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German Pages 348 [344] Year 2023
VORSEHUNG UND HANDELN GOTTES
QUAESTIONES DISPUTATAE Begründet von KARL RAHNER UND HEINRICH SCHLIER Herausgegeben von JOHANNA RAHNER UND THOMAS SÖDING
QD 331 VORSEHUNG UND HANDELN GOTTES
Internationaler Marken- und Titelschutz: Editiones Herder, Basel
VORSEHUNG UND HANDELN GOTTES Analytische und kontinentale Perspektiven im Dialog Herausgegeben von Simon Maria Kopf und Georg Essen
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023 Alle Rechte vorbehalten www.herder.de Umschlaggestaltung: Verlag Herder E-Book-Konvertierung: Barbara Herrmann, Freiburg ISBN Print 978-3-451-02331-6 ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-84331-0
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . Simon Maria Kopf / Georg Essen
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„Lobe den Herren, der alles so herrlich regieret“. Vorsehung als Sorgenkind zeitgenössischer Theologie – Eine Problemskizze . 23 Christoph J. Amor I. Klugheitsbasiertes Modell Klugheit und Vorsehung Bruno Niederbacher SJ
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Replik Der Kompromiss des doctor communis. Gnädiges Mysterium oder kompromittierendes Mirakel? . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Wintzek
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Menschliche Vorsehung als Teil der Tugend der Klugheit. Eine Analogie für die göttliche Vorsehung? . . . . . . . . Simon Maria Kopf Replik Klugheit als Analogie für die göttliche Vorsehung? Reinhold Bernhardt II. Analytische Perspektiven Schöpfungsrisiko oder Erlösungsgarantie? Theologische Herausforderungen analytischer Vorsehungskonzeptionen Johannes Grössl
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Replik Kontingente Freiheit. Replik zum Beitrag von Johannes Grössl 167 Barbara Hallensleben
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Inhalt
Handeln Gottes aus analytischer Perspektive Georg Gasser
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Replik Jenseits des Bestimmens. Überlegungen zu einer freiheitstheoretischen Grundlegung des Handelns Gottes . . . . . Sarah Rosenhauer
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III. Kontinentale Perspektiven Die Personalität Gottes als Grund seines Weltverhältnisses. Dogmatisch-methodische Überlegungen zum Glauben an die göttliche Vorsehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Georg Essen
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Replik Intersubjektivität und die Rede vom Handeln Gottes. Zur kollektiv-intentionalen Transformation des personalen Modells des göttlichen Geschichtshandelns . . . . . . . . . . Martin Breul
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Überlegungen zu einer reziproken Abhängigkeit von Gott und Welt. Replik auf den Beitrag von Thomas Schärtl . . . . . . . . Christine Büchner
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Kenosis, Inkarnation, Transformation. Theologie des Handelns Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Schärtl-Trendel Replik
Epilog . . . . . . . . . . . . . . . Simon Maria Kopf / Georg Essen
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Einleitung Simon Maria Kopf / Georg Essen „Wir müssen reden“, konstatierte unlängst ein Sammelband in der Reihe Quaestiones disputatae mit dem Titel „Analytische und Kontinentale Theologie im Dialog“.1 Was war passiert? „Zu lange hat man nur noch aneinander vorbeigelebt, zu sehr sich in der Verschiedenheit eingerichtet, zu stark nur die eigenen Pläne verfolgt“2, schrieben Hans-Joachim Höhn und Saskia Wendel als Einleitung in den analytisch-kontinentalen Dialog. Diverse Spannungen zwischen analytisch und kontinental gesinnten Theolog:innen und Philosoph:innen – wenn man die Unterscheidung so treffen möchte – gibt es im deutschsprachigen Raum schon länger, aber zahlreiche jüngere Wortmeldungen und Publikationen haben die Situation latenter Animositäten sichtlich zugespitzt.3 Wie Benedikt Paul Göcke und 1
H.-J. Höhn/S. Wendel/G. Reimann/J. Tappen, Einleitung, in: H.-J. Höhn/S. Wendel/G. Reimann/J. Tappen (Hrsg.), Analytische und Kontinentale Theologie im Dialog, Freiburg i. Br. 2021, 9 –16, 9. 2 Ebd. 3 B. P. Göcke, Glaubensreflexion ist kein Glasperlenspiel. Wie wissenschaftlich ist die katholische Theologie?, in: Herder Korrespondenz 1/2017, 33 –36; M. Striet, Wunderbar, man streitet sich. Katholische Kirche – willkommen in der Moderne, in: Herder Korrespondenz 2/2017, 13 –16; M. Schüßler, Das Waterloo der Theologie ist das Leben, nicht so sehr das Denken, in: Feinschwarz, 04.05.2017, https://www.feinschwarz.net/das-waterloo-der-theologie-ist-das-leben-nicht-dasdenken. Siehe in weiterer Folge auch B. P. Göcke, Über den Begriff der Metaphysik in der Theologie. Die leere Bibliothek, in: Herder Korrespondenz 3/2021, 25 –27; B. P. Göcke, Zur Debatte um die „Theologie der Freiheit“. Keine Freiheitstheorie ohne Metaphysik, in: Herder Korrespondenz 2/2018, 30 –33; C. Bauer, Allianzen im Widerstreit? Zur Internationalität deutschsprachiger Theologie zwischen analytischen und kontinentalen Diskurswelten, in: Theologische Revue 118 (2022), 1–22 sowie zahlreiche Repliken im Münsteraner Forum für Theologie und Kirche: https://www.theologie-und-kirche.de/index.html. Des Weiteren sind auch die folgenden Streitschriften zum Thema Freiheit und Wahrheit zu nennen: K.-H. Menke, Macht die Wahrheit frei oder die Freiheit wahr. Eine Streitschrift, Regensburg 2017; M. Striet, Ernstfall Freiheit. Arbeiten an der Schleifung einer Bastion, Freiburg i. Br. 2018. Parallel zur theologischen Debatte gab es eine philosophische Debatte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), ausgelöst durch M. Frank,
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Thomas Schärtl-Trendel kürzlich festhielten, hat sich in der deutschsprachigen Theologie seit 2017 eine neue, handfeste Debatte entzündet, in deren Zentrum sich verschiedene theologische Denkformen – im Speziellen Denkmodelle analytischer und kontinentaler Provenienz – weitgehend unvermittelt gegenüberstehen.4 Ein erster Schritt in Richtung gemeinsamer Diskurs waren zwei Konferenzen, die dem oben erwähnten Sammelband vorausgingen. Soll dieser philosophisch-theologische Diskurs weitere Früchte bringen, gilt es, den Dialog zwischen analytisch und kontinental geprägten Denker:innen fortzusetzen und auf spezifische Sachthemen auszuweiten. Der Graben in der deutschen Debatte wird sich nicht über Nacht schließen – und dennoch oder gerade deswegen sind Brückenschläge wichtig.
1. Die Frage nach Gottes Handeln und Vorsehung Dieser Sammelband beabsichtigt einen solchen Brückenschlag zwischen analytischer und kontinentaler Theologie in Form einer gemeinsamen Analyse und Diskussion des systematisch drängenden und zunehmend unter Druck geratenen Themenbereichs des Handelns Gottes und der göttlichen Vorsehung. Kann heute noch verantwortbar von einem Handeln Gottes in der Welt gesprochen werden? Ist die Vorsehung ein dogmatischer Traktat, der unverändert gelehrt werden kann? Oder sind die Anfragen an Gottes Handeln und Vorsehung zu groß geworden, um in einer naturwissenschaftlich geprägten Welt und nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts schlichtweg vom Handeln Gottes und der Vorsehung zu sprechen? Vor dem Hintergrund dieser Fragen verwundert es nicht, dass der Themenkomplex „Vorsehung und Handeln Gottes“ in den letzHegel wohnt hier nicht mehr, in: FAZ, 24.09.2015; T. Rosefeldt, Wir sollten mit eigenen Worten denken, in: FAZ, 14.10.2015; R.-P. Horstmann, Ein Schisma in der Philosophie?, in: FAZ, 11.11.2015; C. Taylor, Was ohne Deutung bleibt, ist leer, in: FAZ, 16.01.2016; siehe hierzu auch W. Löffler, Wer hat Angst vor analytischer Philosophie. Zu einem immer noch getrübten Verhältnis, in: Stimmen der Zeit 6/2007, 375 –388. Für eine überblicksartige Hinführung zur Debatte, siehe D. Stammer, Und sie redeten wirklich … miteinander!, in: Feinschwarz, 09.06.2018, https://www.feinschwarz.net/und-sie-redeten-wirklich-miteinander. 4 B. P. Göcke/T. Schärtl, Vorwort, in: B. P. Göcke/T. Schärtl (Hrsg.), Freiheit ohne Wirklichkeit? Anfragen an eine Denkform, Münster 2020, VII–IX, VII.
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ten Jahrzehnten in der deutschsprachigen Theologie vermehrt unter die Lupe genommen worden ist. Dieser Sammelband ist also von der Überzeugung getragen, dass für ein interessiertes Miteinander und gegenseitig-wertschätzendes Verständnis nicht nur Methoden- und Grundlagenfragen, sondern auch das gemeinsame Arbeiten, das Abarbeiten an philosophischtheologischen Themen, wesentlich ist, wie beispielsweise das erwähnte kontrovers theologische Thema der Vorsehung und des Handelns Gottes. Dass das Handeln Gottes und die Vorsehung ein kontrovers diskutiertes Feld der Theologie ist, auch und gerade im deutschsprachigen Raum, dürfte, nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen unterschiedlichen Wortmeldungen zum Thema, offensichtlich sein.5 Wir haben diese quaestio disputata zum Anlass genommen, die Frage nach Gottes Vorsehung und Handeln aus verschiedenen Perspektiven – insbesondere aus der Perspektive des kontinentalfreiheitstheoretischen Denkens einerseits und der analytischen 5
Genannt seien an dieser Stelle stellvertretend einige deutschsprachige Monographien und Sammelbände der letzten Jahre: M. Breul, Gottes Geschichte. Eine theologische Hermeneutik der Rede vom Handeln Gottes, Regensburg 2022; M. Ruf, „Handeln Gottes“. Zur Hermeneutik theologischer Rede von Gott, Tübingen 2022; L. Teuchert, Gottes transformatives Handeln. Eschatologische Perspektivierung der Vorsehungslehre bei Romano Guardini, Christian Link und dem „Open theism“, Göttingen 2018; B. P. Göcke/R. Schneider (Hrsg.), Gottes Handeln in der Welt. Probleme und Möglichkeiten aus Sicht der Theologie und analytischen Religionsphilosophie, Regensburg 2017; R. Biersack, Bittgebet und Gottes Vorsehung. Eine systematisch-theologische Studie zur Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit der Bitte an Gott, Sankt Ottilien 2015; R. Siebenrock/C. Amor (Hrsg.), Handeln Gottes. Beiträge zur aktuellen Debatte, Freiburg i. Br. 2014; K. von Stosch/M. Tatari (Hrsg.), Handeln Gottes – Antwort des Menschen, Paderborn 2014; C. Böttigheimer, Wie handelt Gott in der Welt? Reflexionen im Spannungsfeld von Theologie und Naturwissenschaft, Freiburg i. Br. 2013; C. Büchner, Wie kann Gott in der Welt wirken? Überlegungen zu einer theologischen Hermeneutik des Sich-Gebens, Freiburg i. Br. 2010; K. von Stosch, Gott – Macht – Geschichte. Versuch einer theodizeesensiblen Rede vom Handeln Gottes in der Welt, Freiburg i. Br. 2006; H. C. Schmidbaur, Gottes Handeln in Welt und Geschichte. Eine trinitarische Theologie der Vorsehung, St. Ottilien 2003; A. von Scheliha, Der Glaube an die göttliche Vorsehung. Eine religionssoziologische, geschichtsphilosophische und theologiegeschichtliche Untersuchung, Stuttgart 1999; R. Bernhardt, Was heißt „Handeln Gottes“? Eine Rekonstruktion der Lehre von der Vorsehung, Gütersloh 1999; R. Kocher, Herausgeforderter Vorsehungsglaube. Die Lehre von der Vorsehung im Horizont der gegenwärtigen Theologie, St. Ottilien 21999.
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Denktradition andererseits, aber auch traditionelles tugendethisches Erbe wurde gesichtet – zu beleuchten und miteinander ins Gespräch zu kommen, welche Art des providentiellen Handelns Gottes vernünftigerweise angenommen werden kann.
2. Aufbau des Sammelbandes Der vorliegende Sammelband besteht aus drei Teilen sowie einer ausführlichen Einführung. Der erste Teil befasst sich mit einem klugheitsbasierten Modell, das als mögliche vermittelnde Position in die deutsche Debatte eingeführt wird. Der zweite Teil präsentiert und diskutiert analytische und der dritte Teil kontinentale Perspektiven zur Vorsehung und zum Handeln Gottes. Jeder Teil besteht aus vier Beiträgen: ein Beitrag zur Vorsehung aus der jeweiligen Perspektive mit ausführlicher Replik sowie ein Beitrag zum Handeln Gottes mit Replik. So wird der dialogische Charakter der diesem Sammelband zugrunde liegenden Konferenz zum Ausdruck gebracht. Es geht um das gemeinsame Erarbeiten von Lösungsansätzen, bei dem sowohl Gemeinsamkeiten als auch bleibende Differenzen zum Ausdruck kommen. Ein abschließender Epilog fasst diese bleibenden Differenzen sowie die zentralen Themen der Konferenz zusammen. Um den Leser:innen einen Überblick zu verschaffen, führt Christoph J. Amor im ersten Kapitel ausführlich in die deutsche theologische Debatte über Vorsehung und Handeln Gottes ein. Er geht dabei von den Grundannahmen und der Sachlage zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus und zeichnet die Konturen der Debatte bis ins Heute nach, um wesentliche Scheidepunkte zu identifizieren, wie etwa das moderne naturwissenschaftliche Weltbild, die neuzeitliche Erkenntniskritik, die Krise der theologischen Geschichtsinterpretation, die sich angesichts der Gräuel des 20. Jahrhunderts neu zuspitzende Theodizeeproblematik sowie eine katholische Engführung der Vorsehungslehre. Vor diesem Hintergrund arbeitet Amor theologische Grundentscheidungen heraus, die die Grundlage heutiger Vorsehungslehren bilden, darunter den Wandel der Vorsehungslehre von einer theologischen Welterklärung hin zu einer spirituell-geistlichen Trostlehre, eine gewisse Asketisierung, vor allem aber die freiheitstheoretische Durchdringung der Vorsehungslehre sowie die Zurückstufung der Sicherheit der Vorsehung zu einem risikohaften göttlichen Unterfangen.
Einleitung
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Anschließend wird im ersten Teil des Sammelbandes, nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Bedeutung der Tugenden (revival of virtues) in verschiedenen Bereichen, wie etwa in der Ethik (virtue ethics), der Epistemologie (virtue epistemology) oder auch in den Rechtswissenschaften (virtue jurisprudence), ein eigenständiges Modell als Diskussionsvorschlag präsentiert, das im weitesten Sinne tugendbasiert (virtue-based) oder genauer gesagt klugheitsbasiert (prudential) genannt werden kann. Die These lautet, dass die göttliche Vorsehung nicht nur ein (transeuntes) Handeln Gottes in der Welt bezeichnet, sondern in Analogie zur menschlichen Vorsehung und zur Tugend der Klugheit insbesondere als ein auf ein Ziel hin ausrichtendes Anordnen der Dinge gedacht und ausgelegt werden kann. Im zweiten Kapitel erörtert Bruno Niederbacher aus analytischer Perspektive inwieweit (1) das klugheitsbasierte Verständnis, wonach Gottes Vorsehung Gottes effizientes Planungswissen hinsichtlich seines Handelns in der Schöpfung ist, zurückgeführt werden kann auf (2) das handlungsbasierte Verständnis, wonach Gottes Vorsehung nichts anderes als Gottes Handeln bzw. Wollen in der Schöpfung ist, oder (3) das wissensbasierte Verständnis, wonach Gottes Vorsehung nichts anderes als Gottes Wissen ist. Mit Rückgriff auf die aristotelische Tradition der Tugendlehre bei Thomas von Aquin präsentiert Niederbacher sieben Thesen zur Klugheit, die er als rechtes Überlegen-Können in Bezug auf das Handeln versteht: 1. Klugheit ist eine Tugend im vollen Sinn, das heißt 2. eine kognitive Fähigkeit, die 3. den guten Willen voraussetzt. Die Klugheit bezieht sich 4. auf das Gute des gesamten menschlichen Lebens und befähigt 5. zum rechten Zu-Rate-Gehen, richtigen Urteilen und effizienten Anordnen. Das setzt einerseits 6. die Erkenntnis von Allgemeinem und Partikulärem voraus und andererseits, dass in der Klugheit 7. mehrere Fähigkeiten zusammenlaufen. Niederbacher kommt zum Schluss, dass sich (1) das klugheitsbasierte Modell dadurch von den Modellen (2) und (3) unterscheidet, dass hier mit „Vorsehung“ „Gottes partikuläres praktisches Wissen gemeint ist, welches Gott im Begriff ist zu realisieren und dessen Realisierung auf das göttliche Gut ausgerichtet ist.“ Oliver Wintzek gibt in seiner Replik auf Niederbacher aus freiheitstheoretischer Sicht zu bedenken, dass Gottes Vorsehung als Plan und Lenkung, als „kluge“ Hinordnung auf ein Ziel, die Kontingenz und menschliche Freiheit verunmögliche und deshalb äußerst
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problematisch erscheine. Mit Blick auf Thomas von Aquin versucht Wintzek zunächst die Vorstellung der Vorsehung Gottes als universales Kausalgeschehen („Universalverursachung“) zu überwinden, sonst gebe es keine „Eigentätigkeit jenseits der übergeordneten göttlich-vorsehenden Lenkungstätigkeit“. Wintzek argumentiert: Wenn alles Teil einer so verstandenen Vorsehung Gottes sei, gäbe es keine geschöpfliche Eigenständigkeit; es kann nicht „von einer eigenständigen Ausführung der universalen göttlichen Lenkung […] gesprochen werden, wo die beanspruchte Eigenursächlichkeit sich offenkundig nur der Einsetzung seitens der umfassend verursachenden Lenkung Gottes verdankt“. In einem zweiten Schritt argumentiert Wintzek unter Zurückweisung der klassischen Erst- und Zweitursachenlehre, Heteronomie schließe Autonomie grundsätzlich aus; es könne – auch mit Blick auf Gott – keine heteronom bewirkte menschliche Autonomie geben. Wintzek kommt zum Schluss, dass auf ein Ziel hinordnen letztlich determinieren hieße, womit eine freiheitsbasierte Kontingenz durch das klugheitsbasierte Modell verunmöglicht sei. Im vierten Kapitel greift Simon Maria Kopf den Begriff der menschlichen Vorsehung und die von Bruno Niederbacher dargelegte Tugend der Klugheit auf, um deren Anwendbarkeit auf Gott und seine Vorsehung zu prüfen. Nach einer kurzen dogmatischen Vergewisserung geht Kopf auf den weit verbreiteten Einwand ein, dass alles „ordinative“ Denken überholt sei und, um es im Begriffspaar von Reinhold Bernhardt zu sagen, „aktualistisch“ ausgelegt werden müsse, und dass daher klassisch-dogmatische Aussagen, wonach Gott „Ursprung und Ziel“ der Dinge ist, keine Teleologie der Schöpfungs- bzw. Vorsehungsordnung einschließen. Kopf hingegen argumentiert, dass Vorsehung ihrem Wesen nach teleologisch ist, dass aber die Art der Teleologie sehr wohl zur Disposition stehe. Anschließend faltet er aus, dass die Klugheit und insbesondere die menschliche Vorsehung ein zumindest für das ordinative Paradigma interessantes kreatürliches Analogat darstelle, auf dessen Basis die göttliche Vorsehung durch eine dreifache Transformation (via affirmativa, via negativa, via eminentiae) modelliert werden kann. Allerdings, so Kopf weiter, stelle sich im Zuge dessen die berechtigte Frage nach der Natur dieser Analogie sowie des der Transformation zugrunde liegenden Gottesbegriffs. Kopf schlägt abschließend die Unterscheidung zwischen ratio und executio der Vorsehung vor, um in einem Brückenschlag analytische und kontinentale Beiträge zu-
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sammen denken zu können, zumindest insofern sie intellektuelle und voluntative Traditionen repräsentieren. In seiner Replik stellt Reinhold Bernhardt fünf Rückfragen. Die erste betrifft die Analogielehre: „Worin besteht der ontische, logische und erkenntnistheoretische Status dieser Analogie?“ Er fragt also, um welche Art der Analogie es sich handelt: um eine bloße Explikation, die keinen Erkenntnisgewinn darstellen würde, oder um eine auf der analogia entis fußende Analogie, die dann aber einen Seinszusammenhang zwischen menschlicher und göttlicher Klugheit postulieren muss. Gerade eine solche analogia entis aber wird in der protestantischen Theologie im Gefolge von Karl Barth abgelehnt, womit sich die Frage nach der Erkenntnisquelle und daher – zumindest aus protestantischer Sicht – nach der Bibel stellt. Die zweite Rückfrage betrifft die bibelexegetische Begründung des Zuganges. Die Bibel lege eine aktualistische, keine ordinative Sichtweise nahe, argumentiert Bernhardt; ein klugheitsbasierter Ansatz ließe sich daher „biblisch nur mit Mühe begründen“, womit die Frage der analogia entis wieder ins Zentrum rückt. Nach Karl Barth kann nicht von Gottes Wesen her nach dem Handeln gefragt werden; vielmehr kann das Wesen nur aufgrund seines Handelns bestimmt werden; Gottes Wesen ist mit seinem Wirken ident. Die dritte Rückfrage betrifft die Denkfigur der konditionalen Notwendigkeit. Bernhardt zeigt, dass die neccesitas consequentiae einerseits mit Boethius und Thomas von Aquin logisch und andererseits mit Johannes Duns Scotus kausal ausgelegt werden kann. Daher ist die Notwendigkeit entweder durch Gottes Wissen bedingt oder das Wissen durch geschöpfliche Tatsachen. Das wirft viertens die Frage nach der Verursachung auf: „Wenn mit dem Wissen aber kein Wollen verbunden ist, bezieht es sich lediglich auf die Feststellung dessen, was der Fall ist, nicht aber auf ein Bewirken des jeweiligen Ereignisses im Sinne der effektiven Anordnung.“ Wenn aber das Anordnen Teil der Vorsehung ist, stelle sich die Frage nach der Kompatibilität von menschlicher Freiheit und göttlicher Mitwirkung. Bernhardt betont diesbezüglich: „Je mehr eine Handlung Gott zugeschrieben wird, umso weniger kann sie dem Menschen zugeschrieben werden und umgekehrt.“ Bernhardt hingegen legt die Vorsehung im Sinne der Wort-Gottes-Theologie als performatives Wort Gottes aus. Um Wirkung zu entfalten, muss das Wort gehört und beantwortet werden. Handeln Gottes setzt somit die Tätigkeit des Menschen voraus. Als fünften Bereich
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problematisiert Bernhardt die Forderung nach Objektivität des Handelns Gottes („Vergegenständlichung“); demgegenüber betont er, dass Handeln Gottes wesentlich an Verstehenszusammenhänge geknüpft ist. Abschließend deutet Bernhardt sein eigenes Verständnis der Vorsehung an, wonach Gottes Vorsehung als Kraftfeld verstanden werden kann, nämlich als ein pneumatologisch gedeutetes effektives Kraftfeld, das die Wirksamkeit und Präsenz Gottes als Wortgeschehen darstellt. Im zweiten Teil des Sammelbandes werden analytische Konzepte der Vorsehung und des Handelns Gottes präsentiert und diskutiert. Im sechsten Kapitel stellt Johannes Grössl verschiedene analytische Modell der Vorsehung vor, wobei er die göttliche Vorsehung einführt als „eine Vorausplanung oder Lenkung der Geschichte durch einen intentional handelnden, göttlichen Akteur, die darauf abzielt, Geschöpfe zum Heil zu führen.“ Erklärtes Ziel ist es, libertarische Willensfreiheit mit der Vorsehungslehre in Einklang zu bringen. Grössls Frage lautet: Kann Gott garantieren, dass seine Schöpfungsziele erreicht werden, wenn er seine Schöpfung in Freiheit entlässt? Grössl argumentiert für eine univoke Gottesrede, um die nötige begriffliche Präzision aufrechtzuerhalten, setzt ein personales Gottesverständnis voraus und identifiziert den theologischen Determinismus und den Offenen Theismus (in seiner Hochrisikovariante) als die Extrempositionen in der aktuellen Debatte. Gegenüber gängig vertretenen Theorien in der analytischen Debatte, wie etwa dem Molinismus, dem simple knowledge-Modell in verschiedenen Varianten, göttlichen Kontingenzplänen oder einer statistischen Determination, favorisiert Grössl den restriktiven Libertarismus, wonach die Freiheit des Menschen eingeschränkt ist. Nach einer Erläuterung christologischer Implikationen kommt Grössl zum Schluss, dass analytische Vorsehungskonzepte – entgegen Rahners Axiom der direkten Proportionalität – ein disproportionales Verhältnis von menschlicher Freiheit und göttlicher Vorsehung annehmen: „Je stärker der Freiheitsbegriff, desto größer ist das Risiko, das Gott mit seiner Schöpfung eingeht.“ In ihrer Replik bezweifelt Barbara Hallensleben, dass die analytische Methode, zumindest in der von Johannes Grössl vorgetragenen Form, in der Theologie – im Gegensatz zur Religionsphilosophie – angemessen ist, da der Gegenstand der Theologie, Gott, dem Wesen nach ein Mysterium sei. Daher erscheine fraglich, ob Wesentliches
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über Gott definiert bzw. auf den Begriff gebracht werden kann, wie das analytische Zugänge oft suggerieren: „In der Regel muss sich die Methode am Gegenstand bewähren – hier wird die Methode selbst zum Prüfstein für das, was gedacht werden kann und darf.“ Der Anspruch auf Eindeutigkeit gehe damit fehl. Anschließend wendet sich Hallensleben der utilitaristischen Herangehensweise an die Vorsehungslehre und dem libertarischen Freiheitsideal zu, das ohne inhaltliche Vorgaben und Bindung gedacht werde: „Gottes Willkürfreiheit wird nicht ausgeschlossen, sondern nur einem nicht näher reflektierten Kriterium unterworfen: dem größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl.“ Hallensleben argumentiert für eine Rehabilitierung des Naturbegriffs und schlägt vor, Natur und Person in Gott enger zusammenzudenken. Das hat auch Auswirkungen auf den Freiheitsbegriff in Gott, der dann an seine Natur und moralische Normen gebunden ist. Auf dieser Grundlage stellt sich Hallensleben schließlich gegen eine Zurückweisung von Rahners Axiom, wonach kreatürlicher Eigenstand und Abhängigkeit von Gott proportional – und eben nicht, wie in kreatürlichen Fällen, disproportional – seien. Eine Symmetrie zwischen Gott und Geschöpf, wie sie Grössl offensichtlich annehme, müsse theologisch vermieden werden. Die Ansicht, dass Geschöpfe mehr Eigenstand haben, je mehr sie von Gott abhängen, wird von Hallensleben schöpfungstheologisch begründet. Diese Sicht entziehe der von Grössl angestrebten Risikominimierung und der dazu nötigen Einschränkung der menschlichen Freiheit den Boden, da Gott und Geschöpf nicht im Konkurrenzmodell gedacht werden – zumal der Vorschlag Grössls paradox ausfalle, da die letztlich entscheidende Kategorie die der Sicherheit (durch Risikominimierung) sei und nicht, wie ursprünglich angekündigt, die libertarische Freiheit. Hallensleben kommt zum Schluss: „Das deklarierte Freiheitspathos wird in der vorgetragenen Argumentation in wesentlichen Punkten nicht eingelöst.“ Im folgenden Beitrag legt Georg Gasser ein dispositionales Modell des besonderen Handelns Gottes vor. In Abgrenzung zum Hume’schen Wunderbegriff kritisiert Gasser das zugrunde liegende Naturverständnis, wonach der Begriff der Natur mit notwendigen Naturgesetzen verbunden sei: „[D]er Hume’sche Begriff des Naturgesetzes [macht] Wunder nicht nur höchst unwahrscheinlich (eine Annahme, die […] als plausibel akzeptiert werden kann), sondern eigentlich begrifflich unmöglich, da ein Wunder ein Naturgesetz ver-
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letzen würde, aber ein solcher Verstoß per definitionem nicht vorkommen kann“, weil die Naturgesetze als ausnahmslose Regularitäten bestimmt worden sind. Gasser hingegen versteht unter einem Wunder ein von Gott bewirktes Ereignis, das logisch möglich, aber von Natur aus unmöglich ist. Gasser schlägt vor, Naturgesetze nicht als ausnahmslose Regelmäßigkeiten zu verstehen, sondern – gemäß dem sogenannten „normativen Ansatz“ von Naturgesetzen – einer dispositionalen Theorie zu folgen: „Ein Naturgesetz bezieht sich […] auf die Dispositionen des Verhaltens, die typischen Individuen einer zu spezifizierenden Art zukommen.“ Ein Naturgesetz besage hingegen nicht, wie ein Individuum einer bestimmten Art sich notwendigerweise verhalte, da es eine Norm angebe, von der Abweichungen (in seltenen Fällen) möglich seien. Kausalität ist zu verstehen als die Manifestation von Dispositionen oder Kräften, die dazu tendieren, sich auf bestimmte Art und Weise zu manifestieren. Ein Wunder ist dann laut Gasser keine Durchbrechung von Naturgesetzen, sondern eine nur Gott mögliche Aktualisierung von geschöpflichen Dispositionen, die im natürlichen Kausalverlauf verborgen seien. Eine dispositionale Theorie des Wunders besagt also, dass Gott verborgene Dispositionen von Geschöpfen aktivieren kann, um bestimmte Ereignisse hervorzubringen. Die Naturgesetze bleiben dabei gültig, da ihre dispositionale Grundlage bestehen bleibt. Gasser legt abschließend vier mögliche Antworten auf den Einwand vor, dass ein so verstandenes Wunder die geschöpfliche Eigenständigkeit und Kausalität unterlaufe, unter anderem jene, dass jedes Geschöpf „die grundlegende Disposition besitz[t], für Gottes Heilshandeln offen zu sein.“ In ihrer Replik unterzieht Sarah Rosenhauer das dispositionale Modell der Wunder einer eingehenden Kritik aus freiheitstheoretischer Sicht, reagiert auf zahlreiche Einwände gegen den ihren Ausführungen zugrunde liegenden Freiheitsbegriff und legt schließlich eine freiheitstheoretische Alternative zur Grundlegung des besonderen Handelns Gottes vor. Rosenhauer wendet zunächst ein, dass ein dispositionales Modell des besonderen Handelns Gottes die Theodizeeproblematik verschärft: „Wenn Gott in seinem Wirken an und in der Natur einen derart großen Spielraum hat, dann fragt man sich, warum natürliches Übel […] vorkommt und nicht dadurch von Gott verhindert wird, dass er in die verborgenen Dispositionen […] eingreift,“ um natürliches Übel zu verhindern. Ihr
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zweiter Einwand lautet, dass ein dispositionsontologisches Kausalitätsmodell Gottes Handeln und menschliche Freiheit in Konkurrenz setze und damit menschliche Freiheit einzuschränken drohe: „Gott muss sein Wirken einschränken, muss sich zurücknehmen, damit geschöpflicher Eigenstand möglich ist.“ Rosenhauer favorisiert ein personales Freiheitsdenken, um die Freiheit des Menschen zu begründen, die im dispositionsontologischen Modell nicht hinreichend gewahrt sei: „obwohl die göttliche Wirkung dabei nicht als etwas den Menschen äußerlich Zwingendes und Überwältigendes verstanden wird, ist es doch insofern kompetitiv angelegt, als es Gottes Wirken ist, das bestimmt, welche Disposition verwirklicht wird, und nicht der Mensch in seinem freien Willen.“ Auch ein dispositionales Handeln Gottes am Menschen müsse freiheitsvermittelt sein. Rosenhauer verteidigt das freiheitstheoretische Denken gegen zwei gängige Einwände: den Vorwurf des Relativismus und der Herrschaftsförmigkeit. Im Gegensatz zu diesen Einwänden plädiert sie für eine Radikalisierung statt einer Aufhebung der Freiheit. Rosenhauer kommt zum Schluss, dass Wunder letztlich nur personal als Gottes liebende Freisetzung von Freiheit aufgefasst werden können: „Wunder sind nicht Ereignisse kausaler Bestimmung, sondern Ereignisse der Ent-Bestimmung, der Befreiung oder Freisetzung geschöpflicher Freiheit.“ Der dritte Teil befasst sich mit der Vorsehung und dem Handeln Gottes aus kontinentaler Perspektive. Georg Essen argumentiert, dass angesichts der Tatsache, dass der Glaube an Gottes Walten als Vorsehung für das Christliche grundlegend ist, die in der theologischen Forschung weithin begegnende Unsicherheit überrasche, worauf dieser sich beziehe und was mit ihm gemeint sei. Dafür verantwortlich sei, so Essens Urteil, unter anderem die Eigentümlichkeit seiner dogmenhistorischen Herkunft in der Spätantike. Einerseits entspringe der Vorsehungsbegriff dem biblischen Bekenntnis zu Gottes Treue, die sich in der Geschichte im Selbsterweis ihres Offenbarwerdens zeigt. Andererseits erfahre der Vorsehungsbegriff im Zuge der theologischen Aufnahme hellenistischen Denkens in der Spätantike eine entscheidende Umdeutung, sofern und weil nunmehr Vorsehung auf den Begriff einer Welt bezogen wird, die in sich selbst teleologisch strukturiert ist. Erst durch diesbezügliche Rezeptionsvorgänge kollidieren im Begriff der Vorsehung Gottes Allmacht und menschliche Freiheit, so die
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Analyse von Essen. All dies habe zu „erheblichen Schwierigkeiten geführt, die ‚göttliche Weltregierung‘ zurückzubinden an die biblisch bezeugte schöpferische Freiheit Gottes in seinem spontanen und kontingenten Geschichtshandeln.“ Die kosmologische Ordnung könne aber keinesfalls dem göttlichen Freiheitshandeln vorgeordnet sein, so Essen. Die skizzierte Situation der Vorsehungslehre werfe damit die Frage nach dem Wesen Gottes auf: Welcher Gottesbegriff liegt der Vorsehungslehre zugrunde? Anhand dreier Beispiele, nämlich dem „Pantheismusstreit“ von 1785, dem „Atheismusstreit“ von 1798/99 sowie dem „Theismusstreit“ von 1811/12, thematisiert Essen, wie die Wesenseigenschaften Gottes theologisch zu bestimmen und zu begründen sind. Als Minimalbedingung für die christliche Rede von Gott und seiner Vorsehung nennt Essen die Idee Gottes als vollkommene Freiheit. Er argumentiert, dass das Wesen Gottes für uns aber erst durch die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus zugänglich wird, womit alle theologischen Aussagen über das Wesen Gottes offenbarungstheologisch begründet werden müssen: „Theologisch verhält es sich […] so, dass Aussagen über das Wesen Gottes – unter Einschluss der dem Wesen zugehörigen Eigenschaften – aus Gottes Offenbarungshandeln zu erkennen sind.“ Vor diesem Hintergrund kommt Essen zum Schluss, dass die Vorsehung als Gottes Geschichtsmächtigkeit zu verstehen sei, als einen Akt der göttlichen Selbstbegrenzung zugunsten geschaffener Freiheit, und die Geschichte „als das Kommerzium zwischen der freilassenden Freiheit Gottes und der freigelassenen Freiheit des Menschen.“ In seiner Replik argumentiert Martin Breul, dass eine freiheitstheoretisch formulierte Rede von der Vorsehung bzw. vom Handeln Gottes, auf das sich Breul in seinem Beitrag fokussiert, wie sie Georg Essen im Gefolge von Thomas Pröpper verteidigt, wichtige Weichenstellungen für eine theologische Hermeneutik der Rede vom Handeln Gottes enthält. Die Vorzüge dieses Ansatzes bestehen nach Breul in einer konsequenten Verabschiedung des Suchens nach kausalen Bezugspunkten des Handelns Gottes, der Betonung der Ambiguität der Rede vom Handeln Gottes sowie der Achtung der menschlichen Freiheit angesichts des göttlichen Handelns. Anschließend kontrastiert Breul diese Vorzüge mit drei kritischen Anfragen. Die erste betrifft die von Essen vorgeschlagene Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung: „Wenn Schöpfer und Geschöpfe frei sind […], dann ist es nicht konsequent, das theologische
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Wissen um diesen freien Gott in einem Offenbarungsgeschehen zu verorten, welches durch Disambiguitäten eine freie Relation zwischen Schöpfer und Geschöpf gerade wieder verunmöglicht.“ Breul schlägt deshalb vor, den freiheitstheoretischen Ansatz von einem theologischen Begründungsexternalismus zu befreien. Die zweite Anfrage betrifft den Anthropozentrismus des Ansatzes, wonach Handeln Gottes nur durch den Menschen vermittelt, niemals aber jenseits der menschlichen Freiheit erfolgen kann, wie etwa bei einem Handeln Gottes in der Natur: „Handeln Gottes jenseits der symbolischen Realisierung unbedingter Freiheit in der Geschichte ist ausgeschlossen.“ Die dritte Anfrage betrifft schließlich die Frage der Intersubjektivität, die bei Essen nur eine konsekutive, nicht aber konstitutive Rolle spiele. Freiheit entstehe aber, so Breul, sie liege nicht immer schon vor; dabei sei das Phänomen der Intersubjektivität entscheidend. Breul wendet daher ein, dass die Intersubjektivität gewissermaßen die Möglichkeitsbedingung von Freiheit als der zentralen Kategorie des freiheitstheoretischen Ansatzes sei, weshalb Essen nicht (allein) von der Subjektivität ausgehen könne. Das philosophische Problem der Intersubjektivität spiegle sich auch auf der theologischen Ebene wider, nämlich in der Christozentrik Essens, weshalb eine intersubjektive Öffnung hin zu einem trinitätstheologischen Verständnis des Handelns Gottes wünschenswert wäre; das Handeln des Heiligen Geistes, so der Vorschlag von Breul, sei die „Möglichkeitsbedingung der Anerkennung eines Geschehnisses als göttliches Handeln auf subjektiver Ebene.“ Auf dieser Basis skizziert Breul abschließend eine alternative Rede vom Handeln Gottes, das kollektiv-intentionale Modell, das auf der „kollektiven Intentionalität“ aufbaut und als intersubjektiv orientierte Fortschreibung eines personalen Ansatzes verstanden werden kann. Im folgenden Beitrag wählt Thomas Schärtl-Trendel einen kontinentalen Zugang zum Handeln Gottes, indem er die analytischen Ansätze von William J. Abraham, Jeffrey Koperski und Uwe Meixner kritisch begutachtet und den in analytischen Kreisen beliebten agenskausalen Ansatz für das spezielle göttliche Handeln als unzureichend zurückweist. In diesen Ansätzen zeige sich vielmehr eine gewisse neue Mythologie, die Schärtl an drei Beispielen aufzuzeigen versucht. Erstens fragt er mit Blick auf ein von Abraham genanntes, konkretes Beispiel göttlicher Intervention an, welche Kriterien für ein spezielles göttliches Handeln genannt werden können: Braucht
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es, um das Theodizeeproblem nicht überbordend zuzuspitzen, nicht eine „Bagatell-Untergrenze“? Zudem kritisiert Schärtl bei der analytischen Deutung solcher Ereignisse ein „Nuss-und-Schalen-Konzept“, wonach zwar „glaubensbasierte Interpretationen [wie Schalen] um glaubensbestärkende Ereignisse gelagert“ werden, im Kern aber eine direkte göttliche Intervention postuliert wird. Zweitens kritisiert Schärtl Koperskis dekretalistische Interpretation der Naturgesetze, einerseits aufgrund der Inhaltsleere seines analytischen Handlungsbegriffs, andererseits aufgrund des drohenden „ungezähmten theistischen Voluntarismus“. Drittens hält Schärtl fest, dass Meixner in seiner analytischen Auslegung den Dualismus so weit treibe, dass es zu einer theologisch bedenklichen gnostisierenden Entkörperung komme. Schärtl kommt zum Schluss, dass analytische Ansätze zu einer neuen Mythologie neigen: „Wird eine vehemente und im Namen biblischer Theologie vorgetragene Kritik an einer angeblich naturalismusaffinen Entmythologisierung des göttlichen Handelns in der Welt nicht lediglich mit einer anderen, gnostisierenden Mythologie ersetzt […]?“ Schärtl lehnt daher agenskausale Ansätze ab, besonders wenn sie über die Allmacht Gottes ausgelegt werden: erstens, weil agenskausale Interventionen Gottes Absolutheit und die Asymmetrie des Gott-Welt-Verhältnisses in Frage stellen würden, und zweitens, weil die so verstandene Personalität Gottes mit seiner omni- bzw. dezentrischen Ubiquität in Spannung stehe. Abschließend nennt Schärtl drei wesentliche Kriterien für ein theologisches Modell des Handelns Gottes, das sich an der Inkarnation und dem Kreuzestod Jesu Christi orientieren müsse: (1) Gottes Verhältnis zur Welt ist kenotisch, das heißt selbstentäußernd sowie asymmetrisch; (2) Gottes Wirken in der Welt ist strikt am Modus der Selbst-Identifikation orientiert, das heißt an der Inkarnation, die Identität in Differenz schaffe; (3) Gottes Wirken zeigt sich an der Transformation von Welt und ist damit deutungsoffen. Christine Büchner stimmt in ihrer Replik mit Thomas SchärtlTrendel darin überein, dass agenskausale Ansätze aus kontinentalhermeneutischer Sicht methodisch fragwürdig sind. Büchner betont die Vieldeutigkeit von biblischen Texten, deren Deutung kein kausal-interventionistisches Handeln Gottes erfordere: „Die biblischen Texte bezeugen also nicht nur und nicht einmal vorrangig einen bestimmend eingreifenden Gott, sondern durchgehend auch einen gesprächigen, sein-lassenden, affizierten, (mit-)leidenden Gott.“ Ent-
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scheidend sei, hermeneutisch gesehen, die eigene Erfahrung und Gottesvorstellung, mit der man den Texten begegne: Büchner vertritt die These, dass die Frage, ob Gott auf die Welt Einfluss nehmen kann, mit unseren Deutungen zu tun hat. Das Handeln Gottes versteht sie dabei im Sinne des Modells der „operativen Präsenz“ (R. Bernhardt). Um eine Konkurrenz zwischen dem Handeln Gottes und der Geschöpfe auszuschließen, betont Büchner die Asymmetrie des Gott-Welt-Verhältnisses, wonach die Welt von Gott abhängig ist, aber Gott nicht von der Welt. Allerdings wendet sie zugleich ein: Wenn Gottes Handeln mit Schärtl als selbstdezentrierend, inkarnatorisch und transformativ gedeutet wird, dann hänge Gottes Handeln vom Menschen ab. Gott wird also von der Welt abhängig. Darin sieht Büchner einer Aporie: „Einerseits ermöglicht erst die absolute Transzendenz […] die intime Immanenz Gottes in der Schöpfung, so dass die Schöpfung für Gott nicht einfach ein Gegenüber ist […]. Andererseits sind das Leben der Schöpfung und Gottes Leben, aus dem Gott die Schöpfung leben lässt, aufgrund dieser Immanenz nicht mehr deutlich voneinander abgrenzbar. Wenn Gott sein eigenes Leben in dieser Weise an uns hängt, steht dann seine Transzendenz also nicht doch wieder infrage?“ Büchner plädiert daher für ein Kippen der Transzendenz in die Immanenz und der Immanenz in die Transzendenz, unter anderem im Rückgriff auf ökofeministische Ansätze. Diese Perspektive faltet sie abschließend mit Blick auf die Mystikerin Mechthild von Magdeburg weiter aus. Den Abschluss des Sammelbandes bildet ein kurzer Epilog, in dem, wie bereits erwähnt, die Konturen der Debatte und die über die Einzelbeiträge hinausgehenden grundlegenden Fragestellungen der diesem Sammelband zugrunde liegenden Konferenz nachgezeichnet werden. Zum Schluss möchten die Herausgeber den Autor:innen dieses Sammelbandes danken, dass sie sich in großer Offenheit auf den analytisch-kontinentalen Dialog eingelassen haben und sich dem spannenden Thema „Vorsehung und Handeln Gottes“ gemeinsam in Verschiedenheit angenähert haben. Ebenso danken sie der John Templeton Foundation für die Finanzierung des dem Sammelband zugrunde liegenden Forschungsprojekts,6 Johanna Rahner und Tho6
Die Forschung zu diesem Sammelband wurde durch das Projekt „New Horizons for Science and Religion in Central and Eastern Europe“ der University of
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mas Söding für die Aufnahme dieses Sammelbandes in die Reihe Quaestiones disputatae und Clemens Carl vom Herder-Verlag für die freundliche und kompetente Betreuung. In diesem Sinne hoffen die Herausgeber, dass der vorliegende Sammelband dazu beiträgt, zu verdeutlichen, dass es sowohl für kontinentale als auch für analytische Denkformen zahlreiche und vielfältige Wurzeln gibt, auch in der deutschen philosophischen und theologischen Tradition, die darauf warten, freigelegt und fruchtbar gemacht zu werden für die traditionsübergreifende gegenwärtige theologische Diskussion.
Oxford unterstützt, das von der John Templeton Foundation finanziert wurde. Die in der Publikation geäußerten Meinungen sind die der Autor:innen und spiegeln nicht unbedingt die Meinung der John Templeton Foundation wider.
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„Lobe den Herren, der alles so herrlich regieret“ Vorsehung als Sorgenkind zeitgenössischer Theologie – Eine Problemskizze Christoph J. Amor
1. Hinführung: Krisenphänomen Vorsehung Nach Johannes Calvin erhält, schützt und regiert Gott die von ihm geschaffene Welt mit seiner Vorsehung bis ins Einzelne, d. h. konkret: bis zum geringsten Sperling.1 Während der Weltmensch, der säkulare Zeitgenosse, Gottes Wirksamkeit mit der Hervorbringung der Schöpfung für beendet erkläre, bekennen und verteidigen Christ:innen, so der Genfer Reformator, eine permanente Aktivität Gottes. Wo die Vernunft des Fleisches nur puren Zufall erblicke, würden Christ:innen tiefer sehen und den verborgenen Ratschluss Gottes entdecken.2 Die Annahme, dass Gott die Schöpfung nicht sich selbst überlässt, sondern sie beständig erhält, lenkt und umsorgt, bildet kein Sondergut der reformierten Theologie. Der Vorsehungsglaube stellt christliches Gemeingut dar. Generationen von Christinnen und Christen vertrauten in guten wie in schlechten Zeiten darauf, dass Gott das Geschehen auf Erden herrlich regiert und alles zu einem guten Ende führt. Der Vorsehungsglaube war fester Bestandteil der Volksfrömmigkeit3 und der kirchlichen Lehre. Dass der Mensch keinen Schicksalssternen unterworfen und ohnmächtig ausgeliefert sei, 1
Vgl. J. Calvin, Institutio Christianae Religionis, I, 16, 1; zitiert nach: J. Calvin, Unterricht in der christlichen Religion Institutio Christianae Religionis. Nach der letzten Ausgabe von 1559 übers. und bearb. von O. Weber. Im Auftrag des Reformierten Bundes bearb. und neu hrsg. von M. Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 3 2012, 103. 2 Vgl. ebd., 104 [= I, 16, 2]. 3 Vgl. das bekannte Lied: „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“, in: Gotteslob. Katholisches Gebet- und Gesangbuch. Ausgabe für die Diözese Bozen-Brixen, hrsg. von den (Erz-)Bischöfen Deutschlands und Österreichs und dem Bischof von Bozen-Brixen, Stuttgart 2013, 460 [Nr. 392]: „Lobe den Herren,
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wird bereits im 6. Jahrhundert auf der 1. Synode von Braga kirchlich festgeschrieben.4 Auf das Bekenntnis, dass „der eine Gott […] der Schöpfer, Erschaffer, Leiter und Lenker ist von allem Körperlichen und Geistigen, Sichtbaren und Unsichtbaren“, verpflichtet man im 8. Jahrhundert die Waldenser.5 In dieser Spur formuliert das Zweite Vatikanische Konzil mit großer Selbstverständlichkeit, dass die Welt dazu bestimmt sei, „nach Gottes Ratschluss umgestaltet zu werden und zur Vollendung zu gelangen.“6 Seit einiger Zeit ist es in Theologie und Kirche relativ still um die Vorsehung geworden. Das Vorsehungskonzept gilt vielen als Problem- und Sanierungsfall. Ob und wie man heute von göttlicher Vorsehung sprechen kann, ist für etliche Theologinnen und Theologen eine offene und dornige Frage. Im Folgenden werden mit wenigen groben Strichen zentrale Umbrüche in der Vorsehungslehre im 20. Jahrhundert rekonstruiert. Leitend bei der Problemskizze ist ein systematisches Anliegen: Welche Motive, Überlegungen und Argumente haben zur gegenwärtigen Krise der Vorsehungslehre geführt? Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf der Theologie im deutschsprachigen Raum, und dort vor allem auf der römisch-katholischen Theologie.
der alles so herrlich regieret, der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet, der dich erhält, wie es dir selber gefällt. Hast du nicht dieses verspüret?“ 4 Vgl. 1. Synode von Braga, Anathematismen gegen die Priscillianisten, und andere: „Wer glaubt, die menschlichen Seelen und Leiber seien Schicksalssternen unterworfen, wie die Heiden und Priscillian sagten, der sei mit dem Anathema belegt.“ Zitiert nach: H. Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von H. Hoping herausgegeben von P. Hünermann, Freiburg i. Br. 422009, 194 [DH 459]. 5 Vgl. Innozenz III., Brief „Eius exemplo“ an den Erzbischof von Tarragona (18.12.1208): „Auch glauben wir von Herzen und bekennen mit dem Mund, daß der Vater und der Sohn und der Heilige Geist, der eine Gott, von dem wir reden, der Schöpfer, Erschaffer, Leiter und Lenker ist von allem Körperlichen und Geistigen, Sichtbaren und Unsichtbaren.“ Zitiert nach: H. Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 4), 328 [DH 790]. 6 Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. 2; zitiert nach: H. Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse (s. Anm. 4), 1187 [DH 4302].
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2. Die Vorsehung(slehre) in der Schuldogmatik Die Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts erachtet die „Lehre von der allumfassenden und allwirksamen Fürsorge der göttlichen Weltregierung“ als „ein Fundamentaldogma des Christentums“, das „die unentbehrliche Grundlage […] aller wahren Frömmigkeit“ bilde.7 Tatsache und Wirksamkeit der Vorsehung stehen für die Schultheologie außer Zweifel. Bei der Lehre von der Vorsehung Gottes handle es sich um eine „von der Vernunft so klar bewiesene, in der heiligen Schrift so nachdrücklich gelehrte, von der Tradition so einmüthig [sic!] bezeugte, in der beständigen Lehrverkündigung, im ganzen Leben, in der Sprache und in der Liturgie der Kirche so deutlich ausgeprägte, in dem religiösen Bewusstsein der Gläubigen so lebendige Lehre“8. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Beweise für die Existenz der göttlichen Vorsehung. Neben dem einschlägigen Schriftund Traditionsbefund vermöge die Vernunft „auf doppelte Weise des Waltens der göttlichen Vorsehung gewiss zu werden“: erstens a posteriori, indem sie aus der in der Welt vorfindlichen „Ordnung, Zweckmäßigkeit und Einheit das Dasein eines die Welt nach bestimmten Gesetzen regierenden, unendlich vollkommenen intelligenten Wesens erschließt“9. Und zweitens a priori, „indem sie, das Dasein Gottes voraussetzend, aus der unendlichen Weisheit, Güte und Macht der ersten Ursache mit Nothwendigkeit [sic!] folgert, dass Gott sowohl den einzelnen geschaffenen Dingen ihren besonderen Zweck, wie auch allen insgesammt [sic!] ein gemeinsames Endziel anwies und sie mit den zur Erreichung dieses Zieles geeigneten Mitteln ausstattete“10. Als dritter, indirekter Beweis wird der „Beweis der deductio ad absurdum“ ins Feld geführt, demzufolge „die Verwerfung des Glaubens an die göttliche Fürsorge alle Religion und darum auch das Fundament der menschlichen Gesellschaft untergräbt“11.
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J. Schröder, Art. Vorsehung, göttliche, in: Kirchenlexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hülfswissenschaften, Bd. 12, Freiburg i. Br. 2 1901, 1097–1113, 1108. 8 Ebd., 1107f. 9 Ebd., 1101. 10 Ebd. 11 Ebd., 1102.
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Damit bleibt die Schuldogmatik weitgehend in den im Mittelalter, etwa von Thomas von Aquin12, vorgespurten Bahnen. Unter Vorsehung (providentia) versteht die Theologie der Schule Gottes ewigen Plan der Hinordnung der Dinge zu ihrem Ziel, besonders zu ihrem letzten und höchsten Ziel, das in der Verherrlichung Gottes besteht. Von der Vorsehung wird die göttliche Weltregierung (gubernatio mundi) unterschieden. Letztere bezeichnet die in der Zeit sich abspielende Ausführung des ewigen Weltplans.13 Die göttliche Vorsehung erstreckt sich nach Ansicht der Schultheologie auf die ganze geschaffene Welt; auch die Übel in der Welt fallen unter ihre Ordnung.14 Mit ihrer Unmittelbarkeit zum Gegenstand, ihren vielfältigen Differenzierungen15 und ihrer abgewogenen Darstellung erweckt die Schuldogmatik den Eindruck, das Phänomen der Vorsehung umfassend analysiert und geklärt zu haben. An der Selbstverständlichkeit, mit der Vorsehung vorausgesetzt wird, ändert sich in der römisch-katholischen Theologie bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil wenig. Noch Karl Rahner und Herbert Vorgrimler bestimmen am Vorabend des Konzils die Vorsehung als „den Entwurf der geschaffenen Welt“, durch den Gott „in seiner Ewigkeit den Lauf der Welt u[nd] ihrer Geschichte u[nd] darin die
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Vgl. T. von Aquin, Summa theologiae I 103, 1: Laut Thomas kann die These, dass es keine gubernatio mundi gebe und alles auf Erden sich zufällig ereigne, unmöglich wahr sein, und zwar erstens ex eo quod apparet in ipsis rebus, und zweitens ex consideratione divinae bonitatis. Denn: Dass in der Natur immer oder doch meistens etwas Besseres bzw. das Bessere entstehe, wäre ohne die Annahme einer Vorsehung unerklärlich, welche die Naturdinge auf das Ziel des Guten hinordne. Seine eigene Güte (bonitas) dränge Gott zudem dazu, das Geschaffene zur Vollendung zu führen. Als Inbegriff der Vollkommenheit beabsichtige Gott für seine Geschöpfe stets das Beste. 13 Vgl. J. Pohle, Lehrbuch der Dogmatik, Bd. 1, neubearbeitet von J. Gummersbach, Paderborn 101952, 515 –523, bes. 521; F. Diekamp, Katholische Dogmatik nach den Grundsätzen des heiligen Thomas, Bd. 1, Münster 111949, 229 –233. 14 Zur Integration der physischen und moralischen Übel in die Vorsehungslehre vgl. F. Diekamp, Katholische Dogmatik, Bd. 1 (s. Anm. 13), 231–233. 15 Unterschieden wird zwischen a) providentia generalis, specialis und specialissima, b) providentia ordinaria und extraordinaria sowie c) providentia naturalis und supernaturalis. Zur Terminologie des Vorsehungstraktats in der Schulphilosophie und -theologie vgl. U. L. Lehner, Kants Vorsehungskonzept auf dem Hintergrund der deutschen Schulphilosophie und -theologie (Brill’s Studies in Intellectual History 149), Leiden 2007, 15 –21.
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menschliche Heilsgeschichte zu dem in seiner Prädestination vorauserfaßten u[nd] -gewollten Ziel“16 leitet. Dieser Entwurf, „der erst das Ganze der Welt u[nd] in ihm alles einzelne endgültig sinnvoll macht, enthüllt sich der Kreatur erst eigentlich in der Vollendung.“17 Dass es einen „sinnhaften Plan“ gibt, „durch den eine Welt gegeben ist, in der alles an allem hängt“18, steht dabei außer Frage.
3. Das Vorsehungsdenken in der Krise Inzwischen haben sich die theologischen Plausibilitäten langsam aber merklich verschoben. Die Vorsehung(slehre) ist in der gegenwärtigen Theologie zum Problem geworden. Die einstige Zuversicht, dass Gott das Ziel, das er sich gesetzt hat, trotz aller Durchkreuzungsversuche der Menschen sicher erreichen wird, dass die menschliche Geschichte sich unaufhaltsam „dem von Gott bestimmten Endziel entgegen[bewegt]“19, ist massiven Zweifeln in Bezug auf Gottes Weltregiment gewichen. Regiert Gott wirklich alles, was er erschaffen hat? Ist Gott tatsächlich der höchste und unumschränkte Herr aller Dinge?20 Hat alles Geschehen einen (tieferen) Sinn? Ist der Eindruck, dass vieles auf Erden drunter und drüber geht und manches völlig schiefläuft, bloß der begrenzten Perspektive des Menschen geschuldet? Müssten wir nur „das ganze Bild sehen, wie dies […] die Heiligen im Himmel tun“, um besser zu verstehen, „wie all die Teile im Plan der Vorsehung Gottes zusammenpassen“?21 Ist es allein eine Frage der Zeit, bis die Vorsehung, „die uns oft so rätselhaft in diesem Leben vorkommt“, am Ende „ihre Wege offenlegen und rechtfertigen“ wird?22 16
K. Rahner/H. Vorgrimler, Kleines theologisches Wörterbuch, Freiburg i. Br. 1961, 380. 17 Ebd. 18 K. Rahner, Art. Vorsehung. II. Dogmatisch, in: LThK2 10 (1965) 887– 889, 889. 19 M. Schmaus, Der Glaube der Kirche, Bd. 3: Gott der Schöpfer, St. Ottilien 2 1979, 147. 20 Vgl. F. Diekamp, Katholische Dogmatik, Bd. 1 (s. Anm. 13), 260. 21 A. Dulles, Göttliche Vorsehung und das Geheimnis menschlichen Leidens, in: IKaZ 37 (2008), 63 –74, 71. 22 R. Kocher, Herausgeforderter Vorsehungsglaube. Die Lehre von der Vorsehung im Horizont der gegenwärtigen Theologie, St. Ottilien 21999, 339.
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3.1 Das naturwissenschaftliche Weltbild der Neuzeit Die Säkularisierung des abendländischen Wirklichkeitsverständnisses in der Neuzeit stellt eine erste Erschütterung des Vorsehungsdenkens dar. Nach traditioneller Lehrauffassung lässt Gott in der Regierung der Welt auch geschaffene Ursachen mitwirken. „Gott regiert die Welt, wie ein König, in erster Linie durch seine Gesetze und seine menschlichen Stellvertreter“23. Die Vorsehung bedient sich der Naturgesetze. Nicht nur in der Natur, sondern auch in Kultur und Geschichte sahen die Glaubenden die Hand Gottes im Spiel. „Heute nennen auch gläubige Menschen, wenn sie das Warum und Woher eines Ereignisses erklären, normalerweise weder Gott noch ein unpersönliches Schicksal, das verfügte, dass etwas so kam, wie es eben kommen musste. Man verweist statt dessen auf die komplexen Zusammenhänge, in denen wir uns bewegen und die den Lauf der Dinge beeinflussen“24. Im Letzten mag das innerweltliche Geschehen „auf (einen) Gott zurückzuführen sein. Aber vorerst reicht ein weltimmanenter Ansatz völlig aus, um das ‚Geschick‘ dieser Welt zu erklären und so konstruktiv wie möglich mit ihm umzugehen. Gott muss man hier noch nicht – oder nicht mehr? – bemühen.“25 In einer Gesellschaft, in der auch viele Gläubige davon ausgehen, dass es auf Erden stets mit rechten Dingen zugeht, hat die Arbeitshypothese „Gott“ ausgedient. Nur noch wenige rechnen mit Gottes Vorsehung. Der weitverbreitete praktische Atheismus und Deismus erwarten von Gott im Diesseits kaum noch etwas.26 „Was hier erreicht werden kann, muss der Mensch erreichen.“27 Wenn es hart auf hart komme, 23
J. Pohle, Lehrbuch der Dogmatik, Bd. 1 (s. Anm. 13), 522. J. Knop, Freiheit – Sorge – Vorsehung. Gottes Wille zwischen Himmel und Erde, in: IKaZ 45 (2016) 49 –59, 49. 25 Ebd. 26 Siehe auch die theologische Gegenwartsanalyse, welche die Schwierigkeiten für eine heutige Rede vom persönlichen Handeln Gottes in Welt und Geschichte benennt, bei C. Böttigheimer, Wie handelt Gott in der Welt? Reflexionen im Spannungsfeld von Theologie und Naturwissenschaft, Freiburg i. Br. 2013. Stichpunktartig seien genannt: modernes Verständnis der Welt als profane Wirklichkeit; Vormarsch eines deistischen Gottesbildes; Phänomen des Gottvermissens; mangelnder Erfahrungsbezug des christlichen Glaubens etc. 27 M. Striet, Theologie im Zeichen der Corona-Pandemie. Ein Essay, Ostfildern 2021, 93. 24
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sei der Mensch ganz auf sich allein gestellt.28 Dietrich Bonhoeffer hat das moderne Lebensgefühl hellsichtig vorweggenommen: Wir müssen leben „als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden.“29 Die Krise des Vorsehungsdenkens verweist auf eine tieferliegende Problematik. Zur Diskussion und zur Disposition steht letztlich die Möglichkeit des Handelns Gottes in der Welt.30 Aus unterschiedlichen Gründen wird ein besonderes innerweltliches Handeln Gottes heute für unmöglich erachtet.31 „Wer […] im derzeitigen akademischen Klima die Möglichkeit des Handelns Gottes in der Welt verteidigt, steht schnell unter Verdacht, ein Ewiggestriger zu sein, der nicht nur den durch die Aufklärung initiierten Ausbruch des Menschen aus seiner ‚geistigen Unmündigkeit‘, sondern ebenso den daraus entsprungenen ‚Siegeszug‘ der empirischen Wissenschaften verschlafen habe.“32
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Vgl. J. Negel, Theologie der Lebenskunst – oder: Was das Coronavirus mit dem lieben Gott zu tun hat. Theologische Mucken und sapientiale Grillen aus gegebenem Anlass, in: IKaZ 50 (2021), 260 –271, bes. 263. 29 D. Bonhoeffer, Brief an Eberhard Bethge (16. 7. 1944), in: C. Grimmels/E. Bethge/R. Bethge in Zusammenarbeit mit I. Tödt (Hrsg.), Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft (Dietrich Bonhoeffer Werke 8), Gütersloh 1998, 526 –535, 533. 30 Vgl. B. P. Göcke, The Many Problems of Special Divine Action, in: EJPR 7 (2015), 23 –36; C. Böttigheimer, Die Frage nach dem Handeln Gottes in der Welt als elementares Glaubensproblem, in: Scientia et Fides 4 (2016), 101–113. 31 Zu den Einwänden gegen die Möglichkeit des Handelns Gottes vgl. K. von Stosch, Gott – Macht – Geschichte. Versuch einer theodizeesensiblen Rede vom Handeln Gottes in der Welt, Freiburg i. Br. 2006, 89 –152. Zu den Theorien zum Handeln Gottes in der Geistesgeschichte vgl. H. C. Schmidbaur, Gottes Handeln in Welt und Geschichte. Eine trinitarische Theologie der Vorsehung (Münchener Theologische Studien 63), St. Ottilien 2003, 222–338. Zu Gottes innerweltlichem Wirken in exemplarischen Interpretationen der christlichen Tradition vgl. C. Büchner, Wie kann Gott in der Welt wirken? Überlegungen zu einer theologischen Hermeneutik des Sich-Gebens, Freiburg i. Br. 2010, 229 –300. 32 B. P. Göcke/R. Schneider, Gibt es einen prinzipiellen Konflikt von Theologie, Philosophie und Naturwissenschaft? Eine kurze Analyse am Beispiel des Handelns Gottes in der Welt, in: ders./ders. (Hrsg.), Gottes Handeln in der Welt. Probleme und Möglichkeiten aus Sicht der Theologie und analytischen Religionsphilosophie, Regensburg 2017, 7–38, 7.
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3.2 Neuzeitliche Erkenntniskritik Nicht nur die Frage, was man Gott an Handlungsmöglichkeiten zutraut, sondern auch, wie der Mensch seine eigenen Erkenntnisvermögen einschätzt, hat dem Vorsehungsdenken zugesetzt. Kann der Mensch Gott in die Karten schauen? Darf eine Vorsehungslehre beanspruchen, das Weltregiment Gottes zu überschauen und über einen Universalschlüssel zur Erschließung jedes Geschehens zu verfügen?33 Kann angesichts all der Katastrophen in der Menschheitsgeschichte noch von einem (göttlichen) Plan des Weltgeschehens gesprochen werden? Und falls ja, ist ein solcher Plan Gegenstand unseres Verstehens? Theolog:innen wie Otto Hermann Pesch bestreiten dies.34 Zudem: Verfügen wir über „Regeln, die uns ein Urteil darüber erlauben, ob und mit welchem Recht man ein Seebeben, bei dem Tausende von Menschen umkommen, gottgewollt oder gar gut nennen dürfte“35? An die Stelle der früheren Gewissheit, dass Gott regiert, ist in neueren theologischen Entwürfen eine gewisse Verlegenheit getreten. Diese Verlegenheit hat unterschiedliche Gründe. Sie kann „Ausdruck einer theologisch begründeten Zurückhaltung gegenüber dem Geheimnis Gottes sein und der Verborgenheit seines Handelns im Kosmos, in der Biosphäre, in der Geschichte Rechnung tragen, wohl 33
Zu diesen berechtigten Anfragen vgl. W. Hüffmeier, Deus providebit? Eine Zwischenbilanz zur Kritik der Lehre von Gottes Vorsehung, in: I. U. Dalferth/J. Fischer/H.-P. Großhans (Hrsg.), Denkwürdiges Geheimnis. Beiträge zur Gotteslehre (FS E. Jüngel), Tübingen 2004, 237–258. Auf die erkenntnistheoretische Schwierigkeit einer Vorsehungslehre, die auf eine höhere, quasi göttliche Perspektive rekurriert, verweist auch D. Fergusson, The Theology of Providence, in: Theology Today 67 (2010), 261–278, bes. 267. 34 Vgl. O. H. Pesch, Theologische Überlegungen zur „Vorsehung Gottes“ im Blick auf gegenwärtige natur- und humanwissenschaftliche Erkenntnisse, in: F. Böckle/ F.-X. Kaufmann/K. Rahner/B. Welte (Hrsg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Bd. 4, Freiburg i. Br. 1982, 74 –119, 88: Laut Pesch kann „nicht mehr von einem ‚Plan‘ des Weltgeschehens gesprochen werden […], jedenfalls nicht von einem solchen, der auch nur im mindesten Gegenstand unseres Verstehens mit jenen Folgen religiösen Selbstverständnisses und gottverbundenen Lebensvollzugs sein könnte, die in der Tradition dem christlichen Vorsehungsglauben entsprangen.“ 35 C. Link, Die Krise des Vorsehungsglaubens. Providenz jenseits von Fatalismus, in: Evang. Theol. 65 (2005), 413 – 428, 416.
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wissend, dass ein Satz, der Gottes Handeln in diesen Dimensionen zu identifizieren versucht, sich nur zu rasch vergreift.“36 Vorsehung dürfe weder mit einer Philosophie bzw. Theologie der Geschichte verwechselt noch damit identifiziert werden; zwischen Gottes eigener Vorsehung und menschlichen Konzeptionen der Vorsehung müsse streng unterschieden werden, so der cantus firmus neuerer Entwürfe.37 3.3 Krise der theologischen Geschichtsinterpretation Neben den erwähnten erkenntnistheoretischen Reflexionen haben auch geschichtsphilosophische, bibeltheologische und nicht zuletzt konkrete historische Erfahrungen zu einer Neuformatierung der Vorsehungslehre geführt. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird „die Aufgabe jedes Geschichtsforschers“ in der Schuldogmatik dahingehend bestimmt, „die Weltgeschichte als die Verwirklichung des ewigen Weltplanes, der Verherrlichung Gottes durch die Nationen, aufzufassen, und in der Geschichte der Menschheit und der Völker den Finger Gottes zu erkennen“38. Sukzessive gerät die traditionelle Auffassung, wonach „der allgemeine Sinn der Weltgeschichte […] eindeutig [ist]“39, unter Rechtfertigungsdruck. Zum einen aufgrund der Einsicht, dass die Rede von „der“ Geschichte ein relativ spätes, modernes Phänomen ist. „Es waren die Denker des 18. Jahrhunderts, die die Vielfalt von Geschichten zur überindividuellen Makrostruktur Geschichte sich formieren ließen.“40 Auch Vorbehalte gegenüber großen Entwürfen mit Anspruch auf universale Erklärkraft spielten in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Thematisiert und problematisiert wurde zunehmend der umfassende Sinnzusammenhang, den der traditionelle Vorsehungsglaube für die 36
M. Beintker, Die Frage nach Gottes Wirken im geschichtlichen Leben, in: ZThK 90 (1993), 442– 461, 442. 37 Zu dieser Forderung vgl. K. Barth, Die kirchliche Dogmatik, Bd. III/3: Die Lehre von der Schöpfung, Zürich 31979 [11950], 19 –29. 38 J. Schröder, Art. Vorsehung, göttliche (s. Anm. 7), 1111f. 39 G. Gloege, Vom Sinn der Weltgeschichte. Überlegungen zum Thema „Heilsgeschehen und Weltgeschichte“, in: ders., Theologische Traktate, Bd. 1: Heilsgeschehen und Welt, Göttingen 1965, 27–52, 43 [Hervorhebung im Original]. 40 M. Beintker, Die Frage nach Gottes Wirken im geschichtlichen Leben (s. Anm. 36), 444f.
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Individual- und Weltgeschichte bereitstellte. Man beanstandete insbesondere, dass die Dogmatik den Providentialglauben „zu einem förmlichen Entwurf theologischer Welterklärung ausgebaut“41 habe. Demgegenüber wurde darauf gepocht, dass „dieser ganze Zusammenhang […] uns unzugänglich ist“42. „Der Kirche ist das Welthandeln Gottes ebenso unheimlich verborgen wie der Welt selbst.“43 Von exegetischer Seite machte man auf die „Reserven gegenüber der Rede von der Vorsehung“44 in der Bibel selbst aufmerksam. Zudem: Die Geschichte sei „nicht ein Ort des geschichtsmächtigen Handelns Gottes, sondern ein Ort menschlichen Versagens und menschlicher Schuld.“45 Ein unvoreingenommener und nüchterner Blick auf den Weltlauf zeige, dass man eben nicht davon ausgehen könne, „Gott lenke oder verursache die Geschichte“. „Die Geschichte vollzieht sich weitgehend gegen seinen Willen und gegen sein Gebot.“46 Schwer zugesetzt hat dem Vorsehungsdenken zudem der Missbrauch des Vorsehungskonzeptes. Einen unrühmlichen Höhepunkt markierte die missbräuchliche Verwendung des Begriffs der Vorsehung im Dritten Reich.47 Die Scheu, die Vorsehungskategorie weiterhin zu verwenden, dürfte im deutschsprachigen Raum auch damit zu tun haben, dass wir „gebrannte Kinder einer pseudoprophetischen Geschichtsschau [sind], die in verhängnisvoller Weise Gottes Willen und Wirken mit menschlichen, insbesondere politischen, Wünschen und Projekten gleichsetzte.“48
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C. Link, Die Krise des Vorsehungsglaubens (s. Anm. 35), 414. C. H. Ratschow, Das Heilshandeln und das Welthandeln Gottes. Gedanken zur Lehrgestaltung des Providentia-Glaubens in der evangelischen Dogmatik, in: NZSTh 1 (1959), 25 – 80, 71. 43 Ebd., 72. 44 F.-L. Hossfeld, Wie sprechen die Heiligen Schriften, insbesondere das Alte Testament, von der Vorsehung Gottes? in: T. Schneider/L. Ullrich (Hrsg.), Vorsehung und Handeln Gottes (Quaestiones disputatae 115), Freiburg i. Br. 1988, 72– 93, 90. 45 C. Böttigheimer, Wie handelt Gott in der Welt? (s. Anm. 26), 207. 46 C. Link, Die Krise des Vorsehungsglaubens (s. Anm. 35), 424. 47 Vgl. R. Kocher, Herausgeforderter Vorsehungsglaube (s. Anm. 22), 47– 68; M. Rissmann, Hitlers Vorsehungsglaube und seine Wirkung, in: IKaZ 31 (2002), 358 –367. 48 M. Beintker, Die Frage nach Gottes Wirken im geschichtlichen Leben (s. Anm. 36), 442. 42
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3.4 Problematisierung des christlichen Charakters der Vorsehungslehre Wie steht es um das biblische Fundament der Vorsehungslehre? Die Debatte, die sich an dieser Frage in der Theologie entzündete, führte zu einer weiteren Destabilisierung des klassischen Lehrstücks der Vorsehungslehre.49 Über die Konfessionsgrenzen hinweg wurden der Mangel an biblischer Fundierung und der starke Einfluss der griechischen Philosophie auf die klassische Providenzlehre als Problem identifiziert.50 „[D]ie klassischen providentia- und gubernatiomundi-Konzepte [seien] in ihrer Wurzel bibel-extern“ und würden aus natürlicher Frömmigkeit stammen.51 Vor allem Karl Barth beanstandete, dass die (altprotestantische) Theologie „es fast auf der ganzen Linie unterlassen [habe], nach dem christlichen Sinn und Charakter der Vorsehungslehre […] auch nur zu fragen“52. Viel zu lange habe sich die Vorsehungslehre in der „Schiene eines allgemeinen Theismus“53 bewegt und nicht hinreichend reflektiert, was Vorsehung und Herrschaft Gottes mit Jesus Christus und dem Glauben an das Evangelium von Jesus Christus zu tun hätten.54 Viele neuere Entwürfe haben sich Barths Kritik zu Herzen genommen und arbeiten den Zusammenhang zwischen dem Vorsehungsglauben und dem Christusglauben stärker heraus.55
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Befeuert wurde die Debatte durch G. Klein, ‚Über das Weltregiment Gottes‘: Zum exegetischen Anhalt eines dogmatischen Lehrstücks, in: ZThK 90 (1993), 251–283. Klein spricht dem klassischen Vorsehungslehrstück jegliche eindeutige exegetische Basis ab. 50 Zu den Wurzeln des Vorsehungsglaubens vgl. A. Schilson, Art. Vorsehung/Geschichtstheologie, in: P. Eicher (Hrsg.), Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, Bd. 4, München 1985, 252–262, bes. 252–256. 51 D. Ritschl, Sinn und Grenzen der theologischen Kategorie der Vorsehung, in: ZDT 10 (1994), 117–133, 120. 52 K. Barth, Die kirchliche Dogmatik III/3 (s. Anm. 37), 34. 53 Ebd., 37. 54 Dass „den Entwürfen der Tradition eine einsichtige Verbindung mit dem neutestamentlichen Christuszeugnis eigentlich nie gelungen ist“, bemängelt auch C. Link, Die Krise des Vorsehungsglaubens (s. Anm. 35), 418. 55 Vgl. N. Guillemette, How does Providence Provide? in: Landas 12 (1998), 86 –103; R. Kühschelm, Art. Vorsehung. I. Biblisch-theologisch, in: LThK3 10 (2001), 895 – 897.
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3.5 Theodizeeproblem Der wohl größte Stein des Anstoßes im Zusammenhang mit der Lehre von der providentia Dei war und ist die Theodizeeproblematik. „Wenn Gott das Geschehen in der Welt vorhersieht oder plant, in dieser Welt handelt und in irgendeiner Weise darin wirkt – wie ist dann das Böse zu erklären, das, was eindeutig dem widerspricht, was Christen als Gottes offenbarten Willen glauben?“56 Auf den Kummer, den der denkende Mensch fühlt, „wenn er die Übel überschlägt, die das menschliche Geschlecht so sehr, und (wie es scheint) ohne Hoffnung eines Bessern, drücken“, nämlich „Unzufriedenheit mit der Vorsehung, die den Weltlauf im ganzen regiert“, hatte bereits Immanuel Kant aufmerksam gemacht.57 Auch der zeitgenössischen Theologie bereitet das Vorsehungskonzept Kopfzerbrechen: „Wenn man unter Vorsehung versteht, dass Gott die Welt zum Guten lenkt, so erscheint dieser Begriff heute unhaltbar und skandalös. Dass eine rationale Weltordnung bestehe, die von Gott zum Wohl der Menschheit gewollt werde und die Geschichte auf ein Ziel hinsteuere, erscheint unwahrscheinlich.“58 Angesichts der „Katastrophen in Natur und Geschichte“ sei evident, „dass es keine Vorsehung mit objektiv beiweisbarer [sic!] Kausalität und Teleologie gibt.“59 Die Betonung der Kluft zwischen Providenzlehre und Realitätserfahrung ist ein wiederkehrendes Moment in neueren Arbeiten. Durch sie zieht sich wie ein roter Faden die Forderung nach einer theodizeesensiblen Gottesrede.60 Einen Ernst- und Testfall dafür 56
L. Teuchert, Gottes transformatives Handeln. Eschatologische Perspektivierung der Vorsehungslehre bei Romano Guardini, Christian Link und dem „Open theism“ (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 161), Göttingen 2018, 15. 57 I. Kant, Mutmasslicher Anfang der Menschengeschichte, A 22f., in: I. Kant, Werke, Bd. 11: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, hrsg. von W. Weischedel, Frankfurt a. M. 1964, 83 –102, 98f. 58 O. Boulnois, Unser Gottesbild und die Vorsehung, in: IkaZ 31 (2002), 303 –323, 303. 59 G. Kraus, Welt und Mensch. Lehrbuch zur Schöpfungslehre (GzD 2), Frankfurt a. M. 1997, 240. 60 Vgl. C. Link, Die Krise des Vorsehungsglaubens (s. Anm. 35), 417– 421; R. Kocher, Herausgeforderter Vorsehungsglaube (s. Anm. 22), 299 –341; K. von Stosch, Gott – Macht – Geschichte (s. Anm. 31). Ganz im Zeichen der existentiellen Frage, wie der Akt des Vertrauens zu Gott angesichts der Krisenanfälligkeit des Le-
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stellt die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Bittgebet und Gottes Vorsehung dar.61
4. Von Gottes Vorsehung trotz allem reden? Eine Zwischenbilanz Die Krise des Vorsehungsdenkens zeigt sich insbesondere an drei neuralgischen Punkten. Diese sind, wie Reinhold Bernhardt in seiner großen Studie herausgearbeitet hat, die Natur, die Geschichte und die mit den humanitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts potenzierte Theodizeefrage.62 „Die Vorsehungsvorstellung wurde in ihrer Geschichte in drei Bezugsrahmen expliziert: im Blick auf die Sinndeutung der Natur in ihrer Ordnung und Regelmäßigkeit, der Weltgeschichte und der Geschichte des Volkes Gottes und des individuellen Ergehens, besonders seiner biographischen Auf- und Umbrüche.“63 Die Krise des gegenwärtigen Vorsehungsdenkens kann man einerseits mit Bernhardt darin begründet sehen, dass theologische Deutungsmuster aus allen diesen Bereichen zurückgedrängt wurden und werden.64 Andererseits kann man im Anschluss an Heinrich Ott die Krise auch daran festmachen, dass die Theologie große Mühe hat, drei zentrale Fragen zu beantworten. Erstens die „Frage nach dem Verhältnis Gottes zur Natur: wie kann von erhaltendem Handeln Gottes gesprochen werden, wenn Natur nach rational einsehbaren Gesetzen abläuft?“ Zweitens „die Frage nach dem Verhältnis Gottes zur Geschichte bzw. zur menschlichen Freiheit: wie kann von einem Mitwirken Gottes gesprochen werden, wenn Geschichte durch menschliche Entscheidungen bestimmt wird, die bens gelingen kann, steht die Studie A. von Scheliha, Der Glaube an die göttliche Vorsehung. Eine religionssoziologische, geschichtsphilosophische und theologiegeschichtliche Untersuchung, Stuttgart 1999. 61 Vgl. R. Biersack, Bittgebet und Gottes Vorsehung. Eine systematisch-theologische Studie zur Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit der Bitte an Gott (Pallottinische Studien zu Kirche und Welt 13), Sankt Ottilien 2015. 62 Vgl. R. Bernhardt, Was heißt „Handeln Gottes“? Eine Rekonstruktion der Lehre von der Vorsehung, Gütersloh 1999, 19 –24. 63 R. Bernhardt, Art. Vorsehung. A. Systematische Perspektiven, in: P. Eicher (Hrsg.), Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe. Neuausgabe, Bd. 4, München 2005, 430 – 435, 433. 64 Vgl. ebd.
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Freiheit voraussetzen?“ Und drittens die „Frage nach dem Verhältnis Gottes zum Negativen: wie kann von Lenkung Gottes gesprochen werden, wenn in Natur und Geschichte sichtlich so viel Negatives geschieht?“65 Die Antworten und Lösungsansätze können und müssen hier nicht im Detail dargestellt werden. Ich verweise hierzu auf die einschlägigen Untersuchungen.66 Im Folgenden werden einige Tendenzen und Charakteristika neuerer Entwürfe zur Vorsehungslehre im deutschsprachigen Raum überblicksartig skizziert. 4.1 Von der theologischen Welterklärung zur spirituell-geistlichen Trostlehre Neuere Entwürfe zur Vorsehungslehre verstehen sich zumeist nicht mehr als eine theologische Welterklärung. Sie spekulieren weder über einen Weltenplan Gottes noch versuchen sie alles Faktische theologisch zu rechtfertigen, indem sie es auf den Willen Gottes zurückführen. Die Rede von der Vorsehung soll keine Bestätigungs- oder Affirmationslehre, sondern eine Trostlehre sein.67 An Gottes Vorsehung zu glauben bedeute, die eigene Situation im Licht der Verheißungen Gottes zu interpretieren.68 Wer mit Gottes Vorsehung rechne, vertraue darauf, dass Gott seine geliebten Geschöpfe zur Teilhabe an seiner Liebe führen möchte.69 Dass „uns nichts scheiden kann von der Mensch 65 H. Ott, Die Antwort des Glaubens. Systematische Theologie in 50 Artikeln, unveränd. Nachdr. der 3., überarb. und erw. Aufl. hrsg. von K. Otte, Stuttgart 1999, 148. 66 Vgl. R. Bernhardt, Was heißt „Handeln Gottes“? (s. Anm. 62); R. Kocher, Herausgeforderter Vorsehungsglaube (s. Anm. 22); L. Teuchert, Gottes transformatives Handeln (s. Anm. 56). 67 Vgl. M. Weinrich, Gottes Einstehen für seine Schöpfung. Aspekte der Vorsehungslehre von Karl Barth, in: U. Link-Wieczorek/U. Swarat (Hrsg.), Die Frage nach Gott heute. Ökumenische Impulse zum Gespräch mit dem ‚Neuen Atheismus‘. Eine Studie des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses (DÖSTA) (Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 111), Leipzig 2017, 228 –245, bes. 239. 68 Vgl. D. Ritschl, Sinn und Grenze der theologischen Kategorie der Vorsehung (s. Anm. 51), 132. 69 Vgl. G. Essen, Gottes Treue zu uns. Geschichtstheologische Überlegungen zum Glauben an die göttliche Vorsehung, in: IKaZ 36 (2007), 382–398, 393. Siehe auch J. Knop, Freiheit – Sorge – Vorsehung (s. Anm. 24), 55: Bei der Rede von Vorsehung gehe es „zunächst und zuvörderst um gläubiges Vertrauen in das geschichtliche Wahrwerden der Verheißungen Gottes“.
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gewordenen Liebe Gottes (Röm 8,35)“, ist etwa für Christian Link „der unverlierbare Kern des Vorsehungsglaubens.“70 4.2 Vorsehung freiheitstheoretisch gedacht Im deutschsprachigen Raum wird die Vorsehungslehre vielfach im Kontext einer Theologie der Freiheit konzipiert. Die Geschichte Gottes mit den Menschen wird als Freiheitsgeschichte gedacht. Damit verbunden ist ein „Paradigmenwechsel weg vom überkommenen teleologisch-ordinativen Denken hin zu einem heilsgeschichtlicheschatologischen Konzept“71. Der Schwerpunkt neuerer Untersuchungen liegt auf der speziellen, nicht auf der allgemeinen Vorsehung. Die providentia generalis bezog sich in der Tradition auf alle Geschöpfe, die providentia specialis hatte die Vernunftwesen und ihre Hinführung zum Endziel zum Gegenstand.72 Die gegenwärtige anthropozentrische Fokussierung der Vorsehungslehre verdankt sich einerseits dem außergewöhnlichen Stellenwert der Freiheitskategorie in der deutschen Theologie.73 Sie hat andererseits aber auch mit dem Bemühen um eine stärkere biblische Grundlegung der Vorsehungslehre zu tun. Bereits Romano Guardini hatte in seiner Auslegung von Mt 6,25 –33 darauf aufmerksam gemacht, dass es bei der Vorsehung letztlich um „das Werden des Reiches Gottes und des Menschen in ihm“74 gehe. 4.3 Von der mit unfehlbarer Sicherheit durchgeführten zur bedingten Weltregierung Für die Schuldogmatik stand noch fest: „Der Plan der göttlichen Vorsehung wird durch Gottes Weltregierung mit unfehlbarer Sicherheit durchgeführt.“75 Demgegenüber betonen neuere Ansätze, dass 70
C. Link, Die Krise des Vorsehungsglaubens (s. Anm. 35), 427. J. Knop, Freiheit – Sorge – Vorsehung (s. Anm. 24), 54. 72 Vgl. zu dieser klassischen Unterscheidung F. Diekamp, Katholische Dogmatik, Bd. 1 (s. Anm. 13), 229. 73 Vgl. T. Pröpper, Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg i. Br. 2001. 74 R. Guardini, Was Jesus unter Vorsehung versteht (Christliche Besinnung 1), Würzburg 1940, 16. 75 F. Diekamp, Katholische Dogmatik nach den Grundsätzen des heiligen Thomas, Bd. 2, zehnte, neubearb. Auflage hrsg. v. K. Jüssen, Münster 101952, 26. 71
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Gott mit der Freilassung der menschlichen Freiheit ein Risiko eingegangen sei, nämlich „das Wagnis einer offenen Geschichte mit den Menschen“76. In der deutschsprachigen Theologie wird „das Verhältnis zwischen Gott und Mensch“ hauptsächlich als „dialogisches Freiheitsverhältnis“ bestimmt, „in dem Gott allein mit den Mitteln der Liebe versucht, die Liebe des Menschen zu gewinnen“77. Gott habe sich selber dazu bestimmt, „sich von der menschlichen Freiheit bestimmen zu lassen, d. h. die Würde ihrer Zustimmungsfähigkeit zu achten und auf ihr Tun antwortend einzugehen“78. Ob Gott mit seiner Vorsehung somit erfolgreich ist, hängt nach diesem Verständnis entscheidend vom Menschen ab. Dass die Verwirklichung der göttlichen Vorsehung an Bedingungen geknüpft ist, hatte bereits Guardini vertreten.79 Und auch Christian Link unterstreicht, dass Paulus in Röm 8,28 „das ‚Eintreffen‘ und ‚Zum Ziel-Kommen‘ der Vorsehung […] unter das Vorzeichen, ja man darf fast sagen: unter die Bedingung einer zuvor schon bestehenden Beziehung“ stellt: „Er setzt als Subjekt seiner Gewissheit Menschen voraus, ‚die Gott lieben‘.“80 Welche Spielräume Gottes Vorsehung unter diesen Voraussetzungen noch hat, wird im Anschluss an die Prozesstheologie, den Offenen Theismus etc. unterschiedlich bestimmt.81 Gemeinsam ist vielen Entwürfen die Absage an einen abstrakten Allmachtsgedanken, der Gott alles zutraut. An die Stelle von Gott als absolutem Alleskönner setzen Theolog:innen heute zunehmend ein 76
G. Essen, Gottes Treue zu uns (s. Anm. 69), 395. K. von Stosch, Gott – Macht – Geschichte (s. Anm. 31), 23. 78 T. Pröpper, Evangelium und freie Vernunft (s. Anm. 72), 19. 79 Vgl. R. Guardini, Was Jesus unter Vorsehung versteht (s. Anm. 74), 9: „Die Vorsehung in ihrem vollen Sinne […] entfaltet sich erst, wenn zwischen Gott und dem glaubenden Menschen das heilige Einvernehmen der Sorge um das Reich eintritt. Dann, verheißt Jesus, ändert sich das Dasein dieses Menschen. Er braucht sich um Nahrung und Kleidung nicht mehr so zu sorgen ‚wie die Heiden‘ – das heißt jene, die bloß die Welt kennen und sonst nichts – sondern ein heiliges Walten umgibt ihn, und die Dinge tragen sich ihm gleichsam zu.“ 80 C. Link, Die Krise des Vorsehungsglaubens (s. Anm. 35), 425. 81 Vgl. J. Grössl, Gebet und Vorsehung im Offenen Theismus, in: GuL 89 (2016), 187–196. Reinhold Bernhardt plädiert dafür, Gottes Vorsehung nach dem Modell der ausstrahlenden Präsenz zu denken: R. Bernhardt, Das Handeln Gottes – Christliche Perspektiven, in: K. von Stosch/M. Tatari (Hrsg.), Handeln Gottes – Antwort des Menschen (Beiträge zur Komparativen Theologie 11), Paderborn 2014, 13 –34, bes. 31–34. 77
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anderes Verständnis von Macht und Allmacht. „Die höchste Macht erweist sich darin, dass sie gelassen genug sein kann, sich gänzlich aller Macht zu begeben; dass sie mächtig ist nicht durch Gewalt, sondern allein durch die Freiheit der Liebe, die noch im Zurückgewiesenwerden stärker ist als die auftrumpfenden Mächte der irdischen Gewalten.“82 Was Allmacht im christlichen Sinn besage, werde erst an der Krippe und am Kreuz deutlich.83 Gottes Allmacht sei „nicht absolutistisch, sondern relational zu verstehen.“84 „Theologische Sätze über die gubernatio mundi erhalten ihre eigentliche Kontur durch die Nägelmale des Gekreuzigten und Auferstandenen“85.
5. Asketische(re) Vorsehungslehre(n) Abschließend lässt sich festhalten: Die Vorsehungslehre hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Überblickt man die Neuaufbrüche im 20. und 21. Jahrhundert, so zeigen sich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen. Bei Autor:innen wie Wolfhart Pannenberg erfährt der klassische Vorsehungstraktat eine Eschatologisierung. Die Weltregierung sei nicht einfach ein feststehender Sachverhalt, sondern eine in der Geschichte zu verwirklichende Größe. Erst in der eschatologischen Zukunft werde Gottes Herrschaft vollendet sein. „Erst diese Zukunft wird vor aller Augen darüber entscheiden – und daher auch offenbar machen, – dass der Gott der Bibel nicht nur der Schöpfer, sondern auch der König der Welt ist, dem die Herrschaft über seine Schöpfung keineswegs entglitten ist, der sie vielmehr im Gang ihrer Geschichte immer schon ausgeübt hat.“86 Gegenüber der Schuldogmatik, die Gottes providentielles Handeln für offensichtlich, ja für bewiesen erachtete, ist neueren Entwürfen ein Zug zur reductio in mysterium eigen. Die göttliche Lenkung der Geschichte vollziehe sich im 82 J. Ratzinger, Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis. Mit einem neuen einleitenden Essay, München 112011, 138. 83 Vgl. ebd. 84 R. Bernhardt, Art. Vorsehung, in: EKL3 4 (1996), 1208 –1211, 1211. 85 M. Beintker, Die Frage nach Gottes Wirken im geschichtlichen Leben (s. Anm. 36), 449. 86 W. Pannenberg, Systematische Theologie. Gesamtausgabe, Bd. 2, Göttingen 2015, 72. Für eine eschatologische Perspektivierung der Vorsehungslehre plädiert auch Teuchert, Gottes transformatives Handeln (s. Anm. 56).
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Verborgenen.87 „Der Glaube an die Lenkung der Geschichte durch Gott“ sei „als Paradox durchzuhalten angesichts der Undurchschaubarkeit und besonders angesichts der Negativerscheinungen der Geschichte.“88 Charakteristisch für neuere Ansätze ist zudem eine pneumatologische Wende. Die Vorsehung sei „Walten des Geistes“89. Das Vorsehungswirken müsse „pneumatologisch als Wirken des Geistes Gottes“ verstanden werden, „dem nicht die Macht unbedingter Selbstdurchsetzung eigne, sondern die ‚Macht der Schwachheit‘ (in Anlehnung an 1 Kor 1,25, vgl. 2 Kor 12,9)“90. Des Weiteren lässt sich in rezenten Veröffentlichungen eine stärkere christologische Konzentration gegenüber der schultheologischen Providenzlehre feststellen. So versteht etwa Klaus P. Fischer „Jesus Christus als Ur-Gestalt der guten Fügung Gottes“91. An der Gestalt Jesu entzünde und nähre sich das christliche Vertrauen, „dass Gottes Macht auch die für den Menschen vorläufig undurchschaubaren Ereignisse seines Lebens zu einem Heilsgeschehen zusammen-fügt [sic!].“92 Wie unterschiedlich die Akzentsetzungen im Einzelnen auch ausfallen mögen, gemeinsam ist ihnen, dass sie großenteils auf eine asketische Vorsehungslehre hinauslaufen. Mit „asketisch“ meine ich, dass sie die Vollmundigkeit des traditionellen Vorsehungstraktats abbauen und sich auf das Wesentliche, das Herzstück des christlichen Vorsehungsglaubens, besinnen und beschränken wollen.93 Das Wesentliche und Unaufgebbare der providentia wird dabei unterschiedlich bestimmt. Dementsprechend sind die Abstriche, die gegenüber der klassischen Vorsehungslehre gemacht werden, unter-
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Zum Verborgenheitscharakter der Geschichtssteuerung Gottes (providentia occulta) vgl. G. Kraus, Welt und Mensch (s. Anm. 59), 248 –249. 88 Ebd., 248. Siehe auch P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. I/2, Berlin 81987, 309: „Der Glaube an die Vorsehung ist paradox. Er ist ein ‚Dennoch‘.“ 89 O. Boulnois, Unser Gottesbild und die Vorsehung (s. Anm. 58), 318. 90 R. Bernhardt, Art. Vorsehung. A. Systematische Perspektiven (s. Anm. 63), 434. 91 K. P. Fischer, Zufall oder Fügung? (Theologische Meditationen 47), Zürich 1977, 41. 92 Ebd. 93 Ich orientiere mich hier an der Forderung nach einer asketischen Trinitätslehre, vgl. O. H. Pesch, Katholische Dogmatik aus ökumenischer Erfahrung, Bd. 1/2: Die Geschichte der Menschen mit Gott. Theologische Anthropologie, Theologische Schöpfungslehre, Gottes- und Trinitätslehre, Ostfildern 2008, 678.
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schiedlich groß. Mitunter sind sie erheblich, wie etwa in einigen zeitgenössischen Freiheitstheologien. Um die autonome Freiheit des Menschen zu wahren und die Theodizeefrage zu entschärfen, wird das Wirken Gottes in der Welt stark eingeschränkt – mit der drohenden Konsequenz, dass der Glaube irrelevant erscheint für die Lösung existentieller Probleme.94 In der englischsprachigen Debatte wird vielfach ein robusteres Konzept des Handelns Gottes vertreten und verteidigt. Philosoph:innen und Theolog:innen im angloamerikanischen Raum sprechen Gott ein beachtliches Maß an providential governance zu.95 Diese Vorsehungslehren kritisch zu sichten und ihre berechtigten Anliegen aufzugreifen, könnte sich für die deutsche Debatte als fruchtbar erweisen.96
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Zu dieser Kritik an der Freiheitstheologie in Deutschland vgl. W. Sandler, Charismatisch, evangelikal und katholisch. Eine theologische Unterscheidung der Geister, Freiburg i. Br. 2021, 263 –267. 95 Vgl. M. J. Dodds, Unlocking Divine Action: Contemporary Science and Thomas Aquinas, Washington, D.C., 2012; R. J. Russell et al., Scientific Perspectives on Divine Action, 6 Bde., Vatican City State/Berkeley, C.A., 1993 –2008; T. P. Flint, Divine Providence: The Molinist Account. Ithaca, NY, 1998. 96 Um Vermittlung bemüht sich etwa S. M. Kopf, Vorsehung bei Gott und Mensch. Ein Vorschlag zur aktuellen Debatte über Gottes Vorsehung und Handeln, in: ZTP 143 (2021), 184 –211.
I.
Klugheitsbasiertes Modell
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Klugheit und Vorsehung Bruno Niederbacher SJ Was ist göttliche Vorsehung? In der Debatte findet man, grob gesprochen, drei Verständnisse:1 1. Das wissensbasierte Verständnis, wonach Gottes Vorsehung nichts anderes als Gottes Wissen ist. 2. Das handlungsbasierte Verständnis, wonach Gottes Vorsehung nichts anderes als Gottes Handeln bzw. Wollen in der Schöpfung ist. 3. Das klugheitsbasierte Verständnis, wonach Gottes Vorsehung Gottes effizientes Planungswissen hinsichtlich seines Handelns in der Schöpfung ist. Meine Frage lautet: Ist das klugheitsbasierte Verständnis von Gottes Vorsehung (3) eine interessante Alternative zu den Verständnissen (1) und (2) oder lässt es sich auf eines dieser beiden zurückführen? Ich werde diese Frage beantworten, indem ich mich auf (3) in der Version von Thomas von Aquin konzentriere. Thomas nimmt nämlich bei der Behandlung der göttlichen Vorsehung ausdrücklich auf den Begriff der Klugheit Bezug. Bereits in der Quaestio disputata de veritate 5, 1 greift er auf die Klugheit zurück, um den Streit zwischen Intellektualist:innen und Voluntarist:innen hinsichtlich der Auffassung göttlicher Vorsehung zu überbrücken. Auch in der Einleitung zur quaestio 22 der Summa theologiae I nennt er die Klugheit, ferner im ersten Artikel dieser quaestio, sowohl im corpus als auch in der Antwort auf das erste Eingangsargument und meint: Obwohl Gott das Zurate-Gehen nicht zukommt, so kommt ihm doch zu, „vorzuschreiben über die Dinge, die auf das Ziel hin zu ordnen sind, von denen er eine richtige Auffassung hat.“2 Und dieses Vor1
Vgl. R. Bernhardt, Was heißt „Handeln Gottes“? Eine Rekonstruktion der Lehre von der Vorsehung, Berlin 2008; S. M. Kopf, Vorsehung bei Gott und Mensch. Ein Vorschlag zur aktuellen Debatte über Gottes Vorsehung und Handeln, in: ZTP 143 (2021), 184 –211. 2 Summa theologiae (= Sth) I 22, 1 ad 1: „Unde, licet consiliari non competat
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schreiben bzw. Anordnen3 der zu ordnenden Dinge auf das Ziel hin ist der hauptsächliche Akt der Klugheit, wie wir noch sehen werden. Im Folgenden werde ich die Grundthesen des Thomas zur Klugheit und ihre Anwendbarkeit auf die göttliche Vorsehung darlegen. Ich präsentiere zunächst sieben Thesen zur menschlichen Klugheit. Anschließend gebe ich einige Hinweise zur Anwendbarkeit dieser Thesen auf das Verständnis göttlicher Vorsehung und komme abschließend auf die Frage zurück: Ist (3) eine interessante Alternative zu (1) und (2)?
