaltet sie um. Jedes Naturbild enthält so einen Verweis seines Zustandekommens, einen Hinweis darauf, dass es nicht einfach so da ist, sondern an Darstellungsbedingungen gebunden ist. Damit erhält das Abgebildete eine eigene Gestalt, eine spezifische Form, die es ohne die gestaltende Transformation gar nicht hätte. Arnold Fancks Bilder zeigen also keine reine Natur, sie zeigen Landschaft. Nun taucht dieser Begriff in Fancks Abhandlungen gar nicht auf; weder diskutiert noch problematisiert er ihn. Jemand anderes aber setzt sich damit auseinander, ein anderer Bildmacher, mit dem Fanck eng zusammen gearbeitet hat: Der Drehbuchautor und Filmtheoretiker Béla Balázs.3 Auch Balázs interessiert sich für die reine Sichtbarkeit des Wirklichen. Anders als Fanck geht er aber nicht davon aus, dass es dieses Wirkliche einfach so, ohne jede Voraussetzung im Bild geben könnte, auch und erst recht nicht, wenn es dabei um Landschaftsaufnahmen an Originalschauplätzen geht. Vielmehr denkt er darüber nach, was es mit der Landschaft selbst auf sich hat, was sie ist oder wie es sie überhaupt geben kann. »Wie entsteht Landschaft?« fragt Balázs 1924 in einem Aufsatz mit dem Titel Natur und Natürlichkeit  – um zunächst festzustellen: »Aber nicht jedes Stück Land ist auch schon Landschaft. Die objektive, die natürliche Natur ist es nicht.«4 Was braucht es also, damit Land zu Landschaft wird? Joachim Ritter hat in seinem berühmten Beitrag Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft folgende Definition angeboten: »Landschaft ist Natur, die im Anblick für einen fühlenden und empfindenden

2 | Ebd., S. 22. 3 | Arnold Fanck und Béla Balázs lernen sich im Rahmen der Fanck’schen BergfilmProduktionen kennen, für die sich Balázs früh begeistert. An dem Bergfilm »Das blaue Licht« (R.: Leni Riefenstahl, Béla Balázs. D 1932) sind beide beteiligt: Béla Balázs übernimmt zusammen mit Leni Riefenstahl Drehbuch und Regie, Arnold Fanck ist für den Schnitt verantwortlich. Weiterhin verfasst Béla Balázs das Vorwort zu Arnold Fancks 1931 erschienenen Filmbuch »Stürme über dem Montblanc«, vgl. den Wiederabdruck: Béla Balázs: »Der Fall Dr. Fanck«, in: Ders., Schriften zum Film, München: Carl Hanser 1984, S. 287–291. 4 | Béla Balázs: »Natur und Natürlichkeit« (1924), in: Ders., Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 66–84, hier S 67.

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Betrachter ästhetisch gegenwärtig ist.«5 Damit ist ein wichtiges Moment angesprochen, nämlich das konstitutive Moment der Betrachtung: Erst im und durch den Anblick wird Natur zu Landschaft, erst in der und durch die Wahrnehmung kann Landschaft gegenwärtig sein. Die Existenz von Natur wäre demzufolge die Voraussetzung für das Entstehen von Landschaft. Die Natur ist immer schon da, aber entscheidend ist nun, was transformierend hinzukommt. Denn die Betrachtung leistet einen Zugriff auf Natur, der sie dann als etwas anderes, eben als Landschaft erkennbar werden lässt. Daher hat es der Film auch weniger mit Natur, sondern vielmehr mit der Bearbeitung von Natur zu tun, die er immer von einem bestimmten Standpunkt aus in den Blick nimmt. Das, was der Film sieht, wird in seine eigenen Formen eingelassen: Es wird kadriert, montiert, arrangiert, fokussiert. In seinen Einstellungen zeigt der Film also überdeutlich den Eingriff ins Natürliche. Durch Kamerablicke und Kamerabewegungen wird Natur zu Kultur und wird Land zu Landschaft, mehr noch: Der Film kann zugleich den Blick für die Rahmung schärfen. Entsprechend geht es beim Verhältnis von Film und Landschaft nicht allein um das optische Erscheinungsbild einer Gegend, sondern um die Frage, ob und wie der Film seine konstitutive Beteiligung an der Erzeugung und Transformation dieses Bildes zu zeigen vermag. Anders gesagt: Der Film macht nicht nur Land zu Landschaft, sondern er verfügt auch über ein Bewusstsein für diese Transformation, die in seine Wahrnehmung eingelassen ist. Diese Verhältnisbestimmung hebt Béla Balázs deutlich hervor: »Die Sache ist nämlich so, dass die Stilisierung der Natur – ob impressionistisch oder expressionistisch – die Bedingung dafür ist, dass ein Film zum Kunstwerk werde. Denn im Film, der kein geographisches Lehrmittel […] sein will, gibt es keine ›Natur‹ als neutrale Wirklichkeit. […] Wie die Malerei eben dadurch eine Kunst wird, dass sie die Natur nicht photographisch getreu kopiert, so hat auch der Filmoperateur die paradoxe Aufgabe, mit dem photographischen Apparat Stimmungsbilder zu malen. Und dies geschieht eben teils durch die besondere Auswahl der Motive [was bereits ein subjektives Arrangieren der objektiven Wirklichkeit ist], teils durch die ›Einstellung‹.« 6

Béla Balázs schreibt seine Ausführungen im Jahr 1924, also unter dem Rezeptionseinfluss der ersten populären Bergfilme. So ist es sicherlich kein Zufall, dass ausgerechnet die Künste, die Fanck getrennt wissen wollte, nämlich Film und Malerei, bei Balázs so nah aneinander gerückt werden. Tatsächlich

5 | Joachim Ritter: »Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft« (1963), in: Ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 141- 163, hier: S. 150. 6 | B. Balázs: »Natur und Natürlichkeit«, S. 66.

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könnten es die Bergfilme selbst gewesen sein, die ihn zu dieser Auslegung führten – auf jeden Fall geben sie einigen Anlass dazu. Deutlich wird das beispielsweise an einer Einstellung aus Fancks 1921 entstandenem Film Im Kampf mit dem Berge (Abb. 1). Ein Wanderer steht auf dem Gipfel und blickt über ein Wolken-Meer. Das zeigt das Bild nicht einfach als Begebenheit, sondern inszeniert es als Situation vor allem über seinen Auf bau und seine Gestaltung. Dermaßen ausdrucksstark erscheint die Komposition, dass sie ein anderes Bild aufzurufen bzw. zu reflektieren scheint, nämlich Caspar David Friedrichs um 1818 entstandenes Gemälde Wanderer über dem Nebelmeer (Abb. 2). Auch hier ist eine Figur mittig im Bild platziert, auch hier wird die Blickrichtung über die Rückenansicht organisiert.

Abb. 1: Im Kampf mit dem Berge (R.: Arnold Fanck. D 1921)

Abb. 2: Caspar David Friedrich, Wanderer über dem Nebelmeer, 1818

Haltung und Stellung der Figur sind in beiden Bildern ganz ähnlich, sie gleichen sich bis in die Details, etwa den abgewinkelten rechten Arm, der sich auf einen Stock stützt. Weiterhin erscheint der Horizont diffus und unscharf, als verschwommene, sich selbst entziehende Grenze. Entscheidend ist: In beiden Bildern ist die Betrachtung der Landschaft motivisch in das Bild selbst eingelassen, sie wird zu seinem eigentlichen Gehalt. Das hängt vor allem damit zusammen, dass der Bergsteiger bzw. der Wanderer nicht als individualisierte Personen erscheinen, sondern wie dunkle Schattenrisse wirken. In beiden Fällen handelt es sich um eine Rückenfigur, die wie ein Denkmal auf einem erhöhten Platz steht und den Betrachter in das Bild hineinzieht. Dabei ist sie in Richtung des Fluchtpunkts platziert, wodurch der Betrachter animiert wird, sich in die Figur hineinzuversetzen und sich gleichsam mit in das Landschaftsereignis zu versenken.

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Wenn also Arnold Fanck davon spricht, dass das fotografische Medium »keine grafische[n] und malerische[n] Kunststücke« 7 zulasse, dann irrt er. Seine Bilder zeigen jedenfalls etwas anderes. Sie präsentieren eine Art der grafischen Gestaltung, in der Spuren von malerischen Konventionen enthalten sind und sie verdeutlichen, dass es dabei nicht um die Wiedergabe von Natur gehen kann, sondern um die Erschaffung von Landschaft. Dieser Landschaft steht der Mensch nicht vor, vielmehr ist er Teil davon. Das wird vor allem daran deutlich, dass das Bild ganz auf die visuelle Interaktion von Figur und Grund konzentriert ist. Dafür ist der Effekt der Silhouettenbildung entscheidend, der die Abstraktion des menschlichen Körpers und der ihn umgebenden, ja umschließenden Landschaft als dezidierte Schwarz-Weiß-Komplementarität inszeniert. Es gibt abstrakte Ornamente in Fancks Filmen, es gibt Bilder, die den fotochemischen Abbildrealismus zu transzendieren vermögen und dabei eine eigene Formensprache entwickeln. Wir haben es also keineswegs mit einer einfachen reinen Naturaufnahme, sondern mit einer komplexen Bildkonzeption zu tun. Sie trägt dazu bei, darauf hat Erik Rentschler hingewiesen, dass sich Fancks Bilder »allzu leichter Klassifizierung widersetzen: Sie gehören gleichermaßen zur Malerei eines vorangegangenen Jahrhunderts wie zur Filmmoderne.« 8 Bergfilme sind Schwellenfilme und oszillieren zwischen den Künsten, sie sind malerisch und fotografisch, sie bewegen sich zwischen Statik und Dynamik. Ähnlich dem Schnee haben sie keine feste Form, sondern sind selbst immer schon formbar. Dieses Wechselverhältnis vermag der Bergfilm nicht nur motivisch aufzurufen, sondern auch in besonderer Weise ästhetisch produktiv zu machen. Sehr deutlich zeigt das einer der zu seiner Entstehungszeit erfolgreichsten und bis heute berühmtesten Bergfilme: Die weiße Hölle vom Piz Palü (R.: Arnold Fanck, Georg Wilhelm Pabst. D 1929).9 Gedreht wurde der Film zu weiten Teilen in den Schneegebieten der Ostalpen, deren Gletscher und Lawinen das dramatische Zentrum des Werks bilden. Wie schon bei den vorangegangenen Bergfilm-Produktionen arbeitet Arnold Fanck mit den bewährten Kameramännern Sepp Allgeier und Hans Schneeberger zusammen; die aufwändigen Flugmanöver übernimmt Ernst Udet. Die Aufnahmen des unzugänglichen Gebiets erfordern eine eigene Akrobatik und resultieren in spektakulären filmischen Ansichten. Ausschlaggebend für die Durchschlagskraft des Bergfilms, insbe7 | A. Fanck: Der Kampf mit dem Berge, S. 22. 8 | Erik Rentschler: »Hochgebirge und Moderne: Eine Standortbestimmung des Bergfilms«, in: Film und Kritik 1 (1992), S. 8–47, hier S. 14. 9 | »Die weiße Hölle vom Piz Palü« war bei seinem Kinostart 1929 in Deutschland und Österreich ein Publikumsrenner und wurde auch international ein Erfolg: 1930 wurde mit »The White Hell of Piz Palü« eine englische Tonfilmfassung hergestellt und weltweit vertrieben.

