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German Pages 427 [428] Year 2021
Carsten Wuttke
Jesus und der Zorn Gottes Exegetische Grundlegung und didaktische Perspektiven
Verlag W. Kohlhammer
Die vorliegende Arbeit wurde als Dissertation an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster angenommen.
1. Auflage 2021 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-041378-8 E-Book-Format: pdf: ISBN 978-3-17-041379-5 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Vorwort und Danksagung „Jesus und der Zorn Gottes“ – ein beim ersten Lesen vermeintlich bedrohlich, ja vielleicht sogar abschreckend klingender Titel. Für mich hat dieser Untersuchungsgegenstand jedoch auch nach Jahren intensiver exegetischer und didaktischer Ergründung nichts an seiner Faszination verloren. Er führt ins Zentrum des Nachdenkens über Gottes Liebe und Gerechtigkeit. Gerade deswegen ist er für ein tieferes Verständnis der Hoffnungsbotschaft Jesu von der heilvollen Gottesherrschaft so unerlässlich. Die Auseinandersetzung mit „Jesus und dem Zorn Gottes“ vermag zu irritieren, da sie verengte wie auch festgefahrene Jesus- und Gottesbilder aufbricht. Dadurch eröffnet sie aber vor allem im Religionsunterricht die einzigartige Chance, neu in einen Dialog mit der christlichen Gottesvorstellung zu treten und so Jugendliche in der Entwicklung religiöser Kompetenz gewinnbringend zu unterstützen. Im besten Fall bildet die Lektüre des Buches also nicht den Endpunkt, sondern vielmehr den Ausgangspunkt zu einer weiteren persönlichen wie auch unterrichtlichen Beschäftigung mit diesem bereichernden Thema. Die vorliegende Studie wurde im Wintersemester 2020/21 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen und für die Drucklegung nur geringfügig überarbeitet. Die Fertigstellung einer wissenschaftlichen Qualifikationsarbeit verlangt ein hohes Maß an persönlichem Einsatz und Engagement – sie gelingt aber nur durch Menschen, die einen auch in dieser herausfordernden Zeit begleiten und unterstützen. An erster Stelle ist hier Herr Prof. Dr. Reinhold Zwick zu nennen, der bereits im Studium meine Begeisterung für Biblische Theologie entfachte und als ein wirklicher „Doktorvater“ diesen Weg mit mir gegangen ist: Ihm möchte ich von Herzen danken für seine Offenheit gegenüber meinen Ideen, die wertschätzenden Begegnungen und die vielen hilfreichen Fachgespräche. Mein besonderer Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Clauß Peter Sajak, der mit seiner religionspädagogischen Expertise die Entstehung der Dissertation begleitet und das Zweitgutachten verfasst hat. Als sehr bereichernd habe ich in den letzten Jahren den theologischen Austausch und Diskurs erfahren. Allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Oberseminars möchte ich meinen herzlichen Dank für die Diskussionen und gewinnbringenden Anregungen aussprechen! Dieser gilt insbesondere auch Dr. Hendrik Martin Lange – nun haben wir beide diesen weiteren Schritt in unserem theologischen Werdegang erfolgreich absolviert.
6 Da sich theologisches Fragen, Suchen und Ergründen nicht nur auf den universitären Rahmen beschränkt, möchte ich an dieser Stelle besonders Pfarrer Thomas Wolff für unsere immer wieder neue Perspektiven eröffnenden Gespräche danken. Fernab der fachlichen Auseinandersetzung bin ich meiner langjährigen Kollegin Christina Beckmann sehr verbunden. Mit großer Selbstverständlichkeit hat sie ihre Hilfe als Korrekturleserin angeboten. Für die bereitwillige und großzügige finanzielle Unterstützung der Drucklegung gilt mein besonderer Dank dem Erzbistum Köln und dem Bistum Münster. Nicht zu ermessen ist der Rückhalt, den ich durch mein privates Umfeld erfahren habe. Neben meinen beiden Onkeln, Heinz-Ulrich und Thomas, sind hier meine Eltern, Claudia und Ernst, zu nennen: Danke für eure Unterstützung, eure Wertschätzung und euer Vertrauen. Außerordentlicher Dank gilt vor allem Natalie Keller – nicht nur für die enorme Hilfe durch das Korrekturlesen, die Layoutgestaltung der Arbeit und die Erstellung der Druckvorlage, sondern für die umfassende Unterstützung in dieser Lebensphase. Ihr habt einen großen Beitrag dazu geleistet, dass ich das vorliegende Projekt erfolgreich bewältigen konnte! Siegburg, im Juli 2021
Carsten Wuttke
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung ...............................................................................................