1. Klugheit ist eine kognitive Fähigkeit Die Klugheit, welche Thomas in der Tradition des Aristoteles als recta ratio agibilium definiert, d. h. als rechtes Überlegen-Können in Bezug auf das, was getan werden kann/soll,4 ist eine kognitive Tugend, eine Erkenntnistugend. Thomas unterscheidet zwar zwischen spekulativer und praktischer Vernunft. Dies darf allerdings nicht so verstanden werden, als erfasse spekulative Vernunft Wahres, praktische Vernunft hingegen nicht. Thomas schreibt: „Denn der praktische Intellekt erkennt die Wahrheit wie der spekulative Intellekt, aber er ordnet die erkannte Wahrheit auf das Tun hin.“5
Deo, secundum quod consilium est inquisitio de rebus dubiis; tamen praecipere de ordinandis in finem, quorum rectam rationem habet, competit Deo, secundum illud Psalmi 148,6, praeceptum posuit, et non praeteribit.“ (Die Sth sowie alle anderen Werke des Thomas von Aquin werden zitiert nach Sancti Thomae de Aquino Opera omnia iussu Leonis XIII P.M. edita [= Editio Leonina], Rom 1882—) Zu Deutsch: „Obwohl daher das Zurate-Gehen Gott nicht zukommt, weil die Beratung eine Untersuchung über Dinge ist, die in Zweifel stehen, so kommt Gott doch zu, vorzuschreiben über die Dinge, die auf das Ziel hin zu ordnen sind, gemäß Psalm 148,6: Er gab ihnen ein Gesetz, und nie vergeht es.“ Alle Übersetzungen aus dem Lateinischen stammen von mir, B. N. 3 „Praecipere“ übersetze ich mit „vorschreiben“ oder „anordnen“. Ich denke, dass Thomas „praecipere“ auch synonym mit „imperare“ verwendet, sodass man es auch mit „befehlen“ oder „verordnen“ übersetzen kann. 4 Sth I-II 56, 3; siehe auch Sth I-II 57, 4. 5 Sth I 79, 11 ad 2: „Intellectus enim practicus veritatem cognoscit, sicut et speculativus; sed veritatem cognitam ordinat ad opus.“
Klugheit und Vorsehung
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Und: „Gegenstand des praktischen Intellekts ist nicht das Gute, sondern das auf Handlung bezogene Wahre.“6 Wie die anderen Erkenntnistugenden (Weisheit, Einsicht, wissenschaftliches Wissen, Herstellungskönnen) ist Klugheit eine Tugend, durch die wir die Wahrheit herausfinden. Die Wahrheit, die wir durch Klugheit herausfinden, ist die Wahrheit darüber, was zu tun richtig ist, genauer: die Wahrheit darüber, was in einer Einzelsituation zu tun richtig ist. So schreibt Thomas: „Zur Klugheit gehört es, richtig zu urteilen über Einzelhandlungen, insofern sie jetzt zu vollziehen sind.“7 Dazu braucht es Überlegung – eine vernünftige Tätigkeit. Sie mündet in ein Urteil (iudicium) der Form: Ich soll hier und jetzt die Handlung h vollziehen; oder: Es ist richtig, hier und jetzt die Handlung h zu vollziehen. Ein solches Urteil kann wahr oder falsch sein.8
2. Klugheit setzt einen guten Willen voraus Klugheit ist zwar eine kognitive Fähigkeit. Sie ist eine Qualität des Verstandes bzw. der Vernunft.9 Ihr Träger (subiectum) ist der Verstand. Aber sie unterscheidet sich von anderen kognitiven (dianoeti6
Quaestiones disputatae de veritate (= Qdv) 22, 10 ad 4: „Ad quartum dicendum, quod obiectum intellectus practici non est bonum, sed verum relatum ad opus.“ 7 Quaestio disputata de virtutibus in communi 1, 6 ad 1: „[…] ad prudentiam pertinet recte iudicare de singulis agibilibus, prout sint nunc agenda.“ 8 Ich schätze Thomas demnach als Vertreter einer Variante des metaethischen Kognitivismus ein, wonach moralische Urteile wahrheitsfähig sind. 9 Sth II-II 47, 1: „Unde manifestum est quod prudentia directe pertinet ad vim cognoscitivam. Non autem ad vim sensitivam, quia per eam cognoscuntur solum ea quae praesto sunt et sensibus offeruntur. Cognoscere autem futura ex praesentibus vel praeteritis, quod pertinet ad prudentiam, proprie rationis est, quia hoc per quandam collationem agitur. Unde relinquitur quod prudentia proprie sit in ratione.“ Zu Deutsch: „Es ist also offensichtlich, dass Klugheit direkt zur kognitiven Fähigkeit gehört. Aber nicht zur Wahrnehmungsfähigkeit, denn durch sie wird nur das erkannt, was gegenwärtig ist und durch die Sinne dargeboten wird. Das Zukünftige aber aus dem Gegenwärtigen oder Vergangenen zu erkennen, das
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schen) Fähigkeiten wie Einsicht (intellectus), Wissen (scientia), Weisheit (sapientia) und Herstellungskönnen (ars). Denn diese kognitiven Fähigkeiten setzen keinen guten Willen voraus. Klugheit hingegen setzt einen guten Willen voraus, d. h. einen Willen, der das Gute will, oder allgemeiner gesagt: ein Streben nach dem Guten. So sagt Thomas: „Klugheit besteht nicht nur im Erkennen allein, sondern auch im Streben.“10 Daher vertritt er die Auffassung, dass man klug nur dann sein kann, wenn man im Besitz der moralischen Tugenden ist, die das menschliche Streben vollenden.11 Die Grundintuition dahinter kann man leicht verstehen: Klugheit ist das richtige Überlegen-Können, wenn es um das Handeln geht. Damit eine Person richtig überlegt, was im Einzelfall zu tun ist, muss sie von guten Zielen ausgehen und diese auch anstreben.12 Dies wird klar, wenn man sich einen praktischen Syllogismus in Ziel-MittelForm vor Augen stellt. Die betroffene Person strebt ein Ziel an und bildet eine Überzeugung über die Ziel-Mittel-Zusammenhänge, z. B.: (i) S will couragiert handeln. (ii) S ist überzeugt, dass sie unter den gegebenen Umständen couragiert handelt, indem sie sagt: „Was du da tust, ist nicht in Ordnung.“ (iii) S will sagen: „Was du da tust ist nicht in Ordnung.“13
zur Klugheit gehört, ist eigentlich Sache der Vernunft, weil dies durch eine Art Zusammenstellung getan wird. Daher bleibt, dass Klugheit eigentlich in der Vernunft ist.“ 10 Sth II-II 47, 16: „[…] prudentia non consistit in sola cognitione sed etiam in appetitu.“ 11 Sth I-II 58, 4 und 5. Siehe dazu D. Westberg, Right Practical Reason. Aristotle, Action, and Prudence in Aquinas, Oxford 1994; M. S. Sherwin, By Knowledge and By Love, Washington, D.C., 2005. 12 Sth I 22, 1 ad 3: „[…] providentia est in intellectu, sed praesupponit voluntatem finis, nullus enim praecipit de agendis propter finem, nisi velit finem. Unde et prudentia praesupponit virtutes morales, per quas appetitus se habet ad bonum, ut dicitur in VI Ethic.“ Zu Deutsch: „Vorsehung ist im Verstand, setzt aber den Willen eines Ziels voraus. Denn niemand schreibt vor, was um eines Zieles willen zu tun ist, wenn er das Ziel nicht will. Daher setzt auch Klugheit die moralischen Tugenden voraus, durch die sich das Streben auf das Gute bezieht, wie es im VI. Buch der Nikomachischen Ethik heißt.“ 13 Bei der Darstellung von praktischen Syllogismen ist zweierlei zu beachten: Erstens können praktische Syllogismen sowohl unter dem Gesichtspunkt des Strebens als auch des Erkennens dargestellt werden (siehe Qdv 5, 1). Werden sie un-
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Wer nicht couragiert sein will (i), wird auch nicht Überlegungen darüber anstellen, welches Handeln hier und jetzt couragiert ist. Allgemeiner ausgedrückt: Wer nicht danach strebt, das Richtige zu tun, wird auch nicht Überlegungen darüber anstellen, worin das Richtige besteht. Damit eine Person die richtigen Ziele anpeilt, braucht sie die moralischen Tugenden. Denn sie ordnen auf die richtigen Ziele hin. Thomas erläutert seine These, indem er einen Vergleich mit dem spekulativen Überlegen zieht: „Die Vollendung und Richtigkeit der Vernunft im Bereich des Spekulativen hängt von den Prinzipien ab, aus denen die Vernunft Schlüsse zieht. So wurde gesagt, dass Wissen vom Intellekt, dem habitus der Prinzipien, abhängt und ihn voraussetzt. Im Bereich der menschlichen Handlungen nun verhalten sich die Ziele wie die Prinzipien im Bereich des Spekulativen, wie gesagt wurde (Nikomachische Ethik 7,8). Und daher braucht es zur Klugheit, welche die richtige Vernunft im Bereich des Handelns ist, dass der Mensch im Hinblick auf die Ziele gut disponiert ist, und ter dem Gesichtspunkt des Strebens dargestellt, dann haben sie desire-beliefStruktur: (1) S will Ziel Z erreichen. S ist überzeugt, dass Z erreicht wird, indem man Handlung h vollzieht. S will h vollziehen. Das Anstreben von Z setzt aber voraus, dass etwas als Z, das heißt als ein Gut, aufgefasst wird. Praktische Syllogismen können daher auch unter dem Gesichtspunkt des Erkennens dargestellt werden. Dann bestehen sie aus drei Überzeugungen: (2) S ist überzeugt, dass Ziel Z erreicht werden soll. S ist überzeugt, dass Z erreicht wird, indem man Handlung h vollzieht. S ist überzeugt, dass man h vollziehen soll. Zweitens ist zu beachten, dass praktische Syllogismen sowohl in der Absichtsordnung als auch in der Ausführungsordnung dargestellt werden können. (1) und (2) sind Darstellungen in der Absichtsordnung. Hier ist das Ziel Teil der ersten Prämisse und fungiert als Mittelbegriff. Wird hingegen die Ausführungsordnung dargestellt, ist das Ziel Teil der Konklusion, das was zum Ziel führt Mittelbegriff. Siehe dazu Sth I-II 1, 1 ad 1; Sententia libri Ethicorum VI, 8: „Licet enim in intentione finis sit sicut principium et medius terminus, tamen in via executionis quam inquirit consiliator, finis se habet sicut conclusio, et id quod est ad finem sicut medius terminus.“ Zu Deutsch: „Obwohl nämlich in der Absicht das Ziel sich wie Prinzip und Mittelbegriff verhält, verhält sich das Ziel im Ausführungsweg, den der Beratende untersucht, wie die Konklusion, und das, was zum Ziel führt wie der Mittelbegriff.“
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dies geschieht durch das richtige Streben. Daher braucht es zur Klugheit die moralische Tugend, durch welche das Streben richtig wird.“14
3. Klugheit ist Tugend im vollen Sinn Menschen sind von Natur aus mit einer Reihe von Vermögen ausgestattet. Manche dieser Vermögen sind durch Erziehung und Übung formbar, sodass sie zu einem Verhalten, Tätigsein und Handeln befähigen, welches zum Gedeihen des Menschen in der menschlichen Gemeinschaft führt. Die optimale Formung eines menschlichen Vermögens wird Tugend genannt. Tugend besagt, so Thomas in einer ersten Annäherung, „eine gewisse Vollendung eines Vermögens“.15 Sie disponiert das Vermögen, prägt es, formt es, dass es gut tätig ist. Eine Tugend ist eine gute Disposition, eine gute Verfassung – um es mit dem technisch treffenden Ausdruck zu sagen: ein guter habitus eines Vermögens. Gut tätig zu sein heißt, mit Erfolg das Ziel des jeweiligen Vermögens zu erreichen. Tugenden befähigen, verlässlich, prompt und mit einer gewissen Leichtigkeit, einem gewissen Genuss, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Man könnte auch sagen: Tugenden befähigen, verlässlich einen bestimmten Wert hervorzubringen. Den beiden Grundvermögen entsprechend, nämlich dem Vermögen, etwas anzustreben, und dem Vermögen, etwas zu erkennen, unterscheidet man zwei Arten von Tugenden: moralische Tugenden, welche das Strebevermögen vollenden, und dianoetische bzw. kognitive Tugenden, welche das Erkenntnisvermögen vollenden. Zu den 14
Sth I-II 57, 4: „Perfectio autem et rectitudo rationis in speculativis, dependet ex principiis, ex quibus ratio syllogizat, sicut dictum est quod scientia dependet ab intellectu, qui est habitus principiorum, et praesupponit ipsum. In humanis autem actibus se habent fines sicut principia in speculativis, ut dicitur in VII Ethic. Et ideo ad prudentiam, quae est recta ratio agibilium, requiritur quod homo sit bene dispositus circa fines, quod quidem est per appetitum rectum. Et ideo ad prudentiam requiritur moralis virtus, per quam fit appetitus rectus.“ 15 Sth I-II 55, 1: „Respondeo dicendum quod virtus nominat quandam potentiae perfectionem.“ Näheres zum Begriff des habitus und der Tugend findet man bei B. Niederbacher, Glaube als Tugend bei Thomas von Aquin. Erkenntnistheoretische und religionsphilosophische Interpretationen, Stuttgart 2004, 93 –107.
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moralischen Tugenden zählen Tapferkeit, Maß, Gerechtigkeit und viele weitere ihnen zugeordnete Tugenden. Zu den dianoetischen Tugenden gehören Einsicht, Wissen, Weisheit, Herstellungskönnen, Klugheit und viele weitere ihnen zugeordnete Tugenden. Die beiden Arten von Tugenden erfüllen den Begriff der Tugend in unterschiedlicher Weise. Thomas unterscheidet: Eine Tugend bewirkt, (i) dass ein Vermögen gut tätig ist (ii) dass eine Person dieses Vermögen recht gebraucht.16 Bestimmte unserer Vermögen können hervorragend funktionieren und mit Erfolg das jeweilige Gut hervorbringen. So kann unser Erkenntnisvermögen verlässlich wahre Überzeugungen hervorbringen. Damit erfüllt es (i). Dennoch kann jemand diese Fähigkeit schlecht gebrauchen, d. h. für einen schlechten Zweck gebrauchen, und damit (ii) nicht erfüllen. Die dianoetischen oder kognitiven Tugenden, welche das Erkenntnisvermögen vollenden, erfüllen lediglich den ersten Teil des Tugendbegriffs. Dies gilt auch für das Herstellungskönnen (ars), die recta ratio factibilium. Man kann das Knowhow für gute und schlechte Zwecke gebrauchen. Eine Ausnahme bildet die Tugend der Klugheit.17 Obwohl Klugheit eine Vollendung des Erkenntnisvermögens ist, erfüllt sie neben (i) auch (ii). Klugheit erfordert eine Beziehung zum rechten Streben. Die Tugend der Klugheit verleiht also nicht nur die Fähigkeit, praktische Wahrheit auf rechte Weise zu erfassen, sondern auch den guten Gebrauch dieser Fähigkeit. Sie erfüllt den Begriff der Tugend vollständiger als die anderen dianoetischen Tugenden: „Zur Klugheit gehört, wie gesagt wurde, die Anwendung der rechten Vernunft auf die Tätigkeit, was nicht ohne richtiges Streben geschieht. Daher hat Klugheit nicht nur die Bestimmung der Tugend, wie sie die anderen intellektuellen Tugenden haben, sondern auch die Bestimmung der Tugend, wie sie die
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Sth I-II 56, 3: „Alio modo aliquis habitus non solum facit facultatem bene agendi sed etiam facit quod aliquis recte facultate utatur.“ Zu Deutsch: „Auf andere Weise macht eine Haltung nicht nur, dass ein Vermögen gut tätig ist, sondern macht es auch, dass jemand das Vermögen auf rechte Weise gebraucht.“ Siehe auch Sth I-II, 57, 1 und 65, 4 und Quaestio disputata de virtutibus in communi 1, 7. 17 Eine weitere Ausnahme bildet die Tugend des Glaubens. Auch sie ist eine kognitive Tugend, die einen guten Willen voraussetzt. Somit ist sie ebenfalls eine Tugend in einem vollständigeren Sinn als die anderen kognitiven Tugenden.
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anderen moralischen Tugenden haben, unter die sie auch gezählt wird.“18
4. Klugheit bezieht sich auf das Gut des gesamten menschlichen Lebens Die kluge Person kann richtig überlegen und planen im Hinblick auf das ganze menschliche Leben. Thomas schreibt: „[… Jene] ist wahre und vollendete Klugheit, die im Hinblick auf das Gut des gesamten Lebens richtig berät, urteilt und vorschreibt. Diese allein nennt man Klugheit schlechthin.“19 Damit grenzt er Klugheit im eigentlichen Sinn von anderen Haltungen ab, die mitunter auch „Klugheit“ genannt werden: (i) von falscher Klugheit: Manchmal spricht man von einem „klugen Dieb“. Der kluge Dieb macht relativ zu seiner Zielsetzung alles richtig. Er ist raffiniert, geschickt, versteht sein Handwerk. Aber er geht von schlechten Zielsetzungen aus. Wahre Klugheit hingegen geht von guten Zielen aus. (ii) von Klugheit im eingeschränkten Sinn: Klug im eingeschränkten Sinn ist jemand, der von Zielen ausgeht, die bloß auf einen Bereich bezogen sind und nicht das Gut des gesamten menschlichen Lebens im Blick haben. So spricht man von einem klugen Geschäftsmann oder einem klugen Steuermann. Klug im eingeschränkten Sinn ist auch jemand, der zwar das Gut des gesamten menschlichen Lebens im Blick hat und diesbezüglich richtig überlegt und urteilt, aber nicht effizient vorschreibt. Der praktischen Erkenntnis dieser Person fehlt die motivationale Kraft. Man kann diese Person nur eingeschränkt klug nen-
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Sth II-II 47, 4: „Ad prudentiam autem pertinet, sicut dictum est, applicatio rectae rationis ad opus, quod non fit sine appetitu recto. Et ideo prudentia non solum habet rationem virtutis quam habent aliae virtutes intellectuales; sed etiam habet rationem virtutis quam habent virtutes morales, quibus etiam connumeratur.“ 19 Sth II-II 47, 13: „[…] Tertia autem prudentia est et vera et perfecta, quae ad bonum finem totius vitae recte consiliatur, iudicat et praecipit. Et haec sola dicitur prudentia simpliciter.“ Siehe auch Sth II-II 55, wo Thomas Laster behandelt, die eine Ähnlichkeit mit der Klugheit aufweisen.
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nen, weil der Hauptakt der Klugheit, das effiziente Vorschreiben (Befehlen, Anordnen), nicht erreicht wird.20 Klugheit ist also jener erworbene kognitive habitus, welcher Menschen befähigt, im Hinblick auf das Gut des gesamten menschlichen Lebens richtig zu überlegen, richtig zu urteilen und effizient vorzuschreiben, was in einer Situation getan werden soll. Klugheit erstreckt sich aber nicht nur auf das Glück der einzelnen Person, sondern auch auf das Glück einer Hausgemeinschaft oder politischen Gemeinschaft.21
5. Klugheit befähigt zu drei aufeinander geordneten Akten Zur Klugheit gehört es, richtig mit sich über das Handeln zu Rate zu gehen (consiliari), richtige (wahre) Urteile zu treffen (iudicare) und – hauptsächlich sogar – effizient anzuordnen (praecipere). Diese drei Akte entsprechen genau den kognitiven Tätigkeiten, die Thomas bei der Analyse der menschlichen Handlung in Summa theologiae I-II 12–17 herausgearbeitet hat. Ihnen korrespondieren jeweils bestimmte Tätigkeiten des Willens.22 Kognitive Tätigkeiten (1) Erfassen des Ziels (apprehensio) (2) Überlegen, was zielführend ist (consilium) (3) Urteilen (iudicium) (4) Anordnen, was zu tun ist (imperare) (5) Erfassen, dass das Ziel erreicht ist
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Willentliche Tätigkeiten Beabsichtigen des Ziels (intentio) Gefallen des zum Ziel Führenden (consensus) Wählen (electio) Gebrauch der Vermögen (usus) Genießen (fruitio)
Siehe Sth II-II 47, 13. Sth II-II 47, 10: „[…] Quia igitur ad prudentiam pertinet recte consiliari, iudicare et praecipere de his per quae pervenitur ad debitum finem, manifestum est quod prudentia non solum se habet ad bonum privatum unius hominis, sed etiam ad bonum commune multitudinis.“ Zu Deutsch: „Da es also zur Klugheit gehört, recht zu Rate zu gehen, zu urteilen und vorzuschreiben über das, was zum gesollten Ziel führt, ist es offensichtlich, dass sich Klugheit nicht nur auf das persönliche Gut eines einzelnen Menschen bezieht, sondern auch auf das allgemeine Gut der vielen.“ 22 Siehe dazu die Darstellung in D. Westberg, Right Practical Reason (s. Anm. 11), 131. 21
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Die kognitiven Tätigkeiten (2) bis (4) sind jene Tätigkeiten, die Thomas der Klugheit zuordnet. Das Überlegen und Urteilen sind auf das Anordnen ausgerichtet. Erst im Anordnen wird das Ziel der Klugheit erreicht. Thomas erachtet das Anordnen daher als hauptsächliche Tätigkeit der Klugheit.23 Das effiziente Anordnen ist nach der Wahl bereits der erste Schritt auf dem Weg der Ausführung. Die Akte der Klugheit seien an einem Beispiel erläutert. Gerald J. Hughes schreibt: „Ich wurde einmal von ein paar Studierenden zum Abendessen in ihr Haus eingeladen. Sie hatten sich außerordentlich angestrengt, mich herzlich zu empfangen, und waren ein bisschen nervös angesichts der Tatsache, dass sie ihren Professor unterhalten mussten, vielleicht auch unsicher, ob sie dem Unternehmen gewachsen sind. Als Hauptspeise gab es Quiche. Und es stellte sich heraus, dass sie weit davon entfernt war, eine gelungene Quiche zu sein. Der Koch fragte mich, wie sie mir schmecke …“24 Angenommen, der Professor hat allgemeine normativen Überzeugungen wie: Man soll Gutes tun und verfolgen und Schlechtes meiden. Man soll wahrhaftig sein. Man soll freundlich sein. Man soll dankbar sein. Man soll sich um das Gemeinwohl sorgen. 23
Sth II-II 47, 8: „[…] Sed practica ratio, quae ordinatur ad opus, procedit ulterius et est tertius actus eius praecipere, qui quidem actus consistit in applicatione consiliatorum et iudicatorum ad operandum. Et quia iste actus est propinquior fini rationis practicae, inde est quod iste est principalis actus rationis practicae, et per consequens prudentiae.“ Zu Deutsch: „Aber die praktische Vernunft, die auf das Tun hinordnet, geht weiter und so ist ihre dritte Tätigkeit das Vorschreiben, das in der Anwendung des Beratenen und Beurteilten auf das Tun besteht. Und weil diese Tätigkeit dem Ziel der praktischen Vernunft näher ist, kommt es, dass sie die Haupttätigkeit der praktischen Vernunft ist und folglich der Klugheit.“ Siehe auch Sth II-II 47, 16: „[…] principalis eius actus est praecipere quod est applicare cognitionem habitam ad appetendum et operandum.“ Zu Deutsch: „Ihre Haupttätigkeit ist vorzuschreiben, das ist: die gehabte Erkenntnis auf das Streben und Tun anzuwenden.“ 24 Aus G. J. Hughes, Aristotle on Ethics, London 2001, 110 –111. Die Übersetzung stammt von mir, B. N.
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Nun ist Klugheit gefragt. Er muss überlegen: Was ist jetzt, in dieser Situation, das Gute? Worum geht es hier und jetzt? Geht es um Wahrhaftigkeit? Geht es um das Gemeinwohl? Oder geht es schlicht und einfach nur um Freundlichkeit und Dankbarkeit? Das Beispiel zeigt, dass es zur Erkenntnis dessen, was man in einer Situation tun soll, nicht hinreichend ist, Überzeugungen allgemeinen Inhalts zu kennen und sie anzuwenden. Denn es kann sein, dass mehrere davon im Spiel sind. Um herauszufinden, welche von ihnen zum Zug kommt und wie man sie konkretisieren soll, dazu bedarf es der Klugheit. Klugheit befähigt erstens dazu, richtig zu überlegen, und zweitens ein wahres Urteil zu fällen. Der Professor kommt zur partikulären normativen Überzeugung: Ich soll hier und jetzt freundlich sein. Aber auch diese Überzeugung muss noch konkretisiert werden: Wie stelle ich es an, hier und jetzt freundlich zu sein? Was genau sage ich? Der Professor kam zum Schluss: Freundlich zu sein besteht darin, hier und jetzt zu sagen: „I thought it was lovely.“ Zum Ziel kommt kluges Vorgehen erst dann, wenn der Professor sich effizient anordnet: Ich soll hier und jetzt sagen: „I thought it was lovely.“ Ergebnis des Überlegungsprozesses der Klugheit ist also eine effizient motivierende Überzeugung singulären normativen Inhalts. Thomas verteidigt die These, dass Klugheit nicht die Ziele festsetze, sondern sich mit dem beschäftige, was zum Ziel führt.25 Mit dem Ausdruck „was zum Ziel führt“ sind aber nicht bloß Mittel im engen, instrumentellen Sinn zu verstehen. Es handelt sich vielmehr auch um konstitutive Mittel, um die Konkretisierung der Ziele: Gut 25
Sth II-II 47, 6; Qdv 5, 1: „Prudentia ergo praecipue dirigit in his quae sunt ad finem; ex hoc enim aliquis dicitur prudens, quod est bene consiliativus, ut dicitur in VI Ethic. Consilium autem non est de fine, sed de his quae sunt ad finem, ut dicitur in III Ethic.“ Zu Deutsch: „Klugheit also ordnet hauptsächlich hinsichtlich der Dinge an, die zum Ziel führen. Denn jemand wird deshalb klug genannt, weil er gut beraten kann, wie es im VI. Buch der Nikomachischen Ethik heißt. Beratung geschieht aber nicht über das Ziel, sondern über das, was zum Ziel führt, wie es im III. Buch der Nikomachischen Ethik heißt.“
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zu sein heißt hier und jetzt …; oder: Ich bin freundlich, indem ich jetzt sage: „I thought it was lovely“; oder: Ich bin gerecht, indem ich das hinterlegte Gut zurückgebe; oder: Ich bin couragiert, indem ich …, usw. So schreibt Thomas: „Klugheit ordnet die moralischen Tugenden nicht nur, indem sie wählt, was zum Ziel führt, sondern auch, indem sie das Ziel festlegt. Nun besteht das Ziel einer jeden moralischen Tugend darin, die Mitte im je eigenen Bereich zu treffen. Diese Mitte wird aufgrund der rechten Überlegung der Klugheit bestimmt.“26
6. Kluges Überlegen und Urteilen setzt die Erkenntnis von Allgemeinem und Partikulärem voraus Handlungen sind Partikularien (individuelle Vorkommnisse), und als solche eingebettet in eine Situation, in konkrete Umstände. Die Erkenntnis dessen, was in einer Einzelsituation zu tun richtig ist, erfordert nach Thomas daher zweierlei: zum einen, dass die kluge Person allgemeine Prinzipien kennt, zum anderen, dass sie die singulären Umstände kennt, in welche das Handeln eingebettet ist.27 Um zu erkennen 26
Sth I-II 66, 3 ad 3: „Ad tertium dicendum quod prudentia non solum dirigit virtutes morales in eligendo ea quae sunt ad finem, sed etiam in praestituendo finem. Est autem finis uniuscuiusque virtutis moralis attingere medium in propria materia, quod quidem medium determinatur secundum rectam rationem prudentiae, ut dicitur in II et VI Ethic.“ Zur Unterscheidung zwischen instrumentellen und konstitutiven Mitteln vgl. H. Weidemann, Überlegungen zum Begriff der praktischen Wahrheit bei Aristoteles, in: W. Löffler (Hrsg.), Metaphysische Integration. Essays zur Philosophie von Otto Muck, Frankfurt a. M. 2010, 53–64, 57–58. 27 Sth II-II 47, 3: „[…] ad prudentiam pertinet non solum consideratio rationis, sed etiam applicatio ad opus, quae est finis practicae rationis. Nullus autem potest convenienter aliquid alteri applicare nisi utrumque cognoscat, scilicet et id quod applicandum est et id cui applicandum est. Operationes autem sunt in singularibus. Et ideo necesse est quod prudens et cognoscat universalia principia rationis, et cognoscat singularia, circa quae sunt operationes.“ Zu Deutsch: „Zur Klugheit gehört nicht nur das Überlegen der Vernunft, sondern auch die Anwendung auf das Tun, welches Ziel der praktischen Vernunft ist. Nun kann niemand angemessenerweise etwas auf etwas anwenden, wenn er nicht beides erkennt, nämlich das, was anzuwenden ist, und das, worauf es anzuwenden ist. Tätigkeiten sind aber im Bereich des Partikulären. Und daher ist es notwendig, dass die kluge Person sowohl die universalen Prinzipien der Vernunft erkennt, als auch die partikulären, unter denen die Tätigkeiten sind.“ Thomas bezieht sich
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Es ist richtig, jetzt zu sagen: „I thought it was lovely.“ muss der Professor nicht nur Überzeugungen allgemeinen Inhalts haben wie, dass er das Gute tun soll, dass er freundlich, dankbar, wahrhaftig etc. sein soll, er muss auch Überzeugungen partikulären Inhalts haben wie, dass Gutes zu tun hier und jetzt darin besteht, freundlich zu sein. Und dies ist der Ausgangspunkt weiteren klugen Überlegens: Wie drücke ich meine Freundlichkeit unter diesen Umständen aus? Ich drücke sie aus, indem ich sage: „I thought it was lovely.“ Letztlich führt kluges Überlegen zu partikulären Handlungsanweisungen, die man direkt ausführen kann.
7. In der Klugheit laufen mehrere Fähigkeiten zusammen Klugheit setzt nach Thomas einen guten Willen voraus. Sie funktioniert, wie dargelegt, nur im Verbund mit den moralischen Tugenden. Sie funktioniert ferner auch nur im Verbund mit anderen Erkenntniskräften und -tugenden. Thomas spricht von „quasi“ integralen Bestandteilen der Klugheit. Integrale Teile sind Teile, welche die Vollständigkeit eines Dinges bedingen. So sind beispielsweise Fundament, Mauern und Dach integrale Teile des Hauses. Integrale Bestandteile einer Tugend sind jene, „[…] welche zur vollendeten Tätigkeit jener Tugend zusammenlaufen müssen.“28 Zu den integralen Teilen der Klugheit gehören: (1) Gedächtnis (memoria): Klugheit betrifft den Bereich des Handelns, des Kontingenten. Dafür bedarf es Überzeugungen darüber, was in den meisten Fällen (ut in pluribus) vorfällt. Und diese Überzeugungen erwirbt man nur im Lauf der Zeit, indem man Erfahrungen sammelt. Dies setzt Erinnerung voraus. Denn Erfahrung entsteht aus vielen erinnerten Geschehnissen.29 im Sed contra von Sth II-II 47, 3 ausdrücklich auf Aristoteles, Nikomachische Ethik 1141b15, wo es heißt: „Auch betrifft die Klugheit nicht nur das Allgemeine, sondern sie muss auch das Einzelne erkennen.“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik. Griechisch/Deutsch, übers. und hrsg. von G. Krapinger, Stuttgart 2020). Vgl. auch Quaestio disputata de virtutibus in communi 1, 6 ad 1. 28 Sth II-II 48, 1: „[…] ut scilicet illa dicantur esse partes virtutis alicuius quae necesse est concurrere ad perfectum actum virtutis illius.“ 29 Sth II-II 49, 1.
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(2) Unmittelbares Erfassen (intellectus): Klugheit ist das richtige Überlegen-Können, wenn es um das Handeln geht, und zwar nicht nur im Allgemeinen, sondern vor allem im Partikulären. Damit man richtig überlegt, muss man von richtigen allgemeinen aber auch partikulären Ausgangspunkten ausgehen. Und diese werden durch das erfasst, was Thomas „intellectus“ nennt.30 Zur Erläuterung verwende ich wieder einen Ausschnitt praktischen Überlegens: (i) Es ist richtig, Gutes zu tun. (ii) Jetzt dem Studenten gegenüber freundlich zu sein, ist ein Fall von Gutes tun. (iii) Es ist richtig, jetzt dem Studenten gegenüber freundlich zu sein. Das oberste Prinzip der praktischen Vernunft, dass das Gute zu tun und zu verfolgen und das Schlechte zu meiden ist, erfasst man nach Thomas durch den habitus der Synderesis. Weitere materiale moralische Prinzipien (man soll tapfer sein, man soll gerecht sein etc.), erkennt man durch praktisches Wissen (scientia practica). Um jedoch einen Schluss darüber ziehen zu können, was hier und jetzt zu tun ist, bedarf es einer weiteren Prämisse (ii). Diese Prämisse hat einen singulären Inhalt, der durch jenes Vermögen erfasst wird, das Thomas in Anlehnung an Aristoteles ebenfalls „intellectus“ nennt. Aristoteles spricht bei dieser Fähigkeit auch von Wahrnehmung: „Von dieser [zweiten Prämisse] muss man also Wahrnehmung [aisthe¯sin] haben, und diese ist Einsicht [nous]“.31 Nach Thomas ist damit weder die Fähigkeit des Intellekts noch jene der eigentlichen Wahrnehmung gemeint, sondern der innere Sinn, die Einschätzungskraft: die Fähigkeit, die partikulären Ziele richtig einzuschätzen.32 Der Ausdruck „Wahrnehmung“ ist insofern passend, als auch hier Einzelnes erfasst wird, nämlich das singuläre Handlungsziel. Der Ausdruck „Intellekt“ ist insofern passend, als es sich um ein unmittelbares Erfassen handelt. Die Prämisse (ii) wird „wie durch sich erkannt“33, also wie ein Prinzip als ein Erstes angenom30
Sth II-II 49, 2. Aristoteles, Nikomachische Ethik 1143b 4 –5. Die Übersetzung stammt von mir, B. N. 32 Siehe auch Sth II-II 47, 3 ad 3; Sth II-II 49, 2 corpus und ad 1; In decem libros Ethicorum VI, 7. 33 Sth II-II 49, 2; Sth II-II 49, 2 ad 3. 31
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men, das – epistemisch gesehen – nicht inferenziell, sondern grundlegend gerechtfertigt ist. (3) Belehrbarkeit (docilitas): Als Teil der Klugheit nennt Thomas die Belehrbarkeit durch andere, erfahrene Menschen. Belehrbarkeit ist notwendig, weil Handlungen sich im Partikulären abspielen. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, wie Handlungsumstände zusammengesetzt sein können. All die Umstände, die in Betracht kommen können, kann ein einzelner Mensch auch nach langer Zeit und mit viel Erfahrung nicht überblicken. Daher muss er auch von anderen lernen, wie sich die Dinge in den meisten Fällen verhalten. Damit weist Thomas auf die bedeutende soziale Rolle im moralischen Erkenntniserwerb hin. Aufgrund der Belehrbarkeit ist eine Person fähig, richtige Meinungen von anderen zu erwerben.34 (4) Scharfsinn (solertia): Neben der Fähigkeit, richtige Meinungen über Handlungen durch andere zu lernen, brauchen kluge Leute auch die Fähigkeit, selbst richtige Einschätzungen über Handlungen auf spontane Weise vorzunehmen. Scharfsinn befähigt, dass „der Mensch sich gut verhält beim selbständigen Erwerb von rechten Einschätzungen.“35 Thomas definiert den Scharfsinn in Anlehnung an Aristoteles auch als „leichtes und promptes Einschätzen bei der Auffindung des Mittelbegriffs.“36 In einem Syllogismus bezieht sich der Mittelbegriff üblicherweise auf die Ursache. Wer den Mittelbegriff erfasst, erfasst die Ursache, warum sich etwas so verhält, wie es sich verhält. Ein Beispiel von Aristoteles lautet: „[…] wie etwa wenn jemand sieht, dass der Mond das Leuchtende stets gegen die Sonne gerichtet hat, und schnell eingesehen hat, warum dies so ist – weil er von der Sonne her leuchtet.“37 An unserem Beispiel illustriert: (i) Ich soll dem Studenten gegenüber freundlich sein. (ii) Freundlich zu sein besteht darin, dem Studenten jetzt zu sagen „I thought it was lovely.“ (iii) Ich soll jetzt sagen: „I thought it was lovely.“
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Sth II-II 49, 3 und 4. Sth II-II 49, 4: „[…] solertia ad hoc pertinet ut homo bene se habeat in acquirendo rectam existimationem per seipsum.“ 36 Sth II-II 49, 4: „Solertia autem est facilis et prompta coniecturatio circa inventionem medii“. Siehe dazu Aristoteles, Analytica posteriora 89b 10 –11. 37 Aristoteles, Analytica posteriora 89b 11–12. Zitiert nach Aristoteles, Analytica Posteriora, übers. und erläutert von W. Detel, Berlin 1993. 35
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Im Beispiel ist der Mittelbegriff der des Freundlichseins. Er bezieht sich auf die Eigenschaft, freundlich zu sein, und diese Eigenschaft der Handlung, freundlich zu sein, ist die (nichtkausale) Ursache für das Richtigsein der Handlung. Die Handlung, dem Studenten zu sagen, „I thought it was lovely“, ist richtig, weil sie ein Fall von Freundlichsein ist. Scharfsinn ist notwendig, weil wir uns oft in Situationen befinden, wo wir prompt erfassen müssen, worum es geht.38 (5) Vernunft (ratio): Da kluge Personen darüber zu Rate gehen, wie zu handeln ist, und das Zu-Rate-Gehen ein Prozess ist, bei dem man vom einen zum anderen fortschreitet, müssen sie auch gut im Überlegen sein, im Ziehen von Schlüssen.39 (6) Vorsehung (providentia): Klugheit befähigt zur Handlungsplanung. Sie ist also mit dem Bereich der zukünftigen kontingenten Dinge beschäftigt, insofern sie durch den Menschen beeinflusst und auf das Ziel des menschlichen Lebens hingeordnet werden können. Vorsehung ist die Fähigkeit, das Gegenwärtige auf das Entfernte hinzuordnen.40 In der Summa theologiae I 22, 1, wo es um die göttliche Vorsehung geht, führt Thomas diesen Bestandteil der Klugheit etwas näher aus. Er schreibt dort: „Die Erwägung der auf das Ziel hin zu ordnenden Dinge ist Vorsehung im eigentlichen Sinn. Es ist der Hauptteil der Klugheit, auf den die anderen beiden Teile hingeordnet sind, nämlich die Erinnerung des Vergangenen und das Erfassen des Gegenwärtigen. Denn aus dem erinnerten Vergangenen und dem erfassten Gegenwärtigen schätzen wir das vorauszusehende Zukünftige ein.“41 (7) Umsicht (circumspectio): Handlungen sind nicht isoliert, sondern eingebettet in eine Handlungssituation. Die relevanten Umstände der Handlung müssen berücksichtigt werden. Denn es kann sein, dass eine Handlung zwar in sich betrachtet gut und zielführend ist, aufgrund der gegebenen Umstände aber schlecht oder nicht zielführend wäre. Thomas nennt ein Beispiel: Jemandem Zeichen seiner Liebe zu geben, ist in sich betrachtet angemessen, um den anderen
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Sth II-II 49, 4 ad 2. Sth II-II 49, 5. 40 Sth II-II 49, 6. 41 Sth I 22, 1: „Ratio autem ordinandorum in finem, proprie providentia est. Est enim principalis pars prudentiae, ad quam aliae duae partes ordinantur, scilicet memoria praeteritorum, et intelligentia praesentium; prout ex praeteritis memoratis, et praesentibus intellectis, coniectamus de futuris providendis.“ 39
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zur Liebe zu locken. Wenn sie aber im anderen Stolz auslösen oder Verdacht auf Schmeichelei, dann wären diese Zeichen nicht zielführend.42 Es braucht Umsicht, die Berücksichtigung der gegebenen Handlungsumstände. (8) Vorsicht (cautio): Auch eine gewisse Vorsicht nennt Thomas als Teil der Klugheit. Wiederum begründet er dies mit der Kontingenz der Handlungen. Aufgrund der Vielförmigkeit der Handlungen könne sich Gutes leicht mit Schlechtem vermischen oder Schlechtes den Schein des Guten annehmen.43 Thomas nimmt diese Teile der Klugheit aus verschiedenen Traditionen und versucht sie in eine Ordnung zu bringen.44 So meint er, (1) bis (5) gehörten zur Klugheit, insofern sie erkennend, (6) bis (8), insofern sie vorschreibend sei, wo das Erkannte auf das Handeln angewendet werde. Dann macht Thomas eine noch feingliedrigere Einteilung. Erstens könne man die Erkenntnis selbst betrachten. Betreffe sie Vergangenes, dann spreche man von (1), betreffe sie Gegenwärtiges (Notwendiges und Kontingentes), dann spreche man von (2). Zweitens könne man den Erwerb der Erkenntnis betrachten. Dafür seien (3) und (4) relevant. Drittens könne man den Gebrauch der Erkenntnis betrachten, wenn man aus Erkanntem weitere Erkenntnisse folgert und Urteile fällt. Das sei Sache der Vernunft (5). Damit die Vernunft dann recht vorschreibe, brauche es die angemessene Hinordnung auf das Ziel, dies geschehe durch (6), die Beachtung der Umstände, dies geschehe durch (7), und das Ausweichen von Hindernissen, und dies gehöre zu (8). Neben diesen integralen Teilen nennt Thomas noch subjektive und potentiale Bestandteile der Klugheit. Mit den subjektiven Teilen sind verschiedene Arten von Klugheit gemeint. Sie werden je nach Bereich unterschieden, auf den sie sich beziehen: auf das eigene Leben, auf das Leben in der Hausgemeinschaft, auf das Leben in der Staatsgemeinschaft.45 Potentiale Teile sind jene Teile, die zum Kraftbereich von etwas gehören.46 Man versteht, worum es geht, wenn man sich die drei Akte der Klugheit vergegenwärtigt: 42 43 44 45 46
Sth II-II 49, 6. Sth II-II 47, 8. Sth II-II 48. Sth II-II 50, 1– 4. Sth II-II 48.
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(i) sich beraten (ii) urteilen (iii) vorschreiben Vorzuschreiben (iii) ist der hauptsächliche Akt der Klugheit.47 Die Tätigkeiten (i) und (ii) sind darauf hingeordnet. Entsprechend nimmt Thomas unterscheidbare kognitive Tugenden an: die Fähigkeit, gut zu Rate gehen zu können (eubulia), die Fähigkeit unter alltäglichen Umständen richtig urteilen zu können (synesis) und unter außergewöhnlichen, verzwickten Umständen richtig urteilen zu können (gnome). Diese drei Tugenden nennt Thomas potentiale Teile der Klugheit.48 Soweit eine kurze Darstellung der integralen, subjektiven und potentialen Teile der Klugheit. Manche Ordnungen, die Thomas findet, mögen konstruiert erscheinen. Darin sieht man sein Bestreben, verschiedenen Traditionen hinsichtlich der Auffassung der Klugheit gerecht zu werden. Dennoch zeigt diese Darstellung, wie komplex Thomas’ Verständnis der Klugheit ist. Er versteht darunter eine Überzeugungsbildungsweise, die sowohl kognitive als auch motivationale Aspekte aufweist, die eine Vielzahl von Gründen aufnimmt und zu wahren, effizient motivierenden Überzeugungen singulären moralischen Inhalts verarbeitet.
8. Einige Anregungen zur Anwendung des Begriffs der Klugheit auf göttliche Vorsehung Wird von Menschen und von Gott gesagt, sie seien klug, so ist nach Thomas klar, dass „ist klug“ nicht univok, sondern analog verwendet wird. Wird Gott „klug“ genannt, so sind Begrenzungen auszuschließen: 1. Das Prädikat „ist klug“ bezeichnet beim Menschen eine dispositionale Eigenschaft, die ab und zu manifest wird. Gott hat keine Dispositionen. Gottes Klugheit ist Akt. Und wenn Klugheit beim Menschen die moralischen Tugenden voraussetzt, die ebenfalls dispositionale Eigenschaften sind, so ist auch diese These im Hinblick
47 48
Siehe auch Sth I-II 57, 6; Sth II-II 47, 8; Sth II-II 51, 3 ad 3. Sth II-II 51, 1– 4.
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auf Gott zu modifizieren. Gott ist wesentlich gut. Sein Wollen ist Ausdruck dieses Gutseins. 2. Das Prädikat „ist klug“ bezeichnet beim Menschen eine Eigenschaft, gut zu Rate zu gehen, recht zu urteilen und effizient anzuordnen. Die Beratung ist ein Überlegungsprozess, Einschätzungen sind nötig. Die Beratung mündet in ein wahres Urteil darüber, was hier und jetzt zu tun richtig ist im Hinblick auf das Gut des gesamten menschlichen Lebens. Bei Gott sind solche Prozesse auszuschließen. Gottes Erkenntnis geschieht nicht in rationalen Prozessen, wo man aus Prämissen Konklusionen zieht. Gott erfasst die Wahrheit unmittelbar. Wenn also Klugheit als „recta ratio agibilium“ definiert wird, so ist diese Definition im Hinblick auf Mensch und Gott unterschiedlich zu verstehen.49 Beim Menschen ist ein richtiges Überlegen-Können gemeint, das zu wahren Urteilen darüber führt, was in einer Situation zu tun richtig ist; zu wahren Urteilen, die effizient angeordnet werden. Bei Gott hingegen ist mit „recta ratio agibilium“ das unmittelbare wahre Erfassen dessen gemeint, was zu tun richtig ist, und dessen effiziente Anordnung. 3. Menschliche Klugheit beschäftigt sich mit zukünftig Kontingentem. Wir beraten nur über Dinge, die wir durch unser Handeln beeinflussen können. Speziell die menschliche Vorsehung wird als Hinordnung von Kontingentem auf entfernte Ziele verstanden. Wird „Vorsehung“ von Gott ausgesagt, so ist erstens zu bedenken: Gott ist außerhalb von Raum und Zeit. Seine Vorsehung ist also nicht als eine Art Hinordnung des Gegenwärtigen auf das Zukünftige zu verstehen. Zweitens ist alles Geschaffene von Gott abhängig, ob es nun notwendig oder kontingent ist. Und schließlich ist Gott selbst das Ziel der gesamten Schöpfung. Was bleibt für das Verständnis göttlicher Vorsehung übrig, wenn man sie mit Hilfe des Begriffs der Klugheit verstehen will und all die genannten Begrenzungen ausschließt? 1. Klugheit ist eine hybride Tugend. Ihr Träger ist zwar der Intellekt, sie setzt aber einen guten Willen voraus. Da in der mittelalterlichen Debatte göttliche Vorsehung einerseits auf göttliches Wissen, an49
Das Wort „ratio“ ist notorisch vieldeutig. Selbst wenn man nur den Bedeutungsbereich des Erkennens im Auge hat, kann damit immer noch (i) das Vermögen des Erkennens, (ii) die Tätigkeit des Erkennens und (iii) das Ergebnis dieser Tätigkeit gemeint sein.
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dererseits auf göttliches Wollen reduziert wurde, wollte Thomas offensichtlich eine Zwischenposition einnehmen. Tatsächlich deutet er in Quaestio disputata de veritate 5, 1 eine vermittelnde Position an, ebenso in der Einleitung zu Summa theologiae I, 22, wo er schreibt: „Nachdem das bedacht wurde, was zum Willen allein gehört, ist zu dem fortzuschreiten, was Intellekt und Wille zugleich betrifft.“50 2. Klugheit setzt, wie gesagt, einen guten Willen voraus. Dies erscheint mir wichtig zur Modifizierung jener Aussagen, in denen Thomas Gott nach dem Muster eines artifex beschreibt.51 Eine Person, die etwas herstellt, hat einen Plan im Kopf, eine Universalie, die sie dann realisiert. Nun ist zu beachten, dass ein artifex keinen guten Willen braucht. Er kann etwas herstellen, um dieses oder jenes Ziel zu erreichen. Wenn Thomas Gottes Vorsehung im Sinn der Klugheit auffasst, so geht er über den Vergleich mit dem artifex hinaus. Gott schafft, erhält, ist in der Schöpfung tätig im Hinblick auf ein wesentlich gutes Ziel, das er selber ist: das bonum divinum. 3. Klugheit befähigt im Hinblick auf das gesamte Ziel menschlichen Lebens richtig zu beraten, zu urteilen und anzuordnen. Hauptakt der Klugheit ist das effiziente Anordnen. Darauf sind Rat und Urteil hingeordnet. Und genau dieser Akt des effizienten Anordnens ist es, auf den sich Thomas bei der Behandlung der göttlichen Vorsehung bezieht. Göttliche Vorsehung ist die Anordnung aller geschaffenen Dinge auf das letzte Ziel hin, das göttliche Gut. Dieses effiziente Anordnen, dieser effiziente Handlungsplan in Gottes Geist ist das, was „Vorsehung Gottes“ genannt wird.52 Dieses Anordnen (praecipere, imperare), das noch dem Intellekt zugewiesen wird,53 ist der erste Schritt auf dem Weg der Ausführung des Handlungsplans, die „Leitung“ („gubernatio“) genannt wird. Wir befinden uns also nicht mehr nur im Bereich des Möglichen, sondern im Bereich dessen, was im Begriff ist, realisiert zu werden. Eine gewisse Entsprechung dazu kann man bei der Behandlung der Ideen
50
Sth I 22, pr.: „Consideratis autem his quae ad voluntatem absolute pertinent, procedendum est ad ea quae respiciunt simul intellectum et voluntatem.“ 51 Siehe etwa Sth I 15, 1; Sth I 44, 3. 52 Sth I 22, 1: „Ipsa igitur ratio ordinis rerum in finem, providentia in Deo nominatur.“ Zu Deutsch: „Diese Erwägung der Ordnung der Dinge auf das Ziel hin wird also Vorsehung in Gott genannt.“ 53 Siehe dazu Sth I-II 17, 1.
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im Geist Gottes finden. Nach Thomas gibt es Ideen im Geist Gottes nicht nur von allen möglichen Arten, sondern auch von allen Akzidentien und sogar von allen Individuen, also beispielsweise nicht nur die Idee des Menschen und die der Weisheit, sondern auch die Idee von Sokrates. Ideen haben eine Erkenntnis- und eine Exemplarfunktion. Spricht Thomas von Ideen in ihrer Erkenntnisfunktion, nennt er sie auch „rationes“. Spricht er von Ideen in ihrer Exemplarfunktion, nennt er sie „exemplaria“.54 Nicht alle Ideen haben Exemplarfunktion, sondern nur jene, die Gott realisiert. Es gibt z. B. zwar die Idee des Einhorns, aber nicht im Sinn eines Exemplars. Denn diese Idee ist nicht realisiert. Es gab, gibt und – so nehme ich einfach einmal an – wird keine Einhörner geben. Die Idee des Pferdes gibt es als Exemplar. Denn diese Idee ist realisiert. Ideen in ihrer Exemplarfunktion wären also Ideen, die in der ewigen göttlichen Vorsehung vorkommen und sich durch die göttliche Leitung in zeitlicher Abfolge realisieren. 4. Um klug zu sein, bedarf es der Erkenntnis des Allgemeinen und Partikulären. Für die Vorsehung nimmt Thomas ebenfalls Universalien im Geist Gottes an. Auch die lex aeterna gehört dazu.55 Um 54
Sth I, 15, 3, ad 3 und 4; Sth I, 44, 3. Eine inhaltlich ähnliche Unterscheidung trifft Thomas mit „species absolute“ und „ordo eius ad finem“ in Qdv 5, 1 ad 1: „Forma ergo exemplaris rei secundum suam speciem absolute est idea; sed forma rei secundum quod est ordinata in finem, est providentia.“ Zu Deutsch: „Die Exemplarform eines Dinges hinsichtlich seiner Art, absolut gesehen, ist also die Idee; aber die Form eines Dinges, sofern es auf ein Ziel hingeordnet ist, ist Vorsehung.“ Siehe dazu G. T. Doolan, Aquinas on the Divine Ideas as Exemplar Causes, Washington, D.C., 2008; P. DeHart, Improvising the Paradigms. Aquinas, Creation and the Eternal Ideas as Anti-Platonic Ontology, in: Modern Theology 32 (2016), 594 – 621. 55 Qdv 5, 1 ad 6: Thomas vergleicht das ewige Gesetz im Geist Gottes mit den an sich erkennbaren Handlungsprinzipien im menschlichen Verstand. Er schreibt: „Ad sextum dicendum, quod providentia in Deo proprie non nominat legem aeternam, sed aliquid ad legem aeternam consequens. Lex enim aeterna est consideranda in Deo, sicut accipiuntur in nobis principia operabilium naturaliter nota, ex quibus procedimus in consiliando et eligendo: quod est prudentiae, sive providentiae; unde hoc modo se habet lex intellectus nostri ad prudentiam sicut principium indemonstrabile ad demonstrationem. Et similiter etiam in Deo lex aeterna non est ipsa providentia, sed providentiae quasi principium; unde et convenienter legi aeternae attribuitur actus providentiae, sicut et omnis effectus demonstrationis principiis indemonstrabilibus attribuitur.“ Zu Deutsch: „Vorsehung in Gott bezeichnet eigentlich nicht das ewige Gesetz, sondern etwas, das
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aber Einzelnes auf das gesamte Ziel des Universums hinzuordnen, braucht es nicht nur die Kenntnis des Universalen, sondern auch des Partikularen. Und diese Kenntnis hat Gott. So schreibt Thomas: „Das Beste in jeder Gattung, der Vernunft und der praktischen Erkenntnis – derart ist der Plan der Lenkung – besteht darin, dass die Partikularien erkannt werden, unter denen die Tätigkeit ist. So wie der beste Arzt der ist, der nicht nur die allgemeinen [Prinzipien] bedenkt, sondern auch die kleinsten Partikularien bedenken kann. […] Und daher muss man sagen, dass Gott einen Leitungsplan über alle, auch die kleinsten, Partikularien hat.“56
9. Schluss Ich komme zu meiner Ausgangsfrage zurück. Ich sagte, Vorsehungsverständnisse ließen sich auf drei Arten zurückführen: 1. Das wissensbasierte Verständnis, wonach Gottes Vorsehung nichts anderes als Gottes Wissen ist. 2. Das handlungsbasierte Verständnis, wonach Gottes Vorsehung nichts anderes als Gottes Handeln bzw. Wollen in der Schöpfung ist. 3. Das klugheitsbasierte Verständnis, wonach Gottes Vorsehung Gottes effizientes Planungswissen hinsichtlich seines Handelns in der Schöpfung ist.
sich aus dem ewigen Gesetz ergibt. Denn das ewige Gesetz ist in Gott so zu verstehen wie in uns die von Natur aus bekannten Prinzipien des Handelns, von denen wir beim Beraten und Wählen ausgehen. Dies ist Sache der Klugheit bzw. der Vorsehung. Daher verhält sich das Gesetz unseres Verstandes zur Klugheit wie das unbeweisbare Prinzip zum Beweis. Und in ähnlicher Weise ist auch in Gott das ewige Gesetz nicht selbst die Vorsehung, sondern gleichsam das Prinzip der Vorsehung. Daher wird dem ewigen Gesetz angemessenerweise die Tätigkeit der Vorsehung zugeeignet, so wie auch das Ergebnis des Beweises den unbeweisbaren Prinzipien zugeeignet wird.“ 56 Sth I-II 103, 6: „Optimum autem in omni genere vel ratione vel cognitione practica, qualis est ratio gubernationis, in hoc consistit, quod particularia cognoscantur, in quibus est actus, sicut optimus medicus est, non qui considerat sola universalia, sed qui potest etiam considerare minima particularium; et idem patet in ceteris. Unde oportet dicere quod Deus omnium etiam minimorum particularium rationem gubernationis habeat.“
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Meine Frage war: Ist das klugheitsbasierte Verständnis von Gottes Vorsehung (3) eine interessante Alternative zu den Verständnissen (1) und (2) oder lässt es sich auf eines dieser beiden zurückführen? Dass sich (2) und (3) unterscheiden ist klar, vor allem wenn mit „Handeln Gottes“ nur der Akt des Handelns ohne Bezug auf Erkenntnis gemeint ist. (3) unterscheidet sich von (1) dann, wenn mit „Gottes Wissen“ gemeint ist: – Gottes allgemeines spekulatives Wissen – Gottes allgemeines spekulatives und praktisches Wissen – Gottes Wissen des Notwendigen und Möglichen Das Verständnis (3) unterscheidet sich von (1) darin, dass mit „göttlicher Vorsehung“ Gottes partikuläres praktisches Wissen gemeint ist, welches Gott im Begriff ist zu realisieren und dessen Realisierung auf das göttliche Gut ausgerichtet ist.
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Der Kompromiss des doctor communis Gnädiges Mysterium oder kompromittierendes Mirakel? Oliver Wintzek
Es ist unstrittig, dass die philosophisch-theologische Konstruktion des Aquinaten zu einer der herausragenden und systembildenden Denkkathedralen gehört, die nach wie vor der Arbeit am Gottesbegriff zu denken gibt. Der Streit ist darüber zu führen, ob die Gotteskonzeption des doctor communis allgemeine Zustimmung finden kann – gerade in Bezug auf das zugrundeliegende Verständnis des Gott-Welt- bzw. Gott-Mensch-Verhältnisses. Handelt es sich hierbei um ein – wie ich es formulieren möchte – gnädiges Mysterium oder um ein kompromittierendes Mirakel? Wie auf kaum einem Feld theologischer Konstruktionsarbeit treten prämissenhafte Vorentscheidungen in ihren konsequenten Auswirkungen so deutlich zutage wie auf jenem der göttlichen Vorsehung (providentia) und deren Ausführung als göttlicher Lenkung (gubernatio).1 Der instruktive Beitrag von Bruno Niederbacher vermag nun in Bezug auf menschliches Handeln ein klugheitsbasiertes Abwägen und Entscheiden namhaft zu machen, das eine prinzipielle Kontingenzfähigkeit beansprucht und als moralisch qualifiziert zu gelten hat. Daran ist in der Tat nichts strittig; der sachbezogene Streit ist darüber zu führen, ob dieses Modell für die göttliche Vorsehung und Weltenlenkung tauglich ist. Niederbacher selbst räumt in seinen abschließenden Abwägungen ein, dass hier durchaus mit Problemen zu rechnen ist, die sich aus der Grundjustierung des Verhältnisses Gottes zur Weltwirklichkeit und der Kontingenzfähigkeit menschlichen Tuns ergeben, wie es beim Aquinaten vorliegt. Dies möchte ich im Folgenden an den zwei entscheidenden neuralgischen Konstruktionspunkten zeigen, um abschließend die Entscheidung anzu1
Für eine ausführliche Darstellung unter Einbeziehung einer Diskussion der einschlägigen Sekundärliteratur vgl. O. Wintzek, Gott in seiner allwissenden Vorsehung auf dem Prüfstand der Kontingenz. Eine motivarchäologische Kritik des theologischen Kompatibilismus (ratio fidei 62), Regensburg 2017, 451–530.
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mahnen, ob die vorausgesetzte Gotteskonstruktion Geltung beanspruchen kann und darf.
1. Logik der Kosmotheologie – universales Kausalgeschehen! Bekanntlich vertritt Thomas in Bezug auf Gott und die Frage seiner providenziellen Weltenlenkung eine im Seinsdenken begründete Kosmotheologie: Gott als actus purus bedingt in universaler Kausalität die Zielgerichtetheit alles Seienden auf ihn selbst hin. Von dieser Grundlogik weicht der doctor communis nicht ab, obwohl er gleichwohl versucht, die Akteurskausalität des Menschen von der Sachkausalität des übrigen Seienden abzuheben. Es bleibt indes mehr als fraglich, ob dieses Ansinnen letztlich denkerische Konsistenz beanspruchen kann. Unter der Frage Utrum mundus gubernetur ab aliquo (Ob die Welt von jemand anderem gelenkt wird) in der Summa theologiae gibt Thomas seine finalursächlich konzipierte Sicht der göttlichen Weltenlenkung zu Protokoll, womit eine prinzipielle Festlegung für alles Weitere gegeben ist: „Die letzte Vollendung eines jeden Dinges aber besteht in der Erreichung des Zieles. Darum gehört es zur göttlichen Güte, dass sie wie sie die Dinge ins Dasein hervorgebracht hat, diese auch zum Ziele hinführe. Das heißt lenken.“2 Diese Lenkung soll in Bezug auf den Menschen nun nicht in naturhafter Weise vonstattengehen, sondern seiner geistigen Eigenständigkeit Genüge tun, da er erkennend das göttliche Ziel zu erstreben in der Lage sein soll. „Ein Ding wird bewegt oder ist auf ein Ziel hin tätig in doppelter Weise. Einmal wie etwas, das sich selbst zum Ziel hinführt. So der Mensch und die anderen geistigen Geschöpfe; diese Wesen erkennen die Bewandtnis von Ziel und Mittel. In anderer Weise sagt man von etwas, es sei in Bewegung oder tätig auf ein Ziel hin, wenn es von einem anderen auf das Ziel hingetrieben oder gelenkt wird. So wird der Pfeil zur Scheibe hin vom Schützen bewegt, der das Ziel erkennt, nicht aber [erkennt das Ziel] der Pfeil.“3 Die angeführte Sachkausalität des Pfeiles soll für die kausale Ziel2
STh I 103, 1 resp.; zitiert jeweils nach der Deutschen Thomas-Ausgabe, hrsg. vom Katholischen Akademikerverband, Salzburg/Leipzig 1934ff. 3 STh I 103, 1 ad 1.
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erkenntnis des Menschen nicht eins zu eins gelten. Thomas unterscheidet deswegen die naturhaft eingeprägte Notwendigkeit des Ersteren von einer empfangenen Einprägung in Bezug auf den Menschen: „Die naturhafte Notwendigkeit, welche jenen Dingen innewohnt, die auf Eines festgelegt sind, ist eine Art Einprägung Gottes, der zum Ziel hinlenkt; wie die Notwendigkeit, mit welcher der Pfeil getrieben wird, auf eine bestimmte Scheibe hinzustreben, eine Einprägung des Schützen ist und nicht des Pfeiles. Sie unterscheidet sich jedoch darin, dass das, was die Geschöpfe von Gott empfangen, ihnen Natur ist […].“4 Die Intention des Aquinaten ist unstrittig; es stellt sich indes die Frage, ob eine empfangene Notwendigkeit nach wie vor eine Notwendigkeit darstellt, ob also das thomasische Ansinnen systembedingt bereits an diesem Punkt nicht mehr aufgeht. Oder anders formuliert: Ist eine konditionale Notwendigkeit unter der alles gründenden absoluten Notwendigkeit erschwinglich? Die Erkenntnis des Zieles als der göttlichen Güte dürfte in diesen kosmotheologischen Denkbahnen schwerlich ein kontingenzfähiges Geschehen sein, da jene Einprägung auf dieses letzte Gut Kontingenz nicht zulässt. Dass das höchste göttliche Gute als letztes Ziel nicht innerweltlich sei, ist zuzugestehen. Das determinismusverdächtige Problem – auch wenn Thomas dies bestreiten würde – liegt meines Erachtens darin, dass hier immer eine nötigende Hinordnung obwaltet. Unter der Fragestellung Utrum finis gubernationis mundi sit aliquid extra mundum (Ob das Ziel der Lenkung der Welt etwas der Welt Äußerliches ist) wird dies deutlich: „Da das Ziel dem Ursprung entspricht, kann nach der Erkenntnis des Ursprungs nicht im Dunkel bleiben, was Ziel der Dinge ist. Da also der Ursprung der Dinge etwas dem ganzen Weltall Äußeres ist, nämlich Gott, so muss notwendig auch das Ziel der Dinge ein äußeres Gut sein.“5 Die gewollte menschliche Erkenntnis des göttlichen Zieles ist freilich eingeordnet in das offensichtliche und offensichtlich kausallogisch konzipierte exitus-reditus-Schema, dessen Fixiertheit durch verbale Korrekturen einer Teilnahme oder Verähnlichung schwerlich aufgebrochen werden kann: „So kann also gesagt werden, dass ein dem ganzen Weltall äußerliches Gut Ziel der Lenkung der Dinge ist […]; dann darauf strebt 4 5
STh I 103, 1 ad 3. STh I 103, 2 resp.
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ein jedes Ding, dass es an ihm teilnimmt und ihm ähnlich wird […].“6 Thomas legt in der Tat Wert darauf, die finalursächlich justierte Universalität der providenziellen Weltenlenkung argumentativ zu erweisen, und dies angesichts sich aufdrängender Einsprüche bezüglich der Selbstlenkung – wie es zu nennen ist – des vernunftbegabten Geschöpfes. Unter der Fragestellung Utrum omnia divinae gubernationi subdantur (Ob alles der göttlichen Lenkung untersteht) ist der kardinale Einwand formuliert: „Das, was sich selbst lenken kann, scheint nicht der Lenkung eines anderen zu bedürfen. Das vernunftbegabte Geschöpf aber kann sich selbst lenken, da es Herr seiner Handlungen und durch sich selbst tätig ist und nicht nur von einem anderen getrieben wird […]. Also untersteht nicht alles der göttlichen Lenkung.“7 Schauen wir mit kritischem Blick auf die Strategie des Aquinaten, wie er in Konsequenz seiner universalkausalen göttlichen Lenkung Platz schaffen möchte für Eigenkausalität menschlichen Agierens. In seiner Antwort heißt es nun: „Es ist dieselbe Bewandtnis, auf Grund derer es Gott zukommt, sowohl Lenker der Dinge zu sein wie auch deren Ursache. Denn es ist ein und desselben Sache, ein Ding hervorzubringen und ihm die Vollendung zu geben. Und das ist Sache des Lenkenden. Gott aber ist nicht etwa die besonderte Ursache […], sondern die umfassende Ursache alles Seienden. Wie also nichts sein kann, was nicht von Gott geschaffen wäre, so kann auch nichts sein, was nicht seiner Lenkung unterstünde. Dasselbe erhellt auch aus dem Wesen des Zieles. Denn soweit erstreckt sich eines [Lenkers] Lenkung, wie weit das Ziel der Lenkung reichen kann. Das Ziel der göttlichen Lenkung aber ist Gottes Gutheit selbst. Da also nichts sein kann, das nicht auf die göttliche Gutheit hingeordnet wäre als auf das Ziel, ist es unmöglich, dass irgendeines der seienden Dinge der göttlichen Lenkung entzogen werde.“8 Der Schlüssel beides zu erschließen, universale göttliche Lenkung und Eigenlenkung des geistigen Geschöpfes, besteht offensichtlich in der Unterscheidung von umfassender göttlicher Verursachung und besonderter menschlicher Verursachung. Letztere agiert nun freilich unter der Ägide von ersterer, was Thomas auch als Erwiderung auf 6 7 8
STh I 103, 2 ad 2. STh I 103, 5 arg. 3. STh I 103, 5 resp.
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den obigen Einwand so formuliert: „Das vernunftbegabte Geschöpf lenkt sich selbst durch Verstand und Willen, und davon bedarf beides der Lenkung und Vollendung durch Verstand und Willen Gottes. Und darum bedarf das vernunftbegabte Geschöpf über die Lenkung hinaus, wodurch es sich selber als Herr seines Handelns lenkt, noch der Lenkung von Seiten Gottes.“9 Letztere will als übergeordnete und mittelbare verstanden sein, sodass die Eigenlenkung des vernunftbegabten Geschöpfes gewissermaßen auf einer untergeordneten Ebene der Gesamtordnung angesiedelt sein soll. Es stellt sich indes die weiterführende Frage, welche Art von Eigenlenkung dies sein könne. Unter der Fragestellung Utrum omnis immediate gubernetur a Deo (Ob alles von Gott unmittelbar gelenkt wird) wird dies in hochproblematischer Weise deutlich: „Bei der Lenkung [der Welt] sind zwei Dinge zu beachten: der Lenkungsplan, der die Vorsehung selbst ist, und die Ausführung. Was nun den Lenkungsplan anbelangt, so lenkt Gott alles unmittelbar; was aber die Ausführung der Lenkung anbelangt, so lenkt Gott einiges durch Vermittlung anderer. […] Und darum lenkt Gott die Dinge so, dass er gewisse Ursachen für die Lenkung anderer Ursachen einsetzt […].“10 Kann von einer eigenständigen Ausführung der universalen göttlichen Lenkung allen Ernstes gesprochen werden, wo die beanspruchte Eigenursächlichkeit sich offenkundig nur der Einsetzung seitens der umfassend verursachenden Lenkung Gottes verdankt? Dass Thomas dies so verstanden wissen will, steht nicht in Frage. Die Frage ist indes, ob dieses Konzept aufgeht. Damit komme ich zu meinem zweiten Punkt, der sich darauf fokussieren wird, ob es so etwas wie freiheitsbasierte Kontingenz bei diesem wirkmächtigen Typ theologischer Konstruktionsarbeit überhaupt geben kann.
2. Logik der Zweitursächlichkeit – Verursachung von Freiheit? Unter der sich an das Bisherige anschließenden Fragestellung Utrum aliquid praeter ordinem divinae gubernationis contingere possit (Ob etwas an der Ordnung der göttlichen Lenkung vorbei geschehen kann) formuliert die Summa theologiae zunächst einen weiteren kar9 10
STh I 103, 5 ad 3. STh I 103, 6 resp.
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dinalen Einwand: „Die Ordnung der göttlichen Lenkung ist sicher und unveränderlich […]. Wenn also nichts in den Dingen sich vorbei an der Ordnung der göttlichen Lenkung ereignen könnte, so folgt, dass alles mit Notwendigkeit geschieht und nichts in den Dingen zufällig [contingens] ist; und das geht nicht an. Es kann also in den Dingen etwas sich vorbei an der Ordnung der göttlichen Weisheit ereignen.“11 Zwei Annahmen sollen vereinbart werden, die Sicherheit und Unveränderlichkeit göttlich-vorsehender Lenkung, die die Unveränderlichkeit Gottes erfordert, und faktische Kontingenz, die Thomas fraglos einräumt. Gleichwohl soll eine wirkliche Eigentätigkeit jenseits der übergeordneten göttlich-vorsehenden Lenkungstätigkeit nicht zugestanden sein. Deswegen präzisiert Thomas die bereits eingeführten zwei Ebenen des göttlich übergeordneten und des menschlich eingeordneten Agierens hinsichtlich der alles durchwaltenden Kausallogik. Seine wegweisende Antwort lautet wie folgt: „Eine Wirkung kann vorbei an der Ordnung irgendeiner Teilursache erfolgen, nicht aber vorbei an der Ordnung der umfassenden Ursache.“12 Untergeordnete Teilursachen, also auch die untergeordnete Eigenlenkung, soll möglich sein, jedoch stets unter der Ägide göttlicher Universalursächlichkeit. Inwieweit dies so etwas wie eine Quadratur des Kreises darstellt, wird zu sichten sein; in der thomasischen Widerlegung des obigen Einwands heißt es nun: „Einige Wirkungen heißen zufällig [contingens] im Vergleich zu den nächsten Ursachen, welche in ihren Wirkungen versagen können; nicht aber deswegen, weil etwas sich ereignen könnte außerhalb der Gesamtordnung der göttlichen Weltlenkung. Denn gerade dass etwas an der Ordnung der nächsten Ursache vorbeitrifft, stammt aus irgendeiner Ursache, welche der göttlichen Weltlenkung unterworfen ist.“13 Eine wirkliche Eigenverursachung an der göttlich lenkenden Universalverursachung ist damit offensichtlich ausgeschlossen, von wirklicher Kontingenz kann keine Rede sein. Mag sie verbaliter auch noch so sehr behauptet sein, realiter bleibt von ihr in diesem System nichts übrig. Es stellt sich nun auch für Thomas die sich zuspitzende Frage, ob und inwiefern dies für ein willentliches Agieren 11 12 13
STh I 103, 7 arg. 3. STh I 103, 7 resp. STh I 103, 7 ad 3.
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des Menschen bedeutet, ob und inwiefern die zweitursächlich ermöglichte Eigenlenkung als eigenwillentliche gelten könne. Die bereits eingeführte Unterscheidung zwischen naturhaftem und willentlichem Geschehen ist nicht das Problem, problematisch ist erneut die vorangehende Einprägung und stete Hinordnung seitens Gottes in das und auf das, was eigenständig sein soll. Unter der Fragestellung Utrum aliquid possit reniti contra ordinem gubernationis divinae (Ob irgendetwas sich gegen die Ordnung der göttlichen Lenkung widersetzen kann) verstärkt sich der Verdacht, es handle sich um eine Quadratur des Kreises: „Es ist offensichtlich, dass jede Neigung eines Dinges, sei es eine naturhafte oder eine willentliche, nichts anderes ist als eine Einprägung vom ersten Beweger. So ist die Neigung eines Pfeiles zu einem bestimmten Zeichen hin nichts anderes als die Einprägung des Schützen. Darum gelangen alle Dinge, sei es, dass sie naturhaft, sei es, dass sie willentlich wirken, gleichsam aus eigenem Antrieb zu dem, worauf sie von Gott her hingeordnet sind.“14 Das wenig klare quasi des eigenen Antriebes fordert nun gewissermaßen die Karten auf den Tisch zu legen. Dies erfolgt unter der zentralen Fragestellung Utrum Deus possit movere voluntatem creatam (Ob Gott den geschaffenen Willen bewegen kann), wo der Haupteinwand der folgende ist: „Gott kann nicht machen, dass einander Widersprechendes zugleich wahr ist. Das aber wäre der Fall, wenn er den Willen bewegte, denn frei bewegt werden heißt, aus sich heraus bewegt werden und nicht von einem anderen. Also kann Gott den Willen nicht bewegen.“15 Dies will Thomas entkräften, wobei sich das Problem noch verschärft, sodass neben die Frage der untergeordneten, aber gleichwohl eigenständig sein sollenden Kausalität, jene des moralischen Agierens tritt: „Die Bewegung wird mehr dem Bewegenden zugeschrieben als dem Bewegbaren, darum wird der Mord eines Menschen nicht dem Stein zugeschrieben, sondern dem, der den Stein wirft. Wenn Gott also den Willen bewegt, folgt, dass freiwillige Werke dem Menschen nicht zum Verdienst oder zur Schuld angerechnet werden können. Das aber ist falsch. Also bewegt Gott den Willen nicht.“16 Die Antwort des Aquinaten ist aufschlussreich; er schreibt: „Wie der Verstand vom Gegenstand bewegt wird 14 15 16
STh I 103, 8 resp. STh I 105, 4 arg. 2. STh I 105, 4 arg. 3.
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und von dem, der die Kraft gibt zu erkennen, so wird der Wille vom Gegenstand bewegt, der das Gute ist, und von dem, der die Kraft schafft zu wollen. […] Das Wollen ist nichts anderes als eine Hinneigung zum Gegenstand des Wollens, der das Gut insgesamt ist. Hinneigen zum Gut insgesamt ist nun Sache des ersten Bewegers, der es mit dem letzten Ziel zu tun hat […].“17 Eine zweifache Kausalität wird beansprucht, menschlich und göttlich. Allerdings ist höchst fraglich, ob erstere wirklich zum Zuge kommen kann, wo doch alles lenkende Verursachen herkünftig und hinführend ist von und auf jenen göttlichen ersten Beweger. In Bezug auf die zu verteidigende freie Willentlichkeit menschlichen Selbstbewegens bemüht Thomas eine recht enigmatische Denkfigur: „Freiwillig bewegt werden ist: aus sich bewegt werden, das heißt aus einem innerlichen Grunde. Dieser innerliche Grund aber kann von einem anderen außerhalb liegenden Grunde stammen. Und darum widerspricht das aus sich Bewegtwerden nicht dem von einem anderen Bewegtwerden.“18 Man erführe gerne, warum sich dies nicht widerspricht, es sei denn man stimmte mit Thomas überein, dass es willentliche Eigentätigkeit nur als Moment göttlicher Universaltätigkeit gebe – was daran noch zurecht ein eigener Willensvollzug sein könnte, wird nicht einsichtiger, je öfter es wiederholt wird. Dies geschieht in der Antwort auf den zitierten anderen kardinalen Einwand: „Wenn der Wille so von einem anderen bewegt würde, dass er in keiner Weise aus sich selbst bewegt würde, so würden die Werke des Willens nicht zu Verdienst oder Mißverdienst angerechnet. Weil aber dadurch, dass er von einem andern bewegt wird, nicht ausgeschlossen wird, dass er aus sich bewegt wird, darum wird folgerichtig die Bewandtnis von Verdienst und Mißverdienst nicht aufgehoben.“19 Auch hier erführe man gerne, wie das, was sich eigentlich ausschließt – modern gesprochen: Heteronomie und Autonomie –, sich nicht ausschließen soll. Der Verdacht liegt nahe, dass Thomas in seiner Explikation der providenziellen Weltenlenkung Gottes diese in ihrer Unveränderlichkeit, Unfehlbarkeit und Unentrinnbarkeit eindeutig zu Lasten wirklicher menschlicher und menschlich moralisch qualifiziert sein könnender Eigentätigkeit konstruiert. 17 18 19
STh I 105, 4 resp. STh I 105, 4 ad 2. STh I 105, 4 ad 3.
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Im Modus der Fragestellung Utrum Deus operatur in omni operante (Ob Gott in jedem Tätigen tätig ist) artikuliert sich diese Konsequenz zumindest in folgendem Einwand: „Wenn nun die Tätigkeit des Geschöpfes im tätigen Geschöpf von Gott ist, kann sie nicht zugleich vom Geschöpf sein. Folglich wirkt kein Geschöpf etwas.“20 Auch wenn der Aquinate dieser universalkausalen Entmächtigung des Menschen nicht das Wort reden will, so kann er ihr doch aufgrund der systemtragenden Denkbausteine nicht entkommen. Seine angeführte Widerlegung bewegt sich nun erneut und wenig überraschend in den Bahnen unterschiedener, sich angeblich nicht widersprechender Kausalordnungen, bei welchen es strittig bleibt, ob sie für etwas anderes als für eine in letzter Konsequenz zu ziehenden Enteignung der willentlichen Eigentätigkeit des Menschen taugen. Thomas lässt also verlauten: „Ein und dieselbe Tätigkeit geht nicht aus zwei Wirkenden derselben Ordnung hervor; aber nichts steht im Wege, dass ein und dieselbe Handlung vom Erst- und Zweitwirkenden hervorgehe.“21 Es sollen nun gerade diese Zweitursachen sein, die eine Eigentätigkeit des Menschen erlauben, die es ermöglichen sollen, dass mittels eines Versagens nicht zuletzt menschlich schuldhaftes Tun dem Menschen als Täter und nicht Gott als Universaltäter anzulasten sei. Gleichwohl bleibt es erneut enigmatisch, wie ein solches Versagen überhaupt jenseits göttlicher Universalverursachung denkbar sein soll. Nur wenig kaschiert muss Thomas einräumen, dass sein Argumentationsgebäude auf mehr als brüchigem Fundament ruht und eigentlich zu desaströsen Konsequenzen führt. Die entsprechend wegweisende Antwort auf die hier erörterte Frage macht dies hinreichend deutlich: „Das Wirken Gottes in den Dingen ist also so zu verstehen, dass die Dinge selbst trotzdem ihre eigene Tätigkeit behalten. […] Es ist zu bedenken, dass, wenn es sich um eine Vielheit von unter sich geordneten Wirkenden handelt, das zweite Wirkende immer in Kraft des ersten tätig ist, denn das erste Wirkende treibt das zweite zum Wirken. Und demzufolge wirken alle Dinge in der Kraft Gottes selbst, und so ist er selbst Ursache der Tätigkeiten aller Wirkenden.“22
20 21 22
STh I 105, 5 arg. 2. STh I 105, 5 ad 2. STh I 105, 5 resp.
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Spiegelt man diese Aussage auf die vorher gestellte Frage willentlicher Freiheitstaten, so wird man schlussfolgern müssen, dass diese systembedingt ausgeschlossen sind, es sei denn man verfiele auf den Gedanken, Gott könne – erneut modern gesprochen – Autonomie heteronom bewirken. Das forcierte Bemühen der providenziellen Weltenlenkung vollumfänglich Genüge tun zu können, mag diese argumentativ dartun können – allerding zu einem hohen Preis. Zu zahlen sind nicht nur die Kosten denkerischer Inkonsistenz, zu zahlen ist auch der Preis einer übermächtigenden göttlichen Kausalpotenz. Bei dieser bleibt gar nichts anderes übrig, als selbst die Merkmale des vernunftbegabten und moralisch engagierten Geschöpfes göttlich aufzukündigen, da das Erkennen immer und grundsätzlich vom Wahren herkünftig eingeprägt und auf das Wahre final hingelenkt ist – und zwar notwendiger Weise –, und da das Wollen gleicherweise immer und grundsätzlich vom Guten herkünftig eingeprägt und auf das Gute final hingelenkt ist – und zwar ebenso notwendiger Weise. Diese göttlich unfehlbare und unbeirrbare Lenkung ewig notwendiger Art spricht sich auch in der Summe wider die Heiden in hinreichender Deutlichkeit aus. Unter der Fragestellung Quod homo indiget divino auxilio ad beatitudinem consequendam (Dass der Mensch göttlicher Hilfe zur Erlangung der Glückseligkeit bedarf) erscheinen die menschlichen Fähigkeiten des Erkennens und Wollens gewissermaßen übernatürlich enteignet: „Wenn also der Mensch auf ein Ziel hingeordnet ist, das seine natürliche Fähigkeit überschreitet, muss ihm durch göttliche Einwirkung irgendeine übernatürliche Hilfe zuteilwerden, durch die er zum Ziel strebt. […] Der Mensch kann also durch seine Tätigkeit zu seinem letzten Ziel, das die Fähigkeiten der menschlichen Anlage übersteigt, nur gelangen, wenn seine Tätigkeit durch göttliche Kraft erfolgreich zu dem genannten Ziel hingeführt wird. […] Unter Gott aber, der der erste Verstand und Wille ist, sind aller Verstand und Wille angeordnet wie Werkzeuge unter einer Hauptursache.“23 Nicht nur, dass das zu erkennende Wahre und das zu wollende Gute dem Menschen erkenntnis- und willensmäßig nicht zu Gebote steht, schwerer wiegt das instrumentelle Verständnis von Intellekt und Willen im Dienste göttlich vor-
23
ScG III, 147; zitiert jeweils nach der WBG-Ausgabe, Darmstadt 32009.
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sehender Weltenlenkung; Werkzeuge verweisen auf ein sachkausales Verständnis des Menschen; eine eigenständige Akteurskausalität ist damit schwerlich erschwinglich und systemisch auch nicht zielführend. Dies ist jedoch gerade bei moralisch qualifiziertem Tun unverzichtbar. Das weiß Thomas natürlich auch, weswegen er erneut den Weg eines fragwürdigen Kompromisses einschlägt. Unter der Fragestellung Quod per auxilium divinae gratiae homo non cogitur ad virtutem (Dass der Mensch durch die Hilfe der göttlichen Gnade nicht zur Tugend gezwungen wird) heißt es: „Dass die göttliche Hilfe dem Menschen beisteht, gut zu handeln, ist so zu verstehen, dass Gott in uns unsere Werke tut, wie die erste Ursache die Tätigkeiten der Zweitursachen und wie die Hauptursache die Tätigkeit des Werkzeugs tut […]. Die erste Ursache verursacht aber die Tätigkeit der Zweitursache nach deren Weise [secundum modum ipsius]. Also verursacht auch Gott in uns unsere Werke nach unserer Weise, die darin besteht, dass wir freiwillig und nicht gezwungen handeln. […] Gottes Hilfe schließt also nicht die Willenshandlung von uns aus, sondern bewirkt sie gerade in uns […].“24 Damit ist der oben geäußerte Verdacht bestätigt, dass Thomas in der Tat der Meinung ist, menschliche Autonomie könne göttlich heteronom verursacht sein. Um die Unwandelbarkeit und Unfehlbarkeit der lenkenden Durchführung der göttlichen Vorsehung zu behaupten, ist dies freilich durchaus konsequent, wobei sich damit das Problem der eigenständigen Tätigkeit auch in Bezug auf die bei Niederbacher trefflich rekonstruierten menschlichen Klugheitsabwägungen in rationaler und moralischer Hinsicht merklich verschärft: Wer wägt hier eigentlich ab? Thomas wird erneut deutlich, wenn er unter der Fragestellung Quod divinum auxilium homo promereri non potest (Dass der Mensch die göttliche Hilfe nicht verdienen kann) ausführt: „Die Bewegung des Bewegers geht der Bewegung des Beweglichen nach Wesensgrund und Ursache voraus. Also wird uns nicht deshalb göttliche Hilfe zuteil, weil wir uns durch gute Werke dorthin bewegen, sondern […] weil uns die göttliche Hilfe zuvorkommt. […] Außerdem. Die Erkenntnis geht der Willensbewegung voraus. Die Erkenntnis des übernatürlichen Ziels aber hat der Mensch von Gott: denn durch die natürliche Vernunft kann der Mensch nicht zu die-
24
ScG III, 148.
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sem Ziel gelangen […]. Also geht notwendig den Bewegungen unseres Willens auf das letzte Ziel hin die göttliche Hilfe voraus. […] Dadurch wird also nicht die freie Willensentscheidung ausgeschlossen, als sei der Mensch nicht Herr seiner inneren und äußeren Taten: aber es wird dargelegt, dass er Gott unterworfen ist.“25 Man fragt sich, was von den von Thomas laut Niederbacher dargelegten Klugheitsabwägungen noch als wirklich menschlich bleibt, mag die göttlich determinierende Enteignung als noch so wohlwollend benannt sein: „Denn die göttliche Liebe ist die Verursacherin des Guten, das sie in einen Menschen liebt […].“26 Niederbacher selbst räumt ein, dass eine direkte Übertragung der von Thomas präzise ausgearbeiteten Klugheitserwägungen für verantwortetes Handeln auf die Konzeption der göttlichen Providenz und ihrer Durchführung sich an der Fassung des Gottesbegriffs stoßen werde. Meine diesbezüglichen Darlegungen dürften dies bestätigen; zudem unterminiert die umfassende Kausallogik der thomasischen Kosmotheologie nicht nur die menschliche Fähigkeit klug zu entscheiden – denn wer entscheidet hier eigentlich immer schon? –, sondern ein gewissermaßen bewegliches Mit-sich-zu-Rate-gehen Gottes scheint aufgrund seiner ewigen Kausallogik und -ordnung seinerseits ausgeschlossen. Wo einmal ein theologischer Determinismus etabliert ist, hilft auch die denkerische (?) Flucht in ein Analogiedenken nicht weiter; es gibt keinen analogen Determinismus, aber es gibt alternatives Gottesdenken. Dass dies nicht bei Thomas vorliegt, liegt auf der Hand, aber ob Thomas der doctor communis sein kann und darf, ist mehr als verhandelbar, wo sich ein vorgeblich gnädiges Mysterium als nachhaltig wirksames, den Menschen und Gott kompromittierendes Mirakel der Undenkbarkeit erweist.
25 26
ScG III, 149. ScG III, 150.
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Menschliche Vorsehung als Teil der Tugend der Klugheit Eine Analogie für die göttliche Vorsehung? Simon Maria Kopf
Was meint der Begriff „Vorsehung“ im theologischen Kontext? Während analytische Ansätze in der Beantwortung dieser Frage tendenziell beim göttlichen Wissen (scientia divina), insbesondere von zukünftigem Kontingenten, ansetzen und die Vorsehungslehre von daher auszulegen versuchen, legen kontinentale Ansätze – wenn man die Unterscheidung so treffen möchte – oftmals ihren Schwerpunkt auf den göttlichen Willen (voluntas divina) vis-à-vis der menschlichen Freiheit. Oliver Wintzek schreibt etwa mit Blick auf die deutsche Debatte: „Die Annahme eines unfehlbaren göttlichen Wissens, das sich auch auf kontingente Sachverhalte der Zukunft erstreckt, und einer unbeirrbaren Vorsehung, die sich dergleichen auch auf freiheitliche Akte des Menschen erstreckt, stoßen sich gerade an dem, was Inhalt der Allwissenheit und Material der Vorsehung sein will – an Kontingenz und Freiheit.“1 Hier werden zwei Problemfelder angesprochen: Einerseits scheint Gottes Wissen in Spannung zu stehen zur geschöpflichen Kontingenz, insbesondere zu zukünftigen kontingenten Sachverhalten. Andererseits scheint fraglich, wie Gottes voluntativ gedeutete Vorsehung und menschliche Freiheit zusammengehen.2
1
O. Wintzek, Gott in seiner allwissenden Vorsehung auf dem Prüfstand der Kontingenz. Eine motivarchäologische Kritik des theologischen Kompatibilismus, Regensburg 2017, 20; siehe auch ebd., 185. Wintzek hält dann mit Blick auf seinen eigenen, kontinentalen Beitrag mit den Worten von Magnus Striet dem oben Gesagten entsprechend fest, dass „mithin ‚eine Denkform zu entwickeln [ist], welche der göttlichen und der menschlichen Freiheit genügt.‘“ (Ebd., 32–33) 2 Harm Goris plädiert meines Erachtens zu Recht dafür, diese beiden Fragenkomplexe, die er als „problem of temporal fatalism“ und „problem of causal determinism“ bezeichnet, auseinanderzuhalten. Siehe H. J. M. J. Goris, Free Creatu-
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Ein gängiger Ansatzpunkt in der aktuellen Debatte besteht darin, die Vorsehungslehre mittels einer Theorie des Handelns Gottes in der Welt auszulegen. Vorsehung ist diesem Ansatz zufolge im Wesentlichen welt-immanentes – und daher transeuntes –3 Handeln Gottes. Mit Blick auf diesen Ansatz schlägt dieser Beitrag vor, die Vorsehung Gottes – analog zur Tugend der Klugheit – nicht primär als (transeuntes) göttliches Handeln in der Welt zu begreifen, sondern vielmehr als eine (Gott-immanente) Ausrichtung der Dinge auf ein Ziel und letztlich auf Gott hin. Der göttliche Grund oder Plan dieser Ausrichtung ist folglich konstitutiv für das (transeunte) göttliche Handeln in der Welt. Der Vorschlag lautet mithin, die menschliche Vorsehung als Analogie für die göttliche heranzuziehen.4 Mit Blick auf die angesprochenen analytischen und kontinentalen Ansatzpunkte in der Debatte sollen in diesem Beitrag zwei Thesen zur Vorsehungslehre zur Disposition gestellt werden. Zunächst soll (1) materialiter argumentiert werden: Zumindest wenn die Vorsehung ordinativ ausgelegt wird, dann ist die Analogie der Klugheit aus systematisch-theologischer Rücksicht hilfreich. Dass die Vorsehung Gottes aus katholischer Perspektive ordinativ auszulegen ist, wird zwar durch gängige kirchlich-dogmatische Formulierungen nahegelegt, aber keineswegs letztgültig entschieden. Anschließend soll (2) formaliter für eine Unterscheidung der ratio und executio der Vorsehung plädiert werden, um eine Synthese der beiden Herangehensweisen zu ermöglichen und das Handeln Gottes in der Vorsehungslehre neu zu verorten und zu verankern. Der Aufbau des Kapitels ist wie folgt. Eingangs erhebt der Beitrag kurz (1.) den dogmatischen Befund, ehe (2.) dessen Verbindung zum ordo-Gedanken und zum Handeln Gottes thematisiert wird. Danach wird in systematischer Perspektive zunächst (3.) eine Analogie unter materieller Rücksicht vorgestellt und deren Kompatibilität res of an Eternal God. Thomas Aquinas on God’s Foreknowledge and Irresistible Will, Leuven 1996, bes. 54 – 99. 3 Immanente Handlungen sind Handlungen eines Akteurs, die gewissermaßen im Akteur verbleiben und daher keine externe Wirkung zeitigen, während transeunte Handlungen über den Akteur hinausgehen und Wirkungen außerhalb des Agenten zeitigen. Mit „Handeln Gottes in der Welt“ sind in diesem Beitrag transeunte und nicht rein immanente Handlungen Gottes gemeint. 4 Bruno Niederbacher führt in diesem Band ausführlich in die Tugend der Klugheit und die menschliche Vorsehung als ihr zentraler Teil ein.
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mit der Geschichtlichkeit und Kontingenz der Welt geprüft. In diesem Zusammenhang werden dann auch (4.) Einwände gegen die Teleologie sowie den ordo-Gedanken thematisiert. Abschließend wird (5.) ein weiterführender Vorschlag unter formaler Rücksicht ausgearbeitet.
1. Vorsehung aus katholisch-dogmatischer Perspektive Zunächst soll mit der Frage begonnen werden, wie die Vorsehung aus katholischer Perspektive zu verstehen und zu deuten ist. Bei der dogmatischen Betrachtung fällt auf, dass obwohl der geschichtliche Befund zum Thema „Vorsehung“ durchaus ertragreich – wenn auch mitunter ambivalent –5 ist, der dogmatische Befund dennoch recht schmal ausfällt.6 Er kann wie folgt zusammengefasst werden. Aus katholisch-dogmatischer Perspektive ist festzuhalten, dass Gott – als „Herrscher über das All“ (DH 1) und „König der Zeiten“ (DH 21) – alles durch seine Vorsehung lenkt und leitet (gubernat) (DH 3003).7 In der dogmatischen Konstitution Dei Filius (1870) heißt es dazu: 5
Angesichts des historischen Missbrauchs der Vorsehungslehre, sowohl politisch als auch theologisch, erscheint es ratsam, mit dem Thema der Vorsehung sensibel umzugehen. Das umfasst auch eine theodizeesensible Rede von der Vorsehung. Siehe dazu etwa K. von Stosch, Gott – Macht – Geschichte. Versuch einer theodizeesensiblen Rede vom Handeln Gottes in der Welt, Freiburg i. Br. 2006. Das Theodizeeproblem kann wie folgt gefasst werden: (1) Es gibt Leid in der Welt. (2) Es gibt einen allmächtigen, allwissenden und allgütigen Gott. (3) Es gibt keine moralisch gerechtfertigten Gründe für einen allmächtigen, allwissenden und allgütigen Gott, Leid in der Welt zuzulassen. Die Frage lautet daher, ob die jeweiligen Ausdeutungen der Vorsehung moralisch gerechtfertigte Gründe plausibel machen können, die Gott haben könnte, Leid zuzulassen. Siehe E. Stump, Wandering in Darkness. Narrative and the Problem of Suffering, Oxford 2010. 6 Siehe L. Scheffczyk, Schöpfung und Vorsehung (Handbuch der Dogmengeschichte 2/2a), Freiburg i. Br. 1963; R. Kocher, Herausgeforderter Vorsehungsglaube. Die Lehre von der Vorsehung im Horizont der gegenwärtigen Theologie, St. Ottilien 1999; R. Bernhardt, Was heißt „Handeln Gottes“? Eine Rekonstruktion der Lehre von der Vorsehung, Münster 2008; Wintzek, Gott in seiner allwissenden Vorsehung (s. Anm. 1). 7 Für Verweise auf die zahlreichen weiteren kirchlichen Dokumente, siehe den Systematischen Index – C 1g im DH; zitiert nach H. Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, verbessert, er-
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„Alles aber, was er geschaffen hat, schützt (tuetur) und lenkt (gubernat) Gott durch seine Vorsehung, ‚sich kraftvoll von einem Ende bis zum anderen erstreckend und alles milde ordnend‘ [Weish 8,1]. ‚Alles nämlich ist nackt und bloß vor seinen Augen‘ [Hebr 4,13], auch das, was durch die freie Tat der Geschöpfe geschehen wird.“ (DH 3003)8 Vorsehung wird hier in universaler Weise als göttliche Fürsorge und Lenkung alles Geschaffenen beschrieben. An anderer Stelle wird festgehalten, dass Gott „die Welt durch seine Vorsehung schützt (tuentis) und leitet (gubernantis)“ (DH 3875), dass er „in wunderbarer Vorsehung den Lauf der Zeiten leitet (dirigit)“ (DH 4326) und dass „Gott […] der Schöpfer (creatorem), Erschaffer (factorem), Leiter (gubernatorem) und Lenker (dispositorem) ist von allem“ (DH 790). Im Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) wird dazu ergänzt: „Die Schöpfung hat ihre eigene Güte und Vollkommenheit. Sie ging jedoch aus den Händen des Schöpfers nicht ganz fertig hervor. Sie ist so geschaffen, daß sie noch ‚auf dem Weg‘ [in statu viæ] zu einer erst zu erreichenden letzten Vollkommenheit ist, die Gott ihr zugedacht hat. Wir nennen die Fügungen, durch die Gott seine Schöpfung dieser Vollendung entgegenführt, die ‚göttliche Vorsehung‘.“ (KKK 302) Zu unterscheiden sind demnach einerseits die Schöpfung (creatio), also die Erschaffung von allem Geschöpflichen (d. h. alles außer Gott [DH 285]) aus dem Nichts (ex nihilo) (DH 3001f), und andererseits Gottes Vorsehung (providentia), also die göttlichen Fügungen oder Führung, die diese Schöpfung zur Vollkommenheit führt, lenkt oder leitet. Ein erstes Element der Unterscheidung stellt dabei klassisch die Erhaltung (conservatio) dar, also die Fortführung des Schöpfungsaktes, der die Geschöpfe und damit die Schöpfung im
weitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von H. Hoping herausgegeben von P. Hünermann, Freiburg i. Br. 432010. 8 1. Vatikanisches Konzil, Dei Filius, c. 1: „Universa vero, quae condidit, Deus providentia sua tuetur atque gubernat, ‚attingens a fine usque ad finem fortiter, et disponens omnia suaviter‘ (Sap 8,1). ‚Omnia enim nuda et aperta sunt oculis eius‘ (Hebr 4,13), ea etiam, quae libera creaturarum actione futura sunt.“ (DH 3003)
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Allgemeinen stets im Sein erhält (DH 4203, 4302, 4336), die traditionellerweise bereits zur Vorsehung im weiteren Sinne zählt:9 „Indem man die Erhaltung von der Schöpfung differenzierte, schuf man die Grundlage für die Vorsehungslehre als der Reflexion auf das Wirken Gottes in und an der Welt.“10 Wie eingangs erwähnt, schließt diese providentielle Fürsorge eine göttliche Führung aller Geschöpfe ein – die göttliche Vorsehung ist universal (DH 3003). Das Ziel der Geschöpfe, in dem sie auf je verschiedene Weise ihre Vollkommenheit finden, ist letztlich Gott selbst – Gott ist somit „der Ursprung und das Ziel aller Dinge“ (DH 3004). Immer wieder wird betont, dass Gott das Ziel der Welt und aller Dinge, inklusive und besonders des Menschen, ist (DH 3004, 3538, 4195, 4206, 4313, 4320, 4341).11 Dadurch entsteht eine gewisse geschöpfliche Ordnung. Bezüglich dieser Ordnung wird eine Mitwirkung durch Zweitursachen, also durch geschöpfliche Ursachen, konstatiert in der Umsetzung des göttlichen Ratschlusses oder Plans der Vorsehung (KKK 306 –308).12 Geschöpfe können also in gewissem Sinne an der Vorsehung bzw. an deren Umsetzung teilhaben (DH 4334). Die kirchliche Position wird daher im Katechismus wie folgt zusammenfassend dargestellt: (1) „Die göttliche Vorsehung besteht in den Fügungen, durch die Gott alle Geschöpfe mit Weisheit und Liebe ihrem letzten Ziel entgegenführt.“ (KKK 321) (2) „Die göttliche Vorsehung handelt auch durch das Handeln der Geschöpfe. Den Menschen gibt Gott die Möglichkeit, in Freiheit an seinen Plänen mitzuwirken.“ (KKK 323)
9
Siehe dazu als historisches Beispiel etwa Thomas von Aquin, Summa Theologiae (STh) I 104; sämtliche Werke von Thomas von Aquin zitiert nach www.corpusthomisticum.org, und in systematischer Aufarbeitung A. J. Freddoso, God’s General Concurrence with Secondary Causes: Why Conservation is Not Enough, in: Philosophical Perspectives 5 (1991), 553 –585. 10 U. L. Lehner, Kants Vorsehungskonzeption auf dem Hintergrund der deutschen Schulphilosophie und -theologie, Leiden 2007, 7. 11 Siehe hierzu auch den Systematischen Index – C 1h sowie C 5a im DH. 12 Zur Stellung des Menschen und dessen Mitwirken am Werk Gottes, siehe den Systematischen Index – C 1gc im DH.
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2. Aktuelle Rückfragen an das „ordinative“ Modell der Vorsehung Dass die Vorsehung Gottes tatsächlich, wie oben angeklungen, eine Ordnung (ordo) impliziert, wird aber heute von manchen Theologinnen und Theologen bezweifelt. 2.1 Impliziert Gottes Vorsehung eine Ordnung? So wird in neuerer Zeit darüber diskutiert, „ob der chr[istliche] V[orsehungs]-Begriff nicht v[on] seiner trad[itionellen] teleologisch-ordinativen Denkform zu lösen ist“13. In Bezug auf diese traditionelle ordinative Denkform wird etwa eingewandt, dass der ordo-Gedanke eine verfälschende hellenistische Überfrachtung der ursprünglichen biblisch-christlichen Vorstellung sei, welche die Freiheit der Geschöpfe und die Geschichtlichkeit der Welt einschränke, wenn nicht gar verunmögliche. Im Hintergrund solcher Aussagen stehen zwei Paradigmen der Vorsehungslehre, die Reinhold Bernhardt als den „(sapiential-)ordinativen“ und „aktualistischen“ Typus bezeichnet. Ersteres Paradigma sieht die Vorsehung, wie Bernhardt herausgearbeitet hat, primär als einen Gott-internen intellektuellen Akt, zweiteres primär als einen Gott-gewollten und wirkmächtigen Akt in der Welt.14 Historisch gesehen erfolgte eine gewisse Abkehr vom ordinativen Modell gemäß Bernhardt insbesondere durch den neuzeitlich aufkeimenden Voluntarismus in der aktualistischen Tradition, der die Souveränität und Allmacht Gottes betonte.15 Grob gesprochen wird damit die interne Teleologie der Natur und Schöpfung durch die Intentionalität des Handelns Gottes ersetzt, welches nun als den Dingen extern und äußerlich verstanden wird. Allerdings wirft diese Abkehr vom teleologischen Denken, also der Übergang vom göttlichen Ordnen der Welt hin zu einem Handeln Gottes in ebendieser, die vieldiskutierte Frage nach der Möglichkeit des göttlichen Handelns in der Welt auf. Gibt es in der Welt überhaupt Platz für ein Handeln
G. Essen, Art. Vorsehung. III. Systematisch-theologisch, in: LThK3 (2001), 897– 899, 899. 14 R. Bernhardt, Was heißt „Handeln Gottes“? (s. Anm. 6), bes. 29 –39. 15 Ebd., 32. 13
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Gottes, das weder die menschliche Freiheit aufhebt noch inkompatibel ist mit der naturwissenschaftlichen Sicht? Mit dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaften gewinnt folglich das ordinative Schema wieder an Bedeutung. Ulrich Lehner bemerkt hierzu: „Das streng aktualistische Vorsehungsmodell wurde durch die neuzeitliche Hegemonie der Naturwissenschaften marginalisiert, weil bisher Gott zugeschriebene Wirkungen aus der Regelhaftigkeit der Natur erklärt werden konnten.“16 Darüber hinaus führte die Annahme eines weitgehenden kausalen Determinismus (in Verbindung mit der Annahme, dass die physikalische oder materielle Welt kausal geschlossen ist) zu einer schrittweisen Zurückweisung göttlichen Handelns in der Welt, das letzten Endes, so ein gängiger Einwand, zu einer rein subjektiven Kategorie verkommt.17 Das ordinative Schema hingegen fand wieder vermehrt Anklang. So betont Lehner mit Blick auf das 18. Jahrhundert, dass angesichts von Immanuel Kants Konzeption der Vorsehung, der diesbezüglich weiten Teilen der Schulphilosophie folgt, „eine aktualistische Vorsehungslehre gegenstandslos wird“.18 Die Annahme lautete: „Ein aktualistisches Welthandeln Gottes würde die Einheit der Natur aufheben und moralisches Handeln beeinträchtigen oder sogar unmöglich machen.“19 Vorsehung meine nach Kant letztlich Gottes schöpferischen und ordinativen „Akt der Einrichtung der Natur“.20 16
U. L. Lehner, Kants Vorsehungskonzeption, 13. Dass das Handeln Gottes – insbesondere im speziellen Sinn, das auch Wunder umfasst – auch mit der subjektiven Deutung des Menschen zu tun hat, für die die Bedeutung des Handelns Gottes wesentlich ist, insbesondere für die religiöse Praxis und den Glaubensvollzug, steht außer Frage. Die Frage, die insbesondere in der unten angesprochenen Divine Action Debate aufkam, ist vielmehr, ob Handeln Gottes rein subjektiv gedeutet werden kann. Mit anderen Worten, muss eine Theorie des göttlichen Handelns, mittels derer die Vorsehungslehre ausgelegt werden kann, nicht auch Handeln Gottes in einem objektiven Sinn annehmen. Zur vieldiskutierten Frage, was diese Forderung nach einem objektiven Handeln Gottes genau beinhaltet, siehe beispielsweise S. M. Kopf, Reframing Providence. New Perspectives from Aquinas on the Divine Action Debate, Oxford 2023. 18 U. L. Lehner, Kants Vorsehungskonzeption, 471. 19 Ebd., 472. 20 Ebd., 475. 17
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Allerdings ist die Rehabilitierung des Handelns Gottes im aktualistischen Sinne seit geraumer Zeit zumindest im englischsprachigen Raum wieder in vollem Gange. Ein häufiger Einwand gegen das Handeln Gottes in der Welt lautete wie folgt:21 (1) Kausal determinierte Systeme schließen Gottes Handeln (in ebendiesen) aus. (2) Die Welt ist ein kausal determiniertes System. (3) Also schließt die Welt Gottes Handeln (in ebendieser) aus. Im aktualistischen Paradigma wurden in neuerer Zeit insbesondere im Rahmen der Divine Action Debate zahlreiche Modelle des göttlichen Handelns ausgearbeitet, die allesamt Prämisse (2) negieren, dabei aber weitestgehend Prämisse (1) unverändert voraussetzen. Die Ansätze werden oft unter dem Banner „NIODA“ zusammengefasst – ein Akronym für non-interventionist objective divine action, also Handeln Gottes, das über die Schöpfung und Erhaltung hinausgeht, eine wirkursächliche Partikularität einschließt und weder im Widerspruch mit den Naturgesetzen steht noch in einem rein subjektiven Sinne gedeutet wird.22 2.2 Das Verhältnis von Vorsehung und Handeln Gottes Ein zentraler Referenzpunkt besteht dabei in der gegenwärtigen Debatte um Gottes Vorsehung insbesondere in der oft zitierten biblisch-christlichen Überzeugung, dass Gott wirkmächtig in der Geschichte handelt.23 Diese ursprüngliche Überzeugung gelte es von Überfrachtungen zu reinigen und vor dem Hintergrund des naturwissenschaftlichen Weltbildes und der modernen Freiheitskonzeption plausibel zu machen. Gemäß diesem Ansatz werden Vorsehung und Handeln Gottes eng miteinander verknüpft. Angesichts der zahlreichen Herausforderungen und Anfragen an das Handeln Got21
Siehe hierzu S. M. Kopf, Vorsehung bei Gott und Mensch. Ein Vorschlag zur aktuellen Debatte über Gottes Vorsehung und Handeln, in: ZTP 143 (2021), 184 –211, 187–193. 22 Meine Analyse der Divine Action Debate und ausführliche Kritik am NIODA-Modell habe ich vorgelegt in S. M. Kopf, Reframing Providence (s. Anm. 17), 13 – 96. 23 Siehe dazu etwa W. J. Abraham, Divine Agency and Divine Action, Bd 1: Exploring and Evaluating the Debate, Oxford 2017; L. B. Gilkey, Cosmology, Ontology, and the Travail of Biblical Language, in: The Journal of Religion 41:3 (1961), 194 –205; S. M. Kopf, Reframing Providence (s. Anm. 17), 22–30.
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tes solle die Vorsehungslehre zeigen, wie Gott in der Welt und in der Geschichte handeln kann. Dieser Ansatz hat insbesondere in der oben erwähnten Divine Action Debate dazu geführt, die Vorsehungslehre mittels philosophisch vermittelter Handlungskategorie auszulegen. Vorsehung ist demnach im Wesentlichen ein Handeln Gottes, das (in analytischen Kreisen oftmals univok) anhand des menschlichen Handlungsbegriffs zu fassen gesucht wird.24 Diese Herangehensweise soll im Folgenden „handlungsbasiertes“ Modell genannt werden, denn darin wird (1) die Vorsehung im Wesentlichen als ein (transeuntes) Handeln Gottes verstanden und (2) dieses (transeunte) göttliche Handeln auf der Grundlage einer philosophischen Analyse des menschlichen Handelns ausgelegt. Hier vermischen sich die eingangs skizzierten analytischen und kontinentalen Perspektiven dahingehend, dass das Handeln Gottes in der Welt und insbesondere in der Geschichte als Arena göttlicher und menschlicher Freiheit einerseits eher dem kontinental-voluntativen Paradigma zuzuordnen ist, aber dieses Handeln Gottes andererseits oftmals mittels analytischer Handlungstheorie ausgelegt wird. Das lässt sich exemplarisch am oben in Prämisse (1) angeklungenen und weitverbreiteten, aber nicht minder umstrittenen, sogenannten theo-physischen Inkompatibilismus verdeutlichen, also an der Überzeugung, dass spezielles Handeln Gottes in der Welt in einem objektiven und nicht-interventionistischen Sinne mit dem kausalen Determinismus inkompatibel ist und daher ein solches Handeln Gottes in der Welt den kausalen Indeterminismus ebendieser voraussetzt. Diese Theorie ist nämlich im Wesentlichen ein Import aus der (analytischen) Handlungsphilosophie:25 So wie freie menschliche Handlungen im libertarischen Sinne, das heißt nach inkompatibilistischer Sichtweise, den kausalen Indeterminismus voraussetzen – also die These, dass nicht alle Ereignisse von vorgängigen Ursachen zur Gänze determiniert sind –, so setzt auch das göttliche Handeln in der Welt den kausalen Indeterminismus voraus. Damit wird der kausale Indeterminismus zur Bedingung der Möglichkeit von göttlichem Handeln in der Welt in einem objektiven und nicht-interventionistischen Sinne. Ob die anfänglich gefeierten theo-physisch inkompatibilistischen 24 25
Siehe S. M. Kopf, Vorsehung bei Gott und Mensch, 187–193. Siehe S. M. Kopf, Reframing Providence, 67– 96, bes. 68 –71.
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NIODA-Theorien von Erfolg gekrönt sind, wird in der jüngeren Debatte zunehmend bezweifelt.26 Ein Hauptgrund für die oben angedeuteten Zweifel am ordinativen Schema scheint heute zu sein, dass den angesprochenen Theologinnen und Theologen eine teleologische Ordnung der Vorsehung als unvereinbar mit dem Kontingenten in und der Geschichtlichkeit der Welt erscheint. Bevor auf diese Einwände näher eingegangen wird, soll zunächst das ordinative Verständnis der Vorsehung – in zumindest einer gängigen Form – eingeführt und anhand einer Analogie näher vorgestellt werden.
3. Ein klugheitsbasiertes Modell der Vorsehung Ein in der jüngeren Debatte diskutierter, alternativer Ansatzpunkt, der sich zwar grundsätzlich mit dem handlungsbasierten Modell verbinden lässt, Handeln Gottes aber neu kontextualisiert, ist das klugheitsbasierte Modell, das den Schwerpunkt auf das Ordnen bzw. Hinordnen auf Ziele setzt. Der folgende Abschnitt soll zeigen, dass die Tugend der Klugheit bzw. die menschliche Vorsehung als ihr zentraler Teil eine systematisch interessante Analogie darstellt, zumindest wenn die Vorsehung ordinativ ausgelegt wird. 3.1 Vorsehung aus material-systematischer Perspektive – eine Analogie Aus der dogmatischen Bestimmung der Vorsehung scheint unstrittig, dass Gott wirkmächtig in der Geschichte und Welt handelt (DH 2902). Es stellt sich allerdings das berechtigte Anliegen, auch einsichtig zu machen, wie Gott in der Welt wirkmächtig handeln kann – ein Hauptanliegen des handlungsbasierten Ansatzes. Die Frage aber ist, ob sich die Vorsehung sinnvollerweise auf das Handeln Gottes in der Welt reduzieren lässt.27 26
Siehe N. Saunders, Divine Action and Modern Science, Cambridge 2002; M. J. Dodds, Unlocking Divine Action. Contemporary Science and Thomas Aquinas, Washington, D.C., 2012. Eine ausführliche Analyse des theo-physischen Inkompatibilismus und meine Kritik daran habe ich in S. M. Kopf, Reframing Providence, 67– 96 vorgelegt. 27 Hier ist mit „Handeln“ wiederum eine transeunte Handlung bezeichnet.