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sondere für seine spezifisch neue ästhetische Form, ist jedoch nicht allein der visuelle Attraktionswert, wie Béla Balázs betont: »Denn Bilderbögen schöner landschaftlicher Hintergründe haben schon andere vor Dr. Fanck photographiert. Aber seine Berge werden dramatisch, weil sie mitspielen in einem Spiel. […] Naturelemente werden zu dramatischen Elementen, zu lebendigen Mitwesen, weil sie Lebewesen begegnen. […] So bekommt die Natur in Dr. Fancks Filmen ein Antlitz. Und damit beginnt die Kunst.«10

Das hier erwähnte Wechselspiel zwischen Mensch und Natur ist mehr als eine Frage der Szenerie: Es ist ein ästhetisches Bedingungsverhältnis. Deutlich wird das etwa in einer Sequenz, die den Aufstieg zur Nordwand des Piz Palü dramatisiert und dabei eine komplexe Relation zwischen Statik und Kinetik inszeniert. Die Eislandschaft der Berge erscheint hier zunächst ruhig, sie ist still gestellt. In ihr und über sie hinweg bewegen sich die Kletterer, für die der Schnee zunächst einen begehbaren und bezwingbaren Untergrund darstellt. Mit Skiern und Eisschuhen erschließen sie das Territorium, überwinden verschneite Hänge und frostige Felswände. Dabei erscheinen sie, ganz ähnlich wie die Figur in Der Kampf mit dem Berge, nicht als klar definierte Gestalten, sondern als abstrakte Elemente. Diese Elemente werden einerseits vom Hintergrund abgesetzt und formen sich andererseits in ihn ein. Beispiele für den ersten Darstellungsmodus sind die häufig wiederkehrenden Bilder, in denen die Figuren als kleine schwarze Formen vor einer mächtigen Weißfläche erscheinen (Abb. 3).

Abb. 3: Die weiße Hölle vom Piz Palü (R.: Arnold Fanck, Georg Wilhelm Pabst. D 1929)

10 | B. Balázs: »Der Fall Dr. Fanck«, S. 288.

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Der Kontrast ist hier sehr stark: Schwarze, scherenschnittartige Silhouetten betonen den Umriss der Körper, nicht aber ihr Volumen. Die Figuren wirken flächig, während das Bild selbst durchaus Tiefe hat. Von den Schneehügeln umgeben, die das Bild in unterschiedliche Ebenen unterteilen und somit ein klar erkennbares System von Vordergrund, Mittelgrund und Hintergrund etablieren, werden die Figuren als deutlich abgesetzte Formen erkennbar. Ihre Positionierung in der Mitte des Bildes unterstreicht das zusätzlich: Die Differenz Schwarz-Weiß ist unübersehbar, Figur und Natur sind klar voneinander zu unterscheiden. Es gibt jedoch auch andere Bilder, in denen die Differenzen schwinden. Hier sind die Figuren nicht überdeutlich von der Umgebung abgesetzt, sondern werden vielmehr herein modelliert. Deutlich zeigt das etwa eine Einstellung, die einen Kletterer an einem Steinhang präsentiert (Abb. 4). Mensch und Berg werden in diesem Bild bis zur Ununterscheidbarkeit angenähert. Nicht nur haben Fels und Figur dieselbe Färbung (beide changieren zwischen Grau und Schwarz), auch die Formen ähneln sich auffällig. Der Bergsteiger könnte ebenso ein Partikel des Felsvorsprungs sein, wie eine abstrakte Einheit, die als Teil eines größeren Elementzusammenhangs erscheint. Abb. 4: Die weiße Hölle vom Piz Palü (R.: Arnold Fanck, Georg Wilhelm Pabst. D 1929)

Zwar wirkt die Figur in diesem Bild nicht mehr flächig, sondern durchaus voluminös. Sie ist jedoch kaum als menschliche Gestalt zu erkennen. Vielmehr wirkt sie wie ein Teil des Gesteins, in dessen Form sie sich einfügt, um sie zu ergänzen und zu erweitern. Zwar ist der Bergsteiger mittig im Bild platziert, dennoch spielt er nicht die zentrale Rolle. Das wird schon daran deutlich, dass

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das Gesicht verborgen bleibt, dass wir also, ähnlich wie bei der Rückenfigur, dem Protagonisten nicht in die Augen schauen können. Die Hauptfigur ist hier kein handelnder Charakter, sie ist vielmehr das, was Gestein und Gestalt zusammen als organisches Ganzes ergeben: das Bild einer elementaren, einnehmenden Landschaft. Unverrückbar und monumental stehen über alldem die verschneiten Berge. Sie sind die eigentliche Attraktion, die eigentliche Überwältigung. Dabei hängt ihre Faszination mit einem Schwanken zwischen Schwere und Loslösung zusammen, mit einer Bewegung zwischen dem Festen und Unfesten, dem Geformten und Ungeformten. Auf diese ästhetische Besonderheit hat Georg Simmel in seinen Ausführungen über Die Alpen hingewiesen. Dort heißt es: »Die Alpen wirken einerseits als das Chaos, als die ungefüge Masse des Gestaltlosen, das nur zufällig und ohne eigenen Formsinn einen Umriss bekommen hat. […] Wir fühlen hier das Irdische als solches in seiner ungeheuren Wucht, das noch ganz fern von allem Leben und Eigenbedeutung der Form ist. Andererseits aber sind die übergroß aufsteigenden Felsen, die durchsichtigen und schimmernden Eishänge, der Schnee der Gipfel, der keine Beziehung mehr zu den Niederungen der Erde hat – alles dies sind Symbole des Transzendenten. […] Insoweit ist das Transzendente formlos: Gestalt ist Schranke, und so kann das Absolute, das Schrankenlose nicht gestaltet sein. Es gibt also ein Formloses unter aller Gestaltung und eines über aller Gestaltung. Das Hochgebirge mit der Unerlöstheit und der dumpfen Wucht seiner bloßen materiellen Masse und dem gleichzeitigen überirdisch Aufstrebenden […] seiner Schneeregion bringt beides in uns zu einem Klang.«11

Arnold Fancks Bilder lassen die von Georg Simmel angesprochene Besonderheit der alpinen Landschaft anschaulich werden  – ganz besonders in jenen Einstellungen, welche die massige Materialität des felsigen Gesteins mit der lichten Decke der Schneeschicht kombinieren und beides mit dem grenzenlosen Himmel konfrontieren. Dabei entstehen Ansichten, in denen das, »was weniger ist als alle Form, und [das], was mehr ist als alle Form – ihren gemeinsamen Ort finden«12 . Im Bergfilm kommen Schwere und Luftigkeit zusammen, hier wird alles in ein und dasselbe Bild genommen, um sich wechselseitig zu verschränken und zu ergänzen. Nun haben wir es in Die weiße Hölle vom Piz Palü nicht nur mit der Erhabenheit des Himmlischen zu tun. Das Jenseits der Erde, des festen Grunds und des trittfesten Bodens, das ist nicht nur der Himmel, sondern auch die Hölle, eben jene weiße Hölle, die bereits im Titel anklingt. Der Film zeigt da11 | Georg Simmel: »Die Alpen« (1912), in: Ders., Philosophische Kultur, Leipzig: Kröner 1919, S. 134–141, hier S. 136–137. 12 | Ebd.

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her nicht nur den Aufstieg, sondern auch den Absturz. Dabei handelt es sich um einen Umschlag, der einerseits wettertechnisch induziert ist, und andererseits einen profunden Wechsel im visuellen Verhältnis von Statik und Dynamik in Gang setzt. Während beim Aufstieg die Figuren beweglich sind und die Landschaft unbeweglich bleibt, ändert sich diese Relation beim Absturz, um sich in ihr Gegenteil zu verkehren. Auf einmal wird die Natur lebendig, braust auf, erhebt sich und ergießt sich. Erste Andeutungen dafür sind bereits in der Aufstiegs-Sequenz enthalten, etwa wenn die Eiszapfen abzusplittern beginnen und vom oberen zum unteren Bildrand fallen. Weiterhin kündigen einige Rieselbewegungen des Schnees vom Gipfel herab eine ähnliche Fallrichtung an: Auch hier ist die Landschaft nicht mehr statisch, auch hier sind bereits kleinste Bewegungen im Unbewegten zu erkennen. Eine immense Steigerung erfährt das Ganze schließlich durch den Ausbruch der Lawine (Abb. 5), einer lebendigen Gewalt, deren Wucht die Beweglichkeit der kletternden Körper anhält und still stellt. Abb. 5: Die weiße Hölle vom Piz Palü (R.: Arnold Fanck, Georg Wilhelm Pabst. D 1929)

Hier gerät nun alles in Bewegung, wird alles dynamisch. Diese Dynamik vollzieht sich nicht allein als Bewegung im Bild, sondern auch als Bewegung des Bildes. Am Anfang fährt die Kamera von unten nach oben, lenkt den Blick also über einen schnellen Schwenk auf die Spitze des Piz Palü. Dort hat sich, so wird sofort deutlich, die Ansicht des Gipfels abrupt gewandelt. War der Himmel in den Bildern des Aufstiegs eine unbewegte, gleichfarbige Fläche, sind nun Wolkenformationen im schnellen Wechsel zu erkennen. Im Folgenden