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Auch wenn das göttliche Handeln in der Welt ein wesentlicher Bestandteil einer christlichen Vorsehungslehre ist, so kann dennoch eine weitestgehende Gleichsetzung von welt-immanentem Handeln und Vorsehung Gottes aus verschiedenen Gründen hinterfragt werden. Ein erster Grund, nochmals genereller nach dem Wesen und der Eigenart der Vorsehung zu fragen, ist die Tatsache, dass der Begriff der Vorsehung in traditionell-dogmatischen Formulierungen, wie oben angeklungen, nicht so sehr ein Handeln Gottes in der Welt meint als vielmehr Gottes näher zu bestimmende Fürsorge und Führung seiner Schöpfung. Das eröffnet von Neuem die Frage, wie wir diese göttliche Fürsorge begreifen können. Gibt es – abgesehen vom menschlichen Handeln – eine geschöpfliche Analogie zur göttlichen Vorsehung, auf deren Grundlage wir seine Führung verstehen und auslegen können? Thomas von Aquin, ein Hauptvertreter des ordinativen Modells, meint dazu: „[W]as wir von Gott verstehen, können wir, wegen der Schwachheit unseres Intellekts, nicht erkennen, außer durch das, was bei uns ist; und so, damit wir wissen, in welcher Weise die Vorsehung von Gott ausgesagt wird, müssen wir sehen, in welcher Weise die Vorsehung in uns ist.“28 Thomas von Aquin schlägt also vor, die menschliche Vorsehung als Analogie für die göttliche Vorsehung heranzuziehen. Menschliche Vorsehung ist, wie Bruno Niederbacher in diesem Band ausführlich dargelegt hat, in der traditionellen Tugendlehre der die Zukunft antizipierende Teil der menschlichen Klugheit, der es handelnden Personen ermöglicht, entsprechende Mittel und insbesondere Handlungen auf ein Ziel hinzuordnen. Die von Thomas von Aquin hier vorgetragene These, dass Gottes Vorsehung eine geschöpfliche Analogie in der menschlichen Vorsehung hat und von daher ausgelegt werden kann, ist wesentlich verschieden von der heute gängigen, oben vorgetragenen These, dass Gottes Vorsehung letztlich ein genauer zu spezifizierendes Handeln Gottes in der Welt meint. Der Unterschied besteht im Wesentlichen 28
T. von Aquin, De Veritate 5, 1: „Dicendum quod ea quae de Deo intelliguntur propter nostri intellectus infirmitatem cognoscere non possumus nisi ex his quae apud nos sunt, et ideo ut sciamus quomodo providentia dicatur in Deo, videndum est quomodo providentia sit in nobis.“
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darin, dass die menschliche Vorsehung als vorausschauender Teil der Klugheit der Handlung gewissermaßen vorgeschaltet ist und sie erst zu einer klugen oder providentiellen Handlung macht. In ähnlicher Weise, so wird in diesem Beitrag argumentiert, ist die Vorsehung Gottes, wenn man der These von Thomas folgt, nicht schlichtweg mit seinem Handeln in der Welt identisch (gubernatio), sondern ist dem göttlichen und geschöpflichen Handeln, das oftmals ineinander greift, (kausal, nicht zeitlich) vorgeschaltet und macht dieses erst zu einem providentiellen Handeln, indem Gott alle Geschöpfe teleologisch auf ihre Ziele hinordnet (providentia). Diese Herangehensweise soll im Folgenden „klugheitsbasiertes“ Modell genannt werden. Die hier vorgetragene Variante besagt: (1) Göttliche Vorsehung kann zumindest gemäß einer katholischen Vorsehungslehre analog zur menschlichen Klugheit und Vorsehung verstanden werden. Dabei ist allerdings zu beachten: (2) Der hier verwendete Begriff der Vorsehung ist ein analoger Begriff. Da Annahme (2) nicht unumstritten ist, folgen zunächst einige Überlegungen zur Analogizität des Vorsehungsbegriffs, die in Formulierung (1) implizit anklingt, durch (2) jedoch explizit thematisiert wird. Es geht dabei um keinen Analogieschluss, etwa im Sinne einer Induktion, sondern um eine analoge Redeweise von Gottes Vorsehung, die nicht primär anhand der menschlichen Handlung, sondern in Analogie zur Klugheit ausgelegt wird. Mit anderen Worten, es geht nicht nur um ein alternatives Modell – Klugheit bzw. menschliche Vorsehung statt menschlichem Handeln als solchem –,29 sondern auch darum, dieses Modell in einem analogen anstatt univoken Sinne anzuwenden.
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In diesem Beitrag weitgehend ausgeklammert bleibt die für die Ausführung der ordinativ verstandenen Vorsehung wesentliche Theorie der Erst- und Zweitursachen. Die Formulierung müsste eigentlich lauten: Klugheit bzw. menschliche Vorsehung als Analogie für die göttliche Vorsehung im Sinne der (unten eingeführten) providentia gepaart mit einer Erst- und Zweitursachenlehre zur Auslegung der Ausführung der Vorsehung (gubernatio), anstatt schlichtweg menschliches Handeln als Analogie für die Vorsehung als solche. Eine robuste Theorie des göttlichen Handelns in der Welt ist also auch für das vorgetragene ordinative Modell der Vorsehung wesentlich. Siehe dazu S. M. Kopf, Reframing Providence, 103 –146, bes. 128 –138.
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3.2 Ist „Vorsehung“ ein analoger Ausdruck? Anlässlich seines 80. Geburtstags und mit Rückblick auf die Theologie des 20. Jahrhunderts bemerkt Karl Rahner in „Erfahrungen eines katholischen Theologen“ (1984), dass auch wenn wir dies anschließend in unserem konkreten Theologietreiben leider oftmals vergäßen, es eine Selbstverständlichkeit sei, „daß alle theologischen Aussagen, wenn auch noch einmal in verschiedenster Weise und verschiedenem Grad, analoge Aussagen sind […], daß eine Aussage über eine bestimmte Wirklichkeit mit Hilfe dieses Begriffes zwar legitim und unvermeidlich ist, aber in einem gewissen Sinne immer auch gleichzeitig zurückgenommen werden muß, weil die bloße Zusage dieses Begriffes auf die gemeinte Sache hin allein und ohne gleichzeitige Rücknahme, ohne diese seltsame und unheimliche Schwebe zwischen Ja und Nein, den wirklich gemeinten Gegenstand verkennen würde und letztlich irrig wäre.“30 Rahner spricht hier das theologische Grundaxiom an, dass alle theologischen Begriffe, die wir von Gott aussagen, letztlich analog gemeint sind: „Denn zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf kann man keine so große Ähnlichkeit feststellen, daß zwischen ihnen keine noch größere Unähnlichkeit festzustellen wäre.“ (DH 806)31 Was Rahner als Selbstverständlichkeit bezeichnete und im eben zitierten 4. Laterankonzil (1215) festgehalten wurde, wird aber heute, insbesondere in analytischen Kreisen, in Zweifel gezogen. So wird dort mitunter die Univozität theologischer Sprache gefordert, auch in Bezug auf die Begriffe der Vorsehung und des Handelns Gottes.32 Demgegenüber soll hier die Analogizität der Vorsehung stark gemacht werden, den Begriff der Vorsehung weder äquivok, das heißt gänzlich bedeutungsverschieden, noch univok, das heißt 30
K. Rahner, Erfahrungen eines katholischen Theologen, in: A. Raffelt (Hrsg.), Karl Rahner in Erinnerung, Düsseldorf 1994, 134 –148, 134 –135. 31 4. Konzil im Lateran, c. 2: „quia inter creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda.“ (DH 806) 32 Siehe etwa Johannes Grössls Beitrag in diesem Sammelband; als prominentes Beispiel sei hier W. P. Alston, Divine and Human Action, in: T. V. Morris (Hrsg.), Divine and Human Action. Essays in the Metaphysics of Theism, Ithaca, N.Y., 1988, 257– 280, bes. 258, genannt.
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bedeutungsgleich, zu verwenden. Die Aussage, dass Gott eine Vorsehung hat oder ausübt, ist analog zu verstehen, das heißt unter Wahrung eines gemeinsamen Bedeutungskerns, der den Ausdruck „Vorsehung“ weder bedeutungsgleich noch gänzlich bedeutungsverschieden macht. Es gibt zwischen göttlicher und geschöpflicher Vorsehung eine gewisse und bedeutsame Ähnlichkeit bei größerer Unähnlichkeit. So meint der Begriff „Vorsehung“ in den folgenden beiden Aussagen nicht dasselbe: (1) Gott übt eine Vorsehung aus. (2) Der Mensch übt eine Vorsehung aus. Dennoch sind die Bedeutungen von „Vorsehung“ in (1) und (2) nicht gänzlich verschieden. Um dem analogen Charakter theologischer Aussagen gerecht zu werden, wird im Folgenden versucht, den Ausdruck „übt eine Vorsehung aus“ analog zu verwenden, unter Zuhilfenahme der klassischen dreigliedrigen Transformation der via affirmativa, via negativa und via eminentiae.33 Dabei ist eine methodische Einschränkung unter doppelter Rücksicht zu beachten: Der Fokus der folgenden, relativ knappen Ausführungen liegt einerseits, wie bereits angesprochen, auf dem durch traditionell-dogmatische Aussagen nahegelegten ordinativen Modell der Vorsehung, ohne dabei das aktualistische auszuschließen, zu dem anschließend nochmals zurückzukehren ist, und bezieht sich andererseits, wo im Folgenden angemerkt, da für die Bemerkungen wesentlich, insbesondere auf jenes Gottesbild, das in der aktuellen analytischen Diskussion oft stichwortartig als „Klassischer Theismus“ bezeichnet wird,34 wiederum ohne an dieser Stelle alternative Gotteskonzepte ausschließen zu wollen; auch für diese kann eine ordinative Herangehensweise unter Umständen durchaus attraktiv sein. Dennoch gilt: Ohne auf die Eigenschaften Gottes zu sprechen zu kommen, kann zwar die menschliche Vorsehung, nicht aber die Vorsehung Gottes sinnvoll ausgelegt werden. Welche Eigenschaften von Gott angenommen werden, hängt vom jeweiligen Gottesbild ab. Die Vorstellung der Vorsehung wird sich dementsprechend gemäß dem Gottesbild verändern. Es wird an den ausgewiesenen Stellen also primär die Vereinbarkeit des klugheitsbasierten Ansatzes mit 33
Die folgenden drei Unterkapitel nehmen stark Bezug auf den Beitrag von Bruno Niederbacher. 34 Siehe dazu Fußnote 39.
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den – zugegebenermaßen heute nicht unumstrittenen – klassischtheistischen Eigenschaften Gottes, wie beispielsweise seine Einfachheit, Vollkommenheit, Ewigkeit oder Unveränderlichkeit, ausgelotet. Ein Grund für dieses Vorgehen liegt darin, dass der sogenannte „Klassische Theismus“ mitunter die stärksten Forderungen bezüglich der Vorsehung Gottes impliziert, die dann bei alternativen Gottesbildern, bei denen einige oder alle der klassisch-theistischen Eigenschaften Gottes abgelehnt werden, entsprechend abgemildert werden müssten. Via Affirmativa In einem ersten, affirmativen Schritt kann gesagt werden: Gott übt eine Vorsehung aus. Der Ausdruck „übt eine Vorsehung aus“ ist hierbei analog zu verstehen, und zwar beim klugheitsbasierten Ansatz in Analogie zur geschöpflichen bzw. menschlichen Vorsehung. In De inventione führt Cicero die menschliche Vorsehung (providentia) bekanntermaßen als einen Teil der Tugend der Klugheit ein: „Die Klugheit ist das Wissen um die guten und schlechten Dinge und die, welche keines von beiden sind. Ihre Teile [sind]: die Erinnerung (memoria), das Verstehen (intellegentia), die Vorsehung (providentia). Die Erinnerung ist, wodurch der Geist jenes wiederholt, was gewesen ist; das Verstehen, wodurch er das durchblickt, was ist; die Vorsehung, wodurch irgendetwas Zukünftiges gesehen wird, bevor es gemacht worden ist.“35 Diese drei Elemente der Klugheit – Erinnerung, Verstehen, Vorsehung – sind essentiell für ein kluges menschliches Handeln: Nur wer ein Gedächtnis des Vergangenen hat, das Gegenwärtige richtig versteht und einzuschätzen weiß und eine die Zukunft antizipierende Weitsicht an den Tag legt, kann über die zur Zielerreichung nötigen Mittel (i) gut zu Rate gehen (consiliari), (ii) richtig darüber ur-
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Cicero, De inventione II, 53 (n. 160); übersetzt vom mir aus dem Lateinischen in Cicero, On Invention. Best Kind of Orator. Topics, übers. v. H. M. Hubbell, Cambridge, M.A., 1949, 326: „Prudentia est rerum bonarum et malarum neutrarumque scientia. Partes eius: memoria, intellegentia, providentia. Memoria est per quam animus repetit illa quae fuerunt; intellegentia, per quam ea perspicit quae sunt; providentia, per quam futurum aliquid videtur ante quam factum est.“
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teilen (iudicare) und insbesondere die geeigneten Mittel (iii) effektiv anordnen (praecipere/imperare). Wie Bruno Niederbacher dargelegt hat, meint Klugheit in der klassischen Tugendlehre das rechte Überlegen-Können in Bezug auf das Handeln. Die Tugend umfasst traditionell drei Akte, nämlich, wie erwähnt, das zu Rate Gehen, das Urteilen und das Anordnen. Die menschliche Vorsehung als wesentlicher Teil der Klugheit ordnet dabei das Gegenwärtige auf das Zukünftige hin; sie befähigt zur Handlungsplanung: zum Ordnen auf ein Ziel hin (ordinare … in finem).36 Wenn nun die menschliche Vorsehung als ein geschöpfliches Analogat der göttlichen Vorsehung angesehen wird, dann legt sich nahe, die göttliche Vorsehung – in Analogie zur menschlichen – grundlegend als ein Ordnen auf ein Ziel hin (ordinare … in finem) zu verstehen, nämlich als ein Ordnen der geschaffenen Dinge auf ein Ziel hin (ordo rerum in finem).37 Dementsprechend könnte definiert werden: Die menschliche Vorsehung bzw. Klugheit = def. das Ordnen des Menschen von entsprechenden Mitteln und insbesondere seinen Handlungen auf ein zukünftiges Ziel hin, das ein Gut darstellt. Die göttliche Vorsehung = def. das Ordnen Gottes aller Geschöpfe auf ein Ziel hin, das ein (höchstes) Gut darstellt. Vorsehung wird demgemäß grundlegend als ein Ordnen verstanden, als ein auf ein Ziel Hinordnen. Vorsehung schließt weiters die Gutheit dieses Ziels ein, auf das die Vorsehung hinordnet. Das Ziel muss ein Gut (bonum) darstellen. Das hat auf Seiten des Menschen damit zu tun, dass menschliche Klugheit eine kognitive Tugend ist, die die moralischen Tugenden voraussetzt. Damit ist gemeint, dass die Klugheit nicht nur intellektuelle Fertigkeiten einschließt, sondern auch den guten willentlichen Gebrauch dieser Fertigkeiten. Kluge Handlungen müssen somit immer auf ein moralisches Gut ausgerichtet sein. Auch bezüglich der göttlichen Vorsehung würde es, insbesondere angesichts der Gutheit Gottes, eigenartig anmuten, wäre das Ziel seines providentiellen Ordnens nicht ein Gut, sondern 36 STh I 22, 1. Thomas von Aquin erklärt ebenda: „Der Grund (ratio) aber der auf das Ziel hin zu ordnenden Dinge ist Vorsehung im eigentlichen Sinn.“ (Ratio autem ordinandorum in finem, proprie providentia est.) 37 STh I 22, 1.
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Böses oder ein Mangel. Das Ziel der Geschöpfe, zu dem Gott ordnet, ist ein Gut, ist letztlich Gott selbst, wie oben gesehen. Denn die Vorsehung führt laut gängiger kirchlicher Lehre die Geschöpfe ihrer Vollkommenheit und Vollendung entgegen. Die Analogie der Klugheit kann zweitens zum Ausdruck bringen, dass die Vorsehung Gottes sowohl den göttlichen Intellekt als auch seinen Willen betrifft – und zwar, wie eben angedeutet, den guten Willen, also einen Willen, der auf das moralisch Gute ausgerichtet ist. Somit werden sowohl die intellektuelle als auch die voluntative Dimension der Vorsehung betont. Ebenso kommt eine gewisse moralische Dimension der göttlichen Vorsehung zum Tragen, die für das christlich-katholische Verständnis der Vorsehung wesentlich ist. Durch die Tatsache, dass Klugheit in der klassischen Tugendlehre das gesamte menschliche Leben im Blick hat, lässt sich drittens eine gewisse Ähnlichkeit zum universalen Charakter der göttlichen Vorsehung herstellen, an der aus dogmatischer Sicht festzuhalten ist und die es zu interpretieren gilt. Als eine vierte Ähnlichkeit lässt sich, wie Bruno Niederbacher herausgearbeitet hat, anführen, dass menschliche Klugheit und Vorsehung Gottes die Erkenntnis des Universalen wie auch des Partikulären einschließen. Allein die Universalien ermöglichen kein spezielles providentielles Handeln; Klugheit und Vorsehung haben es auch und gerade mit dem Partikulären zu tun, mit den konkreten Umständen, dem Hier und Jetzt. Auch dies ist aus dogmatischer Sicht wünschenswert. Zusammenfassend kann affirmativ gesagt werden, dass Gott eine Vorsehung ausübt und dass diese ordinativ und zielgerichtet erscheint, wenn sie analog zur menschlichen Vorsehung verstanden wird. Mit „Vorsehung“ ist dann ein zielgerichtetes, intellektuelles und voluntatives göttliches Ordnen der geschöpflichen Dinge auf ein Gut hin bezeichnet, das nicht nur Allgemeines, sondern auch Partikuläres umfasst. Via Negativa In einem zweiten, entschränkenden Schritt muss dann qualifiziert werden: Gott übt nicht eine Vorsehung aus, die den geschöpflichen Beschränkungen unterworfen ist. Hier kommt die Unähnlichkeit zwischen Geschöpf und Gott zum Tragen. Mit Blick auf die oben vorgeschlagenen Definitionen können zumindest folgende Unter-
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schiede hinsichtlich des Gegenstandes, des Handlungsbereiches, des Ziels sowie der Akte der Vorsehung festgehalten werden. Die menschliche Vorsehung bzw. Klugheit = def. das Ordnen des Menschen von entsprechenden Mitteln und insbesondere seinen Handlungen auf ein zukünftiges Ziel hin, das ein Gut darstellt. Die göttliche Vorsehung = def. das Ordnen Gottes aller Geschöpfe auf ein Ziel hin, das ein (höchstes) Gut darstellt. Zunächst muss der Gegenstand der Vorsehung qualifiziert und entschränkt werden. Die göttliche Vorsehung hat im Gegensatz zur menschlichen Klugheit nicht nur das gesamte Leben im Blick, sondern betrifft die gesamte Schöpfung, synchron und diachron, das heißt alle Geschöpfe durch die Zeiten hindurch. Die Vorsehung Gottes ordnet alle Geschöpfe auf ein Ziel hin. Ein Mensch aber kann niemals eine universale Vorsehung ausüben. Sein Handlungsbereich ist eingeschränkt. Das bedeutet dann aber zweitens mit Bezug auf ebendiesen Handlungsbereich auch, dass die göttliche Vorsehung nicht auf Zukünftiges und Kontingentes beschränkt sein kann. Wie Aristoteles darlegt, ist die menschliche Klugheit auf zukünftiges Kontingentes beschränkt, da der menschliche Handlungsbereich das Notwendige sowie das bereits Gegenwärtige und Vergangene nicht umfasst.38 Wir können nur in Bezug auf jene Dinge klug handeln, die wir verändern können. Als Schöpfer, Erhalter und Lenker der ganzen Welt und aller Geschöpfe wird Gottes Handlungsbereich hingegen entschränkt gedacht werden müssen. Durch sein Schöpfungs-, Erhaltungs- und universelles Vorsehungshandeln ist einerseits auch das Notwendige innerhalb seiner Schöpfung Teil seines Handlungsbereichs; sein Handeln ist – als „Herrscher über das All“ – nicht auf Kontingentes begrenzt. So sind beispielsweise notwendige Naturgesetze eine Folge seines Handelns. Andererseits erstreckt sich sein Handeln – als „König der Zeiten“ – nicht nur auf Zukünftiges, sondern umfasst auch das Gegenwärtige und Vergangene. Gott handelt durch die Geschichte hindurch, in und zu allen Zeiten, in und durch Kontingen38
Aristoteles, Nikomachische Ethik VI, 2 und VI, 5; zitiert nach Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers. v. Ursula Wolf, Reinbek 2013, 196 und 199 –200.
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tes und Notwendiges. Wie dieses Ordnen von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem, von Notwendigem und Kontingentem zusammengeht mit der Offenheit der Zukunft, mit Kontingenz und menschlicher Freiheit, ist, wie oben angeklungen, ein Hauptkritikpunkt am ordinativen Schema. Insbesondere wird eingewandt, dass Zukunft und Kontingenz im Widerspruch stünden mit der Ewigkeit und Wirkursächlichkeit Gottes, wie wir weiter unten noch sehen werden. Dass sich Gottes Vorsehung auf alle Geschöpfe bezieht, bedeutet zumindest im klassisch-theistischen Kontext39 drittens, dass Subjekt und Objekt der Vorsehung bei Gott nicht zusammenfallen. Demgemäß muss bezüglich des Gegenstandes der Vorsehung spezifiziert werden, dass sich göttliche Vorsehung universal auf alle, aber eben nur auf Geschöpfe bezieht – nicht hingegen auf den Schöpfer selbst. Im Gegensatz zur menschlichen Klugheit ordnet Gott nur andere auf ein Ziel hin, nicht aber sich selbst. Gott ist nämlich laut klassisch-theistischer Vorstellung sein eigenes Ziel. Dies wird nicht als Einschränkung gesehen, sondern vielmehr als Ausdruck seiner Perfektion: Gott ist bereits wesentlich das höchste Gut. Menschliche Klugheit hingegen umfasst primär die handelnde Person, sekundär mitunter auch andere Personen oder Dinge. Jedenfalls handelt eine menschliche Person klug, um ein gewünschtes, zukünftiges, noch nicht erreichtes Ziel zu erreichen, das nicht mit ihr ident ist. Demgegenüber kann nach klassisch-theistischer Sichtweise die göttliche Vorsehung nur als andere, nicht aber sich selbst auf ein von sich verschiedenes Ziel ordnend verstanden werden. Gegenstand der Vorsehung sind nur die Geschöpfe – und zwar alle –, nicht aber Gott als das handelnde Subjekt der Vorsehung. 39
„Klassisch-theistisch“ bezeichnet hier und im Folgenden, wie bereits angeklungen, im spezifischen Sinne Positionen des sogenannten „Klassischen Theismus“ (classical theism). Das insbesondere im analytischen Diskurs verbreitete Label steht in Abgrenzung zu Nicht-Theistischen Positionen sowie zu alternativen theistischen Positionen, wie etwa dem Nicht-Personalen Theismus oder dem Offenen Theismus. Im Zentrum der Debatte stehen insbesondere bestimmte umstrittene Eigenschaften Gottes, zu denen im Falle des Klassischen Theismus, wie oben erwähnt, beispielsweise die Einfachheit, Ewigkeit, Vollkommenheit und Unveränderlichkeit Gottes gehören. Für eine Darstellung des Klassischen Theismus, siehe etwa E. Stump, The God of the Bible and the God of the Philosophers, Milwaukee, W.I., 2016.
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Bruno Niederbacher weist zudem darauf hin, dass zumindest im klassisch-theistischen Kontext ein weiterer Unterschied zwischen menschlicher und göttlicher Vorsehung darin besteht, dass die menschliche Klugheit eine dispositionale Eigenschaft ist, die göttliche aber eine (unveränderliche) Wesenseigenschaft darstellt. Sodann muss das Ziel erneut betrachtet werden. Obwohl die göttliche und die menschliche Vorsehung auf ein Ziel hinordnen, ist dieses Ziel keinesfalls dasselbe. Das Ziel ist im ersten Fall nicht nur ein Gut, sondern letztlich das höchste Gut. Das entspricht auch der dogmatischen Bestimmung der Vorsehung, nach der Gott die Geschöpfe zum Guten führt, nämlich zu ihrer Vervollkommnung – und letztlich zu sich selbst als dem höchsten Gut und Endziel aller Geschöpfe. Bezüglich des Ziels muss zweitens, zumindest aus klassisch-theistischer Sicht, angemerkt werden, dass es sich beim Ziel der göttlichen Vorsehung – im Gegensatz zur menschlichen – nicht im eigentlichen Sinne um ein für Gott zukünftiges Ziel handeln kann. Aus dieser Sicht müsste zur Analogie der Klugheit im Speziellen angemerkt werden, dass ein ewiger Gott weder das Ordnen zeitlich planen noch sich im eigentlichen Sinne an (für ihn) Vergangenes erinnern kann, wenn er nicht zeitlich gedacht wird und alles in seiner Ewigkeit gegenwärtig ist. Der Begriff der Vorsehung muss dementsprechend dahingehend qualifiziert werden, dass Klugheit in Gott erstens kein Gedächtnis (memoria), das heißt kein Erinnern des (für ihn) Vergangenen, einschließt. Für ihn gibt es nur ewige Gegenwart. Ebenso gibt es in Gott zweitens keine Vorsehung (providentia) im Sinne eines Hinordnens auf das (für ihn) Zukünftige, keine die Zukunft antizipierende Handlungsplanung, nur ewige Gegenwart. Die zeitlichen Aspekte der menschlichen Klugheit und Vorsehung können nicht in dieser Weise auf Gott appliziert werden. Wohl aber übt Gott eine Vorsehung (providentia) aus im Sinne des Hinordnens der Geschöpfe auf ihre (für sie zukünftigen) Ziele. Schließlich kann bezüglich der drei oben genannten Akte der menschlichen Vorsehung zumindest aus klassisch-theistischer Perspektive angemerkt werden, dass die ratio der göttlichen Vorsehung im Gegensatz zur ratio der menschlichen Klugheit nicht diskursiv ist. Die menschliche Klugheit umfasst (i) das gute zu Rate Gehen (consiliari), (ii) das rechte Urteilen (iudicare) sowie (iii) das effektive Anordnen (praecipere/imperare). Hingegen kann, zumindest wenn
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Gott actus purus ist, die ratio der göttlichen Vorsehung nicht als schlussfolgender Prozess ausgelegt werden. Göttliche Vorsehung meint dann neben Gottes unmittelbarem Erfassen (intellegentia) (iii) das effektive Anordnen. Somit ist aber Vorsicht geboten bei der Redeweise von einem „effizienten Handlungsplan“, wenn damit ein diskursives Planen impliziert wird. Noch folgt laut dieser Logik, wie wir unten sehen werden, die Umsetzung zeitlich der Planung. Das Ordnen (ordinare) der Vorsehung meint vielmehr das effektive Anordnen (praecipere/imperare). Dieses Ordnen, das effektive und „vorschreibende“40 Hin- und Anordnen, beschreibt Thomas von Aquin als den für die göttliche Vorsehung wesentlichen Aspekt der Klugheit.41 Via Eminentiae In einem dritten, alles Geschöpfliche übersteigenden Schritt kann dann gesagt werden: Gott übt eine Vorsehung aus in einem einzigartigen und hervorragenden Sinne. Die Weise seiner Vorsehung übersteigt jegliche geschöpfliche Vorsehung. Gott übt eine universale und die geschöpfliche Seinsordnung transzendierende Vorsehung aus. Gott ist in gewissem Sinne nicht „providentiell“, sondern „all-providentiell“, so wie er auch nicht schlicht „gütig“ oder „mächtig“, sondern „all-gütig“ oder „all-mächtig“ ist. Obwohl das durch diesen dritten Schritt Angezeigte nicht mehr mit großer sprachlicher Präzision gefasst und vollumfänglich begriffen werden kann – es handelt sich hier um eine nichtgeschöpfliche Realität –, lassen sich in diesem Rahmen dennoch einige grundlegende Bemerkungen zur Kontingenz und Offenheit der Zukunft machen, die hier kurz angedeutet werden angesichts der oben genannten Einwände.42 Wie bereits angeklungen, spielt bei der Explikation der Vorsehungslehre naturgemäß das Gottesbild eine zentrale Rolle. Obwohl der Vorschlag, die Vorsehung analog zur menschlichen Klugheit zu verstehen, grundsätzlich mit mehreren Gottesvorstellungen kompatibel ist, soll hier hauptsächlich auf jene Sichtweise eingegan-
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Siehe dazu B. Niederbacher, Klugheit und Vorsehung, 45–46 und 61–64 in diesem Band. 41 STh I 22, 1. 42 Siehe dazu ausführlicher S. M. Kopf, Reframing Providence, 128 –188.
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gen werden, die in der analytischen Debatte oftmals vereinfacht als „Klassischer Theismus“ bezeichnet wird.43 Zunächst ist klar, dass ein klugheitsbasiertes Verständnis der Vorsehung teleologisch, das heißt zielgerichtet, ist. Es handelt sich um ein Ordnen auf ein Ziel hin. Vorsehung meint dabei sowohl ein Ordnen (ordinare) als auch eine Ordnung (ordo). Bezüglich dieser Ordnung ist zunächst festzuhalten, dass sie nicht so gedeutet werden kann, dass sie Geschichtlichkeit und Kontingenz, inklusive menschlicher Freiheit, ausschließt. Gott schafft aus freiem Willen und erschafft eine Schöpfung mit freien Geschöpfen. Die Vorsehungslehre darf also weder die Freiheit Gottes noch die Freiheit des Menschen aufheben. Wird Kontingenz im Sinne einer kausalen Abhängigkeit verstanden, dann sind selbstverständlich alle Geschöpfe kontingent, das heißt von Gott kausal abhängig. Weil Gott nicht aus Notwendigkeit, sondern aus freiem Willen erschafft, hätte alles Geschaffene auch nicht sein können. Kontingenz meint aber im innerweltlichen Sinne oft etwas anderes, nämlich dass etwas seiner Natur nach nicht vollständig auf eine bestimmte Wirkung festgelegt oder determiniert ist; der Effekt ist möglich, aber nicht notwendig. Auch und gerade diese Kontingenz ist mit der ordinativen Vorsehung kompatibel, wenn Notwendigkeit und Kontingenz als differentiae entis gesehen werden, also als kausale Modi von geschöpflichen Sekundärursachen. Durch seine transzendente Verursachung von geschöpflichen Ursachen mit ihren jeweiligen Kräften (powers) ermöglicht Gott als Erstursache kontingente und notwendige innerweltliche Zweitursachen. Diese sind kausal abhängig von ihm, operieren aber gemäß ihrer je eigenen Natur und Kräfte. Die ordinative Vorsehungslehre besagt, dass diese Naturen und Kräfte auf ein Ziel hingeordnet sind, nicht aber, dass sie deswegen ihre Notwendigkeit oder Kontingenz einbüßen – im Gegenteil, sie sind notwendig oder kontingent aufgrund der göttlichen Erstverursachung. Gottes Wirkmächtigkeit als transzendente, das heißt die geschöpfliche Seinsordnung transzendierende, Ursache garantiert die Notwendigkeit und Kontingenz der geschöpflichen Ursachen innerhalb dieser geschöpflichen Seinsordnung, gerade wenn sein Wollen als wirkursächlich effektiv angesehen wird.
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Siehe dazu Fußnote 39.
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Nun ließe sich einwenden, dass ein derartiges Ordnen der Zweitursachen einer deistischen Sichtweise gleichkomme. Es gäbe darin kein eigentliches Handeln Gottes in der Welt. Dagegen kann betont werden, dass das Faktum, dass hierbei geschöpfliche Ursachen und deren Teleologie ins Zentrum der Vorsehungslehre rücken – darunter causal powers, dispositions, biases –, keineswegs impliziert, dass Gott nicht in einem objektiven Sinne partikulär wirkursächlich ist in der Welt und den Geschöpfen über deren Erschaffung und Erhaltung hinaus (mere conservationism). Ganz im Gegenteil, traditionelle Theorien der Erst- und Zweitursächlichkeit betonen durchwegs, dass Gott mit den Geschöpfen im oben genannten Sinne zusammenwirkt (concurrentism).44 Beim oben erwähnten Thomas von Aquin betrifft das beispielsweise die Theorie der divina applicatio:45 Zweitursachen sind kausale Ursachen, weil Gott die kausalen Kräfte (causal powers), mittels derer sie wirken, (a) erschafft, (b) erhält und (c) (instrumentell) zur Anwendung, das heißt zur Handlung, zum Akt oder zur Manifestation, führt. Diese „göttliche Anwendung“ ist wirkursächlich zu verstehen und findet als Möglichkeitsbedingung jeglicher geschöpflicher Ursächlichkeit partikulär im Hier und Jetzt statt. Auch menschliche Freiheit benötigt, um aus freiem Willen entscheiden zu können, dieses göttliche Mitwirken. Auf ähnliche Weise kann betont werden, dass eine solche Sichtweise die Zweitursachen nicht zu reinen Instrumenten verkommen lässt, wenn damit gemeint ist, dass sie nicht aus ihren eigenen Kräften handeln oder wirken. Zweitursachen haben und wirken aufgrund ihrer intrinsischen Kräfte – Kräfte, die ihnen als Geschöpfe zukommen und aufgrund derer sie wirken können, weil Gott diese erschafft, erhält und führt. Kommen wir sodann zum zukünftigen Kontingenten und dem Einwand, dass Gottes Vorsehung die Offenheit der Zukunft verunmögliche, dass „es angesichts einer in Gottes Wesen begründeten ewig vorausgesehenen und vorgesehenen Verwirklichung keine al44
Zur Unterscheidung von mere conservationism, concurrentism und occasionalism, siehe A. J. Freddoso, God’s General Concurrence (s. Anm. 9), 553 –555. 45 Siehe STh I 105, 5; I. Silva, Divine Action and Thomism. Why Thomas Aquinas’s Thought is Attractive Today, in: Acta Philosophica 25 (2016), 65 – 84; I. Silva, Providence and Science in a World of Contingency. Thomas Aquinas‘ Metaphysics of Divine Action, London 2022.
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ternativen Möglichkeiten gibt.“46 Laut der boethianischen, klassischtheistischen Ewigkeitsvorstellung weiß Gott aber, entgegen dem Einwand, nicht was passieren wird (Vorherwissen). Hätte Gott Vorherwissen, wäre er zeitlich (vorher-nachher). Gott weiß vielmehr, was in seiner ewigen Gegenwart passiert. Alles ist in Gottes Ewigkeit gegenwärtig, wenn es in der Zeit gegenwärtig ist. Wenn aber Gott kein Vorherwissen hat, sondern Wissen des in Ewigkeit Gegenwärtigen, dann impliziert sein Wissen nur eine konditionale, nicht aber eine absolute Notwendigkeit: „Notwendigerweise, wenn Gott weiß, dass p, dann p“ (■[Gott weiß, dass p → p]). Konditionale Notwendigkeit ist aber kompatibel mit Kontingentem und menschlicher Freiheit: „Notwendigerweise, wenn Sokrates sitzt, dann sitzt er“ impliziert keinesfalls, dass Sokrates nicht aus freiem Willen sitzt. Konditionale Notwendigkeit besagt nur, dass wenn und solange Sokrates sitzt, es notwendigerweise der Fall ist, dass er sitzt. Inkompatibel mit Kontingenz und Freiheit wäre hingegen eine absolute Notwendigkeit: „Wenn Gott weiß, dass p, dann notwendigerweise p“ (Gott weiß, dass p → ■ p). Wissen des (ewig) Gegenwärtigen impliziert aber nur eine konditionale Notwendigkeit. Wird auf diese Weise argumentiert, dass Gottes ewiges Wissen eine konditionale Notwendigkeit impliziert, wird als Voraussetzung erstens angenommen, dass Gottes Ewigkeit (Ewigkeit-Zeit-)simultan (ET-simultaneity) ist mit allen Momenten in der Zeit, also unserer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und zweitens, dass Ewigkeit und Zeit zwei aufeinander nicht reduzierbare, reale Seinsweisen oder Existenzmodi sind.47 Damit ist sowohl die Zukunft real als auch Kontingentes möglich, obwohl Gott ewiges Wissen – aber kein Vorherwissen – davon hat. Zumindest aus klassisch-theistischer Sichtweise ist für den dritten, alles Geschöpfliche übersteigenden Schritt die Ewigkeit und Transzendenz Gottes entscheidend, um die Offenheit der Zukunft
46 O. Wintzek, Gott in seiner allwissenden Vorsehung, 264. Wintzek führt weiter aus: „Gott [verkehrt sich hier] zu dem Laplaceschen Dämon und seiner immer schon verfassten Story, so die eigentlich fraglose biblische Vorstellung eines aktualen Agierens als nunmehr umfassende Kausalität und die einer ordinativen Entschiedenheit als eine zeitenthobene Entscheidung begriffen wird“ (Ebd., 250). 47 Siehe dazu insbesondere E. Stump/N. Kretzmann, Eternity, in: The Journal of Philosophy 78:8 (1981), 429 – 458.
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des Geschöpflichen und das Kontingente, inklusive der menschlichen Freiheit, zu wahren. Damit ist nicht gemeint, dass Gott der Welt als unnahbar Fremder oder Ferner gegenübersteht – Transzendenz wird hier nicht als Gegensatz zur Immanenz verstanden –, sondern dass er als Schöpfer notwendigerweise die geschöpfliche Seinsweise transzendiert.48 Weil Gott Schöpfer, Erhalter und Lenker aller Geschöpfe und damit der Welt und Geschichte ist und als solcher nicht Teil des Geschöpflichen sein kann, muss Vorsehung analog gedacht werden.
4. Rückfragen an das „aktualistische“ Paradigma Kommen wir also zurück zum Einwand, dass der ordo-Gedanke und das Konzept der Teleologie schlichtweg überholte Kategorien sind. Diesbezüglich stellt sich in Anbetracht der dogmatischen Ausformulierungen der Vorsehungslehre die Frage nach der oben angesprochenen Vervollkommnung der Geschöpfe – die Geschöpfe und insbesondere der Mensch haben das Potential, sich zu entwickeln bzw. in Freiheit zu entwerfen. Beinhaltet diese Disposition der Geschöpfe nicht bereits Ziele in einem gewissen Sinne? Gott erschafft den Menschen und alle Geschöpfe, aber erschafft er sie auch auf etwas – ein Ziel – hin? 4.1 Vorsehung, Handeln Gottes und Ziele Gegen den Einwand, Ziele und Ordnungen seien schlechterdings überholte Kategorien, wäre innerhalb des aktualistischen Paradigmas zunächst zu fragen, ob eine Person handeln kann, ohne ein Ziel zu haben oder zu verfolgen. Gibt es ein robustes Konzept der Handlung ohne Handlungsintention? Wird dies verneint, aber die Vorsehungslehre dennoch am Modell der Handlung konzipiert, wie das im handlungsbasierten Modell der Fall ist, stellt sich die Frage der Teleologie, hier verstanden als der Finalursächlichkeit entstammende Zielgerichtetheit, und Ordnung auch im aktualistischen Paradigma, nämlich als Intentionalität und Handlungsordnung. 48
Siehe dazu W. Placher, The Domestication of Transcendence. How Modern Thinking about God Went Wrong, Louisville 1996; K. Tanner, God and Creation in Christianity. Tyranny or Empowerment?, Oxford 1988.
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Handlungen setzen in der Regel Intentionen voraus. Gerade ein personaler Gott wird mit und durch seine Handlungen Ziele verfolgen, wie etwa das Heil aller Menschen (1 Tim 2,4), um ein klassisches Beispiel zu nennen. Wenn Gott handelt, sei es ein schöpferisches Handeln oder ein providentielles Handeln in der Welt, und dabei Ziele verfolgt – und sei es bloß, um seiner Gutheit willen, das heißt, um seine Güte an Geschöpfe zu kommunizieren, um ein weiteres Beispiel aus der Schöpfungslehre zu nennen, oder um im modernen Freiheitsparadigma zu sprechen: um Geschöpfe zu schaffen, die in Freiheit auf seinen Anruf reagieren können –, dann ist sein Handeln teleologisch im oben genannten Sinne. Intentionalität ist eine – oftmals sogar die einzig akzeptierte – Form der Finalursächlichkeit, aus der eine Zielgerichtetheit folgt, und daher eine Form der Teleologie. Nun ließe sich dagegen aus kontinentaler Perspektive wiederum mit Georg Essen einwenden, dass sich aber Geschichte und Handeln Gottes in der Geschichte nicht teleologisch begreifen lassen. Geschichte habe kein Ziel. Vielmehr sei Geschichte der Ort der menschlichen und göttlichen Freiheit. Sehr wohl seien menschliche Handlungen auf ein Ziel hingeordnet, diese Handlungsintentionen aber würden keineswegs die Realisierung des Handlungsziels garantieren.49 Daher könne auch sinnvollerweise, so Essen weiter, kein göttlicher Weltplan (ratio) oder eine göttliche Weltregierung (gubernatio) angenommen werden, ohne die göttliche und menschliche Freiheit einzuschränken.50 Vielmehr gelte: „Gott, der die ursprünglich schöpferische und darum geschichtsfähige Freiheit ist, eröffnet 49
G. Essen, Gottes Treue zu uns. Geschichtstheologische Überlegungen zum Glauben an die göttliche Vorsehung, in: IKaZ 36 (2007), 382–398, 384 –385. 50 G. Essen, Gottes Treue zu uns, 387–388. Ähnlich konstatiert Wintzek: „Gottes allwissende Vorsehung […] wird dort missdeutet, wo sie einem göttlichen Masterplan gleichkommt, der Gott selbst eine ewige Nötigung auferlegte und das Menschliche seinerseits zu einem irrelevanten Planspiel degradierte“ (O. Wintzek, Gott in seiner allwissenden Vorsehung, 178). Und er führt dann fort: „So lange die Theologie der Schule allerdings diese Weltplanung als göttliches factum und nicht als menschlich autonomes faciendum begreift, durch welches Gottes Liebe allein in freier Zustimmung an ihr Ziel gelangen kann, kann es schwerlich zu einer vollen Wertung der Freiheit kommen, die sich selbstursprünglich auf Gott hin bestimmen lassen kann.“ (Ebd., 270) Im Gegensatz dazu betont etwa Johannes Paul II.: „In diesem Plan Gottes, der von Ewigkeit her in Christus […] beginnt und der in ihm […] seinen Höhepunkt hat, wird unsere Geschichte eingeschlossen.“ (DH 4814)
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den Raum der Geschichte.“51 Die Geschichte aber sei „das Kommerzium zwischen der freilassenden Freiheit Gottes und der freigelassenen Freiheit des Menschen“52. Daher sei Geschichte Freiheitsgeschehen, bedinge die Freiheit Gottes und seiner Geschöpfe und lasse somit keine wie auch immer geartete vorgegebene Ordnung zu.53 Ordnung, so könnte man sagen, ist nicht objektiv vorgegeben, sondern ergibt sich allenfalls in Retrospektive, als menschliche und rein subjektive Deutung der Geschehnisse. Darauf kann zunächst erwidert werden, dass Teleologie in diesem Kontext, wie ausgeführt, eine Gerichtetheit oder Hinordnung auf ein Ziel meint. Es geht bei Gottes Vorsehung um das Ordnen der Geschöpfe auf ein Ziel hin, um das effiziente Anordnen von geschöpflichen Ursachen. Im Falle der geschöpflichen Ursachen beinhaltet dies aber keineswegs notwendigerweise die Erreichung dieses Ziels, wie oben suggeriert. Zweitursachen ordnen bedeutet nicht, sie kausal zu determinieren. Auch die Vorsehungslehre von Thomas von Aquin, der einem sehr starken Vorsehungsbegriff das Wort redet, besagt, dass partikuläre Ursachen durchaus ihre Ziele verfehlen können.54 Das ordinative Paradigma meint also grundsätzlich die Ausrichtung auf ein Ziel. Über die Notwendigkeit von dessen Erreichung muss gesondert gehandelt werden.55 Zweitens gilt es klar zu unterscheiden zwischen der Teleologie von einzelnen Geschöpfen bzw. deren Teilen einerseits und der Teleologie der Schöpfung als Ganze andererseits. Die Annahme einer Teleologie der Naturen muss keine Teleologie der Natur beinhalten. Mit anderen Worten, nur weil teleologisch Handelnde in der Geschichte agieren, muss das noch kein Endziel der Geschichte implizieren. Eine umfassende Zweckmäßigkeit oder Ordnung der Geschichte oder Natur, falls eine solche angenommen werden möchte, ergibt sich in den meisten Fällen nicht schlichtweg aus teleologi51
G. Essen, Gottes Treue zu uns, 392. Ebd., 390. 53 Ebd., 393. 54 STh I 103, 7. 55 So besagt die Vorsehungslehre des eben angesprochenen Thomas von Aquin, dass zwar Partikularursachen ihr Ziel verfehlen können, dass es aber nichts gibt, das (dadurch) die kausale Ordnung der göttlichen Universalursache verlässt (STh I 103, 7). Grund dafür ist nicht primär der Vorsehungsbegriff, sondern die Natur der göttlichen Kausalität. 52
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schen Naturen.56 Eine solche Annahme kann sich, muss sich aber nicht aus anderen Quellen speisen; sie ist zwar kompatibel mit dem Modell, nicht aber notwendiger Bestandteil. Beispielsweise könnte zusätzlich argumentiert werden, dass wenn Gottes Vorsehung und Erstverursachung universal ist, er die zielgerichteten geschöpflichen Ursachen aufeinander und so instrumental auf weitere Ziele hinordnen kann. Jedenfalls geht es auf Seiten der Geschöpfe zunächst und grundlegend um partikuläre Ziele, nicht um – wie im Einwand angenommen – absolute Ziele oder Endzwecke. Drittens scheint auch eine voluntativ interpretierte – im folgenden Zitat als Walten angesprochene – Vorsehung, wie Georg Essen sie im Blick hat, zielgerichtet zu sein. Er schreibt nämlich: „Gottes Verheißung ist der Grund für den Glauben an sein Walten als V[orsehung], die ihrerseits als Gottes treuer u[nd] in seinen Möglichkeiten unerschöpfl[icher] Wille [!] aufgefaßt werden kann, [mit dem Ziel] freie Menschen (providentia specialis), ja alle Geschöpfe (providentia generalis) z[ur] Teilhabe an seinem trinitar[ischen] Leben zu führen.“57 Es ist sowohl philosophisch als auch theologisch schwer einsichtig zu machen, wie göttliche Handlungen und insbesondere das göttliche Wollen ohne Intentionen und Ziele auskommen kann. Vorsehung als Handeln Gottes erscheint von daher ebenfalls teleologisch. Die Frage lautet somit nicht, ob die Vorsehungslehre eine Teleologie braucht, sondern welche Art der Teleologie. Mit anderen Worten, dass die Vorsehung eine göttliche Ordnung impliziert, kann sinnvollerweise nicht bestritten werden, wohl aber, dass diese göttliche Ordnung – gewissermaßen die Teleologie des Handelns Gottes und seine Handlungsordnung – in eine geschöpfliche Ord56
Ein klassisches Beispiel hierfür wäre die Evolutionstheorie, bei der zwar Mutationen aufgrund von Dispositionen oder biases auftreten können, aber dadurch die Evolution nicht gerichtet wird; Mutation und Selektion bestehen nicht in einem solchen kausalen Zusammenhang, dass die Mutation aufgrund des Selektionsvorteils auftritt. 57 G. Essen, Art. Vorsehung, 898 – 899. Essen fügt dann im handlungsbasierten Sinne hinzu, dass „die Rede v[on] Gottes V[orsehung] […] das Verständnis des Handeln Gottes [!] auf dem v[on] der neuzeitl[ichen] Erkenntniskritik markierten Problemniveau explizieren u[nd] den Gottesgedanke selbst in einer Weise bestimmen [muss], die der Option für die menschl[iche] Freiheit, aber auch der offenbaren Selbstbestimmung Gottes als Liebe gerecht wird.“ (Ebd., 899)
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nung – gewissermaßen eine Teleologie der Geschöpfe und deren immanente Ordnung – übergeht. Somit kann der Einwand nur lauten, dass die Handlungsabsicht Gottes und deren Ordnung den Dingen extern bleibt und nicht in ihre Natur übergeht. Dann aber bleibt jegliche Vorsehung den Dingen äußerlich und es benötigt ein ständiges Eingreifen Gottes in die Welt, um sie zu lenken und leiten. Ob diese Sichtweise theologisch einem auch immanenten Ordnen der Dinge vorzuziehen ist, sei an dieser Stelle dahingestellt. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die gängige dogmatische Bestimmung der Vorsehung als göttliche Leitung, Lenkung oder Fügungen zumindest nahelegt, dass Vorsehung eine teleologische Ordnung einschließt, etwa wenn betont wird, dass Gott „der Ursprung und das Ziel aller Dinge“ ist. Wenn Gott die Welt erschafft und seine Geschöpfe ein Ziel haben, wie etwa ihre Vervollkommnung, dann stellt sich allerdings, wie der obige Einwand betont, die berechtigte Frage, ob diese Ziele ihnen innerlich sind oder ob sie rein von außen auf diese Ziele geordnet werden. Wie aber könnte Gott seine Schöpfung leiten und lenken, ohne Ziele zu haben? Bei dieser Frage geht es wohlgemerkt noch nicht um eine inhaltliche Bestimmung dieser Ziele, sondern allein um eine formale Frage, ob Ziele notwendig sind, um sinnvollerweise von Führung oder Fürsorge sprechen zu können. Verfolgt Gott mit seinem Handeln einen Plan? Oder anders gewendet: Hat er einen Grund für sein Handeln? Wenn wir diese Frage mit Ja beantworten, dann ist die Vorsehung teleologisch im oben genannten Sinne. Sobald ein Handeln Gottes in diesem Sinne angenommen wird, haben wir es mit einem klassisch teleologischen Phänomen zu tun. Es scheint also, dass sowohl die kirchlich-dogmatische Bestimmung der Vorsehung als Führungen oder Fürsorge als auch die gängige Auslegung als Handeln Gottes in der Welt eine gewisse Teleologie beinhalten, wenn darunter eine der Finalursächlichkeit entstammende Zielgerichtetheit im weitesten Sinne verstanden wird. 4.2 Welches Handeln Gottes ist providentiell? Eine zweite, sich aus dem Gesagten ergebende Anfrage an das handlungsbasierte Modell lautet, was das Handeln Gottes zu einem providentiellen macht. Welches Handeln Gottes ist providentiell – im Gegensatz etwa zu einem Schöpfungshandeln Gottes, das aus dog-
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matischer Sicht zu unterscheiden ist? Was sind die notwendigen und hinreichenden Kriterien, die ein providentielles Handeln Gottes spezifizieren? Wenn zumindest zwischen Schöpfung und Vorsehung unterschieden wird, dann kann auch bei einem handlungsbasierten Modell das Handeln Gottes nicht extensionsgleich sein mit der Vorsehung; es gibt noch andere Arten des Handelns, wie etwa das Schöpfungshandeln. Die Frage also lautet: Wodurch wird Gottes Handeln providentiell? Eine Möglichkeit wäre hier zu sagen, dass providentielles göttliches Handeln Handeln Gottes in der Welt ist, also jenes göttliche Handeln, das über die Erschaffung (und Erhaltung) der Welt hinausgeht. Dieses Handeln, das eine gewisse wirkursächliche Partikularität einschließt, wird auch als special divine action (SDA) bezeichnet. Die Gleichsetzung von SDA und Vorsehung würde aber bei Zurückweisung von immanenter Teleologie bewirken, dass Vorsehung erstens den Dingen äußerlich ist und zweitens nur sporadisch auftritt, außer man nähme SDA als Teil oder ständige Begleitung der natürlichen Kausalität an. Wenn die Vorsehung keine natürliche, den Dingen innerliche Lenkung der Geschöpfe einschließt, scheint daher fraglich, wie eine robuste Vorsehungslehre aufrechtzuerhalten ist, ohne ein ständiges äußerliches Eingreifen Gottes in die Welt anzunehmen. Ein alternativer, in der jüngeren Debatte oft vertretener Ansatzpunkt lautet, die Vorsehung Gottes konsequent von der Zukunft her zu lesen. Gott ist in gewisser Form responsiver Teil des weltlichen Geschehens. Die eschatologische Hoffnung, gelegentlich gepaart mit der Allmacht Gottes, begründet hier den Glauben an die Vorsehung Gottes. Diese eschatologische Hoffnung ist dann folglich ebendies: eine Hoffnung und keine Gewissheit. Die Zukunft, von der her Gott in die Geschichte eingreift, ist offen und wird von der menschlichen Freiheit in Autonomie mitbestimmt. Gott wirbt (lure) um den Menschen, er bestimmt oder determiniert (determine) aber nichts. Einerseits ließe sich hier Handeln Gottes rein finalursächlich verstehen, als die Dinge anziehendes Ziel oder Gut. Dann aber würde Vorsehung wieder immanent teleologisch gedeutet. Andererseits kann angemerkt werden, dass diese Offenheit an und für sich noch nicht zeigt, wo bzw. wie Gott wirkursächlich handeln kann. Die Offenheit der Zukunft oder der kausale Indeterminismus, der laut
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theo-physischem Inkompatibilismus eine Möglichkeitsbedingung des Handelns Gottes in der Welt darstellt, garantiert als eine Bedingung für sich genommen noch nicht die Möglichkeit ebendieses Handelns.58 Aus ordinativer Sicht hingegen kann argumentiert werden, dass ein Handeln Gottes genau dann providentiell ist, wenn es geschöpfliche Dinge auf ein Ziel hinordnet, das ein (höchstes) Gut darstellt. Zur Frage der Spezifizierung des providentiellen Handelns (PH) kann dann festgehalten werden: (PH) Gottes Handeln ist genau dann providentiell, wenn es Geschöpfe auf ein Ziel hinordnet, das ein (höchstes) Gut darstellt. Wenn Gott zudem als das Letztziel der Geschöpfe angenommen wird, kann formuliert werden: (PH*) Gottes Handeln ist genau dann providentiell, wenn es Geschöpfe auf Gott als ihr (höchstes) Ziel hinordnet. Vorsehung betrifft damit erstens ein Geschehen zwischen Gott und seinen Geschöpfen. Wenn Vorsehung universal ist, wie im Falle der katholischen Vorsehungslehre, dann sind alle Geschöpfe gemeint und von der göttlichen Vorsehung umfasst. Der Begriff der Hinordnung lässt formal offen, ob dadurch eine Erreichung des Ziels impliziert ist. Das ist unter Berücksichtigung anderer Überlegungen zu klären. Jedenfalls muss dieses Ziel ein Gut darstellen, andernfalls kann es nicht zur Vervollkommnung der Geschöpfe beitragen. Wenn das Ziel kein Gut darstellt, sondern etwa Böses oder einen Mangel, dann kann sinnvollerweise nicht von der Vorsehung Gottes gesprochen werden. Allerdings lässt die Formulierung offen, ob allein intrinsische Ziele gemeint sind, also Ziele, die den jeweiligen Geschöpfen zu Gute kommen, oder auch extrinsische Ziele, also Ziele die anderen Geschöpfen, nicht aber dem fraglichen zu Gute kommen. Es wären also auch Mittel zum Zweck denkbar in der Vorsehungslehre. Wenn schließlich hinzugefügt wird, dass Gott das Letztziel aller Geschöpfe darstellt, dann kann spezifiziert werden, dass das Ziel, auf das die Geschöpfe durch diesen Akt der Vorsehung hingeordnet werden, Gott selbst ist. Diese Formulierung lässt wie-
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Siehe dazu S. M. Kopf, Reframing Providence, 67– 96.
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derum gewissermaßen verschiedene Grade der Vereinigung zu: von der Vervollkommnung gemäß der jeweiligen Form bei nichtrationalen Geschöpfen bis hin zur visio beatifica beim Menschen. In der scholastischen Tradition würde man davon sprechen, dass alle Geschöpfe gemäß ihrer Natur auf das Sein und Aktualität hingeordnet sind. Zusammenfassend kann aus klugheitsbasierter Sicht gesagt werden, providentiell ist jenes Handeln Gottes, das Geschöpfe auf ein Ziel hinordnet, welches zu ihrer Vervollkommnung beiträgt oder ein Gut darstellt. Das Gut, auf das Gott die Geschöpfe hinordnet, kann prinzipiell sowohl intrinsisch als auch extrinsisch sein, das heißt dem Geschöpf oder jemand anderem zu Gute kommen; letztlich aber ist es das höchste Gut, also Gott selbst, auf den hin die Dinge geschaffen und geordnet sind – Gott ist „der Ursprung und das Ziel aller Dinge“. Soweit zur ordinativen inhaltlichen Auslegung, zur klugheitsbasierten Interpretation der dogmatischen Vorgaben im Rahmen einer katholischen Vorsehungslehre – zur Vorsehungslehre materialiter. Zur Vorsehungslehre formaliter folgen nun abschließend einige weiterführende Überlegungen aus der Geschichte der Vorsehungslehre.
5. Vorsehung aus formal-systematischer Perspektive – ein Vorschlag Wie eingangs erwähnt, lassen sich in der gegenwärtigen Debatte um Gottes Vorsehung unterschiedliche Strömungen unterscheiden.59 Einige Autorinnen und Autoren setzen beim Intellekt Gottes und dem göttlichen Wissen an. Im Zentrum steht insbesondere die Frage nach Gottes Wissen von zukünftigem Kontingenten. Andere betonen hingegen den Willen Gottes und das göttliche Wollen, insbesondere mit Blick auf seine Souveränität gegenüber allem Geschaffenem. Die spannende Frage für eine katholische Vorsehungslehre lautet, ob und wie sich diese intellektuelle und voluntative Dimension der Vorsehung konkret vereinen lassen. 59
Siehe hierzu S. M. Kopf/I. Silva, Introduction, in: I. Silva/S. M. Kopf (Hrsg.), Divine and Human Providence. Philosophical, Psychological and Theological Approaches, London 2021, 1–13.
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Die frühen Franziskaner hatten ein ähnlich gelagertes Problem. Da war zum einen die bedeutende Tradition im Gefolge von Petrus Lombardus, der die Vorsehung als eine Spezies des göttlichen Wissens definierte, und zum anderen rezipierten die frühen Franziskaner, insbesondere in ihrer Summa Halensis, eine von Johannes von Damaskus überlieferte Tradition, die besagte, dass Vorsehung den Willen Gottes meint.60 Um diese beiden theologischen Traditionen zu vereinen – die intellektuelle und die voluntative –, schlugen sie eine Unterscheidung zwischen der ratio und der executio der Vorsehung vor.61 Johannes von la Rochelle schreibt mit Blick auf die beiden Traditionen: „Vorsehung wird auf zweierlei Weise ausgesagt. Einerseits bezieht sie sich auf die Vorhersehung (praecognitio) dessen, was zu regieren ist (gubernandum est) und wie, andererseits auf die Ausführung (executio) dessen, was vorgesehen ist (provisum est).“62 Im ersten Sinne ist die Vorsehung dem göttlichen Intellekt zuzuordnen, im zweiten Sinne dem göttlichen Willen. In der franziskanischen Summa Halensis heißt es dazu etwas ausführlicher, nun die Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit der Vorsehung erklärend: „Die Vorsehung (providentia) Gottes bezieht sich im eigentlichen Sinne auf den göttlichen Grund (divina ratio), durch den alle Dinge regiert werden (gubernantur): und auf diese Weise ist die Vorsehung Gottes allein durch sich selbst (se ipsa solum); auf 60
P. Lombardus, Sent. I, 35, 1– 6; zitiert nach I. C. Brady (Hrsg.), Sententiae in IV libris distinctae, Bd. 1, Grottaferrata 1971, 254 –255; J. Damascenus, De fide orthodoxa II, 29; zitiert nach B. Kotter (Hrsg.), Die Schriften des Johannes von Damaskus, Bd. 2: Expositio fidei, Berlin 1973, 1–240, 100. Siehe dazu auch S. M. Kopf, Providence in the Summa Halensis. Between Authority and Innovation, in: L. Schumacher (Hrsg.), The Legacy of Early Franciscan Thought, Berlin 2021, 89 –110. 61 SH I, P1, In1, Tr5, S2, Q3, Ti1, C5, Ar2 (n. 205), Respondeo; zitiert nach A. von Hales, Doctoris irrefragabilis Alexandri de Hales Ordinis minorum Summa theologica, Bd. 1, Quaracchi 1924, 297; J. von la Rochelle, De divinis nominibus (Trier, Stadtbibliothek, 162, fol. 138ra). 62 J. von la Rochelle, De divinis nominibus (Trier, Stadtbibliothek, 162, fol. 138ra): „Responsio. Providentia dicitur duobus modis. Uno modo dicitur praecognitio eius quod gubernandum est et qualiter alio modo dicitur executio eius quod provisum est.“
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eine andere Weise [bezieht sich die Vorsehung auf] die Ausführung der Vorsehung (executio providentiae), nämlich die Regierung (gubernatio) selbst: und diese ist in den meisten Fällen durch ein Geschöpf.“63 Mit der Unterscheidung zwischen providentia (Vorsehung im speziellen Sinne) und gubernatio (Regierung, Lenkung oder Leitung), also dem Grund (ratio) der Vorsehung einerseits und dessen Ausführung (executio) andererseits, können mithin beide Traditionen zusammen gedacht werden. Die Vorsehung hat eine intellektuelle und voluntative Dimension. Als ewiger und Gott unmittelbarer Grund für die Vorsehung im göttlichen Intellekt wird sie als providentia bezeichnet. Als zeitliche und meist durch geschöpfliche Ursachen vermittelte Ausführung wird sie als gubernatio bezeichnet. Somit ist die Vorsehung sowohl im Intellekt als auch im Willen Gottes angesiedelt. Gemäß dieser vermittelnden Position ist das göttliche Wissen eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung der Vorsehung.64 Das göttliche fürsorglich-wirkmächtige Wollen ist ebenso Teil der Vorsehung wie das Wissen um die Geschöpfe und deren Vervollkommnung. Die skizzierte vermittelnde Position taucht dann bekanntermaßen bei Thomas von Aquin auf, der die Unterscheidung zum Drehund Angelpunkt seiner Vorsehungslehre macht, und wird schließlich zu einem wesentlichen Grundstock für die ordinative Tradition.65 Dabei muss aber beachtet werden, dass die ratio – zumindest bei ihm, wie oben bereits angedeutet – im eigentlichen Sinne keinen herkömmlichen Plan darstellen kann.66 Nach Thomas von Aquin ist 63
SH I, P1, In1, Tr5, S2, Q3, Ti1, C5, Ar2 (n. 205), Respondeo, 297: „Respondeo: Providentia Dei dicitur proprie divina ratio qua cuncta gubernantur: et hoc modo providentia Dei se ipsa solum est; alio modo executio providentiae, scilicet ipsa gubernatio: et haec in pluribus est per creaturam.“ 64 Wohl könnte hier eingewendet werden, dass Gottes Wissen praktisches Wissen und nicht rein theoretisches Wissen sei. Wird diese Unterscheidung getroffen, ist hier dementsprechend theoretisches Wissen gemeint. Siehe dazu B. Niederbacher, Klugheit und Vorsehung, in diesem Band. 65 Siehe STh I 22, 3; STh I 103, 6; S. M. Kopf, Providence in the Summa Halensis, 103 –108; R. Bernhardt, Was heißt „Handeln Gottes“, bes. 29 –39. 66 Vgl. J.-P. Torrell, ‚Dieu conduit toutes choses vers leur fin‘. Providence et gou-
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die ratio und executio der Vorsehung nicht so zu verstehen, dass zuerst der Plan in Gottes Intellekt besteht und dann die Umsetzung folgt durch Gottes Wollen – denn dann wäre einerseits eine Zeitlichkeit von Gott ausgesagt in Form des Vorher-Nachher; andererseits würde es ein Vorherwissen von zukünftigem Kontingenten geben, was dieser verneint. Das Verhältnis von ratio und executio ist nicht zeitlich, sondern kausal, das heißt als kausale Abhängigkeit, zu verstehen. Im Gegensatz zur ratio der menschlichen Klugheit ist die ratio der göttlichen Vorsehung, wie oben beschrieben, nicht diskursiv. Mit Eleonore Stump könnte man zu explizieren versuchen, dass es zwar keine zeitliche Veränderung in Gott gibt (change over time, vorher-nachher), wohl aber eine über mögliche Welten hinweg (change across possible worlds).67 In keiner möglichen Welt entspricht die executio nicht der ratio: Notwendigerweise, wenn Gott weiß bzw. will, dass p, dann p. Die ratio ist der executio kausal vorgeordnet, dennoch ist das von Gott Gewusste oder Gewollte nicht zwangsläufig notwendig, wenn darunter eine (absolute) Notwendigkeit im Gegensatz zur Kontingenz gemeint ist. Die Notwendigkeit der Vorsehung ist hier vielmehr eine konditionale Notwendigkeit, die mit der Kontingenz kompatibel ist. Um das vorherige Beispiel zu bemühen: Die Notwendigkeit, dass wenn Sokrates sitzt, er sitzt, impliziert nicht, dass sein Sitzen (absolut) notwendig ist; vielmehr ist, so darf in diesem Fall angenommen werden, sein Sitzen eine freie Willensentscheidung, sofern er nicht dazu gezwungen wurde. Ein erster Vorteil dieser Unterscheidung zwischen ratio und executio der Vorsehung besteht darin, dass die Vorsehung sowohl im Intellekt Gottes angesiedelt werden kann und mithin das göttliche Wissen umschließt als auch im Willen Gottes und daher auch seine liebende Fürsorge für die Geschöpfe bezeichnet. Zudem können durch die daraus folgende Unterscheidung zwischen providentia und gubernatio ansonsten widersprüchlich erscheinende Eigenschaften in der Vorsehungslehre vereint und widerspruchsfrei von ein und derselben Vorsehung ausgesagt werden, wie etwa die Ewigkeit und Zeitlichkeit der Vorsehung oder deren Gott-Unmittelbarkeit vernement divin chez Thomas d’Aquin, in: J. A. Aertsen (Hrsg.), Ende und Vollendung. Eschatologische Perspektiven im Mittelalter, Berlin 2002, 561–594, 567–568, Fußnote 19. 67 E. Stump, Aquinas, London 2003, 116.124.
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und Vermittlung durch geschöpfliche Ursachen. Mit anderen Worten, die geschöpflichen Ursachen, inklusive der menschlichen Freiheit, bekommen einen Platz in der zeitlichen und vermittelten gubernatio, indem sie die Vorsehung Gottes ausführen. Ein zweiter Vorteil der Unterscheidung der executio und ratio der Vorsehung besteht somit aus systematischer Perspektive darin, eine Vermittlung der Vorsehung durch Zweitursachen zusammen mit der göttlichen Unmittelbarkeit der Vorsehung denken zu können, als auch die Zeitlichkeit und Ewigkeit der Vorsehung durch die Unterscheidung zweier Aspekte zusammenbringen zu können. Aus diesen Gründen lautet der weiterführende formale Vorschlag, in der Vorsehungslehre zwischen der Vorsehung im speziellen Sinne (providentia), also dem Grund (ratio) der Vorsehung im göttlichen Intellekt einerseits, und der Lenkung oder Regierung (gubernatio) als deren Ausführung (executio) durch den göttlichen Willen andererseits, zu unterscheiden. Beide Aspekte sind Teil der göttlichen Vorsehung. Dadurch können wesentliche Elemente beider Traditionen – der intellektuellen und voluntativen, wie auch der analytischen und kontinentalen, sofern Letztere nicht aus anderen, insbesondere materiellen, Gründen unvereinbar sind – zu vereinen versucht und zusammen gedacht werden.
6. Schluss Der Ausgangspunkt dieses Beitrages zur göttlichen Vorsehung war die menschliche Vorsehung. Vorsehung ist in der traditionellen Tugendlehre der die Zukunft antizipierende Teil der menschlichen Klugheit, der es handelnden Personen ermöglicht, entsprechende Mittel und insbesondere ihre Handlungen auf ein Ziel hinzuordnen. Es wurde der Vorschlag ausgearbeitet, die göttliche Vorsehung in Analogie zur menschlichen Vorsehung als ein göttliches Ordnen der Dinge auf ein Ziel hin zu deuten. Dabei sind sowohl der zugrunde liegende Ordnungsbegriff als auch die Analogizität der menschlichen und göttlichen Vorsehung theologisch näher erläutert worden. Ziel der Ausführungen war es einerseits, das Handeln Gottes in der Welt neu zu kontextualisieren. Zu diesem Zweck wurde der Vorschlag gemacht, zwischen der intellektuellen und voluntativen Dimension der Vorsehung zu unterscheiden, diese wesentlichen Ele-
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mente aber zusammenzudenken, etwa durch die Unterscheidung der ratio und executio der Vorsehung. Vorsehung im ersten Sinne ist primär intellektuell und hat die Eigenschaften Gottes. Vorsehung im zweiten Sinne ist primär voluntativ und hat, wenn und insofern die Ausführung mittels Zweitursachen erfolgt, geschöpfliche Eigenschaften. Vorsehung im ersten Sinne kann dann gewissermaßen als immanente Handlung Gottes qualifiziert werden (die allerdings zumindest aus klassisch-theistischer Sicht Gott nicht vervollkommnet), während Vorsehung im zweiten Sinne, also die Ausführung der Vorsehung, als transeunte Handlung einzustufen ist. „Handeln Gottes in der Welt“ im hier verwendeten Sinne bezieht sich somit auf die Ausführung der Vorsehung und meint Gottes Ordnen aller Geschöpfe auf ihr Ziel hin. Dieses göttliche Hinordnen schließt, wie zu zeigen versucht wurde, prima facie weder die Geschichtlichkeit noch die Kontingenz der Welt und ihrer Akteure aus. Andererseits war es Ziel des Beitrages, die Bedeutung der providentiellen Ordnung oder zumindest des göttlichen Ordnens angesichts jüngerer Anfragen herauszuarbeiten. Gottes Vorsehung ist ihrem Wesen nach teleologisch, so wurde argumentiert, sowohl in der aktualistischen als auch in der ordinativen Tradition. Mithin unternahm der Beitrag den Versuch, eine klugheitsbasierte teleologische und dennoch kontingenz- und geschichtsfähige Deutung der Vorsehung vorzustellen, die Anknüpfungspunkte sowohl in der analytischen als auch in der kontinentalen Tradition hat und somit eine gewisse Brückenfunktion haben könnte in der gegenwärtigen Debatte um Gottes Handeln und Vorsehung.
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Klugheit als Analogie für die göttliche Vorsehung? Reinhold Bernhardt In seinem Beitrag unternimmt Simon Maria Kopf den überaus verdienstvollen Versuch, analytische und kontinentale, katholische und evangelische, scholastische und zeitgenössische Perspektiven zu verbinden und die Vorsehungslehre in diesem Rahmen zu entfalten.1 Er unterscheidet dabei zwischen Vorsehung und Handeln Gottes, versteht erstere als teleologisches Anordnen in Analogie zur menschlichen Tugend der Klugheit und letzteres als die Ausführung dieser Anordnung. Dazu bedient er sich der Unterscheidung zwischen ratio und executio der Vorsehung, wie sie von den frühen Franziskanern entwickelt wurde. Zur Näherbestimmung der intellektualistisch – als kluge Planung – aufgefassten Vorsehung greift er auf die Rezeption der aristotelischen Tugendlehre bei Thomas zurück. Mit dem Rückgriff auf die Tugendlehre ist dieser Ansatz anschlussfähig an die Diskussionen um eine philosophische Ethikbegründung, in denen sich in letzter Zeit eine Renaissance der analytischen, neoaristotelischen und neothomistischen Tugendethik ergeben hat.2 Gegenüber der Fokussierung auf die Handlung (wie bei deontologischen Ethiken) und ihre Folgen (wie bei konsequentialistischen Ethiken) ist die Tugendethik auf die handelnde Person ausgerichtet. Sie fragt danach, welche „Eigenschaften, Haltungen und Fähigkeiten“3 eine Person haben sollte, um gut zu handeln. Als 1
Siehe dazu auch S. M. Kopf, Vorsehung bei Gott und Mensch. Ein Vorschlag zur aktuellen Debatte über Gottes Vorsehung und Handeln, in: ZTP 143 (2021), 184 –211. 2 Siehe dazu P. Foot, Virtues and Vices and Other Essays in Moral Philosophy, Berkeley, L.A., 1978; K. P. Rippe/P. Schaber (Hrsg.), Tugendethik, Stuttgart 1998; C. Halbig, Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik, Frankfurt a. M. 2013; I. Nassery/J. Schmidt (Hrsg.), Moralische Vortrefflichkeit in der pluralen Gesellschaft. Tugendethik aus philosophischer, christlicher und muslimischer Perspektive, Paderborn 2016; C. Halbig/F. Timmermann (Hrsg.), Handbuch Tugend und Tugendethik, Wiesbaden 2021. 3 H.-R. Reuter, Grundlagen und Methoden der Ethik, in: W. Huber u. a. (Hrsg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, 9–124, 25.
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Antwort auf diese Frage hatte schon Platon vier Kardinaltugenden benannt: die sittlichen Tugenden der Gerechtigkeit, der Tapferkeit und der Besonnenheit, sowie die Verstandestugend der Klugheit (die er an die Stelle der Frömmigkeit setzte, die von Aischylos als vierte Tugend aufgeführt worden war, wobei er auf den damals gängigen Katalog der Tugenden zurückgreift4). Diese Tugenden liegen den Handelnden und auch der konkreten Handlungsorientierung als Habitus zugrunde. Sie lassen sich in der Regel am Handeln der Person erkennen, stellen aber keine unmittelbaren Handlungsanweisungen dar. Wenn Vorsehung in Analogie zur Tugend der Klugheit gedacht wird, ist damit also die Unterscheidung vom Handeln Gottes schon vorausgesetzt. Das Handeln ist der Tugend konsekutiv und liegt auf einer anderen Ebene. Im Folgenden werde ich einige kritische Rückfragen an diesen Ansatz stellen, die als Ausdruck der Wertschätzung für Simon M. Kopfs Entwurf der Vorsehungslehre verstanden sein wollen. Auch mein eigenes Verständnis der Vorsehung Gottes wird dabei zum Vorschein kommen.
1. Analogie Meine erste Anfrage an den klugheitsbasierten Ansatz der Vorsehungslehre betrifft das Konzept der Analogie – und zwar sowohl sein Verständnis als auch seine Anwendung. Um welche Art von Analogie handelt es sich dabei? Als Analogie wird bekanntlich eine Ähnlichkeit verstanden, die durch Vergleich zwischen verschiedenen Entitäten (im Blick auf deren Eigenschaften) oder Relationen festgestellt wird. Um die Analogie als sachgemäß ausweisen zu können, müssen beide Analogate im Prinzip bekannt sein. Das gilt nicht nur für die analogia attributionis, sondern auch für die analogia proportionalitatis. Im theologischen Gebrauch der Analogie – also in ihrer Anwendung auf Gott – muss das Wesen Gottes also als im Prinzip bekannt oder erkennbar vorausgesetzt werden. Nur dann können ihm per analogiam sinnvollerweise Eigenschaften zugeschrieben werden. Nur dann kann
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Sieben gegen Theben, V, 610.
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auch für die Zuschreibung von Klugheit (als „[unveränderliche] Wesenseigenschaft“ [99]) Geltung beansprucht werden. Wenn nur das eine Analogat bekannt ist (in diesem Fall die menschliche Klugheit), und dieses zu Gott „hinaufgesagt“ wird, ohne dass dessen Wesen vorgängig bestimmt ist, kann die Analogie bestenfalls als Explikation der vorausgesetzten Glaubensannahme dienen, dass Gott ein kluger Ordner ist. Sie kann diese Annahme aber nicht begründen und damit zu seinem synthetischen Urteil führen. Die Analogie bringt also selbst keine Erkenntnis hervor, sondern prädiziert und veranschaulicht das zuvor Erkannte oder als erkannt Angenommene. Sie ist kein Weg der Erkenntnisgewinnung, sondern der Prädikation des bereits Erkannten oder Postulierten. Es sei denn, man setzt – wie Thomas – voraus, dass es sich nicht um eine analogia nominum, sondern um eine analogia entis handelt, dass also ein Seinszuammenhang zwischen der Vorsehung bzw. Klugheit Gottes und der Vorsehung bzw. Klugheit des Menschen besteht. Das ist offensichtlich in der Aussage des Thomas aus De Veritate 5.1 angedeutet, die Simon M. Kopf auf S. 90 zitiert. Die Klugheit des Menschen ist eine Manifestation der Klugheit Gottes. Der Seinszusammenhang zwischen menschlicher und göttlicher Klugheit wird von Gott durch sein schöpferisches Handeln, wie überhaupt durch seine Selbstmitteilung konstituiert und vom Menschen durch Partizipation am Sein Gottes realisiert. Auf der Basis einer analogia entis ist der Rückschluss von der Vorsehung bzw. Klugheit des Menschen auf die Vorsehung bzw. Klugheit Gottes möglich. Es braucht dann allerdings einen „Filter“, um zwischen menschlichen Eigenschaften zu unterscheiden, die Gott zugeschrieben werden können, und solchen, bei denen sich das verbietet, zwischen solchen also, die von Gott gegeben sind und solchen, die sich der menschlichen Selbstbestimmung verdanken (wie Keuschheit, Gehorsam oder die sog. „Preußischen Tugenden“). Dieser Filter besteht in der Annahme, dass Gott das höchste Gute ist.5 Wird dieser Filter angewendet, dann können Gott nur Tugenden, nicht aber Untugenden zugeschrieben werden. Zudem muss dann angenommen werden, dass Gott die Tugenden zum Guten gebraucht. Klugheit ließe
5
Auf S. 97 und öfters macht Kopf von diesem „Filter“ Gebrauch.
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sich ja auch (im Sinne einer moralisch indifferenten „Schlauheit“) im Eigeninteresse des Handelnden zum Schaden anderer einsetzen. Karl Barth hat die Lehre von der analogia entis bekanntlich als „die Erfindung des Antichrist“ bezeichnet6. Mit Vehemenz bestritt er die Annahme eines Seinszuammenhangs zwischen Gott und Welt. Er wies damit die Annahme zurück, das Wesen Gottes könne mit dem Licht der natürlichen Vernunft erkannt werden. Damit – so sein Verdacht – würden Projektionen Tür und Tor geöffnet. Von daher stellt sich die Frage: Führt nicht insbesondere der von Simon M. Kopf vorgenommene Versuch, die Analogie über die via eminentiae zu bestimmen, zu Projektionen, in diesem Fall zur Vorstellung einer absoluten Klugheit, zum Verständnis Gottes als eines Superhirns, das alles zum Guten ordnet?7 Die Grundfrage lautet aber, ob Simon M. Kopf die Beziehung zwischen der Vorsehung bzw. Klugheit des Menschen und der Vorsehung bzw. Klugheit Gottes überhaupt auf der Basis einer analogia entis herstellt? Oder handelt es sich lediglich um einen metaphorischen Sprachgebrauch mit einer darin implizierten oder explizierten Analogie8? Für diese Annahme scheint Simon M. Kopfs Aussage zu sprechen: „Es geht dabei um keinen Analogieschluss, etwa im Sinne einer Induktion, sondern um eine analoge Redeweise von Gottes Vorsehung“ (91). Demnach ist die Analogiebeziehung nicht auf der Ebene des Seins (analogia entis), sondern auf der Ebene des Sprechens von Gott (analogia nominum) angesiedelt. Es muss dann ein univoker Kern der Analogie angenommen werden, der dazu berechtigt, den Begriff Klugheit sowohl auf Gott wie auf den Menschen anzuwenden. Allgemeiner gefragt: Worin besteht der ontische, logische und erkenntnistheoretische Status dieser Analogie? Gibt es also eine ontische Basis, in der diese Beziehung gründet und die es erlaubt, Gott im Sinne eines synthetischen Urteils Klugheit und Vorsehung zuzuschreiben? Ist sie schöpfungstheologisch und/oder offenbarungstheologisch begründet? Geht es um eine analogia attributionis (Klugheit als Attribut) oder um eine analogia proportionalitatis 6
KD I/1, VIII. Siehe dazu H. U. von Balthasar, Karl Barth. Darstellung und Deutung seiner Theologie, Einsiedeln, 41976, 175 –180. 7 Kopf spricht vom „Ordnen Gottes aller Geschöpfe auf ein Ziel hin, das ein [höchstes] Gut darstellt“ (95). 8 Siehe dazu J. Track, Art. Analogie, in: TRE 2 (1978), 625 – 650, bes. 627f.
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(Gott/Gottes Wesen/Gottes Handeln verhält sich zur Klugheit wie diese zum Wesen/Handeln des Menschen)? Woher gewinnt Kopf eine so präzise Erkenntnis der Klugheit Gottes, dass es ihm sogar möglich ist, deren Unähnlichkeiten zur Klugheit des Menschen genau anzugeben? Wenn nicht angenommen wird, dass eine ontische Beziehung zwischen der Klugheit Gottes und der Klugheit des Menschen (sei es im Sinne der analogia attributionis intrinsecae oder im Sinne der analogia proportionalitatis intrinsecae) besteht, wenn also die Klugheit des Menschen nicht als Partizipation an der Klugheit Gottes gesehen wird, gilt das zu Beginn dieses Abschnitts Gesagte: Die Analogie ist keine Erkenntnisquelle, sondern ein Ausdrucksmittel, mit dem das Unbekannte aus dem Bekannten bezeichnet wird. Es muss eine andere Quelle der Erkenntnis dafür in Anspruch genommen werden. Nach evangelischem Verständnis besteht diese Quelle in erster Linie in der biblischen Überlieferung. Das führt mich zur zweiten Frage.
2. Exegetische Begründung Bei der „klugheitsbasierten Vorsehungslehre“ von Simon M. Kopf handelt es sich um ein Stück philosophischer Theologie, die auf exegetische Begründungen verzichtet. Die evangelische Theologie verlangt demgegenüber nach exegetischen Grundlegungen oder zumindest Rechtfertigungen theologischer Aussagen, auch da, wo sie sich als philosophische Theologie entfaltet. „Weisheit“ und „Klugheit“ sind im Hebräischen und im Griechischen nicht klar zu unterscheiden. Im Hebräischen gibt es zudem mehrere Begriffe, die mit „Klugheit“ übersetzt werden können. Es sind dies Ableitungen der Wurzeln lk& (einsichtig sein, verstehen, Einsicht/Verstand) und {r( (wie h5mÇr5(), die allerdings ganz auf den Menschen – in Gen 3,1 sogar auf die Schlange – bezogen sind. Die Ableitungen aus diesen beiden Wurzeln sind oft verbunden mit weiteren Wörtern aus dem Wortfeld „weise, klug“, so z. B. }yb (verstehen, Einsicht/Verstand) und (dy (wissen/erkennen/Wissen/Erkenntnis), die ebenfalls fast ausschließlich auf Menschen angewendet werden. Wo von Gottes Weisheit bzw. Klugheit bzw. Umsicht gesprochen wird, sind damit keine Eigenschaften oder gar Tugenden, sondern Handlungsweisen bezeichnet. So heißt es in Jes 28,29, Gott
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handele mit „großer Umsicht“ (h5yi$RT). Ansonsten wird auch dieser Begriff vor allem auf menschliches Handeln bezogen. Das gilt auch für h5MizÇm (Klugheit/Besonnenheit) und {2(3+. In Jer 23,20 und 30,24 ist von den „Pläne[n] seines Herzens“ die Rede, die Gott ausführt. Auch hier wird das Moment der Tätigkeit betont.9 Nach biblischem Verständnis bewahrheitet Gott seine „Ratschlüsse“, indem er sie ausführt. Er ist der, als der er sich erweisen wird (Ex 3,14). Unter „Plan“ ist zudem nicht eine Ordnung zu verstehen, sondern eine spezifische Absicht. Erst dort, wo diese Absichten bzw. deren Ausübung in eine zeitliche Anordnung gebracht werden, entsteht die Vorstellung von einem sukzessive ausgeführten Heilsratschluss (Jes 5,19; Eph 2,9ff), „der dem Ablauf der Geschichte der Schöpfung zugrunde liegt und in den alles Geschehen eingeordnet ist“.10 Dass Gottes Pläne nicht immer – jedenfalls nicht unmittelbar – auf ein höchstes Gut zielen, wie es Kopf darstellt, zeigt sich in Jer 51,11, wo der Plan in der Vernichtung Babels besteht. Es ist ein Racheplan. Am ehesten lässt sich ein „klugheitsbasierter“ Ansatz der Vorsehungslehre vom Begriff der Weisheit ({kx) ableiten. So ist Gott nach Jes 31,2 weise, wobei seine Weisheit auch hier in der Heraufführung von Unheil besteht. Hiob 9,4 verbindet die Weisheit Gottes mit seiner Kraft. Sie stellt also seine Handlungsorientierung dar. Beeinflusst von der Weisheitsliteratur ist die Bezeichnung Gottes als „allein weise“ (m{noj sof{j) in Röm 16,27. In Sir 1,8 wird Gott sof{j genannt. Dieser Befund führt zur Einsicht, dass sich ein „klugheitsbasierter“ Ansatz der Vorsehungslehre biblisch nur mit Mühe begründen lässt. Wo von Weisheit, Klugheit, Einsicht, Verstand, Besonnenheit Gottes die Rede ist, wird damit sein Handeln bzw. seine Handlungsorientierung charakterisiert. Gott handelt aus „seiner Einsicht“11. Es geht also bei der Rede von Gottes Klugheit nicht um die Bestimmung seines Wesens durch die Zuschreibung von Eigenschaften. Die biblischen Überlieferungen zeigen wenig Interesse an Wesensbestimmungen Gottes. 9
Siehe auch Hi 42,2: „Ich erkenne, dass du alles vermagst und dass kein Vorhaben (hmzm) dir verwehrt werden kann“ (nach der Übersetzung der SchlachterBibel). 10 W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, Göttingen 1991, 21. 11 So Jer 10,12 und 51,15 nach Übersetzung der Zürcher Bibel.
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Zumeist sind die Begriffe, die mit „Klugheit“ übersetzt werden können, aber nicht auf Gott, sondern auf den Menschen bezogen. Wenn dabei ein Bezug zu Gott hergestellt wird, dann geschieht dies wiederum über das Handeln Gottes: Gott wird als der Geber dieser Gabe angesprochen. Nicht zuletzt im Blick auf den Aktualismus der biblischen Rede von Gott haben die Reformatoren Vorsehung als Gottes tätige „Fürsehung“, also als Fürsorge verstanden. Sie wandten sich damit von den spekulativen Introspektionen in das Wesen Gottes ab, die sie in der Scholastik vorfanden. Dieser philosophischen Theologie stellten sie eine biblische Theologie gegenüber. Generell werden die Eigenschaften Gottes als Tätigkeit aufgefasst. So bezeichnet etwa die Rede von der Gerechtigkeit Gottes das gerechtigkeitsschaffende (rechtfertigende) Handeln Gottes, die Rede von der Freiheit Gottes, das freiheitsgewährende Handeln, die Rede von der Liebe Gottes, die Erweise seiner Menschenfreundlichkeit usw. Kurz: Gott ist gerecht, insofern er seine Gerechtigkeit ausübt und gerecht macht; ihm eignet Freiheit, insofern er frei handelt und frei macht; sein Wesen ist Liebe, insofern er liebt. Die Deutung von Eigenschaften Gottes als Tätigkeiten lässt sich bis in die jüngere Vergangenheit und Gegenwart ausziehen. Karl Barth hat scharfe Kritik an einer Gotteslehre geübt, die Gott zunächst in seinem Wesen bestimmt und von dort aus nach seinem Handeln fragt. Dem setzt Barth das Verständnis entgegen, dass Gottes Wesen identisch mit seinem Wirken ist. Beides fließt zusammen im Begriff der Wirklichkeit Gottes. Gottes Sein ist ein Tun (in dem er sich offenbart), es ist dynamisch, ereignishaft: „Wesen und Wirken Gottes sind ja nicht zweierlei, sondern eins. Das Wirken Gottes ist das Wirken Gottes in seinem Verhältnis zu der von ihm unterschiedenen, zu schaffenden oder geschaffenen Wirklichkeit.“12 „Es steht mit der biblischen Beantwortung der Frage: Wer ist Gott in seiner Offenbarung? tatsächlich so, dass sie sofort auch auf die beiden anderen Fragen: Was tut er? und: Was wirkt er? antwortet.“13 Auch im Blick auf den Menschen vollzieht die reformatorische Theologe eine Abwendung von anthropologischen Wesensbestimmungen und eine Hinwendung zu den „Werken“. Der scholasti12 13
KD I/1, 391. KD I/1, 313.
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schen Tugendlehre steht sie kritisch gegenüber, weil sie darin eine problematische Auslegung der Gnadenlehre sieht, der zufolge die Tugenden als Gnadengaben in den Besitz des Menschen gegeben sind, was diesen in die Lage versetzt, verdienstvolle Werke aus sich selbst heraus hervorzubringen. Luther versteht Tugend „nicht reflexiv, sondern relational, responsorisch und exzentrisch […], nicht als persönliche Selbstrealisierung und Vervollkommnung, sondern als diakonische, nach außen gerichtete Haltung, die Gott und dem Mitmenschen dient und Gemeinschaft bewahrt.“14 Entscheidend für die guten Werke ist nicht ihre Tugendhaftigkeit, sondern die in ihnen vollzogene Praxis der Nächstenliebe. Ihre Dignität gewinnen sie also nicht vom Handlungssubjekt her, sondern am Adressaten seiner Handlung.
3. Konditionale Notwendigkeit Nicht nur mit der Aufnahme des Analogiegedankens, sondern auch mit seinen Überlegungen zu Freiheit und Notwendigkeit knüpft Simon M. Kopf an scholastische Denkfiguren an. Er greift die von Thomas entfaltete Unterscheidung zwischen absoluter und bedingter Notwendigkeit auf, um zu zeigen, dass Gottes Vorherwissen mit der Freiheit des Menschen kompatibel ist. Schon Boethius hatte zwischen einfacher und bedingter Notwendigkeit (necessitas simplex et condicionis) unterschieden.15 Die einfache Notwendigkeit besteht darin, dass etwas so und nicht anders geschehen muss. Boethius führt als Beispiel dafür den Aufgang der Sonne an. Die bedingte Notwendigkeit bezieht sich dagegen auf kontingente Ereignisse, die auch nicht oder anders eintreten könnten, im Moment ihrer Ereignung aber nicht mehr anderes sein können, als sie sind. Boethius führt als Beispiel dafür den Spaziergang eines Menschen an. In dem Augenblick, wo dieser Spaziergang statt14
I. Asheim, Lutherische Tugendethik?, in: NZSTh 40 (1998), 239 –260, 255f. Boethius, Philosophiae Consolatio = Trost der Philosophie. Lateinisch/ Deutsch, hrsg. von O. Gigon, Berlin, Boston 62014, Buch V, 6, § 27. Siehe dazu H. Weidemann, Die Unterscheidung zwischen einfacher und bedingter Notwendigkeit in der Philosophiae Consolatio des Boethius, in: History of Philosophy & Logical Analysis 1 (1998), 195 –207. 15
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findet, wo also aus vielen Möglichkeiten eine Realität wird, kann er nicht mehr nicht und nicht mehr anders stattfinden. Hier gilt der Grundsatz des Aristoteles, dass „alles, was ist, dann mit Notwendigkeit ist, wenn es ist“.16 Die einfache Notwendigkeit besteht also schon vor dem Eintreten des Ereignisses, die bedingte Notwendigkeit erst im Eintreten. Gottes Ewigkeit ist nach Boethius so zu verstehen, dass er ein ewiges (d. h. nicht durch die Zeit begrenztes) Leben gleichzeitig und in vollkommener Weise besitzt.17 Alles, was in der Zeit passiert, auch das Zukünftige, geschieht für ihn in der Gegenwart des ewigen Jetzt (nunc aeternum). Es gibt also für ihn kein Vorherwissen in einem zeitlichen Sinn. Er weiß es als ein jetzt Geschehendes, das heißt dann aber: als ein notwendig Geschehendes. Das gilt auch für Ereignisse, die nicht aus einer ihnen eigenen Notwendigkeit unvermeidlich und unabänderlich geschehen, sondern kontingent sind. Ihre Notwendigkeit ist an den Zeitpunkt ihrer Ereignung gebunden und dadurch bedingt. In diesem Sinne eignet ihnen eine bedingte Notwendigkeit. Auf diese Weise lässt sich eine freie Handlung als eine bedingt notwendige verstehen. Bei zukünftigen Handlungen und Ereignissen liegt diese bedingte Notwendigkeit im Vorauswissen (bzw. im Jetzt-Wissen) Gottes, denn in seiner Ewigkeit weiß Gott um ihre Ereignung und damit um ihre Notwendigkeit. Die Notwendigkeit ist also durch Gottes Wissen bedingt. Sie liegt im Wissen, dass dieses Ereignis zu einem bestimmten Zeitpunkt so und nicht anders eintritt. Auf das Erkennen Gottes bezogen, ist das Ereignis notwendig, für sich betrachtet hingegen „von den Fesseln der Notwendigkeit gelöst“.18 An diesen Gedanken knüpft Thomas mit der Unterscheidung zwischen „absoluter Notwendigkeit“ (necessitas consequentis bzw. absoluta = „Notwendigkeit des Folgesatzes“) und „bedingter Notwendigkeit“ (necessitas consequentiae bzw. conditionata = „Notwendigkeit der Konsequenz“) an. Die necessitas consequentis artikuliert sich in dem Satz „Wenn ich weiß, dass p der Fall ist, dann ist es not16
De interpretatione 9, 19 a 25f; zitiert nach Aristoteles, Hermeneutik/Peri Hermeneias, Griechisch – Deutsch, übers. und hrsg. von H. Weidemann, Berlin/Boston 2015, 101. 17 „Aeternitas […] est interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio“ (Philosophiae Consolatio [s. Anm. 15], Buch V, 6, § 4). 18 Ebd., Buch V, 6, § 34 –36.
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wendig, dass p der Fall ist“ oder einfacher: „Was ich weiß, ist notwendigerweise der Fall“, die necessitas consequentiae bringt sich dagegen folgendermaßen zum Ausdruck: „Es ist notwendig, dass, wenn ich weiß, dass p der Fall ist, dann ist p der Fall“. In diesem Zusammenhang formuliert Thomas den Satz, den Kopf im folgenden Wortlaut wiedergibt: „Notwendigerweise, wenn Sokrates sitzt, dann sitzt er“ (103)19. Dabei handelt es sich zunächst um eine logische und weniger um eine ontologische Notwendigkeit. In einem erkenntnistheoretischen Realismus fallen beide allerdings zusammen: die necessitas de dictu (die auf die Feststellung einer Gegebenheit bezogen ist) und die necessitas de re (die auf die Gegebenheit selbst bezogen ist). Die logische Notwendigkeit besteht in der Anwendung des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch: Man kann nicht zugleich sitzen und nicht-sitzen. Ist „sitzen“ gegeben, dann ist „nicht-sitzen“ ausgeschlossen. Die Notwendigkeit des Festgestellten ergibt sich aus dem Gesetztsein der festgestellten Sache. Wenn nun Gott die zukünftigen Ereignisse im Moment ihrer Realisierung (also ihres Gesetztseins) kennt, eignet diesen schon jetzt eine bedingte – durch Gottes Praescienz bedingte – Notwendigkeit. In ihrem Zustandekommen sind sie kontingent, in ihrer Aktualität, in der Gott sie sieht bzw. weiß, notwendig. Ihre Notwendigkeit ist eine durch Gottes Wissen bedingte: Wenn Gott schon jetzt weiß, dass Sokrates zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft sitzen wird, dann sitzt Sokrates (für Gott in seinem ewigen Jetzt) notwendigerweise. In der späteren, insbesondere von Duns Scotus geprägten Debatte verschiebt sich der Akzent allerdings von der logischen und der ontologischen Notwendigkeit auf ein „kausales“ Verständnis. Es geht nun nicht mehr nur um Konsequenzen im Sinne eines logischen Schlusses aufgrund einer Feststellung von Gegebenheiten, also um den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, sondern um Konsequenzen im Sinne von Kausalzusammenhängen: Weil Sokrates zum Zeitpunkt X sitzt, verursacht diese Tatsache in Gott das Wissen, dass Sokrates zum Zeitpunkt X sitzt. Daher ist Gottes Wissen davon eine necessitas consequentiae (so wie die Straße nass ist, wenn es regnet), aber dieses Wissen ist als Folge von Sokrates‘ Sitzen nicht abso-
19
ScG I, 67; siehe auch STh I 14, 13.
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lut gegeben, weil Sokrates auch hätte nicht-sitzen können (es ist nicht absolut notwendig, dass die Straße nass ist, weil die Möglichkeit bestand, dass es nicht regnet). Die necessitas consequentiae ist also eine Notwendigkeit, die durch eine bestimmte Situation als Folge eines Kausal-Zusammenhangs entstehen kann: Regen → Nässe. Die Nässe der Straße ist nicht an sich gegeben, aber wenn es regnet, ist sie unabdingbar. Bezieht man diese „kausale“ Deutung auf das Beispiel vom Sitzen des Sokrates, dann geht es nicht mehr um die logische Notwendigkeit („wenn er sitzt, dann sitzt er nicht nicht“), sondern um die in einem Akt realisierte Möglichkeit („weil er sich entschieden hat zu sitzen, sitzt er nun“). Auf Gottes Wissen bezogen: Weil Sokrates zum Zeitpunkt X sitzen wird, weiß Gott, dass er zum Zeitpunkt X sitzen wird. Gottes Wissen davon ist eine notwendige Folge des Sitzens, aber weil das Sitzen selbst nicht notwendig ist, kommt Gottes Wissen davon (als einer durch das Sitzen verursachten Konsequenz) bloß eine necessitas consequentiae zu. Sein Wissen um seine eigene Existenz ist hingegen eine necessitas absoluta. Dem logischen Verständnis zufolge ist die Notwendigkeit eines zukünftigen Ereignisses durch Wissen Gottes bedingt. Der kausalen Deutung zufolge ist Gottes Wissen durch das zukünftig eintretende Ereignis bedingt. In beiden Fällen ist das Eintreten des Ereignisses durch die Antezedenzien bedingt und im Falle menschlicher Handlungen durch die Entscheidung des Handlungssubjekts. Dabei werden Potenzialitäten aktualisiert bzw. Möglichkeiten realisiert. Am Beispiel des Sitzens: Im Akt des Hinsetzens wird aus den zahlreichen Möglichkeiten des Nicht- oder Anderssitzens eine realisiert und damit wird aus einer Option das Faktum des so und nicht anders Sitzens. Die Modalität „Notwendigkeit“ bezieht sich nicht auf das Ereignis selbst, sondern auf die Feststellung des Ereignisses. Sie besteht also in der logischen Notwendigkeit. Man könnte also das Wort „notwendigerweise“ in der Aussage „Wenn man weiß, dass Sokrates sitzt, dann sitzt er notwendigerweise“ durch „logischerweise“ ersetzen – oder auch ganz streichen, denn diese Aussage stellt eine Tautologie dar. Die Zuschreibung konditionaler Notwendigkeit bezieht sich also auf das Wissen Gottes um zukünftige Ereignisse, die für ihn gegenwärtig sind. Wenn mit dem Wissen aber kein Wollen verbunden ist, bezieht es sich lediglich auf die Feststellung dessen, was der Fall ist, nicht aber auf ein Bewirken des jeweiligen Ereignisses im Sinne der effektiven Anordnung. Es handelt sich dann um ein intellektuales
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praescire, nicht aber um ein aktuales procurrere im Sinne einer tätigen Vor-, Für- und Nachsorge. In Bezug auf das Beispiel vom Sitzen des Sokrates: Es geht um die Feststellung, dass Sokrates sitzt, aber nicht um eine Einflussnahme auf den Akt des Hinsetzens. Damit stellt sich die Frage gar nicht, ob der Sachverhalt (das Sitzen) durch einen Vollzug menschlicher Freiheit oder durch eine göttliche Einwirkung zustande gekommen ist. Erst wo es um das Handeln Gottes in der Welt geht, stellt sich diese Frage. Für Boethius aber gilt: „Deshalb verändert diese göttliche Vorerkenntnis die Natur der Dinge und ihre Eigentümlichkeit nicht und erschaut bei sich jenes als gegenwärtig, was in der Zeit einst zukünftig zum Vorschein kommen wird.“20 Luther hat die Unterscheidung zwischen necessitas consequentis und consequentiae als „Hirngespinst“ bezeichnet.21 Notwendigkeit eigne nur Gott allein. Was Gott tut, geschieht aus Notwendigkeit. Die Rede von einer bedingten Notwendigkeit hält Luther für eine philosophisch spitzfindige und theologisch inakzeptable – weil die Handlungsmacht Gottes beschränkende – Erfindung der Scholastiker. Die Reduzierung der Providenz Gottes auf ein Vorher- bzw. Ewigkeitswissen weist Gott die Rolle des Zuschauers zu, der die Ereignisse lediglich registriert.22 Damit ist das Wollen und Handeln Gottes unterbestimmt. In „De servo arbitrio“ unterscheidet Luther zwischen den weltlichen Dingen, die „unter“ dem Menschen sind, und den Dingen, welche die Gottesbeziehung betreffen.23 In den weltlichen Dingen hat der Mensch eine relative Freiheit, in deren Gebrauch Gott allerdings mitwirkt. In den Dingen, die unmittelbar der Herrschaft Gottes unterstehen, wird der Mensch dagegen „vom Willen und dem Rate Gottes in Bewegung gesetzt und geführt“.24 Im Blick auf die Vorsehung Gottes lautet Luthers These, „dass Gott nicht so versieht, dass dem Zufall freies Spiel gelassen wird, sondern alles mit unveränderlichem, ewigen und unfehlbarem Willen ver20
Philosophiae Consolatio (s. Anm. 15), 267. WA 18, 617; zitiert nach M. Luther, Dass der freie Wille nichts sei. Antwort D. Martin Luthers an Erasmus von Rotterdam, München 1983, 25. 22 Boethius vertrat die Auffassung, dass sich die Vorsehung „fern von den niederen Dingen aufhält und gewissermaßen vom erhabenen Gipfel der Dinge herunter alles vor sich sieht“ (Philosophiae Consolatio (s. Anm. 15), 267). 23 WA 18, 672; zitiert nach M. Luther, Dass der freie Wille nichts sei (s. Anm. 21), 89. 24 Ebd. 21
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sieht, sich vornimmt und tut.“25 Es ist wichtig, den soteriologischen Kontext dieser Aussagen zu bedenken: Es geht Luther um die Begründung von Heilsgewissheit.26 Im Blick auf die Vorsehung Gottes bedeutet das: Die Fürsorge Gottes befreit den Menschen von der Selbstsorge. Außerdem ist die Unfreiheit des Willens nicht mit äußerem Zwang gleichzusetzen. Der Mensch will, was ihm sein unfreier Wille gebietet. Die „klugheitsbasierte Vorsehungslehre“ will die Willens- und Handlungsfreiheit des Menschen demgegenüber wesentlich stärker zur Geltung bringen. Dazu zeigt sie, dass Gottes Vorherwissen mit dieser Freiheit kompatibel ist. Es geht ihr im Verständnis der Vorsehung aber nicht nur um das Vorwissen, sondern auch um ein effektives (An-) Ordnen. Wie kann dieses Anordnen gedacht werden, ohne die menschliche Freiheit zu beschränken? Solange sie als intramentaler Akt vorgestellt ist, kann sie nicht in Konflikt mit menschlicher Freiheit kommen. Wenn sie aber als „effektiv“ deklariert wird, bedarf es einer weiteren Klärung dieses Verhältnisses. Wie wird die göttliche Anordnung umgesetzt? Damit stellt sich wieder die Frage nach dem Handeln und nach der Handlungsmacht Gottes. Das ist die eigentlich entscheidende Frage! Wie verhält sich die „klugheitsbasierte Vorsehungslehre“ zum Postulat der (All-) Macht Gottes?
4. Concursus Zur Deutung der Wirkmächtigkeit Gottes in der Welt, also der effektiven Dimension des klugen Ordnens greift Simon M. Kopf zurück auf die scholastische Theorie der Erst- und Zweitursächlichkeit. Er deutet sie im Sinne eines concursus bzw. concurrentism (102), also des Mitwirkens Gottes mit den Geschöpfen, die er erschafft, erhält und führt (102). Wenn dabei der kategoriale Unterschied zwischen Erst- und Zweitursächlichkeit gewahrt werden soll, ist jedoch anzugeben, wie deren Zusammenwirken zu bestimmen ist. Ansonsten besteht die Gefahr, dass aus dem concursus eine Konkurrenz zwi25
WA 18, 615; zitiert nach M. Luther, Dass der freie Wille nichts sei (s. Anm. 21), 24. 26 Siehe dazu T. Reinhuber, Kämpfender Glaube. Studien zu Luthers Bekenntnis am Ende von De servo arbitrio, Berlin 2013, 119 –124.
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schen göttlichem und menschlichem Handeln wird, der zufolge dann gilt: Je mehr eine Handlung Gott zugeschrieben wird, umso weniger kann sie dem Menschen zugeschrieben werden und umgekehrt. Wenn dagegen betont wird, dass ein Ereignis vollständig von der causa prima und den causae secundae bewirkt bzw. eine Handlung vollständig vom actor primus und den actores secundi vollzogen wird, besteht eine Überdetermination im Blick auf die Verursachung dieses Ereignisses bzw. dieser Handlung. Es/Sie wäre ohne Abstriche auch auf das Wirken der causa secunda bzw. des actor secundus allein zurückführbar. Es stellt sich also die Frage nach der Art des Zusammenwirkens von Erst- und Zweitursache. Zuweilen wird sie formuliert als Frage nach dem „Link“ zwischen ihnen. Die meines Erachtens überzeugendste Antwort besteht darin, diese Verbindung als ein Wortgeschehen aufzufassen: Angesprochen von einem Wort Gottes handelt der Mensch. Dabei ist die Freiheit des Menschen gewahrt. Diesen Weg hat die Wort-Gottes-Theologie mit ihren Ausprägungen in der kerygmatischen und der hermeneutischen Theologie eingeschlagen. Sie verstand das Handeln Gottes ad extra vor allem als ein performatives Wortgeschehen: Gott wirkt durch sein Wort, durch Anrede und Verheißung, durch die Proklamation eines „neuen Seins“ (Tillich). Dann aber wird die Rezeption der Anrede wichtig. Ein Wort, das nicht gehört und beantwortet wird, erzielt keine Wirkung. Der Handlungsvollzug im Wortgeschehen kommt nicht zustande. Hören und Antworten sind verbunden mit Verstehensprozessen. Die hermeneutische Theologie betonte, dass das Wort Gottes nicht opere operato wirkt, sondern indem es sich dem Menschen erschließt, diesen aus seiner Existenzverfassung herausruft und ihn in die Gottesbeziehung hineinruft. Es gibt kein Handeln Gottes ohne den Menschen, der dieses Handeln als solches erfährt und für sich gelten lässt. Diese Dimension scheint mir in weiten Teilen der analytischen Theologie ausgeblendet oder zumindest unterbelichtet zu sein, sodass man dort ein Hermeneutikdefizit konstatieren kann. Das Verstehen (in einem nicht nur intellektuellen, sondern existenziellen Sinn) kann dabei selbst wieder als eine Gabe Gottes aufgefasst werden. Zum Wort muss der Geist kommen. Das Wortgeschehen ist immer auch ein Geistgeschehen. Die Anrede durch das Wort erscheint von daher als erfahrungshafte Konkretion der
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Geistgegenwart Gottes, die diese immer medial erfahrbar macht – im Medium des mich „angehenden“ Bibelwortes, der kirchlichen Verkündigung, aber auch im Medium von Geborgenheit gewährenden zwischenmenschlichen Beziehungen, eines sozialdiakonischen Handelns usw. All dies kann als Gestaltwerdung der Selbstmitteilung Gottes – des Christus praesens – verstanden werden. Der Geist vermittelt das Wort und öffnet die, die ihn empfangen, für diesen Empfang. Die Geistpräsenz Gottes, die sich im Akt des zugesprochenen „Wortes“ konkretisiert, wird demnach auch „im Geist“ empfangen, d. h. durch das innere Zeugnis des Geistes validiert. Für die Rezeption dieser medialen Selbstmitteilung hat schon Calvin auf die Bedeutung des testimonium internum Spiritus Sancti hingewiesen.27 Von daher ist ein „objektives“ Verständnis von Vorsehung und Handeln Gottes zu problematisieren.
5. Objektivismus Auf Gott und die Gottesbeziehung bezogene Begriffe (wie „Vorsehung“, „Handeln Gottes“, „Offenbarung“ usw.) sind hermeneutische Begriffe, die ihre Bedeutung im hermeneutischen Zirkel des Glaubens und seiner reflexiven Gestalt – der Theologie – haben. Sie stehen für Erfahrungen und Überlieferungen, die im Licht des Glaubens erschlossen und zu Konzepten verdichtet wurden. Ihre Bedeutung ist immer an diese Erschließung gebunden und das heißt in den Sprachstrom des Glaubens eingebunden. So gibt es ein „Handeln Gottes“ nicht an sich und als solches, als unerfahrenes und unerschlossenes. Vielmehr bezeichnet dieser Begriff Widerfahrnisse – seien es selbst erlebte oder tradierte –, die als Handlungen Gottes erfahren und schematisiert wurden. Diese Widerfahrnisse bestehen nach meiner Deutung in Ereignungen der machtvollen Präsenz Gottes im Geist (siehe unten). Zu „Handlungen Gottes“ werden sie, indem sie von den davon betroffenen Menschen als solche erschlossen und mit dem (aus der menschlichen Sphäre genommenen) Begriff des Handelns bezeichnet werden. Handeln Gottes ist ein Ausdruck der gelebten Beziehung zu Gott.
27
Inst. I, 7, 4, nach Röm 8,16.
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Diese Beziehung lässt Natur und Geschichte sowie den Vollzug der eigenen Existenz und des Lebens der Glaubensgemeinschaft als getragen und geleitet von der aktiven Gegenwart Gottes sehen. Es ist dies ein Sehen in der Perspektive des Glaubens. Nicht Gott wird dabei gesehen, sondern die Dinge der Welt im Licht des Gottesglaubens. Gott ist nicht Gegenstand der Betrachtung, sondern die Quelle dieses Lichts. Hermeneutische Begriffe verweisen auf Verstehensvorgänge und diese werden von Personen vollzogen. Wo nicht abstrakt von der Vorsehung Gottes, sondern konkret vom Vorsehungshandeln Gottes die Rede ist, ist diese Rede erfahrungsbezogen und damit subjektiv, oder eher intersubjektiv.28 Dass in einem solchen hermeneutischen Ansatz die Vorsehung Gottes „zu einer rein subjektiven Kategorie verkommt“ (86), vermag ich nicht einzusehen. In einer Objektivierung bzw. Vergegenständlichung der Rede von Gott und seiner Vorsehung sehe ich die viel größere Gefahr. Deshalb fällt es mir schwer nachzuvollziehen, wie man unter Verzicht auf erkenntnistheoretische und hermeneutische Überlegungen in einem objektivierenden Realismus auf die scholastische Metaphysik zurückgreifen kann, ohne die Erkenntnis- und Metaphysikkritik Kants und des Neukantianismus sowie deren Auswirkungen auf die Theologie in Rechnung zu stellen bzw. ohne Gründe dafür anzugeben, sie nicht in Rechnung zu stellen. Hinzu kommt die inhaltliche Kritik an einem theistischen Gottesverständnis, der ich mich im folgenden Abschnitt zuwenden will.
6. Klassischer Theismus Schon Spinoza hatte gegenüber der Rede von Intellekt und Willen Gottes den Vorwurf des Anthropomorphismus erhoben. Gott existiere und handle nach der bloßen Notwendigkeit seiner Natur. Zur Natur Gottes gehöre weder Verstand noch Wille. Wo sie ihm zugeschrieben würden, liegt nach Spinoza nicht eine Analogie, sondern 28
Ein ähnlicher Gedanke klingt allerdings auch bei Kopf (als Referat der Position Essens?) in Bezug auf die göttliche Ordnung an: „Ordnung, so könnte man sagen, ist nicht objektiv vorgegeben, sondern ergibt sich allenfalls in Retrospektive, als menschliche und rein subjektive Deutung der Geschehnisse“ (106).
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eine Äquivokation vor.29 Hume hatte die Vorstellung eines mit Klugheit planenden und ordnenden Denkens als mit der Ewigkeit Gottes unvereinbar betrachtet. Es sei dies als eine Abfolge von Denkakten zu verstehen und als solche nicht auf Gott anwendbar.30 In Simon M. Kopfs Feststellung, dass die „göttliche[] Vorsehung nicht als schlussfolgender Prozess ausgelegt werden“ (100) dürfe, kann man eine Antwort auf diesen Einwand sehen. Auch Cleanthes, der fiktive Gesprächspartner in Humes Dialogen, hatte so argumentiert. Hume hält dem entgegen: „Ein Geist, dessen Akte und Empfindungen und Vorstellungen nicht unterschieden und aufeinanderfolgend sind, der völlig einfach, völlig unveränderlich ist, ist ein Geist, der kein Denken, keine Vernunft, keinen Willen, kein Gefühl, keine Liebe, keinen Haß hat, mit einem Worte, ist überhaupt kein Geist. Es ist ein Mißbrauch der Worte, ihm diesen Namen zu geben, und wir können ebensogut von einer begrenzten Ausdehnung ohne Gestalt oder von einer Zahl ohne Zusammengesetztheit reden“31. Dieser Einwand Humes ist der Kritik Spinozas ganz ähnlich. Bezieht man ihn auf die „klugheitsbasierte Vorsehungslehre“, dann lautet er: Wenn man den Begriff der Tugend in Bezug auf Gott via negativa so weitgehend anders bestimmt als in Bezug auf den Menschen, wird er zur Äquivokation. Mit den Worten des Gärtnergleichnisses von Antony Flew ausgedrückt: Er stirbt den „Tod der tausend Qualifikationen“32. Mit der Spinozarezeption an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert verstärkte sich die Kritik am Theismus. In seiner Schrift „Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung“ (1798)33 unterstützte Johann Gottlieb Fichte die theismuskritischen 29
B. de Spinoza, Die Ethik – Ethica. Lateinisch – Deutsch (1677). Nach der Edition von C. Gebhardts „Spinoza Opera“. Überarbeitung der Übersetzung von J. Stern (1888), Stuttgart 2007, 1. Buch, 17. Lehrsatz. 30 D. Hume, Dialoge über die natürliche Religion. Über Selbstmord und Unsterblichkeit der Seele, hrsg. von Friedrich Paulsen (PhB 36), Leipzig 31905, 62f. 31 Ebd., 65f. 32 A. Flew, Theology and Falsification (1959), in: ders.: Philosophical Essays, hrsg. von J. Shosky, Lanham, M.D., 1998, 42. 33 J. G. Fichte, Über den Grund unsers Glaubens an eine göttliche Weltregierung, in: Gesamtausgabe, hrsg. von I. H. Fichte, Bd. 5, Berlin 1845, 177–189. Unter dem Titel „Über den Grundriss unsers Glaubens an eine göttliche Weltregierung“ findet sich diese Schrift auch in Ausgewählte Werke, hrsg. von F. Medicus, Bd. 3, Darmstadt 1962, 121–133.
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Überlegungen, die Friedrich Karl Forberg in seinem Aufsatz „Entwickelung des Begriffs der Religion“ vorgetragen hatte, und löste damit den sogenannten Atheismusstreit aus. Es ging auch hier um die Frage, ob und in welcher Weise Gott personanaloge Eigenschaften zugeschrieben werden können, ob Gott also als eine mit Selbstbewusstsein begabte extramundane Persönlichkeit vorzustellen sei. Das gipfelte in dem Satz: „Was sie Gott nennen, ist mir ein Götze“.34 Fichtes erkenntnistheoretischer Vorwurf an die Vertreter der traditionellen Lehren von den Eigenschaften Gottes lautet: „[…] aus der Existenz und Beschaffenheit einer Sinnenwelt schließen sie auf das Dasein und die Eigenschaften Gottes“.35 Dabei kann Fichte Gott durchaus als Grund der ontischen und moralischen Weltordnung verstehen. Doch darf Gottes Ordnen nicht in Analogie zum klugheitsbasierten Planen von Menschen aufgefasst werden. Er ist im Sinne eines ungegenständlichen, rein geistigen, absoluten, impersonalen Grundes der Ordnung zu denken. Als solcher kann Gott nicht jenseits dieser Ordnung lokalisiert werden, sondern ist letztlich identisch mit ihr. Die Linie der Theismuskritik zieht sich durch die Religionskritik des 19. Jahrhunderts, die nicht nur die Funktionen der Religion kritisierte, sondern auch das von ihr propagierte Gottesverständnis, bis ins 20. Jahrhundert, wo sie im Rahmen der politischen Theologie wieder aufflammte. Von Barth bis Moltmann wurde sie als Kritik am Monotheismus vorgetragen. Wenn man sich über diese kritische Auseinandersetzung hinwegsetzt und auf den „klassischen Theismus“ (101) der scholastischen Theologie36 zurückgreift, sollte meines Erachtens angegeben werden, aus welchen Gründen man diese Ausblendung vornimmt.
34
J. G. Fichte, Appellation an das Publikum, in: W. Röhr (Hrsg.), Appellation an das Publikum. Dokumente zum Atheismusstreit um Fichte, Forberg, Niethammer. Jena 1798/99, Leipzig 21991, 109. 35 Ebd., 104. 36 Auf protestantischer Seite ist die Rede vom „klassischen Theismus“ in der Regel auf den orthodoxen Calvinismus bezogen, wobei diese Bezugnahme oft dazu dient, prozesstheologische Ansätze oder den „Open Theism“ zurückzuweisen. Siehe dazu etwa M. Schmid, Gott ist ein Abenteurer. Der Offene Theismus und die Herausforderungen biblischer Gottesrede, Göttingen 2020.
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7. Bezug zur Praxis des gelebten Glaubens Was trägt die „klugheitsbasierte Vorsehungslehre“ zur Praxis des gelebten Glaubens bei? Anders gefragt: Handelt es sich dabei um eine akademische Selbstbeschäftigung der Theologie? Worin besteht die Frage, auf die dieser Ansatz eine Antwort geben will und wer stellt diese Frage? Die Vorsehungslehre war und ist von unmittelbarer Relevanz für die Praxis des christlichen Glaubens. Man kann diesen verstehen als das Sich-Verankern in der gütigen Vorsehung Gottes, um von dorther existenzielle Geborgenheit und Lebensorientierung zu empfangen. Das eigene Leben wird in Beziehung zur Schöpfungsintention Gottes gesetzt und kann damit als Beitrag zu deren Realisierung verstanden werden. Von dort her bekommt es einen letzten Sinn. In vielen Vollzügen der Glaubenspraxis manifestiert sich das Vertrauen auf die Begleitung Gottes, die auf ein Heilsziel ausgerichtet ist, so etwa in Bittgebeten, Kasualgottesdiensten, seelsorgerlicher Zusprache vor allem in Leiderfahrungen usw. Ohne die seelsorgliche Dimension des Vorsehungsglaubens mitzubedenken, gerät dieser zu einer blutleeren Kopfgeburt. Christian Link konstatiert: „Nur ein Gott, der sich um seines Namens willen in die menschliche Geschichte verwickeln und von ihren Schatten zeichnen lässt, kann der Gott tätiger Fürsorge sein. Hier schlägt sozusagen das Herz des biblischen Vorsehungsglaubens.“37 All diese Praxisvollzüge und die sich darin artikulierende Zuversicht beziehen sich aber nicht nur auf ein „intramentales“ kluges Anordnen Gottes, sondern auf seine tätige Vor- und Fürsorge. Eine theologische Reflexion, die hier ansetzt, führt zur Frage nach dem Vorsehungshandeln Gottes. Es geht ihr dann nicht primär um eine theoretische Klärung des theologischen Konzepts von „Vorsehung“, sondern um eine Erhellung des glaubend in Anspruch genommenen Verständnisses von Vorsehung. Diese geht aus von der im Licht des Vorsehungsglaubens erschlossenen Erfahrung von Natur, Geschichte, dem eigenen Leben und dem Leben der Glaubensgemeinschaft. Setzt man so an, dann geht es bei der Vorsehungslehre nicht um die Auseinandersetzung mit einer von der Theologie selbst gestell37 C. Link, Schöpfung. Ein theologischer Entwurf im Gegenüber von Naturwissenschaft und Ökologie, Neukirchen-Vluyn 2012, 327.
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ten, sondern um die Klärung einer an sie herangetragenen Frage. Paul Tillich hat stets vor einer Selbstreferenzialität der Theologie gewarnt und für eine „antwortende Theologie“38 plädiert. Nur als solche kann sie Relevanz beanspruchen. Das für die Praxis des Glaubens vorrangige explicandum ist nicht die Vorsehungslehre selbst, sondern die Antwort auf die Frage, wie die aktive fürsorgende Weltgegenwart Gottes zu denken ist. Diese ist zu deuten angesichts der Erfahrung der „Welt“ in all ihrer Abgründigkeit. Wenn der Vorsehungsglaube nicht eine bloße kontrafaktische Behauptung sein soll, muss angegeben werden, wie er sich zur erfahrenen Faktizität von Natur und Geschichte verhält. Die Vorsehung Gottes darf „der Negativität moderner Realitätserfahrung, aber auch dem Problemdruck naturwissenschaftlichen Denkens“ nicht entzogen werden.39 Meines Erachtens ist es die Aufgabe der Vorsehungslehre, diesen Weltbezug herzustellen und bei aller Betonung der teleologischen Anordnung diese Zielgerichtetheit auch ins Verhältnis zu dem von Kant sogenannten „Zweckwidrigen“ zu setzen.
8. Vorsehung und Handeln Gottes Simon M. Kopf fragt, „ob sich die Vorsehung sinnvollerweise auf das Handeln Gottes in der Welt reduzieren lässt“ (89). Ich vermag nicht einzusehen, inwiefern es sich dabei um eine Reduktion handeln soll. Handeln ist nicht denkbar ohne rationale Intentionalität, sonst wäre es ein bloßes Verhalten. Umgekehrt sind aber Rationalität und Intentionalität denkbar ohne Handeln; die Intention kann unausgeführt bleiben. Insofern schließt das voluntativ-aktuale Verständnis von Vorsehung als Handeln Gottes die Dimension der Intellektualität mit ein, ist also weiter gefasst als das Verständnis von providentia im Sinne eines klugen Ordnens, das von der Ausführung des Intendierten unterschieden ist. Kopf stellt das Handeln Gottes in der Welt der (gottimmanenten) klugen Fürsorge für die Schöpfung gegenüber. Doch was ist Fürsorge anders als ein Handeln? Sonst wäre sie eine bloße „Sorge um“. Auch Kopf spricht von einem nicht nur klugen, sondern „effekti38 39
P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. 1, Berlin/New York 81987, 12–15. C. Link, Schöpfung (s. Anm. 37), 321.
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ve[n] Anordnen“ (99). Worin besteht die Effektivität, wenn nicht zum inneren Akt die handelnde Ausführung kommt? Doch bleiben wir zunächst beim inneren Akt. Dieser ist durch eine Absicht charakterisiert, d. h. durch den Finalsinn bestimmt. Simon M. Kopf bezeichnet Intentionalität als „eine – oftmals sogar die einzig akzeptierte – Form der Finalursächlichkeit, aus der eine Zielgerichtetheit folgt, und daher eine Form der Teleologie“ (105). Es scheint mir hier notwendig zu sein, deutlicher zwischen Intentionalität, Teleologie, Planung, dem Akt der Anordnung und der Konstitution einer Ordnung zu unterscheiden. Die folgenden beiden Unterscheidungen sind mir dabei besonders wichtig: (a) Die Unterscheidung zwischen Intentionalität, Planung und Ordnung: Nicht jede Handlungsabsicht mit der sich daraus ergebenden Zielverfolgung ist ein planendes Handeln, das den Plan dann realisiert und damit eine sich daraus ergebende Ordnung schafft. Es gibt auch spontane Handlungsabsichten, die nicht in handlungsstrategische Überlegungen umgesetzt, sondern unmittelbar ausgeführt werden. In der Regel handelt es sich dabei um Reaktionen auf situative Herausforderungen. Die biblischen Überlieferungen vom Handeln Gottes bieten eine Vielzahl von Beispielen dafür. Gott handelt nicht immer nach dem Modell der rational choice, soweit das für menschliche Erkenntnis nachvollziehbar ist. In dieser Hinsicht steht ein voluntatives Verständnis des Handelns Gottes einem rationalen gegenüber. (b) Die Unterscheidung zwischen Intentionalität und Teleologie: Dass Handeln intentional ist, stellt ein analytisches Urteil dar: Der Handlungsbegriff impliziert Intentionalität; Handeln ist die executio einer Intention. Doch intentional darf nicht mit teleologisch gleichgesetzt werden, wenn teleologisch die Verfolgung eines bestimmten Handlungszwecks meinen soll. Intentionen müssen nicht auf die Erreichung bestimmter Ziele gerichtet sein, sondern können auch nach Gütern streben oder Wertvorstellungen realisieren wollen, ohne dass ein konkretes Handlungsziel dabei vor Augen steht. Wenn ein Richter intendiert, ein gerechtes Urteil zu fällen, setzt er sich damit nicht ein bestimmtes Handlungsziel (telos), sondern folgt einer für sein juridisches Handeln grundlegenden Orientierung. Im Unterschied zu Intentionalität ist Teleologie nicht nur auf ein Handeln, sondern auch auf die in einer apersonalen Entität oder in einem Prozess angelegte Entwicklungsrichtung bezogen (Entele-
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chie). In der für die Entwicklung der christlichen Vorsehungslehre bedeutsamen pronoia-Lehre der Stoa wurde der Teleologiebegriff auf den Kosmos insgesamt angewendet, in dem eine allumfassende Zweckmäßigkeit walte. Bezieht man den Gedanken der Teleologie auf das Handeln, dann charakterisiert er vor allem das zweckverwirklichende Handeln, bei dem die geeigneten Mittel zweckdienlich angeordnet werden. Dieses Verständnis des Handelns nach dem Interventionsmodell scheint Simon M. Kopf vor Augen zu stehen: das absichtsvolle Eingreifen in Situationszusammenhänge, um darin eine dem Handlungszweck entsprechende Veränderung herbeizuführen. Arthur Peacocke erhebt vier Einwände gegen das Interventionsmodell40: – Es gehe davon aus, dass Gott sich außerhalb der geschaffenen Welt befindet und von außen in diese eingreift. Diese Sicht sei sowohl naturwissenschaftlich als auch theologisch problematisch. – Es sei wenig überzeugend, Gott als verlässliche Quelle der Rationalität und Regelmäßigkeit der geschaffenen Ordnung zu verstehen und gleichzeitig zu unterstellen, er unterbreche diese Regelmäßigkeiten. – Es sei nicht nur faktisch, sondern prinzipiell unmöglich, Belege für ein Eingreifen Gottes beizubringen. Es handele sich dabei um Interpretationen des Glaubens. – Es stelle sich die Theodizeefrage, warum Gott, die Möglichkeit einzugreifen, nicht nutzen würde, um Natur- und Geschichtskatastrophen abzuwenden. Ein solcher Gott sei ein „moralisches Monster“, wie David Jenkins schrieb.41 Die Vorstellung von einem nach dem Interventionsmodell gedachten Handeln Gottes und einer diesem Handeln vorausliegenden klugen Vorsehung setzt voraus, dass Gott personanalog gedacht wird. Nur auf der Basis einer personalen Gottesvorstellung ist es möglich, Gott ein absichtsvolles, Ziele anstrebendes und verwirklichendes Agieren zuzuschreiben. Diese Annahme aber führt über die Kritik am Interventionsmodell42 hinaus zur Diskussion um die Angemes40
A. Peacocke, Gottes Wirken in der Welt. Theologie im Zeitalter der Naturwissenschaften, Mainz 1998, 145f. 41 D. E. Jenkins, Anglicanism, Accident, and Providence, Wilton, C.T., 1987, 21. 42 Wolfhart Pannenberg spricht sich dezidiert dagegen aus, „[d]as Reden von
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senheit einer personalen Gottesvorstellung und damit wieder zur Theismuskritik. Der Einwand des Anthropomorphismus legt sich nahe; der Projektionsverdacht steht im Raum. Auch in dieser Hinsicht geht es um die Frage, ob die personale Gottesprädikation in einem univoken oder in einem analogen Sinn aufzufassen ist. Soll die zweite Seite der Alternative gelten, dann stellen sich wieder die oben genannten Fragen in Bezug auf die Analogie. Weiterführend scheint mir die dialektische Auskunft zu sein, die Paul Tillich zu dieser Frage gibt: Ihm zufolge bedeutet ‚persönlicher Gott‘ nicht, „dass Gott eine Person ist. Es bedeutet, dass Gott der Grund alles Personhaften ist und in sich die ontologische Macht des Personhaften trägt. Er ist nicht eine Person, aber er ist auch nicht weniger als eine Person“43. Die Kritik am Interventionsmodell führt dazu, über das zweckrational-instrumentelle Handeln hinaus auch weitere Formen des Agierens – wie das darstellende Handeln, das kommunikative Handeln44, den bewussten und gewollten Interventionsverzicht – in den Blick zu nehmen. Eine weitere Ausdehnung des Handlungsbegriffs Zwecken, die Gott durch sein Handeln verfolgt“ in eine analogische Beziehung zur „Erfahrung unseres Wollens“ zu setzen. „Sie darf nicht analog dazu aufgefasst werden, wenn Gott nicht als ein endliches Wesen vorgestellt werden soll.“ (W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen 1988, 412). 43 P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. 1, 283. Siehe dazu auch: ders., The God above God (1961), in: ders., Main Works/Hauptwerke, Bd. 6: Theological Writings/Theologische Schriften, hrsg. von G. Hummel, Berlin/New York 1992, 417– 421, 420f: „If we say ‚God is a person‘, we say something which is profoundly wrong. If God were a person, he would be one being alongside other beings, and not He in whom every being has his existence and his life, and who is nearer to each of us than we are to ourselves. A person is separated from any other person; nobody can penetrate into the innermost centre of another. Therefore we should never say that God is a person. And neither the Bible nor classical theology ever did. In classical theology the Latin term persona applied only to the three faces of God as Father, Son, and Spirit. The application of the term ‚person‘ to God is a poor invention of nineteenth-century theology and even more of popular talk about religion. If, however, we say that God as the creative source of everything personal in the universe is personal himself, we are right. He cannot be less than his creation. But then we must make another assertion and say: he who is personal is also more than personal; and, conversely: he who is more than personal is also personal, namely, personal for us who are persons.“ 44 Dass Kopf diese Form des Handelns durchaus im Blick hat, zeigt seine Formulierung: „um seine Güte an Geschöpfe zu kommunizieren“ (105).
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über das nach außen gerichtete Tätigsein hinaus lässt sich schon bei Thomas von Aquin entdecken, der auch die inneren Akte des Intellekts und Willens Gottes als Tätigkeiten auffasst. Selbst die innertrinitarischen Relationen deutet er als operationes.45 Somit ist das kluge Ordnen Gottes als ein gottinternes Handeln zu verstehen. „Klugheit“ steht dem Handeln nicht gegenüber, sondern qualifiziert es. Demnach liegt die providentia zwar dem Handeln ad extra voraus, stellt aber selbst ein Handeln Gottes (ad intra) dar. Diese Ausdehnung des Handlungsbegriffs kommt allerdings an eine Grenze, an der sich die Frage stellt, ob er nicht ganz aufgegeben und in den weiteren Begriff des „Wirkens“ überführt werden sollte. Ich habe mich dafür ausgesprochen46 und ein Verständnis des Wirkens Gottes vorgeschlagen, das sich zwar in einzelnen Taten konkretisieren kann, im Grunde aber in der Ausstrahlung purer Präsenz besteht. Es ereignet sich in der Selbstvergegenwärtigung Gottes, d. h. in seinem Dasein, seiner Anwesenheit, von der eine Wirkung ausgeht: praesentia operosa. Diese Form des Wirkens will kein bestimmtes Handlungsziel erreichen und ist insofern nicht teleologisch. Und doch ist sie absichtsvoll. Die Absicht, die sich darin realisiert, besteht in der SelbstGabe der eigenen Gegenwart, in der zuwendenden Annahme dessen, dem diese Gabe zuteilwird. Es ist mehr als eine Handlung; es ist die Gewährung eines Beziehungsraumes, in dem sich der Adressat der Gabe aufgehoben weiß. Gottes Selbstvergegenwärtigung gründet in einer Heilsintention, die jedoch nicht einen bestimmten Handlungszweck realisiert, sondern heilshafte Transformationen – etwa der Existenzorientierung – herbeiführen will. Davon geht eine Wirkung aus, die aber nicht determinierbar ist, zum einen, weil sie nicht mit physischen Mitteln herbeigeführt wird, sondern in der Kraft des Geistes zur Entfaltung kommt, zum anderen, weil der von Gottes Präsenz ausstrahlende Transformationsimpuls in Spannung zu anderen Impulsen stehen kann, die von außen und von innen auf den Menschen einwirken. Der intendierte Heilszustand ist ein eschatologischer Zustand, der in der Geschichte immer nur fragmentarisch und proleptisch erreicht werden kann. 45
STh I 27, 3: operatio; siehe auch die Einleitung zu STh I 14. R. Bernhardt, Was heißt „Handeln Gottes“? Eine Rekonstruktion der Lehre von der Vorsehung Gottes, Berlin 22008, 328 –335.
46
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Gott wirkt demnach nicht von außen auf Geschehensabläufe ein (wie es nach dem Interventionsmodell der Fall ist, wo Gott nach Art eines Handwerkers agiert), sondern transformiert sie von innen heraus gemäß seiner Schöpfungs- und Heilsintention durch die Ausstrahlung purer Präsenz in der Kraft des Geistes Gottes. In seinen Confessiones hat Augustin der machtvollen Allpräsenz Gottes einen wunderbaren Ausdruck gegeben: „Vor den Blick meines Geistes stellte ich mir die ganze Schöpfung […]. Aus deiner Schöpfung machte ich eine einzige große Masse, in der die Körper, mochten sie nun wirklich Körper sein oder erst in meinen Gedanken aus abstrakten Dingen zu Körpern geworden sein, nach ihren einzelnen Formen unterschieden waren […]. Du aber, o Herr, so dachte ich, umgibst und durchdringst sie, bist überall, aber nach allen Richtungen unbegrenzt. So wie wenn das Meer überall und nach allen Seiten ins Unermeßliche hin nur ein einziges Meer wäre, in sich aber einen zwar beliebig großen doch endlich begrenzten Schwamm enthielte, und wenn nun dieser Schwamm vollständig und in jedem seiner Teile von dem unermeßlichen Meere angefüllt wäre, so dachte ich mir deine endliche Schöpfung erfüllt von deiner Unendlichkeit“47. Die Vorstellung einer machtvoll wirkenden Allpräsenz Gottes sprengt die personanaloge Unterscheidung zwischen intentio und executio und damit auch die Vorordnung der providentia vor die gubernatio. Es muss nicht ein planendes gottinternes Handeln angenommen werden, das dann exekutiert wird. Die Zuschreibungen von Rationalität und Wille treten zurück hinter dem Gesamtakt der Selbstvergegenwärtigung.
9. Pneumabasierte Vorsehungslehre Systematisch-theologisch verorte ich die diesbezügliche Reflexion nicht in der Gotteslehre (wie es bei Thomas der Fall war) und auch nicht im Anschluss an die Schöpfungslehre (wie es die reformatorische Theologie in der Regel tat), sondern in der Pneumatologie. Als 47 Augustin, Confessiones VII/5 (BKV, 1. Reihe, Bd. 18; Augustinus Band VII, München 1914, 135f).
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erklärungskräftige Anschauung dafür ziehe ich das Modell des effektiven Kraftfeldes heran.48 (a) Die Pneumatologie stellt den Bezugsrahmen für die Vorsehungslehre dar. Als Lehre von der schöpferisch und heilshaft wirkenden, weil in seiner Schöpfungs- und Heilsintention gründenden Gegenwart Gottes in der Welt ist die Vorsehungslehre pneumatologisch zu entfalten. Sie spricht von der in der Kraft seines Geistes schöpferisch und heilshaft wirkenden Gegenwart Gottes. Nach Calvin ist der Geist die „Hand Gottes“, durch die er seine Macht ausübt.49 Gott ist Geist und wirkt im Modus des Geistes, wobei Geist hier nicht bloße Idealität oder Intellektualität, sondern schöpferische Kraft meint, die Leben, Erkenntnis, Glaube, Verstehen, Gemeinschaft schafft. Der Geist Gottes wirkt nicht im Sinne einer physischen Einwirkung oder kybernetischen „Steuerung“ von geschichtlichen und naturhaften Prozessen, sondern durch „Aspiration“ und „Inspiration“. Diese ist zunächst auf den Menschen zu beziehen. Durch die Kraft seiner Gegenwart öffnet Gott die Augen für Sinnmuster, bringt die Schöpfungsbestimmung der Kreaturen in Erinnerung, weckt Hoffnung auf deren Verwirklichung, führt damit aus der Verhaftung an das Gegebene und aus Verkrümmungen-insich-selbst heraus, spricht von Verfehlungen der Schöpfungsbestimmung frei, macht auf diese Weise neue Lebensanfänge möglich und gibt Kraft zur Beharrlichkeit auf dem oft nicht erkennbaren Weg hin zu diesem Ziel. All diese Beschreibungen sind personal-kommunikativer Art. Sie stellen die Wirksamkeit Gottes als Wortgeschehen dar. Im Anschluss an die biblische Rede vom Geist Gottes kann man die von ihm ausgehende Inspiration aber auch auf Vorgänge in Natur und Geschichte beziehen. Gottes Wirksamkeit in der Natur ist demnach zu bestimmen als Freisetzung kreativer Energie gegen die 48
Siehe dazu u. a. R. Bernhardt, Was heißt „Handeln Gottes“? (s. Anm. 46), bes. 393 –397; ders., Geist in der Natur. Selbstorganisationstheorien und Pneumatologie, in: B. Nitsche/F. Baab/D. Stammer (Hrsg.), Gott – Geist – Materie. Personsein im Spannungsfeld zwischen Natur und Transzendenz, Regensburg 2020, 170 –177; ders., Der Geist Gottes als das Stiefkind oder als Königskind der Theologie? Biblische, theologiegeschichtliche und philosophische Perspektiven, in: ThZ 77 (2021), 308 –335. 49 Inst. III/1, 3.
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Dynamik entropischer Strukturauflösungen (theologisch kann sie „Segen“ genannt werden), als Ausrichtung dieser Energie auf den Auf- und Ausbau von Systemen, die Leben fördern, aber auch als Durchbrechung lebensfeindlicher Systemverfestigungen und -abschließungen. Gottes Geistkraft wirkt in den Eigendynamiken der weltlichen Wirklichkeit – aber auch ihnen entgegen, um sie in Richtung auf das von Gott ‚Vorgesehene‘ zu transformieren. Aber diese Einwirkungen sind nicht mit chemischen, biologischen und physischen Wirkfaktoren zu identifizieren und damit nicht naturwissenschaftlich beschreibbar oder gar erklärbar. Sie erschließen sich vielmehr nur im Interaktionsdreieck von Wirklichkeit, Erfahrung und Gottesbewusstsein. Es handelt sich um eine theologische Wiederbeschreibung der wissenschaftlich erschlossenen Wirklichkeit. (b) Wie kann man sich das Wirken des Gottgeistes vorstellen, wenn die Analogie des menschlichen Handelns ebenso problematisch ist wie die der Kausalität? Es gibt andere (in meinen Augen weniger problematische) Analogiebildungen: In Anlehnung an Wolfhart Pannenberg, Jürgen Moltmann, Dietrich Ritschl und andere50 bevorzuge ich das Modell des effektiven Kraftfeldes, wobei allerdings weniger an mechanische Felder wie das Magnetfeld, sondern mehr an soziale Felder zu denken ist: an Atmosphären (wenn etwa vom „Klima der Versöhnung“ die Rede ist) oder soziale Milieus, in denen sich die Persönlichkeit eines Kindes in Sozialisationsprozessen ausbildet. Im Lichte dieser Analogien lässt sich der Geist Gottes verstehen als ein morphogenetisches Kraftfeld, das über die gesamte Wirklichkeit ausgespannt ist, sie durchdringt, seinen Einfluss auf alles Geschehen darin ausübt und Veränderungen darin ‚induziert‘. Gottes Wirken vollzieht sich demnach weniger im Modus der Verursachung und mehr in der Art einer Formung, einer Einflussnahme auf Gestaltungsprozesse, also nicht im Sinne der aristotelischen Wirkursächlichkeit (causa efficiens) und mehr im Sinne einer metaphysischen Formursache (causa formalis), die Figurationen hervorbringt. Das pneumatische Kraftfeld erstreckt sich über die Schöpfung und bringt in ihr Formationen der Gnade hervor. Die 50
Siehe dazu R. Bernhardt, Was heißt „Handeln Gottes“? (s. Anm. 46), 352–373; U. Beuttler, Gott und Raum. Theologie der Weltgegenwart Gottes, Göttingen 2010, 354 –385.
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Schöpfung „lebt und webt“51 im Feld der Strahlkraft des Geistes Gottes. Ihre Existenz ist zunächst ‚Insistenz‘. Gottes Allmacht ist dabei nicht im Sinne einer Allwirksamkeit zu deuten. Wäre sie so verstanden, dann bliebe für Kontingenzen in Natur und Geschichte, wie auch für die Freiheit der Geschöpfe kein oder nur wenig Raum. Nach der „pneumazentrischen Vorsehungslehre“ wird sie als die alles durchdringende Macht der Geistgegenwart Gottes verstanden, in der sich die heilshafte Schöpfungsintention Gottes immer neu zur Geltung bringt. Dieser Macht kann sich der Mensch widersetzen und den Eigeninteressen seiner Existenzorientierung folgen. Er kann sich – um im Bild zu bleiben – den Kraftlinien des pneumatischen Kraftfeldes widersetzen. Menschen leben in einer Vielzahl von Einflussfeldern, in denen sich unterschiedlich ausgerichtete Einwirkungen überlagern. Im Überschneidungsbereich dieser Einflussfaktoren bilden sich Geisteshaltungen, Willensrichtungen und Existenzorientierungen in relativer Freiheit. Verfehlungen der Schöpfungsbestimmung und Verstöße gegen sie können und müssen demnach nicht Gott angelastet werden. Sie gehen aus der sich vom Schöpfer abwendenden oder sich sogar gegen ihn wendenden Einflusssphären hervor. Und selbst dort, wo der Mensch in seiner Geisteshaltung und in seiner Existenzgestaltung die Sinnrichtung der Wirksamkeit des Gottgeistes verfehlt, bleibt er von dessen wirksamer Präsenz umfangen. Angesichts der Gebrochenheitsverfassung der Welt realisiert sich der Heilswille Gottes allzu oft „im Widerspruch zu den Widersprüchen der Welt“52, gegen die er sich nicht in jedem Fall durchsetzen kann. Der Widerstand Gottes gegen solche Widerstände besteht in einem „zurechtbringenden“ Wirken Gottes im Sinne einer postcuratio bzw. eines succursus. Das (An-) Ordnen ist dabei nicht ontisch, als Konstitution einer feststehenden Ordnung, sondern aktualistisch, als immer wieder neuer Ruf in die Orientierung an der Schöpfungsintention verstanden. 51
In Anlehnung an Apg 17,28. H. Kessler, Der Begriff des Handelns Gottes. Überlegungen zu einer unverzichtbaren theologischen Kategorie, in: H. U. v. Brachel/N. Mette (Hrsg.), Kommunikation und Solidarität. Beiträge zur Diskussion des handlungstheoretischen Ansatzes von Helmut Peukert in Theologie und Sozialwissenschaften, Freiburg i. Br./Münster 1985, 117–130, 126.
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In Situationen, in denen Leben misslingt und seinen Sinn einzubüßen scheint, in denen sich geschichtliche Entwicklungen in nicht mehr aufzuhaltende Zerstörungsdynamiken verstricken, in denen Naturkatastrophen sinnlos Leben vernichten, wirkt Gott nicht verursachend, sondern heilend, indem er – nach Bonhoeffers Worten – aus dem Bösen Gutes erwachsen lassen will.53
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Vgl. Gen 50,20; Röm 8,28.
II.
Analytische Perspektiven
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Schöpfungsrisiko oder Erlösungsgarantie? Theologische Herausforderungen analytischer Vorsehungskonzeptionen Johannes Grössl
1. Hinführung Es stellt immer eine Herausforderung dar, über ein bestimmtes Konzept in einer bestimmten theologischen Schule zu sprechen, einerseits, weil theologische Schulen äußerst heterogen sind, andererseits, weil selbst innerhalb einer Schule bestimmte Konzepte im Rahmen unterschiedlicher Theorien oder Voraussetzungen durchaus eine ganz andere Bedeutung haben können. In diesem Beitrag möchte ich ausgewählte Theorien und Dispute zum Konzept der Vorsehung innerhalb der analytischen Religionsphilosophie darstellen und dabei speziell die Frage diskutieren, welche Auswirkungen ein libertarisches Konzept menschlicher Willensfreiheit auf göttliche Vorsehung hat und ob ein göttliches Vorherwissen kontingenter zukünftiger Propositionen providentielle Vorteile mit sich bringen kann. Hierbei wird deutlich, dass in der analytischen Religionsphilosophie viele klassische Diskussionen der scholastisch geprägten Theologie über das Verhältnis von Gnade und Freiheit weitergeführt werden; trotz methodischer Ähnlichkeit werden hier allerdings alternative Modellbildungen erwogen, die stark von der thomistischen Tradition abweichen. Abgeschlossen wird die Untersuchung mit weiterführenden Überlegungen zum Verhältnis von Vorsehungslehre und Christologie.
2. Definitionen Die analytische (Religions-)Philosophie legt großen Wert auf genaue Begriffsdefinitionen, im Bewusstsein, dass solche Definitionen vorläufig sind und im Rahmen der inhaltlichen Auseinandersetzung oftmals modifiziert werden müssen. Ich möchte mit folgender Ar-
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Johannes Grössl
beitsdefinition des Begriffs ‚Vorsehung‘ beginnen, die eng mit dem Konzept von göttlichem Handeln und der Soteriologie verknüpft ist: Vorsehung bedeutet eine Vorausplanung oder Lenkung der Geschichte durch einen intentional handelnden, göttlichen Akteur, die darauf abzielt, Geschöpfe zum Heil zu führen. Göttliche Vorsehung ist also nicht identisch mit göttlichem Vorherwissen, auch wenn beide Konzepte eng miteinander verknüpft sind: Um intelligent vorausplanen zu können, braucht es auch ein bestimmtes Wissen darüber, welche Folgen mit welcher Maßnahme verknüpft sind. Nach den meisten Theorien setzt Vorsehung zumindest eine hohe Prognosekraft über die Zukunft voraus. Wenn der Begriff ‚Vorsehung‘ dahingehend verwendet wird, dass Gott garantieren kann, dass die Menschen (oder zumindest bestimmte Menschen) zum Heil geführt werden, dann setzt Vorsehung auch ein sicheres Wissen über die Zukunft voraus. Prinzipiell kann man nach theologischen Voraussetzungen von mehreren ‚Graden‘ von Vorsehung sprechen. Im Versuch, unterschiedliche Theorien zu verstehen, bietet es sich an, zunächst Extrempositionen zu benennen: Ein theologischer Determinismus geht davon aus, dass Gott durch seinen Schöpfungsakt den kompletten Weltverlauf festlegt. Hier fällt Vorsehung, Schöpfung und Handeln Gottes in einem einzigen Akt zusammen.1 Diese Theorie beinhaltet daher maximale Vorsehung durch Vorherbestimmung jedes weltlichen Ereignisses und somit auch jeder menschlichen Handlung durch den göttlichen Willen. Ein Offener Theismus, zumindest in seiner Hochrisikovariante, wie sie z. B. von John Sanders vertreten wird, geht davon aus, dass Gott mit der Schöpfung ein Risiko eingeht, welches sogar die Möglichkeit eines Scheiterns der Schöpfung, d. h. das Nicht-Erreichen des von Gott intendierten soteriologischen Zieles einschließt.2 Der Offene Theismus geht davon aus, dass Gott 1
Möglicherweise ist es im Anschluss an die Ausführungen von Simon Kopf auch im Theologischen Determinismus denkbar, Vorsehung dem ausführenden Handeln Gottes (gubernatio) logisch vorzuordnen, um einer voluntaristischen Verengung des Schöpfungsaktes vorzubeugen. Vgl. S. M. Kopf, Vorsehung bei Gott und Mensch. Ein Vorschlag zur aktuellen Debatte über Gottes Vorsehung und Handeln, in: ZTP 143:2 (2021), 184 –211. Vgl. dazu auch dessen Beitrag im vorliegenden Band. 2 Ich nenne diese Form des Offenen Theismus an anderer Stelle „high-risk open
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die Zukunft, insofern sie von freien menschlichen Handlungen oder echten Zufällen abhängt, nicht wissen kann, da göttliches Vorherwissen und menschliche Freiheit logisch unvereinbar seien (theologischer Inkompatibilismus). Wenn bestimmte Schöpfungsziele (wie die eschatologische Vollendung) nun von freien Handlungen und/oder Zufällen abhängen und Gott diese nicht vorherwissen kann, dann kann Gott die Erfüllung dieser Ziele auch nicht garantieren: Gott geht ein Risiko ein.3 Selbst viele Offene Theisten möchten diese Konsequenz aber nicht tragen, sie gehen teilweise davon aus, dass Gott das Schöpfungsrisiko verringern kann, möglicherweise sogar bestimmte Ereignisse determinieren kann, indem er die menschliche Freiheit von Anfang an innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen erschaffen, d. h. begrenzt oder unter Vorbehalt gestellt hat.4 Gott könne zwar nicht wissen, wie er sein Ziel erreicht, aber dennoch garantieren, dass er es irgendwann erreicht. Es werden zur Erklärung verschiedene Vergleiche herangezogen, wie z. B. die Schachmeister-Analogie; auch eine Schachmeisterin, die gegen einen Anfänger spielt, weiß bereits zu Beginn des Spiels, dass sie das Spiel gewinnen wird, sie weiß nur nicht, mit welchen und wie vielen Zügen dies gelingen wird.5 Auch wird behauptet, Gott habe, egal was geschieht, immer theism“ (HROT). Vgl. J. Grössl/L. Vicens, Closing the Door on Limited-Risk Open Theism, in: Faith and Philosophy 31:4 (2014), 475 – 485, 477. 3 Vgl. J. Sanders, The God Who Risks. A Theology of Divine Providence, Downers Grove 11998, 11: „God sovereignly decides not to control each and every event, and some things go contrary to what God intends and may not turn out completely as God desires. Hence, God takes risks in creating this sort of world.“ M. Schmid, Bewährte Freiheit. Eine Rekonstruktion und Weiterführung des theologischen Freiheitsbegriffs im Offenen Theismus, in: K. von Stosch/S. Wendel/M. Breul/A. Langenfeld (Hrsg.), Streit um die Freiheit. Philosophische und theologische Perspektiven, Paderborn 2019, 365 –392, 374: „Es ist allerdings schwer zu bestreiten, dass Gott im Offenen Theismus gegenüber dem ‚klassischen‘ (deterministischen) [sic!] Theismus und manchen alternativen Modellen ein erhebliches Maß an ‚providentieller Lenkungsgewalt‘ einbüßt. […] Gott kann in den Gang der Dinge nur dergestalt eingreifen und den Lauf der Welt nur insofern in Richtung seiner guten Absichten lenken, als er die Freiheit als liebesermöglichende Qualität seiner Geschöpfe nicht übersteuert oder unterwandert.“ 4 Diese Modelle lassen sich als Varianten eines „limited-risk open theism“ bezeichnen; vgl. J. Grössl/L. Vicens, Limited-Risk Open Theism, 477. 5 Vgl. A. Rhoda, Beyond the Chess Master Analogy: Game Theory and Divine Providence, in: T. J. Oord (Hrsg.), Creation Made Free. Open Theology Engaging
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„einen Plan B“.6 In der analytischen Literatur wird unter dem Stichwort ‚Vorsehung‘ vielseitig diskutiert, inwiefern es jenseits von Metaphern und Analogien möglich ist, dass Gott menschliche Freiheit gewährt und trotzdem seinen Schöpfungsplan garantieren kann.7
3. Voraussetzungen Die oben genannte Arbeitsdefinition geht von einem personalen Theismus aus, d. h. der Vorstellung, dass Gott als eine Person zu verstehen ist, die wesentliche Merkmale von Personalität mit den Menschen teilt.8 In der analytischen Literatur wird allerdings auch diskutiert, welche Merkmale wesentlich zum Personenbegriff gehören und inwiefern Personalität analog gedacht werden muss. Auch wenn viele prominente analytische Religionsphilosophen einen personalen Theismus vertreten, darf man hier Gottesbegriff und Methode nicht gleichsetzen. Auch einige kontinentale Denker neigen zu einem personalen Theismus,9 während einige Analytiker die Analogielehre stark machen und panentheistische oder gar apersonale Science, Eugene, O.R., 2009, 151–175. Hier ist tatsächlich ein Wissen im strengen Sinne gemeint: Wenn Gott weiß, dass ein bestimmtes Ereignis in jedem möglichen zukünftigen Weltverlauf geschehen wird, dann handelt es sich hier um Wissen im engen Sinn, selbst wenn der Wahrmacher des Wissens nicht unmittelbar existiert; der Wahrmacher wäre in diesem Fall der aktuelle Weltzustand, die Naturgesetze, und Gottes Intentionen bzw. Selbstverpflichtung, nicht oder nur auf eine bestimmte Weise in den Weltverlauf einzugreifen. 6 J. Sanders, The God Who Risks, Downers Grove 22007, 16; G. Boyd, God of the Possible. A Biblical Introduction to the Open View of God, Ada, M.I., 2000, 106. 7 Vgl. L. Vicens/S. Kittle, God and Human Freedom, Cambridge 2019, 32: „God’s governing the course of history is referred to as divine providence. But to the extent that God governs the world according to His plans, how much ‚space‘ is there for humans to exercise their own free will? This is the question traditionally discussed under the heading of ‚divine providence and human freedom‘.“ 8 Vgl. J. Lucas, The Future. An Essay on God, Temporality, and Truth, Oxford 1989, 212: „Eine Person zu sein heißt, bei Bewusstsein [conscious] und ein Handelnder [agent] zu sein. Zeit ist die Begleiterscheinung von Bewusstsein und die Bedingung für Handlungstätigkeit [agency]“ (eigene Übersetzung). 9 Vgl. z. B. M. Striet, Konkreter Monotheismus als trinitarische Fortbestimmung des Gottes Israels, in: ders./E. Dirscherl (Hrsg.), Monotheismus Israels und christlicher Trinitätsglaube, Freiburg i. Br. 2004, 155 –198, 189.
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Modelle von Gott vertreten.10 Zudem gibt es große Unterschiede in der Deutung der Trinitätslehre, von monosubjektiven Modellen bis hin zu einer sozialen Trinitätslehre (mit einer an Tri-Theismus grenzenden Vorstellung von drei Bewusstseinen in Gott).11 Relativ neu in der Debatte sind Positionen einer emergenten Personalität Gottes, die davon ausgehen, dass Gott erst mit oder in der Schöpfung Eigenschaften erwirbt, durch die man ihm Personalität zusprechen kann und aufgrund derer er in eine Beziehung mit seinen Geschöpfen treten kann.12 Wenn Gottes Personalität stark analog gedacht wird, kann auch Vorsehung nur analog gedacht werden, mit der Gefahr, dass ein analytischer Zugang verunmöglicht wird, weil letztlich auf das große Mysterium Gottes verwiesen wird. Maximal lässt sich Vorsehung dann noch als eine der Schöpfung innewohnende Teleologie verstehen, also eine innere Gesetzmäßigkeit, welche die Schöpfung auf ein Ziel hinführt; dies vertreten unter anderem Bishop und Perszyk in ihrem Modell eines euteleologischen Theismus.13 Diese Strategie ähnelt tatsächlich Hegels Vorstellung einer Teleologie in der Geschichte, die nicht notwendigerweise auf einen intentionalen Akt eines 10
Vgl. T. Marschler/T. Schärtl/V. Wegener (Hrsg.), Rethinking the Concept of a Personal God. Classical Theism, Personal Theism, and Alternative Concepts of God, Münster 2016. 11 Vgl. unter anderem R. Swinburne, The Social Theory of the Trinity, in: Religious Studies 54 (2018), 419 – 437. Vgl. dazu auch die Debatte in der deutschsprachigen Theologie: K. von Stosch, Trinität, Paderborn 2017, 124 –129 (Kapitel 5.3): „Gott als Kommerzium dreier Freiheiten (Gisbert Greshake, Magnus Striet, Bernhard Nitsche)“. 12 Z. B. Peter Forrests developmental theism (vgl. P. Forrest, Developmental Theism. From Pure Will to Unbounded Love, New York 2007) oder emergentpersonale Varianten der Prozesschristologie (vgl. H. D. McDonald, Process Christology, Vox Evangelica 20 (1990), 43 –56, 51; J. Cooper, Panentheism. The Other God of the Philosophers. From Plato to the Present, Ada, M.I., 2006, 314). Vgl. dazu auch J. Grössl, „In allem wie wir in Versuchung geführt“ – Theologische Modelle zum Verhältnis von göttlichem und menschlichem Willen in Christus, Freiburg i. Br. 2021, 591f. 13 Vgl. J. Bishop/K. Perszyk, The Divine Attributes and Non-personal Conceptions of God, in: Topoi 36:4 (1997), 609 – 621. Das „eu“ (gr. gut, schön, echt) bezieht sich dabei auf die zielgerichtete Beschaffenheit des Kosmos hin zu einer Realisierung eines höchsten Gutes; vgl. ebd., 613: „Euteleology claims that Reality’s being a divine creation amounts to its being inherently directed upon the realization of the supreme good as its end or telos.“
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personalen Schöpfers zurückgehen muss. Ähnlich wie die Naturgesetze ‚feinabgestimmt‘ sein könnten, um intelligentes Leben hervorzubringen, könnten sie möglicherweise garantieren, dass sich dieses intelligente Leben in eine bestimmte Richtung entwickelt. Ähnlich wie bei risikominimierenden Modellen eines personalen Theismus besteht hier aber ebenfalls die Herausforderung, eine solche Teleologie mit echter menschlicher Freiheit zu vereinbaren, ohne letztere nur als eine statistische Anomalie im Weltverlauf zu betrachten. Weil die analytischen Debatten zum Thema Vorsehung allerdings weitestgehend auf Grundlage eines personalen Theismus geführt werden, wird dieser in den folgenden Ausführungen zumindest im weiteren Sinne vorausgesetzt. Hierzu sei bemerkt, dass sich die unterschiedlichen Varianten bzw. Abstufungen eines personalen Theismus vor allem bezüglich der Frage unterscheiden, inwiefern Gott libertarische14 Freiheit zugestanden werden kann und inwiefern Gott als veränderlich (und damit auch in einem metaphysischen, nicht notwendigerweise physikalischen Sinne als zeitlich) gedacht werden muss. Während der starke theistische Voluntarismus besagt, dass Gott in seinen Entscheidungen keinerlei (nicht einmal moralischen) Restriktionen unterworfen ist, geht der theistische Intellektualismus davon aus, dass Gott nur Vernünftiges und Moralisches tun kann, weil seine moralische Perfektion ihm in diesem Zusammenhang keine Freiheit zur Entscheidung lasse.15 Auch hier gibt es zahlreiche Mittelpositionen, beispielsweise den supererogatorischen Intellektualismus der thomistischen Tradition, nach dem Gott sich zu bestimmten supererogatorischen16 Handlungen, darunter auch zur Schöpfung oder zur Inkarnation, aus freiem Willen entscheiden kann, oder auch einen dem Voluntarismus nahestehenden anthro14
Libertarische Freiheit ist definiert als die Freiheit eines intentional handelnden, rationalen Wesens, in ein und derselben Situation sich sowohl für oder gegen eine Handlung entscheiden zu können. 15 Zur Frage der Beschaffenheit göttlicher Freiheit gibt es eine umfassende analytische Diskussion, unter anderem von Nelson Pike, C. B. Martin, T. V. Morris, William Rowe, W. R. Carter, Laura Garcia und Eric Funkhouser. 16 Supererogatorische Handlungen sind gute, lobenswerte Handlungen, die selbst nicht moralisch verpflichtend sind, sondern über die Pflicht hinausgehen; deswegen spricht man auch von „überpflichtgemäßen Handlungen“. Vgl. D. Heyd, Supererogation. Its Status in Ethical Theory, Cambridge 1982.
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pomorphen Theismus, nach dem Gott seinen Charakter irreversibel formen kann, sich also „zur Liebe endgültig entschließen“ kann.17
4. Gottes Wissen um kontrafaktische Konditionale Eine historisch prominente Position zur Vereinbarkeit von göttlicher Vorsehung und menschlicher Freiheit geht auf Luis de Molina zurück, der Ende des 16. Jahrhundert gelebt und dessen Werk zum sogenannten Gnadenstreit zwischen traditionellen Thomisten und Molinisten geführt hat. Der Molinismus erfuhr eine Renaissance aufgrund der analytischen Rezeption durch Alvin Plantinga, Thomas Flint und William Lane Craig sowie durch die Kritiken von William Hasker und Robert Adams.18 Molinisten vertreten eine klassische Vorsehungslehre, die enger gefasst ist als die oben angegebene Definition; nach dieser besitzt Gott umfassendes Wissen über die Zukunft (bzw. von Ewigkeit über den kompletten Weltverlauf) und übt souveräne Kontrolle über jedes in der Geschichte geschehende Ereignis aus.19 So17
Offene Theisten argumentieren, dass Gott Versprechen geben kann, die er aufgrund seiner moralischen Perfektion nicht mehr zurücknehmen kann; weil sie aber gleichzeitig davon sprechen, dass Gottes „Charakter“ unveränderbar sei, gehört dies eher zu den rein logischen Restriktionen. Vgl. C. Pinnock, Most Moved Mover. A Theology of God’s Openness, Milton Keynes 2001, 6. Eine göttliche Charakterbildung ist eher Konsequenz der in anderen theologischen Traditionen verbreiteten These, dass Liebe zwar einerseits Freiheit voraussetzt, sich aber darin erfüllt, dass sie in einer Weise den Charakter formt, dass sie irgendwann nicht mehr zurückgenommen werden kann. Vgl. C. Schwöbel, Gott in Beziehung. Studien zur Dogmatik, Tübingen 2002, 255: „Liebe ist in der Freiheit als dem formalen Akt der Selbstbestimmung nicht impliziert. Aber Liebe setzt Freiheit voraus, die Freiheit, die ausschließliche Selbstverwirklichung nicht zum alleinigen letzten Zweck alles Handelns zu machen, sondern sich frei dafür zu entscheiden, die Entfaltung des Anderen zur notwendigen Bedingung eigener Selbstverwirklichung zu machen.“ 18 Vgl. unter anderem A. Plantinga, The Nature of Necessity, Oxford 1974, 164–195; R. Adams, An Anti-Molinist Argument, in: Philosophical Perspectives 5 (1991), 343 –353; W. Hasker, A New Anti-Molinist Argument, in: Religious Studies 35:3 (1999), 291–297; T. Flint, Divine Providence. The Molinist Account, Ithaca 2006. 19 Vgl. hierzu T. Flint, Divine Providence, 5: „To see God as provident is to see him as knowingly and lovingly directing each and every event involving each and every creature toward the ends he has ordained for them.“ Vgl. ebd., 6: „God doesn’t simply give his first creatures their initial powers and arrangement and then, like the deity of the deists, sit back and let things develop on their own.
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wohl nach thomistischer als auch molinistischer Vorsehungslehre geht Gott kein Risiko mit der Schöpfung ein – er weiß von Anfang an, worauf er sich einlässt. Der Unterschied zwischen den beiden Traditionen besteht allerdings darin, dass Gott im Molinismus nicht frei ist, jede beliebige Welt zu erschaffen. Er kann freie Entscheidungen von Geschöpfen nicht determinieren, wenn überhaupt, dann nur die Umstände, in denen sich diese Geschöpfe befinden werden (und auch dies nur, insofern die Umstände nicht von freien Entscheidungen anderer Geschöpfe abhängen). Der analytische Molinismus unterscheidet zwischen Gottes natürlichem, mittlerem und freiem Wissen. Gott kennt natürlich alle logisch notwendigen Tatsachen (natürliches Wissen), Gott kennt auch alle Sachverhalte, die er durch eigene freie Entscheidung in Existenz treten lässt (freies Wissen). Darüber hinaus kenne er auch von Ewigkeit her und logisch unabhängig von seiner Schöpfungsentscheidung alle kontrafaktischen Freiheitskonditionale (mittleres Wissen), wie z. B. basierend auf 1 Sam 23: „Wenn David in Keilah geblieben wäre, hätte sich Saul frei dazu entschieden, die Stadt einzunehmen“. Dieses Wissen ist laut Molinismus nicht unter göttlicher Kontrolle (d. h., es hängt nicht von einem Freiheitsakt Gottes ab); die Menge der möglichen Welten, die Gott erschaffen kann, ist durch sein mittleres Wissen stark eingeschränkt. Daher übt Gott seine Vorsehung aus, indem er unter Berücksichtigung seines mittleren Wissens die beste aller möglichen Welten schafft, d. h. die bestmöglichen Umstände für alle Geschöpfe, ihre freien Entscheidungen auf eine Weise zu treffen, dass dadurch am Schluss das bestmögliche Ergebnis herauskommt. Wenn Gottes Ziel die Erlösung so vieler Geschöpfe wie möglich darstellt, dann hieße das, er übt seine Vorsehung in einer Weise aus, sodass eine größtmögliche Zahl von Geschöpfen gerettet wird. So stellt der Molinismus auch eine formale Lösung für das Theodizeeproblem bereit, die einer eschatologischutilitaristischen soul-making theodicy gleicht: Gott nimmt selbst unfassbares Leid in der Schöpfung in Kauf, um eine eschatologische Vollendung für so viele Geschöpfe wie möglich zu garantieren.20 […] [Rather, proponents of a traditional view of providence] insist that God is sovereign in the sense that every event, no matter how large or small, is under God’s control and is incorporated into his overall plan for the world.“ 20 Es wird intensiv diskutiert, ob der Molinismus das Theodizeeproblem wirklich
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5. Providentielle Nützlichkeit von einfachem Vorherwissen Da durchaus zweifelhaft ist, ob Gottes prävolitionales (d. h. dem Schöpfungshandeln Gottes logisch vorgeordnetes) Wissen um kontrafaktische Konditionale einerseits logisch möglich und andererseits, falls es möglich ist, mit einem libertarischen Freiheitskonzept vereinbar ist,21 stellt sich die Frage, ob nicht eine moderate Vorsehungstheorie gedacht werden kann, die weniger starke Voraussetzungen macht wie der Molinismus, aber die göttliche Souveränität stärker wahrt als der Offene Theismus. Das simple foreknowledge-Modell geht davon aus, dass Gott die Zukunft kennen kann, insofern daraus keine logischen Paradoxien entstehen. David Hunt insistiert, dass Gottes Vorherwissen (wie auch zeitloses Allwissen) nicht mit menschlicher Freiheit in Konflikt gerät, wenn dabei folgendes metaphysische Prinzip gewahrt bleibt: „It is impossible that a decision depend on a belief which depends on a future event which depends on the original decision.“22 Wenn Gott Vorherwissen über freie Entscheidungen hat, dann könnten diese nur als sogenannte dispositionale Überzeugungen bestehen, die keinen Einfluss auf bestimmte Entscheidungen Gottes haben dürfen. Dean Zimmerman expliziert dies wie folgt: „God knew what he would do although he did not use this information as a reason for doing it […].“23 Wenn eine menschliche Person beispielsweise prophezeit bekommt, dass sie in zehn Jahren etwas Bestimmtes tun würde, allerdings in der Zwischenzeit vergisst, dass
lösen kann; Hasker argumentiert sogar dafür, dass das Problem durch Gottes Wissen um kontrafaktische Freiheitskonditionale sogar verschärft wird. Vgl. W. Hasker, How good/bad is middle knowledge? A reply to Basinger, in: International Journal for Philosophy of Religion 33 (1993), 111–118; K. Perszyk, Molinism and Theodicy, in: International Journal for Philosophy of Religion 44:3 (1998), 163–184. 21 Zu diesen Kontroversen vgl. ausführlich R. Schneider, Sein, Gott, Freiheit. Eine Studie zur Kompatibilismus-Kontroverse in klassischer Metaphysik und analytischer Religionsphilosophie, Münster 2016. 22 Vgl. D. Hunt, Providence, Foreknowledge, and Explanatory Loops: A Reply to Robinson, in: Religious Studies 40 (2004), 485–491, 486. 23 D. Zimmerman, The Providential Usefulness of „Simple Foreknowledge“, in: K. J. Clark/M. Rea (Hrsg.), Reason, Metaphysics, and Mind. New Essays on the Philosophy of Alvin Plantinga, New York 2012, 174 –202, 182.
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ihr dies gesagt worden ist, kann sie trotzdem eine freie Entscheidung dafür treffen. Der Unterschied bei Gott sei nur, dass er natürlich nichts vergisst, sondern aktiv Teile seines Wissens für seine Entscheidungsfindung „ausklammern“ könne.24 Um einer solchen „Schizophrenie“ Gottes – wie ich es an anderer Stelle provokativ genannt habe25 – zu entgehen, entwickelt Zimmerman ein alternatives Modell zu David Hunt, das er als many-stage model of simple foreknowledge bezeichnet; er argumentiert, dass ein solches Modell Gottes Souveränität erhöhen (und damit eine Theorie der Vorsehung begründen) kann. Zimmerman entwickelt dieses Modell, indem er das Konzept einer chronologischen Ordnung von der einer explanatorischen Ordnung abkoppelt. Aus der Science-Fiction-Literatur sind Deutungen von Zeitreisen bekannt, bei denen die Ursache für die Entstehung einer alternativen Zeitlinie in der Zukunft einer nicht mehr zugänglichen Zeitlinie lokalisiert ist.26 Auch der Molinismus kennt eine solche Unterscheidung, allerdings nur in zwei Stufen: Gottes freies Wissen (d. h. das Wissen, das durch eigene Entscheidungen Gottes konstituiert wird) hängt dort explanatorisch von Gottes mittlerem Wissen ab, ohne diesem zeitlich vorgeordnet zu sein.27 In Zimmer24
Ebd., Zimmerman umschreibt dies als „‚bracketing‘ parts of his knowledge“. Vgl. G. Gasser/J. Grössl, Ein Dialog über Gottes Allwissenheit und menschliche Freiheit, in: E. Stump/G. Gasser/J. Grössl (Hrsg.), Göttliche Allwissenheit und Menschliche Freiheit. Beiträge aus der aktuellen analytischen Religionsphilosophie, Stuttgart 2015, 15 – 46, 23f. Vgl. dazu auch R. Adams, Is the Existence of God a „Hard“ Fact?, in: Philosophical Review 76:4 (1967), 492–503. 26 Vgl. dazu Science-Fiction Filme wie Zurück in die Zukunft oder diverse Zeitreise-Episoden in Star Trek. Auch in der Christologie trifft man auf eine solche Unterscheidung, etwa bei der Erklärung einer kontingenten Unsündlichkeit Christi oder der rückwirkenden Befreiung Mariens von der Erbsünde durch das Erlösungswerk Christi. Vgl. dazu auch J. Grössl, Theologische Modelle, 524 –541. 27 Christoph Jäger betont in seiner Einleitung zur Übersetzung von Molinas Concordia, dass Molina selbst trotz skotistischer Einflüsse weitgehend in thomistischer Tradition stand und wie dieser auch eine Über- bzw. Außerzeitlichkeit Gottes vertrat. Vgl. C. Jäger, Einleitung. Molina und das Problem des theologischen Determinismus, in: L. de Molina, Göttlicher Plan und menschliche Freiheit. Concordia Disputation 42, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von C. Jäger, H. Kraml und G. Leibold, Hamburg 2018, xiii-clxxvii, xcii-xciv sowie cxxii f. Dies wird im analytischen Molinismus allerdings nicht immer deutlich. Vgl. dazu D. Zimmerman, Providential Usefulness, 189: „The two stages [in a Molinist theory of providence] are separated by God’s deciding: (i) what the world should be like 25
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mans Modell entscheidet sich Gott stufenweise, wie weit er in die Zukunft sehen möchte und trifft auf der Basis dieses partiellen Wissens Entscheidungen, die zwar Auswirkungen auf den langfristigen Weltverlauf haben, aber nicht dazu führen können, dass sich bereits vorhergewusste Tatsachen ändern. Das heißt aber auch: Jedes Mal, wenn Gott sich die Möglichkeit offenlässt, auf freie Entscheidungen (oder zufällige Ereignisse) zu reagieren, indem er in den Weltverlauf eingreift, wird hierdurch sein Vorherwissen innerhalb der jeweiligen Stufe beschränkt. Jenseits dieser Knotenpunkte kennt Gott nur einen zukünftigen Möglichkeitsraum. Nun lässt sich dieses Modell vereinfacht temporalistisch deuten, quasi als Offener Theismus mit eingeschränktem Vorherwissen Gottes: Hier würde sich Gott tatsächlich an diesen Knotenpunkten entscheiden, ob und wie er in den Weltverlauf eingreifen möchte. Doch Zimmermans Modell trennt wie bereits erwähnt explanatorische und chronologische Ordnung: Gott könne alle diese Entscheidungen unabhängig von der physikalischen Zeit treffen, d. h. instantan mit dem Schöpfungsakt, aber in einer klar definierten logischen Reihenfolge, sodass explanatorische Zirkel vermieden werden. Ein weiteres two-stage-Modell, das dieselben Effekte mit sich bringt wie Zimmermans Modell, ist die Theorie der göttlichen Kontingenzpläne, welche ohne göttliches Vorherwissen auskommt und dadurch sowohl im Offenen Theismus als auch aus der Perspektive eines klassischen Äternalismus vertreten werden kann. Hier entscheidet Gott mit dem Schöpfungsakt für jeden möglichen Weltverlauf, wie er in diesen Weltverlauf eingreifen würde. Denkbar ist hier sogar (und für den Äternalismus zwingend), dass Gott diese Kontingenzpläne bereits in die Naturgesetze einbaut, sodass er während des Weltverlaufs nicht mehr eingreifen muss – aufgrund seiner Kontingenzpläne aber in der Welt (in verschiedenen Graden unterschiedlich stark) wirkt.28 Für die many-stage-Version spricht das Prinzip
prior to any free decisions by creatures, and (ii) how he will respond when the time comes to ‚fill in‘ the parts of the world that come after their free decisions.“ 28 Vgl. J. Grössl, Ewige Kontingenzpläne – Gottes Handeln in der Welt eternalistisch gedacht, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 136:4 (2014), 405 – 422; D. Zimmerman, Providential Usefulness, 190: „There is, however, a ‚Two-Stage‘ version of Simple Foreknowledge, according to which God does issue such conditional decrees [about how to respond to creatures‘ free decisions].“ Vgl. dazu
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der ontologischen Sparsamkeit, für die two-stage-Version die bessere Vereinbarkeit mit der Ewigkeit und Unveränderlichkeit Gottes.
6. Schöpfungsrisiko und Wahrscheinlichkeiten Es lässt sich festhalten, dass ein göttliches Vorherwissen allein das Schöpfungsrisiko nicht eliminieren kann, sofern Menschen einen freien Willen haben. Möglicherweise lässt sich durch ein mehrstufiges Vorherwissen allerdings das Risiko verringern, ebenso wie dies ein zweistufiges Modell der göttlichen Kontingenzpläne vermag. Ein weiterer Ansatz, der unter moderaten Offenen Theisten verbreitet ist, ist der Gedanke des Vorherwissens von Wahrscheinlichkeiten: Gott könne zwar eine einzelne Entscheidung nicht determinieren, könne aber wissen, dass sich eine bestimmte Zahl von Menschen für ihn entscheide. Allerdings ist stark umstritten, ob eine solche „statistische Determination“ mit echter Freiheit vereinbar ist.29 Für eine Vereinbarkeit kann man eine Analogie zum radioaktiven Zerfall von Atomkernen heranziehen: Dass in einer bestimmten Zeit die Hälfte aller Teilchen zerfällt, ist determiniert, während es unmöglich ist, bei einem einzelnen Teilchen vorherzusagen, wann dieses zerfällt. Um einen solchen Ansatz verteidigen zu können, benötigt es eine alternative, holistische Freiheitstheorie, nach der jede Entscheidung jedes einzelnen Individuums Auswirkungen auf den Freiheitsspielraum aller anderen Individuen hat.30
auch D. Hunt, Divine Providence and Simple Foreknowledge, in: Faith and Philosophy 10:3 (1993), 394 – 414, 412. 29 Vgl. L. Vicens, Objective Probabilities of Free Choice, in: Res Philosophica 93:1 (2016), 125 –135. 30 Möglicherweise ist dies durch einen Panpsychismus begründbar; allerdings würde ein solcher Ansatz grundlegenden Intuitionen eines klassischen individualistischen Libertarismus widersprechen. Auch Boyd scheint eine solche Strategie zu implizieren, wenn er davon spricht, dass eine statistische Determination nur deswegen ausgeschlossen erscheint, weil man typischerweise ein „mechanistisches Weltbild“ voraussetzt, welches er im Einklang mit den modernen Naturwissenschaften aber ablehne; vgl. G. Boyd, Satan and the Problem of Evil, Downers Grove 2001, 121: „[R]eality is constituted as a balance between determinism and freedom, stable laws and chance, regularity and spontaneity, general predictability and an element of unpredictability about specifics.“
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Weiter verbreitet ist der Lösungsansatz des restriktiven Libertarismus: Nach dieser Theorie sind Menschen nur sehr bedingt frei, weil in vielen Aspekten ihre Charakterentwicklung von naturalen und gesellschaftlichen Umständen geprägt wird.31 Der Freiheitsspielraum lässt sich mit der Zeit vergrößern, aber auch verkleinern, beispielsweise indem Tugenden erworben oder Laster geformt werden – möglicherweise bis hin zur Ausprägung eines irreversibel geformten Charakters.32 Je stärker der Charakter einer Person geformt ist, desto besser ist es für andere Menschen möglich (und noch besser für ein allwissendes Wesen), die Handlungen der jeweiligen Person akkurat vorherzusagen. Der restriktive Libertarismus ist deswegen plausibel, weil viele unserer Werte und Überzeugungen sich nur sehr langsam ändern können, möglicherweise sogar nur über mehrere Generationen und kulturelle Veränderungen hinweg. Auch wird dadurch erklärt, warum beispielsweise Marketing und Wahlumfragen ziemlich gut funktionieren; wenn sich jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt vollkommen frei entscheiden könnte, dürften Prognosen bezüglich menschlichen Verhaltens nicht möglich sein. Ein restriktiver Libertarismus ermöglicht nicht nur, den Spielraum der göttlichen Vorsehung zu erhöhen, er kann auch eine eschatologische Vollendung garantieren, gemäß der Geschöpfe irgendwann nicht mehr frei sind, sich gegen Gott zu entscheiden und eine ‚höhere Freiheit des Glaubens‘ erlangen: Die endzeitliche Vollendung bedeute für den Menschen damit, wie Manuel Schmid als prominenter deutschsprachiger Vertreter des Offenen Theismus schreibt, die „Versiegelung seiner biographisch substantiierten Teilhabe an der Liebe des Schöpfers. […] Die libertarische Freiheit des Menschen ist auf die geschichtliche Bewährung der Gottesgemeinschaft hin angelegt und dazu bestimmt, sich im Empfang und in der Erwiderung der Liebe Gottes immer stärker jener kompatibilis-
31 Vgl. P. v. Inwagen, When is the Will Free?, in: Philosophical Perspectives 3 (1989), 399 – 422; G. Petit, Are We Rarely Free? A Response to Restrictivism, in: Philosophical Studies 103 (2001), 201–215. 32 Boyd geht so weit zu behaupten, dass viele Menschen ihren Charakter auf eine Weise formen, dass sie in einem bestimmten Kontext keine Freiheit mehr besitzen; vgl. G. Boyd, Problem of Evil, 189: „We irreversibly become the decisions we make.“
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tischen Freiheit anzunähern, welche die Existenz der Erlösten in Ewigkeit auszeichnet.“33
7. Die Erlösung durch Jesus Christus als göttliche Vorsehung Die Frage der Vorsehung beschäftigt nicht nur die analytische Religionsphilosophie im engeren Sinne, sondern auch die analytische Theologie, welche sich mit dogmatischen Traktaten jenseits von Gotteslehre und Anthropologie beschäftigt, insbesondere auch mit Christologie und Eschatologie. Im Münsteraner Forum für Theologie und Kirche durfte ich vor kurzem folgende Frage an Manuel Schmid stellen: „Wenn es um die Inkarnation, das Leben, Leiden und Sterben Jesu Christi geht, verkünden selbst Offene Theisten keinen abenteuerlustigen Gott. Wie ist eine göttliche Vorsehung bezüglich der Erlösung durch Jesus Christus vereinbar mit der Vorstellung, dass Gott mit der Schöpfung und in der Geschichte ein Risiko eingeht, weil er doch die menschliche Freiheit respektiert?“34 Die Antwort darauf lautete: „Für schwierig halte ich aber die im Offenen Theismus verbreitete Ansicht, dass gerade die Schlüsselereignisse des Dienstes Jesu – seine Versuchung und Berufung, sein Gehorsam und schließlich seine Selbsthingabe am Kreuz – nicht in geschöpflicher Freiheit, sondern als ‚fixierte Ereignisse‘ nach der Vorherbestimmung Gottes erfolgten. Es mutet jedenfalls etwas eigenartig an, wenn die Offenen Theisten die Freiheit des Menschen als Gottes ebenbildliches Gegenüber so leidenschaftlich verteidigen – nur um dann ausgerechnet für das Leben Jesu Christi gewissermaßen den Joker zu ziehen und die Ausnahme von der Regel geltend zu machen. Als dem paradigmatischen Menschen sollte man gerade dem menschgewordenen Gottessohn die Freiheitsräume des geschöpflichen Daseins zugestehen. Dann aber wird auch das Leben, der Dienst und die Selbsthingabe Jesu zu einem letztlich risikohaften 33
M. Schmid, Bewährte Freiheit, 379. http://www.theologie-und-kirche.de/mfthk-kurzinterview-53.html (abgerufen am 17.9.2021).
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Unternehmen. Die biblischen Überlieferungen erwecken auch nicht den Eindruck, als wäre bei der Versuchung Jesu in der Wüste oder in seinem Gebetskampf im Garten Gethsemane nichts auf dem Spiel gestanden, als wäre der gottgefällige Ausgang dieser Ereignisse selbstverständlich gewesen.“35 Das geschilderte Problem ist aber nicht nur ein Problem des Offenen Theismus, sondern jeglicher Theorie, die eine libertarische Freiheit des Menschen verteidigt. Hier gerät man in Konflikt mit vielen traditionellen Aussagen zur Vorsehung im Allgemeinen36 und zur Vorsehung des Christusereignisses im Speziellen. Das II. Vatikanum erklärt hierzu: „Die selige Jungfrau, die von Ewigkeit her zusammen mit der Menschwerdung des göttlichen Wortes als Mutter Gottes vorherbestimmt wurde, war nach dem Ratschluß der göttlichen Vorsehung hier auf Erden die erhabene Mutter des göttlichen Erlösers […].“37 Auch Gregory Boyd – auf ihn nimmt Manuel Schmid in seiner Antwort auf meine Frage implizit Bezug – verteidigt eine Vorherbestimmung des Lebens Jesu, obwohl er ansonsten ein starker Verfechter einer Theologie der Freiheit und des Risikos ist. Viele Offene Theisten stammen aus dem evangelikalen, tendenziell methodistischen Milieu, weswegen sie ihre Theorie an biblischen Aussagen messen lassen, und diese sprechen sich deutlich für eine starke Vorsehung der Inkarnation aus.38 Boyd schreibt deswegen: „[S]ome of the central events that surrounded the life and death of Jesus Christ are identified as foreknown and preordained.“39 Bei seinen Erklärungen hierzu wird nicht klar, ob er sich auf statistische Vorherbestimmung oder auf ei35
Ebd. Wie z. B. in Dei Filius (1870): „Alles aber, was er geschaffen hat, schützt und lenkt Gott durch seine Vorsehung, ‚sich kraftvoll von einem Ende bis zum anderen erstreckend und alles milde ordnend‘“ (DH 3003). 37 Lumen Gentium 61 (DH 4176). Ähnlich bereits Salvator noster (1477): „dessen Vorsehung von Ewigkeit her auf die Niedrigkeit dieser Jungfrau schaute und sie […] durch die Vorbereitung des heiligen Geistes zur Wohnstätte seines Einziggeborenen bestimmte […]“ (DH 1400). 38 Vgl. z. B. Apg 4,27f.: „Denn in dieser Stadt versammelten sich in Wahrheit gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, sowohl Herodes als auch Pontius Pilatus mit den Nationen und den Völkern Israels, alles zu tun, was deine Hand und dein Ratschluss vorherbestimmt hat [proÖrisen], dass es geschehen sollte.“ 39 G. Boyd, Problem of Evil, 120. 36
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nen restriktiven Libertarismus beruft. Er behauptet: „That Jesus would be killed was predetermined. Who would do it was not.“40 Entscheidend ist die Frage, wie ‚feinkörnig‘ die göttliche Vorsehung wirken kann. Man kann, wie es beim teleologischen Argument für Gottes Existenz häufig getan wird, auf eine theistische Variante des Anthropischen Prinzips verweisen: Gott konnte mit dem Schöpfungsakt garantieren, dass irgendwo auf irgendeinem Planeten einmal intelligentes Leben existieren würde, wusste aber nicht, dass dies (unter anderem?) auf einem Planeten Erde in unserem Sonnensystem geschehen werde. Analog kann man vertreten, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte sich ein Volk hinreichend weit entwickelt hat, sodass Gott durch sein Vorherwissen aller möglichen zukünftigen Weltverläufe wissen kann, dass bestimmte Dinge sich mit Sicherheit ereignen oder nicht ereignen werden – oder eben, statistisch, dass sie sich mit hoher Wahrscheinlichkeit ereignen oder nicht ereignen werden. Wenn man die Wahl Israels als „auserwähltes Volk“ nicht rein willkürlich-voluntaristisch deuten möchte, sondern annimmt, dass Gott gute Gründe hatte, dieses Volk und nicht andere auszuwählen, lässt sich hier am besten auf diese Art der Vorsehung verweisen: Gott erkannte zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit bestand, durch dieses Volk die Erlösung der Menschheit hervorbringen zu können. Eine Möglichkeit dafür war die damals vorhergesehene (d. h. in einer möglichen Zukunftslinie bestehende) Existenz eines Jesus von Nazareth gewesen.41 Dennoch muss in einem libertarischen Vorsehungskonzept die Freiheit aller Akteure im Erlösungsgeschehen hinreichend gewahrt bleiben. Dazu gehört auch die Freiheit Mariens, ihren Auftrag abzu40
Ebd., 121. Damit soll keinesfalls ein religionstheologischer Supersessionismus behauptet werden, gemäß dem Gottes alleiniger Plan für den alten Bund im Hervorbringen eines Erlösers und damit in der Ablösung durch einen durch diesen konstituierten neuen Bund bestanden hätte. So arbeitet Marianne Moyaert überzeugend heraus, dass eine kollektive Deutung des deuterojesajanischen Gottesknechtes eine eigenständige und bleibende Würdigung des „alten“ Bundes ermöglicht und diesem sogar eine unerlässliche Rolle im weiteren Prozess der Erlösung aller Völker zusprechen kann. Vgl. M. Moyaert, Who is the Suffering Servant? A comparative theological reading of Isaiah 53 after the Shoah, in: M. Voss Robert (Hrsg.), Comparing Faithfully. Insights for Systematic Theological Reflection, New York 2016, 216 –237, bes. 220 –222.
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Schöpfungsrisiko oder Erlösungsgarantie?
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lehnen.42 In Lumen Gentium 56 heißt es hierzu unter Verweis auf Irenäus: „Mit Recht also sind die heiligen Väter der Überzeugung, daß Maria nicht bloß passiv von Gott benutzt wurde, sondern in freiem Glauben und Gehorsam zum Heil der Menschen mitgewirkt hat.“ Eine Mitwirkungslehre, die sich alleine auf Maria bezieht, wird aber einer moderaten Vorsehungstheorie nicht gerecht, da hier die gesamte Geschichte des Volkes Israels – d. h., ganz im Sinne des restriktiven Libertarismus, viele freie Entscheidungen vieler Akteure über viele Generationen – eine menschliche Mitwirkung an der Erlösung konstituiert.43 Auch hier muss man konstatieren, dass Gott durch eine ‚milde Lenkung‘ der Geschichte es nur wahrscheinlicher machen, aber nicht garantieren kann, dass die Erlösung gelingt bzw. zunächst, dass ein fruchtbarer Boden für eine Inkarnation bereitet ist. Inwiefern zum Zeitpunkt der Empfängnis Jesu noch ein Risiko bestand, ist eine noch kompliziertere Frage, da sie dogmatische Festlegungen zur Zweinaturenlehre berührt. Wenn man mit einem traditionellen (individualistischen) Libertarismus vertritt, dass jede erwachsene, gesunde menschliche Person die Freiheit haben muss, zwischen Gut und Böse zu wählen (oder zumindest supererogatorische Freiheit besitzen muss), dann folgt aus einem wahren Menschsein auch die Möglichkeit, dass sich Jesus gegen das Kreuz entscheidet. Auch bestimmte Umstände könnten das Leben Jesu auf eine Weise beeinflussen, dass er nicht Erlöser der Menschheit werden kann.44 Allerdings ist auf Basis des restriktiven Libertarismus auch denkbar, dass eine menschliche Person existiert, die bereits in ihrer irdischen Existenz (auch ohne eigenen Verdienst) den Status eschatologischer Freiheit erreicht und damit unfähig zur Sünde ist. Durch eine solche Person kann die göttliche Vorsehung in einer Weise wirken, wie dies durch keinen anderen Menschen möglich ist. Um allerdings die Erlösung zu garantieren, muss diese Person auch durch viele Menschen umgeben sein, welche diesem Ideal bereits sehr nahekom-
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Vgl. J. Grössl, Theologische Modelle, 295 –303. Vgl. G. Lohfink/L. Weimer, Maria – nicht ohne Israel. Eine neue Sicht der Lehre von der Unbefleckten Empfängnis, Freiburg i. Br. 2012. 44 Günter Thomas spricht sogar davon, dass das „Kreuz Jesu Christi […] das von Gott gezielt übernommene Risiko der Inkarnation“ darstellt (G. Thomas, Das Kreuz Jesu Christi als Risiko der Inkarnation, in: ders./A. Schüle (Hrsg.), Gegenwart des lebendigen Christus, Leipzig 2007, 151–179, 162). 43
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Johannes Grössl
men, damit Gott auch die Lebensumstände der betreffenden Person ‚milde lenken‘ kann. Inwiefern eine einmal stattgefundene Inkarnation trotzdem noch scheitern kann (oder gar erst rückwirkend konstituiert wird) und damit die Notwendigkeit weiterer „Versuche“ bedingt, soll in dieser Untersuchung offenbleiben.
8. Fazit Die analytische Vorsehungsdebatte beschäftigt sich primär mit der Frage, inwiefern Gott – auch wenn er die Welt zu einem bestimmten Grad in Freiheit entlässt – dennoch garantieren (oder die Chancen erhöhen) kann, dass seine Schöpfungsziele erreicht werden. Je nach Gottes- und Freiheitsbegriff werden hier unterschiedliche Strategien angewandt, wie die Theorie göttlicher Kontingenzpläne, statistische Determination, eine moderate Relativierung libertarischer Freiheit oder ein moderater, freiheitswahrender Interventionismus.45 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass aus analytischer Sicht – im Konflikt mit dem Axiom direkter Proportionalität Rahners – Gottes Vorsehung und menschliche Freiheit tatsächlich in einem disproportionalen Verhältnis stehen: Je stärker der Freiheitsbegriff, desto größer ist das Risiko, das Gott mit seiner Schöpfung eingeht.46
45
Zur Frage, inwiefern ein Eingreifen Gottes in den Schöpfungsverlauf – ob unter Durchbrechung der Naturgesetze, im Rahmen der Offenheit indeterministischer Naturgesetze oder als rein intramentales Eingreifen – mit den Grundanliegen des Offenen Theismus vereinbar ist, vgl. J. Grössl, Die Offenheit eines handelnden Gottes, in: B. Göcke/R. Schneider (Hrsg.), Gottes Handeln in der Welt. Probleme und Möglichkeiten aus Sicht der Theologie und analytischen Religionsphilosophie, Regensburg 2017, 335 –360. 46 Vgl. als kontinentalen Gegenentwurf, aber dennoch mit dem Anspruch, grundlegende Intuitionen des Libertarismus zu wahren: A. Langenfeld, Frei im Geist. Studien zum Begriff direkter Proportionalität in pneumatologischer Absicht, Innsbruck 2021. In Bezug auf eine eschatologische Vollendung des Menschen würde ich dieses Verhältnis ebenfalls wieder als proportional ansehen: Der vollendete Mensch besitzt keine Freiheit mehr, entgegen Gottes Willen zu handeln, seine Freiheit „vollendet sich im Gehorsam“. Allerdings scheint es mir auch plausibel zu sein, dass die höchste Form eschatologischer Freiheit eine vorausgehende innerweltliche Wahlfreiheit voraussetzt.
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Kontingente Freiheit Replik zum Beitrag von Johannes Grössl Barbara Hallensleben
1. Normativität der Methode Für eine Debatte mit der analytischen Religionsphilosophie ist das Thema der Vorsehung gut gewählt. Unweigerlich müssen bei dieser Frage Aussagen über göttliches und menschliches Wissen, Wollen und Handeln miteinander verbunden werden. Der Anspruch der analytischen Vorgehensweise lautet: Jegliche Aussage soll auf klaren Definitionen und formalisierbaren Argumentationsstrukturen beruhen und zu allgemeingültig einsehbaren Ergebnissen führen, knapp resümiert: Wissenschaft erfordert Eindeutigkeit. Wer wollte sich diesem Aufruf verweigern, noch dazu im Rahmen der hoch differenzierten akademischen Wissenschaftswelt im deutschen Sprachraum, in der die Theologie sich rechtfertigen muss und um Anerkennung ringt? Das Plädoyer der analytischen Methode scheint geradezu zusammenzufallen mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. In diesem Sinne drei erste Beobachtungen: 1) Das im Thema des Sammelbandes formulierte Gegenüber zwischen „analytischer und kontinentaler Perspektive“ umfasst keine symmetrische Debatte zwischen verschiedenen Schulrichtungen, sondern stellt eher eine – potenziell vielgestaltige – Prüfung des analytischen Selbstverständnisses dar. Es geht um die Voraussetzungen und Kriterien gelungenen Argumentierens. Was unter dem Ausdruck „kontinental“ zusammengefasst wird, ist offenbar zunächst geeint in einer Negation: Der Anspruch der analytischen Methode ist nicht stichhaltig/bringt Ambivalenzen mit sich/ist nicht die einzige Form der Wissenschaftlichkeit oder gar der „Vernünftigkeit“ schlechthin. Wie diese Negation gefasst und begründet wird, steht nicht von vornherein fest und muss jeweils geklärt und begründet werden. Damit stellt sich eine weitere Grundfrage: Erhebt die analytische Methode ihren Anspruch für einen bestimmten, abgegrenzten Be-
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Barbara Hallensleben
reich: für genau denjenigen Bereich, indem begriffliche Eindeutigkeit möglich und angemessen ist? Oder erhebt sie einen Totalanspruch, der implizit oder explizit lautet: Wahrheit im höchsten Sinne der rationalen Erhellung von Wirklichkeit ist nur dann gegeben, wenn sie in eine begrifflich eindeutige Gestalt gebracht werden kann? In diesem zweiten Sinne wird im Folgenden von der analytischen Methode gesprochen. Diese Position scheint zumindest „auf Widerruf“ angemessen, d. h. sie kann zurückgenommen werden, sobald die Vertreter:innen der analytischen Methode die Selbstbegrenzung ihrer Vorgehensweise explizit thematisieren. Indem sie allerdings die Reichweite ihrer Theorie selbst einschränken würden, hätten sie bereits die Seiten gewechselt und wären zu einer der Spielarten der „kontinentalen Perspektive“ geworden. Diese Selbstrelativierung ist insofern wenig wahrscheinlich, als die Methode im Bereich der „Vorsehung“ unweigerlich auf den größtmöglichen Wahrheitshorizont angewendet wird: „Gott und die Welt“. 2) Im Folgenden wird teilweise verallgemeinernd von „der analytischen Methode“ gesprochen, während die Aussagen aus der Darstellung von Johannes Grössl als Vertreter dieser Methode gewonnen sind. Diese Verallgemeinerungen sind in der folgenden Form zu lesen: Soweit die Gruppe derer, die sich als „Analytiker:innen“ verstehen, mit den Positionen oder auch nur mit den Argumentationsformen von Johannes Grössl übereinstimmen, sind sie in die getroffenen Aussagen einbezogen. Insofern sie bei Herrn Grössl Defizite in der analytischen Vorgehensweise entdecken, beziehen sich meine Aussagen nur auf Herrn Grössl, und ich überlasse den Kolleginnen und Kollegen der analytischen Sicht die weitere Auseinandersetzung. 3) Aus der ersten Beobachtung folgt die – auch am Text von Johannes Grössl verifizierbare – zweite Aussage: Die analytische Vorgehensweise verhält sich neutral gegenüber der Differenz zwischen Religionsphilosophie und Theologie. Genauer gesagt: Sie geht davon aus, dass Theologie auf Religionsphilosophie zurückgeführt werden kann; wertend formuliert: sie verfehlt das Spezifikum der Theologie. Zur traditionellen Definition der Theologie innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft gehört ihr konstitutiver Bezug auf eine mit „Gott“ benannte transzendente Wirklichkeit und auf das Geschehen einer „Offenbarung“. Die Anerkennung göttlicher Transzendenz ist gleichbedeutend mit der Unmöglichkeit symmetrischer Aussagen
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über Gott und Welt. In zweierlei Hinsicht stellt dieses Selbstverständnis der Theologie die analytische Methode infrage: a) In Bezug auf „Gott“ kommt der analytischen Methode in ihrer religionsphilosophischen Ausprägung das Verdienst zu, an die lange Tradition anzuknüpfen, die selbstverständlich den Gottesbegriff als „philosophiefähig“ einbezogen hatte. Wenn allerdings Gott die Wirklichkeit genannt werden kann, die sich selbst und alles andere bestimmt, dann kann nur Gott selbst über Gott Eindeutigkeit erzeugen, d. h. nicht mit Hilfe einer Denkform erfasst werden, die eine Eindeutigkeit menschlicher Vernunft postuliert. Zumindest muss der Gottesbegriff so gefasst werden, dass er als transzendente, nicht nur transzendentale Bedingung der Möglichkeit menschlichen Erkennens in die Analyse einbezogen wird, so dass „Eindeutigkeit“ und „Bedingtheit“ zusammengehalten werden können. b) Das Offenbarungsverständnis im spezifisch christlichen Sinne erweitert die Anforderungen an die Erkenntnistheorie: Insofern Gottes geschichtliche Selbstoffenbarung mit ihrem Höhepunkt in Jesus Christus bezeugt wird, werden kontingente Geschichtswahrheiten zum unverzichtbaren Bestandteil theologischer Vernunftwahrheiten. Hier kann das analytische Postulat der allgemeinen Einsichtigkeit nicht mehr angewandt werden, ohne die Uneindeutigkeit einer Geschichte anzunehmen, die sich erst dem Blick des Glaubens als Heilsgeschichte erschließt. Diese Einsicht muss, wiederum in theologischer Sicht, von Gott selbst gewirkt sein, kann also nicht durch vernünftige Verallgemeinerung erschlossen werden. Theologie als Theologie hat es ihrem Selbstverständnis nach mit einer „vieldeutigen“ Wirklichkeit zu tun. Sie bezeugt eine „zweidimensionale“ Welt, die Gottes wirksame Gegenwart in der Welt als Schöpfer, Erlöser und Vollender bedenkt und daher Mensch, Welt und Geschichte zugleich in ihrem Selbstsein wie auch in ihrem „in Gott sein“ thematisieren muss. Wo diese Anforderung methodisch ausgeschlossen wird, erfolgt eine Selbstaufhebung derjenigen Theologie, um deren wissenschaftliche Präsenz im akademischen Raum es geht. Bilanz: Die reflexions- und kritiklose Einebnung des Übergangs zwischen Religionsphilosophie und Theologie ist aus analytischer Perspektive konsequent, allerdings nur in Form einer petitio principii: Weil Theologie den Anforderungen der analytischen Theorie nicht gerecht wird und nicht gerecht werden kann, muss sie sich selbst als analytische Religionsphilosophie verstehen. Es geht also
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nicht darum, die analytische Perspektive zu verwerfen, sondern nur um die Feststellung, dass sie ebenfalls rechenschaftspflichtig ist. Sie gibt vor, die größtmögliche Transparenz und Universalisierbarkeit ihrer Resultate zu garantieren. De facto gibt sie mit ihrer Methode einen normativen Standard vor, für den sie bedingungslose Anerkennung fordert. Definitionen sind Ersetzungen eines Ausdrucks durch einen anderen.1 Der Übergang vom einen zum anderen Ausdruck muss a) möglich sein und b) anerkannt werden, so dass er c) ohne weitere Erklärungen kommunizierbar ist. Für die Mitglieder der analytischen Community besteht hier keine Schwierigkeit, weil sie „Eingeweihte“ sind, die sich der Norm bereits unterworfen haben und die definitorischen Übergänge gestalten und/oder anerkennen. Außenstehende, die auf den „restriktiven Libertarismus“ und ähnliche definitorische Ersetzungsübungen treffen, erkennen unmittelbar, dass von ihnen ein Akt der „Bekehrung“ nötig ist, der nicht mit dem intellektuellen Akt des Verstehens zusammenfällt, sondern den willentlichen Eintritt in eine Kommunikationsgemeinschaft fordert. Hier geht es wohlgemerkt nicht um den von Analytiker:innen stets erzeugten Gegensatz von intellektueller Redlichkeit versus narrativer Beliebigkeit, sondern um die Anerkennung der „lebensweltlichen Bindung“ der Vernunft.2 Es geht nicht um die Preisgabe des Anspruchs der Vernunft aus Schwäche, sondern um die Stärke des Mitvollzugs ihrer Grenzen. Diese einführenden Beobachtungen können anhand des Beitrags von Johannes Grössl verifiziert werden: – Bereits die „Hinführung“ im Beitrag von Johannes Grössl zeigt anhand der verwendeten Worte, worum es geht: Vorsehung als „Konzept“, theologische Schulen, Theorien, Dispute, Willensfreiheit (in libertarischer Schärfung), Propositionen. Wir bewegen uns auf der Ebene der Begriffsbildung. Der gewählte Zugang ist die „analytische Religionsphilosophie“, die Thematik der Vorsehung ist theologisch konnotiert, und so ist der Übergang zur „analytischen Theologie“ fließend und wird ohne nähere Erläuterungen über dessen methodische Konsequenzen vollzogen. Über das Verhältnis von Begriff und Wirklichkeit oder gar über die H. Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt a. M. 32018, 34. Vgl. R. Bubner, Dialektik als Topik. Bausteine zu einer lebensweltlichen Theorie der Rationalität, Frankfurt a. M. 1990. 1 2
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Grenze des Begriffs wird nicht reflektiert, als hätte Paul Ricœur nicht das Denken in Metaphern philosophisch rehabilitiert und Hans Blumenberg nicht seine Theorie der Unbegrifflichkeit entwickelt. – Auf der Ebene der Begriffe und Theorien bietet der Beitrag – gut analytisch – jeweils Definitionen, die den genannten Implikationen des Definitionsaktes unterliegen: „Vorsehung bedeutet eine Vorausplanung oder Lenkung der Geschichte durch einen intentional handelnden, göttlichen Akteur, die darauf abzielt, Menschen zum Heil zu führen“ (150). Auch die konkurrierenden Positionen werden ganz in der Linie der Grunddefinition eingeführt: der „theologische Determinismus“, der „offene Determinismus“, der „gemilderte offene Determinismus“. Die Sicht des Autors bleibt hinter der Fülle der aufgezählten Themen und Thesen merkwürdig verborgen. Ohnehin gilt es nicht allein und nicht primär diese Vielfalt der Positionen zu diskutieren. So verschieden, ja gegensätzlich sie anmuten mögen – sie haben doch ein und dieselbe Voraussetzung: die Überzeugung, dass es in den Aussagen über die Vorsehung um das Verhältnis von zwei univok, also konkurrierend verstandenen „Akteuren“ geht, einem göttlichen und einem menschlichen.3 Daher werden alle beschriebenen Positionen unter dem Stichwort „Determinismus“ eingeführt, denn wo zwei mit Vernunft und Wille ausgestattete Akteure aufeinandertreffen, muss einer sich durchsetzen, und das ist im Zweifelsfall der göttliche. – Die Annahme des göttlichen Akteurs wird nicht hergeleitet oder anderweitig erwiesen, sondern vorausgesetzt. Das ist analytisch zulässig, weil transparent: Die gewählte Ausgangsposition, genannt „personaler Theismus“, ist die „Vorstellung, dass Gott als eine Person zu verstehen ist, die wesentliche Merkmale von Personalität mit den Menschen teilt“ (152). Festzuhalten bleibt, dass diese Position zwar in bestimmten Kontexten mehrheitsfähig ist,
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„Konkurrenz“ hat hier nicht notwendig die Konnotation eines Verdrängungswettbewerbs. „Konkurrierend“ verhalten sich zwei in ihrer Identität schlechthin beziehungslose Akteure, deren Freiheiten daher äußerlich und symmetrisch aufeinandertreffen. Für diejenigen, die ein univokes Weltbild vertreten, ist das der unvermeidliche Normalfall. Für eine auf Analogie beruhende Weltsicht stehen Wirklichkeiten in einem inneren Bezug, bevor und indem sie sich freiheitlich äußern.
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jedoch mit einem recht unanalytischen Verzicht auf Plausibilisierung einhergeht. Die religionsphilosophische Tradition, erst recht die offenbarungsbezogene Theologie, haben hier weit mehr an Verständnishilfen zu bieten. Während der analytische Ansatz offenbar von einem Personbegriff aus dem menschlichen Erfahrungsraum ausgeht, der auf Gott übertragen wird, weiß die theologische Tradition um die Entstehung des geistesgeschichtlich überraschend neuen Personbegriffs im Licht der Bemühung um das Verstehen von Gottes geschichtlichem Handeln unter trinitätstheologischem und christologischem Aspekt. – Die Übertragbarkeit menschlicher Begriffe auf Gott wird nicht hinterfragt. Während diese Frage in der westlichen Tradition zur Entwicklung der Analogielehre geführt hat, wird bei Grössl eine solche Denkform a priori verworfen: „Wenn Gottes Personalität stark analog gedacht wird, kann auch Vorsehung nur analog gedacht werden, mit der Gefahr, dass ein analytischer Zugang verunmöglicht wird, weil letztlich auf das große Mysterium Gottes verwiesen wird“ (153). Diese Aussage ist wegen ihres Zirkelschlusses verräterisch. In der Regel muss sich die Methode am Gegenstand bewähren – hier wird die Methode selbst zum Prüfstein für das, was gedacht werden kann und darf. Schade – nebenbei verlieren wir auch noch die so fruchtbare „Analogie“ zwischen der göttlichen Vorsehung (providentia) und der menschlichen Tugend der Klugheit (prudentia). Johannes Grössl besticht in seinem Beitrag insgesamt durch seine Belesenheit und seine formallogische Systematisierungsgabe. Doch die Leser:innen werden auch vor die Frage gestellt: Will ich mich auf dieses Szenario einlassen? Will ich dieser „Ekklesia“ angehören? Werden die Fragen wirklich so gestellt, wie sie diskutiert werden sollten? Hier führt die breitere und pluralere Wahrnehmung der theologischen Denktradition eher zu einem Befremden: In meiner Erfahrung beginnt die Entwicklung zum theologisch denkenden Menschen genau dort, wo die analytische Schematisierung eines Gegenüber von zwei „Akteuren“ namens „Gott“ und „Mensch“ als vorstellungsmäßige Reduktion erkannt wird und der theologisch Denkende beginnt, mit Gott etwas „anzufangen“, d. h. Gott „anfangen zu lassen“. Das erfordert, den eigenen Anspruch auf intellektuell erzeugte Eindeutigkeit zugunsten eines Selbstverständnisses und eines Selbstvollzugs aus dem Empfangen der eigenen Identität preiszu-
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geben. Nein, Gott ist nicht der alte Mann mit Bart hinter und über den Wolken. Doch diese Vorstellung ist noch nicht überwunden, wenn man den Bart weglässt – solange die radikale Asymmetrie zwischen Gott und Welt nicht ernstgenommen und zum Ausgangspunkt des Denkens und Handelns wird. Das von Herrn Grössl vorausgesetzte Gottesverständnis ist bestenfalls naiv und unpräzise, in jedem Falle aufgrund der eigenen Annahmen religionsphilosophisch weniger plausibel als der Agnostizismus oder Atheismus – und schlimmstenfalls blasphemisch. Sein christologischer Vermittlungsversuch am Ende seines Beitrags (Abschnitt 7) führt aus der Aporie nicht hinaus, sondern bestätigt sie: Hier geht es nicht um die in der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus begründete Weltimmanenz und Geschichtsmächtigkeit Gottes sowie die „Gottfähigkeit“ des Menschen (capax Dei). Vielmehr wird die Frage der Vorsehung auf das historische Individuum namens Jesus von Nazareth sowie auf seine Mutter Maria übertragen: War das Fiat der Gottesmutter vorherbestimmt? War der heilsnotwendige Kreuzestod Jesu vorherbestimmt? Analytisch übersetzt: Hatte Gott gute Gründe, das „Risiko“ der Freiheitsentscheidungen – des Volkes Israel, der Mutter Jesu und Jesu selbst – einzuschränken, um „seine Schöpfungsziele“ (166) zu erreichen? Der Status Jesu in dieser Analyse unterscheidet sich in nichts von dem Status jedes anderen geschichtlichen Individuums. Abschließend wird auf diese Weise die wahrhaft leitende Frage zumindest indirekt erkennbar. Sie ist gleichsam „politisch“: „Je stärker der Freiheitsbegriff, desto größer ist das Risiko, das Gott mit seiner Schöpfung eingeht“ (166). Merkwürdigerweise steht am Ende nicht die Unruhe des selbstbewussten modernen Menschen, ob seine Freiheit angesichts des Vorsehungshandelns Gottes wohl bedroht sei, sondern die utilitaristische Frage: Was habe ich davon? Wozu soll ich Gott eine – der Hoffnung nach möglichst „milde“ (165) – Einschränkung meiner Freiheit zugestehen? Die Antwort lautet: damit Gott auf optimale Weise seine „Schöpfungsziele“ sichert, und das heißt doch wohl: mein/unser Heil. Die Logik erinnert unübersehbar an die Logik des Leviathan bei Thomas Hobbes: Tritt deine Freiheit ab – und du erlangst Frieden und Sicherheit … Der moderne Mensch antwortet in der ungebrochenen Überzeugung seiner freiheitlichen Selbstkonstitution: Ja, gern!