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entwickelt sich die Erhebung und Verlebendigung der Eislandschaft als dauernder Umschlag von Ruhe zu Aufruhr. Dazu gehören der plötzliche Übergang von leisem Wind zu Sturm, das Herabrieseln und Herabbrechen des Schnees sowie, als letztmögliche Steigerung, der Ausbruch der Lawine: Eine ständige Metamorphose von Statik zu Kinetik. Dabei überträgt sich das Amorphe des Schnees mit seinem ständigen Gestaltwechsel auch auf das Bild, das es wie eine Schicht einzuhüllen scheint. In der Folge verschwimmen die Konturen der Figuren, werden die Umrisse unscharf, verliert das Bild den Fokus – bis es selbst unter dem Belag des Schnees zu erstarren droht. Auf einmal gibt es keine Aussicht mehr, keinen klaren Überblick. Nicht nur die Figuren werden von der Höhe in die Tiefe gedrückt und von einer dichten Schneeschicht umschlossen, auch der Blick verliert seine Ausrichtung und Orientierung. In einigen Einstellungen sind nahezu alle räumlichen Markierungen verschluckt (Abb. 6). Man könnte das Bild nun drehen, wie man wollte: oben und unten, rechts und links sind nicht mehr klar voneinander zu unterscheiden. Abb. 6: Die weiße Hölle vom Piz Palü (R.: Arnold Fanck, Georg Wilhelm Pabst. D 1929)

Damit entwickelt der Bergfilm ein dynamisches Raumverhältnis, in der die Eislandschaft zur Bedingung ihrer räumlichen Erfahrung wird. Auf diese Form der beweglichen und bewegenden Räumlichkeit hat Martin Seel hingewiesen. Er betont:

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In Fancks Filmen wird der »geschehende Raum« durch die Prozessualität des Zustandswechsels beobachtbar und erfahrbar. So wird der Abgang der Lawine nicht als Ergebnis, sondern in ihrem Vollzug gezeigt, so wird das Rieseln und Stürzen des Schnees nicht in einzelnen Momenten, sondern als fließende Bewegung wahrnehmbar. Deutlich wird dabei, dass sich die Landschaft selbst behaupten kann, sie ist nicht nur einfach irgendwie beteiligt, sondern sie wird als Beteiligte sichtbar. Nicht allein der Film erzeugt also Landschaft, sondern die Landschaft ist ihrerseits an der Erzeugung eines Bildes beteiligt, dessen Voraussetzung und Inhalt sie selbst ist. Die Relation von Film und Landschaft kann dementsprechend als ein wechselseitiges Verhältnis verstanden werden, in dem die Landschaft einerseits die Bedingung der filmischen Erschließung ist und andererseits als Ergebnis selbst Bild wird. Für die Eislandschaft des Bergfilms gilt nun, dass sie die Landschaftsbetrachtung und -erschließung zudem hinterfragt. Denn wenn das Weiß des Schnees die Landschaft zudeckt, dann wandelt sich auch der Blick vom Einnehmenden zum Verschlossenen. Was eben noch in seinen Dimensionen erkennbar und abbildbar war, das wandelt sich im nächsten Augenblick zum Flächigen, es wird nun rein weiß. Damit kommt der Film auf sich selbst, genauer, auf seine materiellen Grundlagen zurück. Denn wenn das Bild für einen Moment ganz weiß wird, dann führt es uns auf jene Grundfläche zurück, welche die Bedingung seines Erscheinens ist: Die kinematographische Leinwand als Voraussetzung und Urgrund der Projektion. Nun ist es für die Leinwand keineswegs typisch, dass sie auf sich aufmerksam macht. Vielmehr neigt sie dazu, sich selbst und ihre mediale Funktion zu verbergen. Das wiederum gilt nicht nur für die Apparatur des Kinos, sondern überhaupt für mediale Anordnungen. »Medien machen lesbar, hörbar, sichtbar, wahrnehmbar«, so Lorenz Engell und Joseph Vogl im Vorwort des Kursbuch Medienkultur, »all das aber mit der Tendenz, sich selbst und ihre konstitutive Beteiligung an diesen Sinnlichkeiten zu löschen und also gleichsam unwahrnehmbar, anästhetisch zu werden.«14 Eben jene Anästhesie scheint im Bild des Weißen aufzuscheinen. Gleichzeitig eröffnet sich hier aber auch ein Rückbezug. Denn die Möglichkeit der Verdichtung der Weißfläche zu einem weißen Bildraum lässt in der Pro13 | Martin Seel: Die Künste des Kinos, Frankfurt a. M.: Fischer 2013, S. 24. 14 | Lorenz Engell/Joseph Vogl: »Vorwort«, in: Claus Pias et al. (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart: DVA 1999, S. 8–11, hier S. 10.

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jektion gleichzeitig auch eine Reflexion erkennen: Unschärfe und Überschärfe scheinen sich hier zu begegnen, Aussicht und Einsicht zu überkreuzen. Das weiße Bild ist damit auch ein Bild des Weißen. Es präsentiert die Simultaneität von Eingrenzung und Entgrenzung, von Gegenständlichkeit und Abstraktion, von Gestaltbildung und Gestaltauflösung  – und letztlich auch das Wechselverhältnis von Blickschärfung und Blicktrübung. Denn einerseits verweist es auf die Absenz des Partikularen und Spezifizierten, auf eine Bedrohung, die ihre Klimax in der tödlichen Vernichtung erreicht. Andererseits deutet es jedoch auch auf eine Präsenz, auf das Dasein eines Versprechens, das den unendlichen Möglichkeitsraum der variablen Formgebung in Aussicht stellt. In Bildern des Weißen kommt der Film zu sich selbst. Dabei verschränkt er die dem Weißen inhärenten Grundsätze von Generativität und Produktivität mit ihren Gegenseiten, den Prinzipien von Zerstörung und Zusammenbruch. Das Weiß ist damit Quelle der Erweiterung und Mittel der Erstarrung zugleich. Schnee baut auf und deckt zu, lässt etwas entstehen und vergehen. Er ist daher für den Film ein besonderes Material, eine ganz eigene Gestaltungsmasse. Deutet der Schnee auf etwas, das alle Formen annehmen und wieder aufgeben kann, dann befindet sich der Bergfilm mittendrin.

L iter atur Balázs, Béla: »Natur und Natürlichkeit« (1924), in: Ders., Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 66–84. Balázs, Béla: »Der Fall Dr. Fanck« (1931), in: Ders., Schriften zum Film, München: Carl Hanser 1984, S. 287–291. Engell, Lorenz/Vogl, Joseph: »Vorwort«, in: Claus Pias et al. (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart: DVA 1999, S. 8–11. Fanck, Arnold: Der Kampf mit dem Berge, Berlin: Reimar Hobbing 1931. Rentschler, Erik: »Hochgebirge und Moderne: Eine Standortbestimmung des Bergfilms«, in: Film und Kritik 1 (1992), S. 8–47. Ritter, Joachim: »Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft« (1963), in: Ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 141- 163. Seel, Martin: Die Künste des Kinos, Frankfurt a. M.: Fischer 2013. Simmel, Georg: »Die Alpen«, in: Ders., Philosophische Kultur, Leipzig: Kröner 1919, S. 134–141.

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A bbildungen Abb. 1: Im Kampf mit dem Berge (R.: Arnold Fanck. D 1921). Abb.  2: Caspar David Friedrich, Wanderer über dem Nebelmeer, 1818 (www. hamburger-kunsthalle.de/sammlung-online/caspar-david-friedrich/wan​ derer-ueber-dem-nebelmeer/ Abb. 3: Die weiße Hölle vom Piz Palü (R.: Arnold Fanck, Georg Wilhelm Pabst. D 1929). Abb. 4: Die weiße Hölle vom Piz Palü (R.: Arnold Fanck, Georg Wilhelm Pabst. D 1929). Abb. 5: Die weiße Hölle vom Piz Palü (R.: Arnold Fanck, Georg Wilhelm Pabst. D 1929). Abb. 6: Die weiße Hölle vom Piz Palü (R.: Arnold Fanck, Georg Wilhelm Pabst. D 1929).

F ilmogr aphie Im Kampf mit dem Berge. R.: Arnold Fanck. D 1921. Die weiße Hölle vom Piz Palü. R.: Arnold Fanck, Georg Wilhelm Pabst. D 1929. Das blaue Licht. R.: Leni Riefenstahl, Béla Balázs. D 1932.

dry area Bea Otto

open grid, La Ira de Dios, Buenos Aires 2015, geflext

without, Hedah, Maastricht 2014, bearbeitetes Fundstück, Plexiglas

out there, Ludwig Forum, Aachen 2013, freigelegte Bodenabschlüsse und Rundfenster, Holz, Mattlack, Fundstücke,

Vorgefundene Orte bilden den Rahmen und Ausgangspunkt eines Prozesses skulptural-installativer Aneignung und Transformation. Zentrum weiterer Arbeiten ist die Bildidee im Kopf – das Abwesende präsent – sowie brüchige vorübergehende Ortsfindungen von Dingen, die ihr Eigenleben führen. Die Ausstellung »out there« setzt sich mit dem Ludwig Forum als Ort, seiner Architektur und dem erlebten Raum auseinander, indem sie ihn durch Öffnungen und Versperrungen, Verschiebungen und Brechungen hinterfragt und verwandelt. Die Ambivalenz zwischen dem rauen Außenraum der Jülicher Straße einerseits und dem durch seine Einbauten geschützten, aber auch abschirmenden Museumsraum andererseits wird thematisiert. Der ehemalige Haupteingang der Schirmfabrik wird mit einer Bretterwand, die Konstruktionsseite nach außen

ausgesägtes Wandstück, Projektion, Digitaldruck auf Folie

gekehrt, verbarrikadiert. Ein Eingriff, der Fragen nach den Mechanismen des Ein- und Ausschließens stellt. Ein weiterer ehemaliger Nebeneingang wird durch eine fotografische Intervention zugleich geöffnet und versperrt. Auf der Innenseite der Fassade wiederum, im Ausstellungsraum, sind verbaute Fenster und Bodenabschlüsse freigelegt. Die Industriearchitektur wird durchlässig und kann sich ausdehnen. Raum ist das Drinnen und Draußen – Schwellensituationen entstehen. Eine gebrauchte Isomatte setzt den Raum ins Verhältnis zum menschlichen Maß und wirft Fragen auf nach vorübergehender Behausung, Durchgang oder Bleibe. Den provisorischen Materialien und rauen Fundstücken wohnt ein temporäres und brüchiges Moment inne, das jedoch durch ihre präzise Setzung und Bearbeitung gekippt und verortet wird. Eine Projektion und eine schwebende, insulare Plattform lassen Weite und Leere spürbar werden und vermitteln einen transitorischen Ort, der zwischen Innen und Außen in Bewegung bleibt.