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2. Utilitaristische Aufhebung von Freiheit Aus „kontinentaler Perspektive“ hat der Ansatz von Johannes Grössl eine Art „Wiedererkennungswert“. Man ist geneigt zu sagen: So neu ist das alles gar nicht. In der kontinentalen philosophischen und theologischen Tradition geschulte Denker:innen können nicht zu Unrecht die Bilanz ziehen: Aha, hier haben wir es mit einem typisch skotistischen Ansatz zu tun, der um der Ermöglichung klarer wissenschaftlicher Schlüsse willen von der Univozität des Seins ausgeht und diese auch auf das Verhältnis zwischen Gott und Welt anwendet. Wir wissen, dass diese Denkform mit dem Primat des Willens einherging und einen Grundzug der westlichen „Freiheitsgeschichte“ einleitete, pejorativ als „Voluntarismus“ benannt, d. h. eine an keine Vorgaben gebundene, sich selbst unbedingt vollziehende Freiheit. Die Denkweise erinnert weiterhin an den Anspruch René Descartes‘, alles clare et distincte benennen zu wollen. Dieser Anspruch ist das Korrelat zu einem mechanistischen Weltbild, in dem res cogitans und res extensa voneinander geschieden werden und von der Person, die leibhaft in ihre Geschichte eingebettet ist, nur noch der denkende Bewusstseinspunkt eines als Subjekt verstandenen „Ego“ bleibt, begleitet von der Idee, die unbelebte, objektiven Gesetzen folgende Außenwelt sei eindeutig zu erkennen und dadurch sowohl intellektuell als auch technisch zu unterwerfen. Diese historische Einordnung, nicht ohne wertenden Beiklang, wäre eine Art „Kritik von außen“ an der analytischen Methode, insofern sie den Kriterien einer andersgearteten („kontinentalen“?) Denkform nicht entspricht. Verzichten wir auf eine eher schwache Form von äußerer Kritik und folgen wir dem analytischen Denkansatz in seiner inneren Logik. Unübersehbar steht als articulus stantis et cadentis die „Freiheit“ im Zentrum der analytisch gefassten Darstellung der Vorsehung bei Johannes Grössl, ja vielleicht im Zentrum seiner Methodik als solcher. Hier liegt ein Berührungspunkt zur kontinentalen Tradition, die gerade im deutschsprachigen Raum nicht selten mit dem Freiheitsparadigma arbeitet. Umso mehr Aufmerksamkeit ist in dieser Frage angebracht. Grössls Einleitung präsentiert, ohne nähere Definition, ein bestimmtes Freiheitskonzept, „libertarisch“ genannt (149): Er will „speziell die Frage diskutieren, welche Auswirkungen ein libertarisches Konzept menschlicher Willensfreiheit auf göttliche Vorsehung hat“ (149), und nennt auch die Frage, „inwiefern Gott
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libertarische Freiheit zugestanden werden kann“ (154). Was „libertarisch“ bedeuten soll, kann man der 2020 veröffentlichten Studie von Saskia Wendel4 entnehmen – oder einfach semantisch erschließen: Libertarische Freiheit ist zunächst einfach „freie Freiheit“, d. h. die nachdrückliche Affirmation von Freiheit. Sie ist konstitutiv mit dem Ich verbunden und kommt zum Ausdruck in der Möglichkeit, so oder anders zu entscheiden und unableitbare Neuanfänge zu setzen. Jegliche Form von Determinismus ist damit grundsätzlich ausgeschlossen. Alle Freiheitstheorien stehen allerdings vor der Frage, ob und inwiefern die Bindung menschlicher und göttlicher Freiheit an gewisse Vorgaben – etwa in Gestalt von „Natur“ oder moralischen Normen – als deterministisch gelten müssen und folglich mit dem Verständnis libertarischer Freiheit nicht vereinbar wären. Umso erstaunlicher ist es, dass gerade die selbst gewählte Schlüsselstellung der Freiheit bei Johannes Grössl sich nicht als Leitmotiv durchhält. – Als historischen Bezug wählt der Analytiker Grössl nicht zufällig Luis de Molina (1535 –1600), der auch von anderen Vertreter:innen dieser Methode offenbar bevorzugt rezipiert wird. Der Vorteil dieses Ansatzes liegt darin, dass die menschliche Freiheit gleichsam optimal in die Vorsehungslehre eingeht, weil sie durch die Annahme von Gottes Vorherwissen im Rahmen einer Theorie möglicher Welten unterfangen ist: Gott hebt nicht menschliche Freiheit auf, sondern wählt (!) diejenige Welt, in der die weiterhin unbeeinflussten Freiheitsentscheidungen der Menschen zu dem bestmöglichen Resultat führen. Wiederum befremdet die Zufriedenheit, mit der diese Lösung vorgetragen wird: Würde Iwan Karamasow nicht auch für diese Welt seine Eintrittskarte zurückgeben, wenn für die Rettung der „größtmöglichen Zahl von Geschöpfen“ (156) einige andere geopfert werden müssen? Würden, ja müssten konsequente Vertreter:innen „libertarischer Freiheit“ nicht die göttliche Vorgabe einer „bestmöglichen“ Welt als unvereinbar mit ihrem eigenen unbedingten Freiheitswillen betrachten und als mögliche Funktionalisierung ihrer selbst auf das Heil der Mehrheit hin entsetzt von sich weisen? Am Ende gibt wiederum nicht die menschliche Freiheit den Ausschlag, sondern die optimale Bilanz des Geschichtsverlaufs: 4
S. Wendel, In Freiheit glauben. Grundzüge eines libertarischen Verständnisses von Glauben und Offenbarung, Regensburg 2020.
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„Wenn Gottes Ziel die Erlösung so vieler Geschöpfe wie möglich darstellt, dann hieße das, er übt seine Vorsehung in einer Weise aus, so dass eine größtmögliche Zahl von Geschöpfen gerettet wird. […] Gott nimmt selbst unfassbares Leid in der Schöpfung in Kauf, um eine eschatologische Vollendung für so viele Geschöpfe wie möglich zu garantieren“ (156f.). Jeremy Benthams (1748 –1832) Option für das „größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl“ als enteschatologisierte Variante desselben Denkmodells klingt im Voraus an. Die bereits beobachtete utilitaristische Sicht gibt auch hier den Ausschlag. Im Grunde werden die eigentlich bedrängenden Fragen gar nicht ausdiskutiert: a) Wie verhalten sich göttliche und menschliche Freiheit zueinander? b) Wie ist die Theodizeefrage zu beantworten? Wie ein moderner Markttheoretiker überhöht Johannes Grössl – sogar ohne die unerwünschten Nebenwirkungen zu beklagen – die unvermeidlichen Opfer der Heilsgeschichte als Triumph der Vernunft. Gott ist der Oberkalkulator5, dem der moderne Mensch sich nicht gern, aber mangels Alternativen wegen dessen unerreichbarer intellektueller Übersicht willig unterwirft, selbst um den Preis des potentiellen eigenen ewigen Untergangs. Gottes Willkürfreiheit wird nicht ausgeschlossen, sondern nur einem nicht näher reflektierten Kriterium unterworfen: dem größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass diese Perspektive des „Heils“ anders verstanden wird als die quantitative Steigerung des irdischen Wohlergehens. Und es bleibt unklar, ob und wie „Gott“ nicht nur als souveräner Urheber, sondern auch als Inhalt ewigen Heils bedeutsam ist. – Die Logik der Risikominimierung hält sich durch. Nach der Diskussion etlicher Varianten, die Gottes Vorsehung zu Gottes „Vorherwissen“ in Beziehung setzen – nicht zufällig unter dem Titel „Providentielle Nützlichkeit“ – lässt Johannes Grössl seine eigene bevorzugte Lösung anklingen, allerdings zurückhaltend unter dem Deckmantel des „weiter verbreitet[en] Lösungsansatz[es]“ (161), genannt „restriktiver Libertarismus“. Der geradezu zynische Umgang mit Freiheitskalkülen setzt sich fort. Auf einmal ist die „Unfreiheit“ ein nüchtern anerkannter, mehr noch: ein gera-
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Vgl. H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 112020, 123.
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dezu wünschenswerter Zustand: Je stärker der Charakter eines Menschen geformt ist, desto voraussehbarer werden seine Handlungen. Je voraussehbarer seine Taten damit auch für Gott sind, desto besser ist Gottes Vorauswissen garantiert, ohne korrigierende Eingriffe der Vorsehung erforderlich zu machen. Die Disproportion zwischen der Stabilität in der Tugend und der Stabilität im Laster spielt bei dieser Überlegung keine Rolle. Dadurch stellt sich auch eine merkwürdig fideistische Perspektive auf Vollendung hin ein: Erwartet wird eine „höhere Freiheit des Glaubens“ (161), die darin besteht, sich nicht mehr gegen Gott entscheiden zu können. Gerade im Konzept einer libertarischen Freiheit, die unabhängig von inhaltlichen Vorgaben und Bindungen gedacht werden muss, kann dies nur auf eine Selbstaufhebung der Freiheit hinauslaufen. Das zugrundeliegende Denkmodell ist auch hier nicht theologisch, sondern entstammt der Erfahrungswelt der statistischen Berechenbarkeit menschlichen Verhaltens bei und trotz Annahme freier Entscheidungen. Es bleibt die paradoxe Bilanz: Je unfreier wir sind, desto besser für die Sicherung der Freiheit angesichts der Vorsehung Gottes. Die Bilanz in Bezug auf das Freiheitsverständnis der analytischen Herangehensweise an die Vorsehung, zumindest in der Darstellung von Johannes Grössl, fällt paradox aus: Das deklarierte Freiheitspathos wird in der vorgetragenen Argumentation in wesentlichen Punkten nicht eingelöst: a) Es fehlt eine klare Umschreibung des Freiheitsverständnisses: Das ist im Prinzip nicht verwunderlich: Die Freiheit entzieht sich der Begriffsbildung, weil wir keinen definitorischen Zugriff auf sie haben. Kant versteht daher die Freiheit nicht als Begriff, sondern als Idee: „Denn wir können nichts erklären, als was wir auf Gesetze zurückführen können, deren Gegenstand in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann. Freiheit aber ist eine bloße Idee, deren objektive Realität auf keine Weise nach Naturgesetzen, mithin auch nicht in irgend einer möglichen Erfahrung, dargetan werden kann, die also darum, weil ihr selbst niemals nach irgend einer Analogie ein Beispiel untergelegt werden mag, niemals begriffen, oder auch nur eingesehen werden kann. Sie gilt nur als notwendige Voraussetzung der Vernunft in einem Wesen, das sich eines Willens, d. i. eines vom bloßen Begehrungsvermögen noch verschiedenen Vermögens (nämlich sich zum Handeln als Intelligenz, mithin nach
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Gesetzen der Vernunft, unabhängig von Naturinstinkten, zu bestimmen), bewusst zu sein glaubt“.6 Damit wird „Freiheit“ allerdings auch zu einem Grenzbegriff der Bewährung für die analytische Methode: Freiheit als Idee zeigt die Grenze des definierenden Vorgehens an, denn sie ist „unvordenklich“. In betontem Gegensatz zum Determinismus lässt sie sich ja weder gesetzmäßig aus Vorausgehendem herleiten noch mit einer bestimmten Erfahrung identifizieren. Damit nötigt sie die analytische Methode, ein Jenseits ihrer selbst anzuerkennen. Dieser Herausforderung hat sich der Autor nicht gestellt. Sie wäre auf eine Anerkennung der Grenze klarer Definierbarkeit von Begriffen hinausgelaufen. b) Die Freiheit erhält keine Vorrangstellung in der Kriteriologie für das Vorsehungsverständnis: Man sollte meinen, der Ausgang von der „libertarischen Freiheit“ impliziere die Intention, ja die Notwendigkeit, jedes Verständnis der Vorsehung daran zu überprüfen, ob es dem geradezu pleonastischen Nachdruck auf der Freiheit gerecht werden kann. Wie gezeigt wurde, weicht Johannes Grössl von diesem Kriterium ab, ohne davon ausdrücklich Rechenschaft zu geben. Maßstab für das Vorsehungshandeln ist am Ende Gottes Fähigkeit, seinen Schöpfungsplan durch das größtmögliche Heil für die größtmögliche Zahl von Menschen (von der übrigen Schöpfung ist nicht die Rede!) zu sichern. Nicht Freiheit, sondern Sicherheit (durch Risikominderung) ist die leitende Vision. c) Statt der Vollendbarkeit der Freiheit wird ihre Selbstaufhebung zum Ideal erklärt: Insofern die Freiheit zu den unbedingten Konstitutionsmerkmalen des Menschen gehören soll, ist damit zu rechnen, dass sie als „befreite Freiheit“ auch in die höchste Vollendung des Menschen, Heil genannt, eingeht. Gerade das ist in dem von Grössl offenkundig bevorzugten Modell des „restriktiven Libertarismus“ nicht der Fall: Der „Komptabilismus“, d. h. die Ansicht, Freiheit und eine bedingende oder gar determinierende Ursache seien – in Gott oder im Menschen – miteinander vereinbar, wird vom Libertarismus entschieden zurückgewiesen, für die eschatologische Vollendung jedoch erklärungslos als Ideal postuliert.7 6
I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten III, Akademie-Ausgabe (hrsg. v. der königlichen preußischen Akademie, Berlin 1900ff) IV, 459. 7 „Die libertarische Freiheit des Menschen ist auf die geschichtliche Bewährung der Gottesgemeinschaft hin angelegt und dazu bestimmt, sich im Empfang und
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3. Die Machtfrage Man sollte meinen, dass die analytische die gewaltloseste aller Methoden darstellt, da sie gleichsam an die reine Vernünftigkeit appelliert und dadurch jegliche Bedingtheiten in universal einsehbare, eindeutig konsensfähige Aussagen verwandelt, also geeignet ist, machtförmige Diskurse in freiheitliche Konsense zu verwandeln. Die nähere Untersuchung zeigt, dass dies nicht zutrifft, ja – wie so häufig – die verschleierte Machtausübung umso fragwürdigere Züge erhält. – Es ist auffällig, wie im Beitrag von Johannes Grössl die Gott zugeschriebenen Freiheitsakte der Vorsehung mit Beiwörtern wie „mild“ oder „moderat“ (165) versehen werden. Der Dualismus von göttlicher und menschlicher Freiheit ist im univoken Ansatz angelegt und unvermeidlich. So kann höchstens noch dafür gesorgt werden, dass das Nebeneinander der Akteure nicht oder so wenig wie möglich zu einem konkurrierenden Gegeneinander wird. Dies geschieht letztlich nicht durch Argumentation, sondern durch Suggestion: Das libertarische Freiheitsverständnis in Bezug auf Gott stürzt den Menschen – ähnlich wie im Erleben des Reformators Martin Luther – angesichts der Unberechenbarkeit dieser Freiheit eher in die Ungewissheit hinsichtlich seines Heils. Die ausdrücklich abgelehnte Ansicht, Gott sei an seine Natur oder an moralische Normen gebunden, wird durch die vorgeblich mehrheitsfähige implizite Zusatzannahme gemildert, Gott wolle das Gelingen seiner „Schöpfungsziele“, die nun doch ohne weitere Erklärung als „gut“ und wünschenswert einem Maßstab unterliegen, der nicht mit dem reinen Freiheitsvollzug als solchem zusammenfällt. Der harte Fall der konkurrierenden Willen wird rhetorisch ausgeklammert, nicht argumentativ ausgeschlossen. Es bleibt vom Ansatz her bei einem Machtkampf zwischen Gott und dem Menschen. – Definieren, das große Ideal der analytischen Methode, ist nicht unschuldig: Es bringt nicht nur die Wirklichkeit „auf den Bein der Erwiderung der Liebe Gottes immer stärker jener kompatibilistischen Freiheit anzunähern, welche die Existenz der Erlösten in Ewigkeit auszeichnet“ (M. Schmid, Bewährte Freiheit. Eine Rekonstruktion und Weiterführung des theologischen Freiheitsbegriffs im Offenen Theismus, Paderborn 2019, 379; zit. von Grössl, 161–162, Anm. 33; vgl. Anm. 34).
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griff“, es schafft auch eine Welt, die keineswegs einfach vorgefunden wird. Begriffe bringen eine Art von Wirklichkeit hervor, die unser Sehen, Erkennen, Sprechen und Kommunizieren leitet. Dies ist der klassische Zirkel zwischen Denken, Sprache und Sein, der jedem Erkenntnisakt innewohnt. Wer diesen in der Tat welt(nach)erschaffenden Kreislauf in seiner Unabschließbarkeit und Vielgestaltigkeit analytisch monopolisieren will, schließt nicht nur eine Fülle von Zugangsweisen zur Wirklichkeit aus, sondern vollzieht eine machtförmige Reduktion der Wirklichkeit unter dem Vorwand der Vernünftigkeit. Die analytische Perspektive scheint blind für die Machtförmigkeit ihres Vernunftmodells. – Die von Herrn Grössl vorgestellte Perspektive auf die Vorsehung vermag auf die Theodizeefrage keine Antwort zu geben, die nicht als zynisch zurückgewiesen werden könnte. Er bekräftigt, geradezu als seine Schluss- und Hauptthese, dass „aus analytischer Sicht – im Konflikt mit dem Axiom direkter Proportionalität Rahners – Gottes Vorsehung und menschliche Freiheit tatsächlich in einem disproportionalen Verhältnis stehen“ (166). Das entspricht dem genannten, wenn auch „gemilderten“ Konkurrenzmodell zwischen Gott und Mensch. Gottes Vorsehung kann nur um den Preis der Einschränkung menschlicher Freiheit verstanden werden. Was Grössl im Anschluss an Molina als „formale Lösung für das Theodizeeproblem“ (156) bezeichnet, impliziert ein Kalkül, das Menschen gegeneinander verrechnet, indem Gott seine Vorsehung zur Rettung der „größtmöglichen Zahl von Geschöpfen“ (156) ausübt. Das Vorauswissen aller „kontrafaktischen Freiheitskonditionale“ (156) impliziert unweigerlich eine Freiheitsentscheidung „zweiter Ordnung“ von Seiten Gottes, insofern Gott eine bestimmte Konstellation menschlicher Freiheitsentscheidungen herbeiführt oder zulässt. Zwar bleiben die Menschen weiterhin für ihre Entscheidungen verantwortlich und die Zahl der Geretteten ist die größtmögliche. Doch muss das Unheil der Unrettbaren unweigerlich dennoch auf eine göttliche Freiheitsentscheidung zurückgeführt werden. Nicht zufällig wird diese Lösung „eschatologisch-utilitaristisch“ (156) genannt. Die analytische Methode ist dann und genau dann unfähig zur Lösung der Theodizeefrage, wenn sie das Unheil der nicht Geretteten auf einen utilitaristisch begründeten Entscheid Gottes zurückführt, der ein statistisches Kalkül über die Bewegkraft der Liebe stellt. Das
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Unheil der Unrettbaren fällt dann auf einen Akt göttlicher Machtausübung zurück. Die genannten Grundprobleme können nicht allein durch andere Argumentationsformen behoben werden, die es in der Community der Analytiker:innen offenbar in reicher Fülle gibt, sondern nur durch eine Relativierung der Methode selbst, die in den Dienst einer Wirklichkeit zu treten hat, der sie bislang normativ übergeordnet war.
4. Kontingente Freiheit Ja, es wäre reizvoll, ein alternatives Vorsehungsverständnis zu entfalten. Hier bleibe ich bei der gestellten Aufgabe der kritischen Replik. Doch ein Ausblick sei gestattet. Die grundlegende Revision, die ein Vorsehungsverständnis als Alternative zum analytischen Modell (zumindest von Johannes Grössl) erfordert, muss im Gottesverständnis beginnen und dabei die irreale und selbst analytisch kontraintuitive Symmetrie zwischen Gott und Mensch, Schöpfer und Schöpfung preisgeben. Theologisches Denken muss ein Verständnis von Gottes Transzendenz einschließen, das Gott einerseits dem definierenden Zugriff entzieht, andererseits aber eine verantwortete Rede über die „Gott“ genannt Wirklichkeit ermöglicht. Aus diesem Wandel der Perspektive folgt alles Weitere. Gerade weil der Erkenntnisakt unter den Bedingungen der Endlichkeit stattfindet, kann ein Gottesbegriff nicht gebildet werden, ohne die Welt als das Andere Gottes einzubeziehen. Solange von Gott + x additiv gesprochen wird, ist Gott nicht Gott, sondern partikularer Bestandteil eines größeren Ganzen, dem dann das Gottesprädikat zukäme. In exemplarischer Weise hat Nikolaus von Cues diesen Gedanken dargelegt, indem er Gott als non-aliud der Geschöpfe in das Denken einführt. Gott ist diejenige Wirklichkeit, die nicht definiert werden kann – nicht nur weil die endlichen Erkenntnisbedingungen nicht die nötige Reichweite haben, sondern weil es zum Spezifikum Gottes gehört, weder definierend, also Grenzen ziehend, erfasst werden zu können noch sich definierend abgrenzen zu müssen. Analytisch zwingend ist diese „Gott“ genannte Wirklichkeit nicht, bleibt doch die Möglichkeit der Grundlosigkeit des Vorfindlichen und damit der puren Faktizität nihilistischer Färbung. Von der Annahme dieses Gottesverständnisses her erscheint die Welt als „Schöpfung“, d. h. als aus dem göttlichen Ursprung stam-
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mend. Hier hat die Rede von der Schöpfung ex nihilo eine Plausibilität, die über ihren theologiegeschichtlichen Kontext hinausgeht: Gott schuf die Welt ex nihilo, d. h. nicht aus etwas Vorgegebenem; auch nicht aus etwas, das das Nichts wäre; folglich nicht aus etwas, was nicht Gott selbst ist; und so lässt sich schließlich die Aussage treffen: Gott schuf die Welt aus sich selbst. Auch hier kann nicht mit analytischer Zwangsläufigkeit vorgegangen werden: Die Welt als Emanation Gottes, eine pantheistische und als Kehrseite naturalistische Deutung sind nicht a priori auszuschließen. Die Schöpfung als freiheitliches Gegenüber zum Schöpfer findet jedoch zahlreiche Anhaltspunkte in der spurenförmigen Erfahrung des Menschen und eine nachdrückliche Stütze in der biblisch bezeugten Glaubenstradition. Hier erkennt sich menschliche Freiheit als kontingente Entsprechung zu einem freien göttlichen Ursprung, der sich unbeschadet seiner Transzendenz zugleich in freier Geschichtsmächtigkeit erweist. „Kontingenz“ wird von Hans Blumenberg als „einer der wenigen Begriffe spezifisch christlicher Herkunft in der Geschichte der Metaphysik“ eingeordnet.8 Das Selbstverständnis des Endlichen als possibile contingens sieht Blumenberg mit dem 13. Jahrhundert als vollständig entwickelt an: „die Welt ist kontingent als eine Wirklichkeit, die, weil sie indifferent zu ihrem Dasein ist, Grund und Recht zu ihrem Sein nicht in sich selbst trägt. Das Sein der Welt nimmt Gnadencharakter an“.9 Als kontingente Wirklichkeit verdankt die Schöpfung sich einem unhintergehbar vorausliegenden freien Hoheitsakt des Schöpfers, der sie dadurch zugleich der Möglichkeit abschließender Definitionen entzieht, damit aber Freiheit eröffnet und machtförmigen Zugriffen – auch intellektueller Art! – Grenzen setzt. Die Kontingenz des Endlichen ist keine logische Feststellung. Sie erfordert einen Bekenntnisakt, der immer neu gegen die Alternativen der Absurdität des Daseins oder der Selbstbehauptung in vermeintlicher Notwendigkeit errungen werden muss. Blumenberg weist darauf hin: „Durch den Voluntarismus der franziskanischen Scholastik wird dann, genau genommen, auch Gott in die Grundlosigkeit der Kontingenz hineingezogen“.10 Dies führt in den nicht 8
H. Blumenberg, Art. „Kontingenz“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3, Tübingen 31959, 1793f, hier:1793. 9 Ebd., 1794. 10 Ebd.
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nachhaltig abzumildernden Dualismus zwischen irdischen und himmlischen Akteuren. Nicht eine bestimmte „Schule“ setzt sich hiermit durch, sondern die beständige Neigung zur Aufhebung von Kontingenz macht sich erstmalig und unwiderruflich bemerkbar. Unter vielen Namen und Vorzeichen wird sie die Geistesgeschichte begleiten und macht sich auch in der analytischen Bewegung bemerkbar. Die analytische Methode ist letztlich ein Versuch der Tilgung von Kontingenz. Das ist für sie selbst ein widersprüchliches Vorgehen, weil Kontingenz zur gleichen Zeit die bestmögliche Sicherung von Freiheit darstellt. Kontingenz als Ausdruck für den Gnadencharakter des Seins lässt sich auch anders und besser gedanklich würdigen. Bleibt Gott jenseits der Kontingenz, so kann sein Freiheitsakt als „begründet“ gedacht werden. Hier eröffnet sich ein anderer Denkweg als nach Duns Scotus: Gott handelt frei aus dem „Grund“ seines Seins. Gott ist frei, weil er unbegrenzt aus einer grenzenlosen Fülle schöpft. Die klassische Redeweise von der „Natur Gottes“ findet damit einen möglichen Sitz im Leben: Gottes Natur ist der „Grund“ für Gottes freies Handeln, nicht als äußerlich determinierender, sondern als innerlich ermöglichender Grund. Natur und Person in Gott sind nicht zwei Entitäten, die äußerlich kombiniert werden. Gottes (Drei-)Personalität ist vielmehr der freiheitliche Selbstvollzug der göttlichen Natur in ihrer Fülle. Der Naturbegriff in Gott, den die theologische Tradition pflichtgemäß mit sich trägt, ohne seit Jahrhunderten Gebrauch von ihm zu machen, ist damit dem Verdacht einer „substanzontologischen“ begrifflichen Verfügbarkeit entzogen. Gottes Natur ist „apophatisch“, wie nicht nur die orthodoxe Theologie zu sagen pflegt. Sie entzieht sich dem definierenden Zugriff, nicht aber Gottes schenkender Liebe. Der „Gnadencharakter“ der kontingenten Welt liegt nicht nur in der Nicht-Notwendigkeit ihres Ursprungs. Sie zeigt sich auch im „Sein“ der Welt, das sich als empfangene Gabe und als „Stoff“ ihrer Freiheit lesen lässt. Es besteht Grund zu der Annahme, dass diese „Natur“ der Welt gerade in ihrem Ursprung ex nihilo Spuren ihres Ursprungs ex Deo in sich trägt und als solche bejaht, empfangen und freiheitlich gestaltet werden kann und muss. Die vielfältigen Aspekte dessen, was der Freiheit widerständig Grenzen zu setzen scheint – in Form von Leibhaftigkeit, materiellen und belebten Elementen, geschichtlichen Konditionierungen und Widerfahrnissen,
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anderen freiheitlichen Akteuren des Lebensraumes – wandeln unter diesem Gesichtspunkt ihren Charakter und lassen sich lesen als Ermöglichung freiheitlichen Selbstvollzugs. Diese Aufgabe geht von vornherein über die analytische Ich-Perspektive hinaus und konstituiert sich in einem Mit-Sein, das im Menschen eine gemeinschaftlich-soziale Dimension annimmt. Die „Natur“ der Welt ist dann nicht allein das Objekt freiheitlicher Gestaltung und Unterwerfung, sondern die Ermöglichung einer Freiheit im Werden, die sich als Ausdruck der Kontingenz verstehen lässt. Indem sie nicht nur ihren Ursprung, sondern ihre Existenz selbst als gnadenhaft bejaht und je neu empfängt, hält sich die Schöpfung in der freiheitlichen Schwebe ihrer Kontingenz. Sie hat Grund zu der Annahme, dass ihr Dasein aus dem freiheitlichen Akt der Teilgabe Gottes an sich selbst in der Differenz des kontingenten Selbstseins der Geschöpfe erfolgt. Diese Wahrnehmung kann philosophisch als analogia entis bezeichnet werden und wird zu einem möglichen und angemessenen Ausdruck der Wahrnehmung und Anerkennung von Kontingenz. Sie lässt sich nicht in Univozität hinein aufheben, weil der Zugang zur Quelle geschöpflicher Existenz nur durch einen doxologischen Überschritt gelingt, der nicht mehr definitorisch einzuholen ist und Ausdruck findet in Glaube, Hoffnung und Liebe, in Gebet und Liturgie, in der Bejahung eines konstitutiven Gemeinschaftsbezugs und in jeglicher Form der Anerkennung des „Heiligen“.11 Was für die „Gottebenbildlichkeit“ des Menschen exemplarisch ausgesagt ist, wird in dieser Perspektive zum „Gott finden in allen Dingen“ ausgeweitet. Der analytische Sprung in das eindeutige Definieren blendet im Widerspruch dazu einerseits die Abgründe kontingenter Existenz aus, andererseits versagt er sich der apophatischen Dimension der gesamten Wirklichkeit einschließlich ihrer Schönheit und der Hoffnung auf Heil, das ihr nicht von außen als „Reparatur“ oder „Belohnung“ zukommt, sondern ihr als Ursprung, Wesen und innerste Sehnsucht innewohnt. In der skizzierten Perspektive der Kontingenz ist die menschliche Natur die geschöpfliche Potentialität vollendeter, unverlierbarer Personalität; zur geschaffenen Person gehört damit die Verheißung ewigen Lebens als einzigartiges, unersetzbares Glied der Gemeinschaft 11
Vgl. dazu J. Hoff, Verteidigung des Heiligen. Anthropologie der digitalen Transformation, Freiburg i. Br. 2021.
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der Heiligen und am Heiligen, zu erlangen auf dem Weg des Werdens im freiheitlichen geschichtlichen Selbstvollzug.12 Die göttlichen Personen sind die göttliche Natur in vollendetem dreipersonalem Selbstvollzug von Ewigkeit her. Im Blick auf die Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen lässt sich sagen: Die Person der menschlichen Natur ist erschaffen als Abbild der voll personifizierten göttlichen Natur und dazu bestimmt, teilzuhaben an der göttlichen Natur (2 Petr 1,4) und auf diese Weise auch an der ewigen Personalisierung der Natur. Die Vorsehung ist koextensiv mit dem Handeln Gottes an seiner Schöpfung bis in die kleinsten Kleinigkeiten. Es gilt nicht länger: magna di curant, parva neglegunt. Die Bilanz von Johannes Grössl kann selbst nach diesem knappen Ausblick begründet umgekehrt werden: Gottes nicht-kontingente Freiheit als Vorsehung und kontingente menschliche Freiheit stehen in einem nicht symmetrischen, aber doch proportionalen Verhältnis zueinander.13 In dieser Perspektive könnte eine Sicht der Vorsehung entwickelt werden, die an viele Elemente der Theologiegeschichte anknüpft und sie neu plausibilisiert. Sobald die Natur als kontingente Gabe des Schöpfers in die theologische Reflexion einbezogen wird, verliert die Freiheit in der Debatte um die Vorsehung ihre konkurrenzhafte Schärfe. „Natur“ ist nicht länger das Material machtförmiger Verfügung durch eine ihr äußerlich zu- und übergeordnete Freiheit, sondern sie ist der innere Ermöglichungsgrund von Freiheit, der „Stoff der Freiheit“. Unsere leibhaftige Existenz und unsere gesamte Lebenswelt erscheinen in der Perspektive der Kontingenz als Gabe des Schöpfers, als „zugespielte Freiheit“. Die klassische Vorsehungslehre, die „Vorsehung“ zum Prädikat und zu einer zentralen Aufgabe des Menschen macht, erhält neue Plausibilität. 12
Während der Tagung habe ich versucht, diese Zusammenhänge anhand der „Sophiologie“ des russischen Theologen Sergij Bulgakov (1871–1944) zu entwickeln. Sie entwickelt einen theologisch erneuerten, apophatisch gefassten Naturbegriff, der in Auseinandersetzung mit der westlichen Philosophie als Entsprechung zur Analogielehre gelesen werden kann und damit dem neuen Interesse an der Analogie entspricht, das sich etwa in der englischen Übersetzung und Rezeption von Erich Przywara durch John Betz zeigt. 13 In dieser Perspektive müsste der geniale Entwurf von Thomas de Vio Cajetan „De nominum analogia“ (1498) mit seinem Plädoyer für eine (auf der Partizipationsanalogie aufruhenden) Proportionalitätsanalogie neu gelesen werden.
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Zu den Kardinaltugenden des Menschen gehört die Klugheit (prudentia), der die weitblickend vorausschauende Handlungskompetenz (providentia) als höchster Teil zugeordnet ist. „Klug“ ist der Mensch, der sein Denken und Handeln und dadurch seine Welt auf ihr Ziel hinordnet, insofern es der Wahrheit und Güte der Wirklichkeit, sagen wir: der Natur der kontingenten Schöpfung entspricht. Es geht also nicht um die funktionale Hinordnung auf ein äußerlich gesetztes Ziel, sondern um die Realisierung der inneren Potentialität des Endlichen. In diesem Sinne führt Thomas von Aquin bei der Bestimmung der Aspekte der Klugheit, prudentia, auch den Weitblick, providentia, an und sagt: Die providentia ist „der vorzüglichste unter allen Teilen der Klugheit, weil alles, was zur Klugheit erforderlich ist, dazu notwendig ist, dass etwas auf rechte Weise auf das Ziel hingeordnet werde. Und darum wird der Name ‚Klugheit‘ selbst von ‚Weitblick‘ hergenommen als von ihrem vorzüglichsten Teil“.14 „Weitblick“ als „Vorsehung“ meint ein Handeln, das Intellekt und Wille in Anspruch nimmt und damit zur Grundtugend des praktischen Lebens wird. Auf diese Weise lässt sich die providentia als Prädikat des Menschen bestimmen. Im antiken Kontext gebührte die Vorsehung dem weisen Herrscher; sie war ein Prädikat des römischen Imperators und verlieh ihm gottähnliche Züge. Es ist also eine unerhörte Kühnheit der Christ:innen, dieses Prädikat für Gott – und gerade deshalb für jeden glaubenden Menschen in der Gemeinschaft der Kirche – zu reklamieren. Der Mensch, der für sein Leben und seine Lebenswelt „Vorsehung“ ausübt, tritt keineswegs in Konkurrenz zu Gott; im Gegenteil: Er wird Gott immer ähnlicher, indem er seine kontingente Natur freiheitlich so gestaltet, wie es ihrer von Gott geschenkten Potentialität entspricht. In Jesu Rede über den Ernst der Nachfolge finden wir folgenden aufschlussreichen Vergleich: „Wenn einer von euch einen Turm bauen will, setzt er sich dann nicht zuerst hin und rechnet, ob seine Mittel für das ganze Vorhaben ausreichen? Sonst könnte es geschehen, dass er das Fundament gelegt hat, dann aber den Bau nicht fertigstellen kann. Und alle, die es sehen, würden ihn verspotten und sagen: Der da hat 14
STh II-II 49, 7 ad 1: „providentia est principalior inter omnes partes prudentiae: quia omnia alia, quae requiruntur ad prudentiam, ad hoc necessaria sunt, ut aliquid recte ordinetur in finem; et ideo nomen ipsius prudentiae sumitur a providentia, sicut a principaliori sua parte“.
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einen Bau begonnen und konnte ihn nicht zu Ende führen. Oder wenn ein König gegen einen anderen in den Krieg zieht, setzt er sich dann nicht zuerst hin und überlegt, ob er sich mit seinen zehntausend Mann dem entgegenstellen kann, der mit zwanzigtausend gegen ihn anrückt? Kann er es nicht, dann schickt er eine Gesandtschaft, solange der andere noch weit weg ist, und bittet um Frieden“ (Lk 14,28 –33). Wie viele und welche „Truppen“ müssen wir in unserer „Vorsehung“ bereitstellen können, um den Kampf um das ewige Leben und das Reich Gottes aufnehmen zu können? Jesu Rede nimmt eine überraschende Wendung: „Darum kann keiner von euch mein Jünger sein, wenn er nicht auf seinen ganzen Besitz verzichtet“ (Lk 14,33). Der menschliche Einsatz wird nicht ins Überdimensionale gesteigert, sondern zunächst in die völlige Unzulänglichkeit der eigenen Kräfte eingewiesen. Dadurch werden die Jünger und Jüngerinnen jedoch keineswegs handlungsunfähig. Sie entdecken eine der menschlichen Vorsehung im Horizont der göttlichen Vorsehung entsprechende Handlungsform. So können sie eine Zukunft herbeiführen, die einerseits der Vorsehung Gottes unterliegt und zu der wir in dieser Hinsicht nichts beitragen können, die jedoch andererseits der eigenen Vorsehung anvertraut ist und gerade dadurch die Vorsehung Gottes zur Geltung bringt. Dementsprechend heißt es im zweiten Petrusbrief, der nicht zufällig zu den Lesungen der Adventszeit gehört: „wie heilig und fromm müsst ihr […] leben, den Tag Gottes erwarten und seine Ankunft beschleunigen!“ (2 Petr 3,12). Wie können wir die Ankunft des Tages Gottes, ja der neuen Schöpfung, von der gleich danach die Rede ist, beschleunigen? Lesen wir diese Aussage in einem pantheistischen Weltbild, dann macht sie keinen Sinn, denn hier sind Gott und Mensch deckungsgleich, ob man es gnostisch einsieht oder nicht. In dem deistischen Trennungsmodell hingegen bleiben göttliches und menschliches Handeln einander ebenso äußerlich nebengeordnet wie Schöpfer und Schöpfung. Die Ankunft Gottes „beschleunigen“ könnte daher höchstens heißen: sich ethisch gut verhalten, damit unser Handeln eine göttliche Belohnung verdient. Die Schöpfungslehre in der Perspektive der kontingenten Teilhabe an der göttlichen Natur eröffnet eine alternative Sichtweise: Wir „beschleunigen“ die Ankunft Gottes, indem wir Gottes Vorsehungshandeln in unserem vorsehenden Handeln Raum geben, d. h. Gottes Handeln zu unserem Freiheitsvollzug machen. Das nennen Christ:innen „Gnade“, weil es sich der wach-
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senden Personwerdung der Geschöpfe in der Hinkehr zum Schöpfer verdankt. Theologisch betrachtet kann man von einem „sakramentalen Handlungsmodell“ sprechen, denn alle Elemente der Definition des Sakraments sind hier vorhanden: das äußere Zeichen = unser Handeln, die innere Gnade = Gottes in der Schöpfung wirksames Handeln, die Einsetzung durch und in Jesus Christus = unsere sakramentale Gemeinschaft mit Christus im Leib Christi, der Kirche, durch seinen Geist, grundgelegt in der Taufe, entfaltet in einer Lebensgestaltung aus dem Glauben und den Sakramenten. In dieser Perspektive ließen sich Leben und Wirken Jesu Christi als ein vollendetes Geschehen göttlicher Vorsehung in kontingenter endlicher Gestalt darlegen, das nicht nur ethisch vorbildhaft, sondern sakramental grundlegend ist: In Jesus dem Christus, dem wahren Gottessohn und wahren Menschensohn, sind göttliche und menschliche Natur in der ewigen Person des Logos geeint. Der göttliche Vollzug der Vorsehung konkretisiert sich in dem kontingenten historischen Selbstvollzug des Menschen Jesus. Bezeichnenderweise wird im Monotheletenstreit betont, dass Jesus über zwei Willen verfügt, da der Wille nicht allein als personale Entscheidung zur Geltung kommt, sondern Ausdruck der Natur ist. In Jesu Gebet am Ölberg zeigt sich die höchste Interaktion göttlicher und menschlicher Vorsehung: „Nicht wie ich will, sondern wie du willst“, betet Jesus am Ölberg (Mt 26,39). Die Negation des eigenen Willens umschließt eine noch tiefere Affirmation: Da die göttliche wie auch die menschliche Natur „Liebe“ ist (1 Joh 4,16) – auf göttlich-ewige und auf partizipativ-kontingente Weise –, bejaht Jesus in der Unterwerfung seines eigenen Willens unter den Willen Gottes die Liebe als seinen eigenen Wesensvollzug: „Da er die Seinen, die in der Welt waren, liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung“ (Joh 13,1). Gottes Vorsehung zum Heil der Welt wird zur menschlichen Vorsehung im Prozess Jesu, seiner Verurteilung, seinem Leiden und Tod – und zuhöchst in seiner Auferstehung, in der die liebende Vorsehung des Vaters sich bestätigt und damit den Sohn auch in seiner kontingenten geschichtlichen Natur zum ewigen Leben und Wirken beim Vater führt. Dort wirkt er seither mit den Engeln und Heiligen an der Vorsehung mit dem Ziel der neuen Schöpfung, des himmlischen Jerusalem, mit, wie die Offenbarung des Johannes zeigt. Eine vorsehungsbezogene Christologie könnte das alte Motiv Jesu als „Engel des großen Ratschlusses“ aufgreifen. Doch darüber dürfen Sie mich gern „ein andermal hören“ (Apg 17,32).
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Handeln Gottes aus analytischer Perspektive Georg Gasser 1. Eine erste Präliminarie: Zum Anliegen der „Analytischen Theologie“ In aktuellen religionsphilosophischen und theologischen Debatten wird immer wieder zwischen „analytischen“ und „nicht-analytischen“ Ansätzen unterschieden. Dabei werden „analytische“ Ansätze in der Theologie meist einer „kontinentalen“ Alternative gegenübergestellt, wobei die Unterscheidung vornehmlich die Methode bzw. den Stil des Theologietreibens betrifft. Michael C. Rea umschreibt das Unterfangen analytischer Theologie als „activity of approaching theological topics with the ambitions of an analytic philosopher and in a style that conforms to the prescriptions that are distinctive of analytic philosophical discourse“.1 Hierbei nennt Rea insbesondere zwei Kennzeichen analytischer Zugänge: Einerseits das Bemühen einzusehen, inwiefern unser Erkenntnisapparat verlässliches Wissen über die Welt erlangen kann. Andererseits das Bemühen, wahre explanatorische Theorien in jenen Bereichen der Wirklichkeit zu entwickeln, die außerhalb des Anwendungsbereichs der Naturwissenschaften liegen, etwa die Bereiche der Metaphysik, Ethik oder Theologie. Diese Charakterisierung verdeutlicht, dass analytische Zugänge gemeinhin mit einem ausdrücklichen Interesse an metaphysischen Fragestellungen assoziiert werden und dass diese vorwiegend realistisch gedeutet werden. Die entsprechenden Entwürfe zielen auf eine möglichst adäquate Darstellung einer vorfindlichen Wirklichkeit ab und es wird davon ausgegangen, dass das Ziel einer solchen Darstellung auch bis zu einem gewissen Grad erreicht werden kann. Ich möchte kurz auf diese realistische Auffassung von Metaphysik näher eingehen und ihre mögliche Relevanz für die Theologie erörtern. Unter Metaphysik verstehen wir das Bemühen, die allgemeinen Strukturen der Wirklichkeit ausfindig zu machen und in einen sys1
M. C. Rea, Introduction, in: O. Crisp/M. C. Rea (Hrsg.), Analytic Theology. New Essays in the Philosophy of Theology, Oxford 2009, 1–30, 7.
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tematischen Gesamtzusammenhang einzuordnen. So schreibt etwa Karl Rahner in Hörer des Wortes: „Der Mensch kann nie bloß bei diesem oder jenem allein denkend oder handelnd sich aufhalten. Er will wissen, was zumal in seiner Einheit, in der ihm alles schon immer begegnet, sei; er fragt nach den letzten Hintergründen, nach dem einen Grund aller Dinge, und insofern er alles einzelne als seiend erkennt, nach dem Sein alles Seienden; er treibt Metaphysik. […] Wir müssen also Metaphysik treiben, weil wir es immer schon tun.“2 Rahner geht also davon aus, dass es der Natur des Menschen eigentümlich ist danach zu fragen, was es denn mit der Wirklichkeit auf sich habe, d. h. wie die Dinge, die uns begegnen, aufeinander bezogen seien, was die Wirklichkeit letztlich im Dasein erhalte oder was das Ziel unserer Existenz sei. Insofern ist der Mensch von Natur aus ein auf metaphysische Fragen hin ausgerichtetes Wesen3, wenngleich er diese meist nicht systematisch und explizit weiterverfolgt. Im Hinblick auf die Theologie bedeutet dies, dass Metaphysik für sie in einem doppelten Sinn von besonderer Bedeutung ist: Zum einen geht jede systematische theologische Aussage mit gewissen metaphysischen Annahmen einher, nach deren Klärung und Berechtigung gefragt werden kann und soll. Zum anderen ist der Mensch von Natur aus auf metaphysische Fragen hin angelegt und somit kann die Theologie, wenn sie diesen Grundzug menschlicher Existenz nicht ausklammern möchte, nicht umhin, sich mit diesem genuin menschlichen Streben ebenfalls zu beschäftigen. Metaphysik ist nicht einfach ein zu vernachlässigender Fremdkörper griechischer Philosophie, der einst in die Theologie hineingeraten ist. Vielmehr kann eine Theologie, die in einem genuinen Sinn systematisch arbei2
K. Rahner, Hörer des Wortes. Zur Grundlegung einer Religionsphilosophie, München 1941, 44 – 45. 3 Erinnert sei an dieser Stelle an Kants bekannten Auftakt in seiner Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft: „Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“ (KrV A 7; zitiert nach I. Kant, Gesammelte Schriften, hrsg. von der königlichen preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff, IV, 7)
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tet und wahrheitsfähige Aussagen für sich beansprucht, sich ebenso wenig der Metaphysik entledigen wie eine Theologie, die den Menschen in seiner ganz eigentümlichen Existenzweise ernstnehmen will. Damit ist natürlich noch überhaupt nichts über metaphysische Inhalte und Zugangsweisen sowie ihre explanatorischen Stärken und Grenzen ausgesagt. Hingewiesen sei nur auf die Bedeutung der systematischen und anthropologischen Dimension der Metaphysik für die Theologie.4 Wenn Metaphysik als ein derartiges wertvolles Hilfsmittel für die Theologie angesehen wird und entsprechende Aussagen korrespondenztheoretisch interpretiert werden, d. h. theologische Aussagen als prinzipiell wahrheitsfähig angesehen werden, da ihnen im Idealfall wahrmachende Tatsachen in der Wirklichkeit entsprechen, dann erhellt diese Einschätzung auch, weshalb der „analytische Stil“ als begrifflich klar, argumentativ stringent, logisch kohärent und weitgehend nicht-metaphorisch gekennzeichnet wird.5 Wenn Proponent:innen analytischer Theologie davon ausgehen, dass wir in der Lage sind, prinzipiell wahre Theorien über die Wirklichkeit zu formulieren und diese Fähigkeit auch auf den Bereich der Theologie zutrifft, dann erscheint metaphorische Rede nur in gewissen, ausdrücklich zu spezifizierenden und begründenden Bereichen als angemessen. In allen anderen Bereichen ist davon auszugehen, dass wir – ähnlich wie in der empirischen Forschung – einen einigermaßen präzisen und klaren Zugriff auf die Wirklichkeit vornehmen können und dass dies grundsätzlich auch auf den Bereich der Theologie zutrifft.
2. Eine zweite Präliminarie: Die Begriffe „analytisch“ und „kontinental“ Nach diesen kurzen Ausführungen zum „metaphysisch-realistischen Grundzug“ analytischer Ansätze und dem damit verbundenen semantisch-methodischen Zugang sei in einem zweiten Schritt noch 4
Siehe dazu G. Gasser, Zum Verhältnis von analytischer Metaphysik und systematischer Theologie, in: P. B. Göcke/C. Pelz (Hrsg.), Die Wissenschaftlichkeit der Theologie, Bd. 3: Theologie und Metaphysik (STEP 13/2), Münster 2019, 249 –278. 5 Vgl. O. Crisp, On Analytic Theology, in: Analytic Theology (s. Anm. 1), 33 –53, 35.
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kurz auf die erwähnte Kontrastierung von „analytisch“ und „kontinental“ eingegangen.6 Erhellend ist hierbei Hans Glocks Monographie What is Analytic Philosophy?, die explizit der Frage nachgeht, was eigentlich analytische Philosophie ausmacht. Sein Ergebnis ist ziemlich ernüchternd: Er zeigt, dass weder unter geographischer, sprachlicher, historiographischer, inhaltlicher, methodischer oder ethisch-politischer Rücksicht ein klares Abgrenzungskriterium zwischen „analytisch“ und „nicht-analytisch“ ausgemacht werden kann.7 Am ehesten lässt sich eine Unterscheidung noch an der vornehmlichen Orientierung an gewissen Philosoph:innen festmachen. Wer meist Philosoph:innen wie Frege, Russell, Carnap, Ayer oder Quine und ihre Schüler:innen als Referenzautor:innen verwendet, wird eher der Philosophie in der analytischen Tradition zuzurechnen sein, während jemand, der sich an Nietzsche, Heidegger oder Derrida orientiert, sich vermutlich im kontinentalen Lager beheimatet fühlt. Inwieweit sich ein Begriff, der eine im 20. Jahrhundert entstandene (zuerst relativ eng umrissene) philosophische Tradition benennt, sinnvollerweise zur Charakterisierung einer allgemeinen Form des Philosophierens herangezogen werden kann, sei an dieser Stelle dahingestellt.8 Die Unterscheidung zwischen „analytisch“ und „kontinental“ ist folglich mit Vorsicht zu gebrauchen. Ich bin skeptisch, inwieweit es sich überhaupt um eine sachlich sinnvolle Differenzierung handelt. Aber da es sich in der Zwischenzeit um ein feststehendes Begriffspaar handelt, dürfte die Forderung, seine Verwendung weitgehend zu vermeiden, wohl auf taube Ohren stoßen. Eingefordert werden kann nur, dass dieses Begriffspaar nicht für eine unsachliche Disqualifizierung akademischer Peers herangezogen werden sollte, die sich 6 Siehe etwa H.-J. Höhn/S. Wendel/G. Reimann/J. Tappen (Hrsg.), Analytische und Kontinentale Theologie im Dialog, Freiburg i. Br. 2021 oder auch M. Blay/T. Schärtl/C. Tapp (Hrsg.), Stets zu Diensten? Welche Philosophie braucht die Theologie heute?, Münster 2018. 7 Vgl. H.-J. Glock, Was ist analytische Philosophie?, Darmstadt 2014. Ähnlich argumentiert P. Bieri, Was bleibt von der analytischen Philosophie?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (2007), 333 –344. 8 Es sei nur angemerkt, dass philosophiehistorische Größen wie Aristoteles, Descartes, Leibniz oder Locke in ihrem methodischen Vorgehen durchaus den zuvor genannten Kriterien analytischen Philosophierens entsprechen würden und auch häufig von sogenannten analytischen Philosoph:innen rezipiert werden.
Handeln Gottes aus analytischer Perspektive
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mit Inhalten beschäftigen und mit Methoden arbeiten, die nicht die eigenen sind. Soweit zu meinen Vorbemerkungen. In meinen Ausführungen zu analytischen Ansätzen zum Handeln Gottes limitiere ich mich weitgehend auf metaphysische Überlegungen, die sich insbesondere im Anschluss an David Humes empiristisch orientierter Wunderkritik entwickelt haben. Dabei handelt es sich natürlich um eine erhebliche Einschränkung angesichts der Tatsache, dass das weite Feld des Handeln Gottes epistemische, metaphysische und handlungstheoretische Fragen zum sogenannten allgemeinen und speziellen Handeln Gottes ebenso umfasst, wie die sich daraus unmittelbar ergebenden Debatten zu verschiedenen Themen wie Freiheit und Gnade, das Problem des Übels, die Verborgenheit Gottes oder der Zweck des Bittgebets. Diese Einschränkung erfolgt – abgesehen von Platzgründen – vor dem Hintergrund des Eindrucks, dass sich Humes Wunderkritik in ihrer grundsätzlich naturalistischen Stoßrichtung weiterhin als sehr wirkmächtig im Kontext des speziellen Handelns Gottes erweist. Es sind auch heute viele der Meinung, der klassische Wunderbegriff sei bestenfalls antiquiert-vorwissenschaftlich und schlimmstenfalls dunkler Aberglaube, der in einer aufgeklärten und von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen geprägten Weltdeutung keinen gerechtfertigten Platz mehr für sich reklamieren könne. Die Frage nach der metaphysischen Möglichkeit von Wundern ist damit letztlich Ausdruck der grundsätzlichen Debatte nach der Adäquatheit und Sinnhaftigkeit einer realistischen Deutung vom Handeln Gottes in der Welt. Und im Lichte des eingangs genannten Hinweises, analytische Theologie solle sich der Methoden und Einsichten der analytischen Philosophie bedienen, orientiere ich mich – etwas salopp formuliert – am Motto: „Ich zeige exemplarische Hilfsmittel auf, welche die analytische Philosophie bereitstellen kann; die Theologie hat darüber zu befinden, ob diese für ihre Theoriebildung auch zu gebrauchen sind!“
3. Humes Kritik am Wunderbegriff David Humes einflussreiche Wunderkritik findet sich im zehnten Abschnitt „Of Miracles“ seines Werkes An Enquiry Concerning Human Understanding (1748). Ohne auf die spezifischen empiristi-
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schen Vorannahmen Humes im Detail einzugehen, sei nur darauf verwiesen, dass ein zentraler Bestandteil von Humes Argumentation die Überzeugung ist, dass Erfahrung den wesentlichen Orientierungsmaßstab unseres Denkens bilden solle: Wer klug ist, passt seine Überzeugungen den jeweiligen Belegen („evidence“), wie überlieferten Beobachtungen und Erfahrungen, an.9 Dies bedeutet, dass einer Überzeugung, für welche wenige Belege vorliegen, natürlich mit entsprechender Vorsicht begegnet werden muss, da die Wahrscheinlichkeit ihrer Wahrheit als geringer einzuschätzen ist als bei Überzeugungen, die durch viele Belege gestützt werden. Wird daher etwas Außergewöhnliches beobachtet, so kommt es zu einer Spannung zwischen zwei verschiedenen Erfahrungen: Auf der einen Seite ist die (singuläre) Erfahrung eines außergewöhnlichen Ereignisses und auf der anderen Seite sind die vielen Erfahrungen des Gewöhnlichen und aus bisherigen Beobachtungen bereits Bekannten. Von diesen beiden widersprüchlichen Erfahrungen unterminiert die empirisch besser belegte die andere. Dies bedeutet, dass es vernünftig ist, der außergewöhnlichen Erfahrung, die anderen regulären Erfahrungen widerspricht, mit großer Vorsicht zu begegnen. Da außergewöhnliche Erfahrungen nur wenige Belege für sich verbuchen können, ist es naheliegend, sie als höchstwahrscheinliche Täuschungen einzuordnen. Diese Überlegungen gelten umso mehr für Wundererfahrungen. Da Wunder von den sicheren und gut belegten Erfahrungen des gewöhnlichen Naturverlaufs abweichen und zudem angenommen wird, dass ein Willensakt Gottes oder das Eingreifen eines übernatürlichen Akteurs ein Wunder herbeiführt, kennzeichnet Hume bekanntermaßen ein Wunder als eine Verletzung der Naturgesetze. Er schreibt: „A miracle is a violation of the laws of nature; and as a firm and unalterable experience has established these laws, the proof against a miracle, from the very nature of the fact, is as entire as any argument from experience can possibly be imagined.“10 Humes Überlegung lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Existenz eines vermeintlichen Naturgesetzes wird durch unsere 9
D. Hume, An Enquiry Concerning Human Understanding, hrsg. v. T. L. Beauchamp, Oxford 1999, 10.4, 170, schreibt: „A wise man, therefore, proportions his belief to the evidence.“ 10 Ebd., 10.12, 173.
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Beobachtung eines regulären Naturverlaufs gestützt. Wir und andere nehmen wahr, dass auf natürliche Ereignisse des Typs X stets Ereignisse des Typs Y folgen. Der beobachtete regelmäßige Naturverlauf rechtfertigt die Schlussfolgerung, dass ein Naturgesetz vorliegt, das besagt, dass allen Y-artigen Ereignissen immer und überall X-artige Ereignisse vorausgehen. Wenn also X gegeben ist, dann folgt darauf Y. Naturgesetze lassen sich daher als ausnahmslose Regelmäßigkeiten kennzeichnen. Wenn wir also im Lichte unserer bisherigen gesammelten Erfahrung jetzt erneut ein Ereignis vom Typ X beobachten, dann haben wir einen maximalen Grad an epistemischer Gewissheit, dass das darauffolgende Ereignis vom Typ Y sein wird. Wie Hume es ausdrückt, haben wir „eine feste und unveränderliche Erfahrung“ der entsprechenden Regelmäßigkeit. Würde diese hingegen nicht zutreffen, würde kein Naturgesetz vorliegen, sondern eine akzidentelle Regularität, die durch die erfolgte Abweichung als solche ersichtlich und klar von einem Naturgesetz abgegrenzt werden kann. Somit steht für Hume außer Zweifel, dass unter rationalen Gesichtspunkten die Akzeptanz eines Wunders als epistemisch unbegründet abzulehnen ist. Er betont: „No testimony is sufficient to establish a miracle, unless the testimony be of such a kind, that its falsehood would be more miraculous, than the fact, which it endeavours to establish.“11 Die Stoßrichtung dieser Fundamentalkritik an Wundern, die Wunder aus einem modernen Wirklichkeitsverständnis gänzlich verbannt wissen will, hat sich in der Moderne als sehr einflussreich erwiesen. So folgt etwa Rudolf Bultmann dem Hume’schen Gedankengang, wenn er schreibt: „Der Gedanke des Wunders als Mirakels ist für uns heute unmöglich geworden, weil wir das Naturgeschehen als gesetzmäßiges Geschehen verstehen, also das Wunder als eine Durchbrechung des gesetzmäßigen Zusammenhangs des Naturgeschehens; und dieser Gedanke ist uns heute nicht mehr vollziehbar. Und zwar nicht deshalb, weil ein solches Geschehen aller Erfahrung widerspräche, sondern weil die Gesetzmäßigkeit, die für uns im Gedanken der Natur eingeschlossen ist, nicht eine konstatierte, sondern eine vorausgesetzte ist, und weil wir uns von die11
Ebd., 10.13, 174.
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ser Voraussetzung nicht nach subjektivem Belieben freimachen können.“12 Bultmann ist natürlich zuzustimmen, dass wir nicht nach Belieben Dinge glauben können, wenn sie uns subjektiv als wünschenswert erscheinen. Aber Humes Überlegungen weisen eine Reihe offener Flanken auf, die eine kritiklose Zustimmung und Fortführung seiner Gedanken keinesfalls rechtfertigen. So betont etwa der Oxforder Theologe Keith Ward in seiner umfassenden Studie zum Handeln Gottes, dass ein beobachtungswissenschaftlich-empiristischer Zugang zur Wirklichkeit methodische Einschränkungen zu berücksichtigen habe, welche ein Erfassen von Wundern grundsätzlich verunmöglicht. Ein solcher Zugang ist außerstande, Phänomene zu erfassen, die nicht mess- und quantifizierbar sind oder sich durch Einmaligkeit auszeichnen, weil sie dann mit keiner Gesetzmäßigkeit erfasst werden können und nicht Teil eines geschlossenen Systems physikalischer Kräfte sind.13 Die Möglichkeit, dass Gott als allmächtiges Wesen durch einen Willensakt Veränderungen in der Welt herbeiführen kann, wird vielfach als eine widerspruchsfreie Denkmöglichkeit akzeptiert und kann somit nicht prinzipiell als rational ungerechtfertigt ausgeschlossen werden. Es gelte vielmehr, so Ward, eine Unschuldsvermutung bis zum Erweis des Gegenteils. Und ein solcher Erweis ist in seinen Augen schwer zu erbringen, da die Naturwissenschaften kein Erklärungsmonopol für sich beanspruchen können. Vielmehr sei zu bedenken, dass jedes wissenschaftliche Erklärungsmodell von den vielfältigen Aspekten der Wirklichkeit abstrahiere, um einige wenige relevante Parameter isoliert untersuchen zu können. Alle relevanten Einflussfaktoren eines Systems werden daher gar nicht berücksichtigt bzw. sind auch gar nicht bekannt.14 Annahmen wie die kausale Geschlossenheit des Universums, die explanatorische Überlegenheit naturwissenschaftlicher Erklärungszugänge oder die Möglichkeit einer umfassenden Beschreibung der Wirklichkeit durch die Natur12
R. Bultmann, Zur Frage des Wunders, in: ders., Neues Testament und christliche Existenz, hrsg. v. A. Lindemann, Stuttgart 1993, 84 –85. 13 Vgl. K. Ward, Divine Action. Examining God’s Role in an Open and Emergent Universe, Philadelphia 2007, 92. 14 Vgl. ebd., 98.
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wissenschaften sind philosophischer Natur und keinesfalls unumstritten. Sie stellen vielmehr Grundannahmen einer naturalistischen Weltsicht dar, die von vorneherein die Existenz Gottes und somit auch Gottes mögliches Handeln in der Welt ausschließen. Schließlich gehe es bei Hume nur isoliert um Wunder als Eingreifen Gottes in ein naturgesetzlich bestimmtes Weltgeschehen, während die eigentlichen theologischen Dimensionen göttlichen Wirkens wie die Ermöglichung einer persönlichen Gottesbeziehung, die Heilsabsicht Gottes oder die Vollendung der Schöpfung keine wesentliche Rolle spielen.15 Diese kurz skizzierten Überlegungen zeigen, dass ein Zurückweisen der Wunderkritik Humes keinesfalls eine Absage an Wissenschaft und Aufklärung impliziert, sondern nur überzogene empiristisch-naturalistische Grundannahmen aus guten Gründen abgelehnt werden können. In den folgenden Abschnitten diskutiere ich nicht diese Überlegungen Keith Wards im Detail, sondern ich gehe näher auf den metaphysischen Unterbau des Hume’schen Begriffs des Naturgesetzes und den damit verknüpften Wunderbegriff ein. Hierbei nehme ich insbesondere auf aktuelle wissenschaftstheoretische und metaphysische Debatten Bezug, die häufig unter dem Label „dispositionaler Realismus“ bzw. „Metaphysik kausaler Kräfte“ („causal powers“) firmieren und bewusste Gegenentwürfe zu einer metaphysischen Deutung der Wirklichkeit entlang Hume’scher Intuitionen darstellen.
4. Die Hume’sche Metaphysik und die Metaphysik des dispositionalen Realismus Hume bestimmt ein Naturgesetz als ausnahmslose Regularität einer Ereignisfolge. Dabei betont er, dass wir Kausalbeziehungen zwischen den aufeinanderfolgenden Ereignissen nicht direkt beobachten und erfahren können, sondern sie werden vielmehr aus der wiederholten Wahrnehmung, dass auf einen Ereignistyp stets ein anderer folgt, abstrahiert. Ein propter hoc lässt sich nicht finden; wir nehmen einzig und allein ein post hoc wahr. Dies ist der erfahrungsmäßige Beleg; darüberhinausgehende Annahmen einer unmittelbaren kausalen
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Vgl. ebd., 180 –182.
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Verknüpfung zwischen den jeweiligen aufeinanderfolgenden Ereignissen sind hingegen eine durch unseren Geist erzeugte Assoziation. Daher charakterisiert Hume Kausalität an einer Stelle folgendermaßen: „This connection [Anm. G. Gasser: Kausalität], therefore, which we feel in the mind, this costumary transition of the imagination from one object to its usual attendant, is the sentiment or impression, from which we form the idea of power or necessary connexion. […] When we say, therefore, that one object is connected with another, we mean only, that they have acquired a connexion in our thought […].“16 Ob diese These tatsächlich Humes finale Analyse des Kausalbegriffs darstellt oder auch andere Interpretationen naheliegend sind, sei hier dahingestellt. Faktisch gesehen war diese Deutung von Kausalität als bloße Regularität aber ein sehr wirkmächtiges Erbe der Philosophie Humes. So orientiert sich etwa der einflussreiche analytische Metaphysiker David Lewis an dieser Kausalitätsauffassung und schlägt eine entsprechende metaphysische Grundstruktur der Wirklichkeit vor: „Humean supervenience is named in honor of the great denier of necessary connections. It is the doctrine that all there is to the world is a vast mosaic of local matters of particular fact, just one little thing and then another.“17 Das von Lewis verwendete Bild des Mosaiks bringt deutlich die Quintessenz der Hume’schen Deutung der Wirklichkeit zum Ausdruck. Die Welt ist metaphysisch gesehen eine Verteilung lokaler Eigenschaften, die an einzelnen Punkten der Raum-Zeit instanziiert sind und keine Verbindung zu anderen Eigenschaften, die an anderen Punkten der Raum-Zeit instanziiert sind, aufweisen. So wie Mosaiksteine letztlich nebeneinander liegend auf eine bestimmte Weise angeordnet, aber nicht miteinander verbunden sind, so treten auch die Eigenschaften unserer Welt intrinsisch und nichtrelational an einzelnen Punkten in der Raum-Zeit auf. Die zentrale These besagt somit, dass keine Entität kausal auf andere Entitäten einwirken kann. Die Gesamtverteilung dieser grundlegenden Entitäten ist eine 16
D. Hume, An Enquiry Concerning Human Understanding (s. Anm. 9), 7.28, 145. 17 D. Lewis, Papers in Metaphysics and Epistemology, Cambridge 1999, ix.
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basale metaphysische Tatsache. Es gibt keine weiterführenden Erklärungen dafür, wie es zur faktischen Verteilung, die unsere Welt konstituiert, gekommen ist. Diese Verteilung ist vielmehr als ein kontingentes factum brutum zu akzeptieren.18 Diese kurze Skizzierung von an sich durchaus komplexen metaphysischen Überlegungen soll deutlich machen, dass die Hume’schen Überlegungen bzw. deren metaphysische Weiterentwicklung keinesfalls unseren Alltagsintuitionen entsprechen bzw. alternativlos sind. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass eine unter empiristischen Vorzeichen geführte Diskussion zum Kausalbegriff in den letzten Jahrzehnten verstärkt unter Beschuss geraten ist und eine metaphysisch robustere Auffassung von Kausalität eingefordert wird. So beobachten wir in der Philosophie der Physik zunehmend realistische Deutungen kausaler Kräfte als dispositionale Eigenschaften natürlicher Substanzen. Das Wirken einzelner Substanzen dank ihres kausalen Profils auf andere Substanzen wird als Kernbegriff der Kausalität verstanden. Es geht um singuläre kausale Beziehungen und nicht um einen generischen Kausalbegriff aufgrund regelmäßiger Ereignisfolgen. Passend dazu wird in der Kausalitätstheorie wieder vermehrt für die These plädiert, dass der Kausalbegriff nicht regularitätstheoretisch analysiert (und reduziert) werden könne, sondern ein nicht weiter analysierbarer Grundbegriff einer wissenschaftlichen Weltdeutung sei.19 Kausalität wird als ein grundlegender metaphysischer Bestandteil der Wirklichkeit gedeutet und nicht als ein vom Weltverlauf abgeleitetes, sekundäres Phänomen.20 Und in der Wissenschaftstheorie machen prominente Stimmen darauf aufmerksam, dass die Hume’sche Vorstellung eines Naturgesetzes als ausnahmslose Ereignisabfolge bestenfalls als Idealisierung und Abstraktion von tatsächlichen Ereignisverläufen zu betrachten sei, die höchstens unter sehr spezifischen und künstlich erzeugten Laborbedingungen zutreffe. In der 18
Für eine ausführliche Beschäftigung mit diesem ontologischen Entwurf siehe M. Esfeld, Naturphilosophie als Metaphysik der Natur, Frankfurt a. M. 2008, Kap. 5.1, 137–155. 19 So z. B. R. Swinburne, The Irreducibility of Causation, in: Dialectica 51 (1997), 79 – 92, 86. 20 Die Wissenschaftstheoretiker J. Bigelow/R. Pargetter, Metaphysics of Causation“, in: Erkenntnis 33 (1990), 89 –119, 98, schreiben: „We take causation to be part of the basic furniture of nature, and as such it […] is an input for theories of modality and probability, not an output.“
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wirklichen Welt hingegen gebe es keine ausnahmslosen Regularitäten, da Kausalabläufe in ihrer Regelmäßigkeit immer wieder von anderen Kausalfaktoren gestört werden. Die tatsächliche Welt ist sozusagen kausal zu dicht und zu chaotisch für ausnahmslose Regularitäten.21 Im Lichte dieser Überlegungen wäre es kaum strittig zu behaupten, dass sich aus unserer Beobachtung, auf alle X-ähnlichen Ereignisse folgen Y-ähnliche Ereignisse, mit hoher epistemischer Gewissheit der Schluss ziehen ließe, dass es sich auch im vorliegenden Fall und in vergleichbar gelagerten zukünftigen Fällen so verhalten werde. Es ist durchaus vernünftig, einen solchen Verlauf der Natur zu erwarten. Ein möglicher alternativer Verlauf – wie minimal seine Wahrscheinlichkeit auch sein mag – sollte allerdings zumindest wegen möglicher und uns nicht bekannter zusätzlicher Kausalfaktoren nicht ausgeschlossen werden.22 Das Problem ist, dass Hume solche Ausnahmen aber offensichtlich nicht zulässt. Sie zerstören den Begriff des Naturgesetzes als ausnahmslose bzw. notwendige Regularität.
5. Implikationen für den Wunderbegriff Für den Wunderbegriff ergeben sich aus dieser Notwendigkeitsthese problematische Konsequenzen. Offensichtlich macht der Hume’sche Begriff des Naturgesetzes Wunder nicht nur höchst unwahrscheinlich (eine Annahme, die – wie gesagt – als plausibel akzeptiert werden kann), sondern eigentlich begrifflich unmöglich, da ein Wunder ein Naturgesetz verletzen würde, aber ein solcher Verstoß per definitionem nicht vorkommen kann. Schließlich sind Naturgesetze ja als ausnahmslose Regularitäten bestimmt worden.23 Neben dieser begrifflichen Unmöglichkeit sind Wunder aber auch natürlich unmög21
Vgl. N. Cartwright, The Dappled World. A Study of the Boundaries of Science, New York 1999, 2–3. 22 Tim J. Mawson weist deswegen darauf hin, dass bei statistischen Wahrscheinlichkeiten von einer Verletzung eines Naturgesetzes keine Rede sein kann, da Abweichungen vom zu erwartenden Verlauf möglich sind. Siehe T. J. Mawson, Miracles and Laws of Nature, in: Religious Studies 37 (2001), 33 –58, 43: „If the laws of nature are fundamentally statistical, then events which we would wish to describe as miracles and yet which would not (strictly speaking) violate the laws of nature may occur.“ 23 Siehe dazu z. B. J. Archer, Against Miracles as Law-Violations. A Neo-Aristote-
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lich, weil Naturgesetze schließlich den Bereich des natürlich Möglichen beschreiben, indem sie sich auf den tatsächlichen Weltverlauf beziehen. Ein Wunder als Verletzung eines Naturgesetzes kann es eigentlich nicht geben, weil dann die für ein Naturgesetz erforderliche ausnahmslose Regularität nicht mehr gegeben wäre. Dieses Zusammenfallen von begrifflicher und natürlicher Unmöglichkeit könnte mithilfe des Begriffs möglicher Welten vermieden werden, indem man wie folgt argumentiert: Ein natürlich unmögliches Ereignis unterscheidet sich von einem begrifflich unmöglichen Ereignis dadurch, dass es nur in unserer Welt sowie in jenen Welten unmöglich ist, in denen die gleichen Naturgesetze wie in unserer Welt gelten. In möglichen Welten mit anderen Naturgesetzen kann ein Ereignis, das in unserer Welt natürlich unmöglich ist, natürlich möglich sein. Die Unterscheidung zwischen begrifflicher und natürlicher Unmöglichkeit lässt sich also durch den Bezug auf anders beschaffene mögliche Welten spezifizieren. Das wesentliche Problem dieses Vorschlags ist, dass er nicht das erfasst, was die meisten Menschen unter einem Wunder verstehen. Mit der Rede von Wundern beziehen wir uns gemeinhin nämlich nicht auf mögliche Welten, sondern wir meinen damit ein in unserer Welt begrifflich mögliches, aber von Natur aus unmögliches Ereignis, das von Gott verursacht wurde.24 Es gibt verschiedene Gründe, einen uns vertrauten Wunderbegriff einer naturalistischen Deutung von Wundern durch den Verweis auf mögliche Welten vorzuziehen: lian Approach, in: European Journal for Philosophy of Religion 7 (2015), 83 – 98, 85f. 24 Eine weniger anspruchsvolle Bedeutung des Wunderbegriffs würde besagen, dass ein Ereignis von Gott verursacht wird, unabhängig davon, ob dieses in den Bereich natürlicher Unmöglichkeit oder Möglichkeit fällt. In ScG III, 101 unterscheidet Thomas von Aquin etwa zwischen logisch möglichen, aber von Natur aus unmöglichen Ereignissen sowie logisch und von Natur aus möglichen Ereignissen, die jeweils von Gott verursacht werden. In beiden Fällen haben wir es dank göttlicher Verursachung mit Wundern zu tun, wobei der zweite Fall im Vergleich zum ersten ein Wunder in einem schwächeren Sinn darstellt, weil dieses Ereignis auch durch natürliche Ursachen hätte hervorgerufen werden können. Eine solche (schwächere) Deutung wird auch in S. Mumford, Normative and Natural Laws, in: Philosophy 75 (2000), 265 –282, 280, vorgeschlagen, wenn er Wunder definiert als „natürliche Ereignisse oder Tatsachen, die eine übernatürliche Ursache haben“.
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Zum einen betont er die klassische, theologische Bedeutung von „Wunder“ als göttlich verursachtes Ereignis. Es bedarf keiner ausgeklügelten Neuinterpretation durch den Verweis auf mögliche Welten mit alternativen Naturgesetzen.25 Zum anderen zerstört das Auftreten eines Wunders nicht ein angebliches Naturgesetz, weil der Notwendigkeitscharakter nicht mehr zum Begriff des Naturgesetzes gehört, selbst wenn dieses auf alle anderen ähnlichen Fälle weiterhin anwendbar wäre, da das Wunder eine einmalige Ausnahme von der Regularität darstellt. Wäre es nicht einfacher, in einem solchen Fall ein Wunder als eine solche singuläre Ausnahme anzuerkennen als ein bisher gut belegtes Naturgesetz wegen einer einzigen Ausnahme über Bord zu werfen? Diese Überlegungen zeigen, dass wir einen Begriff des Naturgesetzes bevorzugen sollten, der Ausnahmen von allgemeinen Regularitäten zulässt. Und wir sollten nach einem Begriff des Wunders suchen, der es zulässt, diese als Ereignisse anzusehen, die nicht in der natürlichen Struktur der involvierten Substanzen gänzlich aufgehen. Im nächsten Abschnitt wird daher ein alternativer – und meines Erachtens naheliegender – Begriff von Naturgesetz präsentiert, der sogenannte normative Ansatz.26
6. Eine normative Deutung von Naturgesetzen Der einflussreiche analytische Metaphysiker E. J. Lowe sieht in Naturgesetzen wichtige strukturelle Parallelen zu moralischen Prinzipien oder rechtlichen Gesetzen. Normative Begriffe besagen, dass etwas der Fall sein sollte (oder nicht): Wenn der Staat die Zahlung von Steuern vorschreibt, dann sollte ich meine Steuern zahlen; wenn moralische Güte von mir verlangt, Bedürftigen zu helfen, dann sollte 25
Siehe zu diesem Vorschlag etwa kritisch E. J. Lowe, Miracles and Laws of Nature“, in: Religious Studies 23 (1987), 263 –278, 272: „The [Anm. G. Gasser: Humean] proposal is therefore an insult to the intelligence of those who believe that they can imagine a miracle to have occurred, implying as it does that they are simply confused.“ 26 Siehe z. B. die Arbeiten der Metaphysiker E. J. Lowe, Miracles and Laws of Nature, 263 –278; S. Mumford, Normative and Natural Laws, 265 –282 und S. Mumford, Miracles: Metaphysics and Modality, in: Religious Studies 37 (2001), 191–202.
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ich Bedürftigen helfen; wenn es verboten ist, im Hotelzimmer zu rauchen, dann sollte ich dort nicht rauchen. In ähnlicher Weise sagt uns ein Naturgesetz, wie eine Entität x einer bestimmten Art K unter gegebenen Umständen eine Reihe von charakteristischen Dispositionen zeigen wird, d. h., wie diese Entität x unter diesen Umständen wahrscheinlich reagieren wird. Wenn wir zum Beispiel behaupten, dass eine bestimmte Chemikalie x explosiv ist, so sagen wir, dass x bestimmte Dispositionen oder Eigenschaften besitzt, weil diese für Entitäten der Art K typisch sind und x zur Art K gehört. Ein Naturgesetz drückt daher aus, welches Verhalten von x als Entität der Art K unter bestimmten Umständen erwartet wird.27 Lowes normativer Zugang besagt, dass ein Naturgesetz eine dispositionelle Prädikation und einen substanziellen Artbegriff enthält, d. h. es gibt die Dispositionen an, die für eine bestimmte Art charakteristisch sind. Ein Naturgesetz bezieht sich folglich auf die Dispositionen des Verhaltens, die typischen Individuen einer zu spezifizierenden Art zukommen. Es sagt nicht aus, wie sich z. B. ein Individuum x der Art K notwendigerweise verhalten wird; es sagt vielmehr nur, welches Verhalten von einem Individuum dieser Art unter bestimmten Umständen zu erwarten ist.28 Dementsprechend können Beispiele für Naturgesetze wie „Reines Wasser erreicht seine maximale Dichte bei 4 °C“ oder „Eisbären haben ein weißes Fell“ auch dann wahr sein, wenn aus irgendeinem Grund nicht alle Instanzen von reinem Wasser ihre maximale Dichte bei 4 °C erreichen oder wenn ein Eisbär aufgrund besonderer Umstände mit einem braunen Fell geboren wird. Ein entscheidender Vorteil einer normativen Deutung eines Naturgesetzes gegenüber dem Hume’schen Regularitätsansatz ist, dass Ausnahmen möglich sind, da ein Naturgesetz eine zu erwartende Norm und keine Notwendigkeit des Verhaltens spezifiziert.
27 Vgl. E. J. Lowe, The Four-Category Ontology. A Metaphysical Foundation for Natural Science, Oxford 2006, 8.4 – 8.6, 124 –128. 28 Der hierbei verwendete metaphysische Begriffsrahmen des dispositionalen Realismus wird manchmal auch als „neo-aristotelisch“ bezeichnet, weil die zentrale metaphysische Kategorie die (erste) Substanz samt der ihr zukommenden dispositionalen Eigenschaften ist. Siehe z. B. J. Archer, Against Miracles as LawViolations (s. Anm. 23).
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Ein derartiger normativer Zugang zu Naturgesetzen unterminiert keinesfalls die klassische Unterscheidung zwischen deskriptiven und normativen Tatsachen, da er durch den Verweis auf Dispositionen der involvierten Substanzen expliziert werden kann.29 Wenn ich etwa auf eine gesetzesmäßige Aussage wie „Eisbären sind weiß“ verweise, so bedeutet dies, dass ich mich auf Mitglieder der Art „Eisbär“ beziehe und von diesen sage, dass sie die Disposition haben, ein weißes Fell zu haben. Sage ich hingegen, dass dieser Eisbär weiß ist, so beziehe ich mich auf eine konkrete Realisierung der Art „Eisbär“, der die typische Disposition, weiß zu sein, verwirklicht hat. Unter der Annahme, dass Dispositionen reale Eigenschaften in der Welt sind, lässt sich somit sagen, dass der normative Charakter von Naturgesetzen deutlich macht, welche Dispositionen den Mitgliedern einer bestimmten substanziellen Art zukommen – ob diese Dispositionen dann auch tatsächlich verwirklicht und sichtbar werden, ist hingegen eine davon verschiedene Frage. Dies zeigt sich etwa beim Vergleich zweier identischer Weltverläufe. Beide Weltverläufe können in ihrem tatsächlichen Verlauf identisch sein. Dies bedeutet aber noch nicht, dass sie auch identisch simpliciter sind, da sich ihr „ontologischer Unterbau“ sehr wohl unterscheiden kann. Es könnte Dispositionen geben, die Teil einer Welt, aber nicht der anderen Welt sind. Wenn diese Dispositionen jedoch noch nicht realisiert worden sind, ergibt sich keine manifeste Veränderung im jeweiligen Weltverlauf, weshalb der irreführende Eindruck entstehen kann, dass beide Welten identisch sind. Ein Naturgesetz als Norm zu deuten, die das kausale Profil oder das Spektrum an Verhaltensdispositionen angibt, die den Individuen der betreffenden Art innewohnen, erlaubt es uns somit, hier eine entsprechende Unterscheidung zu treffen, obwohl diese nicht epistemisch manifest sein muss. Und Abweichungen von bisher beobachteten Verhaltensweisen mögen überraschend sein, aber sie heben da29
Zur Metaphysik der Dispositionen siehe etwa Referenzwerke wie G. Molnar, Powers. A Study in Metaphysics, hrsg. v. S. Mumford, Oxford 2006; M. Kistler/B. Gnassounou (Hrsg.), Dispositions and Causal Powers, Aldershot 2007; A. Chakravartty, A Metaphysics for Scientific Realism. Knowing the Unobservable, Cambridge 2007; T. Handfield (Hrsg.), Dispositions and Causes, Oxford 2009; A. Marmadoro, The Metaphysics of Powers. Their Grounding and Their Manifestations, New York 2010 oder S. Mumford/R. L. Anjum, Getting Causes from Powers, Oxford 2011.
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durch ein Naturgesetz, das in diesem Zusammenhang formuliert worden ist, noch nicht automatisch auf. Abweichungen lassen sich als Manifestation anderer Dispositionen in speziellen Situationen deuten bzw. es lässt sich sagen, dass die Realisierung der gewohnten Dispositionen in diesen speziellen Umständen nicht begünstigt wird und daher ausbleibt, weshalb es zur Realisierung anderer, ebenfalls den betroffenen Entitäten innewohnenden Dispositionen kommt.
7. Wunder innerhalb des dispositionalen Realismus Wie verhält sich der skizzierte dispositionale Realismus samt der damit verknüpften normativen Deutung von Naturgesetzen zum Wunderbegriff? Ein naheliegender Vorschlag lautet, dass Gott in einem Wunder die unter natürlichen Umständen verborgene Disposition eines Dings aktiviert, so dass diese sich manifestieren kann. Ein hierfür bemühtes Beispiel aus der scholastischen Theologie sind etwa die drei jungen Männer im Buch Daniel 3,27. Dort heißt es, dass ihnen Feuer keinen Schaden mehr zufügen kann, weil es keine Macht mehr über sie hat.30 Vor dem Hintergrund eines dispositionalen Realismus lässt sich diese Passage so (metaphysisch) deuten, dass Feuer deswegen keine Macht über die Körper hat, weil in dieser außergewöhnlichen Situation das Wunder darin besteht, dass eine zusätzliche Kraft durch göttliche Intervention aktiviert wird, welche die zerstörerische Kraft des Feuers für Lebewesen blockiert. Diese Disposition wohnt dem Körper zwar grundsätzlich inne, aber unter den uns vertrauten irdischen Bedingungen wird sie nicht manifestiert.31 Durch göttliche Intervention bleiben die ursprünglichen Naturgesetze zwar gültig, da die entsprechende dispositionale Basis dafür weiterhin besteht. Durch die übernatürliche Macht Gottes kann sich das dispositionale Setup dieser Basis aber nicht in der gewohnten Weise manifestieren. Darin äußert sich für uns das Wunder. 30
Siehe dazu T. von Aquin, De Veritate 6, 2 ad 3. Es sei darauf hingewiesen, dass das Instrumentarium der historisch-kritischen Exegese und sonstiger theologisch-hermeneutischer Zugänge zu solchen Bibelstellen hier bewusst ausgeklammert wird, da es nur um die mögliche metaphysische Deutung eines Wunders gehen soll.
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Eine strukturell ähnliche Ansicht findet sich, wie bereits kurz angedeutet, bei Thomas von Aquin. So diskutiert er in der Summa contra Gentiles die Möglichkeit, dass Gott jenseits („preater“) der natürlichen Ordnung handelt. Für Gott würde ein Wunder nur dann gegen die natürliche Ordnung verstoßen, wenn die natürlichen Ursachen ihre Wirkungen notwendigerweise hervorbringen würden (was der Hume’schen Position entspricht). Dies ist jedoch nicht der Fall, da die den Dingen innewohnenden Dispositionen ihre charakteristischen Wirkungen mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zeitigen: Es gibt eine gewisse Neigung eines Dings, „mehr dies als das zu tun“32; darin gründet die uns bekannte Regelmäßigkeit der Natur, die aber durchaus Ausnahmen zulässt. Thomas von Aquin schreibt: „Wenn nun jemand sagt, dass, da Gott den Dingen diese Ordnung auferlegt hat, die Erzeugung einer Wirkung in den Dingen unabhängig von ihren eigentlichen Ursachen und außerhalb der von ihm auferlegten Ordnung nicht ohne eine Veränderung dieser Ordnung möglich sei, so kann dieser Einwand durch die Natur der Dinge selbst widerlegt werden. Denn die Ordnung, die Gott den Dingen auferlegt hat, beruht auf dem, was in den meisten Fällen in den Dingen vorkommt, aber nicht auf dem, was immer so ist. In der Tat erzeugen viele natürliche Ursachen ihre Wirkungen auf dieselbe Weise, aber nicht immer.“33 Vor diesem Hintergrund ist es irreführend, von einem „Durchbrechen der natürlichen Ordnung“ oder einer „Verletzung der Naturgesetze“ bei Wundern zu sprechen, da die in diesen Redeweisen vorausgesetzte modale Kraft der Notwendigkeit in der Natur schlichtweg nicht vorhanden ist.34
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Siehe T. von Aquin, STh I-II 1, 2: „Denn, wenn ein Akteur nicht auf eine Wirkung ausgerichtet wäre, würde er nicht dieses mehr tun als jenes.“ 33 T. von Aquin, ScG III, 99, n. 9. 34 Ich merke nur an, dass etwa die Metaphysiker Mumford und Anjum explizit dafür argumentieren, dass Notwendigkeit und Möglichkeit nicht die beiden einzigen Modalitäten sind, sondern dass es noch eine dritte, meistens übersehene, aber ubiquitäre Modalität gibt: dispositionale Modalität, d. h. die Disposition eines Dings auf eine Wirkung ausgerichtet zu sein, ohne diese notwendigerweise verursachen zu müssen. Siehe R. L. Anjum/S. Mumford, What Tends to Be. The Philosophy of Dispositional Modality, New York 2018.
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Thomas von Aquin nennt verschiedene Bedingungen, die für die Erzeugung einer von der natürlichen Ordnung abweichenden Wirkung verantwortlich sind. Eine dieser Bedingungen ist, dass das einwirkende Agens eine größere Kraft hat als das Ding, worauf es wirkt. Als Beispiel dient Thomas von Aquin die Gezeitenströmung, da hier der Mond als himmlischer, „höherer“ Körper auf den natürlichen, „niedrigeren“ Körper des Wassers einwirkt. Die natürliche Neigung des Wassers, träge zu sein, wird auf diese Weise durch die stärkere Neigung des Himmelskörpers, andere Körper anzuziehen, überwunden. Diese Wechselwirkung zwischen den beiden Körpern ist nicht „gewaltsam“ (non violentus), sondern entspricht ihrer jeweiligen Natur. Analog dazu kann Gott – der die maximale Kraft hat und die höchste Macht ist – frei auf jedes Geschöpf einwirken, ohne dabei dessen natürliche Dispositionen zu zerstören. Da sie von der größeren Kraft Gottes überlagert werden, manifestieren sie sich einfach nicht.
8. Wunder: Obstruktion oder Transzendierung natürlicher Dispositionen? Wenn in einem Wunder Gott die Manifestationstendenz der Dispositionen einer Substanz aufhebt, so stellt sich die Frage, inwiefern ein solches übernatürliches Einwirken existenz- und identitätsbedrohend werden kann. Die Frage nach dem Fortbestand der involvierten Substanzen ist deswegen zentral, weil für eine realistische Darstellung von Dispositionen es sinnvoll anzunehmen ist, dass die Existenz- und Identitätsbedingungen eines Dings von seinen Dispositionen abhängen. Damit ein Ding in der Zeit fortbestehen kann, scheint eine Art innerer Kausalzusammenhang zwischen den früheren und späteren Zuständen des Dings erforderlich zu sein, der sich aus den dem Ding innewohnenden Dispositionen ergibt. Eine Eiche, die aus irgendeinem Grund plötzlich nicht mehr Eichenblätter, sondern Kiefernnadeln ausbildet, kann kaum mehr als Eiche angesehen werden: Es scheint eine wesentliche Veränderung an ihr stattgefunden zu haben. Eine Substanz ist das, was sie aufgrund ihrer Dispositionen und Kräfte ist, und wenn sich diese Dispositionen und Kräfte plötzlich ändern, dann ist es naheliegend zu fragen, wie tiefgreifend diese Veränderung ist: Betrifft sie nur akzidentelle Eigenschaften oder ist sie substanzieller Art?
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Dieser enge Zusammenhang von dispositionalem Setup und Natur eines Dings führt zur Sorge, dass Gottes Handeln die natürlichen Dispositionen einer Substanz verändern und damit ihre Existenz bedrohen könnte. Wenn die Körper der drei Jünglinge durch göttliches Eingreifen die Fähigkeit erhalten, unversehrt im Feuer zu bleiben, dann stellt sich die Frage nach der Natur dieser Körper. Wenn es eine unmittelbare Folge der Natur eines organischen Körpers ist, von Feuer verletzt zu werden, dann scheint der Entzug dieser Disposition einer substanziellen Veränderung gleichzukommen, was bedeuten würde, dass der ursprüngliche, biologische Körper zu existieren aufgehört hat. Sind die drei Jünglinge, die in das Feuer hineingeworfen wurden, dann aber noch dieselben wie diejenigen, die im Feuer stehen, wenn ihre Körper dabei unversehrt bleiben? Ist die Annahme naheliegend, dass Gott im Wunder eine Substanz durch eine neue ersetzt? Ich diskutiere vier mögliche Antworten auf diese Frage. Die erste Antwort lautet: Stellen wir uns vor, dass eine natürliche Tatsache, z. B. eine Krankheit, das Nervensystem angreift und uns daran hindert, die Gliedmaßen zu bewegen. Auch wenn diese Veränderung unser Leben erheblich beeinträchtigt, so ist sie doch nicht so grundlegend, dass wir aufhören zu existieren. In ähnlicher Weise verhindert das Eingreifen Gottes die Manifestation bestimmter natürlicher Dispositionen, während die restlichen Dispositionen, die unsere Natur ausmachen, davon unberührt bleiben. Solange eine ausreichend große Zahl der typischen Dispositionen erhalten bleibt, ist die Identität der Substanz, auf die Gott einwirkt, nicht bedroht. Ein möglicher Einwand könnte lauten, dass die Analogie mit der Krankheit nicht überzeugend ist, da es vernünftig ist anzunehmen, dass es eine Art natürliche Übereinstimmung zwischen der Krankheit und unserem Nervensystem selbst gibt. Während das Nervensystem eine natürliche Veranlagung hat, von dieser Krankheit betroffen zu sein, und die Krankheit die natürliche Disposition hat, ein menschliches Nervensystem zu beeinträchtigen, scheint es im Falle eines Wunders keine entsprechende natürliche Veranlagung auf Seiten des Geschöpfes zu geben, da ein Wunder den Bereich des Natürlichen transzendiert. Zudem deuten Wunder auf tiefergehende Veränderung hin als die im Beispiel genannte. Wasser, das sich in Wein verwandelt; Feuer, das menschlichen Körpern nichts anhaben kann; Menschen, die von den Toten auferstehen: In all diesen Fällen
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rücken die natürlichen Dispositionen der beteiligten Substanzen gänzlich in den Hintergrund, denn Wasser und Wein bzw. ein Leichnam und ein lebendiger Körper haben kaum etwas gemein. Die zweite Antwort lautet: E. J. Lowe unterscheidet zwischen den sortalen Persistenzbedingungen und den Identitätsbedingungen einer Entität.35 Erstere sind die Bedingungen, unter denen eine individuelle Substanz als eine Instanz einer substanziellen Art fortbesteht. Letztere sind die Bedingungen, unter denen eine individuelle Substanz in der Zeit re-identifizierbar ist. Die Unterscheidung dieser beiden Arten von Bedingungen ermöglicht es uns, die metaphysische Möglichkeit radikaler Veränderungen zu erklären. Es könnte metaphysisch möglich sein, dass ein Lebewesen, z. B. Actaeon, sein Leben als Mensch beginnt und dennoch einen Prozess der Metamorphose in einen Hirsch überlebt. Da jedoch die sortalen Persistenzbedingungen des Menschen diese Art von Veränderung nicht zulassen, ist Actaeon nach der Metamorphose kein Mensch in der Gestalt eines Hirsches, sondern ein echter Hirsch. Er macht keine bloße Phasenveränderung durch, sondern eine substanzielle Veränderung. Würde hingegen der Meeresgott Proteus anstelle von Actaeon eine solche Verwandlung durchlaufen, wäre es eine bloße Phasenveränderung, da es in der Natur von Proteus liegt, sich in verschiedene Gestalten verwandeln zu können. Seine Persistenzbedingungen lassen somit eine umfassende Transformation seiner Gestalt zu. Es resultieren daraus zwar epistemische Schwierigkeiten, Proteus vor und nach der Metamorphose erneut als Proteus re-identifizieren zu können, aber unter metaphysischer Rücksicht handelt es sich um ein- und dieselbe Gottheit in verschiedener Gestalt. Diese metaphysische Unterscheidung zwischen sortalen Persistenz- und Identitätsbedingungen kann zur Erklärung von Wundern herangezogen werden. Es ließe sich argumentieren, dass die substanziellen Arten des Diesseits Unterarten der übergeordneten substanziellen Art „Geschöpf“ sind, da sie von Gott geschaffen wurden. Der empirische Bezug auf eine solche Art stellt somit nur eine begrenzte Perspektive auf die grundlegenden Persistenzbedingungen dar, die mit einem Geschöpf einhergehen. Es ist denkbar, dass eine 35
Vgl. E. J. Lowe, Sortal Terms and Natural Laws. An Essay on the Ontological Status of the Laws of Nature, in: American Philosophical Quarterly 17 (1980), 253 –260.
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irdische Art qua Geschöpf eine wundersame Veränderung durchlaufen und dennoch dasselbe bleiben kann, da sich an ihrem GeschöpfSein nichts ändert. Eine dritte Antwort lautet: Die bisherigen Antworten erörtern die Identitäts- und Persistenzbedingungen einer Substanz von ihrer metaphysischen Konstitution her und fragen dabei nach ihren inhärenten Veränderungsmöglichkeiten. Diese Darstellungen nehmen jedoch nicht weiter darauf Bezug, dass jedes Geschöpf in seiner Existenz vom göttlichen Willen abhängt. Die Behauptung, es müsse einen Bestand an Dispositionen geben, welche die Natur der Substanz ausmachen und daher als identitätswahrender Kern erhalten bleiben müssen, ist vor dem Hintergrund der natürlichen Ordnung einsichtig. Ein theistischer Begriffsrahmen geht aber über eine solche Ordnung hinaus. Ein wesentlicher Bestandteil eines solchen Begriffsrahmens besteht darin, Gott als Urgrund der gesamten Schöpfung und daher jeden Moment der Existenz eines jeden Geschöpfs letztlich als vom göttlichen Willen abhängig anzusehen.36 Daher ist jede Suche einer metaphysischen Struktur geschöpflicher Selbsterhaltung unvollständig. Ein Wunder zeigt gerade an, dass es stets eine grundlegende Abhängigkeit vom göttlichen Willen gibt. Dies ist sozusagen die entscheidende weitere Tatsache, die es zu berücksichtigen gilt.37 Aus diesem Grund ist die Redeweise irreführend, Gott unterminiere oder zerstöre gar das dispositionale Setup eines Geschöpfs durch ein Wunder. Vielmehr wirkt Gott auf das Geschöpf auf eine Weise ein, die in Bezug auf die uns zugänglichen natürlichen Dispositionen des Geschöpfs Unmögliches als möglich erscheinen lassen. Allerdings ist hierbei zu bedenken, dass der Bereich natürlicher Dispositionen nicht das gesamte dispositionale Spektrum eines Geschöpfs abdeckt, weil Geschöpf-Sein über den Bezugsrahmen der natürlichen Ordnung – und somit des empirisch Zugänglichen – hinausweist. Robert Adams bezieht sich auf diesen Gedanken, wenn er schreibt,
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Dies ist zumindest eine zentrale Annahme des klassischen Theismus. Siehe z. B. B. Davis, The Reality of God and the Problem of Evil, London 2006, 2. 37 Stephen T. Davis argumentiert für einen solchen Standpunkt und spricht davon, dass es sich hierbei um das entscheidende „further fact“ identitätstheoretischer Überlegungen handelt. Siehe S. T. Davis, Resurrection, Personal Identity, and the Will of God, in: G. Gasser (Hrsg.), Personal Identity and Resurrection. How Do We Survive Our Death?, Farnham 2010, 19 –31, 28.
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dass „die grundlegendste Fähigkeit einer jeden geschaffenen Substanz die Fähigkeit ist, von Gott beeinflusst zu werden.“38 Wenn Gott die Welt im Hinblick auf ein Schöpfungsziel erschafft, dann ist eine solche Annahme durchaus zu erwarten. Jedes Geschöpf dürfte dann die grundlegende Disposition besitzen, für Gottes Heilshandeln offen zu sein. Diese Veranlagung ist nicht aus der uns zugänglichen natürlichen, sondern aus der gesamten Schöpfungsordnung samt ihrer eschatologischen Ausrichtung ableitbar. Wenn dies der Fall ist, dann steht ein Wunder nicht im Widerspruch zur Natur einer Substanz, sondern letztlich in tiefem Einklang damit, weil darin die Manifestation der grundlegendsten Disposition eines jeden Geschöpfes zum Ausdruck kommt, nämlich eine Entsprechung zu Gottes Heilshandeln aufzuweisen. Das aus der wissenschaftlichen Beobachtung und der persönlichen Erfahrung bekannte Kausalspektrum der geschaffenen Welt ist nur ein Teil des gesamten dispositionalen Profils eines Geschöpfs39, da die grundlegenden Dispositionen eines jeden Geschöpfs letztlich auf seine eschatologische Vollendung hin ausgerichtet sind – wie auch immer diese aussehen mag. Da Geschöpfe in radikaler Abhängigkeit zu Gott als Schöpfer stehen, sind sie hinsichtlich ihrer „natürlichen“ Konstitution wandelbarer, als uns die vertraute natürliche Ordnung vermuten lässt.40 Nur wenn Gott eine Substanz ohne die Disposition, auf Gottes Heilshandeln hin ausgerichtet zu sein, erschaffen würde und dementsprechend ausschließlich in diesseitigen, natürlichen Bedingungen aufginge, würde ein Wunder das ursprüngliche dispositionale Profil transformieren und damit identitätsgefährdend wirken. Abschließend lautet eine vierte Antwort: Die Sorge, die Identitäts- und Persistenzbedingungen einer Substanz stünden in Span38 R. M. Adams, Miracles, Laws of Nature and Causation, in: Proceedings of the Aristotelian Society, Supplementary Volumes 66 (1992), 207–224, 224. 39 Zur Idee, dass Naturgesetze „nur“ Prognosen erlauben, was sich unter bestimmten natürlichen Bedingungen wahrscheinlich ereignen wird und sie daher nicht auf jene Fälle angewendet werden können, wo Faktoren im Spiel sind, die den natürlichen Bereich transzendieren, siehe K. McDermid, Miracles. Metaphysics, Physics, and Physicalism, in: Religious Studies 44 (2008), 125 –147. 40 Man denke etwa an Röm 8,22, wo davon gesprochen wir, dass die Schöpfung erst noch ihre endgültige Bestimmung erreichen muss und der entsprechende Entwicklungsprozess dahin erst begonnen hat: „Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt.“
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nung zu einem Wunder, ist deswegen ein falscher Ausgangspunkt, weil es überhaupt keine Notwendigkeit für Gott gibt, derartige geschaffene natürliche Bedingungen zu respektieren. Da die Natur eines Geschöpfes von Gott geschaffen wurde, kann Gott als Schöpfer seine Geschöpfe auch problemlos umgestalten. Thomas von Aquin kokettiert zumindest mit diesem Gedanken, da in seinen Augen „alle Geschöpfe sich zu Gott verhalten wie Kunstprodukte zu einem Künstler […]. Folglich ist die gesamte Natur wie ein Artefakt des göttlichen künstlerischen Geistes. Es widerspricht aber nicht dem Wesen des Künstlers, wenn er sein Produkt, nachdem er ihm eine erste Form gegeben hat, auf andere Weise (weiter)bearbeitet.“41 Folglich ist es sinnvoll anzunehmen, dass die Identitäts- und Persistenzbedingungen von Artefakten vom Bewusstsein des Schöpfers bzw. Benutzers abhängen. Wenn x früher eine Waschmaschine war, aber aufgrund kollektiver Amnesie von niemandem mehr zum Waschen, sondern als Aufbewahrungsort für trockene Wäsche benutzt wird, dann hören Waschmaschinen gewissermaßen zu existieren auf, da ihre ursprüngliche Funktion durch eine gänzlich andere ersetzt wurde. Wird diese Argumentation auf Geschöpfe übertragen, da diese in Bezug auf Gott als Schöpfer eine Form von Artefakt darstellen, dann lässt sich daraus schließen, dass die Existenz- und Persistenzbedingungen von Geschöpfen aus der Perspektive Gottes rein konventioneller Art und somit willentlich veränderbar seien. Solche Veränderungen sind keine göttlichen Willkürakte, sondern dienen – wie bereits hingewiesen – der Verdeutlichung des Heilswillens Gottes. Somit zeigt sich im Wunder auf besondere Weise der Wille Gottes und erst von dort her erhält es seinen eigentlichen Sinn.
9. Schlussbemerkungen Der Beitrag verdeutlicht, wie eingangs als „analytisch“ charakterisierte Zugänge das spezifische Handeln Gottes in der Welt angehen, wobei der Wunderbegriff im Vordergrund stand. Aktuelle systematisch-theologische Beiträge zum Handeln Gottes sind dabei bewusst ausgeklammert worden. Ausgehend von der Hume’schen Wunder-
41
T. von Aquin, ScG III, 100, n. 6.
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kritik lautet die zentrale Stoßrichtung, dass wir Naturgesetze nicht als notwendige Gesetzmäßigkeiten denken sollen, sondern als Aussagen darüber, wie sich Dinge eines bestimmten Typs unter spezifischen Bedingungen aufgrund ihres dispositionalen Profils zu verhalten tendieren. Ausnahmen von den zu erwartenden Verhaltensweisen sind zwar selten, aber nicht ausgeschlossen. Wunder stellen folglich keine Durchbrechungen von Naturgesetzen dar, sondern lassen sich als Aktualisierungen grundlegender Dispositionen deuten, die mit dem Schöpfungsbegriff bzw. den damit verknüpften Schöpfungszielen Gottes einhergehen. Vor dem Hintergrund der allgemeinen theistischen Annahme, dass die Wirklichkeit nicht das Resultat blinder Naturkräfte, sondern Ausdruck eines rationalen Schöpferwillens ist, lässt sich sagen, dass die Wirklichkeit in ihrem „Kern“ auf Gott hingeordnet ist und diese Ausrichtung nicht mehr durch empirische Zugriffe eingeholt werden kann. Worauf sich Naturgesetze beziehen, sind die unserer Erkenntnis zugänglichen natürlichen Dispositionen von Dingen, aber diese Dispositionen umfassen eben nicht das gesamte Profil an Dispositionen, die von Gott geschaffene Dinge auszeichnen. In einem Wunder wird diese grundlegende Hinordnung der Schöpfung auf Gott sichtbar. Ein Wunder bricht folglich keine geschaffene und in sich geschlossene Naturordnung auf. Vielmehr bringt sie die von Gott geschaffene tiefste und eigentliche Zielrichtung der Schöpfung zum Ausdruck, die uns im Blick auf den „natürlichen“ Verlauf der Welt verborgen bleibt. Nota bene: Es handelt sich hier um ein Modell, das vor dem Hintergrund bestimmter theistischer Rahmenüberzeugungen als metaphysische Möglichkeit entwickelt wird. Hinweise, Wunder könnten im Kontext einer modernen, von den Naturwissenschaften informierten Weltsicht nicht mehr angenommen werden, da sie unattraktiv hohe Kosten einer Frontstellung mit den Naturwissenschaften mit sich bringen würde, erweisen sich bei näherem Hinsehen als nicht überzeugend.42 Es gibt auf jeden Fall eine gut begründete alter42
Eine detaillierte Diskussion zum Handeln Gottes im Kontext der modernen Naturwissenschaften findet sich bei K. von Stosch, Gottes Handeln denken. Zur Verantwortung der Rede von einem besonderen Handeln Gottes im Gespräch mit den Naturwissenschaften, in: G. Gasser/J. Quitterer (Hrsg.), Die Aktualität des Seelenbegriffs. Interdisziplinäre Zugänge, Paderborn 2010, 55 – 80.
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native Deutung von Naturgesetzen, die nicht mit Hume als eine Verletzung derselben zu interpretieren sind. Diese alternative Deutung von Wundern erlaubt einen Anschluss an die theologische Deutung des Wunderbegriffs als Manifestation der in der Schöpfung innewohnenden, aber meist nicht sichtbaren Geschichtsmächtigkeit, Gegenwart und Heilsabsicht Gottes. Wunder treffen also nicht wie ein göttlicher Fremdkörper auf eine gänzlich natürliche und in sich geschlossene Ordnung, sondern sie weisen auf das eigentliche Ziel einer offenen Schöpfungsordnung hin. Das Wunder ist ein Zeichen, in welchem Gott den Menschen seine ursprünglichste und wesentlichste Disposition, nämlich in Gott sein Heil zu erlangen, verdeutlicht. Zu betonen ist an dieser Stelle, dass ein bloßes Bewirken eines Wunders von der Seite Gottes noch nicht hinreichend für seine Heilswirksamkeit ist. Wenn die Beziehung zwischen Gott und Mensch als dialogisches Freiheitsverhältnis zu deuten ist und Gott den Menschen folglich nicht zum Heil zwingen kann, dann ist ein Wunder stets „nur“ die göttliche Bereitstellung einer Möglichkeit, den Menschen in Freiheit zu befähigen, seine positive Beziehung zu Gott zu vertiefen und den göttlichen Heilswillen anzunehmen.43 Diese Freiheit schließt auch mit ein, dass sich jemand der Offenbarungsdimension des Wunders verschließen kann. Es liegt also am Menschen, dieses gottgewirkte Zeichen im Licht seiner eigenen Existenz zu verstehen und sich davon berühren zu lassen. Erst dann kommt es zu einer (stückweiten) Manifestation jener Disposition, für welche der Mensch als emotional-kognitiv konstituiertes Wesen letztlich geschaffen worden ist, nämlich immer tiefer mit seiner ganzen Existenz in die Gegenwart Gottes einzutauchen und sich dem göttlichen Willen anzugleichen. So bemerkt bereits Thomas von Aquin: „Von denen, die ein und dasselbe Wunder sehen und dieselbe Predigt hören, glauben die einen, und die anderen glauben nicht.“44 Es kann natürlich der Fall sein, dass sich diese ganze Diskussion am Ende für die Theologie als obsolet erweist. Aus theologischen Gründen könnte die Annahme eines besonderen Handelns Gottes in der Welt im Hinblick auf den Gottesbegriff, den Schöpfungs43
Siehe z. B. K. von Stosch, God’s Action in History, in: European Journal for Philosophy of Religion 7 (2015), 187–206. 44 T. von Aquin, ST II-II 6, 1.
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begriff, die Gott-Welt-Beziehung oder soteriologische Überlegungen als so problematisch erscheinen, dass diese Annahme in der Theologie nicht mehr bemüht werden sollte.45 Wenn es diese Gründe tatsächlich gibt, dann sind sie aber nicht mehr philosophisch-metaphysischer, sondern theologischer Natur und daher im Kontext theologischer Modellbildung zu diskutieren und nicht mehr im Rahmen der Möglichkeitsbedingungen von Wundern.
45
Man denke etwa an die Sorge, dass Gott durch ein direktes Handeln in der Welt zu einer limitierten Zweitursache verkommen würde und daher Gottes Wirken in der Welt nur im Sinne einer Ermöglichungsbedingung innerweltlichen Handelns durch die Geschöpfe vermittelt zu denken ist. Siehe dazu etwa B. Weissmahr, Philosophische Gotteslehre, Stuttgart 1983, Kap. IV.2, 80 – 84.
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Jenseits des Bestimmens Überlegungen zu einer freiheitstheoretischen Grundlegung des Handelns Gottes Sarah Rosenhauer
1. Sind Wunder denkbar? Ein dispositionsontologischer Vorschlag Eine zentrale Anfrage an die Möglichkeit eines besonderen Handelns Gottes in der Welt ist der prominent von David Hume formulierte Einwand, die Möglichkeit von Wundern wäre mit unserer modernen Vorstellung einer naturgesetzlich regulierten Welt nicht vereinbar. In Auseinandersetzung mit diesem Einwand entwickelt Georg Gasser ein dispositionsontologisches Modell des besonderen Handelns Gottes.1 Gasser entkräftet den humeschen Einwand, indem er dessen Verständnis von Naturgesetzen als notwendige Regularitäten kritisiert und es ersetzt durch eine Ontologie der Dispositionalität, wonach Naturgesetze beobachtbare Dispositionen von Dingen sind, sich unter bestimmten Umständen auf eine bestimmte Art zu verhalten, die Ausnahmen zulassen. Die dispositionale Ontologie macht es möglich, göttliche Interventionen in den Naturzusammenhang zu denken, die die Form einer göttlichen Aktivierung von uns verborgenen Dispositionen haben. Und diese Ontologie ist anschlussfähig an eine theistische Metaphysik, die von einer übernatürlichen geschöpflichen Disposition zum Bestimmtwerden durch Interventionen Gottes ausgeht. Im Folgenden werde ich ausgehend von einer kritischen Analyse des dispositionsontologischen Wunderverständnisses, die auf die Problemkomplexe Theodizee und Freiheit fokussiert ist (2), zunächst für die Unhintergehbarkeit des Freiheitsdenkens argumentieren, indem ich es mit derzeit wirkmächtigen Einwänden konfrontiere (3) um darauf aufbauend eine freiheitstheoretische Alternative zur Grundlegung des besonderen Handelns Gottes vorzuschlagen, die die berechtigten Anfragen an das Freiheitsdenken produktiv integriert (4). 1 Vgl. G. Gasser, Handeln Gottes aus analytischer Perspektive, 189–215 in diesem Band.
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2. Wunder: Naturphänomene oder Freiheitsereignisse? Das Festhalten an der Möglichkeit von Wundern finde ich sehr sympathisch. Und die dispositionale Ontologie scheint mir als Modell naturwissenschaftlicher Welterfassung sehr plausibel. Aber es stellen sich mir hinsichtlich der darauf aufbauenden Konzeption eines besonderen Handelns Gottes einige Fragen. Diese Fragen sind, bedingt durch mein kontinentales mindframe, einerseits recht grundsätzlicher Art und zugleich wahrscheinlich nicht ganz überraschend und auch nicht neu, aber das macht sie in meinen Augen nicht weniger drängend. Theodizee Die erste Frage zielt auf den Komplex des Theodizeeproblems und gründet in der Befürchtung, dass sich durch den dispositionalen Begriff von Naturgesetzen und das damit verbundene Konzept göttlichen Handelns als Aktivierung verborgener Dispositionen die Theodizeeproblematik zum einen hinsichtlich der Frage nach dem natürlichen Übel extrem verschärft: Wenn Gott in seinem Wirken an und in der Natur einen derart großen Spielraum hat, dann fragt man sich, warum natürliches Übel etwa in Form von Naturkatastrophen überhaupt vorkommt und nicht dadurch von Gott verhindert wird, dass er in die verborgenen Dispositionen etwa des Windes oder des Wassers eingreift, so dass keine zerstörerischen Stürme, Fluten etc. entstehen. Zum anderen scheint mir die Theodizeeproblematik durch das Verständnis göttlicher Intervention als kausalem Bestimmungshandeln an Geschöpfen generell auch die Frage nach dem durch Menschen verursachten Leid zu potenzieren, wenn die göttliche Aktivierung geschöpflicher Dispositionen – wie mir scheint – nur bedingt freiheitsvermittelt konzipiert ist. Dazu aber gleich mehr. Konkurrenz Die zweite Frage betrifft die Denkform, in der das besondere Handeln Gottes, sein Wunderhandeln, begriffen wird und zielt auf die Alternative: substanz- oder dispositionsontologisches Kausalitätsdenken vs. personales Freiheitsdenken – oder nochmal zugespitzter: Extrinsezismus und Konkurrenzdenken vs. Liebe und Befreiung. Selbst wenn hinreichend plausibilisiert ist, dass ein göttliches Handeln in der Welt mit der (dispositional modifizierten) Vorstellung von Naturgesetzen vereinbar ist, stellt sich die drängende Frage,
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ob es auch mit einer, wenn nicht der anderen grundlegenden normativen Idee der Neuzeit/Moderne vereinbar ist: der Idee der Freiheit bzw. der Autonomie des Menschen. Die Frage wird von Gasser nicht explizit gestellt, indem er aber die Gültigkeit der dispositionsontologischen Konzeption nicht nur für das göttliche Handeln an der natürlichen Welt, sondern für „uns Geschöpfe“ beansprucht, ist die Frage mit auf dem Tisch. Gottes Handeln wird, unabhängig davon, ob es sich auf natürliche Dinge richtet oder an Menschen adressiert ist, als kausale Aktivierung einer verborgenen, übernatürlichen Disposition (der Disposition des Heils) dieses Individuums gedacht. Das zugrunde liegende Schema ist das kausale von Ursache und Wirkung (und das bleibt es auch, so mein Verdacht, wenn die göttliche Verursachung als eine freie und rationale gedacht wird). Genau dieses (substanz- oder dispositionsontologische) Kausalitätsdenken aber scheint mir hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von göttlichem Handeln und menschlicher Freiheit mindestens in doppelter Hinsicht problematisch, wenn nicht dilemmatisch. Zum einen, weil göttliches Handeln und menschliche Freiheit in diesem Schema nahezu zwangsläufig in ein Verhältnis der Konkurrenz gesetzt werden. Wird Gottes Handeln als Tätigkeit kausalen Bestimmens verstanden, kann menschliche Freiheit nur auf Kosten göttlicher Bestimmungsmacht und umgekehrt die göttliche Bestimmungsmacht nur auf Kosten menschlicher Freiheit gedacht werden: Solange das Verhältnis von Gott und Mensch „im sachontologsichen Modell konkurrierender Ursachen gedacht wird, bleibt die Alternative ‚Gott oder Mensch‘ unentrinnbar, eben weil sich […] der Primat der Gnade dann nur auf Kosten der menschlichen Freiheit durchhalten lässt“2. Denn frei ist im kausalen Schema der, der eine Wirkung verursacht, der bestimmt. Dieser Gefahr kann meines Erachtens weder die Klassifizierung Gottes als eines freien und rationalen Akteurs, noch die ‚übernatürliche‘ Anlage des Geschöpfes zum Bestimmtwerden durch Gott entgehen. Denn dass Gott die Fähigkeit zur rationalen und willentlichen Kontrolle und Zurücknahme seiner Kräfte zugunsten des geschöpflichen Eigenstandes zugeschrieben wird, bricht diesen Zu2
T. Pröpper, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, München 1985, 91.
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sammenhang nicht auf, sondern bestätigt das Konkurrenzverhältnis: Gott muss sein Wirken einschränken, muss sich zurücknehmen, damit geschöpflicher Eigenstand möglich ist.3 Und die dispositionale Interpretation kausalen Wirkens, die das Wirken Gottes als Aktivierung dispositionaler Eigenschaften des Geschöpfes versteht, kann nur dann als Überwindung des Schemas konkurrierender Ursächlichkeit verstanden werden, wenn man sich von einem anspruchsvollen Begriff menschlicher Freiheit verabschiedet. Denn obwohl die göttliche Wirkung dabei nicht als etwas den Menschen äußerlich Zwingendes und Überwältigendes verstanden wird, ist es doch insofern kompetitiv angelegt, als es Gottes Wirken ist, das bestimmt, welche Disposition verwirklicht wird, und nicht der Mensch in seinem freien Willen. Die Frage wird dann nur verschoben auf die Frage, ob und wie der Mensch sich zu dieser Aktivierung seiner Dispositionen verhalten kann; also: geschieht sie an seinem Willen vorbei? Insofern die Disposition als übernatürlich gekennzeichnet wird scheint dem Menschen nur die undankbare und unbefriedigende Rolle der Instrumentalursache zu bleiben, die exekutiert, was auf höherer Ebene entschieden wurde, ohne seinen natürlichen Vermögen zugänglich und einsichtig zu sein. Freiheit ist aber mehr und anderes als blinde Instrumentalursächlichkeit. Freiheit Damit klingt schon die zweite problematische Konsequenz des dispositionsontologischen Kausalitätsparadigmas an, die nämlich, dass darin – wie mir scheint – menschliche Freiheit entweder als Instrumentalursächlichkeit oder als Verwirklichung oder Nichtverwirklichung vorgegebener, bisweilen sogar vor-aktivierter (natürlicher und/oder übernatürlicher) Dispositionen, also indifferente Wahlfreiheit, verstanden wird. In Form von Instrumentalursächlichkeit führt die Freiheit nur aus, was durch etwas anderes, außerhalb ihrer selbst Gelegenes (durch Gott/Natur/Substanz) vorgegeben ist. Dass dies freiheitstheoretisch unbefriedigend ist, liegt auf der Hand. Das Verständnis von Freiheit als indifferenter Wahlfreiheit ist einerseits unverzichtbar (ohne Freiheit der Wahl keine Je-Meinigkeit – dazu 3
Vgl. dazu auch M. Lerch, All-Einheit und Freiheit. Subjektphilosophische Klärungsversuche in der Monismus-Debatte zwischen Klaus Müller und Magnus Striet, Würzburg 2009, 155.
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gleich mehr), andererseits ist es in doppelter Hinsicht problematisch. Denn zum einen führt das Verständnis der Freiheit, die der Mensch im Verhältnis zu Gottes Handeln hat und vollzieht, als bloßer Freiheit der Wahl dazu, dass das Verhältnis von Gott und Mensch tendenziell extrinsezistisch gefasst wird: Gott wird in seinem Wirken als ein dem Menschen äußerlich gegenübertretendes Ding gefasst, demgegenüber der Mensch sich nachträglich wählend verhalten kann.4 Wird diese Wahl formal als indifferent verstanden (und nur in diesem Verständnis eröffnet sie wirkliche Alternativmächtigkeit), dann ist es eben nicht möglich, eine innere Hingezogenheit des Menschen zum göttlichem Wirken zu fassen. Das ist zum einen theologisch-existenziell unangemessen, denn dann wäre meine Freiheit gegenüber Gott je größer, desto irrelevanter Gott für mich ist. Es ist zum anderen freiheitstheoretisch problematisch, denn durch die Begründung von Freiheit in Indifferenz ist offen, worin die Wahl gegenüber dem betreffenden Gegenstand (hier: gegenüber Gott) gründet5: Gründet sie in reiner Freiheit, dann ist diese Setzung von Willkür nicht zu unterscheiden (und Willkür ist nicht Freiheit, sondern Heteronomie). Gründet sie in einer vorgängigen Freiheitsentscheidung? Dann gerät man in einen infiniten Regress der je neuen Freiheitsbegründung in Freiheit. Begründet man die Wahl in Gott (das ist der gnadentheologische Weg: die freie Entscheidung des Menschen gegenüber der Gnade ist schon durch Gnade ermöglicht), dann gerät man offensichtlich in einen Zirkel. Darüber hinaus ist Freiheit im Sinne der Wahlfreiheit oder Alternativmächtigkeit deshalb unzureichend, weil sie sich immer nur zwischen (Vor)Gegebenem entscheiden kann, nicht aber selbst etwas setzt.6 So wichtig daher die Bestimmung menschlicher Freiheit im 4 Vgl. dazu auch die Kritik Saskia Wendels in S. Wendel, Göttliche Offenbarung und menschliche Freiheit – (wie) geht das zusammen?, in: K. von Stosch/S. Wendel/A. Langenfeld/M. Breul (Hrsg.), Streit um die Freiheit. Philosophische und theologische Perspektiven, Paderborn 2019, 225 –251, 237f. 5 Vgl. zur philosophisch-freiheitstheoretischen Kritik am Begründungsproblem der Indifferenzfreiheit auch T. Khurana, Paradoxien der Autonomie. Zur Einleitung, in: T. Khurana/C. Menke (Hrsg.), Paradoxien der Autonomie. Freiheit und Gesetz I, Berlin 2011, 7–24. Zur analytischen Kritik an libertarischen Freiheitsbegriffen durch den Willkür- oder Zufallseinwand vgl. exemplarisch G. Keil, Willensfreiheit (Grundthemen der Philosophie), Berlin/New York 2007. 6 Vgl. zur Kritik des Verständnisses von Freiheit als Wahl oder Alternativmäch-
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göttlichen Wirken als Freiheit der Wahl ist, so unzureichend ist sie – theologisch und freiheitstheoretisch. Nicht von ungefähr wird die Frage nach dem Stellenwert des geschöpflichen Eigenstandes im besonderen Handeln Gottes in dem Ansatz Gassers auch nicht als Frage nach der Achtung geschöpflicher Freiheit, sondern als Frage der Identitätswahrung verhandelt: Bleiben genügend meiner identitätstragenden Dispositionen und Kräfte gleich, wenn Gott an mir handelt? Unabhängig davon, ob die Antwort darauf überzeugen mag, scheint mir schon die Fragerichtung irreführend. Denn die entscheidende Frage ist ja nicht: Verändere ich mich durch die Begegnung mit Gott? – Hoffentlich! Sondern: Ist diese Veränderung freiheitsvermittelt? Die biblischen Zeugnisse von göttlichem Handeln deuten darauf hin, dass es sehr wohl mit entscheidenden Veränderungen der darin Involvierten verbunden ist: Abram wird zu Abraham, Saraj wird zu Sarah. Und die Änderung des Namens entspricht im Denken der Zeit einer Änderung der Identität. Und das entspricht ja auch unserer Erfahrung mit gelungenen Beziehungen: Sie gehen nicht spurlos an uns vorbei, Menschen, die uns wichtig sind, betreffen uns, prägen uns, lassen uns die Welt und uns selbst anders sehen, lassen uns anders werden. Dass Formen tiefgreifender Veränderung durch das Sein in Beziehung als ein Problem wahrgenommen werden oder werden müssen, als etwas, das unseren Eigenstand in Frage stellt, scheint mir wieder Implikat des ontologischen Paradigmas zu sein, in dem Beziehung und Eigenstand hier gedacht wird – und in dem Selbstsein und BeimAnderen-Sein nur als Gegensatz denkbar sind. Indem man das Verhältnis von Gott und Mensch in Kategorien beschreibt, die „gleichermaßen auf eine nicht-persönliche Mitteilung angewandt werden können und denen gerade der charakteristische Aspekt der persönlichen Hingabe abgeht“7, verfehlt man so tigkeit pointiert S. Wendel, In Freiheit glauben. Grundzüge eines libertarischen Verständnisses von Glauben und Offenbarung, Regensburg 2020, 19f. 7 J. B. Alfaro, Person und Gnade, in: MThZ 11 (1960), 1–19, 8. Das Zitat Alfaros steht hier exemplarisch für die in der gnadentheologischen Debatte in der Zeit vor dem 2. Vatikanischen Konzil virulent werdende Kritik substanzontologischen Kausalitätsdenkens, die vor allem mit den Namen Henri de Lubacs und Heriberth Mühlens verbunden ist und später von Thomas Pröpper und Gisbert Greshake aufgegriffen wurde: „Mit Hilfe der Kategorie der causa formalis wird man aber das Verhältnis von Person zu Person nicht zureichend beschreiben können.
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auch die spezifische personale Qualität und Intensität dieses Verhältnisses: dass es darin um die Freiheitsvollzüge der Liebe, der Hingabe, der Treue, des Vertrauens, der Verlebendigung, der Befreiung geht. Um diese adäquat zu begreifen, muss man mit anderen Kategorien und Begriffen arbeiten. Oder nochmal zugespitzt formuliert: In den Kategorien substanz- und dispositionsontologischen Kausalitätsdenkens ist man hinsichtlich der Frage des Gott-Mensch-Verhältnisses vor die Alternative gestellt, menschliche Freiheit und göttliches Wirken im Modus der Konkurrenz zu denken: Wer bestimmt eine Handlung ursächlich – Gott oder Mensch? Oder menschliche Freiheit so in göttliche Ursächlichkeit aufzulösen, dass sie in ihrem Eigenstand (modern gesprochen: ihrer formalen Unbedingtheit) nicht mehr greifbar wird: Stichwort Instrumentalursächlichkeit oder Zweitursächlichkeit.8
3. Normativität der Freiheit? Nun ist es keinesfalls selbstverständlich, dass man es als Problem ansieht, wenn menschliche Freiheit im göttlichen Handeln oder im Geschehen göttlichen Wirkens nicht oder nur in begrenztem Maß geachtet ist. Die Anfragen an die Normativität menschlicher Freiheit kommen aus sehr verschiedenen Ecken und Lagern: Theonomie statt Freiheit? Oder: der Vorwurf des Relativismus Im christlich-theologischen Spektrum begegnet die Freiheitskritik zum einen in Form der Kritik hypertropher Autonomie zugunsten
[…] Die Struktur des Verhältnisses von Person zu Person aber kann eigentlich nur an diesem selbst abgelesen werden.“ (H. Mühlen, Der Heilige Geist als Person. In der Trinität, bei der Inkarnation, im Gnadenbund. Ich – Du – Wir, Münster 31966, 20) 8 Die Frage, ob eine Ontologie der Dispositionen gegenüber einer Substanzontologie ein Mehr an menschlicher Freiheit denkbar macht, scheint mir vor allem an zwei Fragen zu hängen. Erstens: Wie freiheitsvermittelt sind die Gelingensmaßstäbe oder das Allgemeine der Dispositionen? Handelt es sich um essentielle oder göttliche Vorgaben oder ist das autonome Subjekt (Mit-)Autor der Normativität seiner Dispositionen? Zweitens: Wie freiheitsvermittelt ist die Realisierung von Dispositionen? Ist ihr Vollzug unmittelbar oder kann das Subjekt sie aussetzen, sich kritisch zu ihnen verhalten, sie verändern etc.?
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eines theonomen Freiheitsbegriffs. Der Fluchtpunkt der Kritik lautet: Diktatur des Relativismus. Das Gegenmittel: Theonomie. Setzt man die Freiheit des Subjekts absolut, so die Sorge, so führt dies zu Willkür (bzw. zum Relativismus) und der Herrschaft individueller Interessen. Freiheit „hebt […] sich selber auf [und] wird […] zur Gewalt gegen den anderen“9. Hier taucht der oben genannte Willkürvorwurf gegen einen starken Begriff der Autonomie wieder auf – und wird zum Anlass einer starken Autoritätsforderung genommen: Freiheit, in ihrer reinen Unbestimmtheit zu offen für Willkür und egoistische Eigeninteressen, muss begrenzt werden – durch Normen. So folgert Joseph Ratzinger: „Der Begriff der Freiheit verlangt seinem Wesen nach nach der Ergänzung durch zwei weitere Begriffe: das Recht und das Gute.“10 Den Begriff des Guten kann die Freiheit allerdings nicht aus sich selbst heraus entwickeln und begründen. Denn einerseits ist die „Vernunft der Freiheit […] ohne Voraussetzung eines unabhängig von ihr existierenden Logos eine Fiktion, deren Konstrukte innerhalb bestimmter Sprachspiele eine Zeit lang mehrheits- oder konsensfähig erscheinen“11. Die Historizität der Vernunft führt zu einem Relativismus der Wahrheit und des Guten. Andererseits führt eine Absolutsetzung der Maßstäblichkeit der Freiheit (Stichwort formale Unbedingtheit) zum Problem der Willkür, so dass „Moral und Unmoral als gleichberechtigte Optionen erscheinen“12. Was folgt ist: Bedürfnis- oder Interessenherrschaft: „Sobald eine vermeintlich sich selbst (ihren eigenen Gesetzen) treue Freiheit individuell und also plural bestimmen will, was wahr ist, kommt es unweigerlich zur Unterwerfung der Wahrheit unter Zwecke oder Interessen.“13 Deshalb bedarf sie substanzieller Vorgaben aus der „in historischer Glaubensgestalt gereifte[n] Vernunft“14. ‚Eigentliche‘ oder ‚wahre‘ Freiheit jenseits von Willkür und Beliebigkeit kommt 9 J. Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, Freiburg i. Br. 2005, 50. 10 Ebd., 44. 11 K.-H. Menke, Macht die Wahrheit frei oder die Freiheit wahr? Eine Streitschrift, Regensburg 2017, 19. 12 C. Hengstermann, Einleitung: Freiheit als erste Wahrheit? Konturen einer zeitgenössischen theologischen Debatte, in: B. P. Göcke/T. Schärtl (Hrsg.), Freiheit ohne Wirklichkeit? Anfragen an eine Denkform, Münster 2020, XI-XLVII, XX. 13 K.-H. Menke, Macht die Wahrheit frei, 99. 14 Ebd., 64.
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aus Teilhabe an der Wahrheit Gottes. Die Wahrheit Gottes setzt der menschlichen Freiheit Grenzen – die Grenzen, derer sie bedarf, um Freiheit zum Guten zu sein. Gegen diese Analyse ist viel einzuwenden. Schon der Ausgangspunkt beruht auf einer Verzeichnung modernen Freiheitsdenkens. Denn das Ideal der Autonomie zielt ja gerade nicht auf die relativistische Absolutsetzung individueller Interessen oder die Willkür reiner Freiheit, sondern auf Universalität.15 Autonomie ist die Fähigkeit der Orientierung an vernünftiger Einsicht in das Gesollte (die Vernunft als Vermögen des Allgemeinen ist gerade nicht beliebig) – auch gegen die eigenen Interessen. Die Freiheit, die die Fähigkeit zur Autonomie ermöglicht, ist ja nicht nur eine Freiheit gegenüber äußeren Autoritäten, sondern gerade auch gegen die eigene Natur: die eigenen Bedürfnisse und Interessen, gegen die wir uns aus Einsicht in das Gesollte zu wenden im Stande sind. Autonomie bedeutet gerade nicht individualistische Bedürfnisherrschaft, sondern die Fähigkeit, aus Einsicht in das Gesollte auch gegen die eigenen Interessen zu handeln.16 So trifft die Kritik eher die Verkürzung von Autonomie auf Individualfreiheit im Liberalismus. Gegen diese Verkürzung auf reine Individualfreiheit ist der Begriff der Autonomie aber selbst gerichtet. Und auch das Lösungsangebot Theonomie kann nicht im Geringsten überzeugen. Denn einerseits ist es (so wie KarlHeinz Menke es vertritt) mit den metaphysischen Hypotheken einer naturalistischen Ethik, also einer normativen Aufladung des „Natürlichen“ (hinter der sich, wie die Geschichte zur Genüge zeigt, zu oft die Machtinteressen herrschender, mit Deutungsmacht ausgestatteter Milieus verbergen) und einer inhumanen Erbsündentheologie belastet. Und andererseits wirft es mit einem emphatischen Freiheitsbegriff zugleich die Grundlage einer humanen ethischen Praxis über Bord. Dazu gleich mehr.
15
Vgl. dazu auch K.-H. Ruhstorfer, Keine einfachen Wahrheiten, in: Herder-Korrespondenz 3/2018, 47–50. 16 „In ihrer radikalsten Formulierung besagt Kants These, dass der Mensch nur da wahrhaft autonom genannt werden kann, wo er sich nicht nach individuellen Neigungen, sondern allein nach allgemeinen Gründen der Vernunft bestimmt.“ (J. Rebentisch, Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz (stw 2013), Berlin 32019, 132)
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Sieht man von den Schlagseiten ab, kann man der Anfrage aber auch einen legitimen Sachkern entnehmen: Konstruktiv gewendet zielt die Anfrage darauf ab, wie eine formal unbedingte Freiheit zu ihren Normen kommt. Diese Frage ist mit dem bloßen Begriff der Autonomie noch nicht beantwortet – siehe die oben genannten Probleme der Indifferenzfreiheit. Die Problematik – kurz gesagt: entweder eine Bestimmung ist wirklich Selbstbestimmung, dann kann sie aber von Willkür nicht unterschieden werden, oder eine Bestimmung gründet in einer dem subjektiven Freiheitsakt vorgängigen Norm, dann ist sie, der strengen Autonomielesart gemäß, heteronom, weil nicht selbst gesetzt – kann auch durch die von Kant vorgelegte formalistische Interpretation des den Gesetzgebungsakt normierenden Gesetzes nicht umgangen werden, denn das rein formale Prinzip der widerspruchsfreien Verallgemeinerbarkeit schließt inhaltlich nichts aus und verlangt so nach zusätzlicher Normierung.17 Jenseits der Willkür: Die innere Normativität der Freiheit Die Einsicht in diese mit dem Autonomiegedanken verbundene Begründungsproblematik ist nun einerseits alles andere als neu, sondern seit den nachkantischen idealistischen Entwürfen virulent. Gerade diese Entwürfe zeigen Möglichkeiten sozusagen freiheitsimmanenter Lösungen auf, die das Willkürproblem ohne theonome Autoritätskeule adressieren. Dabei lassen sich grob der Weg einer transzendentallogischen Formalisierung von Freiheit mit Fichte von dem einer realgenetischen Dialektisierung von Freiheit mit Hegel unterscheiden. Sieht ersterer den (formal normierenden) Grund von Freiheit in einem transzendentalen Akt der Selbstsetzung des Ich, so geht letzterer von der sozialen Praxis der Sittlichkeit als dem Entwicklungs- und Verwirklichungsort subjektiver Freiheit aus. Ohne die Ansätze hier im Einzelnen rekonstruieren zu können, lassen sich aus beiden wichtige Einsichten für das Problem gewinnen: Was von Hegels Begriff der Sittlichkeit zu lernen ist, ist einmal, dass das Ideal der Autonomie nicht so verstanden werden muss (und sollte), dass das individuelle Subjekt alleiniger Urheber von Normativität ist. Also: Nicht alle Bestimmung kommt aus dem Sub17
Vgl. zu dem Problemkomplex „Paradox der Autonomie“ den gleichnamigen Sammelband T. Khurana/C. Menke (Hrsg.), Paradoxien der Autonomie. Freiheit und Gesetz I, Berlin 2001.
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jekt. Wohl aber, dass es unhintergehbares Korrektiv jeder substanziellen Normvorgabe ist. Also: Keine Bestimmung an der Freiheit des Subjekts vorbei. Und mehr besagt der Gedanke einer formalen Unbedingtheit von Freiheit zunächst auch nicht: Sie ist so schlicht wie basal die Fähigkeit, sich zu jeder Bestimmtheit zu verhalten. Hegel spricht hier von der Kraft der Negativität. In eben dieser basalen Form formaler Unbedingtheit oder Negativität ist Freiheit in Normsachen unhintergehbar.18 Autonomie bedeutet nicht, dass alle Normen selbst gesetzt sind im Sinne der Selbstursprünglichkeit/Autarkie, sondern dass alle Normen durch die Freiheit des Subjekts vermittelt sein müssen. Diese normative Grundforderung, diese Grundforderung an das Normative, dass die Freiheit des Subjekts in den sozialen Praktiken der Sittlichkeit unbedingt geachtet werden muss, unhintergehbar ist, formuliert Hegels Gedanke der Anerkennung. Daraus ist zu lernen, was die normkonstituierende Praxis der Sittlichkeit ihrerseits übergeordnet normiert: Eine anerkennungsbasierte, anerkennungsnormierte Sittlichkeit hat ihr Ziel darin, dass sie „für alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen die Bedingungen einer Verwirklichung von Freiheit schafft“19. Das Ideal der wechselseitigen Anerkennung von Freiheit durch Freiheit ist der sozusagen metanormative Hintergrund der Sittlichkeitstheorie Hegels: „Wenn die Verwirklichung der individuellen Freiheit an die Bedingung der Interaktion geknüpft ist, weil sich die Subjekte nur angesichts eines menschlichen Gegenübers in ihren Beschränkungen als frei erfahren können, so hat für die gesamte Sphäre der Sittlichkeit zu gelten, dass sie aus Praktiken des intersubjektiven Verkehrs bestehen muss; jene Möglichkeiten der individuellen Selbstverwirklichung, die diese Sphäre bereitzustellen 18
Der Gedanke der Freiheitsvermitteltheit fußt logisch auf der dialektischen Theorie der Bestimmung Hegels. Er versteht „den Zusammenhang von Bestimmung und Subjektsein so, dass die – wahre, richtig verstandene und vollzogene – Bestimmung in sich die Negativität des Subjekts gegenüber jeder determinierenden Bestimmtheit enthält (so dass das Subjekt, indem es sich selbst bestimmt und seine Negativität negiert, zugleich ‚bei sich‘, also negativ bleibt): Die Bestimmung ist, dialektisch verstanden, Selbstbestimmung, weil (oder soweit) sie Ausdruck der Negativität des Subjekts ist.“ (C. Menke, Autonomie und Befreiung. Studien zu Hegel (stw 2266), Berlin 2018, 194) 19 A. Honneth, Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der hegelschen Rechtsphilosophie, Stuttgart 2001, 79.
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hat, um dem Leiden an Unbestimmtheit abzuhelfen, müssen gewissermaßen aus Kommunikationsformen zusammengesetzt sein, in denen die Subjekte wechselseitig im Anderen eine Bedingung ihrer eigenen Freiheit sehen können.“20 Oder anders formuliert: Hegels Konzept der Sittlichkeit führt weder zu einer völligen Kontingenz historischer Normaushandlungsprozesse, noch muss er (notwendig) eine übergeschichtliche Vernunft zur Vermeidung eines normativen Relativismus voraussetzen, sondern die Sittlichkeit trägt im Konzept der Anerkennung ihre eigene (formale oder der materialen Normaushandlung übergeordnete) Metanorm in sich. Zu einem analogen Gedanken gelangt man auch auf dem Weg einer transzendentalen Formalisierung Kants. So zeigt Hermann Krings in einer transzendental-formalen Analyse der kantischen Autonomiefreiheit, dass diese in ihren Freiheitsakten nicht auf zusätzliche (göttliche, natürliche, soziale) Normen angewiesen ist, sondern ihre Normativität in sich selbst trägt. Die Kritik der Willkürfreiheit trifft nur eine Schwundform von Freiheit (indifferente Wahlfreiheit), nicht die Form von Freiheit, die Grund unserer tatsächlichen Praxis ist: die der Autonomie, das heißt der Selbstbestimmung. Mag Erstere zunächst nur Negativität – Unbestimmtheit – sein, so trägt Letztere ihre transzendentale Normativität, die die einzelnen Akte der Normsetzung normiert (und so von Willkür unterscheidbar macht), in sich selbst: Der Akt der Regelsetzung, den praktische Freiheit bezeichnet, hat nach Krings drei begriffliche Implikate. Einmal impliziert der Begriff der Setzung einer Regel die Affirmation eines Gehalts, das heißt des Gehalts dieser Regel. Weiter impliziert der Begriff der Regelsetzung die Affirmation einer regelbegreifenden, regelbefolgenden und als solche ihrerseits als frei zu denkenden Instanz. „In der Setzung der Regel ist die Affirmation praktischer Freiheit durch praktische Freiheit impliziert.“21 Drittens impliziert der Begriff der Regelsetzung die „Selbstaffirmation der in dieser Setzung sich aktualisierenden praktischen Freiheit. […] Diese Selbstaffirmation von Freiheit aktualisiert sich durch nichts anderes und ist prinzipiell durch nichts anderes vermittelt als durch die transzendentale Affirmation anderer Freiheit.“22 Aus diesen drei Affirmationsakten, 20 21 22
Ebd., 81. Ebd., 60. Ebd., 60f.
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die der Akt der Regelsetzung der praktischen Freiheit impliziert, setzt sich der Begriff transzendentaler Freiheit zusammen: „Der Begriff transzendentaler Freiheit ist der Begriff einer unbedingten Affirmation. […] Ihr Inhalt ist prinzipiell Freiheit selbst. Die […] unbedingte Aktualität der praktischen Freiheit muss demnach bestimmt werden als ein transzendentaler Aktus unbedingter Anerkennung, durch den praktische Freiheit andere Freiheit und sich selbst als Freiheit affirmiert.“23 Die so skizzierte Ermöglichung praktischer Freiheit durch einen transzendentalen Anerkennungsakt stattet sie mit einer immanenten Normativität aus, die Krings als „transzendentale Regel“ bezeichnet: Freiheit findet die ihr angemessene Verwirklichung nur in der Anerkennung anderer Freiheit, im „unbedingte[n] Entschluss von Freiheit für Freiheit“24. Das heißt: Freiheit ist nicht nur der Name des Problems (Willkür durch Unbestimmtheit), sondern auch der Lösung (Anerkennung anderer Freiheit als erste formale und praktische Norm). Dazu später mehr. Pluralität/Holismus/Singularität statt Freiheit? Oder: der Vorwurf der Herrschaftsförmigkeit Darüber hinaus kommen kritische Anfragen an das Freiheitsdenken aus der Rezeption postmoderner, dekonstruktivistischer, poststrukturalistischer und spätphänomenologischer Theorien, etwa in prozesstheologischen oder radikal alteritätstheoretischen Theologien. Im Kern zielt diese, abgesehen davon sehr heterogene, Kritik am Freiheitsdenken darauf ab, dass in diesem Denken (und der darin begründeten Praxis) das normative Ideal der Freiheit durch die Form seiner Verwirklichung verkehrt und pervertiert wird. Indem Freiheit als Autonomie des Subjekts gedacht wird, verkehrt sie sich – theoretisch und praktisch – in Herrschaft: in die innere Herrschaft des Vernunftsubjekts über seine Leiblichkeit, seine Affektivität und Emotionalität, seine Bedürfnisnatur und sein Begehren (Theodor W. Adorno25,
23
Ebd., 61. Ebd., 62. 25 Vgl. exemplarisch T. W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie (stw 1983), Frankfurt a. M. 2010. 24
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Michel Foucault26, Judith Butler27), in die äußere Herrschaft des Subjekts über die Welt in Form von Naturbeherrschung (Adorno/Horkheimer28), urteilsförmiger Objektivierung und Vereindeutigung (Friedrich Hölderlin29, Adorno30, Jacques Derrida31), Ausbeutung und Unterwerfung (postkoloniale Theorie32, Ökofeminismus33) und über das andere Subjekt (feministische Theorie, Gendertheorien34). Die Kritik entspringt dabei nicht der Sorge, das Prinzip der Autonomie könne zu einer individualistischen Relativierung ethisch-moralischer Pflichten und ontologischer Wahrheiten führen. Ihre leitende Sorge ist, dass die Freiheit, die die Moderne propagiert, letztlich nicht befreit, sondern so wie sie modern gedacht wird: als Autonomie, machtförmig und repressiv ist. „Das Problem der Aufklärung“ so fasst der Philosoph Christoph Menke das Grundanliegen zusammen, „ist die Verschlingung von Freiheit und Herrschaft; die Tatsache, dass – und wie – der Ausgang aus der Knechtschaft eine neue, ganz andere, aber globalere und totalere und dadurch unheilvollere hervorgebracht hat.“35 Die postmoderne Kritik gilt damit nicht unbedingt dem Ideal der Freiheit, sondern dem Programm, 26
Vgl. exemplarisch M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, aus dem Französischen von Walter Steiner (stw 184), Frankfurt a. M. 19 2014, 173 –292. 27 Vgl. exemplarisch J. Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung (edition suhrkamp 1744), Frankfurt a. M. 2001. 28 Vgl. exemplarisch M. Horkheimer/T. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: M. Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt a. M. 2003, 11–290. 29 Vgl. exemplarisch F. Hölderlin, Urteil und Sein, in: Sämtliche Werke, Bd. 4, Stuttgart 1962, 226 –228. 30 Vgl. exemplarisch T. W. Adorno, Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit (stw 1706), Frankfurt a. M. 2006. 31 Vgl. exemplarisch J. Derrida, Randgänge der Philosophie, Wien 1999. 32 Vgl. exemplarisch N. Dhawan, Decolonizing Enlightenment: Transnational Justice, Human Rights and Democracy in a Postcolonial World (Politik und Geschlecht), Opladen 2014. 33 Vgl. exemplarisch M. Mies/V. Shiva, Ökofeminismus, Beiträge zur Praxis und Theorie, Zürich 1995. 34 Vgl. exemplarisch J. Butler, Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002 (stw 1792), Frankfurt a. M. 2007. 35 C. Menke, Das Paradox der Fähigkeit und der Wert des Schönen, in: L. Emmerling/I. Kleesattel (Hrsg.), Politik der Kunst. Über die Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken, Bielefeld 2016, 85 –100, 85f.
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mit dem die Moderne dieses Ideal verwirklichen will. Denn das Konzept autonomer Subjektivität verkörpert, zugespitzt formuliert, das Prinzip der Repression und Ausbeutung: der ganzen Welt (Frauen, nicht westliche, nicht weiße Menschen, natürliche Umwelt und Tiere) durch den westlichen weißen Mann. Wegen der strukturellen Herrschaftsförmigkeit der in autonomer Subjektivität begründeten Freiheitsverhältnisse sollte ein Denken in Kategorien der Autonomie abgelöst werden etwa durch ein pluralistisches Denken, das auf jegliches Einheitsprinzip verzichtet36, ein Denken in relational-holistischen Interdependenzgefügen, die von Fürsorge und Seinlassen getragen sind37, ein Denken radikaler Singularität38 (im Unterschied zur Besonderheit als bloßer Exemplarisierung eines herrschaftsförmigen Allgemeinen) oder radikaler Alterität39. Also wahlweise Pluralität, holistischer Prozess, Singularität oder Alterität statt Autonomie. Auch hier gilt es, polemische Verzeichnungen von der sachlich angemessenen Kritik zu trennen. Einerseits ist die Verbindung von Autonomiefreiheit und Herrschaft treffend, insofern sie die zweite Paradoxie, mit der dieses Konzept zu kämpfen hat, offenlegt: den Umstand, dass Freiheit – gedacht als Autonomie – immer paradoxal mit Unfreiheit verbunden ist. Es gibt keinen Kant ohne Bentham, kein Denken autonomer Subjektivität, autonomer Fähigkeiten der Selbstführung, ohne das verinnerlichte Panoptikum sozialer Disziplin: „Das Problem der Aufklärung ist die Verschlingung von Freiheit und Herrschaft […] Und dieses Problem hat seinen Grund in nichts anderem als im ungelösten Problem der Fähigkeit. […] Das Paradox der Fähigkeit, des Könnens ist: ohne Fähigkeit keine Freiheit – denn Freiheit ist die Macht der Selbstführung, die an den Erwerb von Fähigkeiten gebunden ist. Zugleich aber gilt: keine Fähigkeit ohne Disziplinierung und 36
Vgl. exemplarisch J. F. Lyotard, Postmodernes Wissen. Ein Bericht, aus dem Französischen von Otto Pfersmann, Wien 1986. 37 Vgl. exemplarisch C. Keller/L. Schneider, Polydoxy. Theology of Multiplicity and Relation, New York 2011. 38 Vgl. exemplarisch J. Derrida, Politik der Freundschaft, Frankfurt a. M. 2000. Zur ethischen Interpretation der Dekonstruktion vgl. S. Chritchley, The Ethics of Deconstruction. Derrida and Levinas, Oxford 1992. 39 Vgl. exemplarisch E. Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg i. Br. 2012.
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Normalisierung – ohne Unterwerfung unter die anonyme Macht sozial definierter Formen und Normen. […] Die Fähigkeit verklammert Freiheit und Knechtschaft; sie ist der dialektische Umschlagspunkt im Zentrum und am Grund der Aufklärung.“40 Legitim an der Kritik ist so die Forderung nichtrepressiver Formen des Selbstund Weltverhältnisses und der Begegnung mit dem/der Anderen, oder: die Forderung einer Form von Freiheit, die sich nicht, nicht primär, als Fähigkeit (als Fähigkeit normativer Selbstführung etc.), als ein Bestimmen vollzieht, sondern dem Anderen Raum gibt zur Eigenaktivität, ihn freisetzt, statt ihn zu bestimmen, sich bestimmbar macht durch den/das Andere. Die Lehre aus dem Paradox und der Forderung nach einem anderen Modus des Selbst- und Weltverhältnisses kann nun aber nicht die Aufgabe des Freiheitsideals sein, sondern nur seine Radikalisierung. Denn die genannten alternativen Formen des Selbst- und Weltverhältnisses sind alle eminent freiheitsimplikativ bzw. müssen es sein, wenn sie nicht als bloßes Nebeneinander, totalitärer Holismus oder reine Passivität gedacht werden wollen. Denn Pluralität ohne Singularität ist ethisch hohl. Singularität setzt aber, will man sie nicht re-essentialisieren, Freiheit voraus (freilich eine, die mehr und anders ist als Autonomie – dazu gleich mehr). Und ein Holismus, der die Unhintergehbarkeit der Freiheit der/des Einzelnen (im basalen Sinn der Negativität) ausklammert, hat schnell eine totalitäre Schlagseite. Jenseits der Herrschaft: Die ethische Unhintergehbarkeit der Freiheit Gerade die ethisch motivierte Kritik am Freiheitsdenken im Namen von Pluralität/Prozess/Singularität/Alterität darf nicht leichtfertig übersehen, was mit der Freiheit ethisch auf dem Spiel steht: ohne Freiheit keine Fähigkeit und ohne Fähigkeit keine normative Praxis. Denn zum einen ist Freiheit im Sinne der Fähigkeit zur Selbstbestimmung die regulative Grundlage unserer sittlichen Praxis und rechtlichen Institutionen, die darauf basieren, dass wir Verantwortung für Handlungen zuschreiben, einfordern und übernehmen. Mit dem regulativen Ideal freier, selbstbestimmter Subjektivität fällt auch eine ethische Praxis, die wesentlich auf den Institutionen der
40
C. Menke, Das Paradox der Fähigkeit, 85f.
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Verantwortung und des Versprechens beruht, darauf also, dass Menschen für ihr Tun verantwortlich gemacht werden können und dass Menschen sich auf ein bestimmtes Tun festlegen können. Verantwortung und Versprechen lassen sich nicht denken, ohne eine relativ starke Form der Freiheit der jeweiligen Akteure zu unterstellen: Denn die Übernahme von Verantwortung basiert auf der Freiheit, von den eigenen Bedürfnissen und Interessen abstrahieren zu können und sich durch die Einsicht in etwas normativ Gesolltes (z. B. Schutz vulnerablen Lebens) zu bestimmen. Das Versprechen erfordert das Vermögen, seine Entscheidungen und Handlungen nicht nur jetzt, sondern auch in Zukunft an dieser Einsicht auszurichten. Noch drastischer könnte man sagen: ohne Freiheit keine Handlung, sondern eben wahlweise: Instrumentalursächlichkeit oder reaktiv-emphatisches Einstimmen, Mitwirken oder aber Ereignis. Während Erstere durch die oben genannten metaphysischen und theologischen Hypotheken, die damit verbunden sind, nicht in Betracht kommt, formulieren die prozesstheologisch inspirierten Modi passiv-rezeptiver Selbst- und Weltbegegnung und das alteritätstheoretisch-dekonstruktiv inspirierte Ereignismotiv tatsächlich wesentliche Modi ethischer Praxis – aber nicht für sich genommen und in ausschließender Alternative zur Idee autonomer Freiheit, sondern nur in kritischer, und zwar: beidseitig kritischer Verbindung damit.41 Denn eine rein passive Haltung entbehrt mangels Negativität/formaler Unbedingtheit auch des Vermögens zur Gegenmacht: zur Kritik an prozessualen Strukturen und Ordnungen, die falsch/repressiv/ totalitär sind und zur Schaffung von etwas Neuem, Besseren.42 Und prozessuale Interaktion taugt als Ersetzung des Freiheitsgedankens nicht, weil sie, wenn es um Interaktion gehen soll, ihn selbst voraussetzt.43 Die prozesstheologisch-ethischen Kategorien der Verantwor41
Vgl. zu einer dialektischen Verbindung von Aktivität und Passivität ethischer Vollzüge S. Rosenhauer, Die Unverfügbarkeit der Kraft und die Kraft des Unverfügbaren. Subjekttheoretische und gnadentheologische Überlegungen im Anschluss an das Phänomen der Kontingenz, Paderborn 2018. 42 So auch S. Wendel, In Freiheit glauben, 8f. 43 So auch die Kritik Saskia Wendels an der Prozesstheologie Charles Hartshornes: „Die Fähigkeit der Interaktion ist ja ein Aspekt kommunikativen Handelns, und jedes Handeln wiederrum hat sowohl ein handelndes wie ein freies Subjekt zu seiner Möglichkeitsbedingung, ebenso die Unterscheidung einander begegnender agierender und kommunizierender Subjekte, die jeweils qua Subjektivität
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tung, der Interaktion, der Liebe implizieren ein freies Subjekt als deren Träger (wenngleich klar ist, und das scheint mir der berechtigte Kritikpunkt prozesstheologischer Konzepte zu sein, dass diese Freiheit nicht im Sinne möglichst uneingeschränkter Bestimmungsmacht, also der Herrschaft, zu verstehen ist – dass die Kopplung von Autonomie und Herrschaft nicht notwendig ist, hoffe ich im Folgenden noch weiter plausibilisieren zu können). So wäre etwa auch die dekonstruktive Kritik an der „subjektalen Axiomatik“44 autonomieethischer Konzepte missverstanden, wenn sie als Ersetzung der Kategorie der Handlung durch die des Ereignisses verstanden würden. Es geht dabei nicht um eine Abschaffung der Verantwortung des Einzelnen für Gerechtigkeit, sondern ihre Verschärfung. Denn Gerechtigkeit ist etwas, „was […] nicht durch die bloße Anwendung eines Verfahrens erreicht werden kann und dennoch zum Grund dafür wird, die gegenwärtige Situation auf etwas Neues hin zu verändern. ‚Gerechtigkeit‘ wird so zum (an der Zu-kunft ausgerichteten) Kriterium für das Handeln hier-und-jetzt“45. Obwohl sich Gerechtigkeit nicht machen lässt, sondern nur ereignen kann, sind wir darauf verpflichtet, unser Handeln an ihr auszurichten und ihrem Eintreten so Raum zu geben. Also: Auch wenn ethische Praxis sich in ihrem Gelingen nicht subjektal reduzieren lässt: ihre Gelingensbedingung nicht nur in der autonomen Freiheit des Subjekts hat, so ist diese doch unverzichtbar. Freiheit ist darüber hinaus politisch-normativitätstheoretisch unhintergehbar – und zwar im Sinne der schon angeklungenen aufklärerisch-emanzipativen Grundforderung, dass es keine Bestimmung an der Freiheit des Subjekts vorbei geben darf. Diese Grundüber eine Ich-Perspektive verfügen, mittels derer sie sich auf ihnen begegnendes Anderes beziehen und mit dem sie in Interaktion treten.“ (S. Wendel, Gott – Prinzip und Person zugleich. Eine prozesstheologisch inspirierte Verteidigung des Theismus, in: K. Ruhstorfer (Hrsg.), Das Ewige im Fluss der Zeit. Der Gott, den wir brauchen (QD 280), Freiburg i. Br. 2016, 94 –109, 101) 44 J. Derrida, Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, aus dem Französischen von A. Düttmann, Frankfurt a. M. 1991, 51. Der Ausdruck „subjektale Axiomatik“ bezieht sich auf die implizite Voraussetzung autonomieethischer Konzepte, es sei das Subjekt, das mit seinen Vermögen das Gelingen von Vollzügen ermöglichen würde. 45 P. Zeillinger, Offenbarung als Ereignis. Zeitgenössische Philosophie, die Rede von Gott und das Sprechen der Bibel, in: SThZ 21 (2017), 25 –101, 71.
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forderung lässt sich als Forderung nach einer doppelten Freiheitsvermitteltheit von Normativität durchbuchstabieren: Dies bezieht sich erstens auf die Frage nach der Genese des Allgemeinen, das den Vollzug der Vermögen normativ reguliert, also die Frage, wie Vermögen zu ihren Gelingensmaßstäben kommen. Diese sind freiheitsvermittelt, insofern sie nicht durch ein substanzielles, überzeitlich gültiges, durch eine essentielle Natur vorgegebenes Allgemeines vorgegeben sind (Stichwort Theonomie/Naturrecht), sondern durch soziale Praktiken konstituiert sind, in denen das Subjekt nur das als gültig betrachtet, was es als Grund anerkennen kann. Also: Substanz ist Subjekt (Hegel). Die institutionstheoretischen Konsequenzen dieser Forderung formuliert Georg Essen in Anlehnung an Krings: Das Ideal der Autonomie hat „Folgen für die Begründung und Legitimation von Macht. Modernem Freiheitsbewusstsein entspricht, dass nicht der Anspruch der Freiheit, wohl aber der Anspruch der Macht der Legitimation bedarf. Das Institut der Macht kann seinen Sinn allein darin haben, dass es die Bedingungen von Freiheit schafft und sichert, um das äußere Bestehen von individueller und politischer Freiheit zu ermöglichen. Also ist die Freiheit der Grund der Macht, und die Freiheit das zur Macht ursprünglich Ermächtigende.“46 Indem die Moderne solchermaßen die Unhintergehbarkeit der Freiheit des Einzelnen in der Normfindung und -begründung postuliert, liefert sie „die Begründung dafür […], einem jeglichen bewussten Dasein unveräußerliche Würde und entsprechend unveräußerliche Rechte zuzusprechen, die jeglicher Mehrheitsentscheidung entzogen sind, und somit auch die Basis für die Rechtfertigung einer Lebensführung, in deren Zentrum die Übernahme von Verantwortung für Andere wie für sich selbst steht“47. Keiner darf übergangen werden. Die zweite Freiheitsvermitteltheit betrifft die subjektive Realisierungsstruktur des Normativen: Freiheitsvermittelt ist sie dann, wenn man sie nicht automatisch, gewohnheitsmäßig/mechanisch vollzieht (vgl. Hegels Begriff der zweiten Natur), sondern es die Möglichkeit der Aussetzung, Kritik, Veränderung der normativen 46
G. Essen, Die Autorität der Freiheit. Katholische Ortsbestimmungen im Verhältnis von christlichem und neuzeitlichem Freiheitsverständnis, in: ÖR 62 (2013), 5 –23. 47 S. Wendel, In Freiheit glauben, 21.
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Orientierung gibt. Die eminente Gefahr nicht freiheitsvermittelter Normativtätskonzepte liegt entsprechend in ihrer offenen oder verschleierten bzw. uneingestandenen Herrschaftsförmigkeit. Denn Freiheit ist nicht nur die unhintergehbare Grundlage des Aufbaus und der Erhaltung einer normativen Ordnung, sondern auch ihrer Infragestellung und Aussetzung. „Frei zu sein heißt nicht, die symbolische, normative Ordnung des Geistes gegenüber der Natur aufzubauen und zu erhalten […]. Sondern frei zu sein heißt, die symbolische Ordnung des Geistes errichten und sie unterbrechen, suspendieren zu können.“48 Ohne Negativität, ohne die Freiheit zur kritischen Distanzierung von allem Gegebenen also (und nichts anderes besagt auch die formale Unbedingtheit von Freiheit: die Fähigkeit, sich zu jeder Bedingung zu verhalten), kann eine Kritik des Gegebenen nicht gedacht und vollzogen werden. Denn ohne Negativität sind wir unmittelbar bestimmt durch das uns Umgebende oder Vorgegebene. „Freiheit bedarf […] eines Unbedingtheitsmoments, das Freiheit überhaupt dazu befreit, sich zu den vielfältigen Einflüssen und Determinationen, denen ich ausgesetzt bin, verhalten zu können.“49 Und ebenso kann eine emanzipative Transformation des Bestehenden nur gedacht und vollzogen werden, wenn man autonome, zur freien Selbstbestimmung fähige Subjekte annimmt, die eine solche transformative Praxis initiieren und vollziehen. Autonomie ist der „Ermöglichungs[grund] für das Entstehen von Gegenmacht. Und darum ist es […] ethisch und politisch unabdingbar, daran kritisch festzuhalten.“50 Ohne Subjekte, die fähig sind, sich von der gegebenen normativen Ordnung zu distanzieren, sie zu kritisieren und deren Freiheit sich zugleich nicht in der Negation des Falschen (Nicht-Mitmachen) erschöpft, sondern sie befähigt, sich etwas anderes, eine andere Ordnung, andere Normen und Institutionen vorzustellen und diese zu erschaffen – die fähig sind, dem Ereignis die Treue zu halten51 –, kann es das Neue nur im Modus des Zufalls geben. 48
C. Menke, Am Tag der Krise. Kolumnen, Berlin 2018, 38f. S. Wendel, Affektiv und inkarniert. Ansätze deutscher Mystik als subjekttheoretische Herausforderung, Regensburg 2002, 280f. 50 S. Wendel, In Freiheit glauben, 9. 51 Vgl. zur Dialektik von Ereignis und Treue A. Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus (TransPositionen), Wien 2009. 49
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So richtig es ist, die Tendenzen zur Selbstverkürzung offen zu legen, die modernes Freiheitsdenken in paradoxale Selbstwidersprüche treibt, so falsch ist es, diese Kritik vom Programm (Subjektphilosophie) auf die Idee (Unhintergehbarkeit der Freiheit des Einzelnen in allen theoretischen und praktischen Belangen) zu übertragen. Die programmatischen Selbstverkürzungen machen das normative Ideal der Moderne nicht falsch oder obsolet, sondern, mit Jürgen Habermas gesprochen, unabgegolten oder in Anlehnung an Derrida gesprochen: aufgegeben. Denn: Ohne Freiheit keine Kritik, keine Emanzipation, keine Gegenmacht, keine Singularität/Pluralität, und auch: keine Liebe. Es ist gerade letztere, die Freiheit schließlich auch und gerade theologisch unhintergehbar sein lässt. Hier sei die Argumentation Thomas Pröppers in Erinnerung gerufen, der Freiheit als Implikat des biblischen Gottes- und Glaubensbegriffs ausgewiesen hat. Die Achtung menschlicher Freiheit, so der Kerngedanke, ist Implikat der Selbstoffenbarung Gottes, wie sie sich in Schöpfung und Bundesgeschichte ereignet hat und in Person, Leben und Verkündigung Jesu Christi unüberbietbar zum Ausdruck gekommen ist: der Selbstoffenbarung Gottes als „unbedingt für den Menschen entschiedene Liebe“. Liebe aber ist nur als Freiheitsgeschehen denkbar: „In der Erfahrung von Liebe [kann] nur das frei Geschenkte […] überhaupt das Erfüllende sein.“52 Das Geschehen der Liebe setzt so zwei freie Subjekte voraus: den Liebenden, der sich frei dem Geliebten schenkt und den Geliebten, der frei auf dieses Geschenk antwortet, indem er die Liebe erwidert. Das bedeutet übertragen auf das Verhältnis von Gott und Mensch: Nur ein freies Geschöpf ist ansprechbar für Gottes Selbstmitteilung, das heißt für seine Liebe. Und nur ein freies Geschöpf kann Gott in einer dieser Selbstmitteilung entsprechenden Weise antworten, das heißt Gottes Liebe erwidern. Oder in den Worten Pröppers: Weil „nur ein freies Geschöpf seinen Gott als Gott anerkennen und deshalb Gott auch nur ihm das Höchste seiner Liebe, sich selbst, schenken kann, […] schließt ihre Mitteilung, um in der menschlichen Zustimmung zu ihrem Ziel kommen zu können, auch Gottes Achtung der menschlichen Freiheit ein.“53 Das bedeutet: „nicht nur als Grund der An52 53
T. Pröpper, Theologische Anthropologie, Bd. 1, Freiburg i. Br. 2012, 293. Ebd., 489.
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sprechbarkeit des Menschen für Gott, sondern auch als Instanz seiner Antwortfähigkeit im Gegenüber zu Gott, hat […] die formal unbedingte Freiheit als die von Gottes Selbstoffenbarung und Gnade selbst beanspruchte anthropologische Voraussetzung zu gelten.“54 Die Autonomie des Subjekts begründet also nicht nur seine Fähigkeit, religiösen Autoritäten prinzipiell zu widersprechen und sich gegen den Glauben an Gott zu entscheiden, sondern gerade diese Freiheit ist Voraussetzung für den Glauben: „Autonomie heißt nämlich nicht, dass inhaltlich etwas anderes höhergestellt wird als Gott, sondern dass der Glaubensakt aufs höchste ernst genommen wird: Niemand und nichts kann dem Menschen die Verantwortung dafür abnehmen. Denn Autonomie ist die Form, in der die Freiheit Gott bejaht; sie ist die Weise, wie sich die Annahme von Heil vollzieht.“55 Wenn wir nicht frei wären, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern glauben müssten, dann wäre Glaube kein personaler Akt, sondern ein bloßes Geschehen, das uns nicht in unserem Höchsten: unserer Freiheit und Liebe, involvieren würde, sondern in einer Art bewusstlosen Mechanik ablaufen würde. Daher gilt: Freiheit ist unhintergehbar. Sie ist nicht nur der Name des Problems (Herrschaft), sondern auch der Lösung (Verantwortung, Selbstbeschränkung, Kritik, Gegenmacht – und nicht zuletzt: Liebe). Radikalisierung statt Überwindung der Freiheit Unhintergehbar ist Freiheit mindestens in einem doppelten Sinn. Die genannten ethisch-politischen Praktiken und Institutionen: die Institutionen der Verantwortung und des Versprechens, die Praktiken der diskursiven Normfindung und -begründung, die Praktiken fundamentaler Kritik und Infragestellung des Bestehenden, Selbstverständlichen, Üblichen, die Praktiken kritisch-emanzipativer Transformation des Bestehenden und schließlichen die interpersonalen Vollzüge von Anerkennung (und die theologischen der Got54
T. Pröpper, Freiheit als Prinzip theologischer Hermeneutik, in: ders., Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg i. Br. 2001, 5–22. 55 H. Krings antwortet E. Simons, Freiheit als Chance. Kirche und Theologie unter dem Anspruch der Neuzeit, Düsseldorf 1972, 41f.; zitiert nach G. Essen, Die Autorität der Freiheit, 19.
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tes- und Nächstenliebe) setzten (einen emphatischen Begriff von) Freiheit voraus. Einen Begriff von Freiheit, der sich weder auf Instrumentalursächlichkeit noch auf Alternativmächtigkeit/indifferente Wahlfreiheit, noch auf Herrschaft reduzieren lässt. Die genannten ethisch-politischen Praktiken und Institutionen beanspruchen näherhin Freiheit in einem doppelten Sinn: einmal Freiheit im Sinne der Fähigkeit zum Nein, oder: Negativität/formale Unbedingtheit von Freiheit, als Fähigkeit, sich von jeder unmittelbaren Bestimmung zu distanzieren, die die Freiheit der Alternativmächtigkeit und Selbstbestimmung etc. begründet. Und sie beanspruchen Freiheit im Sinne der Fähigkeit zum Ja: der Fähigkeit, etwas Neues zu schaffen (das Setzen von Sein), und zwar so, dass es dem eigenen Setzen gegenüber Unabhängigkeit gewinnt. Ihre höchste Verwirklichung findet diese kreative Form der Freiheit in der Anerkennung anderer Freiheit – oder, mit Hannah Arendt gesprochen: in der Schaffung von jemand, der ein eigener Anfang in sich ist, der also selbst frei ist, einen Anfang zu setzen. Dem Vermögen der Negativität – der Entbestimmung, der Befreiung des Selbst von jedweder Bestimmung – entspricht das Vermögen der Affirmation – der Freisetzung anderer Freiheit durch die Bejahung des Bestimmtwerdens durch sie (oder eben: der Anerkennung anderer Freiheit). Es ist die formale Unbedingtheit unserer Freiheit, die uns einerseits dazu befähigt, uns ganz unbestimmt zu machen, indem wir jedliche Bestimmung negieren, als auch dazu, unsere Bestimmbarkeit durch eine andere Freiheit so vorbehaltlos zu bejahen, dass sie Bejahung (und dadurch Freisetzung) dieser Freiheit, nicht eines bestimmten Inhalts ist. Im Wesentlichen ist Freiheit also durch eine Freisetzungsdynamik gekennzeichnet, nicht (oder nur sekundär) durch eine der Bestimmung. Die Radikalisierung des Freiheitsdenkens besteht darin, diese Freisetzungsdynamik von Freiheit stark zu machen. Und das heißt: Die Radikalisierung von Freiheit besteht in der Aufhebung von Autonomie in Liebe, das heißt einem Ideal von Freiheit, das ohne Autonomie nicht möglich ist, aber die problematische Form von Freiheit als ein Bestimmen (oder Beherrschen) aufhebt in die Form der Anerkennung bzw. der Freisetzung anderer Freiheit. Dazu gleich mehr.
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4. Wunder als Ereignisse der Befreiung denken – jenseits von Einheit und Differenz Kommen wir zu der Frage nach den Wundern zurück. Leuchten einem die genannten Gründe für ein Festhalten am Ideal der Freiheit (im Sinne der eben genannten doppelten (Un)Fähigkeit zum Nein und zum Ja bzw. der Negativität und der Liebe) ein, dann ist die Achtung dieser menschlichen Freiheit auch das wesentliche Kriterium, das Konzepte des Handelns Gottes erfüllen müssen. Um dies zu tun, um Wunder/das Handeln Gottes freiheitssensibel zu denken, muss man aber, so meine These, in Kategorien denken, die sowohl substanz- oder dispositionsontologische als auch subjektphilosophische Dualismen übersteigen (Stichwort Konkurrenz und Bestimmungsdenken), ohne dafür auf panentheistische oder prozessmetaphysische Einheitsmodelle zurückzugreifen (Stichwort formal unbedingte Freiheit).56 Die Kritik an substanzontologischen Gott-Mensch-Konzeptionen klang in der Analyse des dispositionsontologischen Modells schon an: Denkt man das Verhältnis von Gott und Mensch in substanzontologischen Kategorien der Kausalität, läuft man einerseits Gefahr, göttliches Wirken und menschliche Freiheit in ein Verhältnis der Konkurrenz zu setzen (wer bestimmt eine Handlung ursächlich – Gott oder Mensch?). Oder, wenn man konzidiert, dass das göttliche Wirken nicht auf der gleichen Ebene wie geschöpfliche Ursachen zu verorten ist, sondern ihnen im Sinne der Erstursächlichkeit oder Finalursächlichkeit ermöglichend zugrunde liegt, den Begriff menschlicher Freiheit auf den einer unselbstständigen Zweit- oder Instrumentalursache zu verkürzen. Menschliche Freiheit ist dann maximal indifferente Wahlfreiheit gegenüber einem ihr äußerlich Vorgegebenen, nicht aber Freiheit im emphatischen Sinn der Fähigkeit, selbst einen Anfang zu setzen, etwas Neues zu schaffen, das es davor noch nicht gab. Mit der Reduktion menschlicher Freiheit in der Beziehung zu Gott auf indifferente Wahlfreiheit droht auch das göttliche Handeln zu einem uns äußerlich entgegenkommenden Ding zu verkommen, dem gegenüber wir dann am freisten sind, wenn es uns am wenigsten betrifft und interessiert (Stichwort Indifferenz). 56
Dafür argumentiert auch M. Breul, Gottes Geschichte. Eine theologische Hermeneutik der Rede vom Handeln Gottes, Regensburg 2022.
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Dieser Gefahr kausalitätstheoretischen Konkurrenzdenkens versuchen subjektphilosophische Modelle zu entgehen, indem sie das göttliche Wirken nicht als eine Ursache unter anderen Ursachen begreifen, sondern als Grund oder Prinzip menschlicher Subjektivität und Freiheit.57 Gott wird entsprechend transzendental entweder als ermöglichender Grund58 oder als erfüllendes Ziel59 einer autonomen, in ihren Vollzügen nur durch sich selbst bestimmten menschlichen Freiheit gedacht. Menschliche Freiheit auf der anderen Seite wird entweder als verdankte Freiheit oder als nur durch Gott in ihrem unendlichen Streben zu erfüllende gedacht. Oder: Freiheit verdankt sich der und wird erfüllt durch die Anerkennung durch Gott. Die Frage, mit der die subjektphilosophischen Modelle stehen und fallen ist meines Erachtens die, wie Anerkennung hier gedacht wird bzw. ob sie in der Rezeption des Anerkennungskonzepts die darin liegende Aufhebung dualen Subjektdenkens in ein dialektisches oder geisttheoretisches Freiheitsdenken mitgehen oder nicht. Denkt man Anerkennung rein subjekttheoretisch, so ist sie zu verstehen als Interaktion zweier autonomer, in sich ständiger Subjekte. Damit bringt man den Anerkennungsgedanken aber um seine konstitutionslogische Pointe, die ja gerade darin liegt, dass das Subjekt zum Selbstsein seine Totalität aufgeben muss. Dialektisch oder geisttheoretisch gedacht liegt im Gedanken der Anerkennung die Aufhebung einer Vorstellung bloß eigenständiger Subjektivität, genauer: Freiheit begründet. Denn anerkennungstheo57
Vgl. exemplarisch Saskia Wendel, die kausalitätstheoretischen Ansätzen einen Kategorienfehler attestiert, wenn sie Freiheit als Ursache (einer Handlung, eines Willensentschlusses etc.) denken: „Freiheit ist Grund, nicht Ursache, damit auch nicht dem Kausalitätsgedanken unterworfen, sie ist Prinzip noch der Willensund Handlungsfreiheit.“ (S. Wendel, In Freiheit glauben, 43) Sie verweist auf die „Differenz zwischen (transzendentalem) Prinzip und (ontologischer) Ursache, aus der folgt, dass Freiheit überhaupt nicht mit der Kausalitätskategorie in Verbindung gebracht werden kann, die über Seiendes ausgesagt wird, nicht aber über Prinzipien der Vernunft“ (ebd., 43). 58 Vgl. exemplarisch für „Verdanktheitsmodelle“ S. Wendel, Göttliche Offenbarung und menschliche Freiheit, 225 –251; M. Striet, Verdankte Autonomie. Humanwissenschaften und Schöpfungsglaube, in: A. Autiero/S. Goertz/M. Striet (Hrsg.), Endliche Autonomie. Interdisziplinäre Perspektiven auf ein theologischethisches Programm, Münster 2004, 123 –141. 59 Vgl. exemplarisch für „Erfüllungsmodelle“ T. Pröpper, Theologische Anthropologie, Bd. 1.
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retisch gedacht verdankt sich Freiheit nicht einem Akt der Selbstsetzung, sondern dem Anerkanntsein durch andere Freiheit. Und sie erfüllt sich nicht durch möglichst uneingeschränktes Bestimmen (also Herrschaft), sondern durch die Anerkennung anderer Freiheit (im aktiven Sinn wie im passiven). Dadurch sind Selbstsein und Beim-Anderen-Sein konstitutiv miteinander verbunden. Denn ich bin nicht dann am freiesten, wenn ich meinen Eigenstand möglichst ungehindert behaupte und durch nichts als mich selbst bestimmt bin. Sondern ich bin dann am freiesten, wenn ich andere Freiheit anerkenne, also ganz beim Anderen bin. Dialektisch gedacht ist Freiheit nicht Behauptung des Selbststandes, sondern Bejahung der Selbstentäußerung an den Anderen.60 Anerkennung ist nicht rein oder streng subjektphilosophisch denkbar, sondern im Denken der Anerkennung hebt man das dualistische Subjektdenken in ein dialektisches Geistdenken auf: Indem man die konstitutive Funktion anderer Freiheit für die Freiheit des Subjekts – für ihre Genese und ihre Erfüllung – denkt, kann man das Subjekt nicht mehr als autark, als abgeschlossen eigenständig oder eben als Totalität denken: Freiheit ist konstitutiv auf andere Freiheit als den sie freisetzenden Grund verwiesen. Geht man den eigentlich im Anerkennungsgedanken implizierten Schritt vom Subjekt zum Geist, von autonomer Freiheit der Selbstbestimmung zur geistigen Freiheit der Bejahung der Selbstentäußerung an den Anderen, nicht mit und denkt sie in Kategorien des (bloßen) Gegenüberstehens zweier in sich ständiger Subjekte, dann trifft auch die Verdanktheits- und Erfüllungskonzepte zum Denken des Gott-Mensch-Verhältnisses der gegenüber substanzontologischen Konzepten geäußerte Vorwurf des Konkurrenzdenkens. Diesen Einwand formuliert etwa Klaus Müller, der in der theistischen Architektonik, die das Verhältnis von Gott und Mensch als ein bloßes „Gegenüberstehen“ zweier Freiheiten konzipiert, das grundsätzliche Problem sieht, dass menschliche und göttliche Freiheit darin nur im Sinne einer Konkurrenz gedacht werden könnten, die zwangsläufig auf die Bestimmung Gottes als eine die menschliche Freiheit „revozierende Instanz“61 hinausliefe. 60
Vgl. C. Menke, Autonomie und Befreiung, 212. K. Müller, Streit um Gott. Politik, Poetik und Philosophie im Ringen um das wahre Gottesbild, Regensburg 2006, 191.
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Genauso wenig scheinen mir aber Modelle geeignet, die, um das Konkurrenzproblem zu lösen, von einer grundlegenden Einheit Gottes und des Menschen ausgehen – sei sie panentheistisch oder prozessmetaphysisch gedacht. Gott ist dann nicht personales Gegenüber des Menschen, sondern wird als apersonales Prinzip gedacht, das alles begründet und umschließt.62 Der prozessmetaphysische Panentheismus (A. L. Whitehead) etwa kritisiert die substanzontologische Metaphysik wie die Subjektphilosophie im Namen eines prozessual-holistischen Denkens in Kategorien eines Werdens, das als Prozess der Konkretion: des Übergangs von Möglichkeit in Wirklichkeit, verstanden wird. Dabei geht er von einem wechselseitigen Konstitutionsverhältnis aus zwischen Gott, der die Welt begründet, insofern er die Totalität aller Möglichkeiten in sich umfasst und jedem Wirklichkeitsmoment als Prinzip der Konkretion ein subjektives Ziel vorgibt, und der Welt, die Gott in seinem Werden durch ihren Konkretionsprozess bestimmt. Die auf Whiteheads Ansatz aufbauende Prozesstheologie (Ch. Hartshorne) interpretiert das göttliche All-Einheitsprinzip als universales, weil mit allen Wirklichkeitsmomenten interagierendes Individuum, das menschliche Freiheit durch die Eröffnung von Prozessen der Selbstschöpfung begründet. Gott konkurriert dann nicht mit menschlicher Freiheit, diese entsteht durch Gott. Auch diese Konzepte sind freiheitstheoretisch problematisch, denn die darin greifbar werdende partizipationsontologische (Hartshorne) und/oder finalursächliche (Whitehead) Begründung menschlicher Freiheit führt zu ihrer Unterbestimmung, weil sie die Unbedingtheit von Freiheit – ihre Fähigkeit, sich zu jeder Bedingtheit zu verhalten und sich jedweder Begründung zu entziehen – unterminiert. Das Prinzip der All-Einheit ermöglicht zwar den Eigenstand des Ich in seinen Ausdifferenzierungen, erlaubt aber „keinen Eigenstand des Ich ihm gegenüber“63. Weil dem Ich so die Möglichkeit fehlt, sich frei zu seinem Grund zu verhalten, wird es letztlich heteronom bestimmt. „[I]n letzter Konsequenz bin nicht ich es, die denkt, fühlt, erlebt, son-
62
Vgl. exemplarisch K. Müller, Gott: totus intra, totus extra. Über Charles Hartshornes Transformation des Theismus, in: J. Enxing/K. Müller (Hrsg.), Perfect changes. Die Religionsphilosophie Charles Hartshornes, Regensburg 2012, 11–24. 63 M. Lerch, All-Einheit und Freiheit, 175.
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dern ein ichloser Grund, dessen Moment ich bin, also ein anonymes Es, dem sich mein Fühlen verdankt.“64 Fazit: Man braucht ein anderes Modell. Die Frage, die ich daher in den Raum stellen möchte, ist, ob man nicht den von Gasser gewählten Ausgangspunkt der humeschen Wunderkritik aufnehmen, aber von Hume ausgehend eine andere Linie der kritischen Weiterführung einschlagen und für die Frage nach der Möglichkeit eines besonderen Handelns Gottes fruchtbar machen könnte. Gemeint ist diejenige kritische Weiterführung von Humes Begriff der Naturgesetze, die am epistemischen Status des Gesetzesbegriffs ansetzt (und Humes eigene Kritik daran produktiv weiterführt, indem sie epistemisch systembildend wird): die Kritik Immanuel Kants – dessen Weg von Hume her führt nicht in eine andere Vorstellung objektiver Regularität (also eine Ersetzung von Notwendigkeit durch Dispositionalität), sondern in eine neue Sicht auf den grundsätzlichen Status von Regularität: Sie ist nichts, was der Natur von sich aus innewohnt, sondern immer Resultat kategorialer Wahrnehmung von Natur durch das Subjekt – also mit Hegel gesprochen: Substanz ist Subjekt. Diese Formel – Substanz ist Subjekt – gilt nicht nur für die Frage der Regularität der natürlichen Natur, sondern auch für die Frage nach der Normgenese und -begründung: Normen sind nichts, was uns durch eine substanzielle Natur vorgeben ist (ein substanziell bestimmtes Gutes oder Wahres), sondern, wie oben bereits ausgeführt, Produkt der Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen. Oder nochmal grundsätzlicher: Ordnung gründet in Freiheit. Diese Freiheit ist aber, und das ist der Schritt über Kant hinaus, einerseits nicht monologisch, sondern intersubjektiv und andererseits und damit verbunden, nicht subjektphilosophisch, sondern dialektisch zu denken. Auf eine Formel verkürzt: Subjekt ist Liebe. Oder: Der subjektphilosophisch gedachte Begriff der Autonomie muss in den dialektischen Begriff der Liebe aufgehoben werden. Aufgehoben im dreifachen Sinne der Überwindung, Bewahrung und Hebung auf eine andere Ebene. Was überwunden werden muss ist ein Verständnis von Autonomie, das autonome Freiheit als Selbstbestimmung denkt, bzw. so, dass sie auf der Exklusion des Anderen basiert. In dieser Lesart ist die höchste Form der Freiheit Herrschaft: das möglichst uneingeschränkte Bestimmen von mir
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S. Wendel, Affektiv und inkarniert, 278.
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selbst, dem Anderen und der Welt. Diese Form reduzierter Autonomie wird zurecht mit den oben referierten Vorwürfen der Willkürfreiheit, der Herrschaft, der Paradoxie konfrontiert. Was bewahrt werden muss ist Autonomie im Sinne der Unhintergehbarkeit der Freiheit des Subjekts in allen Belangen: keine Bestimmung an der Freiheit des Subjekts vorbei. Oder: Bewahrt werden muss einerseits die formale Unbedingtheit von Freiheit, ihre Kraft der Negativität. Bewahrt werden muss andererseits die Kreativität von Freiheit, ihr Vermögen, etwas zu setzen, das unabhängig von ihr Bestand hat: Freiheit als (Frei)Setzen neuen Seins. Dialektisch gedacht kann diese Form der Autonomie auf eine höhere Ebene gehoben werden, indem sie als Liebe gedacht wird: als Anerkennung anderer Freiheit, die die Form der Bejahung der Selbstentäußerung an den Anderen65, des Bei-sich-Seins-im-Anderen hat.66 Die höchste Form der Freiheit ist nicht Herrschaft (also möglichst uneingeschränkte Bestimmungsmacht), sondern Liebe (also Selbstentäußerung an den Anderen im Sinne der freien Bejahung der Freiheit des Anderen: des Bestimmtwerdens durch den Anderen). In diese Freiheit der Liebe sind die beiden Momente autonomer Freiheit – das Moment der Negativität (formale Unbedingtheit oder Vermögen des Nein) und das Moment der Anerkennung (aktiv-passive Gabe des Ja) – aufgehoben: Liebe mag in ihrem Auftreten Ereignischarakter haben, also etwas sein, was uns widerfährt. Personal vollzogen ist Liebe nur, wenn wir sie wollen: Wenn wir uns zur Treue diesem Ereignis gegenüber entscheiden. Wenn wir die Bejahung der Selbstentäußerung an den Anderen frei wollen und vollziehen. Liebe ist das Wollen anderer Freiheit, die Bejahung des Bestimmtwerdens durch die andere Freiheit. Liebe ist freiheits65
Vgl. C. Menke, Autonomie und Befreiung, 212. Dabei gilt es mit Blick auf Hegel eine befreiend-freisetzende von einer vergesellschaftenden Form der Anerkennung zu unterscheiden. Vgl. zu diesem Unterschied S. Rosenhauer, Excess and Event. The transgressive sources of (r)evolution, in: M. Breul/C. Helmus (Hrsg.), The Philosophical and Theological Relevance of Evolutionary Anthropology (Science and Religion), London 2023, 173–188. Zur dekonstruktiven Kritik an vergesellschaftenden Formen der Anerkennung vgl. A. G. Düttmann, Zwischen den Kulturen. Spannungen im Kampf um Anerkennung (edition suhrkamp 1978), Frankfurt a. M. 1997. Zur psychoanalytischen Kritik vgl. E. L. Santner, On the Psychotheology of Everyday Life. Reflections on Freud and Rosenzweig, Chicago 2007.
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vermittelte Passivität. Oder: Keine Liebe ohne die formale Möglichkeit des Nein. Und in der Liebe verwirklicht sich unsere Freiheit als Fähigkeit zum Ja. Denn die liebende Anerkennung anderer Freiheit setzt sie zur Freiheit, zu einem eigenen, ihr gegenüber unabhängigen Sein, frei. Deshalb ist Liebe, nicht Herrschaft, das Analogat göttlicher Allmacht und damit der höchsten Verwirklichung von Freiheit: „Alle endliche Macht macht abhängig, nur die Allmacht kann unabhängig machen, aus nichts hervorbringen, was Bestand hat in sich dadurch, dass die Allmacht beständig sich zurücknimmt. […] Dieses ist das Unbegreifliche, dass die Allmacht nicht bloß das Imposanteste von allem hervorbringen kann: der Welt sichtbare Totalität, sondern das Gebrechlichste von allen hervorzubringen vermag: ein gegenüber der Allmacht unabhängiges Wesen. Dass also die Allmacht, die ihrer gewaltigen Hand so schwer auf der Welt liegen kann, sogleich so leicht sich machen kann, dass das Gewordene Unabhängigkeit erhält […]. Nur die Allmacht vermag es in Wahrheit.“67 Wunder freiheitssensibel denken heißt auf dieser Linie, sie als Ereignisse der Freisetzung von Freiheit durch Gott zu denken.68 In dialektischen Kategorien der Liebe gedacht stehen Gott und Mensch sich nicht wie zwei dinganaloge Substanzen und auch nicht wie zwei im schlechten Sinn autonome Subjekte, sondern wie zwei Personen gegenüber, ihr Verhältnis ist nicht eines konkurrierender Bestimmung, sondern der Freiheit, genauer der Liebe. Gottes Handeln zielt entsprechend nicht auf eine kausale Determination, sondern auf die Freisetzung menschlicher Freiheit. Also: Wunder sind nicht Ereignisse kausaler Bestimmung, sondern Ereignisse der Ent-Bestimmung, der Befreiung oder Freisetzung geschöpflicher Freiheit.
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S. Kierkegaard, Reflexionen über Christentum und Naturwissenschaft, in: ders., Eine literarische Anzeige, übers. von E. Hirsch (Gesammelte Werke 17), Gütersloh 1994, 123 –140, 124. 68 Vgl. zu diesem Verständnis von Wundern auch S. Rosenhauer, Der nahe Gott. Das Argument aus der religiösen Erfahrung, in: M. Breul/A. Langenfeld/S. Rosenhauer/F. Schiefen, Gibt es Gott wirklich? Ein Streitgespräch, Freiburg i. Br. 2022, 113 –147.
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Dadurch unterläuft man einerseits das Konkurrenzverhältnis dualistischer Konzeptionen des Gott-Mensch-Verhältnisses, denn der Bezug auf das Andere der Freiheit ist immanenter Bestandteil der Freiheit, insofern Freiheit ihren Grund nicht in sich selbst hat, sondern immer freigesetzte Freiheit ist. Und andererseits spart man sich das Freiheitsproblem der Einheitsmodelle, weil auf der Linie des skizzierten dialektischen Freiheitsbegriffs die Freisetzung von Freiheit durch das Wirken Gottes nicht partizipationsontologisch zu verstehen ist (Gott als ontologischer Grund von Freiheit), sondern anerkennungstheoretisch (Gott als personaler Grund von Freiheit). Theologisch kann das Freisetzungs- und Befreiungsgeschehen trinitarisch ausbuchstabiert werden.69 Das initiale Ja Gottes setzt Freiheit frei (Schöpfung70) und befreit Freiheit zu sich selbst (Offenbarung). Die Pneumatologie verdient dabei besondere Aufmerksamkeit. Denn: „Wo der Geist ist, da ist Freiheit.“71
69
So etwa bei K. von Stosch, Gott – Macht – Geschichte. Versuch einer theodizeesensiblen Rede vom Handeln Gottes in der Welt, Freiburg i. Br. 2006, bes. 337–399. 70 Vgl. zu einem anerkennungstheoretisch interpretierten Schöpfungsbegriff K. Wenzel, Glaube in Vermittlung. Theologische Hermeneutik nach Paul Ricœur, Freiburg i. Br. 2008, 321–328. 71 Vgl. dazu die Skizzen in S. Rosenhauer, Negativität und Fülle. Von der materialistischen Dialektik des Geistes zum pneumatischen Materialismus, in: A. Langenfeld/S. Rosenhauer/S. Steiner (Hrsg.), Menschlicher Geist – Göttlicher Geist. Beiträge zur Philosophie und Theologie des Geistes, Paderborn 2021, 375 – 426; dies., Jenseits von Einheit und Differenz. Pneumatologische Irritationen der theologischen Freiheitsdebatte, in: B. Dahlke/C. Dockter/A. Langenfeld (Hrsg.), Christologie im Horizont pneumatologischer Neuaufbrüche. Bestandsaufnahmen und Perspektiven (QD 325), Freiburg i. Br. 2022, 136 –184. Eine pneumatologische Interpretation des freisetzenden Wirkens Gottes im Ausgang von Karl Rahners Axiom direkter Proportionalität liefert A. Langenfeld, Frei im Geist. Studien zum Begriff direkter Proportionalität in pneumatologischer Absicht, Innsbruck 2021.
III.
Kontinentale Perspektiven
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Die Personalität Gottes als Grund seines Weltverhältnisses Dogmatisch-methodische Überlegungen zum Glauben an die göttliche Vorsehung Georg Essen
„Die Selbstbesinnung über die Methode unserer Gedanken ist in Fällen verwickelter Probleme stets das Mittel, um auch richtig zur Sache zu kommen.“1
1. Die Lehre von der Vorsehung Gottes als ein Problem der dogmatischen Denkform An diese Sentenz von Ernst Troeltsch sollte denken, wer sich mit dem Begriff der Vorsehung beschäftigt. Denn es ist problematisch, die christliche Lehre von der Vorsehung philosophisch oder theologisch zu reflektieren, ohne sich der Äquivokationen ihrer Begriffsgeschichte bewusst zu werden. Die frühchristliche Vorsehungslehre lässt sich insofern als ein Ringen um eine dem biblischen Gottesverständnis gemäße Denkform begreifen, als sie das Wagnis eingehen musste, die zeitgenössische antike Metaphysik der Vorsehung zu rezipieren. Der Rückgriff insbesondere auf das stoische Kosmosdenken, das die pronoia als zweckvolle Ordnung der Welt kraft der ihr innewohnenden Weltvernunft auffasst, sollte die christliche Vorsehungslehre auch deshalb nachhaltig beeinflussen, weil die Theodizeefrage durch die Erhellung der von Gott beim Schöpfungsakt eingestifteten Ordnung beantwortet werden sollte. Nun hatte sich freilich der christlich-antike Vorsehungsbegriff, deutlich beeinflusst von der Stoa, auf den Ursprung der Welt konzentriert.2 Im Rück1 E. Troeltsch, Was heißt „Wesen des Christentums“?, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (2. Neudr. der Aufl. Tübingen 1922), Aalen 1981, 386 – 451, 391. 2 Zu den folgenden eher kursorisch gehaltenen theologiegeschichtlichen Ausfüh-
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Georg Essen
gang auf die von Gott beim Schöpfungsakt eingestiftete Ordnung sollte Gottes vorsehende Fürsorge ergründet werden. Die Folge war, dass die Vorsehung als der göttliche Weltplan begriffen wurde, der unter dem rational einsehbaren Weltgesetz steht. Auch wenn die wohlfeile Rede von der „Hellenisierung des Christentums“ die komplexen Rezeptionsverhältnisse und Inkulturationsprozesse des antiken Christentums wohl kaum angemessen interpretiert, hinterlässt der patristische Befund einen zwiespältigen Eindruck. Zwar wird das „Weltgesetz“, genauer: der Logos, der die Welt zur Einheit eines „Systems“ zusammenordnet, von den christlichen Theologen der Kirchenväterzeit durch seine Identifikation mit Christus „personalisiert“. Und in der alexandrinischen Theologie wird die hellenistische Logos-Spekulation trinitätstheologisch reformuliert. Leitend ist hier der Gedanke, dass der Vater seine Schöpfung durch den Logos und den Geist ins Dasein gerufen hat, im Sein erhält und ihrer Vollendung entgegenführt. Zudem tragen die patristischen Theologen eine gegenüber der Stoa wesentliche Korrektur in den Vorsehungsgedanken ein, indem sie entschieden an der menschlichen Freiheit festhalten. Für die Logosspekulation insgesamt und entsprechend auch für den Vorsehungsgedanken bleibt freilich die kosmologische Frage nach der Weltentstehung und -ordnung leitend. Dies wiederum hat die Vorstellung zur Folge, dass Gott seine Weltregierung dadurch ausübt, dass er das Weltganze als wohlkomponierte Harmonie geschaffen und folglich alles einer zweckhaften Ordnung unterstellt hat. Zwar gelang es der patristischen Theologie – etwa bei Augustinus oder bei Irenäus von Lyon – die kosmologische Engführung des Vorsehungsbegriffs heilsgeschichtlich zu dynamisieren. Doch können diese Ansätze, auch dies gehört zum komplexen theologiegeschichtlichen Befund, nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich rungen vgl. G. Essen, Vorsehung II. Theologie- und dogmengeschichtlich, in: LThK3 10 (2001), 897–899; ders., Gottes Treue zu uns. Geschichtstheologische Überlegungen zum Glauben an die göttliche Vorsehung, in: IKaZ 36 (2007), 382–398. Vgl. darüber hinaus R. Bernhardt, Was heißt „Handeln Gottes“? Eine Rekonstruktion der Lehre von der Vorsehung, Gütersloh 1997; T. Schneider/L. Ullrich (Hrsg.), Vorsehung und Handeln Gottes (QD 115), Freiburg i. Br. 1988; A. von Scheliha, Der Glaube an die göttliche Vorsehung. Eine religionssoziologische, geschichtsphilosophische und theologiegeschichtliche Untersuchung, Stuttgart 1999; K. von Stosch, Gott – Macht – Geschichte. Versuch einer theodizeesensiblen Rede vom Handeln Gottes in der Welt, Freiburg i. Br. 2006.
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die patristischen Theologen insgesamt kaum vom hellenistischen Verständnis des Göttlichen als dem notwendigen ontologischen Grund der vorhandenen Wirklichkeit lösen konnten. Auch die philosophische Vorgabe, mit dem Gottesbegriff seine wesenhafte Unveränderlichkeit verbinden zu müssen, wurde nicht wirklich produktiv bewältigt. All dies zusammengenommen hat jedenfalls zu erheblichen Schwierigkeiten geführt, die „göttliche Weltregierung“ zurückzubinden an die biblisch bezeugte schöpferische Freiheit Gottes in seinem spontanen und kontingenten Geschichtshandeln. Diese Denkformproblematik sollte die weitere Entwicklung der christlichen Vorsehungslehre nachhaltig prägen, wenn nicht gar belasten. Die begriffstheoretische Einhegung dominierte den Vorsehungsbegriff durch ordo-philosophische Hintergrundannahmen. Weithin ungeprüft übernahm die Tradition die Vorstellung von der Ordnung des Seins, die als eine metaphysische Notwendigkeit begriffen wird, die im Wesen Gottes enthalten ist. Das hat zur Folge, dass eine solche kosmologische Ordnung in einer Weise verstanden wird, als ob sie dem göttlichen Freiheitshandeln vorgeordnet wäre. Das führte zu Spannungen sowohl im Verhältnis von Schöpfungsordnung und göttlicher Freiheit als auch im Verhältnis von göttlicher Ordnung und menschlicher Freiheit. Es hat den Anschein, als ob, was den Vorsehungsbegriff betrifft, das Thema hinter dem Thema nicht eigens in den Blick genommen wird. Welcher Gottesbegriff ist der christlichen Vorsehungslehre zugrunde zu legen? Von welcher schöpfungs- und heilsgeschichtlichen Hermeneutik ist er zu normieren? Denn es dürfte zumindest klar sein, dass im begründungstheoretischen Gebrauch des Gottesbegriffs das Begriffsfeld aufzudecken ist, das für die Vorsehung Gottes von konstitutiver Bedeutung ist. Doch auch dieses Problem wurde weithin nicht auf die philosophische Frage zurückgeführt, welcher Gottesbegriff eigentlich der Vorsehungslehre zugrunde gelegt werden muss. Dabei sollte eigentlich doch klar sein, dass der Gottesbegriff hermeneutisch als Sinnbegriff jenes Verständnisses fungiert, das Menschen von sich, ihrer Geschichte und der Welt im Ganzen machen. Diesem methodischen Problem möchte ich im Folgenden nachgehen, und zwar in einer auf Grundsätzliches zielenden Skizze, die auf die Frage zielt, auf welchem Wege die Rede von Gottes Wesen und seinen Eigenschaften zu begründen ist. Denn hier fallen meines Erachtens die dogmatischen Entscheidungen, die für den christlich
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zu begründenden Vorsehungsbegriff maßgeblich sind. Um diese These zu begründen, gehe ich auf eine Problemkonstellation zurück, die philosophiehistorisch in der sogenannten Sattelzeit der Moderne angesiedelt ist. Hier nämlich, im Halbjahrhundert um 1800, stoßen wir auf Diskurse, in denen das von jeher spannungsreiche Verhältnis von Philosophie und Theologie, von Wissenschaft und Religion im Bezugsrahmen der kritischen Philosophie Kants neu verhandelt wurde. Unter ihnen ragen drei Kontroversen hervor, die zweifelsohne zu den ganz großen geistesgeschichtlichen Debatten der Philosophie- und Theologiegeschichte gehören: der „Pantheismusstreit“ von 1785, der „Atheismusstreit“ von 1798/99 sowie der „Theismusstreit“ von 1811/12.3 Stets ging es bei diesen Streitsachen in immer neuen Anläufen um die gedankliche Fundierung und die vernunftförmige Ausweisbarkeit des Gottesbegriffs. Gewissermaßen als Katalysator war insbesondere Friedrich Heinrich Jacobi an allen Streitsachen beteiligt und formulierte mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit unnachgiebig das Problem, das zum Subtext der christlichen Vorsehungslehre gehört: Wie unverzichtbar ist die Rede von der Personalität Gottes zur Begründung seines Weltverhältnisses? In seinen Auseinandersetzungen – zunächst mit Moses Mendelssohn über Lessings angeblichen Pantheismus, dann mit Fichte über die vermeintlich atheistischen Konsequenzen der von diesem vorgenommenen Identifizierung Gottes mit dem Gedanken einer moralischen Weltordnung und schlussendlich mit Schelling über die Möglichkeit einer wissenschaftsförmigen Gotteserkenntnis und die inhaltliche Bestimmung des Gottesgedankens – stand für Jacobi ein Thema stets im Mittelpunkt seines Interesses: die Frage nach der Denkbarkeit des Begriffs eines personal verstandenen und deshalb zu Schöpfung und Offenbarung freien Gottes. Für Jacobi jedenfalls ist innerhalb des von Kant her eröffneten Denkraums diese Möglichkeit epistemologisch verstellt. Die Gründe, die für diese Positionierung ausschlaggebend sind, müssen uns nicht weiter interessieren, sondern es genügt der Hinweis, dass Jacobi die in den diversen 3
Vgl. G. Essen/C. Danz (Hrsg.), Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit, Darmstadt 2012; W. Jaeschke (Hrsg.), Der Streit um die Göttlichen Dinge (1799 –1812). Mit Texten von Goethe, Hegel, Jacobi, Novalis, Schelling, Schlegel u. a. und Kommentar, Hamburg 1999.
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Systementwürfen seiner Zeit auf den Weg gebrachte Verklammerung von Vernunft- und Subjektbegriff dafür verantwortlich machte. Das Ergebnis lief Jacobi zufolge darauf hinaus, dass der Theismus, für den die Vorstellung der Persönlichkeit Gottes ebenso zentral ist wie die Denkbarkeit eines freien Weltverhältnisses Gottes, nachhaltig in die Krise geraten ist. Er misstraute mithin der Faszination, die die Philosophie des Spinoza auf seine Zeitgenossen ausübte, und begegnete der in ihr liegenden religionsphilosophischen Grundoption mit Skepsis. Sie sollte nämlich vor dem Hintergrund des in die Krise geratenen christlichen Gottesgedankens eine neue, der Vernunft selbst nachvollziehbare Gewissheit der Immanenz des Transzendenten eröffnen. Das Gegenprogramm, auf das Jacobi setzte, sollte darauf zielen, auf die Vernunftförmigkeit des Gottesbegriffs zu verzichten und ihn stattdessen allen gedanklichen Vermittlungen zu entheben, was aber heißt: ihn der reflexionslosen Unmittelbarkeit des Gefühls zuzuordnen.4 Eine Erinnerung an die philosophisch-theologischen Streitsachen dürfte bereits deshalb sinnvoll sein, weil die heutige Krise des klassischen Theismus, die meiner Wahrnehmung nach auch in der Anlage unseres Sammelbandes mitschwingt, keineswegs neu ist. Bereits hier wurde die begriffliche Tragfähigkeit des Konzepts eines personalen Gottes diskutiert und Alternativen jenseits traditioneller Gottesbilder ausgearbeitet. Bis auf die Sattelzeit der Moderne5 müssen wir offenbar zurückgehen, um das Ausmaß des grundlegenden Plausibili4
Vgl. S. Schick, Vermittelte Unmittelbarkeit. Jacobis „salto mortale“ als Konzept zur Aufhebung des Gegensatzes von Glaube und Spekulation in der intellektuellen Anschauung der Vernunft (Epistema 423), Würzburg 2006. Vgl. ferner G. Essen, Jacobi über Gott und Freiheit. Problemlagen einer Religionsphilosophie in der Moderne, in: K. Viertbauer/S. Lang (Hrsg.), Gott nach Kant? Die Rolle Gottes in der Philosophie nach Kant, Hamburg 2022, 181–195; ders., Die philosophische Moderne als katholisches Schibboleth, in: S. Wendel/T. Schärtl (Hrsg.), Gott – Selbst – Bewusstsein. Eine Auseinandersetzung mit der philosophischen Theologie Klaus Müllers, Regensburg 2015, 139 –156. 5 Zum Sattelzeit-Theorem, das im Hintergrund der folgenden Ausführungen steht, vgl. R. Koselleck, Einleitung, in: ders./W. Conze/O. Brunner (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, XIII–XXVII, bes. XV–XIX; ders.: Das 18. Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: R. Herzog (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewusstsein (Poetik und Hermeneutik 12), München 1987, 269 –283; ders., Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977.
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tätsverlustes zu erfassen, den der überlieferte Gottesgedanke erfahren musste. Ein extramundanes Wesen, das mit übernatürlicher Kausalität in der Welt wirkt, ließ sich am Ende des 18. Jahrhunderts nur noch schwer mit dem aufgeklärten Selbst- und Weltverständnis des Menschen vermitteln. Die bleibende Aktualität der damals geführten Debatten um die Persönlichkeit Gottes dürfte in der Tat darin liegen, dass die sich verändernde gesellschaftliche, kulturelle und soziale Realität in der Moderne ganz unmittelbar zum Subtext dieser Debatten gehört. Anders gewendet: Der Streit um die Persönlichkeit Gottes ist ein Streit um die Selbstdeutung des Menschen! Dieser Zusammenhang tritt mit aller Klarheit in der Position Fichtes zutage, mit der dieser den Gedanken der Persönlichkeit Gottes glaubt ablehnen zu müssen.6 Es geht hier ja nur vordergründig um den Projektionsverdacht, dem zufolge die anthropomorphe Übertragung der Persönlichkeitsvorstellung auf Gott diesen verendlichen würde. Bei Fichte verliert der Gottesbegriff vielmehr seine prinzipientheoretische Stellung zur Begründung des religiösen Bewusstseins. Er ist stattdessen eine, wie man vielleicht sagen könnte, abgeleitete und mithin sekundäre Abstraktion, die sich allererst als Resultat einer Reflexion einstellt, mit der sich das religiöse Bewusstsein im Vollzug seines moralischen Handelns seiner selbst vergewissert. Die weitere Argumentation Fichtes muss uns nicht interessieren, wenn nur deutlich geworden ist, dass dem Subjektbegriff die epistemologische Funktion übertragen wird, den Gottesbegriff zu generieren. Damit aber dürfte nun zugleich hinreichend deutlich geworden sein, dass sich der Theorierahmen grundsätzlich ändert, in dem der religionsphilosophische Streit um die Persönlichkeit Gottes geklärt werden kann. Im Zentrum der seinerzeitigen Denkanstrengung steht nicht der Gottesbegriff als solcher, sondern der ihn fundierende Subjektbegriff. Das hatte, wie bereits angedeutet, Jacobi klar erkannt, aber darüber hinaus auch sein Kontrahent im Theismusstreit.7 Sowohl in seiner Freiheitsschrift als auch in der Weltalterphilosophie legt Schel6
Zum Atheismusstreit vgl. C. Danz, Der Atheismusstreit um Fichte, in: G. Essen/ ders. (Hrsg.), Philosophisch-theologische Streitsachen (s. Anm. 3), 135 –213. 7 Vgl. G. Essen, Der Theismusstreit (1811/12). Die Kontroverse zwischen Jacobi und Schelling über die „Göttlichen Dinge“, in: ders./C. Danz (Hrsg.), Philosophisch-theologische Streitsachen (s. Anm. 3), 211–257.
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ling dar, dass der Begriff der Freiheit mit dem der Persönlichkeit Gottes aufs Engste verbunden ist.8 Diese Einsicht begründet folgerichtig das Interesse, den Gottesbegriff im Rahmen einer philosophischen Begründung der menschlichen Freiheit zu bestimmen. Für Schelling kommt jedoch noch eine andere Überlegung hinzu, über die er sich mit Jacobi entzweit hatte. Weil es mit der bloßen Behauptung der Persönlichkeit Gottes nicht getan ist, muss nach einer wissenschaftlichen Begründung des infragestehenden Theismus Ausschau gehalten werden. Das wiederum bedeutet, dass die prinzipientheoretische Bestimmung des Gottesbegriffs im Freiheitsgedanken die Anstrengung einfordert, den Gedanken der Persönlichkeit Gottes als solchen zu begreifen. Mit anderen Worten: Das Verständnis der Freiheit entscheidet darüber, in welcher Weise wir den Gottesbegriff inhaltlich bestimmen. Zu den Argumentationsfiguren, mit denen der späte Schelling die ebenso vernunftförmige wie begriffsexplikative Generierung eines personalen Gottesbegriffs begründet9, sei nur so viel angemerkt: Der Grundgedanke besteht darin, dass die ihrer eigenen Kontingenz gewahr werdende Vernunft zu der Einsicht vorstößt, sich selbst nicht begründen zu können. Folglich könne sie ihrer eigenen Existenz wie der von ihr begriffenen Wirklichkeit einen, wie es bei Schelling heißt, unvordenklichen Grund lediglich voraussetzen. Daraus ergibt sich nicht nur die Einsicht in die Externalität des Sinnes für eine der Selbstbegründung nicht fähige Vernunft, sondern er erlaubt auch Rückschlüsse auf die inhaltliche Bestimmtheit des infragestehenden Sinnbegriffs: Nur vollkommene Freiheit kann, so lautet die Kurzformel, Sinngrund und Sinnerfüllung der menschlichen Freiheit sein. Und des Weiteren gilt, dass sich der unvordenkliche Grund in Freiheit dazu bestimmt haben muss, die Welt und den Menschen zu setzen. Denn die im Medium freier Reflexion erzeugte Kontingenzevi8
Zu der hier vorausgesetzten Schellingdeutung vgl. vor allem T. Pröpper, Theologische Anthropologie, Bd. 1, Freiburg i. Br. 2011, 360 –374; M. D. Krüger, Göttliche Freiheit. Die Trinitätslehre in Schellings Spätphilosophie (Religion in Philosophy and Theology 31), Tübingen 2008; F. Meier, Transzendenz der Vernunft und Wirklichkeit Gottes. Eine Untersuchung zur Philosophischen Gotteslehre in F. W. J. Schellings Spätphilosophie (ratio fidei 21), Regensburg 2004. 9 Zu Schellings Begriff der Persönlichkeit Gottes vgl. T. Buchheim/Fr. Hermanni (Hrsg.), „Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde“. Schellings Philosophie der Personalität, Berlin 2004.
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denz widerspricht der Behauptung, dass die Setzung von Welt und Mensch notwendig ist. Wichtig ist schließlich, dass die rein rationale Philosophie, die die Idee Gottes als vollkommene Freiheit denkt, dem Denken nur die Möglichkeit eines wirklichen, zum Selbsterweis freien Gottes eröffnet.
2. Methodische Zwischenüberlegungen zur Begründung göttlicher Wesensund Eigenschaftsaussagen Es dürfte klar sein, dass die Theologie, die eine christliche sein will, vom Begriff der Offenbarung nicht lassen kann. Dies hatte Schelling klar erkannt, der deshalb „alles Gewicht auf den freien Ursprung der Offenbarung legt und sie als die ‚Manifestation des allerfreiesten, ja persönlichsten Willens der Gottheit‘ begreift“.10 Die von Schelling her eröffnete Einsicht in die Differenz von Offenbarungs- und Vernunftwahrheit erzwingt jedoch eine Neubesinnung auf die Frage, auf welchem Wege sich unsere Aussagen über die Existenz und das Wesen Gottes gewinnen lassen und wie sie zu begründen sind. Schellings Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung erzwingt eine Korrektur der traditionellen Begründung von Aussagen über das Wesen Gottes. Die These, der ich mich im Folgenden zuwenden werde, lässt sich im Anschluss an Kants Theismusbegriff wie folgt zusammenfassen: Kant zufolge stellt sich der philosophische Theismus Gott als ein Wesen vor, „das durch Verstand und Freiheit der Urheber aller Dinge“ sei.11 Zwar folgt auch der theologische Theismusbegriff dieser Definition, hält aber daran fest, dass die Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte Jesu das sachliche Ausgangsdatum des christlichen Bekenntnisses zu dem Gott ist, der als von Welt und Mensch verschiedene Wirklichkeit der „Schöpfer des Himmels und der Erde“ ist. Zwar teilt der christliche Glaube mit 10
T. Pröpper, Theologische Anthropologie, Bd. 1 (s. Anm. 8), 369; vgl. ebd., 360 –374. Zur Frage, ob Schellings Offenbarungsphilosophie den philosophischen Kredit nicht überzeichnet und wesentliche Gehalte, die zu denken er der positiven Philosophie überträgt, nicht faktisch dem Geltungsbereich einer systematischen Theologie zukommen, die in der faktisch ergangenen Offenbarung den Erkenntnisgrund ihrer Aussagen erblickt, vgl. ebd., 371–374; F. Meier, Transzendenz (s. Anm. 8), 229 –292. 11 Vgl. KrV B 659.