Fotografie 2015

ohne Titel, 2015, Kunststoff

Fotografie 2013

landauswärts, Galerie von der Milwe, Roland, Aachen 2008, Diaprojektion ins Leere

Richard Serra Ortsbezug, künstlerischer Prozess und Material Kunibert Bering

Die Arbeiten Richard Serras bieten besondere Möglichkeiten, um sich mit dem Ortsbezug skulpturaler Arbeiten auseinanderzusetzen. Anhand ihrer kann betrachtet werden, wie sich ein Ortsbezug durch Intervention, den künstlerischen Prozess, aber auch durch die Position, die der Künstler einnimmt, vollziehen kann.1 Das Phänomen des Ortsbezugs soll im Folgenden anhand der Arbeit Dirk’s Pod erkundet werden, bevor diese im Hinblick auf den künstlerischen Prozess und das Material betrachtet wird. Dabei gilt es, die Intervention, z. B. in den urbanen Raum, als künstlerischen Prozess zu betrachten, deren Teil die durch den Künstler vollzogene Rezeption ist. Auf der anderen Seite geht es darum, die Wahrnehmungsprozesse des Betrachters in den Blick zu nehmen. Hier kann man bereits einen zentralen Aspekt der Position Serras sehen: Serra fordert den Betrachter in motion. Die Arbeit Dirk’s Pod entstand 2004 auf dem Novartis Campus in Basel. Beim Novartis Campus handelt es sich um eine Stadt in der Stadt, ein großes Werk der chemischen Industrie mit Forschungseinrichtungen, Laboranlagen etc., am Rhein gelegen und durch eine Achse erschlossen. In dieses Gelände hat Serra zehn jeweils 14 m lange, 5 m hohe und 30 t schwere Stahlplatten gestellt. Die Stahlplatten sind gewölbt, sie schwingen ein und aus und wurden von Serra jeweils zu zweit zusammengefügt. Angeordnet sind sie über dem Grundriss zweier sich schneidender Hyperbeln. Entscheidend ist die Position, die von den Stahlplatten eingenommen wird. Eine lange Straßenachse führt vorbei an Verwaltungs- und Forschungsgebäuden, die von bedeutenden zeitgenössischen Architekten errichtet wurden, bis zu einer Kreuzung, jenseits derer sich ein Parkplatz befindet. Vom Parkplatz kommend, erreicht man das Gelände über eine Treppe und wird mit Serras tonnenschwerem Stahlpatten-Ensemble konfrontiert – die Platten stehen buch1 | Ein besonderer Dank gilt Julia Pfafferodt für die Aufbereitung der Vortragsversion.

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stäblich im Weg, und der Besucher dieses Geländes ist aufgefordert, entweder außen herumzugehen, oder es zu wagen, das Ensemble in der Mitte zu durchschreiten. Aus der Nähe betrachtet, gewinnt man einen Eindruck von gebogenen, einund ausschwingenden Stahlkolossen, die den Besucher, der nun hindurchgeht, tatsächlich einengen. Diese physischen Wirkungen werden von Serra genau kalkuliert. Nähert man sich dem Ensemble von der Seite, so erweckt es den Anschein einer geschlossenen Stahlwand. Es entsteht also ein genau gegenteiliger Eindruck  – die Arbeit wirkt nicht mehr sich öffnend und zusammenziehend, sondern völlig abweisend und geschlossen. Dies stellt einen ersten Eindruck dessen dar, was Serra als Ortsbezug und als Eingriff in einen ganz bestimmten Ort als site specifity bezeichnet. Welche künstlerischen Prozesse führen nun zu derartigen Interventionen? Hierzu hat Serra zwei Arbeiten präsentiert, die jeweils als eine Art Manifest betrachtet werden könnten. Die eine ist der Film Hand catching lead (1968). Bleistücke fallen von oben herab, und die Hand des Künstlers versucht das Blei zu fangen. Wenn es gelingt, formt er es mit der Hand und lässt es wieder fallen, stößt es weg. Über Minuten hinweg zeigt Serra grundlegendes Tun des Bildhauers: Das Formen einer amorphen Masse zu einem Werk. Damit stellt er sich in eine jahrhundertealte Tradition – als Beispiel sei ein römischer Sarkophag aus der beginnenden Spätantike herausgegriffen. Zu sehen ist Prometheus, der Demiurg, der Weltenschöpfer, der aus amorpher Lehmmasse ein Werk, den Menschen, erschafft, der anschließend von Athena beseelt wird. Diese Tradition beansprucht Serra für sich und vollzieht entsprechende Aktionen. Dies unterscheidet ihn von vielen Bildhauern der Vergangenheit und auch seiner Generation. In einer Aktion, die Serra ebenfalls in den späten 1960er Jahren in einer Lagerhalle der Castelli Galerie in New York durchführt, schleudert er flüssiges Blei in den kritischen Winkel zwischen Fußboden und Wand, in dem es erstarrt. 1996 findet in der Hamburger Kunsthalle eine vergleichbare Aktion statt, in der Serra ebenfalls flüssiges Blei schleudert. Die jeweils erstarrten Brammen oder Blöcke zieht Serra in den Raum, ergreift damit den Raum, um danach erneut den Prozess des Schleuderns zu vollziehen. Es ist ein Prozess, der das Material durch den künstlerischen Eingriff verändert. Experimente mit ähnlichem, formbaren Material schließen sich in den folgenden Jahren an – zum Beispiel Tearing Lead, Bleistreifen, die geformt und im Raum platziert werden. Der Raum wird buchstäblich davon eingenommen. So häuft Serra etwa in Scatter Piece vulkanisiertes Gummi auf. Serra nähert sich mit diesen Aktionen bewusst Positionen an, die beispielsweise Jackson Pollock mit seinen Allover-Strukturen präsentiert hatte. Serra war ursprünglich Maler und hatte sich mit malerischen Positionen auseinandergesetzt, bis er versuchte, die Zweidimensionalität der Leinwand durch die beginnenden

Richard Serra

Prozesse wie etwa das Bleischleudern zu sprengen, um die Dimension des Raumes und zugleich die Dimension der Zeit im Prozess zu erreichen. Die Verb List (1968) ist ein Ergebnis dieser Experimente und zugleich das zweite der angesprochenen Manifeste. All das, was über die traditionellen Möglichkeiten des Bildhauers hinausgeht, erfasst Serra in seiner Verb List, deren erste Umsetzung die Props darstellen. Hier experimentiert Serra erneut mit dem Prozesshaften, indem er Balancen sucht. Damit formuliert er ein neues Konzept: das Anlehnen, die Gleichgewichtsstudie, tritt an die Stelle der traditionellen Bildhauerei, an die Stelle des konventionellen Stehens oder Liegens der Skulptur. Hier kommen neue Aufgaben für den Bildhauer in das Blickfeld. So wird in Right Angle Prop (1968) eine Bleiplatte, die aufgrund ihrer Materialität in sich zusammensinken würde, von einem Winkel aufrecht an der Wand gehalten. Es wird ein geradezu prekäres Gleichgewicht erzeugt. Vergleicht man dieses Werk etwa mit Carl Andres im gleichen Jahr entstandener Arbeit Fall, die aus an die Wand gelehnten Stahlplatten besteht, wird deutlich, dass das von Serra verwendete Material – Blei – den Komplexitätsgrad dieses künstlerischen Experimentes signifikant erhöht. Diese Experimente führen zu einer Loslösung von der Wand und zu einer Eroberung der Raummitte, wie sie sich paradigmatisch im House of Cards (1968) zeigt. Die vier Platten dieser Arbeit sind so zueinander gestellt, dass sie sich gegenseitig stützen und tragen. Die Balance wird dreidimensional, und damit wurde für Serra so etwas wie eine freischwebende Plastik denkbar und realisierbar. Dies stellt zugleich den Beginn der Interventionen in urbane Räume dar, wie sie ihre Umsetzung in Terminal (1978) finden. Terminal wurde zunächst auf der documenta in Kassel gezeigt und kam im Anschluss nach Bochum. Der Titel verdankt sich dem Umstand, dass Serra als Student in den Terminal Eisenwerken in Boston gearbeitet hatte. Statt Blei verwendet Serra nun Stahl. Vier trapezförmige Stahlpatten, je 12,5 m hoch, werden wiederum so ausbalanciert, dass sie sich gegenseitig tragen. Durch die Trapezform kommen ganz unterschiedliche Ansichten zu Stande, und hier wird auch deutlich, warum Serra von dem Betrachter in motion spricht. Dieses Werk kann man nicht von einem Punkt aus erschließen. Man muss sich ihm nähern, es umrunden. Jetzt scheint sich das Werk in verschiedene Richtungen zu neigen. Es wirkt, als kippe es und erreiche erst im letzten Moment eine Stabilität. Gleichzeitig wirkt es umso bedrohlicher, je näher der Betrachter herantritt. Die Platten erwecken den Eindruck, auf den Betrachter zu stürzen. Mit diesen Empfindungen spielt Serra, und er spielt mit dem Material. Genauso wie eine Labilität das gesamte Werk auszeichnet, so findet sich auch im Material der Eindruck des Rostens, des Verfalls. Terminal steht in einer modernen Situation, umgeben von modernen rechtwinkligen Gebäuden, zum großen Teil aus der Nachkriegszeit, und dem Chrom blankgeputzter Autos. Rost wird hier