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dem Theisten, den Kant vor Augen hat, die Überzeugung, dass Gott ein „lebendiger Gott“ ist.12 Aber das Wissen darum ist theologischerseits ein positiver, das heißt: ein der Vernunft gegebener Inhalt. Dass Gott ursprünglich und bleibend frei ist, ist eine Erkenntnis, verdankt sich für uns Menschen – wovon der alttestamentliche Gottesname in Ex 3,14 beredt Zeugnis gibt – der unverfügbar freien Selbstgegenwart Gottes in seinem Offenbarwerden. Erst durch das unableitbar freie Offenbarungshandeln Gottes wird sein Wesen für uns zugänglich. Aussagen über die infragestehende Personalität Gottes sind, mit anderen Worten, Gegenstand einer offenbarungstheologischen Begründung. Diese Einsichten aber haben Konsequenzen für die dogmatische Begründung der infragestehenden Personalität Gottes. Dass Gott sich selbst durch sein unableitbares Offenbarungshandeln dem Menschen zu erkennen gibt, betrifft ja nicht allein die Erkenntnis seiner Existenz, sondern begründet zugleich die sein Wesen betreffenden Aussagen. Das methodische Verfahren, Wesensaussagen zu generieren, ist für die Theologie ein anderes als für den philosophischen Theismus, dem die personal konnotierten Eigenschafts- und Wesensbestimmungen im Rekurs auf die menschliche Selbsterfahrung und mithin per analogiam beigelegt werden. Theologisch verhält es sich stattdessen so, dass Aussagen über das Wesen Gottes – unter Einschluss der dem Wesen zugehörigen Eigenschaften – aus Gottes Offenbarungshandeln zu erkennen sind. In methodischer Hinsicht ist, was die aussagenlogische Generierung des Wesensbegriffs betrifft, eine Einsicht entscheidend, die der protestantische Theologie Hermann Cremer in der These festhält, dass „in der Offenbarung sich das ganze Wesen Gottes bethätigt und erschließt“. Und weiter heißt es bei ihm: Gottes Verhalten zu uns sei die „vollendete Bethätigung seines Wesens“.13 Zwar gilt nur für den Menschen, nicht jedoch für den freien Gott, der selbst schon erfüllte Liebe ist und darin 12
KrV B 661. H. Cremer, Die christliche Lehre von den Eigenschaften Gottes, unveränd. Nachdr. d. Ausg. v. 1897, hrsg. v. H. Burkhardt, Giessen 1983, 33.19. Zu den offenbarungstheologischen Voraussetzungen meiner Überlegungen vgl. vor allem T. Pröpper, Zur vielfältigen Rede von der Gegenwart Gottes und Jesu Christi, in: ders., Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg i. Br. 2001, 245 –265, 250 –254; W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen 1988, 424 – 429. 13
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vom Menschen nicht abhängig, dass er ohne die Selbstmitteilung von Freiheiten füreinander kein reales Selbst hat. Doch die Bedeutung der Geschichte Jesu als Ort der Anwesenheit der Liebe Gottes in ihr ermächtigt zur Aussage, dass sich Gott in Freiheit selbst dazu bestimmt hat, sich in dieser Geschichte wirklich als er selbst zu erschließen. Dass er in diesem Geschehen sein Wesen betätigt hat und es für uns darin offenbar geworden ist, führt schließlich auch zu jener Spitzenaussage johanneischer Theologie, dass Gott die Liebe ist (vgl. 1 Joh 4,8). Wobei auch zu beachten ist, dass erst aufgrund von Gottes offenbarendem Handeln, durch das er uns sein Wesen erschließt, für uns bestimmbar wird, „was die Liebe ist, die nun ihrerseits legitim mit Gott identifiziert werden kann und muss“.14 Wenn Karl Barth in scheinbarer Selbstverständlichkeit den Gedanken entfaltet, dass das göttliche Wesen das Sein Gottes ist, und zwar dergestalt, dass das in der Offenbarung für uns sichtbare Wesen, eben weil es seine Tat ist, ineins sein Sein ist, verdeckt er die philosophisch-theologischen Schwierigkeiten, einen solchen Gedanken überhaupt zu fassen. Diese Schwierigkeiten sind auf die traditionell-metaphysische Fassung des Gottesbegriffs zurückzuführen15, mit der nicht einsichtig gemacht werden konnte, wie der Zusammenhang zwischen Wesen und Handeln Gottes so gedacht werden kann, dass Gott sich in seinem geschichtlichen Handeln frei dazu bestimmt, sein Wesen für uns zu erschließen. Zudem führte der Rückgriff auf den hier vorausgesetzten Wesensbegriff zu dem Problem, die liebende Zuwendung Gottes zu seinen Geschöpfen nicht in der Weise als seine Selbstmitteilung denken zu können, dass er in ihr sein Wesen erschließt und offenbar macht. Hinzu tritt die Schwierigkeit, Gott in seiner ewigen Selbstidentität als im Prozess seiner Heilsökonomie so gegenwärtig zu denken, dass sie wirklich etwas für die Identität seines ewigen Wesens austrägt. Diese Überlegungen zur methodischen Begründung der christlichen Rede von der Personalität Gottes erzwingen jedoch eine Korrektur des traditionellen philosophischen Begründungsverfahrens. Dem philosophischen Gottdenken, das den Gottesbegriff als Ab14
K. Barth, KD II/1, 310. Vgl. ebd., 306 –334. Diesbezügliche Analysen zur Gotteslehre bei Thomas von Aquin finden sich bei M. Striet, Offenbares Geheimnis. Zur Kritik der negativen Theologie (ratio fidei 14), Regensburg 2003, 75 –105.
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schlussgedanken der Vernunft, und zwar näherhin als existentiell relevanten Sinnbegriff kennt, fällt im Rahmen einer philosophiebereiten Theologie die Aufgabe zu, im Gottesbegriff selbst die Minimalbedingungen auszuweisen, die dann ihrerseits aussagenlogisch als Gegenstand der affirmativen, auf Offenbarung beruhenden Zuschreibungen des göttlichen Wesens fungieren.16 Dieses methodische Verfahren zielt, mit anderen Worten, ausdrücklich nicht darauf, das theologische Interesse an einem philosophischen Gottesbegriff preiszugeben. Das philosophische Gottdenken ist für die dogmatische Gotteslehre unverzichtbar, vorausgesetzt nur, sie verortet sich in dem methodischen Ternar einer dreifachen Aufgabenstellung dogmatischer Theologie.17 Der affirmativen Antwort auf die quaestio facti – der Frage nach der Wirklichkeit der Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte – sachlich vorzuordnen ist die philosophische Frage nach der theoretischen Denkbarkeit des theologischerseits in Anspruch genommenen Gottesbegriffs. Von diesem Möglichkeitsaufweis für die Wahrheit des christlichen Glaubens noch einmal zu unterscheiden ist der ebenfalls in der Instanz der Philosophie zu führende Relevanzaufweis, der zu klären hat, dass der Mensch für Gott ansprechbar und dessen heilshafte Selbstzusage existentiell bedeutsam ist. Was nun die theoretische Aufgabe betrifft, den Möglichkeitsaufweis für die Wahrheit der christlichen Gottesrede zu führen, so dürfte sie mit den Hinweisen auf den Begriff Gottes als Idee vollkommener Freiheit wenigstens so weit geleistet worden sein, wie es im 16
Ein solches Begründungsverfahren ist innerhalb der dogmatischen Theologie selten mit methodischer Strenge ausgearbeitet worden. Vgl. T. Pröpper, Gott hat auf uns gehofft. Theologische Folgen des Freiheitsparadigmas, in: ders., Evangelium (s. Anm. 13), 300 –321, 316 –318; ders., Theologische Anthropologie, Bd. 1 (s. Anm. 8), 584 – 656, bes. 599 – 613; W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1 (s. Anm. 13), 424 – 429; M. Striet, Geheimnis (s. Anm. 15), 213 –264. Vgl. darüber hinaus J. E. Kuhn, Katholische Dogmatik, Bd. 2: Die christliche Lehre von der göttlichen Dreieinigkeit, Tübingen 1857, der ein solches Konzept am Leitfaden der Unterscheidung von „abstraktem“ und „konkretem Monotheismus“ entfaltet hat. Vgl. G. Essen, „Aufruhr in der metaphysischen Welt“ – Notwendige Distinktionen im Begriff des Monotheismus, in: M. Striet (Hrsg.), Monotheismus und christlicher Trinitätsglaube (QD 210), Freiburg i. Br. 2004, 236 –270. 17 Vgl. T. Pröpper, Zur theoretischen Verantwortung der Rede von Gott. Kritische Adaption neuzeitlicher Denkvorgaben, in: ders., Evangelium (s. Anm. 13), 72– 92, 74f.
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Rahmen meiner Ausführungen möglich ist. Nicht nur die theoretische Möglichkeit einer von Gott und Welt unterschiedenen göttlichen Wirklichkeit ist so eröffnet, sondern ebenso die Denkbarkeit der Freiheit des möglichen Gottes. Desgleichen kann einsichtig gemacht werden, dass Offenbarung und freie Mitteilung primäre Prädikate des Gottesbegriffs sind. Auch hier gilt freilich, dass die Idee Gottes als vollkommene Freiheit als Inbegriff von Minimalbedingungen für die christliche Rede von Gott eingeführt wird, der den Vorzug genießt, als „bestimmungsfähige und -bedürftige Grundbestimmung“ in theologische Aussagen einzugehen, die materialiter die Beschreibung der Wirklichkeit Gottes, die sich durch sein geschichtliches Handeln bekundet, konstituieren18. Anders formuliert: Der philosophisch erstellte Minimalbegriff, der wesentlich den Gedanken einer welttranszendenten Freiheit des möglicherweise existierenden Gottes festhält, geht „in durchaus konstitutiver Weise in alle theologischen Aussagen ein […]“.19 Es ist eben der als Freiheit gedachte Gott, der nach einer persontheoretischen Näherbestimmung des Gottesbegriffs verlangt. Als freiheitstheoretisch eingeführter Sinnbegriff wird Gott als freie Subjektivität, das heißt: als durch sich und in sich selbst bestimmte Persönlichkeit gedacht. Und doch geht die Theologie ihrerseits über diesen Minimalbegriff hinaus, eben weil sie aufgrund ihrer eigenen, im Offenbarungsbegriff festgehaltenen Quellen „noch mehr und noch anderes sagt, als was sich Menschen letztlich auch selbst sagen könnten“.20 Dass freilich der besagte Minimalbegriff weiterbestimmt wird, und zwar so, dass sein gedachter Gehalt als wirklich affirmiert gelten kann, geschieht nicht mehr kraft der Vernunft, „sondern aufgrund kontingenter Erfahrung, in deren unableitbarer Gegebenheit ihr spezifisches [sc. durch Offenbarung ermöglichtes; G. E.] Wissen fundiert ist und die Freiheit des handelnden Gottes sich spiegelt“.21 Folglich verdankt sich die christliche Rede von Gottes Personalität einem Wissen, das aus Gottes freier, durch Selbstbestimmung verfügter Zuwendung stammt. Als affirmativ-positive Rede vollzieht sie sich als auf geschichtlichen Erfahrungen beruhenden Wesens18 19 20 21
Ebd., 90. T. Pröpper, Theologische Anthropologie, Bd. 1 (s. Anm. 8), 602. Ebd. Ebd.
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und Eigenschaftszuschreibungen. Es ist mithin die im Glauben erfahrene Geschichtsmächtigkeit Gottes, die den Begriff der Persönlichkeit Gottes verlangt. Dabei gilt es zu beachten, dass das Geschichtshandeln Gottes, in dem er – in der Gestalt Jesu wie im Heiligen Geist – sein Sein und sein Wesen für uns offenbar gemacht hat, die Aussage verlangt, dass seine Personalität darin besteht, die wechselseitig sich freilassende Liebe der drei Personen Vater, Sohn und Geist zu sein. Diese Aussage aber ist das Resultat einer dogmatischen Ausarbeitung der Lehre von der Personalität Gottes, die in der Trinitätstheologie geschieht.
3. Das Weltverhältnis Gottes. Konsequenzen für den Vorsehungsbegriff Die Geschichtstheologie ist der Ort im Ganzen der christlichen Theologie, in dem versucht wird, sowohl die Kategorie des Anfangs als auch die der Kontinuität auf die geschichtlichen Erfahrungen der Menschen mit dem Gott, der sich selbst geschichtlich mitgeteilt hat, zu beziehen.22 Dabei ist die Geschichtstheologie dialektisch bezogen auf die Schriften und Erzählungen, in denen die Geschichte, die von Menschen gestaltet wird, im Horizont der Geschichtsmächtigkeit Gottes verstanden wird: Die Einheit dieser Geschichte gründet in der Selbigkeit des sich geschichtlich offenbarenden Gottes. Die Universalität dieser Geschichte wiederum wird verbürgt durch sein eschatologisches Heils- und Erlösungshandeln. Ihr Wesen aber besteht darin, das von Gott selbst eröffnete Bundesgeschehen zu sein, das den Menschen liebend frei- und ihn trotz seiner geschichtlichen Schuldverstrickung nicht fallen lässt. Die im Begriff des Bundes festgehaltene Deutung der Geschichte als das Kommerzium zwischen der freilassenden Freiheit Gottes und der freigelassenen Freiheit des Menschen führt wiederum zu einem theologischen Begriff von Geschichte als einem Ort intersubjektiv verbindlicher Praxis, in der der individuierende Blick des einen Gottes den Menschen in eine Freiheit ruft, die Verantwortung bedeutet für sich und für den Nächsten. Ein letzter Hinweis gilt der im biblischen Monotheismus mitgesetzten Nichtidentifikation Gottes mit der Welt, die einen Weltbezug 22
Vgl. G. Essen, Geschichtstheologie und Eschatologie in der Moderne. Eine Grundlegung (Lehr- und Studienbücher zur Theologie 6), Münster 2016.
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Gottes ermöglicht, der den Gedanken einer positiven Freilassung der Geschichte in ihre unableitbare Eigenständigkeit überhaupt zulassen kann. Das Bekenntnis zu dem Gott, der ex nihilo die Welt geschaffen hat, führt folglich zu einem Begriff von Säkularität, ohne den es die Geschichts- und Weltgestaltung freier Menschen nicht gäbe. Darum bietet die Schöpfungsdifferenz die Möglichkeit, das Eigenrecht der Profangeschichte anzuerkennen und die Autonomie der Geschichte als die von Gott selbst gewährte Eigenständigkeit zu begreifen. In dieser Konsequenz reflektiert die Geschichtstheologie auf die eine große „Meta-Erzählung“ des christlichen Glaubens. Diese wiederum folgt jenen Kriterien, die für einen Begriff von Geschichte konstitutiv sind. Im Medium der Erinnerung und im Modus der Erzählung wird Vergangenes in sinnstiftender Absicht auf die Gegenwart bezogen, und zwar in zukunftseröffnender Perspektive Diese Erzählung ist die Grundgestalt des Glaubens, der in seiner je eigenen Gegenwart ein Band stiftet zwischen dem Erfahrungsraum der Geschichte Gottes mit den Menschen und dem Erwartungshorizont der von Gott verheißenen eschatologischen Zukunft. Folglich kennt die von Christinnen und Christen erzählte Geschichte eine Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sofern und weil die Zukunft, für die die „Auferstehung allen Fleisches“ erhofft wird, bereits angebrochen und Ereignis geworden ist in der Auferweckung des Gekreuzigten: Das Reich Gottes, jenes universale Reich der Zukunft also, in dem eschatologisch die Gerechtigkeit für die Lebenden und die Toten aufgerichtet sein wird, ist bereits angebrochen und ist Gegenwart geworden in Leben, Tod und Auferweckung Jesu. Diese Geschichte Jesu wird von Christinnen und Christen erzählt als die eschatologische und bereits jetzt wirksame Wende der Geschichte überhaupt. Die Kirche ist demnach zu begreifen als jene Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft, die die eschatologische Wahrheit der Bundesgeschichte Gottes mit den Menschen im Horizont der eigenen Geschichte anamnetisch aktualisiert, in ihrer Praxis von der schon angebrochenen Verheißung Zeugnis gibt und so zum „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ wird (LG 1). Vor diesem Hintergrund kann die christlich verstandene Geschichte verstanden werden als ein sinnstiftender Umgang mit unserer Erfahrung der zerbrechenden Zeit. Dies bedarf freilich einer Präzisierung, weil bekanntlich auch die kluge Scheherazade dem König
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in tausend und einer Nacht Geschichten erzählte, um auf diese Weise dem drohenden Tod zu entkommen. Der vom christlichen Glauben beanspruchte Unterschied zu einem „bloßen“, genauer: fiktionalen Erzählen besteht jedoch darin, dass an Christus Glaubende „[…] nicht irgendwelchen klug ausgedachten Geschichten gefolgt [sind], als wir euch die machtvolle Ankunft Jesu Christi, unseres Herrn, verkündeten, sondern […] Augenzeugen [waren] seiner Macht und Größe“ (2 Petr 1,16). Der Anspruch auf Wahrheit, den das christliche Verständnis von Geschichte erhebt, besteht darin, dass der von Christinnen und Christen geglaubte Gott ein der Geschichte mächtiger Gott ist, der in ihr gehandelt hat und weiterhin handeln wird bis zum Ende aller Geschichte im Eschaton. Im Blick auf die infragestehende Vorsehungslehre ist deutlich geworden, dass der von ihr vorausgesetzte theologische Begriff der Geschichte den Rückgriff auf ein dem biblischen Bundesgedanken entsprechendes Denken verlangt. Dies bedeutet, dass der Begriff der Freiheit so auf den der Geschichte zu beziehen ist, dass wir die Geschichte insgesamt als durch das Kommerzium von Freiheiten konstituiert begreifen können. Denn nur, so die These, ein solches Verständnis der Geschichte ermöglicht es, die Dignität des geschichtlich Gegebenen in seiner Kontingenz und unableitbaren Positivität ebenso zu wahren wie die Gratuität der geschichtlichen Offenbarung Gottes. Ersteres ist wichtig, weil nur so einsichtig werden kann, dass der Geschichte eine entscheidende Bedeutung zukommt für die Bestimmung des Menschen und er also auf die Geschichte verwiesen ist, weil sie konstitutiv die Stätte des von Gott kommenden Heils ist. Letzteres wiederum ist entscheidend, um die Freiheit Gottes im Geschehen seiner aller Geschichte mächtigen Selbstmitteilung festhalten zu können. Vor diesem Hintergrund leuchtet, so meine ich, das Eintreten des Nominalismus für die Freiheit Gottes im Gegenüber zu der von ihm gestifteten Ordnung ein.23 Für die christliche Rede von der Vorsehung Gottes kann sich nur eine Denkform eignen, die Gottes Schöpfung, Geschichtshandeln und seine eschatologische Versöhnung als das unverfügbar Gegebene begreift, das sich der unerschöpflichen Innovationsmacht eines zur Offenbarung freien Gottes 23
Vgl. H. Krings, Woher kommt die Moderne? Zur Vorgeschichte der neuzeitlichen Freiheitsidee bei Wilhelm von Ockham, in: ZphF 41 (1987), 3 –18.
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verdankt: „Gott aber“, so Schelling, „was man wirklich Gott nennt […], ist nur der, welcher Urheber seyn, der etwas anfangen kann“.24 Weil Gott angefangen hat, weil es einen „göttlichen Anfänger“ gibt25, gibt es im theologischen Sinne Geschichte und können wir es wagen, anzufangen. Gott, der die ursprünglich schöpferische und darum geschichtsfähige Freiheit ist, eröffnet den Raum der Geschichte. Die Bestimmtheit, mit der Gott den Geschichtsraum eröffnet hat: „und siehe, es war sehr gut“ (Gen 1,31), verpflichtet uns Menschen zu einem geschichtlichen Handeln, das in Gottes geschichtseröffnendem Handeln seinen ermöglichenden und tragenden Grund erblickt und sich orientiert an den lebensspendenden Weisungen Gottes. Allerdings, dies sei hinzugefügt, bedarf die abstrakt bleibende Thematisierung der Freiheit Gottes, wie sie in der Tradition weithin begegnet, einer entschlossenen Rückbindung an die Selbsterschließung der Freiheit Gottes in der Geschichte Israels und schließlich in Leben und Geschick Jesu. In der Geschichte des Alten und des Neuen Bundes nämlich fand sie ihre eschatologisch endgültige und für den Menschen sichtbar gewordene Gestalt, sodass der Glaube den offenbarenden Gott selbst als Liebe bekennt. Dieser Rekurs auf den Inhalt des christlichen Glaubens vereindeutigt und bewährt sich gerade dadurch, dass er die Bedeutung des Geschehenszusammenhanges aussagt, in dem Gott sich als die unbedingt für den Menschen entschiedene Liebe offenbart hat, die unbedingte Schöpfungsabsicht Gottes, in seiner göttlichen Weltregierung die „Allmacht seiner freien Liebe“ (Karl Barth) zugunsten seiner Geschöpfe wirken zu lassen, um sie zur Gemeinschaft mit ihm zu führen. Aus diesem Hinweis auf die Wesensbestimmung des christlichen Glaubens sind nun auch weitere Folgerungen für den Vorsehungsbegriff zu benennen, die sich vor allem aus der konstitutiven Geschichtsbezogenheit des Glaubens ergeben. Sie drängen darauf, die Vorsehung Gottes als Ausdruck seiner Geschichtsmächtigkeit zu deuten: Gott ist der Herr
24
F. W. J. Schelling, Philosophie der Offenbarung, Bd. 1, unveränd. reprograf. Nachdr. d. aus d. handschriftlichen Nachlaß hrsg. Ausg. v. 1858, Darmstadt 1990, 172. 25 E. Jüngel, Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung. Ein Beitrag zum Gespräch mit Hans Jonas über den „Gottesbegriff nach Auschwitz“, in: ders., Wertlose Wahrheit. Zu Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, München 1990, 151–162, 152.
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der Geschichte, der in der Kontinuität seines Heilshandelns den Zusammenhang der Geschichte von der Schöpfung bis zur Heraufführung des verheißenen neuen Äons stiftet und verbürgt. Weil die genannte Grundwahrheit des christlichen Glaubens der Bestimmungsgrund für eine theologisch verantwortbare Vorsehungslehre darstellt, können wir Auskunft darüber geben, wie Gott seine Geschichtsmächtigkeit ausübt. Sie ist ja nichts anderes als das Implikat der universalen Herrschaft Gottes, die das Volk Israel in seinen machtvollen Taten erfahren hat und die in der Geschichte Jesu in unüberbietbarer Weise als unbedingte Liebe offenbar geworden ist. Diese Bestimmung ermöglicht zunächst die Einsicht, dass die Geschichte insgesamt als das von Gott gestiftete Bundesverhältnis mit den Menschen zu begreifen ist und damit wesentlich als Freiheitsgeschehen. In seinem geschichtlichen Handeln, das ihn selbst und sein Wesen offenbart, hat Gott den Menschen zum freien Partner seiner Liebe erwählt. Dabei hat er sich, um der Achtung der menschlichen Freiheit willen, selbst dazu bestimmt, sich von menschlicher Freiheit bestimmen zu lassen und seinem Willen nur mit den Mitteln der Liebe Geltung zu verschaffen. Insofern haben wir die göttliche Vorsehung als einen Akt der Selbstbegrenzung der göttlichen Freiheit zugunsten der geschaffenen zu begreifen. Dabei ist die in geschichtlichen Heilstaten für uns offenbar gewordene Verheißung Gottes der Horizont, der den Glauben an die göttliche Vorsehung prägt: Gottes Verheißung ist der Grund für den Glauben an sein Walten als Vorsehung, die ihrerseits als Gottes treuer und in seinen Möglichkeiten unerschöpflicher Wille aufgefasst werden kann, freie Menschen, ja alle Geschöpfe zur Teilhabe an seiner Liebe zu führen. Mit der geschichtlichen Erfahrung, dass Gott sich selbst dazu bestimmt hat, seine Geschichtsmächtigkeit als Macht seiner freien Liebe kundzutun, ist zugleich ein inhaltlich bestimmtes Kriterium für eine Hermeneutik geschichtstheologischer Aussagen gegeben, die der Vorsehungslehre als Orientierung dienen kann: Weil Gott seinen Heilswillen nicht anders durchsetzen will, als dass Menschen ihm in ihrem Verhalten frei entsprechen, kann von einem Wirken Gottes dort gesprochen werden, wo Menschen sich von seinem Willen beanspruchen lassen, die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe zur Darstellung zu bringen und das Subjektwerden aller Menschen zeichenhaft zu realisieren.
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Intersubjektivität und die Rede vom Handeln Gottes Zur kollektiv-intentionalen Transformation des personalen Modells des göttlichen Geschichtshandelns Martin Breul
1. Einleitung Die Rede vom Handeln Gottes ist für jede Theologie, die Gott als ansprechbares und geschichtsmächtiges Gegenüber betrachtet, unerlässlich. Sie ist der kleinste gemeinsame Nenner in der Gotteslehre der großen monotheistischen Religionen: Nur ein Gott, von dem Handlungs- und Geschichtsmacht ausgesagt wird, kann sich in der Welt offenbaren, in ihr gegenwärtig sein und die Deutung von Geschichte als Heilsgeschichte ermöglichen. Zugleich steckt die Rede vom Handeln Gottes aber in einer tiefen Krise: Der Fortgang der Naturwissenschaften, also die zunehmende Fähigkeit des Menschen, die Geschehnisse im Universum ohne Rückgriff auf magische supranaturale Einflussnahmen zu erklären, hat die Alltagsplausibilität der Rede vom Handeln Gottes, die beispielsweise in den biblischen Texten umstandslos vorausgesetzt wird, erschüttert. Seit der Aufklärung leben und denken Menschen, mit Charles Taylor gesprochen, zunehmend in einem ‚immanent frame‘, also einem Rahmen der Immanenz: „Die große Erfindung des Abendlands war der Gedanke einer immanenten Ordnung der Natur, deren Wirken mit Hilfe der ihr vorbehaltenen Begriffe systematisch verstanden und erklärt werden könne, wobei die Frage offenbleibt, ob diese ganze Ordnung eine tiefere Bedeutung hat und, wenn ja, ob daraus die Existenz eines transzendenten jenseitigen Schöpfers gefolgert werden sollte. Diese Vorstellung von ‚Immanenz‘ beinhaltet, dass man jede Form von wechselseitiger Durchdringung der Naturdinge einerseits und des ‚Übernatürlichen‘ andererseits bestreitet.“1
1
C. Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a. M. 2009, 37.
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Angesichts dieses Tiefenstroms der Immanenz in der Moderne gibt es theologisch zwei grundlegende Optionen, um auf die Krise der Rede vom Handeln Gottes zu reagieren: In der ersten Option wird in der Regel versucht, unter Wahrung des immanenten Rahmens dennoch Platz für kausale Einflussnahmen Gottes zu finden. Dies geschieht entweder durch den Nachweis von Indeterminiertheiten natürlicher Geschehenszusammenhänge, z. B. auf der Ebene ihrer chaostheoretischen oder quantenmechanischen Beschreibung, sodass Gott in den Schwankungsbreiten und offen bleibenden Lücken handeln könnte; oder es geschieht durch eine Diversifizierung des Kausalitätsbegriffs, beispielsweise in konkrete, effizienzkausale Zweitursachen und eine allgemeine, Zweitursachen ermöglichende, göttliche Erstursache. Diese Varianten der ersten Option können unter dem Label der ‚kausalen Modelle‘ des Handelns Gottes subsumiert werden. Die zweite Option, die ‚personalen Modelle‘, setzen nicht auf die Erhellung konkreter kausaler Mechanismen für göttliche Einflussnahmen in der Welt (und halten meist schon die Frage nach diesen für theologisch verfehlt), sondern verorten das Handeln Gottes eher auf einer personalen Ebene des Dialogs von göttlicher und menschlicher Freiheit: Der freie Gott wirbt um die Freiheit des Menschen, damit dieser seine Schöpfungs- und Handlungsintentionen innerweltlich realisiert.2 Eine Variante dieser zweiten, personalen Option ist das freiheitstheoretische Modell, welches auf Thomas Pröpper zurückgeführt werden kann und welches Georg Essen in diesem Band in aktualisierter Form verteidigt. Im Folgenden werde ich zunächst die Grundidee dieser freiheitstheoretischen Variante des personalen Modells darstellen (2). In meinen Augen ist diese Grundidee eine tragfähige Möglichkeit, die Rede vom Handeln Gottes auch unter den Bedingungen der Spät2
Die Grundunterscheidung zwischen einer ‚language of causality‘ und einer ‚language of intention‘ findet sich exemplarisch bei P. Gwynne, Special Divine Action. Key Issues in the Contemporary Debate, Rom 1996. Analog nimmt Ute Lockmann eine Unterscheidung von personalen und kausalen Modellen des Handelns Gottes vor (U. Lockmann, Dialog zweier Freiheiten. Studien zur Verhältnisbestimmung von göttlichem Handeln und menschlichem Gebet, Innsbruck 2004). Zugleich sollte klar sein, dass diese binäre Unterscheidung Grenzen hat und viele zeitgenössische Ansätze diese Spaltung zu überwinden suchen – vgl. dazu exemplarisch M. Breul, Gottes Geschichte. Eine theologische Hermeneutik der Rede vom Handeln Gottes, Regensburg 2022, 132–140 und 381–386.
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moderne zu plausibilisieren, weshalb ich in einem nächsten Schritt den bleibenden Wert der grundlegenden Einsichten dieses Ansatzes herausstelle (3). Obschon ich also der Grundthese zustimme, möchte ich auch drei Anfragen an das von Georg Essen entwickelte Modell einer freiheitstheoretisch-personalen Rede vom Handeln Gottes stellen (4): Diese betreffen das Verhältnis von Offenbarung und Vernunft; die latente Anthropozentrik des freiheitstheoretischen Ansatzes und zu guter Letzt die nicht hinreichende Berücksichtigung der subjektund freiheitskonstitutiven Rolle der Intersubjektivität. Mit dem letzten Einwand öffnet sich sodann bereits der Raum, um das freiheitstheoretisch-personale Modell in einer weniger stark transzendentalen, stärker an sprachphilosophischen und interaktionstheoretischen Erkenntnissen anschließenden Art und Weise zu reformulieren (5). Dabei gehe ich insbesondere auf die eng verwandten Konzepte des ‚kommunikativen Handelns‘ sowie der ‚kollektiven Intentionalität‘ ein, um eine kommunikationstheoretische Variante des personalen Modells zu entwickeln, die mit den genannten Einwänden besser umgehen kann.
2. Die Grundidee des freiheitstheoretisch-personalen Modells Das freiheitstheoretisch-personale Modell des Handelns Gottes geht von der Grundannahme aus, dass sich im konkreten geschichtlichen Ereignis der Selbstmitteilung Gottes in der Person Jesus von Nazareth die freie und personale Zuwendung Gottes zu den Menschen zeigt. Diese wird symbolisch gegenwärtig in der unbedingten und freien Anerkennung anderer Freiheit, und diese zeigt sich insbesondere in konkreten geschichtlichen Ereignissen. Daher sind diese Ansätze in der Regel auch kritisch gegenüber verschiedenen Varianten einer ‚Zweitursachenlehre‘, wie sie von Thomas über Rahner bis Weissmahr formuliert werden: Ein ausschließlich zweitursächlich vermitteltes Wirken Gottes kann, in den Augen des freiheitsanalytischen Ansatzes, nicht hinreichend die radikal innovatorische „eschatologische Dignität seiner geschichtlichen Selbstgegenwart“3 erklären. Ein freiheitsanalytisch-symboltheoretischer Ansatz ist daher darauf festgelegt, zwischen zwei Polen zu navigieren: Einerseits ist 3
T. Pröpper, Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg i. Br. 2001, 299.
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aufgrund der Achtung der Freiheit des Menschen jegliche Apologie eines göttlichen Interventionismus und Supranaturalismus zu vermeiden, da eine episodische kausale Einflussnahme Gottes in natürliche Prozesse freiheitsgefährdend wäre; andererseits aber ist die Annahme eines besonderen göttlichen Handelns in der Welt denknotwendig, wenn die Basiskategorie der Selbstmitteilung Gottes in der Geschichte als ein in Gottes Freiheit gründendes, unableitbares Geschehen gedacht werden soll. Georg Essen verteidigt innerhalb dieses Rahmens eine Variante dieses Modells, die stark die Historizität und erkenntniskonstitutive Rolle des konkreten Offenbarungsereignisses betont. Der philosophische Aufweis der Möglichkeit der Existenz Gottes bietet gewissermaßen die Minimalbedingung dafür, dass sich im historischen Prozess eine geschichtliche Selbstmitteilung Gottes ereignet, die sich dem unableitbaren freien Entschluss Gottes verdankt.4 Der Inhalt dieser Selbstmitteilung Gottes in Jesus von Nazareth als den Menschen unbedingt zugewandte Liebe macht dabei eine gewisse Form der Selbstmitteilung unabdingbar: Wenn in Jesus von Nazareth die unbedingte Liebe Gottes geoffenbart wird, dann kann diese nicht triumphalistisch das Unbedingte unvermittelt im Bedingten offenbaren – eine solche Form würde dem Inhalt ja gerade widersprechen, da sie die Hörerinnen und Hörer der Botschaft überwältigen und ihre Freiheit nehmen würde. Wenn es stimmt, dass Gott den Menschen unbedingt zugewandte Liebe ist, dann kann er sich nur so zeigen, dass er aus Achtung vor der Freiheit seiner Geschöpfe mit den Mitteln der Liebe um ihre Einsicht wirbt. Er kann sie nicht manipulieren, überwältigen, mit ihnen spielen oder sie zu Glaube und Ehrfurcht zwingen, ohne sein eigenes Wesen der unbedingten Liebe durch solche Handlungen zu negieren. Aus dieser offenbarungstheologischen Einsicht lässt sich nun eine wichtige Einsicht für die Rede vom Handeln Gottes ableiten: Auch für dieses gilt, dass es den Menschen nicht manipulieren, überwältigen oder zu Glaube und Ehrfurcht zwingen darf. Eine versteckte kausale Manipulation menschlicher Handlungsweisen oder auch 4
Im Hintergrund steht hier die ‚elliptische Verhältnisbestimmung‘ von Offenbarung und Vernunft bei Thomas Pröpper, die sich stark in Essens Text niederschlägt – vgl. dazu auch T. Pröpper, Theologische Anthropologie, Bd. 1, Freiburg i. Br. 2011, 326 –373.
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der menschlichen Umwelt durch Gott würde die Dignität der göttlichen Liebe torpedieren, da sie nur dann unbedingt den Menschen zugewandte Liebe sein kann, wenn sie die Freiheit des Menschen achtet, auf die zugesagte Liebe Gottes zu reagieren. Essen zieht diese Konsequenz sehr prägnant: „In seinem geschichtlichen Handeln, das ihn selbst und sein Wesen offenbart, hat Gott den Menschen zum Partner seiner freien Liebe erwählt. Dabei hat er sich, um der Achtung der menschlichen Freiheit willen, selbst dazu bestimmt, sich von menschlicher Freiheit bestimmen zu lassen und seinen Willen nur mit den Mitteln der Liebe Geltung zu verschaffen. Insofern haben wir die göttliche Vorsehung als einen Akt der Selbstbegrenzung der göttlichen Freiheit zugunsten der geschaffenen zu begreifen.“5 Damit bejaht Essen die Grundidee eines personalen Modells, wie sie prägnant von Klaus von Stosch auf den Punkt gebracht wird: „Die Grundidee des personalen Modells besteht darin, das Verhältnis zwischen Gott und Mensch als dialogisches Freiheitsverhältnis zu bestimmen, in dem Gott allein mit den Mitteln der Liebe versucht, die Liebe des Menschen zu gewinnen.“6 Ein innerweltliches Handeln Gottes lässt sich nur von seiner personalen Zuwendung her verstehen, die im Prozess der Anerkennung anderer Freiheit symbolisch realisiert wird. Zugleich sind im freiheitsanalytischen Ansatz, den Essen im Gefolge Thomas Pröppers entwickelt, einige Besonderheiten zu beachten, die in der Diskussion der Stärken und Schwächen dieses Ansatzes entwickelt werden sollen.
3. Der bleibende Wert des freiheitstheoretischen Modells Das grundlegende Anliegen von Essens freiheitstheoretischem Ansatz ist überaus sinnvoll. Der Ansatz ist in der Lage, jenseits effizienzkausaler Missverständnisse eine Hermeneutik der Rede vom 5 G. Essen, Die Personalität Gottes als Grund seines Weltverhältnisses. Dogmatisch-methodische Überlegungen zum Glauben an die göttliche Vorsehung, 265 in diesem Band. 6 K. von Stosch, Gott – Macht – Geschichte. Versuch einer theodizeesensiblen Rede vom Handeln Gottes in der Welt, Freiburg i. Br. 2006, 23.
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Handeln Gottes vorzulegen, die viele Kriterien einer modernen theologischen Hermeneutik erfüllt. Zugleich stellt sich die Frage, ob es nicht bestimmte Stellschrauben gibt, entlang derer die plausible Grundaussage weiterentwickelt werden kann – auch um bestimmte Verengungen, die mit einem strikt transzendentalen Ansatz einhergehen, aufzusprengen. Im folgenden Abschnitt stelle ich daher drei Stärken des freiheitstheoretisch-personalen Ansatzes heraus, die bleibend wertvoll für jede theologische Hermeneutik der Rede vom Handeln Gottes sind, und kontrastiere diese im darauf folgenden Abschnitt mit drei Aspekten, die eine Weiterentwicklung dieses Ansatzes ermöglichen. Die drei Aspekte, die hier als besondere Stärken des Ansatzes markiert werden sollen, sind die konsequente Kritik kausaler, latent supranaturalistischer Redeweisen vom Handeln Gottes (3.1), die Betonung der Ambiguität der Deutung bestimmter Geschehenszusammenhänge als göttliches Handeln (3.2) sowie die Betonung der Personalität und Freiheit Gottes in seinem konkreten Handeln (3.3). 3.1 Wider die Suche nach kausalen Bezugspunkten Das freiheitstheoretisch-personale Modell ist in der Lage, gegen bestimmte kosmologisierende Tendenzen die ursprüngliche biblische Einsicht in die personale, intentionale und narrative Zuwendung Gottes zum konkreten Individuum zu sichern. Essen zeigt dies in einem historischen Exkurs zur Auseinandersetzung der frühchristlichen Theologien mit der griechischen Vorsehungslehre und geht auf die Schwierigkeiten ein, diese metaphysischen Überformungsversuche des Christentums durch eine Rückbindung „an die biblisch bezeugte schöpferische Freiheit Gottes in seinem spontanen und kontingenten Geschichtshandeln“7 zu unterlaufen. Analoges ließe sich auch mit Blick auf die gegenwärtige Debatte um das Handeln Gottes formulieren, da ein großer Teil – insbesondere der angelsächsischen – Debatte um die Frage kreist, wo eigentlich die konkreten kausalen Bezugspunkte eines göttlichen Einwirkens auf die Welt verortet werden können. Meist werden daraufhin in Auseinandersetzung mit der Chaostheorie, die Quantenphysik oder der Emergenz-
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G. Essen, Die Personalität Gottes, 251 in diesem Band.
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theorie bestimmte kausale Nischen im naturkausalen Geschehen diagnostiziert, innerhalb derer ein kausaler Bezugspunkt für innerweltliche Einflussnahmen Gottes vermutet wird. Es ist eine Stärke des freiheitstheoretisch-personalen Ansatzes, überzeugende Argumente gegen solche apologetischen Ansätze zu formulieren. Die Suche nach konkreten kausalen Bezugspunkten für eine episodische göttliche Einflussnahme in einer ansonsten naturkausal determinierten Welt hat die Tendenz, zu einer Form von Wunderapologetik zu werden, die ironischerweise gerade das bejaht, was sie durch einen starken Begriff des unvermittelten kausalen Wirkens Gottes in der Welt zu bekämpfen sucht: einen Szientismus, der am Ende des Tages einer naturwissenschaftlichen Beschreibung der Wirklichkeit die Autorität einräumt, bestimmte Spielräume für das Wirken Gottes zu eröffnen – oder, je nach Fortschritt der Wissenschaften, auch eben nicht. Sarah Lane Ritchie formuliert pointiert: „Noninterventionist SDA [special divine action, M. B.] theories give science significant theological authority, insofar as science is given the power to say where and how divine action can or cannot occur. […] There is more than a hint of irony in noninterventionist positions: SDA theorists generally defend a strong theological affirmation of traditional theistic notions of divine activity in the world, but do this by making current science the final determinant of whether and how this activity occurs.“8 Der freiheitstheoretisch-personale Ansatz ist in der Lage, diesen szientistischen begrifflichen Rahmen der gegenwärtigen ‚Divine Action-Debatte‘ zu unterlaufen, da er konsequent auf die Freiheit des Menschen als Ort des Wirkens Gottes setzt. Es geht ihm nicht um ein quasi-magisches Denken, welches innerhalb einer ansonsten naturkausal geschlossenen Welt doch noch irgendwo Lücken für eine übernatürliche Kausalität entdecken und dann theologisch stopfen möchte. Eine solche Apologetik führe, mit Pröpper gesprochen, zu einer „Mythisierung der Wirklichkeit“9. Die Anwendung des modernen Kausalitätsbegriffs auf das Handeln Gottes ist unangemessen, da sie von der Angewiesenheit des Aufscheinens des abso8
S. Lane Ritchie, Divine Action and the Human Mind, Cambridge/New York 2019, 43f. 9 T. Pröpper, Evangelium und freie Vernunft (s. Anm. 3), 229.
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luten Sinnhorizonts der Welt auf eine Vermittlung durch kausale Prozesse ausgeht. Es macht den freiheitstheoretischen Ansatz aus, hier nicht in die Falle einer unplausiblen Apologetik zu tappen, die die Handlungsmöglichkeiten Gottes im Sinne eines Lückenbüßers einschränkt, sondern die Dignität des Handelns eines geschichtsmächtigen Schöpfers auf der Ebene der symbolischen Anerkennung von Freiheiten sicherzustellen. Kurz gesagt: Es geht in der Vorsehungslehre nicht um das statische Wirken eines göttlichen Prinzips, sondern um das dynamische Handeln einer göttlichen Person. 3.2 Zur Ambiguität der Rede vom Handeln Gottes Eine zweite große Stärke des freiheitstheoretischen Modells ist die Betonung der Ambiguität der Rede vom Handeln Gottes. Essen macht darauf aufmerksam, dass sich das Unbedingte nicht unvermittelt im Bedingten zeigt, sondern das Offenbarungsgeschehen – also ein Handeln Gottes par excellence – ein geschichtliches Ereignis ist, in dem Gott die Macht seiner freien Liebe mitteilt, die er selbst wesenhaft ist. Aus dieser inhaltlich-kriterialen Bestimmung des Offenbarungsinhalts folgt nun, dass die Freiheit des Menschen zentral ist – immer dann, wenn Menschen sich in Freiheit vom Willen Gottes affizieren lassen und diesen ausführen, lässt sich von einem Handeln Gottes sprechen. Essen macht diesen Punkt ganz explizit: „Weil Gott seinen Heilswillen nicht anders durchsetzen will, als dass Menschen ihm in ihrem Verhalten frei entsprechen, kann von einem Wirken Gottes dort gesprochen werden, wo Menschen sich von seinem Willen beanspruchen lassen, die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe zur Darstellung zu bringen und das Subjektwerden aller Menschen zeichenhaft zu realisieren.“10 Ein unbedingter Gott kann also nicht als Unbedingter im Bedingten erscheinen – dies würde seine absolute Freiheit und Transzendenz gefährden. Daher gilt, mit Pröpper gesprochen, dass Gott so erscheine, „dass er endliche Wirklichkeit zu seinem Zeichen qualifiziert“11, in dem sich absoluter Sinn manifestiere. Der Mensch ist im Prinzip empfänglich für diesen absoluten Sinn, da der Gedanke eines abso10 11
G. Essen, Die Personalität Gottes, 265 in diesem Band. T. Pröpper, Evangelium und freie Vernunft (s. Anm. 3), 227.
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luten Sinnhorizonts anthropologisch ausweisbar sei. Zugleich eröffne diese Ansprechbarkeit für Gott dem Menschen eine Möglichkeit, die er in einer freien Entscheidung auch nicht realisieren könne. Daher sei die Erkenntnis eines Wunders (lies: eines Handelns Gottes) notwendig auf Glauben angewiesen: „Nur vom Glauben werden Wunder erkannt, aber sie werden als Wunder für den Glauben erkannt.“12 Wunder sind also, nach Pröpper, innerweltliche Ereignisse, die in einer gläubigen Interpretation „von sich aus den absoluten Sinn der Wirklichkeit aufscheinen“13 lassen. Auf diesem Weg ergibt sich eine symbolische Signatur des ‚Dialogs zweier Freiheiten‘, als die das besondere Handeln Gottes in freiheitsanalytischer Sicht konzipiert ist.14 Essen hält diese Einsicht in die symbolische und damit deutungsoffene Vermitteltheit des Handelns Gottes schon in seiner Dissertationsschrift fest: „Einerseits kann sich der unableitbare Entschluss einer Freiheit, sich anderer Freiheit mitzuteilen, nur symbolisch realisieren. Sie bestimmt ein empirisches Substrat zum Mittel und als Medium, um durch es seinen Zweck zu realisieren und für andere Freiheit ‚da‘ zu sein. […] Dieser Entschluss zur Selbstoffenbarung der Freiheit aber kann andererseits von dem anderen, den sie meint, auch nur symbolisch wahrgenommen werden. […] Denn sie ist nicht anders gegeben und zugänglich als in symbolischer Vermitteltheit. […] Handlungstheoretisch formuliert, besteht die unaufgebbare hermeneutische Einsicht darin, dass die Intention eines Handlungssubjekts, weil nur symbolisch realisierbar, auch nur symbolisch wahrnehmbar ist.“15 Schon ein einziger supranaturaler Eingriff in die Welt, der alle Ambiguitäten beseitigen würde, käme einem Scheitern Gottes gleich, da er die Achtung der menschlichen Freiheit aufgäbe und damit seinem eigenen Wesen als unbedingte Liebe widerspräche. Nicht ein göttliches Handeln im Sinne einer sporadischen und kontingent-gna12
Ebd. Ebd., 228. 14 Vgl. zu diesem Schlagwort ‚Dialog zweiter Freiheiten‘ auch U. Lockmann, Dialog zweier Freiheiten (s. Anm. 2). 15 G. Essen, Historische Vernunft und Auferweckung Jesu. Theologie und Historik im Streit um den Begriff geschichtlicher Wirklichkeit, Mainz 1995, 439. 13
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denhaften Durchbrechung innerweltlicher Zusammenhänge ist die eigentliche Pointe der Rede vom Handeln Gottes, sondern die Deutung bestimmter (auch prinzipiell anders deutbarer) Ereignisse als dynamische Selbstmitteilung Gottes im konkreten Anderen. Damit ergibt sich gerade in der säkularen Moderne ein Raum für die handelnde Gegenwart eines Gottes, der nur mit den Mitteln der Liebe um die Liebe des Menschen wirbt. Dies stellt Klaus von Stosch prägnant heraus: „Der Eindruck vieler Menschen, dass sich unsere Welt ebenso gut mit Gott erklären lässt wie ohne Gott, ist ein wichtiger Bestandteil des Glaubens an die Existenz eines Gottes, der allein mit den Mitteln der Liebe für sich wirbt. Denn aus dieser Perspektive ist es überzeugend, dass Gott die epistemische Ambiguität der Schöpfung als Entfaltungsraum der Menschen so komponiert, dass sie eben nicht aus Berechnung und Intelligenz, sondern aus Liebe für ihn als Gott der Liebe optieren.“16 In Essens Ansatz steht – so viel sei hier schon vorweggenommen – diese Betonung der notwendig symbolischen Realisierung der Selbstmitteilung Gottes in einer nicht ganz klaren Spannung zu seiner Verhältnisbestimmung von Offenbarung und Vernunft – auf diese mögliche offene Flanke wird im nächsten Kapitel zurückzukommen sein. 3.3 Zur Achtung der menschlichen Freiheit Die dritte, mit den ersten beiden Aspekten eng verwandte Stärke des freiheitstheoretischen Modells ist die konsequente Achtung und Anerkennung der Unbedingtheit menschlicher Freiheit. Dieser Ansatz vermeidet penibel jegliche Überformungen menschlicher Freiheit durch episodische kausale Interventionen oder dauerhaft wirkende kausale Erstursachen. So ergibt sich ein personales Modell des Handelns Gottes, das als freiheitsanalytisch-symboltheoretisch bezeichnet werden kann. Die Freiheit kommt dabei in mehrfacher Hinsicht ins Spiel: Zunächst ist es die menschliche Freiheit, die vom allmäch16 K. von Stosch, Die Frage nach Gott offenhalten. Zur Aufgabe der Theologie in der (post-)säkularen Moderne, in: J. Rahner/T. Söding (Hrsg.), Kirche und Welt – ein notwendiger Dialog. Stimmen katholischer Theologie (QD 300), Freiburg i. Br. 2019, 45 –56, 49.
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tigen Gott unbedingt geachtet wird, was dazu führt, dass Gott ausschließlich mit den Mitteln der Liebe um die freie Zustimmung des Menschen werben kann und ihn niemals als kausal zu beeinflussendes bzw. zu manipulierendes Objekt der Welt versteht. Mit Pröpper gesprochen: „Vor allem aber zeigt Gottes Handeln sich in seiner Achtung der menschlichen Freiheit um der Liebe willen durch Liebe bestimmt.“17 Folglich versteht Pröpper auch göttliche Allmacht erst dann als wahrhafte Allmacht, wenn sie als durch die Liebe bestimmt gedacht wird, d. h. wenn sie etwas von sich Unabhängiges erschafft (andere Freiheit) und zur Wahrung dieser anderen Freiheit auf supranaturale Interventionen verzichtet. Neben der Verteidigung der unbedingten Achtung der Freiheit des Menschen durch Gott verteidigt Pröpper zugleich die Freiheit Gottes, die auch die freie Zuwendung Gottes zu den Menschen begründet: „Gott wird erfahrbar, wenn er sich zu erfahren gibt; er ist und bleibt gegenwärtig, wenn und solange er gegenwärtig sein will.“18 Mit dieser Betonung der Freiheit Gottes wird also ein personales, dynamisches und biblisch anschlussfähiges Modell des Handelns Gottes impliziert, welches den Fokus auf die intentionale Zuwendung Gottes in seiner freien Interaktion mit seinen Geschöpfen legt. Pröpper selbst hält dies für einen grundlegenden Unterschied zur griechischen Metaphysik, der, so mag man hinzufügen, auch einen fundamentalen Unterschied zur Zweitursachenlehre konstituiert: „Sofern sie [die griechische Metaphysik, M. B.] das Göttliche nur in seiner notwendigen Begründungsfunktion für die bestehende Wirklichkeit, von der sie ausging, erfasste, musste die Möglichkeit eines freien geschichtlichen Handelns dieses Prinzips ihrem Denken verschlossen und außerhalb ihres Erwartungshorizonts bleiben.“19 17 T. Pröpper, Evangelium und freie Vernunft (s. Anm. 3), 292. Ähnlich auch U. Lockmann, Dialog zweier Freiheiten (s. Anm. 2), 236f.: „Darum zieht der Begriff einer vollkommenen, formal wie auch material unbedingten, allen Gehalt eröffnenden, die menschliche Freiheit schlechthin erfüllenden Freiheit (= Gott) den Gedanken nach sich, dass eben diese aller Wirklichkeit mächtige und zugleich zur Liebe entschlossene Freiheit nicht jenseits bzw. unabhängig von der realen menschlichen Freiheit in Welt und Geschichte handeln kann, sondern diese in Anspruch nimmt. Das freie (Heils-)Handeln Gottes ist deshalb so zu bestimmen, dass es dem Menschen die Würde freier Zustimmung lässt.“ 18 T. Pröpper, Evangelium und freie Vernunft (s. Anm. 3), 247. 19 Ebd.
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Mit anderen Worten: Erst die konsequente Zuwendung zu einem personalen Gott, die diesen nicht als erstes metaphysisches Prinzip, sondern als ansprechbares Gegenüber versteht, ermöglicht die Annahme freier Handlungen Gottes in der Welt.
4. Kritische Würdigung und Weiterentwicklungen des Ansatzes Im Folgenden entwickle ich drei Einwände gegen das skizzierte freiheitstheoretische Modell des Handelns Gottes. Diese Einwände sind als Wegbereiter für mögliche Weiterentwicklungen des Ansatzes zu verstehen, nicht als unüberwindbare Probleme eines personalen Ansatzes des Handelns Gottes. 4.1 Offenbarung und Vernunft Die gängigen freiheitstheoretisch-personalen Ansätze verorten die Rede von einem ‚Handeln Gottes‘ im Rahmen einer konkreten, geschichtlich ergangenen Bestimmung Gottes in Jesus Christus. Die Fleischwerdung Gottes ist die personale Zuspitzung des Gott-WeltVerhältnisses, und die in konkreter Geschichtlichkeit ergangene Selbstmitteilung Gottes kann nur schwerlich anders als in personaler Sprache erfasst werden. In dieser Hinsicht präfiguriert gerade das Christentum eine personale Theorie des Handelns Gottes und bildet ein personales Gegengewicht gegen eine ‚hellenisierende‘ Verwandlung Gottes in ein kosmisches Prinzip, das lediglich die kausale Textur des Universums stiftet, ohne als personales Gegenüber mit seinen Geschöpfen interagieren zu können. Dies ist die bleibende Stärke des freiheitstheoretischen Ansatzes. Allerdings verstellt die starke Fokussierung des freiheitsanalytischen Ansatzes auf die Begründungsfunktion der in Christus ergangenen Offenbarung die Möglichkeit einer vernünftigen Rechtfertigung der Rede vom Handeln Gottes jenseits dieses konkreten historischen Ereignisses.20 Essen verteidigt in seinem Text und im 20
Das Verhältnis von Offenbarung und Vernunft ist gegenwärtig Teil einer großen systematisch-theologischen Debatte, da hier neuralgische Punkte einer theologischen Erkenntnislehre und einer theologischen Methodenlehre angesprochen sind. Die unterschiedlichen Positionen in der Debatte werden gut deutlich in
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Anschluss an Überlegungen Pröppers einen epistemischen Sonderstatus von Offenbarung, die wie eine der vernünftigen Rechtfertigung vorgeordnete Wahrheit in die rationale Verantwortung des Glaubens hineinragt. Damit wird das symboltheoretisch begründete Insistieren auf der Unhintergehbarkeit von Deutungspraxen jedoch an zentraler Stelle durchbrochen. Es wirkt fast so, als ob Offenbarung ein völlig disambiges Geschehen ist.21 An dieser Stelle wird mir nicht ganz klar, wie ein solches Verständnis in einen freiheitstheoretischen Ansatz zu integrieren ist, der ja gerade auf das freie Sich-Verhalten der Hörerin des Wortes zu diesem Wort setzt. Mit Michael Bongardt gesprochen: „Die bleibende Vieldeutigkeit seiner [Jesu, M. B.] Gestalt ist aus erkenntnistheoretischen Gründen unhintergehbar und für einen Glauben, der sich als freie Antwort auf Gottes in Freiheit geschenktes Wort versteht, unverzichtbar.“22 Wenn Schöpfer und Geschöpfe frei sind – wenn sich die Schöpfung eines freien Schöpfungsentschlusses Gottes verdankt und dieser freie Gott freie Menschen als sein Ebenbild erschafft – dann ist es nicht konsequent, das theologische Wissen um diesen freien Gott in einem Offenbarungsgeschehen zu verorten, welches durch Disambiguitäten eine freie Relation zwischen Schöpfer und Geschöpf gerade wieder verunmöglicht. Erneut mit Bongardt formuliert: „Um des Glaubens, um der Begegnung zwischen Gott und Mensch willen, die in der Freiheit beider gründet, muss die bleibende Vieldeutigkeit der bezeugten Ereignisse nicht bestritten, sondern gerade herausgestellt werden.“23 Es ist wichtig zu sehen, dass diese Kritik nicht die Gratuität und Unableitbarkeit der göttlichen Selbstmitteilung gefährdet, da jede Deutung darauf angewiesen ist, ‚von außen‘ affiziert zu werden. Offenbarung wird nicht durch das freie Subjekt selbst hervorgebracht, B. Nitsche/M. Remenyi (Hrsg.), Problemfall Offenbarung. Grund – Konzepte – Erkennbarkeit, Freiburg i. Br. 2022. 21 Auch wenn Essen diese Debatte hier nicht aufnimmt, erinnert manches in seinen Ausführungen an die Auseinandersetzungen um die ‚Selbst-Evidenz‘ der Offenbarung. Vgl. zur Rekonstruktion und Kritik dieser Debatte auch M. Lerch, Selbstmitteilung Gottes. Herausforderungen einer freiheitstheoretischen Offenbarungstheologie, Regensburg 2015, 183 –215. 22 M. Bongardt, Die Fraglichkeit der Offenbarung. Ernst Cassirers Philosophie als Orientierung im Dialog der Religionen (ratio fidei 2), Regensburg 2000, 202. 23 Ebd., 211f.
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sondern ereignet sich – nur haben irdische Subjekte nicht die Möglichkeit, auf diese Offenbarung unvermittelt Zugriff zu haben, sondern stets nur in vermittelten Deutungspraxen. Die rationale Rechtfertigung einer bestimmten Deutung eines historischen Ereignisses ist also unverzichtbar. Manche Passagen bei Essen klingen hingegen so, als ob Essen das Offenbarungsereignis als uninterpretiertes factum brutum theologischer Erkenntnis voraussetzt: Auch wenn die philosophische Vernunft die Möglichkeit einer göttlichen Wirklichkeit im Sinne einer ‚Minimalbestimmung‘ aufweisen könne, sei es die Theologie, die „aufgrund ihrer eigenen, im Offenbarungsbegriff festgehaltenen Quellen“24 weitergehende Aussagen über Wesen und Wirklichkeit Gottes machen kann. Essen trennt methodisch daher strikt zwischen Philosophie und Theologie: „Das methodische Verfahren, Wesensaussagen zu generieren, ist für die Theologie ein anderes als für den philosophischen Theismus […]. Theologisch verhält es sich […] so, dass Aussagen über das Wesen Gottes unter Einschluss der diesem zugehörigen Eigenschaften aus Gottes Offenbarungshandeln zu erkennen sind.“25 Das historische Offenbarungshandeln ist für Essen daher einerseits erkenntnislogisch notwendig, um überhaupt bestimmen zu können, dass Gott die Liebe ist; andererseits ist diese Erkenntnisquelle einem ‚philosophischen Theismus‘ verschlossen. Diese Inanspruchnahme der Offenbarung in legitimatorischer Absicht ist für den Dialog mit der Philosophie wenig vielversprechend, da ein privilegierter Zugang der Theologie zu zentralen Wesensaussagen über Gott und damit ein für die philosophische Vernunft opak bleibendes Sonderwissen behauptet wird, womit das Gespräch zwischen Theologie und Philosophie von vornherein nicht auf Augenhöhe stattfinden kann. Es geht in dieser kritischen Rückfrage natürlich nicht darum, Theologie und Philosophie miteinander zu identifizieren. Die Theologie kann und sollte mit der Distinktion von Vernunft und Offenbarung arbeiten, da die Vernunft auf bestimmte Gehalte angewiesen ist, die ihr zugesagt werden – ohne historische Tatsachen gibt es kei24
G. Essen, ‚als ob man von Christus nichts wüsste‘? Philosophisch-theologische Überlegungen zur Personalität Gottes, in: K. Viertbauer/H. Schmidinger (Hrsg.), Glauben Denken. Zur philosophischen Durchdringung der Gottrede im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2017, 47–59, 57. 25 Ebd., 52.
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ne Offenbarung. Nur gibt es eben auch keine historischen Tatsachen, die bereits vor aller Deutung als ‚Tatsachen‘ bekannt sind. Saskia Wendel identifiziert in Pröppers (und Essens?) Ansatz daher einen „Offenbarungsexternalismus“26, den sie in der „Annahme einer notwendig ‚von außen‘ kommenden Bestimmung der Freiheit (und der Vernunft)“27 sieht. Ohne in die ausufernde gegenwärtige Debatte zur Rede von Offenbarung einzusteigen, lässt sich an den Ansatz zurückfragen: Wäre es nicht gerade im freiheitstheoretischen Ansatz angemessener, weniger stark die ‚Gegebenheit‘ und ‚Unableitbarkeit‘ von Offenbarung, sondern stärker die Verschachtelung von Offenbarung und Vernunft zu betonen? Liegt die Bedeutung der Geschichte Jesu wirklich in der exklusiven Ermöglichung ‚affirmativer Aussagen über Gottes Wesen‘ oder nicht viel eher in ihrer den konkreten Glauben gründenden, praktischen Rolle? In meinen Augen bietet der freiheitstheoretische Ansatz an dieser Stelle schon aus sich heraus das Potenzial, dieses Problem zu überwinden, da ein starker Fokus auf der personalen Freiheit des Menschen liegt und „gerade transzendentale Ansätze sich der Aufgabe verschrieben haben, die Bedingungen der Möglichkeit für die Erkenntnis und freie Annahme der Offenbarung durch das Subjekt unverkürzt zur Geltung zu bringen.“28 Die Grundintuition des freiheitsanalytischen Ansatzes kann modifiziert fortgeführt werden, ohne einen theologischen Begründungsexternalismus bejahen zu müssen oder die Rede vom Handeln Gottes an allen Deutungen vorgelagerte, historische ‚Tatsachen‘ zu koppeln. Daher handelt es sich bei dieser Rückfrage nicht um einen Einwand, sondern eher um den Versuch, den Ansatz von manchen Begründungslasten zu befreien und zu schauen, welche Potenziale der freiheitstheoretische Ansatz hat, wenn man eine weniger starke Distinktion von Vernunft und Offenbarung vornimmt.
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S. Wendel, Göttliche Offenbarung und menschliche Freiheit – (wie) geht das zusammen?, in: K. von Stosch/S. Wendel/A. Langenfeld/M. Breul (Hrsg.), Streit um die Freiheit. Philosophische und theologische Perspektiven, Paderborn 2019, 225 –249, 237. 27 Ebd. 28 M. Lerch, Vernunft und Offenbarung in geschichtlicher Kontingenz. Eine Erwiderung auf Saskia Wendels Kritik an der Offenbarungstheologie, in: B. Nitsche/M. Remenyi (Hrsg.), Problemfall Offenbarung (s. Anm. 20), 120 –145, 122.
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An Essens Ansatz lässt sich also, erstens, zugespitzt zurückfragen: Lässt sich im Rahmen des freiheitstheoretischen Ansatzes die skizzierte, elliptische Verhältnisbestimmung von Offenbarung und Vernunft überhaupt konsistent durchhalten? Warum spricht er mit Blick auf die Personalität Gottes von einem „Wissen, das aus Gottes freier, durch Selbstbestimmung verfügter Zuwendung stammt“29 – wäre hier nicht die Rede von einem Glauben angemessener, gerade wenn es ihm um die Möglichkeit des freien Sich-Verhaltens zur Selbstmitteilung Gottes geht? Und welche Potenziale könnte der freiheitstheoretische Ansatz entfalten, wenn er von einer Verschachtelung bzw. einer wechselseitigen Durchdringung von Offenbarung und Vernunft ausginge? 4.2 Anthropozentrik Eine zweite Rückfrage an den freiheitstheoretischen Ansatz betrifft seine Anthropozentrik. Wenn jedes Handeln Gottes einen freiheitstheoretisch-relationalen Index hat, bedeutet dies, negativ gesprochen: Ein Handeln Gottes jenseits der symbolischen Realisierung unbedingter Freiheit in der Geschichte ist ausgeschlossen. Damit ist aber jegliches nicht-dialogische Handeln Gottes unmöglich, und Gottes Handeln wird ausschließlich dort gegenwärtig, wo Menschen wechselseitig ihre Freiheit anerkennen. Diese Engführung führt zu zwei Problemüberhängen: Zum einen ist es meines Erachtens vorschnell, den der Freiheit angemessenen Gehalt exklusiv in anderer Freiheit zu sehen. Diese Annahme wird von Gregor Maria Hoff problematisiert, der die Fokussierung auf abstrakte Kategorien wie Geschichtlichkeit (anstelle der konkreten Geschichte) für problematisch hält, da so die vielfältige narrative Codierung des göttlichen (Offenbarungs-)Handelns nicht in den Blick kommen könne. Er hält dem freiheitstheoretischen Ansatz entgegen: „Von Offenbarung wird nicht länger im engeren Sinn geschichtsnah, nämlich ausgehend von jenen Zeichen der Zeit gesprochen, in denen sich die Wirklichkeit Gottes offenbart. […] Das gegenwärtige Bild erscheint zunehmend uneinheitlicher, szenenreicher, überraschender. Unsere Städte sind Orte mit eigenen Offen29
G. Essen, Die Personalität Gottes, 260 in diesem Band.
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barungssprachen, mit ihren sakral konnotierten Architekturen und jenen Sprachen des Lichts, in denen sich Aufklärung und Offenbarung wechselseitig codieren.“30 Mit anderen Worten: Eine Theologie, die schon vor aller Erfahrung festlegen kann, was angemessene Orte der Offenbarung für Gott sein können, weiß ‚zu viel‘. In gleicher Stoßrichtung wird auch von Aaron Langenfeld die Möglichkeit diskutiert, ob es nicht auch Formen der ästhetischen Anschauung geben könne, die ebenfalls der Unbedingtheit der Freiheit entsprechen. Gerade das interreligiöse Gespräch könne belebt werden, wenn man nicht davon ausgehe, dass interpersonale Begegnungen unbedingter Freiheiten die einzigen Möglichkeiten seien, der unbedingten Freiheit einen adäquaten Gehalt zu geben: „Wenn es nämlich der Erfahrung entspricht, dass meiner Freiheit auch auf ästhetische Weise Sinnerfüllung widerfahren kann, dann ist zunächst zu fragen, ob sich eine solche Erfahrung auf ihre Möglichkeitsbedingung erschließen lässt, und es ist nicht a priori die Möglichkeit realer Unbedingtheitserfahrung […] auszuschließen.“31 In meinen Augen ist Hoff und Langenfeld recht zu geben: Eine prädiskursive Exklusion anderer der unbedingten Freiheit angemessener Gehalte als die Freiheit selbst birgt die Gefahr, das Gespräch mit alternativen Selbst- und Weltdeutungen im Keim zu ersticken, da immer schon klar ist, was der Unbedingtheit der Freiheit entsprechen kann und was nicht. Der zweite anthropozentrische Problemüberhang besteht darin, dass sich freiheitsanalytische Ansätze durch ihre Engführung des göttlichen Handelns auf zwischenmenschliche Realisierungen der unbedingten Anerkennung von Freiheit der Möglichkeit berauben, auch andere innerweltliche Ereignisse als Handeln Gottes deuten zu können. Obschon die konsequente Orientierung am personalen Modus der Handlungsweise Gottes sinnvoll ist, ist die Identifikation von personalem Handlungsmodus mit der freiheitstheoretischen 30
G. Hoff, Offenbarungen Gottes? Eine theologische Problemgeschichte, Regensburg 2007, 24f. 31 A. Langenfeld, Das Schweigen brechen. Christliche Soteriologie im Kontext islamischer Theologie, Paderborn 2016, 276.
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Denkform fraglich und könnte die Handlungsmöglichkeiten Gottes zu sehr einschränken. Erneut mit Langenfeld gefragt: „Ist es kategorisch auszuschließen, dass sich Gottes freie Anerkennung menschlicher Freiheit nicht menschlich-interpersonal vermittelt?“32 Gerade im Kontext der Debatte um das Handeln Gottes ist eine apriorische Absage an die Möglichkeit einer Deutung bestimmter nicht-interpersonaler Geschehnisse als göttliches Handeln problematisch, da dann noch vor jedem Diskurs über die Begründbarkeit einer Deutung feststünde, in welchen Bereichen Gott handeln kann und in welchen nicht. Konkret ließe sich also an Essen zurückfragen: Ist die Möglichkeit eines Handelns Gottes in der Natur, also jenseits der wechselseitigen Anerkennung zweier Freiheiten, wirklich ausgeschlossen? Wenn es stimmte, dass Gott „seinen Heilswillen nicht anders durchsetzen will, als dass Menschen ihm in ihrem Verhalten frei entsprechen“33, würde dann nicht jedes Handeln Gottes jenseits menschlicher Kontexte ausgeschlossen sein? Sollte diese Frage aber bejaht werden, schließen sich diverse Folgefragen an: Was hat Gott in den Milliarden Jahren der Erdgeschichte gemacht, bevor es menschliche Freiheit gab, die er anerkennen konnte? Wie lässt sich ein göttliches Schöpfungshandeln denken? Und: Ist das freiheitstheoretische Modell nicht zu anthropozentrisch, wenn es die einzige Handlungsmöglichkeit Gottes in den freien Handlungen von menschlichen Individuen verortet? 4.3 Intersubjektivität Der dritte und letzte Problemkomplex des freiheitstheoretischen Ansatzes liegt im ‚Problem der Intersubjektivität‘. Auch wenn in diesem Ansatz stets die ‚intersubjektive Situation‘ als genuiner Ort der geschichtlichen Konkretwerdung des Handelns Gottes betont wird, bleibt Intersubjektivität zugleich ein gewissermaßen ‚nachklappendes‘ Phänomen, da der Ursprung der intersubjektiven Situation in der vorgängigen Existenz mehrerer freier Subjekte begründet liegt. Intersubjektivität ist nicht konstitutiv für die Entstehung freier Subjekte, sondern der kontingenten Entscheidung des immer schon 32 33
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freien Subjekts zum Eintritt in die intersubjektive Situation geschuldet. Damit ergibt sich jedoch das Problem, dass implizit die subjektphilosophische Subjekt-Objekt-Struktur bejaht wird.34 Diese Struktur bekommt aber die Personalität des konkreten Anderen – die 2. Person – nicht angemessen in den Blick, da sie den personalen Anderen eben nur als dem Subjekt entgegengesetztes Objekt vergegenständlichen kann. Es stellt sich das Problem, wie aus der Sicht einzelner Subjekte „jeweils eine intersubjektive Welt konstituiert werden kann, in der die eine Subjektivität der anderen nicht nur als objektivierende Gegenmacht, sondern in ihrer originären, weltentwerfenden Spontaneität begegnen könnten.“35 Die Individuierung eines freien Selbst ist auf die kontinuierliche kommunikative Vergesellschaftung des Selbst angewiesen, da auch Freiheit und Subjektivität nicht vorsprachlich verfasst sein können – vielmehr verdankt sich jede Subjektivität „dem unnachgiebig individuierenden Zwang des sprachlichen Mediums von Bildungsprozessen.“36 Auch das freie Subjekt ist also kein abstraktes Einzelnes, welches schon vor aller Interaktion Freiheit und Selbstbewusstsein besitzt und (irgendwann einmal?) sich dazu entschließt, mit anderen Freiheiten, die ebenfalls schon fertig sind, zu interagieren.37 34 Vgl. exemplarisch M. Striet, Ernstfall Freiheit. Arbeiten an der Schleifung der Bastionen, Freiburg i. Br. 2018, 55: „Um aber überhaupt von Freiheit reden zu können, ist zumindest eine Subjekt-Objekt-Spaltung vorauszusetzen, was lediglich heißt, dass das handelnde Subjekt nicht mehr in einer symbiotischen Weise mit seiner Umwelt existiert.“ Meine Rückfrage ist hier nicht als Kritik an der Auffassung zu verstehen, dass das Aufgehen des Subjekts in seiner Umwelt in der Moderne unhaltbar sei, im Gegenteil. Allerdings würde ich dafür plädieren, die Kategorie der Intersubjektivität stärker zu berücksichtigen in dem Sinne, dass die Rede von einer ‚Subjekt-Objekt-Spaltung‘ allein nicht hinreichend ist, sondern durch die triadische Struktur des ‚Sich-mit Jemand-über Etwas‘-Verständigens ergänzt werden sollte. Vgl. dazu ausführlich M. Breul, Diskurstheoretische Glaubensverantwortung. Konturen einer religiösen Epistemologie in Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas, Regensburg 2019, 83 – 91. 35 J. Habermas, Motive nachmetaphysischen Denkens, in: ders., Kritik der Vernunft (Philosophische Texte 5), Frankfurt a. M. 2009, 174 –202, 190. 36 J. Habermas, Metaphysik nach Kant, in: ders., Kritik der Vernunft (s. Anm. 35), 155 –173, 173. 37 Die problematischen Konsequenzen eines solchen Ansatzes für die Ethik buchstabiert Habermas explizit aus: „Insbesondere für die Ethik wirkt sich ein solches in unseren Denktraditionen tief verwurzeltes Vorurteil prekär aus: So, als seien wir – zunächst einmal und auch ganz grundsätzlich – abstrakte Einzelne (die so
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Im Gefolge von George Herbert Mead, Jürgen Habermas und Michael Tomasello ist eine ‚Detranszendentalisierung‘ des freien Subjekts möglich, die ihr Augenmerk auf die konstitutive Rolle der sprachlich-evolutiven Genese von Subjektivität und Freiheit legt. Gerade die in den letzten Jahren erstarkte ‚evolutionäre Anthropologie‘ weist auf Basis vergleichender empirischer Studien auf die Schlüsselrolle der Interaktion für die phylo- und ontogenetische Entstehung von Selbstbewusstsein und Freiheit hin: Nicht die Introspektion, sondern die kommunikative Beziehung zu einer zweiten Person erzeugt eine Selbstbeziehung und damit Selbstbewusstsein und Freiheit.38 Damit werden die Kategorien von Freiheit und Subjektivität gerade nicht aufgegeben, sondern vielmehr transformiert, um die zu scharfe Unterscheidung zwischen Genese und Geltung im transzendentalen Freiheitsbegriff zu unterlaufen. Freiheit entsteht, sie liegt nicht immer schon vor – daher sollte die (Natur-)Geschichte der Freiheit ein entscheidender Bestandteil jeder Freiheitsanalyse sein.39 Theologisch ließe sich ein analoger Einwand zu diesem philosophischen Problem der Intersubjektivität formulieren, da im freiheitstheoretischen Ansatz eine „eindeutige Christozentrik“40 vorliegt – und überhaupt schon ein Orientierungswissen und offenbar auch eine Art diffuses Selbstverständnis besitzen), die sich dann – irgendwann einmal? – für die Moralität oder vielleicht gegen sie zu entscheiden hätten. Wir dürfen keine systematisch verzerrte Lebensform an den Anfang der Ethik setzen. Sonst erhält die philosophische Ethik selbst eine verzerrte Form: als sei sie auf einen Einzelnen bezogen, den wir überzeugen wollen, aus seinem Interesse an sich selbst moralisch zu werden.“ (J. Habermas, Der interkulturelle Diskurs über Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik, in: H. Brunkhorst/W. R. Köhler/M. Lutz-Bachmann (Hrsg.), Recht auf Menschenrechte, Frankfurt a. M. 2001, 216 –227, 224). 38 Vgl. für eine ausführlichere theologisch-anthropologische Einordnung der Chancen und Grenzen der evolutionären Anthropologie auch M. Breul, Philosophical Theology and Evolutionary Anthropology. Prospects and Limitations of Michael Tomasello’s Natural History of Becoming Human, in: NZST 61 (2019), 354 –369. 39 Eine ‚Geschichte der Freiheit‘ muss dabei nicht zwingend naturgeschichtlich angelegt sein, sie kann auch kulturgeschichtlich gelesen werden – vgl. dazu auch S. Rosenhauer, Die Unverfügbarkeit der Kraft und die Kraft des Unverfügbaren. Subjekttheoretische und gnadentheologische Überlegungen im Anschluss an das Phänomen der Kontingenz, Paderborn 2018; sowie dies., Jenseits des Bestimmens. Überlegungen zu einer freiheitstheoretischen Grundlegung des Handelns Gottes, in diesem Band. 40 K. von Stosch, Gott – Macht – Geschichte (s. Anm. 6), 338.
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Reflexionen zum Handeln Gottes im Heiligen Geist, soweit ich sehe, weitgehend ausfallen.41 Mit Gisbert Greshake oder Klaus von Stosch ließen sich hingegen ‚trinitarische Perspektivierungen‘ des Handelns Gottes formulieren, welche stärker die unterschiedlichen Handlungsmodi des dreifaltigen Gottes herausstellen und damit den Gedanken der Intersubjektivität trinitätstheologisch in das Wesen Gottes und in sein Handeln hineintragen.42 Diese trinitätstheologische Fortschreibung des freiheitsanalytischen Ansatzes kreist bei Greshake insbesondere um den Begriff der Communio, die nicht nur Gott selbst ist, sondern die als allumfassende Communio auch das Ziel der göttlichen Schöpfung konstituiert und auf diese Weise die verschiedenen Handlungsweisen Gottes in der Welt strukturiert. Die Relationalität Gottes als sein grundlegendes Konstitutivum durchbricht die christozentrische Sicht auf die Selbstmitteilung Gottes in der Geschichte und berücksichtigt das Handeln des Geistes als Möglichkeitsbedingung der Anerkennung eines Geschehnisses als göttliches Handeln auf subjektiver Ebene. Zugleich bietet sie das Potenzial einer stärkeren Berücksichtigung der Kategorie der Intersubjektivität, da das innertrinitarische Liebesgeschehen als intersubjektives Anerkennungsgeschehen konzipiert werden kann und Greshake stets betont, dass die intersubjektive Relation der Personen untereinander die innertrinitarischen Personen überhaupt erst konstituiert. Konkret ließe sich also an Essen zurückfragen: Müsste ein freiheitstheoretischer Ansatz nicht stärker auf die intersubjektiven Ermöglichungsbedingungen von Freiheit eingehen? Wie passt es zusammen, einerseits die Geschichtlichkeit der Selbstmitteilung Gottes stark zu betonen und andererseits das denkformprägende Freiheitsvermögen nicht-geschichtlich zu verstehen? Durch den Versuch einer stärkeren Berücksichtigung der konstitutiven (und nicht bloß konsekutiven) Rolle der Intersubjektivität für das Vermögen der Freiheit wird zudem ein Weg für die Integration des Konzepts ‚kollektiver Intentionalität‘ gebahnt, welches sich bei der Entwicklung eines integrierten personal-intentionalen Modells des Handelns Gottes als 41
Vgl. zur Verknüpfung von Pneumatologie und der Debatte um das Handeln Gottes auch A. Langenfeld, Frei im Geist. Studien zum Begriff direkter Proportionalität in pneumatologischer Absicht, Innsbruck 2021, bes. 257–282. 42 Vgl. G. Greshake, Der dreieine Gott. Eine trinitarische Theologie, Freiburg i. Br. 52007; K. von Stosch, Gott – Macht – Geschichte (s. Anm. 6), bes. 337–399.
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entscheidende Kategorie zur Explikation des göttlichen Handelns erweisen wird.
5. Kollektive Intentionalität und die Rede vom Handeln Gottes In einem letzten Schritt möchte ich eine alternative Rede vom Handeln Gottes skizzieren, die die Grundidee des personalen Modells aufnimmt und dieses zugleich stärker im Paradigma der Intersubjektivität orientiert. In meinen Augen kann auf diesem Wege eher der Grundeinsicht des personalen Modells Rechnung getragen werden, dass Gott nur mit den Mitteln der Liebe um den Menschen wirbt und die handelnde Gegenwart Gottes insbesondere in zwischenpersonalen Situationen sichtbar wird. An dieser Stelle kann nur die Grundidee angerissen werden, die ich an anderer Stelle ausführlich dargelegt habe.43 Die Grundidee des kollektiv-intentionalen Modells setzt die Einsicht des personalen Modells voraus, demzufolge Gott um die Freiheit des Menschen wirbt, seinen guten Willen geschehen zu lassen. Allerdings betont es stärker die intersubjektive, kommunikative Natur dieses Werbens Gottes und macht sich dabei die handlungstheoretische Kategorie der ‚kollektiven Intentionalität‘ zunutze. Kollektive Intentionalität besagt, dass menschlichen Personen die Fähigkeit zukommt, einen ‚Wir-Modus‘ des Handelns zu formen, da sie nicht bloß Individuen sind, die zufällig das Gleiche intendieren, sondern eine intersubjektive Beziehung eingehen, die ihnen ermöglicht, dasselbe zu beabsichtigen. Die Hypothese kollektiver Intentionalität geht davon aus, dass mehrere Akteure eine gemeinsame, d. h. geteilte Handlungsabsicht haben und diese in einer Handlung umsetzen können. Der Clou der kollektiven Intentionalität ist, dass diese gemeinsame bzw. ‚geteilte‘ Handlungsabsicht nun nicht einfach die Summe mehrerer individueller Handlungsabsichten ist, sondern es sich um eine geteilte Handlungsabsicht handelt, die nicht reduzierbar auf das Aggregat individueller Intentionen ist. Natürlich ist es auch denkbar, dass verschiedene Individuen jeweils ein Ziel verfolgen und auch wechselseitig wissen, dass die je anderen das gleiche Ziel verfol-
43
Vgl. M. Breul, Gottes Geschichte (s. Anm. 2).
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gen. Dennoch liegt kollektive Intentionalität erst vor, wenn verschiedene Individuen miteinander kooperieren und auf diese Weise eine Wir-Absicht konstituieren: „Der Begriff der Wir-Absicht, der kollektiven Intentionalität, impliziert den Begriff der Kooperation. Aber das bloße Vorhandensein von Ich-Absichten, die auf ein Ziel gerichtet sind, von dem man zufälligerweise glaubt, es sei dasselbe Ziel wie das anderer Mitglieder einer Gruppe, impliziert nicht das Vorhandensein einer Absicht, zum Erreichen dieses Ziels zu kooperieren.“44 Die eine Handlungsabsicht mehrerer Handlungsbeteiligter ist also dadurch konstituiert, dass sie von mehreren Akteuren geteilt wird, ohne dass diese Akteure dadurch ihren Status als individuelle Subjekte verlieren. Das gemeinsame Intendieren kann vielmehr, mit Michael Bratman, als intersubjektiv-relationales Phänomen definiert werden: „[S]hared intention consists primarily of attitudes of individuals and their interrelations.“45 Die anthropologische Bedeutsamkeit des Konzepts der kollektiven Intentionalität über Philosophie und Theologie hinaus lässt sich an ihrer Relevanz für die evolutionäre Anthropologie aufzeigen. Michael Tomasello zufolge ist es die naturgeschichtliche Herausbildung der Fähigkeit zur kollektiven Intentionalität und insbesondere der Fähigkeit der höherstufigen Handlungskoordination, die die einzigartigen Vermögen des menschlichen Geistes entstehen lassen. Während auch Menschenaffen über individuelle Intentionalität verfügen und sogar verstehen, dass ein Gegenüber mentale Zustände hat, Pläne verfolgt etc., ist es die menschliche Fähigkeit der kollektiven Intentionalität, die den evolutionären Schlüssel für das Verständnis der Naturgeschichte des menschlichen Geistes bereithält.46 Auf dieser Basis lässt sich nun klarer sagen, wie man eigentlich genau denken können soll, dass Gott handelt, wenn Menschen sei-
44
J. Searle, Kollektive Absichten und Handlungen, in: H. Schmid/D. Schweikard (Hrsg.), Kollektive Intentionalität. Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen, Frankfurt a. M. 2009, 99 –118, 106. 45 M. Bratman, Shared Intention, in: ders., Faces of Intention. Selected Essays on Intention and Agency, Cambridge 1999, 109 –129, 129. 46 Vgl. M. Tomasello, Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens, Berlin 2014; ders., Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese, Berlin 2020.
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nen Willen geschehen lassen: Wenn Gott und Mensch dieselbe Handlung beabsichtigen, kann diese Handlung des Menschen, in der die Liebe Gottes realisiert wird, auch als Handlung Gottes gelten. Gott und Mensch finden gewissermaßen einen Wir-Modus des Handelns, in dem Menschen sich dazu entscheiden, den Heilswillen Gottes zu realisieren. Die durch Gott zugesagte Anerkennung des Menschen kann von diesem erwidert werden, indem er bestimmte Handlungen vollzieht, die das Handeln Gottes geschichtlich vermitteln und seine Heilszusage innerweltlich konkret werden lassen. Damit kann zum einen die Autonomie des Menschen gewahrt bleiben, da Gott um das Einstimmen in seine Handlungsabsichten wirbt, aber dieses Einstimmen nicht unter Preisgabe der geschöpflichen Freiheit erzwingt. Zum anderen kann an der Rede von Gott als innerweltlichem Akteur festgehalten werden, da das menschliche Handeln das göttliche Handeln nicht einfach ersetzt, sondern Mensch und Gott sich in ein intersubjektives Verhältnis der wechselseitigen Anerkennung der jeweiligen Handlungsabsichten begeben. Eine analoge Grundidee findet sich auch bei Jürgen Werbick, der – ohne das Instrumentarium einer kollektiv-intentionalen Handlungstheorie in Anspruch zu nehmen – ein ähnliches Konzept entwickelt: „Gott handelt, wo sein Heils-Wille geschieht – durch und an Menschen, die sein Geist ergreift und zu Töchtern und Söhnen des göttlichen Vaters, zu Schwestern und Brüdern des Sohnes macht, der in und aus Gottes Geist der Immanuel war, Gott mit uns, Gottes Heilshandeln in Person. Das heißt nicht oder jedenfalls nicht nur, dass Gott – die causa prima – nur vermittelt durch die endlichen causae secundae in der Welt handelt, diese scholastische Unterscheidung führt hier nicht weiter. Es heißt vielmehr, dass Gott in all dem, was seinen guten Willen geschehen lässt, an und durch Menschen und jedenfalls nicht ohne sie in der Geschichte handelt, indem er sie in der Inspiration durch seinen Geist zu Mitsubjekten seines versöhnenden Handelns macht.“47
47
J. Werbick, Den Glauben verantworten. Eine Fundamentaltheologie, Freiburg i. Br. 32005, 353. Vgl. auch ähnlich ebd., 103: „Gott handelt in der Welt, wo sein guter Wille geschieht. Und sein guter Wille geschieht durch Menschen, die sich von seinem Geist ergreifen lassen und an Gottes ‚Arbeit‘ in der Schöpfung […] mitarbeiten.“
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Insgesamt ergibt sich also, dass ein kollektiv-intentional angelegtes personales Modell des Handelns Gottes in der Welt eine handlungstheoretische Rahmentheorie für die Annahme bietet, dass Gott dort handelt, wo Menschen seinen Willen geschehen lassen. Mit dieser Rahmentheorie ist die grundlegende Intuition des personalen Modells des Handelns Gottes weiter geschärft worden: Gott handelt in der Welt, indem er um die freie Zustimmung des Menschen wirbt, sich seine Handlungsabsichten zu eigen zu machen und damit MitSubjekte (im Sinne kollektiv geteilter Handlungsabsichten) des göttlichen Handelns zu werden. Das wechselseitige Anerkennungsgeschehen zwischen Gott und Mensch ermöglicht das wechselseitige Teilen von Handlungsabsichten, sodass es möglich wird, einer Handlung zwei gleichermaßen beteiligte Akteure – in diesem Fall: Gott und Mensch – zuzuschreiben. Gott handelt also in der Welt, indem er kommunikativ um die freie Zustimmung des Menschen wirbt, sich seine Handlungsabsichten zu eigen zu machen und damit Mit-Subjekte des göttlichen Handelns zu werden.48 Auf diese Weise kann die Grundeinsicht des personalen Modells, deren bleibende Stärken im Laufe der Argumentation deutlich geworden sein sollten, in einer neuen handlungstheoretischen Rahmentheorie eingebettet werden, womit auch die angesprochenen Schwächen des freiheitstheoretischen Modells überwunden werden. Zugleich handelt es sich um ein Modell, welches sich nachhaltig von einem magischen Denken im Sinne eines interventionistischen Handelns Gottes, also einer episodischen Einflussnahme durch eine besondere göttliche Kausalität verabschiedet. Die Kategorie der kollektiven Intentionalität ermöglicht die konzeptionelle Erweiterung des Begriffs der Kausalität hin zu einem Konzept der performativen Verursachung, welches die unverzichtbare Rede von einem Handeln Gottes auch angesichts des Tiefenstroms der Immanenz in der Spät48
Es ist eine offene Frage, inwiefern der kollektiv-intentionale Ansatz besser mit dem Einwand des Anthropozentrismus umgehen kann als der freiheitsanalytische Ansatz. Dies ist zunächst auch nicht weiter überraschend, weil alle personalen Modelle des Handelns Gottes stark auf Begriffe aus dem zwischenmenschlichen Bereich angewiesen sind. Zugleich ist dies natürlich eine Achillesferse dieser Ansätze als solcher. In meinen Augen bietet insbesondere das kollektiv-intentionale Modell jedoch Ansatzpunkte, um ein Handeln Gottes in der Natur zu denken – vgl. für erste Denkversuche in die Richtung Breul, Gottes Geschichte (s. Anm. 2), 388 – 400.
Intersubjektivität und die Rede vom Handeln Gottes
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moderne vernünftig plausibilisieren kann. Jürgen Habermas hält diese Einsicht prägnant in seiner Beschäftigung mit dem jüdischen Monotheismus fest, der prägend für das Christentum wird: „Das in magischer Absicht dargebrachte Opfer, das einen Gott oder eine göttliche Macht den eigenen Interessen durch Zuwendungen günstig stimmen soll, jeder Zaubertrick, der sich über die natürliche Kausalität des Weltgeschehens hinwegsetzt, und jede Mantik, die beobachtbare Vorgänge als Zeichen für künftig eintretende Ereignisse deutet, verkennt die transzendente Erhabenheit des weltenthobenen, exklusiv über alles Innerweltliche herrschenden Gottes.“49 Dieser Dreiklang von Absagen an eine übernatürliche Günstlingswirtschaft, an ein Verständnis von Gott als raffinierter Zauberkünstler und an ein Verständnis von göttlicher Vorsehung als Ermöglichungsgrund von Wahrsagerei führt zu einem Rationalisierungsschub, der nicht zu unterschätzen ist: Wenn in monotheistischen Religionen vom Handeln Gottes die Rede ist, dann meist nicht in dem Sinne, dass es um supranaturale Interventionen in einen naturkausalen Geschehenszusammenhang geht, sondern eher in dem Sinne, dass Gott kommunikativ und dialogisch in der Welt präsent ist und gemeinsam, gewissermaßen in und durch dialogfähige Wesen handelt. Ein solcher Ansatz ermögliche die Deutung von Geschehenszusammenhängen als Handeln Gottes, ohne dass diese Deutungen zugleich schon in Konkurrenz zu der eingangs im Anschluss an Taylor erwähnten ‚immanenten Ordnung der Dinge‘ stehen müssen. Auch unter den Bedingungen der säkularen Moderne ist es möglich, die Idee eines geschichtsmächtig handelnden Gottes mit guten Gründen zu rechtfertigen – und genau für eine solche vernünftige Rechtfertigung der Hoffnung auf einen geschichtsmächtigen, handelnden Gott liefert ein kollektiv-intentionaler Ansatz ein wertvolles theologisches Instrumentarium.
49
J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, Berlin 2019, 345.
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Kenosis, Inkarnation, Transformation Theologie des Handelns Gottes Thomas Schärtl-Trendel
1. Gott als Akteur? William J. Abraham hat das für die theologische Gegenwart vielleicht umfassendste Werk zu den philosophischen und theologischen Aspekten der Handeln-Gottes-Debatte vorgelegt.1 Er setzt sich intensiv mit den neueren, analytisch geprägten Debatten auseinander und votiert für ein agens-kausales Konzept des Handelns Gottes,2 das natürlich seinerseits nicht gefeit sein kann vor kritischen metaphysischen Anfragen, die allemal damit zu tun haben, dass durchaus strittig ist, ob Agens-Kausalität eine der Komplexität des Handelns angemessene Denkform darstellt. Es gehört in die spezifischen handlungs- und freiheitstheoretischen Debatten, das Konzept der Agens-Kausalität zu plausibilisieren. Aber das wird nicht der Gegenstand der folgenden Überlegungen sein. Für unseren Zusammenhang ist es vielmehr von Bedeutung, dass Abraham dieses Modell für die alte, durchaus in ihrem Zuschnitt nicht unproblematische Kategorie des ‚speziellen göttlichen Handelns‘ in Dienst stellt – also für jene möglichen Instanzen göttlichen Einwirkens auf den Weltverlauf, die über die providenzielle Ordnung der Welt und die göttliche Schöpfungsinitiative, über die Erhaltung der Welt oder die göttliche Einstiftung von KontingenzPlänen3 hinausgehen. Mit dem Begriff der Agens-Kausalität ist natürlich auch die Kategorie des personalen Theismus aufgerufen, sodass Abraham bestimmten Gottesbegriffen – etwa dem klassischen 1
Vgl. W. Abraham, Divine Agency and Divine Action, 4 Bde., Oxford 2017–2021. 2 Vgl. W. Abraham, Divine Agency and Divine Action, Bd. 1: Exploring and Evaluating the Debate, Oxford 2017, 187–224. 3 Vgl. J. Grössl, Ewige Kontingenzpläne. Eine eternalistische Konzeption göttlichen Handelns in der Welt, in: ZKTh 4 (2014), 405 – 422.
Kenosis, Inkarnation, Transformation
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Theismus4 und seinen idealistischen Modifikationen oder dem Prozesstheismus – kritisch5 gegenüberstehen muss: „To think of God as an agent is to think of God irreducibly and ontologically as a logically distinct entity constituted by various capacities or powers that may or may not be exercised. God is an agent who acts or exerts power, as distinguished from a patient or an instrument. God is the One Who Acts rationally and intentionally. This does not confine God to actions in this domain, for not all personal actions are done intentionally and it would be an obvious blunder to limit the range of divine actions to the kinds we can identify in the case of human agents.“6 Gegenüber dem klassischen Theismus wiederholt Abraham die Beobachtung, dass aus der Lehre von der Einfachheit Gottes weiter folgen müsste, dass alle göttlichen Akte (wie alle göttlichen Eigenschaften) miteinander identisch sind, was einem personal-theistischen, agens-kausalen Konzept des Handelns Gottes entgegenstehe: „If God is simple and is therefore identical with his acts, and his acts in turn are identical with one another, then it is clear that we need a way to speak of divine action that preserves these doctrines. That is exactly what we find. The proposal is straightforward: there are no distinct acts of will in God, for God wills everything in one simple act. There are two distinct moves in play here. First, this one simple act of God is essentially an act within the Godhead. God wills in one simple act all non-divine things by willing the goodness of his essence. The divine act is done for the sake of goodness, but goodness is in turn identical with God. Second, if there were more than one act of will in God, say, a volition to create the world and a volition to become incarnate within it, then this would introduce composition into the being of God. In order to avoid this, we must think of divine action in a radically different way. So, God wills himself and wills all other things in a single act of will. In this way God’s act will not be contingent
4
Vgl. W. Abraham, Divine Agency and Divine Action, Bd. 4: A Theological and Philosophical Agenda, Oxford 2021, 29f. 5 Vgl. ebd., 5 und 11f. 6 Ebd., 6.
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and uncertain. It is in no way dependent on the creatures he has made. Hence, what we identify in our minds as a particular act of God, say, creation, over against another act of God, say, incarnation, is really the effect of the one simple act of God in eternity.“7 Den Lackmustest für ein angeblich adäquates Modell des Handelns Gottes legt William Abraham in einer narrativen Weise offen, indem er sich ausdrücklich auf konkrete Erfahrungen göttlichen Eingreifens zu beziehen versucht – nicht nur im Umweg über die biblische Überlieferung, sondern unter Bezug auf konkrete Glaubenserfahrungen. Herausgegriffen wird für unseren Fall die von Abraham aufbereitete Geschichte eines Predigers Magnus, der in einem norddeutschen Flüchtlingsheim das Evangelium verkünden will, aber vor Hürden und Hindernissen steht; William Abraham schildert die Begebnisse aus der Ich-Perspektive des Missionars: „A friend of mine had offered to drive me there since it was a few hours away. Usually, before I go to these camps, I buy some fruit, some pastries, meat and bread to ensure that we will have a meal together and make the occasion more enjoyable for the refugees. In the morning, he came. As we were driving to the store, the engine light in my friend’s car came on. He said, ‚I don’t think it will be safe to drive this car. I have to take it to a mechanic’s shop. I will not be able to go with you. Can we postpone going today?‘ I explained that I didn’t have many days left. I had promised these folks to be with them and to cancel would deeply disappoint them. Therefore, I told him to take me to the grocery store and then attend to this car. I would take the train afterward. He dropped me off in front of the store and left. Once I had finished shopping, I went to the cashier to pay. As I reached in my coat pocket, I realized I did not have my wallet. I had left it next to my bed in my room. That meant I could not buy my train ticket, or bus ticket to the train station, or pay for the food I had just selected. I would have to put the food back on the shelves, walk for 30 – 40 minutes to the apartment to get my wallet, take the bus to the shop and then to the train station. That meant a significant delay. I was aggravated with myself. I apologized to
7
Ebd., 31.
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the cashier and told her that I had forgotten my wallet. I offered to put the things back on the shelves. As I turned around with my cart, a tall man with white hair and striking, big blue eyes was standing right behind me. He said, ‚Will you allow me to pay?‘ I profusely thanked him and said, ‚I have forgotten my wallet. I need to go to my apartment and to get it since I also need money for other things this morning.‘ He said: ‚I know!‘ I was puzzled as to what he meant but my mind was irritated and distracted by my absent-mindedness. He repeated, ‚Please let me pay and I will take you to where you need to go.‘ I thanked him and agreed that on one condition I would let him pay, that he would let me pay him back as soon as we were at my apartment. He nodded. He paid for the food items and walked me to his car in the garage. I gave him the address where I was staying. He looked at it and said, ‚OK.‘ But then, rather than driving in the direction of the apartment, he drove to the train station. He stopped in front of the station and said, ‚I won’t be long.‘ A few minutes later, he came back and handed me two tickets – one for going exactly where I needed to go and one for coming back. With the tickets, he also gave me 50 Euros and said, with great emotion and emphasis, ‚Christ is with you! God bless you, dear friend!‘ Before I could say anything, he handed me my two grocery bags, waved good-bye and drove off. As he drove away, I was certain I had just encountered something out of the ordinary. How did he know that I was planning to take the train that morning? How did he know where I was going? He had not asked, and I had not told him. He did not know who I was and what I was doing. In a secular nation, why would he say, ‚Christ is with you! Bless you, dear friend!‘? I went to the platform to catch my train but I was in a daze with regard to the encounter. There were too many inexplicable details!“8 Diese Erzählung ist, so darf man das durchaus sagen, herzerwärmend. Sie gehört in die Reihe jener unzähligen wundersamen Erlebnisse, die Glaubende als Bestärkung ihres Glaubens betrachten und die sie auf Gottes Eingreifen oder Vorsehung zurückführen. Aber
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Ebd., 54f.
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eine wiederholte Betrachtung dieser Erzählung und ihre theologische Reflexion lässt doch zwei Fragen laut werden: 1. Sind es genau solche Ereignisse, die die Theologie mit Hilfe verfügbarer metaphysischer Tools konzeptionell einzuholen und für die sie ein Modell des göttlichen Eingreifens zu entwickeln hat? 2. Ist die religiöse Deutung dieses (aus individueller Sicht sicherlich inspirierenden) Erlebnisses als eines Beispiels für Gottes spezielles Eingreifen in den Lauf der Welt eine sich aufdrängende oder eine nur mögliche ‚Erklärung‘ der erzählten Begebenheiten? Die erste Frage zielt darauf ab, dass es ja denkbar wäre, für Gottes Handeln eine Bagatell-Untergrenze (wenn man diesen Ausdruck aus der haushälterischen Anschaffungspolitik heranziehen darf) anzusetzen: Die Probleme, mit denen der Missionar konfrontiert war, stellen eine ausgesprochene Unannehmlichkeit dar, aber keine Katastrophe; die Rettung ist eine glückliche Fügung, aber kein exorbitantes Wunder, wenngleich die Begegnung mit dem nikolausartig beschriebenen Fremden sich wundersam fügt. Wenn man annähme, dass Gott auf das (vielleicht stillschweigend formulierte) Stoßgebet des Predigers in einer solch generösen Weise antwortet, müsste man doch auch mit bedenken, dass es buchstäblich herzzerreißende Situationen gegeben hat und gibt, die eine wirkliche Katastrophe darstellen und in denen die dort formulierten Gebete für den menschlichen Betrachter anscheinend unbeantwortet geblieben sind. Anders gesagt: Kann die Theologie in einer so konkreten Weise über Gottes Eingreifen und Handeln reflektieren, ohne in ein und demselben Gedankengang über die Theodizeefrage ebenfalls nachdenken zu müssen?9 Folgt aus derlei Erwägungen nicht zumindest, dass wir zwischen der subjektiven Möglichkeit und Zuträglichkeit, bestimmte Ereignisse als Handeln Gottes zu deuten, und der theologischen Notwendigkeit, solche Ereignisse so und nicht anders deuten zu müssen, zu unterscheiden haben?10 9
Diese Frage entspricht dem Grundanliegen von K. von Stosch, Gott – Macht – Geschichte. Versuch einer theodizeesensiblen Rede vom Handeln Gottes in der Welt, Freiburg i. Br. 2006, bes. 152–174. 10 Diese Frage will gar nicht in Abrede stellen, dass es eine rein ‚natürliche‘ Erklärung dieser Begebenheit geben kann: Der Missionar aus der Geschichte sieht sich
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William Abraham thematisiert die Theodizeefrage nicht. Die fundamentaltheologisch brisante Begründungsfrage, anhand welcher Kriterien wir eigentlich entscheiden wollen oder sollen, ob wir in einem bestimmten Ereignis ein Handeln Gottes sehen dürfen (oder nicht), wird mehr oder weniger deutlich an eine religiöse Erkenntnislehre delegiert, die Alvin Plantingas Externalismus (nicht zufällig) ähnelt: Ob wir einer menschlichen Bezeugung göttlichen Handelns trauen dürfen, ob wir uns darauf beziehen sollen, hängt von der Intaktheit unseres religiösen Erkenntnisvermögens ab; die biblischen Schriften selbst legten aber schon dar, dass die Halsstarrigkeit der Sünde und Verblendung dieses Erkenntnisvermögen erheblich eintrüben können.11 Diese Version des Gnadenapriori in der Erkenntnistheorie des religiösen Glaubens macht es aussichtslos, die Kriterien für die Erkenntnis des Wirkens Gottes außerhalb des Bereiches von Glaube und Gnade ausfindig machen zu können. Es ist von daher auch nicht sehr überraschend, wenn die im Hintergrund der (offenbleibenden) Theodizeethematik anzuschneidende Frage, ob wir je Kriterien dafür formulieren können und dürfen, welchen Mustern Gottes Handeln folgt – d. h. wo und wie wir es erwarten sollen und dürfen – etc., von Abraham durch einen Barthianisch anmutenden Verweis auf die Herrlichkeit und Souveränität Gottes regelrecht durchgestrichen wird.12 Derlei Fragen sind jedoch keine Marginalien: Wer es als denkbar erachtet, dass Gott dem fremden Gönner aus der oben zitierten Anekdote den Impuls eingibt, dem schwierigkeitsgeplagten Missionar zu helfen, der muss sich fragen lassen, warum Gott am 8. November 1938 nicht auch den Nebel hätte auflösen können, sodass Hitler länger im Münchner Bürgerbräukeller verblieben und Georg in einer enormen Stresssituation, der empathische Fremde verfügt über ein feines Gespür und bietet seine Hilfe an. Die besondere Empfänglichkeit für die Hilfe des Fremden kann unter Umständen auf eine psychische Disposition zurückgeführt werden, die gerade angesichts der Stresssituation dazu neigt, im Tunnelblick bloße Koinzidenzen stärker zu bewerten und intentional ‚auszuleuchten‘, als wir das in einem weniger aufgebrachten Zustand tun würden. Die theistisch-spirituelle Deutung des Zusammenhangs ist interessanterweise insofern einseitig, als die Probleme mit dem Auto, das Eintreten der Schwierigkeiten etc. weder als Heimsuchung noch als Versuchung gedeutet werden. 11 Vgl. W. Abraham, Divine Action, Bd. 4, 105 –110. 12 Vgl. W. Abraham, Divine Action, Bd. 1, 209.
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Elsers Anschlagversuch schlussendlich doch noch zum Opfer gefallen wäre. Gewiss muss niemand, der im persönlichen Glaubensbewusstsein ein bestimmtes Ereignis als Eingreifen Gottes deutet, die Erklärung für ein anscheinend ausbleibendes Eingreifen Gottes bereithalten; aber die Ebene der theologischen Reflexion hat anderen Ansprüchen zu genügen: Auf dieser Ebene werden die Theodizeefragen zum hartnäckigen Problem, ja zum dauerhaften Begleiter einer Theorie des Handelns Gottes. Wird Gott wie bei Abraham zu einem interaktiven Mitspieler in der Weltgeschichte erkoren, dann bietet sich als konsequente Theodizeelösungsstrategie, die sich eben auch auf Beispiele des augenscheinlichen göttlichen Nichthandelns konzentriert, wohl nur noch eine sogenannte Warfare-Theodizee an, die die Welt als Game of Thrones zwischen Gott und Teufel betrachtet.13 Während unser junger Missionar aus Abrahams Geschichte das Glück hatte, von lauteren Menschen umgeben zu sein und damit in einer freien Sichtachse auf Gottes Wohlwollen ausgerichtet zu bleiben, ging es bei Elser und Hitler wohl (buchstäblich) mit dem Teufel zu … Kippt die analytische Kritik an einer im Namen des Naturalismus vorgetragenen Entmythologisierung der Rede vom göttlichen Eingreifen am Ende in eine neue Form der Mythologie? Die zweite, oben gestellte Frage gibt zu bedenken, dass wir womöglich keinen ausreichenden Grund vorlegen können, der uns zwingen würde, das geschilderte Ereignis auf eine direkte Intervention Gottes zurückzuführen. Wir könnten diese wundersame Begebenheit auch im Rahmen eines weisheitlich-fügenden, Kontingenz13
Vgl. zu einem derartigen Ansatz G. Boyd, Satan and the Problem of Evil. Constructing a Trinitarian Warfare Theodicy, Downers Grove 2001. Boyd stellt heraus, dass sein Vorschlag gerade im Angesicht sogenannten natürlichen Übels eine Berechtigung habe, vgl. ebd., 247: „As the early church and almost every culture prior to modern Western culture has understood, it is subject to invisible agents who influence it for better or for worse. I thus argue that there is no such thing as ‚natural‘ evil. Nature in its present state, I believe, is not as the Creator created it to be, any more than humanity in its present state is as the Creator created it to be. When nature exhibits diabolical features that are not the result of human wills, it is the direct or indirect result of the influence of diabolic forces. Arguably, nowhere is the distinctiveness of the trinitarian warfare theodicy more apparent than on this point“. Boyds Ansatz verdient sicher mehr als eine Fußnote, aber die Lösung des Theodizeeproblems erfolgt hier faktisch nur auf der Basis einer Vermehrfachung der Spielfiguren auf dem Spielbrett einer Free Will Theodicy, deren inhärenten Probleme dadurch nicht geringer werden.