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sozusagen zu einem memento mori. Dabei verwendet Serra einen speziellen, für Brücken entwickelten Stahl, den Cor-Ten Stahl. Das, was bei Terminal als Rost erscheint, ist daher kein Rost, sondern eine Patina. Der Erosionsprozess betrifft nur die obersten Millimeter des Stahls. Entscheidend ist, dass Serra im Zusammenhang mit der Möglichkeit des Instabilen von einer »arretierten Bewegung« spricht. Er geht mit dem Prozess um, aber er kann den Prozess auch anhalten. Während Terminal von außen den Eindruck des Umstürzenden, des Labilen vermittelt, verändert sich dieser Eindruck, wenn man das Werk betritt. Die Stahlplatten sind so dick, dass im Inneren der Straßenlärm nicht mehr zu hören ist. Der Rezipient ist plötzlich von Stille umfangen. Der Schachtraum führt den Blick des Besuchers nach oben. Dort ergeben die vier Stahlplatten ein Quadrat, durch das der Himmel sichtbar wird. Der Eindruck der Arbeit hat sich vollkommen gewandelt. Das Quadrat stellt eine ausgewogene, völlig in sich stabilisierte Form dar – Ruhe tritt an die Stelle des urbanen Getümmels rundum. Nicht nur House of Cards ist ein Meilenstein in Richard Serras Œuvre, sondern auch Sightpoint, eine Skulptur, die aus drei Platten besteht und den unmittelbaren Vorläufer von Terminal darstellt. Einen weiteren wichtigen Anknüpfungspunkt lieferte Serras Freund Robert Morris, der nicht nur Bildhauer, sondern auch Performer war. In den frühen 1960ern Jahren führte Morris eine Performance durch, in der er sich eine 2 m hohe Papppyramide überstülpte. Er brachte die Pyramide zunächst starr auf der Bühne zum Stehen, um sie dann in Schwingungen und Drehungen zu versetzen, bis sie umstürzte. Hier findet sich ein Vorläufer für Serras Idee des Prozessualen und Crossmedialen, des Auf brechens der Gattungsgrenzen. Dies war ein entscheidender Impuls für Serra, das Moment der Bewegung in seine Skulpturen zu integrieren. Mit Sightpoint und Terminal beginnt jene Serie monumentaler Skulpturen, die manchmal mit dem etwas unglücklichen Begriff »Turmskulpturen« bezeichnet werden. Hierzu gehören auch Torque (1992) und Exchange (1996). In letzterer löst sich im Grunde die Zentriertheit, die sich bei Terminal findet, auf. Exchange besteht aus sechs Platten und ist mit einer Höhe von 19 m noch ein deutliches Stück höher. Serras hohe Skulpturen, die sich aus House of Cards ergeben haben, lassen sich in einen größeren Kontext einordnen, der in die frühe Moderne zurückreicht. Diesem Phänomen begegnet man öfter bei Serra. Er greift Probleme auf, die bereits in den 1920er Jahren die Avantgarde beschäftigten. So ließe sich zum Beispiel auf Tatlins nie gebautes, nur im Modell realisiertes Monument für die 3. Internationale verweisen. Ein sich bewegender Turm, der sich auch realiter drehen sollte und einem Winkel folgte, der der Erdachse entspricht. Ein weiteres Beispiel stellt Ittens Turm des Feuers dar, bei dem es sich um eine ebenfalls ausgesprochen dynamische Struktur handelt. Die Idee der

Richard Serra

Weltachse greift Serra in seiner Skulptur Axis (1988) vor der Bielefelder Kunsthalle wieder auf. Darüber hinaus verwandelt Serra das Bild und ebenso das Selbstverständnis des Künstlers, speziell des Bildhauers. Seine Skulpturen sind nicht mit traditionellen bildhauerischen Werken vergleichbar. Serra benötigt Ingenieure und Architekten für die Realisierung seiner Pläne. Philip Johnson, der Architekt der Bielefelder Kunsthalle, ist einer jener bedeutenden Architekten, mit denen Serra kooperierte. Johnson stellt in der Bielefelder Kunsthalle buchstäblich die Prinzipien der Moderne auf den Kopf – etwa durch die Doppelkodierung der Stützen, die von vorne gesehen als Säule, von der Seite als Wandkompartiment erscheinen, oder durch eine riesige Attikazone, die auf verhältnismäßig dünnen Stützen lastet. Der geschlossenen Wand der Attikazone antwortet Serras sich öffnende Skulptur, die sich, wie in einem Dialog, auf die Architektur zuneigt. Die Entwicklungen in den Großskulpturen führen Serra zu weiteren Experimenten. Gerade in den 1990er Jahren spielt die Balance eine wichtige Rolle in seinem Werk, so etwa in seiner Präsentation von Five Sculptures in der Galerie M. Es handelt sich um Stahlwinkel, die in überaus labile Gleichgewichtssituationen gebracht werden. Insbesondere wenn ihr Verhältnis zu Boden und Wand thematisiert wird, findet sich in dieser Arbeit auch ein Nachhall der Props. Daneben entsteht in den 90er Jahren ein sehr beachtetes Monument in der Synagoge in Stommeln bei Köln: The Drowned and the Saved (1992) – zwei Winkel, die sich in der Mitte im Gleichgewicht halten. Die »Drowned« und die »Saved« sind nach jüdischer Mythologie diejenigen, die am Ende der Zeiten in die Unterwelt hinabfahren beziehungsweise gerettet werden. Bei The Drowned and the Saved handelt es sich um ein temporäres Werk, das zu einem Ausgleich aufruft. Heute steht es in St. Columba in Köln. Die hier angesprochenen Prozesse formen das, was Serra als site specifity bezeichnet. In ihr kommt es auch zu einer Umfunktionierung urbaner Räume, beispielsweise in State Street Consequence (1985). Serra überführt eine überaus belebte Verkehrsstraße in Chicago in ein ästhetisches Feld, indem zwei geschmiedete Stahlblöcke an den Straßenseiten sich gegenüberstehen und in der Betrachtung geradezu ein eigenes System formen. Dieses System kreuzt die Straße und den flutenden Verkehr. Durch im Grunde sehr reduzierte Mittel entsteht in Folge dieses künstlerischen Eingriffs ein Spannungsfeld. Ähnliches findet sich auch in Berlin Block for Charlie Chaplin (1972), der mit seiner schrägen Oberseite dem Dach der Nationalgalerie antwortet, oder in der Arbeit Dialog with Conrad Schlaun (1996): Eine lange Achse führt auf das von Conrad Schlaun im 18. Jh. gebaute Herrenhaus in Münster zu. An den Anfang der Achse, aber leicht versetzt, stellt Serra seinen wiederum geschmiedeten Block mit einer abgeschrägten oberen Seite, die auf den barocken Herrensitz

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zuläuft. Dies ist auch ein Dialog zwischen den Zeiten, ein Dialog mit der Vergangenheit. Als weiteres Beispiel lässt sich Berlin Junction (1987) anführen. Hier findet sich ebenfalls ein Dialog zwischen der von der Skulptur gebildeten Kurve und der Berliner Philharmonie. In dieser Zusammenstellung darf Tilted Arc nicht fehlen (Abb. 1). Tilted Arc (1981) geht zurück auf ein Stipendium, das Serra gewonnen hatte, und das es ihm ermöglichte, sich einen frei zu wählenden Ort im öffentlichen Raum für eine ebenso frei zu konzipierende Skulptur auszusuchen. Serra wählte Federal Plaza, einen halbrunden Platz mit einem trockenen Brunnen und einem Bodenmuster, aus. Diesen Platz zerschnitt er mit einer monumentalen Stahlkurve. Damit wurde nicht nur diese architektonische Platzanlage erheblich gestört, auch die Begehung war eingeschränkt. Nach diversen Klagen eines Richters, dessen Büro in einem an den Platz grenzenden Gebäude lag, wurde die Skulptur in einer Nacht-und-Nebel-Aktion demontiert. Abb. 1: Richard Serra, Tilted Arc (zerstört), Federal Plaza, New York, 1981

Als weiteres Beispiel aus dieser Reihe sei auf Clara-Clara verwiesen: zwei Kurven, die mit den Scheitelpunkten aneinandergesetzt sind, und zwar so, dass man den Obelisken auf der Place de la Concorde in Paris sehen kann. Der Titel stellt eine Hommage an Serras Gattin dar. Clara-Clara trennt Räume aus dem Jardin des Tuileries heraus, eröffnet Perspektiven, kanalisiert den Blick, schafft aber auch neue Räume, und zwingt die Besucher, ungewohnte Wege zu gehen. Es wird eine erhebliche Intervention erlebbar, und es wird hier besonders deutlich, wie Serra sein site specifity-Konzept versteht. Er wendet sich gegen die

Richard Serra

von ihm so genannte (vorwiegend amerikanische) »Plazakunst«, wie etwa den vergoldeten, liegenden Mann unter dem Rockefeller-Center oder die Denkmaltradition des 19. Jahrhunderts. Serra meint diesen gegenüber, Kunst müsse sich einen eigenen Raum schaffen, und wenn wir Kunst im öffentlichen Raum haben wollen, dann müsse dieser Raum der Kunst gehören. Anfang der 1990er Jahre wurde Serras wichtiges Werk Running Arc (1992) in Düsseldorf ausgestellt. Das Motiv der Kurve, das bereits in mehreren früheren Skulpturen vorzufinden ist, wird hier nun zu einem die Konzeption tragenden Element. Die Platten neigen sich in unterschiedliche Richtungen. Sie öffnen Räume, sie schließen aber auch Räume. Es hängt von der Perspektive des Betrachters ab; je nachdem, in welchem Winkel er die Arbeit sieht, tauchen Durchblicke unterschiedlicher Art auf. Immer wieder klopften Besucher auch an die Stahlpatten, die Töne unterschiedlichster Art abgaben, sodass geradezu ein Gesamtkunstwerk entstand, das alle Sinne ansprach. Kurven beschäftigen Serra auch ein Jahr später in der Arbeit Snake (1993). Eine lange, durchgehende Doppelkurve, die im Guggenheim Museum in Bilbao ausgestellt ist. Und es folgt Band. Die Skulptur wurde in einem Stahlwerk in Siegen hergestellt, das ansonsten Schiffsrümpfe produziert. Die durchlaufenden, ein und ausschwingenden Kurven von Band erschließen ganz neue Räume. Daneben greift Serra auch hier Probleme der frühen Moderne auf. In der Architektur finden sich etwa bei Frank Lloyd Wrights Entwurf für das Guggenheim Museum New York die geschwungenen Flächen, wie sie Serra in Band verwendet. Neben Philip Johnson und Frank Lloyd Wright setzt sich Serra intensiv mit Frank O’Gehry auseinander. Gehry entwarf besondere Konzeptionen zur Überwindung der Moderne, zum Beispiel in der Architektur des Museums in Bilbao. Dieses Gebäude wurde von vorneherein so konzipiert, dass ein großer eigener Bereich exklusiv für Serras Skulpturen entstand. Insofern ist es ausgesprochen aufschlussreich, die Skulptur und die Architektur zusammen zu sehen. Die Entwürfe und Realisationen Gehrys ergeben sich sowohl außen als auch innen durch Faltungen. Daraus entstehen unkonventionelle Innenräume. Diese neuen Raumstrukturen entwickeln sich zu einer Zeit, in der Peter Sloterdijk etwa sein Werk über den Raumbegriff der Postmoderne schreibt und von »schäumenden Räumen« spricht. Dieses »Schäumen« wird in Gehrys Architektur spürbar. Es sind Räume, die nicht mehr von einem Punkt aus zu erfahren sind, man muss sich vielmehr in diesen Räumen bewegen. Dies gilt in ganz besonderer Weise für Serras Skulpturen. Ein Vergleich der Bauten Gehrys mit einem Schlüsselwerk der Moderne, Mies van der Rohes Lake Shore Drive (1949–1951) in Chicago, zeigt, wie die Faltung, die Gehry seinen Bauten zugrunde legt, das Tragen und Lasten, die Betonung der Horizontalität und Vertikalität, die für Mies van der Rohes Entwurf als kennzeichnend erkannt werden können, aushebelt. Damit berühren sich Serra mit seinen Balancestudien, der das traditionelle Schema der Skulptur – Stehen,

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Tragen, Lasten – auf hebt, und Gehry, der durch das Prinzip der Faltung die Moderne konterkariert. Blickt man in den Saal für Serras Skulpturen im Guggenheim Museum in Bilbao (Abb.  2–4), so finden sich dort neben Snake eine ganze Reihe seiner Arbeiten mit Stahlwänden. Beim Betreten der durch Serras Skulpturen geschaffenen Räume empfindet der Betrachter ein Gefühl der Enge, das sich aufgrund der Neigung der Stahlplatten noch verstärkt. Der Raum wird immer enger, Tonnen von Stahl scheinen auf den Betrachter zuzukommen. Wenn Serra eine der in Bilbao ausgestellten Skulpturen The Matter of Time nennt, so wird auch deutlich, dass sich »Zeit« in den erzeugten Räumen abspielt. Zeit und Raum, die Zeit, die der Betrachter in motion benötigt, um diese Räume zu erleben, indem er sie durchschreitet, stehen in einem engen Verhältnis. Im Grunde sind es Zeiträume, die Serra dem Betrachter zumutet. Abb. 2: Richard Serra, Blind Spot, Guggenheim-Museum, Bilbao, 2002–2003

Richard Serra

Abb. 3: Richard Serra, Matter of Time, Guggenheim-Museum, Bilbao, 1994–2005

Abb. 4: Richard Serra, Torqued Ellipse, Guggenheim-Museum, Bilbao, 2003–2004

Serras Interventionen beziehen sich nicht nur auf Städte. Es gibt große Ensembles, die in naturbelassenen Kontexten stehen, zum Beispiel auf einer kleinen Insel vor Reykjavik. Hier überzieht ein Ensemble aus neun 3 bzw. 4 m hohen, meist zu zweit aufgestellten Basaltstehlen die gesamte Insel. Auch dies schafft

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Räume, Durchblicke und Akzente. Von besonderer Bedeutung ist hier, dass Serra alle Stehlen auf der 10 m-Höhenlinie anordnet, sodass sich ein dreidimensionales Erschließen der Fläche und des Raumes der Insel ergibt. Es entsteht eine ästhetische Überformung der natürlichen Gegebenheiten. Das Material, Basalt, ist bewusst gewählt, weil seine raue Oberfläche ein Farbenspiel zeigt, das dem des Rostes nicht unähnlich ist. Te Tuhirangi Contour (1999–2001) in Neuseeland, eine Stahlkurve, 257 m lang, 6 m hoch und aus sechs Stücken zusammengesetzt, passt sich ebenfalls dem Höhenverlauf um die Kuppe eines Hügels an. Hier zeigt sich wiederum die Auseinandersetzung mit der Zeit, denn diese Skulptur bezieht sich mit ihrem Titel auf die mythologische Gestalt des Te Tuhirangi, der Neuseeland entdeckt haben soll, lange bevor die Europäer kamen. Die Linie, die Serra hier beschreibt, führt zu ganz unterschiedlichen Ansichten: einerseits zum Ausschneiden eines Raumes aus dem natürlichen Raum, andererseits zu einer völlig anderen Perspektive, die sich ergibt, wenn man den Hügel hinauf blickt. Man hat dabei den Eindruck, auf diesem stünde eine Burg. Dies lässt an eine Anlage, wiederum in einer vollkommen anderen Gegend der Welt, denken, die ganz ähnlich strukturiert ist, die Inka-Festung Sacsayhuaman oberhalb von Cuzco. Dort finden sich die gleichen Formationen wie in der neuseeländischen Skulptur mit ihrem von unten betrachtet festungsartigen Charakter. Tatsächlich kennt Richard Serra diese Anlage. Er hat eine lange Reise durch Peru unternommen und machte dort ganz entscheidende Raumerfahrungen, über die er in seinen Schriften berichtet. Vor dieser Reise war er in Florenz gewesen und hatte sich mit der Zentralperspektive auseinandergesetzt. Als Maler wollte er den Bildraum sprengen hin zu dem dreidimensionalen, »wirklichen« Raum. Er kommt daher zu jenen dezentralen Räumen, die er z. B. in den verschiedenen Terrassenanlagen in der Nähe Cuzcos und in der Festung Sacsayhuaman findet. Dies war für ihn die Realisation eines anderen Raumbegriffs, nicht des Raumbegriffs der europäischen Zentralperspektive und der amerikanischen Sichtweise, sondern ein multifokaler Raum. Dieses Schlüsselerlebnis prägt alle seine Interventionen bis hin zu Te Tuhirangi Contour. Die Zeit und vor allem die Geschichte bilden crossmodale Prozesse, die in diesem Zusammenhang kurz gestreift werden sollen. Le Corbusier ist ein weiterer Architekt, mit dem sich Serra intensiv auseinandersetzte. In Le Corbusiers Zeichnungen gibt es Formfindungen, die sich ebenfalls bei Richard Serra finden lassen. Daneben erfand Le Corbusier etwa auf dem Dach der Unité d’Habitation (1947) skulpturenartige Gebilde, die im Grunde keine Funktion haben. Als weiterem Anknüpfungspunkt für Serra sei auf die Entwürfe Louis I. Kahns für Philadelphia aus der Zeit um1960 verwiesen. Hierbei handelt es sich nicht um die durch Hochhäuser geprägten amerikanischen Städte, die Kahn in einer Zukunftsversion vorschweben. Es sind andere Formen und Dialoge zwischen dem Verkehrsfluss und den Architekturen, die in seinen Zeichnungen deut-

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lich werden, und sich beispielsweise unmittelbar mit Serras Arbeit The Hours of the Day (1990) vergleichen lassen. Als weiteres Indiz für Serras Architekturrezeption sei Intersection (1992) in Basel angeführt. Vier Kurven, die auf den ersten Blick ganz unterschiedlich wirken, aber im Inneren ein mathematisch berechenbares Oval bilden. Serra war kurz zuvor in Rom gewesen und besuchte dort die von Borromini entworfene Kirche S. Carlo alle Quattro Fontane (1683–86), die er auch in einem Vortrag beschreibt. Dies ist für ihn jener Raum, der – von mathematischen Prinzipien ausgehend – ein- und ausschwingt und in eine gleichmäßige ovale Kuppel mündet. Eben dies zeigt sich in Intersection ebenfalls. Serras Auseinandersetzung mit dem Betrachter in motion beginnt früh, wie man an Circuit 1972 in der Galerie M in Bochum sehen kann. Vier Platten wurden in die Ecken des Ausstellungsraums gestellt, so dass der Betrachter unterschiedlichste Räume erlebt. Darüber hinaus sieht er die Platte zum einen von der Seite wie einen Strich und frontal als Fläche. Dies wird Serra viele Jahre später im Ruhrgebiet erneut aufgreifen, wie zu zeigen sein wird. Zunächst sei als bedeutende Variante des site specifity-Konzepts der Blick auf Skulpturen geworfen, die Serra auf den Wahrnehmungsprozess des Betrachters hin abgestimmt hat. Die temporär angelegte Arbeit St. John’s Rotary Arc, die in der Ausfahrt des Holland-Tunnels in New York stand, war nicht für Fußgänger, sondern nur für Autofahrer zu sehen. Diese fuhren an der Stahlkurve entlang und nahmen sie in unterschiedlichsten Formen war. Räume verändern sich, je nachdem, in welchem Winkel man an der Skulptur vorbeifährt. Dies hatte Serra wiederum in seinem Film Frame (1969) schon sehr früh experimentell erkundet. In diesem Film geht es um das Phänomen eines durch einen Rahmen gesehenen Bildes, das Serra auf die Skulptur, die durch die Windschutzscheibe eines Autos gesehen wird, projiziert. Ein weiterer Film Serras, der auf einer sich drehenden Brücke aufgenommen wurde, wobei die Brücke während des Drehens, also in motion, als Stativ verwendet wird, nimmt diese Situation vorweg. Der zeitliche Kontext zeigt eine ganze Reihe von Überlegungen, die parallel zu Serras Experimenten verlaufen. Zum Beispiel bauen die Architekten Kevin Roche und John Dinkeloo ab 1970 Verwaltungsgebäude, die sie so konstruieren, dass sie vom Highway aus wie ein Firmenlogo wahrgenommen werden, wenn man mit ca. 80 km/h an ihnen vorbeifährt. Das erste dieser Gebäude war Knights of Columbus Tower (1972). Dies wiederum steht in Zusammenhang mit einem grundlegenden Paradigmenwechsel in der Wahrnehmungspsychologie. James J. Gibson veröffentlichte in diesen Jahren eine Reihe von Arbeiten, die die bisher gültige Vorstellung, man nehme einzelne Bilder wahr, die das Gehirn dann zusammensetzt, revidiert. Gibson geht davon aus, dass Felder wahrgenommen werden. Dies führt Serra im Ruhrgebiet auf einer Bergehalde südlich von Essen vor, die er mit einer 19 m hohen und 6 cm dicken Bramme bestückt. Wenn der

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Betrachter die Halde hinaufgeht, sieht er das Werk zunächst als Linie, deren Form sich in der Umrundung der Skulptur verändert. Schließlich wird die Fläche der Skulptur gesehen, von der sich nicht sagen lässt, ob sich hinter derselben ein Körper befindet. Durch den Betrachter in motion sind in diesem Werk alle grundlegenden künstlerischen Prozesse vom Zeichnen der Linie des Entwurfs bis zur Herstellung des skulpturalen Gebildes in der Landschaft erlebbar. Zum Abschluss soll ein Gedanke noch aufgegriffen werden, ohne den Serras Arbeiten, vor allem die frühen Arbeiten nicht denkbar sind. Serra benutzt in seiner Verblist den Begriff »entropen«, abgeleitet von »entropy«. Der aus einem physikalischen Kontext stammende Begriff »Entropie« interessiert Serra als Phänomen eines Temperaturabfalls, in dem das Universum der Erstarrung zustrebt. Im Zuge einer ganzen Reihe von künstlerischen Neuanfängen, insbesondere von Robert Smithson, einem engen Freund Serras, wird der Begriff der Entropie wieder aufgegriffen. Smithson baute seine künstlerischen Arbeiten auf diesem Gedanken auf, nachdem Rudolf Arnheim ein Buch mit dem Titel »Kunst und Entropie« verfasst hatte. Dort werden künstlerische Prozesse gezeigt, die diesen Gedanken der Entropie visualisieren. Smithson legte Spiral Jetty (1970) so an, das von vornherein sicher war, dass die Arbeit untergehen würde. Es handelt sich dementsprechend hierbei um einen entropischen Vorgang. Nach Smithsons Tod und der Vollendung seines letzten Werks Amarillo Ramp (1970) durch Richard Serra war Serras Auseinandersetzung mit dem Entropiegedanken beendet. Nun setzte er der Entropie die Arretierte Bewegung entgegen. Hierbei handelt es sich ebenfalls um einen Gedanken der Physik, der davon ausgeht, dass es Systemzusammenhänge fern von Gleichgewichtsverhältnissen gibt. Serras Antwort, die Entropie zu überwinden, lag in einem Zeigen von Räumen, die diese Bewegung aufhalten. Man möchte mit Paul Klee sagen: »Raum ist ein Motiv der Zeit«.