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pläne für seine Schöpfung implementierenden providentiellen Wirken Gottes theologisch erklären: Stellen wir uns dafür die Schöpfung als einen ‚lebendigen Text‘ vor, der sich auf der Basis einer göttlichinspirierenden Initiative selbst immer weiter fortschreibt.14 In solch einem ‚Text‘ würden wir Zeichen göttlicher Inspiration und Gegenwart erwarten; wir würden auch hoffen, dass wir durch intensive Arbeit an uns selbst, durch Gebet und spirituelle Reflexion die Fähigkeit erwerben könnten, diese Zeichen im ‚Text‘ der Schöpfung – durchaus mit Hilfe der Zeugnisse anderer Menschen, die uns auf diese Weise an ihren interpretierenden Betrachtungen dieses grandiosen ‚Textes‘ teilhaben lassen – angemessen zu interpretieren und als Ansporn für unseren eigenen spirituellen Weg zu erachten. Der unbekannte Gönner aus Abrahams Schilderungen könnte ein spirituell hoch-empathischer Mensch sein, der auf seinem Glaubensweg eine Offenheit und Empathie für andere und für deren Rolle im Heilsplan Gottes ausgebildet hat. Eben dieser Gönner könnte – ohne hierbei auf eine Verbalinspiration oder Privatoffenbarung rekurrieren zu müssen – aus dem Verhalten unseres Missionars, aus der Beobachtung der Situation die Notlage und die Absichten erschlossen haben. William Abraham räumt durchaus ein, dass es möglich wäre, die von ihm geschilderte Begebenheit als paradigmatischen und einigermaßen klaren Fall einer ‚Double Agency‘ zu verstehen, sodass Gottes Tun im Handeln von Menschen, die seinen Willen vollbringen, wirkungsvoll präsent ist: „We might formally say that the execution of the action is radically underdetermined. It is precisely this open space in the expression of his intentions and execution of his actions where God can intervene by prompting, providing relevant information by revelation, and by apt motivating inspiration. So, this can truly be an action where there is synergism and cooperation between God and the free human agent. The human agent gets to buy his 14
Die Rede von der Welt und Schöpfung als ‚Text‘ mag manchen zu bildlich vorkommen, dabei hat diese Sichtweise in der jüdisch-christlichen und islamischen Tradition durchaus solide Anhaltspunkte. Ein hermeneutischer Blick auf Abrahams begriffliche Vorstöße könnte aber auch zu dem Ergebnis kommen, dass die Übertragung der Kategorie der Agenskausalität auf Gott nicht weniger bildhaft ist, solange das tertium comparationis nicht eindeutig bestimmt werden kann.
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groceries and help a fellow believer in crisis; and God brings it about that my friend’s acute problem is solved. We can even speak of genuine double agency that preserves freedom. The provision of need is both an act of the stranger and an act of God.“15 Allerdings würden traditionellere Double Agency-Ansätze eher geneigt sein zu betonen, dass Gott ‚handelt‘, indem er durch Menschen handelt, die auf eine ihre eigene Freiheit nie in Frage stellende Weise auf Gottes Plan und Ziel – wie immer bruchstückhaft – aufmerksam geworden sind.16 Aber William Abraham fügt in seine Double Agency-Rekonstruktion einen Baustein ein, der eindeutig zeigt, dass er mit der alternativen Auslegung der Anekdote – einer Auslegung, die den Weg über eine non-interventionistische Präsenz der Zeichen Gottes in der Welt angedeutet hat – nicht zufrieden wäre: An irgendeiner Stelle der Rekonstruktion des komplexen Handlungsgefüges muss anscheinend doch ein robustes Element zu finden sein, das direkt auf Gottes Anstoß und kausalen Einfluss zurückgeht: ein Teilereignis, ein Handlungselement, eine Volition, die weder irdisch noch menschlich sein dürfen. Wir sehen spätestens an diesem Punkt überaus deutlich, dass Abraham für ein Modell des Handelns Gottes eintritt, das man bildlich als Nuss-und-Schalen-Konzept des religiösen Erzählens von göttlicher Intervention bezeichnen könnte: Selbst wenn wir in den Erzählungen vom göttlichen Handeln Schalen finden, die sich wie glaubensbasierte Interpretationen um glaubensbestärkende Ereignisse gelagert haben, so müsse es, wenn wir nur gründlich genug arbeiten, an irgendeiner Stelle einen echten, harten Kern göttlicher Intervention zu entdecken geben, bei dem ein nicht-weltlicher, göttlicher Akteur entweder konstitutiv in die Handlungsbeschreibung einbezogen werden muss oder der für eine adäquate Handlungserklärung indispensabel ist. Aber wodurch zeichnet sich dieser Kern aus? Durch eine Unerklärlichkeit, durch ein Durchstreichen rein innerweltlicher kausaler Faktoren?17 Oder genügt ein Bedeutungsmoment, 15
W. Abraham, Divine Action, Bd. 4, 63. Zu den weiteren Problemen dieser Ansätze vgl. V. Brümmer, Speaking of a Personal God. An Essay in Philosophical Theology, Cambridge 1992, 108 –125. 17 Vgl. J. Werbick, Gott verbindlich. Eine theologische Gotteslehre. Freiburg i. Br. 2007, 312f. 16
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ein Bedeutungsüberschuss, den wir an einem Ereignis abzulesen imstande sind und der auf Gottes Wollen verweist?18
2. Analytische Unduldsamkeit und ihre Transvaluation Die analytische Philosophie – die analytische Religionsphilosophie zumal – kann ein Säurebad sein, in dem sich Vormeinungen durch scharfe begriffliche Analyse in ihre Bestandteile auflösen. Auch theologisch etablierte Vormeinungen zum Handeln Gottes, die einen Non-Interventionismus nahezulegen scheinen, werden durch die analytischen Diskussionen neuerdings erschüttert. Entsprechende Begründungsfragen sind im Angesicht dieser Erschütterungen neu aufzurollen. Jeffrey Koperski hat von daher die vielleicht gründlichste Auseinandersetzung mit liebgewonnenen theologischen Vorentscheidungen, die einen theistischen (Semi-)Non-Interventionismus zu favorisieren scheinen, vorgelegt. Seine kritischen Anfragen lassen sich auf drei zentrale Thesen zuspitzen: 1. Dass Gott nicht in der Welt handeln könne, beruhe z. T. auf einer neuzeitlichen, mechanistischen Vorstellung von der kausalen Geschlossenheit des physischen Universums. Wer diese Voraussetzung jedoch nicht teilt – und den deterministischen Unterton dieser Vorstellungen für fragwürdig hält –, müsse den non-interventionistischen Gedanken gerade im Namen einer erweiterten Naturkonzeption verwerfen.19 2. Dass Gott nicht direkt und unmittelbar, sondern nur über Zweitursachen in der Welt handele, sei ein Zugeständnis an eine (in hermeneutischer Waghalsigkeit) an Thomas von Aquin angelehnte Zweitursachenlehre (oder eine Double-Agency-Theorie jüngeren Datums). Wer die Implikationen dieser Auffassungen reflektiere, der sehe sich allerdings mit einem Dilemma konfrontiert: Entweder ist die Zweitursachenkonzeption insofern trivial, als Zweitursachen die stets verfügbaren Instrumente göttlicher Aktivität sind; und dann kippt der Ansatz in eine Alleinwirksam18
Vgl. ebd., 323 –329. Vgl. J. Koperski, Divine Action, Determinism, and the Laws of Nature, Oxford/ New York 2020, 11–15.
19
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keitslehre, die alle Handlungssouveränität Gott zuschreibt. Oder der Status der sogenannten Zweitursachen wird in einer Weise gestärkt und aufgewertet, dass für Gottes eigene Initiative kein Platz mehr ist und Gottes Rolle am Ende der einer deistischen Gottheit gleicht.20 3. Dass Gott nicht ‚von außen‘ in der Welt handele, sondern über Emergenzphänomene in der Natur wirksam sei, könne als Konsequenz einer panentheistischen Gottesvorstellung angesehen werden.21 Obwohl der Panentheismus theologisch attraktiv wirke, stoße er durch die Revision des Gott-Welt-Verhältnisses auf fundamentale theologische Schwierigkeiten: Entweder verliert er Ansehen, weil er sich nicht mit dem biblisch-personalen, die Transzendenz Gottes betonenden Gottesbegriff in Verbindung bringen lässt. Oder das durch die Identifikation von Gott und Welt zu veranschlagende Alles-oder-Nichts-Prinzip bringt dieses Konzept in evidentialistischer Hinsicht ins Wanken.22 Koperski bezieht sich in seiner eigenen Position, die zum Impulsgeber für seine Unduldsamkeit mit theologisch vorgetragenen (semi-)non-interventionistischen Konzepten wird, auf Robert Larmer, der seinerseits unter Berufung auf die biblischen Schriften ein interventionistisches Konzept verteidigt: „First, certain events described by the biblical writers – whether one accepts that these events actually occurred or not – are taken as providing paradigm examples of what it would be for an event to be a miracle. It will not do, therefore, to suggest that philosophical conceptions of miracle can be cut free from how these writers viewed such events. Second, it is evident that the biblical authors conceive God as acting both directly and indirectly in the world. It is thus clear 20
Vgl. ebd., 15 –19. Zur Entfaltung und Evaluation solcher Ansätze vgl. M. Blay, Natürliche Wunder?! Eine Rekonstruktion des Wunderbegriffes im Horizont der Emergenztheorie (STEP 15), Münster 2018, bes. 225 –260. 22 Vgl. J. Koperski, Divine Action, 19 –26. Hier wird auf eine Standardkritik am Panentheismus angespielt, die kritisiert, dass Gottes Wirken angeblich an allen Phänomenen der Natur und der Welt abgelesen werden müsse, wenn der Panentheismus wahr sei. 21
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they are implicitly committed to the model of divine agency I have termed supernaturalism. Third, these authors attach special revelatory significance to events which God is viewed as having caused directly. Such events are understood by them not simply as exhibiting the power of God but as signs disclosing His presence and intentions in particular historical situations. This means that if we are to do justice to the concept of miracle we must situate our definition in a model of divine agency that views a miracle as involving supernatural intervention into the usual course of nature. It also means that conceiving of a miracle as an unusual event cannot be allowed to eclipse the importance of conceiving it as an event that reveals in a special and specific way the presence and purposes of God.“23 Die Botschaft dieser analytisch geprägten, apologetisch eingefärbten Überlegungen ist identisch mit William Abrahams Ansatz und Fazit: Wer die biblische Offenbarung ernst nehme, müsse einen Begriff des direkten, personalen Handelns Gottes vertreten, müsse somit annehmen, dass Gott in freier Souveränität in den Lauf der Welt eingreifen könne und eingreife. Während Abraham die genaue Antwort auf die Frage, wie Gott dies bewerkstelligen könnte, offenlässt, bekennt sich Koperski zu einer dekretalistischen Interpretation der Naturgesetze, sodass Gottes Handeln nicht als Brechen der Naturgesetze, sondern als ‚Privilegierung‘ seiner besonderen Position gedeutet werden kann. Diese Sichtweise befreit Koperskis Überlegungen sowohl von einer deterministischen Auffassung der Natur als auch von der Vorstellung einer kausalen Geschlossenheit der physischen Wirklichkeit. Und sie hat es nicht mehr nötig, Gottes Intervention auf der reichlich merkwürdigen Ebene der quantenphysikalischen Prozesse zu verorten – ein Ausweg, der von prominenten theologischen Ansätzen ausprobiert worden war24:
23
R. Larmer, The Legitimacy of Miracle, Lanham 2014, 23. Vgl. z. B. J. Polkinghorne, Exploring Reality. The Intertwining of Science and Religion, New Haven/London 2005, 7–37; K. von Stosch, Gott – Macht – Geschichte, 125 –138.
24
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„The goal has been to find a model of nonviolationist special divine action that allows for a significant degree of freedom on God’s part but is not dependent on the sometimes fickle interpretations of modern physics. Taking it from the top, then, it starts with decretalism, a type of nomological realism. The regularities observed in nature are best explained by laws, but those laws have no independent existence. They are not powers ‚out there‘ in nature; rather, they are ultimately the decrees of God. Moreover, these decrees are matters of constraint. The laws – not law-statements – of electromagnetism for particles and fields, for example, dictate that the relevant forces apply only to specific types of entities with fixed degrees of strength, range, etc. The laws don’t ‚make things go‘, as it were.“25 Koperski offenbart auch eine zunehmende Ungeduld mit philosophischen und theologischen Ansätzen, die davon ausgehen, dass Gott nicht direkt und unmittelbar in der Welt handeln könne oder dass eine göttliche Intervention die Integrität der Natur bzw. der Naturgesetze verletzte; es hänge schlussendlich von einem angemessenen Verständnis von Naturgesetzen ab und von einem korrekten Verständnis von Kausalität, welche uns am Ende davon überzeugen würden, dass sich die Theologie nicht auf wissenschaftstheoretische oder metaphysische Prinzipien berufen könne, wenn sie die Vorstellung eines direkten Handelns Gottes in der Welt für einen Mythos hält. Von außen betrachtet liefert Koperski eine kritische Meta-Hermeneutik der theologischen Hermeneutik des Handelns Gottes: Es sei ein Zugeständnis an einen überholten oder falsch verstandenen Physikalismus, wenn theologischerseits ein direktes Eingreifen Gottes in den Lauf der Welt als vormoderne, vorgestrige Vorstellung abgetan werde. Somit erhöht und verschärft Koperski den Begründungsdruck auf die Theologie26 für den Fall, dass theologische 25
J. Koperski, Divine Action, 134. Vgl. J. Koperski, Divine Action, 151: „If one’s intuitions are that God simply doesn’t do all that much vis-à-vis creation other than sustain its existence, I do not have much to say. The one thing that I would insist on is that any criticism grounded in the laws of nature be based on physics and chemistry – those sciences where laws play a central role. We should be wary of either breezy generalizations or things that look suspiciously like metaphysical naturalism repackaged as SCIENCE. I have argued that physics allows for far more contingency in nature 26
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Ansätze an einem Konzept des vermittelten Handelns Gottes,27 an einer Form der Zweitursachenlehre oder an einem panentheistisch grundierten Semi-Non-Interventionismus28 festhalten wollten. Umgekehrt darf und muss die Theologie aber auch fragen, was mit Koperskis dekretalistischer Option gewonnen ist: Die Vorstellung eines alle Naturgesetze in der Hand haltenden, weil dekretierenden Gottes konfrontiert uns mit der reellen Gefahr eines ungezähmten theistischen Voluntarismus. Gleichzeitig verrät uns auch Koperski nicht, wie aus einem Wollen Gottes ein Ereignis wird. Wo allgemeine Theorien des Handelns sich in phänomenologischer Kleinarbeit abmühen, den Funken des Wollens im Versuchen und Sich-Bemühen verleiblichter Wesen zu entdecken,29 die in ihrem Können limitiert und in ihrem Vollbringen unvollkommen sind, deren Wollen noch dazu eben an jene Grenzen stößt, die mit den Naturgesetzen gegeben sind, präsentiert uns Koperski einen inhaltlich überraschend leeren Begriff des Handelns Gottes, dessen bloße Möglichkeitschiffre jene Kritik auf sich zieht, die man am Konzept einer allervollkommensten erstursächlichen, machtvollen göttlichen Instanz üben kann. Die analytische Unduldsamkeit eines Jeffrey Koperski eröffnet lediglich einen Gedankenraum, einen Spielraum der Möglichkeiten, wie Gottes Einwirken in den Lauf der Welt im Prinzip gedacht werden könnte. Aber diese Möglichkeitserwägungen antworten an keiner Stelle auf eine auch von der Theologie zu verarbeitende Welterfahrung, in der wir unsere Verwobenheit in eine von Zufällen vorangetriebene evolutionäre Naturgeschichte, in die Akthan that which conventional wisdom dictates. That may both surprise and disappoint noninterventionists and some nonviolationists. Perhaps there are theological reasons for denying that God has so much freedom to act. If so, others are welcome to take up that debate. The issues addressed here are matters of physics and philosophy of science. If the arguments are sound, they will constitute a significant advance for the divine action literature.“ 27 Vgl. etwa T. Schärtl, Der Creatio-Modus des Handelns Gottes, in: B. Göcke/R. Schneider (Hrsg.), Gottes Handeln in der Welt. Probleme und Möglichkeiten aus Sicht der Theologie und analytischen Religionsphilosophie, Regensburg 2017, 383 – 436, bes. 402– 432. 28 Vgl. hierzu M. Remenyi, Vom Wirken Gottes in der Welt. Zugleich ein Versuch über das Verhältnis von Naturwissenschaft und Theologie, in: B. Göcke/R. Schneider (Hrsg.), Gottes Handeln in der Welt (s. Anm. 27), 277–300, bes. 290 –297. 29 Vgl. exemplarisch C. Ginet, On Action, Cambridge 1990, 23 – 44.
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kumulation einer mit der Natur selbst mitgegebenen Leidensdimension, in ein Ausbleiben göttlicher Interventionen im Angesicht der Atrozitäten menschlicher Geschichte versammeln müssen. Koperski scheint den Begriff der göttlichen Allmacht in all seinen Konsequenzen und Implikationen zu durchdenken; aber der theologische Gewinn dieser Denkaufgabe ist geringer, als er meint, weil er nur Denkmöglichkeiten anzeigt, wo Theologie gehalten ist, sich auf die phänomenalen Gehalte unserer Welterfahrung zu beziehen, ihre Begriffe an dem, was hier zu Anschauung gerinnt, zu bewähren. Im deutschen Sprachraum ist Uwe Meixner durch eine ähnliche Unduldsamkeit aufgefallen; noch lautstarker als Koperski wirft er der Theologie vor, dass ein theologischer Non-Interventionismus letztlich eine ebenso unnötige wie gefährliche Tributzahlung an eine naturalistische Metaphysik darstelle.30 Wie Koperski versteht er Naturgesetze eher ‚dekretalistisch‘, sodass Gottes Allmacht immer Änderungen bewirken kann, wohingegen Gott jenseits oder durchaus im Rahmen der Naturgesetze handeln könne, solange diese Raum für Zufall böten.31 Wie für Abraham ist auch für Meixner Gott in gewisser Weise ein ‚Mitspieler‘,32 der den Gesamtverlauf der Wirklichkeit durch seine Aktionen beeinflusst und nicht nur durch das Aufsetzen der Spielregeln bestimmt oder lenkt. Allerdings wird diese Handlungsfähigkeit Gottes bei Uwe Meixner durch eine durchaus gewiefte dualistische Metaphysik grundiert: „Die Spieler eines Brettspiels sind dem Spiel transzendent, sie sind nicht im Spiel, sondern gehören einer das Spiel umfassenden Wirklichkeit an, von der aus sie auf das Spielgeschehen schauen und ‚auf es hinabagieren‘, es vorantreibend. Entsprechend sind auch die Spieler des Weltspiels, Gott und die Kreaturen, ‚nicht im Spiel‘: Sie sind außerweltlich, nicht innerweltlich, sie sind also, da die Welt hier als die raumzeitliche aufgefasst wird, nichtphysisch. Das hindert jedoch nicht, dass sie – und nach christlichem Glauben gilt das gewissermaßen auch für Gott, nämlich vermittels der zweiten göttlichen Person – raumzeitlich, mit anderem 30
Vgl. U. Meixner, Gottes und der Menschen Tun und Lassen, in: B. Göcke/T. Schärtl (Hrsg.), Freiheit ohne Wirklichkeit? Anfragen an eine Denkform, Münster 2020, 72–112, 72–76. 31 Vgl. ebd., 88 –101. 32 Vgl. ebd., 97.
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Wort: physisch, in der Welt an bestimmtem Raumzeitort repräsentiert sind und zudem bewusstseinsmäßig an eben diesem Ort intentional und emotional in die Welt sozusagen ‚hineinragen‘. Dieses strikt lokale, auf einen Raumzeitort beschränkte ‚Hineinragen‘ bedingt, dass die Perspektive der kreatürlichen Spieler des Weltspiels auf eben dieses Spiel eine sehr begrenzte ist (dennoch haben sie zu spielen); zudem bedingt es, dass die kreatürlichen Spieler des Weltspiels von ihm intentional und emotional ‚gefangen genommen‘ werden, weit stärker als irgendein Brettspiel seine Spieler jemals ‚gefangen nehmen‘ könnte.“33 Meixners Strategie lebt ganz wesentlich von dualistischen Denkvoraussetzungen und einem metaphysischen Dogma: Nur Substanzen können agenskausal effektiv sein und wirklich Ereignisse initiieren; nur geistige Substanzen können echte Substanzen im Vollsinn sein.34 Statt wie Koperski nur Denkmöglichkeiten zu umsäumen, hebt Meixner mit diesen thetischen Forderungen, die den ganzen Ansturm einer neurobiologisch sensiblen Philosophie des Geistes und ihrer Argumente zu bewältigen haben, alle Akteure auf jene Ebene, auf der Gott sich zu befinden und auf welcher aus dem puren geistigen Wollen auch das Vollbringen zu folgen scheint. Gott und die geistigen Substanzen steigen wie olympische Gottheiten in die physischen Konkretisierungen des Welt-Brettspiels herab, um ihre Züge zu vollziehen und so den Lauf der Welt zu gestalten. Im günstigsten Falle könnte man diesen Entwurf als ‚origenistisch‘ etikettieren, weil Meixners ontologisches Inventar neben Gott auch ‚oberhalb‘ des Welt-Brettspiels existierende (präexistierende) geistige Substanzen postulieren muss. Im ungünstigsten Fall ist Meixners Vorschlag aber gnostisierend, sobald dieses Modell die Verleiblichung unseres menschlichen Handelns ignorieren muss, um dadurch Plausibilität für ein reines Konzept des Wollens und Vollbringens bzw. Wollens und Bewirkens zu gewinnen, und wenn die Theodizeefrage durch eine Revision der göttlichen Güte zugunsten einer göttlichen Entwicklungspsychologie35 beantwortet wird: 33
Ebd., 103. Vgl. dazu ausführlicher U. Meixner, Eine Theorie des Handelns Gottes, in: B. Göcke (Hrsg.), Die Wissenschaftlichkeit der Theologie, Bd. 1: Historische und systematische Perspektiven (STEP 13/1), Münster 2018, 165 –188, bes. 174 –183. 35 Vgl. U. Meixner, Gottes und der Menschen Tun und Lassen, 107. 34
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„Gott ist eben – unbeschadet seiner Allvollkommenheit – nicht nur und nicht immer und nicht in jeder Hinsicht liebevoll. Und doch ist Er wahrlich ein liebender Gott. Der Versuch angesichts der grausamen, tödlichen, zerfallenden Züge im Antlitz der Realität, Gott diesen Negativitäten entsprechend realistisch zu denken, führt gewöhnlich dazu, Gott reduziert zu denken, was in der Regel heißt: Ihn als vollkommen gut zu denken, aber auch, im Effekt, als vollkommen ohnmächtig, ob aus eigener Wahl (Seiner Wahl) oder nicht – jedenfalls, sodass aus ‚Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen‘ ein folgenloses Wortgeklingel wird.36 „Die Welt, die Gesamtheit aller wirklichen Ereignisse, ist nicht identisch mit der physischen Realität, der Gesamtheit aller wirklichen physischen Ereignisse. Letztere Gesamtheit ist nur ein dereinst zum Abschluss kommender Teil der ersteren. Für die Welt – nicht für die physische Realität, die wir kennen (denn es ist dem Wesen dieser Realität nach gar nicht möglich) – will und bewirkt Gott das Heil, die ewige Seligkeit. Aber es soll und kann kein leeres Heil sein, sondern muss und soll ein substanzielles, ein bedeutungsvolles Heil sein: ein erkämpftes Heil, welches aus der Überwindung des Unheils kommt; ein Heil, dessen keine Substanz, die seiner teilhaftig wird, je überdrüssig wird – in immerwährender Erinnerung daran, was es gekostet hat.“37 Meixner treibt seinen (leib-seelischen) dualistischen Ansatz so weit, dass sowohl in die Anthropologie als auch in die Gotteslehre eine durchaus drastische, ja sogar kontraintuitive Entkörperungsforderung eingespeist werden muss; die physische Realität bleibt das am Ende verlassene, zurückgelassene Spielbrett geistiger Substanzen. Aber man muss sowohl philosophisch als auch theologisch nach dem Preis dieses fraglos spekulativen analytischen Entwurfs fragen: Wird eine vehemente und im Namen biblischer Theologie vorgetragene Kritik an einer angeblich naturalismusaffinen Entmythologisierung des göttlichen Handelns in der Welt nicht lediglich mit einer anderen, gnostisierenden Mythologie ersetzt, die von geistigen Substanzen erzählt, die im (kompetitiven) Weltspiel ihre Lektion erler36 37
U. Meixner, Theorie des Handelns Gottes, 186. Ebd., 187.
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nen und aus der Erfahrung innerweltlichen Leids ihren Durst für eine ewige geistige Seligkeit kultivieren sollen? Kippt die analytische Unduldsamkeit im Umgang mit theologischen Vorbehalten und ihren Voraussetzungen nicht in eine Entfesselung des Allmachtsbegriffes, dessen Abgleich mit der Welterfahrung nur dann gelingt, wenn philosophisch eine neue Mythologie formuliert wird, die einen revisionären Begriff vom Menschen als einer ins Materielle hineingesenkten (aber nicht wirklich verkörperten) geistigen Substanz mit einem revisionären Gottesbegriff verbindet, der nur oberflächlich mit dem biblischen Zeugnis übereinkommen kann? Die – bei Koperski und Meixner exemplarisch zu beobachtende – einseitige Sorge um die Kontur der göttlichen Allmacht im Verbund mit ihrer Kritik am Naturalismus oder an bestimmten Vorstellungen von der Eigenart der Naturgesetze bringt zudem Paradoxien hervor, deren Konsequenzen am Problem des ungezähmten theistischen Voluntarismus und am Problem des gnostisierenden göttlichen Geisterreiches schon hervorgetreten sind. Die Spannung, in der Gottes Allmacht in diesen Entwürfen zur göttlichen Allgüte steht, ist unübersehbar. Dazu gesellen sich aber zwei weitere Indizien, die die angedeuteten Paradoxien verschärfen müssen: Kann Gott wirklich ein Mitspieler im Weltverlauf sein, wenn Gottes Absolutheit so gedacht wird, wie es der Absolutheit des Absoluten auch entspricht?38 Wird die damit gegebene konstitutive Asymmetrie zwischen Gott und Endlichem nicht nur dadurch theologisch eingeholt, dass Gott als alles Endliche Umgreifender gedacht wird? Diese Asymmetrie kommt nur dann zu Gesicht, wenn – wie beispielsweise Hans-Joachim Höhn herausgearbeitet hat – der radikale Unterschied zwischen Aus-sich-Sein und Nichts als Folie herangezogen wird.39 Ein radikaler Begriff der Absolutheit Gottes muss auch 38
Vgl. T. Schärtl, Creatio-Modus, 402f. Vgl. H.-J. Höhn, Gott – Offenbarung – Heilswege. Fundamentaltheologie, Würzburg 2011, 123 –128; ders., Der fremde Gott. Glaube in postsäkularer Kultur, Würzburg 2008, 155 –197, bes. 189f.: „‚Gott‘ ist demnach ein Synsemantikon, d. h. man versteht nur so seine Bedeutung, dass man zugleich etwas anderes versteht. Dieses Andere ist die Welt, die angesichts des Widerstreits fraglosen und fragwürdigen Existierens ihrerseits nur verstehbar ist, wenn etwas anderes ‚mitverstanden‘ wird. Gott ist darum nicht ohne die Welt und das Nichts zu denken, weil von Gott nur im Zusammenhang mit dem restlosen Bezogensein der Welt auf das Nichts gesprochen werden kann. Die Welt ist ihrerseits ein Synsemanti-
39
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den Gott-Welt-Unterschied noch einmal transzendieren40 und kann somit nicht stehen bleiben bei jener Mitspieler- und Akteurs-Konstellation, die Koperski oder Meixner vorschwebt. Aber auch die Vorstellung von Gott als einem personalen Akteur – so umfassend betont und unterstrichen bei William Abraham und so deutlich vorausgesetzt bei Koperski und Meixner – bedarf einer hermeneutischen Durchklärung: William Desmond, der sowohl Hegel als auch der Phänomenologie und dem Existenzialismus nahesteht, betont in dieser Hinsicht auf der Basis seiner Rekonstruktion von Gottesbegriffen und ihren inneren Paradoxien, dass die Vorstellung von Gott als Person ihren legitimen Verankerungspunkt darin hat, dass wir uns als von Gott geliebte Personen verstehen dürfen, die eine Ähnlichkeit mit Gott besitzen.41 Die Ähnlichkeitsrelation schiebt sich aber als Brandmauer zwischen alle Versuche, den Übereinstimmungspunkt zwischen Gottes Personalität und unserem Personsein univok benennen zu wollen; die Feststellung einer konstitutiven Asymmetrie zwischen Gott und uns bleibt unverrückbar bestehen, wenn wir bedenken, dass wir immer nur die Rolle des Abbilds einnehmen können, sodass auch die von unserem Handeln her entwickelten Begriffe von Freiheit, ‚Sourcehood‘ oder Akteurshaftigkeit ein Element der Unähnlichkeit behalten müssen und auf Gott nur cum granu salis übertragen werden können.42 Selbst wenn wir in einer immer feineren begrifflich-theologischen Arbeit den Übereinstimmungspunkt genauer umkreisen könnten, wäre doch zu fragen, ob das Personsein primär mit der Akteursartigkeit identifiziert werden sollte oder ob es nicht andere, wichtigere Kriterien gibt, die ge-
kon. Sie kann zwar ‚ohne Gott‘ verstanden und beschrieben werden, aber hinsichtlich ihres Daseins nicht ohne ihr Noch-nicht-Sein und Nicht-mehr-Sein, auf das sie bezogen und von dem sie zugleich verschieden ist. Erst über dieses Verwiesensein auf das Nichts kann auch von ihrem ‚Gottesbezug‘ gesprochen werden. Gott selbst fällt dabei nicht ‚unter‘ einen Begriff, weil das, was den Unterschied von Sein und Nichtsein konstituiert und den Widerstreit von Sein und Nichts zugunsten des Seins entscheidet, nicht unter Denkkategorien zu bringen ist, die für die Beschreibung von Sein und Nichtsein gelten.“ 40 Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente. Untersuchungen zum Substanzbegriff. Mit einem Nachwort von G. Hindrichs, Frankfurt a. M. 32019, 16 –23. 41 Vgl. W. Desmond, God and the Between, Malden/Oxford 2008, 193f. 42 Vgl. ebd., 194.
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rade auch in der für uns existenziell bedeutsamen Selbstbeschreibung als Personen eine Rolle spielen. Was also macht Personen zu Personen? William Desmond deutet eine Antwort an, indem er auf die Eigenart der sprachlichen, sich in Zeichen kundtuenden Selbstexpression anspielt. Nicht der substanzhafte Selbstbesitz, sondern die de-zentrierende Selbstexpression macht Personen zu Personen: „If God is an original that images itself in the world, the image of the speaking origin is not inappropriate. The connection of God and the primal word is to be found in many traditions as an image of the original coming to be. Hence also the divine original as logos bespeaking being to the creation. This logos is communicative being. Surely it is also connected to the personal, in that our own experience of the speaking being is preeminently the human being. All beings articulate themselves, but we do so mindfully and with a release from self that is self-transcending. Our speaking sends words out to the other, words that are intimately our own and yet other to us, expressing who we are and yet shaping a world of communication beyond ourselves. Speaking is communicative selving in transcendence of self, selving constituted in being communicatively together with others beyond itself. Receiving the word, hearing from the other, is the passio essendi. To be personal is to listen patiently.“43 Desmond sieht aber auch die reelle Gefahr eines allzu personalen Gotteskonzeptes; unter der Larve der Personhaftigkeit und personalen Akteurshaftigkeit Gottes könnte der Anthropomorphismus stecken: „The Christian view is perhaps the consummate personalism of the divine, but what of efforts to unmask that personalism? If person is bound up with mask, and there is nowhere in being where manifestation is not offered, what could it mean to unmask the divine? The masters of suspicion execute this unmasking and find the human being and nothing other. The double metaxological character of manifestation is skewed towards a humanizing univocalization of what is in truth plurivocal. What can unmasking taken to the end mean? Beyond every mask another mask, and another, on and on. Does unmasking then point towards 43
Ebd., 195.
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the transpersonal not less than the personal? Or does it expose less than the personal: beyond masks the non-personal, perhaps the sub-personal, finally perhaps nothing. There is only the movement from manifestation to manifestation, from mask to mask, and there seems nothing more.“44 Die Lösung, die keine glatte begriffliche Klärung beinhaltet, wird darin bestehen, eine Paradoxie auszuhalten, die Gott personal und trans-personal zugleich denkt. Gerade der zweite, schwerer zu verortende Aspekt kann aber dadurch verständlich gemacht werden, dass wir unser eigenes Personsein als Übergang (transition) denken: „The person is as an acoustic passage. The person is as a porosity of transition, in which an energy of being more original than itself passes in communication, and it is spoken or sung into being. A strange song: it is as long as it is sung, but as long as it is as sung it too can sing – its own song, and in its own voice. We hear this perhaps more clearly with the extremities of this middle of passage, this intermedium of passing; with the idiotic and its reserves, that is, and the agapeic and its overdetermined excess. But it is also sounds and resounds within the aesthetic and the erotic.“45 Die Reflexion auf unser eigenes Personsein steht immer in der Gefahr, sich die Personalität Gottes gleich zu gestalten und damit das Gottesverständnis aus der Entmythologisierung am Ende doch wieder in eine neue Mythologie – den Mythos des unsichtbaren, Fäden ziehenden Coaches bei Abraham, den Mythos des Gesetze dekretierenden Potentaten bei Koperski, den Mythos des mit Geistern spielenden Initial-Geistes bei Meixner – zu führen, die den theologischen Kern göttlichen Personseins (seine agapeische Zugewandtheit, seine zeichenhafte Präsenz) mit einer Erlaubnis zum Anthropomorphismus verwechselt. Der Modus des Übergangsartigen dagegen schützt vor der Gefahr, wenn im Zentrum der Reflexion auf das Personsein nicht der Begriff des Handelns steht, sondern das Moment des Hörens, des Rezeptiven und des Responsorischen. Gott ist also nur insofern Person, als sich menschliche, bewusstseinsbegabte Wesen, die sich als rezeptiv begreifen müssen, auf ihn ausrichten und 44 45
Ebd., 196. Ebd., 197.
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von ihm her als Adressierte verstehen. Gott ist aber auch Über-Person, insofern er den Anfangs- und Endpunkt markiert für das, was Personen als Übergang sind. Was das für den Umgang mit der personalen Gottesvorstellung bedeutet, bringt William Desmond noch einmal in einer bemerkenswerten Deutlichkeit auf den Punkt; er zeigt, wie und warum der Begriff eines personalen Gottes und damit der eines personalen Akteurs porös werden muss, sodass als Anknüpfungspunkt im personalen Verständnis Gottes nur das zu bleiben scheint, was als Übergang und Passage46 auch unser Selbstverständnis auszeichnet – die übergangshafte Dezentrierung, das Eröffnen des Sich-Ausdrückens auf einen Anderen, ein Anderes hin: „If God is personal and transpersonal, we might think of the word in the between: trans-personal as wording the divine between; wording as itself the divine between. I do not mean just our wording. God would be trans-wording, while we word the between in virtue of the original gift of the divine wording of the (finite) between. Our wording of the (finite) between, our
46
Dieser Charakter der Passage wird noch erheblich deutlicher als bei Desmond von Anthony O’Hear herausgearbeitet, der sich bemüht, jeden Anthropomorphismus radikal zu vermeiden; vgl. A. O’Hear, Transcendence, Creation, and Incarnation. From Philosophy to Religion, Oxford/New York 2020, 126: „At the same time God would not be seen as the author of the world’s design, on a par with the deistic great architect of the universe, which would be to reintroduce an anthropomorphic cause, too much like a human planner or designer. God’s grounding might be seen as more fundamental than the detail of what emerges in creation, even if in creation there are tendencies towards those aspects of existence which give us intimations of divinity. In Him we live and move and have our being, but His relation to us is not that of a planner continually sketching and modifying His plan. This would be to suggest a picture of God as being at the same time less intimately sustaining our existence and somewhat detached from the thing He is surveying, but also one who does not really allow the world any sort of genuine independence or power of development. We should rather see God as an active power, grounding the existence of the world and the beings in it. While not a person in any normal sense, we could see this power as pulsing with love-like attributes, and here the image of the Trinity may well be helpful: God as an enveloping, loving process, continually moving between the poles of Father (creative urge), Son (the pole of what this urge brings about) and Spirit (the uniting force between Father and Son) […].“
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logos of the immanent metaxu, would participate (inter)mediately in the more original wording of the divine between. Perhaps I can rephrase in somewhat more familiar terms. A first point: if there is a personhood to God, it must be peculiar. In the monotheistic religions, God is not physical, even if there are incarnations that tell us of the divine. Our notion of ‚person‘ is hard to separate from embodied selving. But there is also a hiddenness to this. If so, this must mean that the divine is also concealed. […] A second point: this concerns anthropomorphism as double-edged. If God is like the human, God is also unlike. The hiddenness of what is not manifested must make us diffident about the anthropomorphic likeness, and hence of certain personalizings of God. If God is unlike, ‚person‘ must also mean something other: either a meta-personal or non-personal otherness beyond all finite manifestation. This makes us very uncomfortable, for this otherness cannot be faced directly. […] A third point: our sense of ‚person‘ is dominantly tied to finite centers of mindful life. How think an infinite center? In the line of Cusanus and earlier thinkers, would not such a center be also circumference – not here, not there, but here, there, everywhere, hence nowhere, but then how determine this as a center? But is not this what a personal God would have to be: an infinite center of mindful life, absolutely integral to itself, but not closed into itself. But if not closed into self, it is as if there is no ‚circle‘ and hence no center either, for again the difference of these seems to vanish, and we seem left with an indeterminacy or pure openness.“47 Mit diesen Hinweisen rückt die zweite Paradoxie ins Blickfeld: Das in seinen konkreten Gehalten begrifflich unterbestimmte Modell personaler Akteurshaftigkeit, das über den Allmachtsbegriff konsolidiert wird, steht zudem in einer Spannung zur göttlichen Ubiquität: Während die Selbst-Zentriertheit des (an Menschen und somit an endlichen Wesen erfahrenen) Personseins immer eine Perspektivität und damit eine gebundene, verortete und konkrete Präsenz bedeutet, aus der heraus Handlungsveranlassung und Handlungsverur-
47
W. Desmond, God and the Between, 197.
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sachung sowohl im Lauf der Zeit als auch in der Form räumlicher Ausbreitung ereignishafte Konsequenzen haben können, ist Gott aufgrund der ihm zugeschriebenen Ubiquität omni-zentrisch, was unter endlichen Hinsichten so viel bedeutet wie: de-zentrisch zu sein. Um als Person unter denselben Bedingungen in der Welt handeln zu können, müsste Gott in der Tat das tun, was Meixner vor Augen hatte: Er müsste sich einen körperlichen Avatar suchen, sich den Spielbedingungen des Handlungs-Brettspiels unterwerfen, sich kon-zentrieren, um als persönlicher Akteur hervorzutreten. Selbst wenn man an dieser Stelle den christlichen Inkarnationsglauben als Lösungsweg schon heranziehen wollte, erinnert der von Meixner angedeutete göttliche modus operandi doch eher an olympische Götter, die mit präexistenten Seelen auf dem Brettspiel der dem Untergang geweihten physischen Welt Umgang pflegen. Doch das mit dem Ubiquitätsattribut gegebene Paradox der dezentrierten Personalität Gottes wird auch durch die Inkarnation nicht überwunden. So wäre hervorzuheben, dass Gott auch in der Inkarnation seine ungewöhnliche, souveräne, einzigartige und asymmetrische Relation zu Raum und Zeit nicht aufgibt, dass er ein Verhältnis zu Raum und Zeit überhaupt hat, aber keine direkten Relationen in Raum und Zeit besitzt, weil er kein endlicher Spieler auf dem Spielfeld endlicher Kausalitäten sein kann.48 Panentheistischen Ansätzen gelingt es womöglich besser, die Spannungen zwischen Personhaftigkeit und Ubiquität zumindest teilweise zu lösen.49 Gerade wenn in diesem Zusammenhang das Modell des Kosmos als des Leibes Gottes bemüht wird, lässt sich Gottes Gegenwart in der Welt in Analogie zur Gegenwart einer Person in ihrem Leib verstehen, lässt sich somit die aktive Rolle Gottes in Analogie zu einer aktualisierenden Formursache (greift man hier beispielsweise ein hylemorphistisches Seele-Leib-Verhältnis auf) denken. Während Koperski sich über die theologische Anhänglichkeit gegenüber dem Panentheismus mockierte,50 liefert das aussichtsrei48
Vgl. zu diesem Problemzusammenhang T. Torrance, Space, Time and Incarnation (RP 1997), Edinburgh 1969, 60 – 80. 49 Vgl. M. Remenyi, Gottes Gegenwart denken. Eine fundamentaltheologische Programmskizze, in: B. Göcke/T. Schärtl (Hrsg.), Freiheit ohne Wirklichkeit? (s. Anm. 30), 327–373, 357–364. 50 Vgl. J. Koperski, Divine Action, 20: „For better or worse, panentheism has far
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che Versprechen panentheistischer Ansätze, die Spannung zwischen Personalität und Ubiquität abzumildern, ein starkes Argument für solche Alternativkonzepte; selbst wenn die Rede von der Welt als Leib Gottes nur als Modell einzustufen wäre, so sind die Gegenangebote (Koperskis Dekretalismus oder Meixners Brettspielvorstellung) nicht weniger modellartig. Im panentheistischen Leib-Gottes-Kontext verändert sich die Perspektive auf die Rolle Gottes in einer Weise, die dem trans-personalen Passageelement gerecht werden könnte: Aus dem personalen göttlichen Mit- oder gar Gegenspieler wird eine göttliche Gegenwart, die selbstverständlich Abstufungen und Intensitätsgrade kennen kann, wenn wir für Gottes Gegenwart leiblichkeitsphänomenologische Analogien heranziehen dürfen. Zweifelsohne besitzt auch die panentheistische Option eine offene Flanke: Die Kräfte, die diese Konzepte in die Richtung eines pantheistischen Monismus ziehen mögen, können überwältigend stark sein. William Desmond anerkennt in diesen Denkfiguren allerdings ein Motiv, das in den agenskausalen Konzeptionen göttlichen Handelns unterbelichtet bleibt – nämlich, dass ihnen eine genuine Liebe zur Welt, die mehr sein soll als ein Mechanismus (oder ein Exekutierfeld von Dekreten oder ein Spielbrett), ein Gespür für die Immanenz Gottes in der Welt eigen ist.51 Bei alledem handelt es sich um Einsichten, die auch im Angesicht einer durchaus legitimen Kritik am Pantheismus und Panentheismus nicht leichtfertig vom Tisch gewischt werden sollten. Zur Eigenart des Absoluten gehört nicht nur seine radikale Transzendenz, sondern auch, dass nur das radikale Nichts ihm entgegensteht, sodass eine aktualisierte Wirklichkeit nur ein bedingtes Anderes zum Absoluten sein kann, das in seiner
more support within mainstream academic theology than elsewhere. If the medievals believed in the God-of-the-philosophers, panentheism is the God-of-the-theologians. While the process thought of Alfred North Whitehead is part of the recent history of philosophy, it had little lasting influence among analytic philosophers or the more recent movement toward analytic theology. For that matter, analytics have a similar lack of interest in Hegel and German Idealism.“ Dass eine Rezeptionswasserstandsmeldung noch kein Argument liefert, dürfte allerdings auch klar sein. Zudem ist Koperskis Einschätzung falsch; es gibt auch ein genuin philosophisches gegenwärtiges Interesse an panentheistischen Modellbildungen. Vgl. exemplarisch G. Brüntrup/B. Göcke/L. Jaskolla (Hrsg.), Panentheism and Panpsychism. Philosophy of Religion Meets Philosophy of Mind, Leiden/Boston 2020. 51 Vgl. W. Desmond, God in Between, 229 –231.
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Bedingtheit noch einmal vom Absoluten abhängt und von ihm umgriffen wird. William Desmond empfiehlt daher, auf dem schmalen Grat des Paradoxons zu balancieren, um sowohl einen Dualismus von Gott und Welt als auch einen Monismus zu vermeiden; er unterstreicht in der einen Richtung Gottes Intimität mit der Welt, aus der heraus die Immanenz Gottes nicht-monistisch begründet werden könne, und in der anderen Richtung Gottes radikale HyperTranszendenz, auf deren Basis auch die Konzeption eines personalen Akteurs porös wird. Beide Hinweise reflektieren theologische Grundprinzipien, die philosophisch rekonstruierbar, aber schlussendlich nur aus einer im Glauben grundierten Hinsicht auf Gott extrahierbar sind: „The metaxological double of absoluteness and relatedness suggests God as both radically intimate to beings and as hyper-transcendent. Intimate as radical immanent origin of being’s coming to be; hyper-transcendent as beyond all finitized becoming. This hyper-transcendence suggests an asymmetrical relation of God and world: world is God dependent; God is not world dependent. Is this asymmetry a dependence which diminishes the world? Not necessarily. In one light, one might say the holistic view diminishes the world more as a part of the divine. Here, given creation is not a part, but as apart, it is its own whole. It is not the absolute; it is a finite whole.“52
3. Drei theologische Thesen: Kenosis, Inkarnation und Transformation Unter welche theologischen Vorzeichen ist eine Theorie des Handelns Gottes zu stellen? Koperski ist ja durchaus im Recht, wenn er von der Theologie fordert, Begründungen für ein Modell des Handelns Gottes zu formulieren, sobald es sich von einem Interventionismus absetzt und Gottes Wirken in Formen vermittelter Präsenz (leib-analog, sakramental, pneumatologisch etc.) zu denken versucht. Sich theologisch auf die Plausibilität des Naturalismus zu berufen, würde zu einer durchaus heiklen Allianz führen, bei der man
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Ebd., 253.
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theologisch recht schnell ins Hintertreffen geraten könnte. Der theologische Ausgangspunkt muss – aus axiomatischen Gründen – inkarnations- und kreuzestheologisch sein. Am Kreuz offenbart Gott, wie er in der Welt da ist, nämlich als der in seiner ohnmächtigen Abwesenheit Anwesende.53 Diesem Grundgedanken lassen sich drei Thesen zugesellen: (1) Gottes Verhältnis zur Welt ist kenotisch. Gott als der Absolute steht in einer fundamentalen Asymmetrie der Welt gegenüber. Im Lichte dieser Asymmetrie erscheint die Welt vor Gott als ein Nichts. Damit die Welt Welt sein, überhaupt eine Form von Eigenwirklichkeit einnehmen kann, muss Gott sich selbst zu einem Nichts machen. Genau diesen Gesichtspunkt stellt beispielsweise Anthony O’Hear heraus: „However, were the created realm not to collapse back into God, it will operate and function according to the nature and laws it has been accorded in God’s creative action. So, from the point of view of itself and of beings within it capable of understanding the phenomena, the created realm will appear to be working according to its own necessity. Its form will be its own, in the first instance and on the surface, and God’s only in the deeper sense, in which it is and was God who brought this order into being, grounding it, and sustains it in being. But this grounding and sustaining is also a matter of God absenting Himself from His creation, to let it be something other than God. In a way the selfabsenting of God is the condition of possibility of the world’s existence. It is because of this God-removed ordering of the world […] that we can justifiably regard the affliction and suffering of the innocent with resignation, as a contemplation and acceptance of the necessity of the world, a world which is the impersonal expression of a Creator, who is active ground rather than actively designing it.“54
53
Vgl. E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 61992, 470 –505. 54 A. O’Hear, Transcendence, 129f.
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Gott übersteigt seine Transzendenz noch einmal, indem er sich zu einem Nichts für die Welt macht. Damit verschwindet Gott nicht, weil das Absolute nicht annihiliert werden kann; aber im Gegenüber zur Welt bleibt Gott sozusagen klein, prekär und ambivalent. Diese Signatur prägt sich folgerichtig auch dem auf, was wir Gottes Handeln oder Wirken in der Welt nennen – unsere Interpretationen sind ein konstitutiver Bestandteil seines Vorkommens, weil sich Gott für die Welt zu einem ‚Nichts‘ gemacht hat: „The notion that what is created exists and develops on its own, in the absence of direct or obvious activity of the creator, allows us to reconcile two potent and apparently contradictory tendencies in thinking about God and creation. The first is that God is absolute in Himself, an eternal process, and the second is that creation itself is an evolutionary process sustained by God. But the God who withdraws is indeed conceived as absolute, as not needing creation, as withdrawing precisely to allow creation its space to be independent.“55 Mit diesem Grundzug einer Dezentrierung Gottes ist das Modell eines direkten Eingreifens und Eingreifenkönnens nur schwer zu vereinbaren; die konstitutive Asymmetrie zwischen Gott und Welt würde das Eigenrecht der Weltwirklichkeit immer gefährden. Wenn und indem Gott sich zum Nichts macht, um dem Endlichen und NichtAbsoluten Sein einzuräumen, verändert das auch sein Wirken auf die Welt bzw. in der Welt: Gottes Gegenwart ist in den Leib der Welt gehüllt, damit sowohl anwesend als auch verborgen. (2) Gottes Wirken in der Welt ist strikt am Modus der Selbst-Identifikation orientiert. Jedes Modell des Handelns Gottes muss inkarnatorisch durchbuchstabiert werden; dabei müssen wir aber der (in analytischen Gefilden immer wieder zu beobachtenden) Gefahr einer apollinaristischen Verfremdung der Inkarnation einen Riegel vorschieben: Gott schlüpft nicht in die materielle Gegebenheit eines endlichen Wesens oder verbindet sich als Hybrid mit einer menschlichen Natur. Gott identifiziert sich vielmehr mit der Welt, wobei diese Form der Identifikation immer die Differenz von Gott und Welt zu
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Ebd., 145.
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bewahren hat. Philosophisch bietet sich dafür der Gedanke einer vermittelten Präsenz an: In den Bezügen und Konstellationen von Welt, die ihr Eigenrecht gegenüber Gott, der sich zum Nichts gemacht hat, bewahrt, ist Gott ‚da‘: „But how can God come into the world? The picture we are being given is that the grounding active Being sustaining the universe outpours his essence into a person (or persons) in the Incarnation. But how can God be in the world, even in the form of a human person, without cancelling out the abdication, the withdrawal which enables the world to be, without crushing and suffocating the world He has created? This world is a kingdom from which God has withdrawn, handing it over to the workings of physical necessity and the autonomy of rational creatures. Having renounced being its king, ‚God can enter it only as a beggar,‘ as Simone Weil insists. In a sense God is in the world, as its cause and the world is a manifestation of God’s power and love, but it is at the same time manifestation of the withdrawal of God. So if God is to enter the world, it can be only as the very opposite of God’s dimension as all-powerful, but instead as the ultimate expression and embodiment of God’s self-emptying, and as a wholly pure being, who is able to absorb evil, without, as we humans characteristically do, passing it on to others.“56 Ein nur über den Begriff der Kausalität oder des Wirkens entfalteter Begriff göttlicher Präsenz bleibt unzureichend, weil dieser die Rolle und die Eigenwirklichkeit der Vermittlungsinstanz nicht immer zureichend zu würdigen vermag. Besser geeignet scheint das Konzept des Zeichens zu sein, das durch seine Mehrpoligkeit (zu denken ist an Zeichenmaterial und Zeichenbedeutung) den Vermittlungsaspekt besser einzuholen imstande ist: Das Material endlicher Wirklichkeit kann zum Zeichen werden; Zeichen wahren eine Distanz und können doch auch reale Präsenz anzeigen, wenn wir uns leibphänomenologische Anleihen gestatten. Gottes Inkarnation wurde in der jüngeren Theologiegeschichte offenbarungstheologisch im Begriff der Selbstidentifikation Gottes dekliniert; darin ist die erwähnte Vermittlungsfigur aufgegriffen.
56
Ebd., 154.
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Denn Selbstidentifikation schafft Identität in Differenz. Gott ist in vermittelter Weise in der Welt da, aber er wird damit nicht zu einer weltlichen Gegebenheit unter anderen Gegebenheiten; die zeichenhaft eingesetzte Welt vermittelt nur deshalb Gottes Anwesenheit, weil sie in der Relation zu Gottes Selbstidentifikation steht – eine Relation, die grundlegend asymmetrisch bleibt. Dass die materielle Welt zum Zeichen für die Präsenz Gottes werden kann, legt uns nicht zwangsläufig auf das Konzept eines personalen Akteurs fest: Gottes Präsenz im Leib des Kosmos, die göttliche Einstiftung von Kontingenzplänen im Moment der Schöpfung, Gottes Inspiration eines sich selbst entfaltenden und schreibenden ‚Textes‘, dessen Bedeutung ohne den göttlichen Logos nicht dechiffriert werden kann – all das wären denkbare theologische Modelle, die stark genug sind, das Element der göttlichen Selbstidentifikation (und Kenosis) in Gottes modus operandi auszuformulieren. (3) Gottes Wirken zeigt sich an der Transformation von Welt: Analytische Theorien des Handelns Gottes erwecken bisweilen den Eindruck, ein metaphysisches Exerzierfeld für pseudo-physische Probleme zu sein, auf dem – um ein sprechendes Beispiel zu wählen – beim Weinwunder zu Kana nicht der symbolische Überschuss der Erzählung, sondern die Möglichkeit überraschend seltsamer Molekülverbindungen von Interesse ist. Diese Betrachtungsrichtung übersieht aber den theologischen Grundgedanken, dass Gottes modus operandi wesentlich in Zeichen und Wort besteht.57 Die Bezüge und 57
Vgl. P. Knauer, Der Glaube kommt vom Hören. Ökumenische Fundamentaltheologie, Frankfurt a. M. 72015, III 2.3: „[S]chließlich gehört zum ‚Wunder‘-Begriff der christlichen Tradition, dass es in einzigartiger Weise ‚von Gott gewirkt [a Deo patratum]‘ ist. Über die ohnehin zu jeder Zeit restlose Abhängigkeit alles Geschaffenen von Gott hinaus lässt sich aber als einzigartig allein die Selbstmitteilung Gottes aussagen, die man als in jenem sinnhaft zugänglichen Ereignis geschehend nur im Glauben selbst erfassen kann. Unter der ‚Selbstmitteilung Gottes‘ ist eine reale Relation Gottes auf ein Geschöpf zu verstehen, welche jedoch ihren konstitutiven Terminus nicht an diesem Geschöpf hat, sondern zuvor eine Beziehung Gottes auf Gott ist. Dieser […] Aspekt des ‚Wunders‘ ist vorgängig zur Glaubenszustimmung nur als behauptet, noch nicht als wirklich erkennbar. Zum ‚Wunder‘ im Sinn der christlichen Botschaft gehört also die als in ihm geschehend auszusagende Selbstmitteilung Gottes. Deshalb wird man einem „Wunder“ positiv nur im Glauben gerecht. Als ‚Wunder‘ in diesem Sinn kommt aber letztlich nur die christliche Verkündigung selbst mit ihren realen Folgen in Betracht. ‚Wun-
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Effekte dieses modus operandi sind damit auch dort anzusiedeln, wo Wort und Zeichen ihre Heimat haben: auf der Ebene subjektiv-intersubjektiver, geistiger Bezüge. Nicht ohne Grund setzte sich die idealistische Tradition von einem Gotteskonzept im Sinne einer Naturkraft, aber auch von einem allzu personalen Gottesbild ab, um hervorzuheben, dass Gottes Wirklichkeit nur da angemessen verstanden ist, wo Gott als Geist, der zu Geist sich verhält, gedacht wird.58 Kriterien des göttlichen Wirkens sind schlussendlich an zugeordneten Transformationsprozessen abzulesen (und bleiben immer auch deutungsoffen, weil die göttliche Kenosis Gottes Präsenz notwendig mit einer Ambivalenz umgibt). William Desmond hat eine Art Stadienlehre entwickelt,59 die an Kierkegaard erinnert, aber auch die Handschrift von Hans Urs von Balthasar zu erkennen gibt; diese Stadien reflektieren die Antwort des Glaubensbewusstseins auf die transformierende Einladung Gottes: Das erotische und ästhetische Bewusstsein schwingt sich überhaupt zu einer Anerkennung und Einsicht in den Zeichencharakter der Wirklichkeit auf, das idiotisch-prophetische und schlussendlich das agapeische Bewusstsein praktiziert die Dezentrierung und Selbsteröffnung der Person, sodass genau darin das Bild der göttlichen Dezentrierung, des göttlichen Raum-Gebens für die Welt sichtbar wird. Ansichtig wird Gott somit in der Dezentrierung des menschlichen Subjekts, das in genau dieser Hinsicht seine radikale Eröffnetheit auf das Absolute hin lebt und sich dadurch transformiert: „The meaning of the most intimate immanence is just transcendence as communicative being. But this transcendence is communicated in excess of our self-transcendence. We do not think of God and then, after thinking, try to make up a community with der‘ ist erstens das real begegnende Wort der Verkündigung einer Wirklichkeit, die nur geglaubt werden kann. ‚Wunder‘ ist sodann der bekennende Glaube, den sich dieses Wort in der Gemeinschaft der Glaubenden erwirkt. ‚Wunder‘ ist schließlich die selbstlose Liebe, zu welcher der Glaube befreit und die sich nur im Glauben wirklich verstehen lässt.“ 58 Vgl. hierzu T. Schärtl, The Divine Self-Mediation in the Universe. Euteleology Meets German Idealism, in: European Journal for Philosophy of Religion 11:1 (2019), 83 –116. 59 Vgl. W. Desmond, God in Between, 116 –158.
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God. The thinking is always and already in that community, though it may not know that, and even though it may not recognize that, or may indeed entirely reject the suggestion of being in that ultimate community. The ontological way is a waking up to the ‚yes‘ to disproportionate transcendence in the intimacy of immanence. Even more, perhaps it is our waking up to the ‚yes‘ of transcendence as other in the immanence of the intimate universal, and revealing there not the immanence of any isolated subjectivity, for there is no such isolation. That is the point: the deepest intimacy of subjectivity reveals selving as essentially communicative being, in community with the sourcing original that communicates its being given to be. There is no ‚subjectivity.‘ I am nothing – nothing if not in communication with the ultimate in community. The porosity of being is opened in an ultimate communication, and the passion of our being is our passion for God.“60
60
Ebd., 153.
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Überlegungen zu einer reziproken Abhängigkeit von Gott und Welt Replik auf den Beitrag von Thomas Schärtl Christine Büchner
1. Gemeinsam weiterdenken Das Genre einer Replik erfordert einerseits Widerspruch. Andererseits ist das Ziel dieses Bandes, Brücken zu bilden zwischen den verschiedenen Denkansätzen. Dieses möchte ich mir gerne zu eigen machen und mich von dem Beitrag von Thomas Schärtl anregen lassen und mit ihm in einen offenen Austausch treten. Dies fällt mir umso leichter, als sein Beitrag meinen Denkbewegungen in vielem entgegenkommt. Ich werde daher vor allem hervorheben, worin meines Erachtens die Stärken des von ihm vorgestellten Ansatzes liegen, und ähnliche Überlegungen aus anderen Kontexten zufügen, bevor ich davon ausgehend auch darüber nachdenken will, wo aus meiner Sicht Probleme liegen könnten und wie man hier – vielleicht gemeinsam – weiterdenken könnte oder sogar müsste.
2. Mehrdeutigkeit biblischer Texte Die Frage nach einem Handeln Gottes ist stets eine Frage des deutenden Bewusstseins, daher ist es schon methodisch nicht möglich, ein solches göttliches Handeln für das Zustandekommen eines konkreten Ereignisses als indispensabel zu erweisen. Darum geht es aber auch theologisch gar nicht. Dies zu bedenken, scheint mir ein unverzichtbarer Ansatz kontinentalen, hermeneutischen Denkens und ein ernsthafter Grund, die Brauchbarkeit der analytischen Modelle einer Agens-Kausalität Gottes, die W. J. Abraham, J. Koperski oder U. Meixner entwerfen, wissenschaftstheoretisch in Frage zu stellen, wie es Schärtl daher meines Erachtens zu recht tut. Auch die biblischen Texte, welche die genannten Analytiker gerne für sich in Anspruch nehmen, erfordern keineswegs die Annahme
Überlegungen zu einer reziproken Abhängigkeit von Gott und Welt
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eines kausal-interventionistischen Handelns Gottes; sie sind – das hat uns die lange und schwierige Geschichte des kritischen Dialogs zwischen biblischer und dogmatischer Hermeneutik gezeigt – vielmehr plural und deutungsoffen.1 Die suggerierte Eindeutigkeit entsteht, wenn man die Texte mit großer Selbstverständlichkeit durch die Brille eines traditionell theistischen Modells auswählt, liest und deutet. Weder auf der Erfahrungsebene eines Geschehens selbst noch auf der Ebene des Lesens und Deutens bereits gedeuteter Erfahrung, wie sie in den biblischen Texten begegnet, besteht eine Eindeutigkeit; die Texte ebenso wie die Erfahrungen, die ihnen zugrunde liegen, sind mehrdeutig. Nicht nur kontinentale Hermeneutiker:innen, sondern in jüngerer Zeit auch und vor allem Vertreter:innen eines konstruktiven und tendenziell panentheistischen Denkens (welche einen Antagonismus der Denkformen interessanterweise hinter sich lassen) lesen sie anders und heben anderes hervor: dass die Erde aus sich selbst Leben hervorbringt, dass Gott agiert, indem er spricht, ruht und seufzt, bis er alles in allem werde.2 Die biblischen Texte bezeugen also nicht nur und nicht einmal vorrangig einen bestimmend eingreifenden Gott, sondern durchgehend auch einen gesprächigen, sein-lassenden, affizierten, (mit-)leidenden Gott.3 Die Menschen der Bibel hoffen zwar (wie Glaubende zu allen Zeiten) auf ein Eingreifen Gottes zu ihren Gunsten, wenn sie sein Dasein nicht erfahren können, wenn es unter Alltag, Leid und Gewalt verborgen ist; d. h. aber gerade nicht, dass Gott tatsächlich auch oder vor allem so (nämlich in speziellen Situationen zugunsten Einzelner eingreifend und dabei zwangsläufig zuungunsten oder gar zum Schaden anderer) handelte. Die weisheitliche Tradition reflektiert dies und betont: dass Gott ständig und alltäglich da und am Werk ist: aber offensichtlich nicht als mächtiger Souverän und deswegen auch nicht klar erkennbar, sondern als Quelle und tragender 1
Vgl. etwa M. Oeming, Biblische Theologie als Dauerreflexion im Raum des Kanons, in: C. Dohmen/T. Söding (Hrsg.), Eine Bibel – zwei Testamente (utb 1893), Paderborn 1995, 83 – 95, 91; P. Ricœur, Explanation and Understanding, in: ders., Interpretation Theory. Discourse and the Surplus of Meaning, Fort Worth 61976, 71– 88, bes. 77. Vgl. aber auch bereits die Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche. 23. April 1993 (VAS 115), Bonn 21996, 222. 2 Vgl. etwa C. Keller, Über das Geheimnis. Gott erkennen im Werden der Welt. Eine Prozesstheologie, Freiburg i. Br. 2013. 3 Vgl. Gen 1,2–2,4a; Röm 8,26; 1 Kor 15,28.
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Hintergrund allen Lebens, in dieses und dessen Agentialität4 eingebunden, die ja auch eine komplex verwobene ist.5
3. Gottes Handeln und unsere Deutungen: eine Verflechtungsgeschichte So mit seinem eigenen Leben eingebunden ins Netzwerk des Lebens bedarf Gott der Geschöpfe, die ihn füreinander in den Vordergrund bringen, durch Fürsorglichkeit, Gerechtigkeit und Friedfertigkeit, durch Sein-Lassen und Leben-Lassen. Wir können Gott hervortreten lassen, aber auch ausgrenzen und den Nicht-Konkurrierenden als Konkurrenten deuten. D. h. inwiefern und inwieweit Gott auf das Weltgeschehen tatsächlich Einfluss nehmen kann, hat mit unseren Deutungen zu tun – in unseren theologischen Modellen und in unserem Leben. Daher ist Schärtls Kritik an Modellen wichtig, die das Handeln und die Macht Gottes meinen explizit univok zu unserem Handeln und unserer Macht beschreiben zu müssen. Was die Lebenspraxis betrifft, kommt es nicht darauf an, ob Menschen in ihren Deutungen explizit von Gottes Existenz und Handeln ausgehen oder nicht. Je mehr wir aber die Blickrichtung ändern, weg von der isolierten Wahrnehmung unserer selbst hin zu den Beziehungen und Verflechtungen, in denen wir uns befinden, desto mehr nimmt Gott als inklusive Liebe, die uns Leben gibt, Gestalt an. Je mehr wir uns in die Interdependenzen, in denen wir uns bewegen und in und aus denen wir wir selbst sind, hinein loslassen, desto mehr erzeugen wir zusammen mit Gottes alternativer, nicht-konkurrierender, Raum gebender Wirklichkeit eine Welt, die in ihrer Pluralität das Gesicht Gottes (als dem Anderen unser Abgrenzung) annimmt. 4
Der Begriff der Agentialität ist hier bewusst gewählt als ein Begriff, der (anders als der Begriff der auf das intentionale Subjekt begrenzten Agenskausalität) im Anschluss unter anderem an Bruno Latour alles, was ist, in seiner Eigendynamik (die niemals ausschließlich eine Eigendynamik, sondern zugleich eine Beziehungsdynamik ist) auf das, was geschieht, einschließt. Vgl. B. Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, aus dem Engl. von G. Roßler, Frankfurt a. M. 2007. 5 Vgl. C. Büchner, Außer Konkurrenz. Zur Rede vom Wirken Gottes als Sich-Geben, in: B. P. Göcke/R. Schneider (Hrsg.), Gottes Handeln in der Welt. Probleme und Möglichkeiten aus Sicht der Theologie und analytischen Religionsphilosophie, Regensburg 2017, 177–203.
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Hier führen meine bisherigen Überlegungen ebenso wie der an William Desmond anschließende Ansatz von Thomas Schärtl nun möglicherweise doch zu einer Aporie. Ihnen liegt ein Konzept von einem Handeln Gottes zugrunde, das sich mit Reinhold Bernhardt als ein Modell der „operativen Präsenz“6 Gottes in der Welt benennen lässt. Diesem Modell folgen all jene Konzepte, welche die Andersheit Gottes betonen. Ihm lassen sich z. B. auch phänomenologische Ansätze, die das Handeln Gottes mithilfe der Kategorie der Gabe zu verstehen suchen, und Deutungen des Wirkens Gottes im Anschluss an mystische Traditionen zuordnen.7 Sie gehen davon aus, dass Gott auf andere Weise als geschöpfliche Akteure in der Welt wirksam sein bzw. sich gerade deswegen ganz an die Welt geben kann, weil er:sie:es sich – anders als endliche Größen – nicht abgrenzen muss gegen diese. Erst die Transzendenz ermöglicht Gott also, dass er nicht in Konkurrenz zu Geschöpfen sein und agieren muss, sondern ihr Lebensgrund sein und sich von ihnen in Anspruch nehmen lassen kann. Betont wird also, so auch bei Schärtl (der sich hier unter anderem auch auf Hans-Joachim Höhn und Wolfgang Cramer bezieht),8 die Asymmetrie des Verhältnisses von Gott und Welt. Die Denkfigur der Asymmetrie zwischen Gott und Welt als Voraussetzung für ihr Zusammenkommen findet sich in ähnlicher Weise in den mystischen Traditionen: Weil das Sich-Unterscheiden und Negieren des Anderen ein Kennzeichen der geschöpflichen Welt ist, denkt etwa Meister Eckhart Gott als negatio negationis, als Negation aller Negation oder Ausschluss von Ausschluss, als Sich-Unterschei-
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R. Bernhardt, Was heißt „Handeln Gottes“? Eine Rekonstruktion der Lehre von der Vorsehung, Gütersloh 1999, unterscheidet drei Modelle des Handelns Gottes in der Welt, das „aktuale“ Modell (Gott handelt personal in konkreten geschichtlichen Ereignissen), das „sapiential-ordinative“ Modell (Gott lenkt und sorgt für die Welt als ganze) und das Modell der „operativen Präsenz“ (Gott ist durch den Geist in der Welt wirksam gegenwärtig), zu letzterem vgl. ebd., 399 – 435. 7 Ich habe diese Ansätze im Anschluss unter anderem an Meister Eckhart und Jean-Luc Marion zusammengeführt in meinen Überlegungen zu einem Wirken Gottes als Sich-Geben. Vgl. C. Büchner, Wie kann Gott in der Welt wirken? Überlegungen zu einer theologischen Hermeneutik des Sich-Gebens, Freiburg i. Br. 2010. 8 Vgl. T. Schärtl, Kenosis, Inkarnation, Transformation. Theologie des Handelns Gottes, 309–310 in diesem Band.
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den vom Sich-Unterscheiden.9 Noch prominenter spricht Nikolaus Cusanus von Gott als dem non aliud.10 Und schließlich arbeitet auch eine Phänomenologie der Gabe mit dieser grundlegenden Asymmetrie, insofern die Logik der reinen Gabe die gewöhnliche Logik der Mein-Dein-Konkurrenz außer Kraft setzt. Die Asymmetrie in diesen Entwürfen begründet eine Abhängigkeit der Welt von Gott, aber schließt eine Abhängigkeit Gottes von der Welt im Gegenzug aus. Denn nur so kann offenbar ausgeschlossen werden, dass Gott in seinem Agieren mit dem Agieren der Welt konkurriert. Indem Gott so ist, dass er mit seinem Wirken das Wirken der Kreatur (prinzipiell und ohne Wenn und Aber, wie immer dieses auch sei) ermöglicht und nicht verdrängt, sondern sich vielmehr selbst verdrängen lässt, erweist Gott sich als der:die: das noch einmal ganz Andere, das den Gegensatz zwischen Selbst und Anderem noch einmal überschreitet. Gottes Selbst zeichnet sich also aus durch jene kenotische Dynamik, die anderem – so lässt sich auch ganz klassisch in Anlehnung an Thomas von Aquin formulieren – allererst Sein, Kraft und Eigenaktivität ermöglicht.11 Die skizzierte Betonung der Asymmetrie zwischen Gott und Schöpfung bzw. der Andersheit Gottes, welche unsere Vorstellungen von Andersheit noch einmal transzendiert, hat zunächst viel für sich. Sie erklärt auch, dass wir nicht klar sagen können, wo und wie Gott handelt, und vor allem nicht, wo nicht. Wir können nur in dem, was sich ereignet und was wir tun, Gott als agierend in allem Agierenden herausstellen: liebend, rettend, heilend, befreiend, leidend, kommunizierend durch Worte, Dinge, Berührungen, seufzend, sehnsüchtig, tragend, verstellt, maskiert, sich gebend, sich zeigend, im Vordergrund, im Hintergrund. Wir können die Welt so deuten, dass Gott an ihr beteiligt ist, mit oder gegen den Anschein. Und wo wir uns diesem Spektrum öffnen, ändert sich etwas. Begrifflich präziser, aber in der Sache ähnlich, spricht Thomas Schärtl von einem 9
Vgl. Meister Eckhart, Prologus in Opus Propositionum, n. 6 (u. ö.), in: ders., Die lateinischen Werke, hrsg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Stuttgart 1936ff, Bd. I/2, 43; sowie ders., Predigt 1, in: ders., Die deutschen Werke, hrsg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Stuttgart 1936ff, Bd. I, 14. 10 Vgl. Nicolaus de Cusa, Directio speculantis seu De non aliud, ed. L. Baur und P. Wilpert (Editio Heidelbergensis XIII), Leipzig 1944. 11 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I 8, 3.
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selbstdezentrierenden, inkarnatorischen und transformativen Charakter des Wirkens/Agierens/Handelns Gottes in der Welt. Damit sind Kriterien benannt, welche – anders als in der Erzählung W. J. Abrahams, die Schärtl in seinem Beitrag referiert und entsprechend kritisiert12 – weniger projektiven Charakter haben. Sie bestätigen nicht einfach das, was ich mir unter Handeln Gottes vorstelle oder wie ich es gerne hätte. Wo liegt aber dann ein Problem dieser Deutung? Wenn nicht Allmacht Kennzeichen göttlichen Wirkens ist, sondern die von Desmond und Schärtl genannten Charakteristika, nämlich Verkörperung, Selbstidentifikation im anderen und Transformation Gottes Wirken kennzeichnen, hängt von uns ab, wie Gott in der Welt mit dem, wie er:sie:es ist, zum Zug kommt (mit der beschriebenen, Gott von uns unterscheidenden, offenen Grenze also): von unserem möglichst weitgehenden Verzicht auf Selbstabgrenzung und Status quo – sowohl in unseren intellektuellen, Gott auf unseren Horizont einschränkenden und festlegenden Deutungen als auch in unserem praktischen Handeln. Deutlicher: Verlangen nicht gerade die benannten Kriterien, welche die Unterschiedenheit Gottes als seine Ununterschiedenheit/sein Sich-Ganz-Einlassen-Können fassen, doch eine Abhängigkeit Gottes von der Welt zu denken, wenn sie ernsthaft gemeint sind? Bedeuten nicht echte Dezentrierung und erst recht Inkarnation zugleich Selbstbindung und Sich-Abhängig-Machen? So gelangen wir in die folgende Aporie: Einerseits ermöglicht erst die absolute Transzendenz, als eine Transzendenz, die auch das bloße Transzendentsein noch einmal transzendiert, die intime Immanenz Gottes in der Schöpfung, so dass die Schöpfung für Gott nicht einfach ein Gegenüber ist (wie wir einander gegenüber stehen). Andererseits sind das Leben der Schöpfung und Gottes Leben, aus dem Gott die Schöpfung leben lässt, aufgrund dieser Immanenz nicht mehr deutlich voneinander abgrenzbar. Wenn Gott sein eigenes Leben in dieser Weise an uns hängt, steht dann seine Transzendenz also nicht doch wieder infrage? Prozesstheologische Ansätze heben dies schon länger hervor. Noch einmal anders gewendet: Wenn die Transzendenz nicht 12
Vgl. T. Schärtl, Kenosis, Inkarnation, Transformation, 292–301 in diesem Band: Es geht um einen Missionar, der die Begegnung mit einem Fremden, der ihm hilft trotz widriger Umstände zu seinem Ziel, einem Flüchtlingsheim, zu gelangen, als Eingreifen Gottes deutet.
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in Frage stünde, könnten wir dann überhaupt von einem ernsthaften und existentiellen Sich-Hineingeben Gottes in die Schöpfung für uns sprechen? Bliebe dies nicht sonst doch ein generöser Akt, der Gott, mit dem, was er:sie:es eigentlich ist, letztlich außen vor bleiben lässt?13 Vom Wirken Gottes in der Welt zu sprechen, könnte also heißen, noch stärker von diesem Kippen der Transzendenz in Immanenz und von der Immanenz in die Transzendenz zu sprechen, welches Transformation erzeugt. Die erwähnten hermeneutischen, phänomenologischen, mystisch-theologischen, prozesstheologischen (dazu kommen neuerdings noch topologische)14 Zugänge versuchen dies auch bereits ansatzweise. Die Frage ist aber, ob wir nicht auch damit noch bei der Tendenz bleiben, die initiativ-prinzipielle Andersheit Gottes als Sich-Geben zu betonen, und seine Bindung an die Welt als Folge seiner kenotischen Generosität denken, die ihn gar nicht wirklich bindet. Hier scheinen mir jüngere ökofeministische Ansätze (aktuell Catherine Keller, eine Generation zuvor Sallie McFague) möglicherweise hilfreich. Sie betonen stärker das In-Sein Gottes in allem, was ist. Ein in der Schöpfung sich materialisierender Gott ist inklusiv und vulnerabel. Die Agentialität eines Gottes, der in solcher Weise offen, angreifbar und deshalb transformativ wäre, wirkt sich aus im Zusammenspiel mit der Schöpfung und wäre mit unserer Agentialität zuinnerst verflochten. Gerade weil es alle Konkurrenz transzendiert, können wir es als unserem Handeln konkurrent verstehen und dadurch Gott zum:r Konkurrenten:in machen. Catherine Keller schlägt vor, statt von einem absoluten (also einem von der Welt abgelösten) Gott oder einem dissoluten (also sich in die Welt hinein auflösenden) Gott von einem resoluten Gott 13
Dann läge letztlich auch hier noch jene dualistische Tendenz vor, die Schärtl an U. Meixner und J. Koperski zu recht scharf kritisiert – meines Erachtens in Form eines tiefsitzenden neuplatonischen Erbes. 14 Topologischen Zugängen vor allem kommt das Verdienst zu, von theoretischen Vorstellungen erst einmal Abstand zu nehmen, die das Wie des Wirkens Gottes von vornherein auf diese Vorstellungen hin einschränken, um allererst einmal einen Raum offen zu lassen für ein solches Wirken. Vgl. hierzu G. M. Hoff, Der theologische Raum der Gründe. Topologische Fundamentaltheologie, Bd. 1 (Glaubensräume 2), Ostfildern 2021; H.-J. Sander, Topologische Dogmatik, Bd. 1 (Glaubensräume 1), Ostfildern 2019; G. Spallek, Tor zur Welt. Hamburg als Ort der Theologie?, Ostfildern 2020.
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zu sprechen. Ein resoluter Gott ist (im Gegensatz zu einem absoluten oder dissoluten) ein mit der Schöpfung verwobener und zugleich in ihr transformativ wirkender Gott.15 Sallie McFague hat (im Gegensatz vor allem zur traditionellen Metapher von Gott als allmächtig agierendem Vater) die Metapher von der Welt als Köper Gottes etabliert, um auszudrücken, dass Gott Gott nur mit der Welt ist, ohne deswegen in der Welt aufzugehen, aber doch in echter Weise verletzbar und abhängig von dieser ist.16 So könnte Gottes kenotische, verkörperte, transformative Präsenz (Schärtl, Desmond) in der Welt als eine echte Verflechtungsgeschichte17 gedacht werden – eine Geschichte Gottes mit der Welt, die nicht losgelöst von der Geschichte jedes:r Einzelnen in der Welt und deswegen nicht objektiv zu beschreiben oder zu verstehen wäre, sondern sich in vielen verschiedenen Perspektiven ereignet. Es wäre eine Geschichte der wechselseitigen Einflussnahme, in der jede:r mit seinem:ihrem konkreten Dasein in Raum und Zeit und mit seinem:ihrem Tun beeinflusst, was und wie Gott in der Welt ist, ebenso wie er:sie darin umgekehrt auch rezeptiv auf Gott und seinen:ihren Einfluss bezogen wäre. Damit verbunden ist, dass wir letztlich nicht sagen können, wie Gott ‚wirklich‘ oder ‚an sich‘ ist, weil seine:ihre Wahrheit stets eine mit der Welt verflochtene wäre, so dass auch, wie Gott in der Welt handelt, nicht abstrakt zu beschreiben, sondern stets neu durch Teilnahme an unserer gemeinsamen Wirklichkeit, also durch unsere Modelle von Gott und unsere Praxis mit Gott und allem zu entdecken wäre. Auch daher geht mein Plädoyer in dieser Replik dahin, nicht nach einem einzigen Konzept zu suchen, welches das Wirken Gottes in der Welt erklären könnte, sondern mehrere (füreinander offene) Ansätze miteinander zu verknüpfen, die sich gegenseitig mit ihren Perspektiven korrigieren und ergänzen.
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Vgl. C. Keller, Über das Geheimnis (s. Anm. 2), 48 –252 u. ö. Vgl. S. McFague, The Body of God. An Ecological Theology, Minneapolis 1993. 17 Der Begriff der Verflechtungsgeschichte ist hier probehalber aus den Kulturund historischen Wissenschaften auf eine ontologische Ebene übertragen, welche aber gerade so als eine Ebene begriffen wird, die stets nur in ihren historischen Kontexten und kulturellen Deutungen ist. 16
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4. Ein Blick in die Tradition: Mechthild von Magdeburg In der Tradition sind es vor allem Mystikerinnen, in deren Werk die Abhängigkeit Gottes eine zentrale Rolle spielt, insofern sie nicht nur das Verhalten des Menschen zu Gott als ein erotisches beschreiben, sondern auch das Gottes zum Menschen. Dies sei in aller Kürze skizziert am ‚Fließenden Licht der Gottheit‘, das der Begine Mechthild von Magdeburg zugeschrieben wird.18 Ansatzpunkt für das GottWelt-Verhältnis ist hier zunächst ein dialogisch kooperatives Gegenüber von Gott und Mensch. Im Wechselgespräch mit der menschlichen Seele wird Gott gezeichnet als ein Gott, der ein Verlangen nach dem Menschen hat. Gott hält die Menschen für liebenswert und wirbt um uns.19 Gott setzt, so heißt es, die Hoffnung auf uns – 18
Vgl. zum Folgenden Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, aus dem Mittelhochdt. übers. und hrsg. von G. Vollmann-Profe, Berlin 2010; Mechthild von Magdeburg, ‚Lux divinitatis‘ – ‚Das liecht der gotheit‘. Der lateinisch-frühneuhochdeutsche Überlieferungszweig des ‚Fließenden Lichts der Gottheit‘. Synoptische Ausgabe, hrsg. von E. Hellgardt u. a., Berlin 2019. Die folgenden Überlegungen zu Mechthild sind zum Teil und in anderen Zusammenhängen bereits publiziert in C. Büchner, Gott, Mensch und Welt aus der Sicht von Theologinnen in Tradition und Gegenwart. Exemplarische Ansätze zu einer relational-dialogischen Theologie, in: C. Büchner/N. Giele (Hrsg.), Theologie von Frauen. Im Horizont des Genderdiskurses, Ostfildern 2020, 173 –189, 181–183; C. Büchner, Gabe und Reziprozität bei Mechthild von Magdeburg, in: M. Baisch (Hrsg.), Anerkennung und die Möglichkeiten der Gabe. Literaturwissenschaftliche Beiträge (Hamburger Beiträge zur Germanistik 58), Bern 2017, 287–308. 19 Aus dem wechselnden Lobpreis zwischen Gott und Mensch hier einige Beispiele: „Du schmeckst wie eine Weintraube, du duftest wie Balsam, du strahlst wie die Sonne, meine höchste Liebe wächst in dir. […] O du schöne Rose im Dorngebüsch, o du fliegende Biene im Honig, o du Taube, rein in deinem Wesen, o du Sonne, schön in deinem Strahlen, o du Mond, in deinem vollen Stand, ich kann mich nicht von dir wenden. […] Du bist mein Kopfkissen, mein lieblichstes Lager, meine verborgenste Ruhe, mein tiefstes Begehren, meine höchste Ehre!
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darauf, dass wir uns auf Gottes Liebesdynamik einlassen. Und auch der Mensch in seinem Verlangen erhofft etwas von Gott und darf etwas von Gott erhoffen. D. h. es wird vorausgesetzt, dass die aneinander interessierte Kooperation bzw. das liebende Zusammenkommen beiden etwas ‚bringt‘, ohne aber das, was es bringt, vorzugeben oder festzulegen.20 Statt die Differenz zwischen Gott und Mensch festzuhalten und die einseitige Abhängigkeit des Menschen von Gott zu betonen, etabliert Mechthild einen Gott, der sich der Seele nicht mitleidend zuwendet, sondern sich von ihrer Liebe anziehen lässt und sich in ihre Macht gibt. Die Differenz zwischen Gott und Mensch wird durchlässig. An dieser Stelle kommen interessanterweise naturale Metaphern ins Spiel: Gott ist fließendes Licht oder (hier sind personale und naturale Metaphern kombiniert) „spielende Liebesflut“21. Wo die Hierarchien kippen, wo die Transzendenz in Immanenz kippt und umgekehrt, kippen personale Metaphern in naturale. Die Seele, die sich von Gottes Fließen ergreifen lässt, verliert ebenfalls ihre Begrenzung; sie fließt zu Gott und den anderen hinüber. Das Fließen lässt Grenzen verschwimmen. Es macht aus Ich und Du ein Wir, in vertikaler und in horizontaler Richtung. Die Liebesflut hat einen egalitären, wechselseitig einbeziehenden Charakter. Sie überflutet die Welt mit Gott und Gott mit der Welt. Das Spiel ist ein ernstes:22 Mit der Schöpfung lässt Gott zu, dass eine unbekannte Größe ins Spiel kommt, die konstitutiv an dessen Gelingen bzw. Misslingen beteiligt ist. Er geht das Risiko ein, weil er sein Leben teilen will und dabei auf sein Fließen baut, mit dem er die Schöpfung zuinnerst erfüllen kann. Das Versprechen des Sohnes, er sei bereit, Mensch zu werden und am Kreuz zu sterben um des Gelingens der Schöpfung willen, nimmt Mechthild als Ausdruck dieses grenzenlosen Sich-Einlassens Gottes auf die Schöpfung, welches auch sein Leiden an der Schöpfung mit einschließt. Du bist eine Lust für meine Gottheit, ein Trost für meine Menschennatur, ein Bach für meine Glut!“ (Mechthild von Magdeburg, Das Fließende Licht, I, 16 –19; zitiert nach dies., Das fließende Licht der Gottheit [s. Anm. 18], 37). 20 Vgl. Mechthild von Magdeburg, Das Fließende Licht, I, 1. 21 Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht, VII, 41 (mhd.: „spilende minnevlu˚t“). 22 Vgl. zum Folgenden Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht, II, 9.
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Nicht mehr das eigene Verlangen nach Gott bzw. danach, das Leben könnte anders/besser sein, steht im Mittelpunkt, sondern in diesem Verlangen sieht Mechthild zugleich umgekehrt das Verlangen Gottes nach dem Menschen. Wenn Menschen sich auf die Liebesflut Gottes einlassen, indem sie, was ihnen zuströmt, wiederum überfließen lassen und so der Interdependenz des Lebens entsprechen, dann schwingen sie sich ein in die Liebe, aber auch in das Leiden Gottes selbst.23 Es wird ein Prozess der gegenseitigen Abhängigkeit und des Verletzlichwerdens wirksam, der Gott und Welt mehr und intensiver zueinander bringt. Gott lässt sich also zur Wirksamkeit zwingen oder drängen durch Menschen, deren zugleich schützende und trennende Grenzen porös werden und in ihrer Verletzbarkeit die Verletzbarkeit eines Gottes sichtbar machen, der:die:das sich wirklich ganz angehen lässt, empfindlich ist für das Andere. Wo wir so füreinander empfindlich werden, da ist dieser Gott offensichtlich am Werk. Über die Konsequenzen dieser Sicht ist zu diskutieren, sie ist unfertig.
5. Ausblick Weiterzudenken wäre vor allem in Richtung einer Trinitätstheologie, wie sie meines Erachtens auch im Anschluss an William Desmond und Thomas Schärtl nahe liegt: Gott wirkt in der Welt prinzipiell in kenotischer Selbstidentifikation mit dem Anderen als Nicht-Anderem (daher nennen wir Gott Vater oder Mutter, aber auch schöpferischen Urgrund und Lebens- bzw. Liebesquelle); dieses Wirken tritt hervor, wo Geschöpfe von diesem Wirken affiziert werden (im Sohn und in allen verletzbaren Körpern) und sich transformative Gestaltungsprozesse in Gang setzen (durch den Geist, der dieses Zueinanderübergehen und Füreinandereintreten ermöglicht und als Ziel allen Lebens vor Augen stellt).
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Dies geschieht, in Parallelität zum Weg des Sohnes ans Kreuz, zur „gnugunge“ (zur „Befriedigung“) Gottes (Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht, VI, 55). Genugtuung wird hier nicht im juridischen Sinn von Stellvertretung gebraucht, sondern in relationalem Liebessinn: Was Mensch, Welt und Gott zueinander bringt, das geschieht zur Genugtuung/Befriedigung aller Beteiligten, auch wenn damit Machtabgabe verbunden ist.
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Epilog Simon Maria Kopf / Georg Essen Zum Abschluss dieses Sammelbandes möchten wir kurz die Linien der Diskussion zwischen den Autor:innen während der Tagung nachzeichnen, die diesem Sammelband zugrunde liegt, indem wir sieben wesentliche Schlüsselelemente des Dialogs herausgreifen.
1. Welcher Gott? Zunächst wurde im Diskurs immer wieder die grundlegende Frage erhoben, auf welchen Gott wir uns mit den diversen analytischen und kontinentalen Vorsehungskonzepten beziehen? Damit rückt die Frage nach dem christlichen Gottesverständnis oder Gottesbild, das heißt nach dem Gottesbegriff und dessen Bestimmung in der philosophischen und theologischen Gotteslehre, in den Fokus, ebenso die Frage nach den Kriterien, mittels derer wir eine genuin christliche oder katholische Vorsehungslehre von anderen Vorsehungslehren unterscheiden. Dabei hat sich gezeigt, dass sich Label wie „Klassischer Theismus“ oder „Offener Theismus“ zwar einerseits als hilfreich erweisen, bestimmte Positionen für systematische Zwecke zu gruppieren, andererseits verschleiern sie aber zum einen die Vielfalt der subsumierten Positionen und zum anderen die Quellen und Gründe für die philosophischen und theologischen Grundannahmen dieser Positionen. Es wurde mithin die Forderung laut, diese theologischen Quellen – klassisch gesprochen die loci theologici – klar zu benennen und offenzulegen. Woher beziehen wir unser Wissen über Gottes Vorsehung? Etwas zugespitzt formuliert: Handelt es sich bei den einzelnen Beiträgen um rein philosophische Spekulationen oder welche Rolle spielt die heilsgeschichtlich ergangene Offenbarung in Jesus Christus? Die Fragen nach den Quellen und dem Bestimmungsgrund theologischer Aussagen bezogen sich dabei nicht nur auf die Verhältnisbestimmung von Schrift und Tradition, den Stellenwert dogmatischer Entscheidungen in Konzilien und dergleichen, son-
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dern waren in diesem Kontext, so hat sich in der Diskussion gezeigt, auch geprägt von unterschiedlichen theologischen und philosophischen Traditionen. In diesem Zusammenhang wurden neben genuin theologischen und philosophischen Gründen unter anderem auch geschichtliche, gesellschaftspolitische, moralische und weltanschauliche Motive geltend gemacht, die mitunter die Wahl der Quellen beeinflussten. Über die entsprechenden, aus den jeweiligen Gottesbildern folgenden Eigenschaften Gottes wurde ausgiebig gesprochen. Beispielsweise gab es bezüglich der sogenannten „klassisch-theistischen“ göttlichen Eigenschaften wie der Unveränderlichkeit Gottes teils große Skepsis, von einigen wurde eine gewisse Abhängigkeit Gottes von der Welt gefordert, dass nämlich Gott insbesondere durch den Menschen bestimmt wird. Auch bezüglich des Risikos, das Gott durch seine Schöpfung eingeht, welches nach klassisch-theistischer Sichtweise ausgeschlossen ist, herrschte kein Konsens. Weiß Gott, wie seine Heilsgeschichte ausgeht? Und wenn ja, auf welcher Grundlage? Gibt es für Gott eine Garantie, dass sich sein Heilswille für den Menschen erfüllt? Eine von einigen geforderte, enge Einschränkung auf und Definition der Vorsehung über genuin christliche (oder gar konfessionelle) Charakteristika wirft dabei, wie von anderen eingewandt, die Frage auf, ob christliche Vorsehungskonzepte dadurch gewissermaßen unbrauchbar werden für andere Religionen (oder Konfessionen) oder ob es hier dennoch gewisse Schnittmengen gibt.
2. Wie von Gott reden? Eine zweite Fragestellung, die den Diskurs maßgeblich beeinflusste, betraf die Rede von Gott. Kann eine christliche oder zumindest katholische Theologie univok von Gott reden? Hat also beispielsweise der Ausdruck „handeln“ in den beiden Aussagen „Gott handelt“ und „Der Mensch handelt“ ein und dieselbe Bedeutung? Oder ist nicht vielmehr eine analoge Redeweise angezeigt, wonach die Ausdrücke weder bedeutungsgleich noch gänzlich bedeutungsverschieden sind. Die bekannten mittelalterlichen Dispute über die Univozität und Analogizität der Gottesrede, als deren Vertreter hier beispielhaft Johannes Duns Scotus und Thomas von Aquin genannt werden kön-
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nen, die sich in den heuten Debatten widerspiegeln, tauchten auch in unserem Diskurs prominent auf. Insbesondere das Anliegen, eine klare Sprache zu haben, veranlasste einige Autor:innen dazu, theologische Ausdrücke univok zu verstehen und zu verwenden. Dahingegen betonten andere, dass durch eine nicht-analoge Aussage – sei es eine äquivoke oder univoke Verwendungsweise – der eigentliche Gegenstand der Rede, nämlich Gott, nicht angezeigt sei. Wird die zweite Variante favorisiert, ergibt sich allerdings eine weitere Schwierigkeit. Selbst wenn Einhelligkeit bezüglich der Analogizität der Gottesrede bestünde, wäre das nicht minder schwer zu fassende Wesen der Analogie näher zu bestimmen. Dabei lassen sich wiederum verschiedene Verständnisse von Analogie unterscheiden, unter anderem die in der Diskussion aufgekommene Proportionalitätsanalogie und Attributionsanalogie. Was dies für die Vorsehungslehre und das Handeln Gottes konkret bedeutet, müsste eigens und im Detail ausbuchstabiert werden. Die Frage nach dem Wesen der Analogie kam des Weiteren im Kontext der Frage auf, ob die vorgetragenen Analogien eine eigene Erkenntnisquelle darstellen, ob mithin ein Seinszusammenhang (analogia entis) angenommen werden könne oder ob es sich schlichtweg um eine Explikation handle, also um eine Plausibilisierung einer Position, die sich aus anderen Erkenntnisquellen speist.
3. (K)eine gemeinsame Sprache? Dass Begriffe geklärt und präzisiert werden müssen, um Missverständnissen vorzubeugen und Klarheit über das Gemeinte zu erlangen, etwa wenn in der analytischen Debatte von „Personen“, „Dispositionen“ oder „Powers“ gesprochen wird oder in der kontinentalen – zumindest metaphorisch – von der Welt als „Gottes Körper“, um nur einige diskutierte Beispiele zu nennen, schien breite Zustimmung zu finden über die Grenzen von analytischen und kontinentalen Traditionen hinweg. Auffallend war jedoch die Verschiedenheit der Sprache und Terminologie der Autor:innen, die sich nicht immer leicht in die Tradition der jeweils anderen übersetzen ließ. So konnte weder über die zu verwendende Terminologie Einigkeit erzielt werden noch dogmatische Formulierungen der Kirche als Ausgangslage fungieren. Wie
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Letztere auszulegen seien, darüber gab es – gerade im Hinblick auf die im Folgenden angesprochene ordinative und aktualistische Auslegung – keinen Konsens. Es gab daher keine allgemein anerkannte Definition oder Explikation der Vorsehung. In diesem Zusammenhang benötigt es Geduld, das Verstehenwollen der anderen, Nachfragen, positive und wohlwollende Interpretation und viel Übersetzungsarbeit. Als wesentlich dafür wurden zum einen die Sprachklärung, zum anderen die Kontextualisierung genannt, ohne dabei historisches über systematisches Interesse zu stellen.
4. Aktualistisches vs. ordinatives Schema der Vorsehung Ein damit zusammenhängender, weiterer umstrittener Punkt in der Debatte um die Vorsehung und das Handeln Gottes war die Revisionsbedürftigkeit der klassisch-katholischen dogmatischen Formulierungen zur Vorsehung, insbesondere wenn und insofern sie einen Ordnungsgedanken einzuschließen scheinen. Insbesondere im freiheitstheoretischen Paradigma wurde dabei angezweifelt, dass das ordinative Schema und entsprechende dogmatische Formulierungen in dieser Tradition die Theologie weiterbringen. Unter anderem wurde die Forderung erhoben, den Ordnungsgedanken als hellenistische Überfrachtung fallenzulassen. Ob Geschichte und göttliche sowie menschliche Freiheit aber tatsächlich und notwendigerweise unvermittelbar der göttlichen Ordnung gegenüberstehen, darüber gab es kein Einvernehmen.
5. Die Stellung und Bedeutung der Vorsehung und des Handelns Gottes im Gesamt der Theologie Dass Gott wirkmächtig handelt in der (Heils-)Geschichte, dass er sich selbst offenbart in Jesus Christus und dass Jesu Leben, Sterben und Auferstehung wesentlich ist für die Vorsehung, dürfte aus christlicher Perspektive unbestritten sein. Inwieweit aber weitere Rückschlüsse über die in der Bibel berichteten Arten des Handelns Gottes für die Vorsehungslehre bestimmend sein können und sollten, darüber gab es ebenfalls keinen einhelligen Konsens, etwa über
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die Anmerkung, dass das Handeln Gottes ein zentrales biblisches Motiv ist, nicht aber die Vorsehung. Insbesondere die Verhältnisbestimmung von Vorsehung und Handeln Gottes stellte sich als schwierig heraus. Dass die Begriffe „Vorsehung“ und „Handeln Gottes“ intensionsverschieden sind, darf angenommen werden; die Frage lautet daher, ob sie extensionsgleich sind. Wird Handeln Gottes als welt-immanentes Handeln gedeutet, scheint es im Zentrum des aktualistischen Vorsehungsverständnisses zu stehen, nicht aber im selben Maße im ordinativen Modell. Wird Handeln Gottes im umfassenden Sinne verstanden, schließt es auch die göttliche Schöpfung mit ein und ist daher umfassender als der Vorsehungsbegriff. Kann die Vorsehungslehre also losgelöst von anderen theologischen Traktaten behandelt werden? Es scheint, dass eine Herangehensweise zu bevorzugen ist, die kohärent und konsistent die Vorsehung zusammen mit anderen theologischen Themenfeldern behandelt oder eine solche Zusammenschau wenigstens möglich macht.
6. Kann Leid erklärt und in eine Vorsehungslehre integriert werden? Ein weiterer, damit zusammenhängender Punkt betrifft die Theodizeeproblematik. Obwohl grundsätzlich alle Vorsehungskonzepte vor der Frage nach Gott und dem Leid stehen, scheinen einige Ansätze das Problem größer zu machen, während andere scheinbar mehr Spielraum in der Beantwortung der Frage haben. Etwas verkürzt könnte eine Denkfigur wie folgt festgehalten werden: Je mehr und je direkter Gott in der Welt handelt bzw. handeln kann, desto akuter wird das Theodizeeproblem. In diesem Zusammenhang wurde die Rolle der Freiheit insbesondere für eine von einigen favorisierte free will defence beleuchtet. Abschließend könnte zusammengefasst werden: Dass die Rede von Gottes Vorsehung theodizeesensibel sein soll, darf vorausgesetzt werden; wie sie theodizeesensibel wird, ist damit allerdings noch nicht geklärt. Was also heißt es konkret, theodizeesensibel von Gottes Handeln und Vorsehung zu sprechen?
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7. Wie ist das Verhältnis von Gott und Geschöpf zu denken? Ein abschließend zu nennendes Anliegen, das sich weitgehend durch die Diskussion gezogen hat, ist die grundlegende Verhältnisbestimmung von Gott und Geschöpf. Dass Gott und Geschöpf nicht in Konkurrenz zueinander stehend gedacht werden sollten, schien eine weitgehend geteilte Meinung, nicht aber, wie dies erreicht werden könne. Die Fragestellung spitzte sich insbesondere an der bereits genannten menschlichen Freiheit zu. In diesem Zusammenhang wurde insbesondere Rahners Axiom der direkten Proportionalität besprochen, wonach sich kreatürliche Abhängigkeit von Gott und Eigenwirken der Geschöpfe proportional verhalten, das heißt, je mehr das Geschöpf von Gottes Handeln abhängt, desto größer ist sein Eigenwirken. Einige Autor:innen lehnten dieses Axiom ab, andere befürworteten es. Insbesondere Freiheitstheoretiker:innen betonten, dass Freiheit nicht in Konkurrenz zu anderer Freiheit steht und göttliche Freiheit die Freiheit des Menschen will, womit menschliche Freiheit nicht in Konkurrenz zur göttlichen Freiheit stehend gedacht werden darf. Dennoch lehnten einige aus freiheitstheoretischer Sicht Rahners Axiom ab. Eine weitere offene Frage ist also, ob Rahners Axiom der direkten Proportionalität zuzustimmen ist, wonach das Geschöpf mehr handeln kann, je mehr Gott am oder im Geschöpf handelt, und wie genau das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf zu denken ist.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Christoph Johannes Amor, Prof. Dr., geb. 1979, Studium der Fachtheologie und der Christlichen Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Innsbruck, an der WWU Münster sowie der PTH Münster; 2007–2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Systematische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Innsbruck; seit 2013 Professor für Dogmatik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen. Reinhold Bernhardt, Prof. Dr., geb. 1957, Studium der Evangelischen Theologie an den Universitäten Mainz, Zürich und Heidelberg; seit 2001 Professor für Systematische Theologie/Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Universität Basel. Martin Breul, PD Dr. phil. Dr. theol., geb. 1986, Studium der Katholischen Theologie, Philosophie und Anglistik in Köln, Belfast und Münster; 2015 Promotion zum Dr. phil. an der Universität zu Köln; 2018 Promotion zum Dr. theol. an der Katholisch-Theologischen Fakultät Bonn; 2021 Habilitation in Fundamentaltheologie an der Universität Salzburg; 2020 –2021 Vertreter der Professur für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaften an der Katholisch-Theologischen Fakultät Erfurt; seit 2021 Vertreter der Professur für Katholische Theologie mit dem Schwerpunkt Systematische Theologie an der Technischen Universität Dortmund. Christine Büchner, Prof. Dr., geb. 1970, Studium der Katholischen Theologie, Germanistik und Lateinischen Philologie an der GoetheUniversität Frankfurt a. M.; 2008 Habilitation in den Fächern Dogmatik und Ökumenische Theologie und PD’in an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen; 2014 –2020 Professorin für Katholische Theologie an der Universität Hamburg; seit 2020 Inhaberin des Lehrstuhls für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Georg Essen, Prof. Dr., geb. 1961, Studium der Katholischen Theologie und Geschichte in Münster und Freiburg i. Br.; 2001–2011 Professor für Dogmatische Theologie an der Fakultät der Theologie
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
der Radboud-Universität Nijmegen; 2011–2020 Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum; seit 2020 Professor für Systematische Theologie am Zentralinstitut für Katholische Theologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Georg Gasser, Prof. Dr., geb. 1979, Studium der Philosophie und Katholischen Theologie in Innsbruck, London und Notre Dame; 2015 Doktor der Philosophie einer Katholisch-Theologischen Fakultät an der Universität Innsbruck; 2017 Habilitation in Philosophie an der Hochschule für Philosophie in München; 2015 –2020 Assistent am Institut für Christliche Philosophie, Universität Innsbruck sowie Gastdozenturen an den Universitäten Zagreb, Basel, Torun´/Polen und Austral/Argentinien; seit 2020 Professor für Philosophie an der Universität Augsburg. Johannes Grössl, PD Dr. theol., geb. 1985, Studium der Philosophie und Katholischen Theologie in München und Harvard; Promotionsstudium an der Universität Innsbruck; 2014 –2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Fachvertretung für Christliche Ethik an der Universität Siegen; seit 2018 Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Würzburg; 2021–2023 Vertretung der Professur für Systematische Theologie am Institut für Katholische Theologie an der Universität Paderborn. Barbara Hallensleben, Prof. Dr., geb. 1957, Studium der Katholischen Theologie, Philosophie und Geschichte in Münster (Doktorat in Theologie) und Tübingen (Habilitation); seit 1994 ordentliche Professorin für Dogmatik und Theologie der Ökumene an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg Schweiz. Simon Maria Kopf, DPhil (Oxon), geb. 1989, Studium der Katholischen Theologie, Philosophie und Science and Religion an den Universitäten Innsbruck, Edinburgh und Oxford; seit 2022 Associate Professor of Fundamental Theology an der ITI Catholic University. Bruno Niederbacher SJ, Assoz. Prof. Dr., geb. 1967, Studium der Philosophie und Katholischen Theologie in Innsbruck, München, London und Freiburg i. Br; 1989 Eintritt in die Gesellschaft Jesu; 1999 Ordination; seit 2012 assoziierter Professor am Institut für Christli-
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che Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck. Sarah Rosenhauer, Dr. theol., geb. 1984, Studium der Katholischen Theologie, Philosophie und Psychoanalyse an der Goethe Universität Frankfurt, der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen, dem Institut Catholique und dem Centre Sèvres Paris; 2013 –2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Fundamentaltheologie und Dogmatik an der Goethe-Universität Frankfurt; seit 2022 wissenschaftliche Mitarbeiterin auf Eigener Stelle am DFG-Projekt „Pneumatischer Materialismus. Grundlegung einer materialistischen Theorie des Heiligen Geistes“ am Zentralinstitut für Katholische Theologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Thomas Schärtl-Trendel, Prof. Dr., geb. 1969, Studium der Katholischen Theologie und Philosophie in Regensburg und München; 2001 Promotion mit einer sprachphilosophischen Untersuchung der Trinitätstheologie (Theo-Grammatik) bei Peter Hünermann in Tübingen; 2007 Habilitation bei Friedo Ricken SJ und Josef Schmidt SJ an der Hochschule für Philosophie in München mit einem Entwurf zur religiösen Erkenntnistheorie (Glaubens-Überzeugung); nach Stationen als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent in Regensburg, Paderborn und Münster 2006 –2009 Assistant Professor, später Associate Professor of Systematic Theology an der Catholic University of America in Washington D.C.; 2009 –2015 Professor für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Augsburg; 2015 –2020 Professor für Philosophische Grundfragen der Theologie an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg; seit 2020 Professor für Fundamentaltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Oliver Wintzek, Prof. Dr., geb. 1972, Studium der Katholischen Theologie in Freiburg i. Br., Jerusalem und Rom; 2000 Priesterweihe in Rom; 2016 Privatdozent für Fundamentaltheologie in Freiburg i. Br., 2017–2020 Lehrstuhlvertreter für Dogmatik und Theologische Propädeutik in Bonn; seit 2021 Professor für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Katholischen Hochschule in Mainz.