L iter atur Serra, Richard/Reinartz, Dirk: Afangar, Göttingen/Zürich: Steidl 1991. Serra, Richard: Schriften, Interviews 1970–1989, Bern: Benteli 1990. Bering, Kunibert: Richard Serra. Skulptur  – Zeichnung  – Film, erweiterte Neuaufl., Oberhausen: Athena 2009. Bering, Kunibert: Richard Serra: »The Matter of Time. Skulpturen im Guggenheim-Museum in Bilbao«, in: IMPULSE.KUNSTDIDAKTIK 4 (2008), S. 47–53. Faure, Fabian: »The Matter of Time«, in: Alain Metternich (Hg.), Guggenheim Museum Bilbao, Paris 2006.

Richard Serra

A bbildungen Abb. 1: Richard Serra, Tilted Arc (zerstört), New York, Federal Plaza, 1981. In: Catalogue »Richard Serra«, Münster/München 1987, No. 94. Abb.  2: Richard Serra, Blind Spot  – Bilbao, Guggenheim-Museum, 2002– 2003. In: Faure, Fabian: »The Matter of Time«, in: Metternich, Alain (Hg.), Guggenheim Museum Bilbao, Paris 2006, S. 31. Abb. 3: Richard Serra, Matter of Time, Bilbao, Guggenheim-Museum, 1994– 2005. In: Faure, F.: The Matter of Time, S. 23. Abb. 4: Richard Serra, Torqued Ellipse – Bilbao, Guggenheim-Museum, 2003– 2004. In: Faure, F.: The Matter of Time, S. 21.

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Vom Finden, dem Raum und dem Verschwinden Johanna Schwarz

1.

Fundstücke literarisch/real/kunsthistorisch/philosophisch

DIE ANATOMIE DER MELANCHOLIE Robert Burtons gleichnamige phänomenologische Untersuchung von 1621. Ein Plastikstorch aus dem Baumarkt. Bauklötze aus der Kindheit. Der Dornauszieher. Eine Eselsmaske. Vogelgerippe. Eine handgeschnitzte Figur vom Trödel. Historische Vorstellung des Gehirns. Farbe.

2.

Raum Wände/Decken/Boden/Geschichte

DEN SCHAFEN GIBT’S DER HERR IM SEIN Der Ausstellungsort war früher ein Stall. Der Boden mit Stroh bedeckt. An der Wand ein Video, in dem ein Schaf erzählt. Es riecht nach Stroh.

3.

Textil weich/temporär/organisch/verhüllt

ARKADIEN IST AUCH NUR EIN ORT Eine alte Schule. Ein überlanger Vorhang hängt aus dem Fenster heraus auf den Boden. Der Wind lässt den Stoff wehen. Rosa.

DAS BEFREITE NICHTS – PLASTISCHE EMOTIONEN (Video) Malewitsch. 1927. Die gegenstandslose Welt – Das befreite Nichts. Glück. Trauer. Freude. Wut. Liebe. Das schwarze Quadrat. Ein schwarzes Tuch. Eine Person. Verhüllt. Das Gesicht nicht zu sehen. Trauer.

STILLESLEBEN (Video) Ein Tisch. Ein Erbstück. Eine Person. Unter einer weißen Tischdecke versteckt. Sie bewegt sich langsam.

Autorinnen und Autoren

Sabiene Autsch, Prof. Dr. phil. (Jg. 1963), seit 2008 Professorin für Kunst/ Kunstgeschichte und ihre Didaktik, Universität Paderborn. 1984–1990 Studium der Kunst, Kunstgeschichte, Geschichte an den Universitäten Siegen und Wien, 1. und 2. Staatsexamen, 1992–1996 Wissenschaftliche Mitarbeiterin Universität Siegen, 1998 Forschungsstipendium des Landes NRW zum Thema Visual History, 1998 Promotion Erinnerung – Biografie – Fotografie, 2006–2008 Vertretungsprofessur an der Universität Paderborn, 2008 Habilitation Ausstellungs-Szenarien und Ausstellungs-Gesten. Zur Dialektik der Ausstellung in Moderne und Postmoderne Universität/Kunsthochschule Kassel, Künstlerische und kuratorische Arbeit. Forschungsschwerpunkte (Auswahl): Kunstgeschichte und Kunsttheorie 19.–21. Jahrhundert, Strategien der Gegenwartskunst, Geschichte der Documenta, Kuratorisches Denken, Räume in der Kunst, Spielformen der Angst, Kunst und Kulinarik, Kulturen des Kleinen/Modelle in der Kunst, Material und Erfahrung. Kunibert Bering, Prof. Dr. phil. (Jg. 1951), seit 1998 Lehrstuhl für die Didaktik der Bildenden Künste an der Kunstakademie Düsseldorf. Studium der Kunstgeschichte, Klassischen Archäologie, Geschichte und Philosophie in Bochum und Rom, 1978 Promotion, Erstes und Zweites Staatsexamen für das Lehramt am Gymnasium, Tätigkeit im gymnasialen Schuldienst (bis 1998), 1987 Habilitation, anschließend Privatdozent an der Ruhr Universität Bochum, 1991–1996 Lehrbeauftragter an der Universität Koblenz-Landau (Abt. Landau), Gastvorlesungen an der Hochschule für Architektur und Bauwesen in Weimar, 1995–1998 Initiator und Leiter mehrerer Bildungsprojekte im Rahmen des SOCRATES-Programms der Europäischen Kommission, 2007/08 Gastprofessur an der Universität Bern, 2000–2002 und 2009–2013 Dekan des Fachbereichs Kunstbezogene Wissenschaften der Kunstakademie Düsseldorf. Publikationen zur Kunstdidaktik, zu Fragen der Bildkompetenz, der Kunst und Ästhetik des Mittelalters sowie zur Kunst der Gegenwart.

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Material und künstlerisches Handeln

Karsten Bott (Jg. 1960), Bildender Künstler, Gestalter und Betreuer auf einem Abenteuerspielplatz Frankfurt. 1986–1991 Kunststudium Städelschule Frankfurt, Filmklasse von Peter Kubelka, 1995 Preisträger Jürgen Ponto-Stiftung Frankfurt, 1998 Stipendiat Kunstfonds Bonn, 2000 Atelierstipendium London der Hessischen Kulturstiftung, 2013–2015 Lehrtätigkeit Kunsthochschule Kassel. Ausstellungen (Auswahl): 2015 Historisches Museum Frankfurt Gleiche Vielfache, 2011 Kunsthalle Mainz Von Jedem Eins, 600 Qm, 2007 Castle Museum Norwich Museum of Life, 2002 Art Center Cincinnati Sprawl mit Things with Bridges, 2000 Museum beim Markt Karlsruhe und Kestnermuseum Hannover Das Jahrhundert des Designs mit Von Jedem Eins, in Regalen, 1997–1998 Haus der Kunst München, Kulturforum Berlin, Kunstmuseum im Ehrenhof Düsseldorf, PS 1 New York und Henry Art Gallery Seattle Deep Storage mit Von Jedem Eins, 1993 Offenes Kulturhaus Linz Speicher mit Von Jedem Eins. Publikationen: 2012 Dinge zur Mainzer Ausstellung, 2007 Von Jedem Eins, Walther König (dt. und engl.). Lisa Gotto, Prof. Dr. phil. (Jg. 1976), Professorin für Filmgeschichte und Filmanalyse an der Internationalen Filmschule Köln (ifs). Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie des Films, Medien- und Kulturtheorie, Bildästhetik, Digitale Medienkultur. Ausgewählte Publikationen: New Game Plus. Perspektiven der Game Studies. Genres – Künste – Diskurse (Mithg., Bielefeld 2015), Jean Renoir (Hg., München 2014), Serious Games, Exergames, Exerlearning. Zur Transmedialisierung und Gamification des Wissenstransfers (Mithg., Bielefeld 2013), Bildwerte. Visualität in der digitalen Medienkultur (Mithg., Bielefeld 2012), Eisenstein-Reader. Die wichtigsten Schriften zum Film (Hg., Leipzig 2011), Traum und Trauma in Schwarz-Weiß. Ethnische Grenzgänge im amerikanischen Film (Konstanz 2006). Armin Hartenstein (Jg. 1968), Bildender Künstler, lebt in Düsseldorf. Studium an der Kunstakademie Düsseldorf, 1996 Meisterschüler von Prof. Fritz Schwegler. 2002 Arbeitsstipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg, 2010 Arbeitsstipendium in Seoul, Südkorea. Seit 1996 Ausstellungen in Institutionen und Galerien. Mitglied im Deutschen Künstlerbund. Kuratorische Arbeiten für den Kunstraum Düsseldorf und seit 2013 BOVE-Ausstellungskooperationen (http://ebove.tumblr.com/), Lehraufträge an der Hochschule der Bildenden Künste Saar, Universität Duisburg-Essen, Universität Köln und Bergische Universität Wuppertal, 2014–2016 Vertretungsprofessur im Fach Kunst der Bergischen Universität Wuppertal. www.arminhartenstein.de Sara Hornäk, Prof. Dr. phil. (Jg. 1971), seit 2006 Professorin für Kunst und ihre Didaktik/Schwerpunkt Bildhauerei an der Universität Paderborn. 1990–1997 Studium der Bildhauerei bei Klaus Rinke und Fritz Schwegler an der Kunst-

Autorinnen und Autoren

akademie und Studium der Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf, 1995 Meisterschülerin von Fritz Schwegler, 1997 Akademiebrief Freie Kunst, 1997 Erstes Staatsexamen, 2000 Zweites Staatsexamen, 2000– 2006 Studienrätin an einem Gymnasium, 2003 Promotion Spinoza, Vermeer und die Immanenz in Philosophie und Malerei, 2012 Ruf an die Justus-LiebigUniversität Gießen (abgelehnt). Forschungsschwerpunkte (Auswahl): Skulpturales Handeln – Skulptur Lehren, Entwicklung des plastischen und räumlichen Gestaltens bei Kindern und Jugendlichen, Theorien künstlerischer Praxis, Artistic Research – Künstlerische und Kunstpädagogische Forschung, Materialdiskurse, Ästhetische Grundlegung der Kunstpädagogik, Kunstpädagogik und Inklusion. Petra Kathke, Prof. Dr. phil. (Jg. 1957), seit 2011 Professorin für Kunstpädagogik an der Universität Bielefeld. 1983 Erstes Staatsexamen, 1983–1990 Studium der Kunstgeschichte, Klassischen Archäologie und Erziehungswissenschaft (Freie Universität Berlin), 1985–2006 Auf bau und Leitung einer KunstProjektWerkstatt (Berlin), 1995 Promotion in Kunstgeschichte an der FU-Berlin Porträt und Accessoire. Eine Bildnisform im 16. Jahrhundert, 2002–2006 Vertretungsprofessorin an der Universität der Künste Berlin und der Universität Paderborn, 2006–2011 Professorin für Kunst und ihre Didaktik an der Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte (Auswahl): Theorie und Praxis künstlerischen Lernens, Künstlerische und kunstpädagogische Forschung an materialen und medialen Schnittstellen, Material als Impuls kunstdidaktischen Handelns, Ästhetische Fundierung künstlerischer Bildungsprozesse, Diversität und Heterogenität im Kunstunterricht, Kunstrezeption und Kunstvermittlung. Julia Kröpelin, Vertr.-Prof. (Jg. 1967), lebt und arbeitet in Düsseldorf und Halle an der Saale, seit Oktober 2016 Vertretungsprofessorin für Bildnerische Grundlagen Zeichnung an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle. 1990–1996 Studium an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig bei Edgar Gutbub und an der Kunstakademie Düsseldorf bei Prof. Fritz Schwegler, 1994 Meisterschülerin bei Prof. Fritz Schwegler, 2006–2008 Lehrauftrag für Bildhauerei an der Kunstakademie Düsseldorf, 2009–2016 Lehraufträge und Workshops an der Muthesius Kunsthochschule Kiel, der Universität Siegen, der Universität Duisburg-Essen, der FADBK Essen, der Universität Wuppertal und der Hochschule für Bildende Künste Saar, für Bildhauerei und Zeichnung. Stipendien und Preise (1998–2015): Studienstiftung d. Deutschen Volkes, New York-Reisestipendium, der Ernst-Poensgen-Stiftung, Düsseldorf, NRW-Förderpreis Bildender Künstlerinnen, Residenzstipendium Künstlerdorf Schöppingen, Residenzstipendium Schloss Ringenberg/NRW, Bergischer Kunstpreis Museum Baden, Saar Ferngas Förderpreis, Förderpreis der Stadt

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Material und künstlerisches Handeln

Düsseldorf, int. Residenzstipendium Bukarest/Rumänien, int. Residenzstipendium Zagreb/Kroatien. www.julia-kroepelin.com Roland Nachtigäller (Jg. 1960), seit 2008 Künstlerischer Direktor des Museums Marta Herford. 1982–1988 Studium der Kunst, Visuellen Kommunikation, Germanistik und Medienpädagogik an der Kunsthochschule/Universität Kassel, 1989–1991 Wissenschaftlicher Assistent am Museum Fridericianum, Kassel, 1991–1992 Leitung der Katalog- und Publikationsabteilung der documenta 9, 2003–2008 Leiter der Städtischen Galerie Nordhorn, 2003–2013 Geschäftsführer der kunstwegen EWIV. Entwicklung von Projekten der Kunst im öffentlichen Raum: kunstwegen (2000), Feldversuche (2007), raumsichen (2012), Gartenbühnen (2013), 5 Tore/5 Orte (seit 2010). Realisierung größerer Einzelausstellungen u. a. mit Martin Walde, Andreas Gefeller, Franz Erhard Walther, Adrian Schiess, Matthias Bitzer, Olav Christopher Jenssen oder Mark Dion sowie viele internationale Themenausstellungen zu Fragen der Zeit. 2011 Verleihung des Justus Bier-Preises für Kuratoren, 2014 Auszeichnung des Marta Herford zum Museum des Jahres (Kunstkritikerverband AICA). Bea Otto (Jg. 1964), Bildende Künstlerin. Studium an der Kunstakademie Düsseldorf als Meisterschülerin von David Rabinowitch, an der Gerrit Rietveld Akademie, Amsterdam und der Art Students League, New York. Stipendien u. a. vom DAAD, der Kunststiftung NRW und der Stiftung Kunstfonds Bonn und hatte Einzelausstellungen u. a. im Ludwig Forum für Internationale Kunst in Aachen, Galerie Ruzicska/Weiss in Düsseldorf und im Hedah, Centrum voor Hedendaagse Kunst, Maastricht. www.beaotto.de Guido Reuter, Prof. Dr. phil. (Jg. 1968), seit 2008 Professor für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte an der Kunstakademie Düsseldorf. Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Medienwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, 2000 Promotion Barocke Hochaltäre in Süddeutschland 1660–1770 und 2000 bis 2008 Wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, 2008 Habilitation Statue und Zeitlichkeit 1400–1800. Forschungsschwerpunkte (Auswahl): Deutsche Kunst der Nachkriegsjahre und der jungen Bundesrepublik, das barocke Sakralraumensemble, Kunsthistorische Zeitforschung (Schwerpunkt: Statue und Zeitlichkeit), Geschichte und Theorie der Skulptur von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Judith Samen, Prof. (Jg. 1970), Bildende Künstlerin, seit 2011 Professorin für künstlerische Fotografie, Kunsthochschule Mainz an der Johannes GutenbergUniversität. 1990–1992 Studium an der Kunstakademie Münster, ab 1992 Kunstakademie Düsseldorf, 1995 Meisterschülerin von Fritz Schwegler, 1999

Autorinnen und Autoren

Erstes Staatsexamen Lehramt Sek. I und II, Kunst (1997) und Biologie (Universität Essen), 2003–2011 Professorin für Fotografie im Fach Kunst der Universität Siegen, seit 2000 Mitglied im Deutschen Künstlerbund e. V., Internationale Ausstellungstätigkeit, z. B. 2015 Rabenmütter, Lentos Kunstmuseum, Linz (A), 2010 Galerie De Zaal, Delft (NL). Auszeichnungen u. a.: 2014 Lehrpreis der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 2004 Stipendium für Künstlerinnen mit Kindern des Landes NRW, 2002 Märkisches Stipendium für künstlerische Fotografie, 1998 Arbeitsstipendium des Kunstfonds e. V., 1996 Förderpreis der Großen Kunstausstellung NRW, Arbeitsschwerpunkte: inszenierte Fotografie, Rauminstallation, Zeichnung, Performance. www.judithsamen.com Gunnar Schmidt, Prof. Dr. phil. (Jg. 1954), seit 2009 Professor in der Fachrichtung Intermedia Design des Fachbereichs Gestaltung an der Hochschule Trier. Studium der Anglistik, Politologie und Pädagogik. Staatsexamen, Promotion und Habilitation an der Universität Hamburg. Lehrte und forschte an den Universitäten Hamburg, Dortmund, Siegen sowie an der Folkwang Universität der Künste. Arbeitet wissenschaftlich auf der Grenzlinie von Medien-, Kultur- und Literaturwissenschaft. Letzte Publikationen: Bombenkrater. Das Bild der terroristischen Moderne (2016), Klavierzerstörungen in Kunst und Popkultur (2013). www.medienaesthetik.de Johanna Schwarz (Jg. 1968), Künstlerin und Kunstvermittlerin, Künstlerische Mitarbeiterin an der Universität Duisburg-Essen. 1993 Erstes Staatsexamen Lehramt Primarstufe, Universität Münster, 1998 Meisterschülerin von Fritz Schwegler, 2000 Akademiebrief Freie Kunst, Kunstakademie Düsseldorf, 2004–2010 Dozentin u. a. an den Hochschulen für Kunst und Gestaltung Bern und Zürich und an den Universitäten Dortmund und Siegen, seit 2014 Atelier und kuratorische Mitarbeit im Kunsthaus Essen, 2016 Ruf an die Universität Mozarteum Salzburg (abgelehnt). Stipendien und Auszeichnungen (Auswahl): 2015–2016 Mentoring-Programm der Universität der Künste Berlin, 2016 Werkstipendium, Onomato-KV, Düsseldorf, 2001–2003 Wilhelm-Lehmbruck-Stipendiatin, 1997–2000 Künstlerförderung Cusanuswerk Bonn. Die künstlerische Arbeit ist medienübergreifend und installativ. Inhaltlich bewegt sich die Arbeit zwischen Melancholie und Ironie. Schwerpunkt der Lehre ist das dreidimensionale Arbeiten mit Fokus auf Raum, Materialität und konzeptuelles Arbeiten. www.johannaschwarz.de

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Kunst- und Bildwissenschaft Marius Rimmele, Klaus Sachs-Hombach, Bernd Stiegler (Hg.) Bildwissenschaft und Visual Culture 2014, 352 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2274-4

Horst Bredekamp, Wolfgang Schäffner (Hg.) Haare hören – Strukturen wissen – Räume agieren Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung 2015, 216 S., kart., zahlr. farb. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3272-9 als Open-Access-Publikation kostenlos erhältlich E-Book: ISBN 978-3-8394-3272-3

Michael Bockemühl Bildrezeption als Bildproduktion Ausgewählte Schriften zu Bildtheorie, Kunstwahrnehmung und Wirtschaftskultur (hg. von Karen van den Berg und Claus Volkenandt) Oktober 2016, 352 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3656-7 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3656-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kunst- und Bildwissenschaft Leonhard Emmerling, Ines Kleesattel (Hg.) Politik der Kunst Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken Oktober 2016, 218 S., kart., 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3452-5 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3452-9

Werner Fitzner (Hg.) Kunst und Fremderfahrung Verfremdungen, Affekte, Entdeckungen September 2016, 260 S., kart., zahlr. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3598-0 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3598-4

Goda Plaum Bildnerisches Denken Eine Theorie der Bilderfahrung Juli 2016, 328 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3331-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3331-7

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