15
1.
Hinführung ................................................................................................
15
2.
Untersuchungsanliegen und leitende Ausgangsthesen .................
18
B. Hauptteil I: „Jesus und der Zorn Gottes“ – Exegetische Grundlegung .............................................................
23
1.
2.
Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes und Klärung der exegetischen Vorgehensweise ...................................................... 1.1 Klärung und Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes ................................................... 1.2 „Ein Wort wie Feuer“, doch welche Auslegungsmethode? – Zur exegetischen Vorgehensweise ......................................................................... Ursprünge der Rede vom „Zorn Gottes“ in der jesuanischen Verkündigung ........................................................................................... 2.1 Der „Zorn Gottes“ im Alten Testament – Streiflichter ........ 2.2 „Asketischer Zornesprophet vs. lebensbejahender Heilsprediger?“ – Zum Verhältnis von Johannes dem Täufer und Jesus ......................................................................... 2.2.1 „Der Zorn Gottes“ – die Verkündigung Johannes des Täufers ......................................................................................... 2.2.1.1 Quellenlage.................................................................................. 2.2.1.2 Auftreten und Wirkungsstätte von Johannes dem Täufer ........................................................................................... 2.2.1.3 „Johannes und der Zorn Gottes“ – Zum Kernbestand einer radikalen Botschaft ......................................................... 2.2.1.4 Wer ist der „Kommende“? –Zum weiteren Bestand der Täuferbotschaft .......................................................................... 2.2.2 Leben im Zeichen des „Zornes Gottes“: Jesus als Teil der Täufergemeinschaft ................................................................... 2.2.3 Jesu Abkehr von der bedrückenden „Zornesbotschaft“ des Täufers? ................................................................................ 2.2.4 „Asketischer Zornesprophet vs. lebensbejahender Heilsprediger?“ – Zusammenführung ....................................
23 23
27 29 29
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8
3.
Inhaltsverzeichnis
Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu? ............................................................................................................ 3.1 Impulse der Gleichnistheorie ................................................... 3.2 „Gott – vom mitleidend-gnädigen zum zornigerbarmungslosen Herrscher?“ – Eine Analyse von Mt 18,21–35 ....................................................................................... 3.2.1 Übersetzung ................................................................................ 3.2.2 „Kann so eine Erzählung von Jesus stammen?“ – Zur historischen Rückfrage ............................................................. 3.2.3 Ein „Drama in drei Akten“ – Narrative Analyse.................... 3.2.4 Sozialgeschichtliche Analyse ................................................... 3.2.5 Analyse der metaphorisch-symbolischen Bezüge ................ 3.2.6 Intratextuelle Bezüge ................................................................ 3.2.7 Von der lebensorientierenden und letztgültig verbürgten Kraft der Barmherzigkeit – Gesamtdeutung .... 3.2.8 Impuls der Wirkungsgeschichte .............................................. 3.3 „Nur Gäste aus der zweiten Reihe?“ – Die Erzählung(en) vom großen Mahl (Mt 22,1–14 par. Lk 14,16–24) ...................................................................................... 3.3.1 Wie lautete die ursprüngliche Gleichniserzählung? ............ 3.3.1.1 Die Parabel vom königlichen Hochzeitsmahl bei Matthäus (Mt 22,1–14)............................................................... 3.3.1.1.1 Übersetzung ................................................................................ 3.3.1.1.2 „Aus zwei mach eins?“ – Narrative Analyse .......................... 3.3.1.1.3 Nur eine Erzählung über Auswüchse „imperialer Gastmahlpolitik“? – Sozialgeschichtliche Analyse ............... 3.3.1.1.4 Analyse der metaphorisch-symbolischen Bezüge ................ 3.3.1.1.5 Intratextuelle Bezüge ................................................................ 3.3.1.1.6 Vom Zuspruch und Anspruch der Heilsverwirklichung – Gesamtdeutung ....................................................................... 3.3.1.2 Die Parabel vom großen Gastmahl bei Lukas (Lk 14,16– 24) ................................................................................................. 3.3.1.2.1 Übersetzung ................................................................................ 3.3.1.2.2 Narrative Analyse....................................................................... 3.3.1.2.3 Sozialgeschichtliche Analyse ................................................... 3.3.1.2.4 Analyse der metaphorisch-symbolischen Bezüge ................ 3.3.1.2.5 Intratextuelle Bezüge ................................................................ 3.3.1.2.6 „Im Zorn die Liebe“ oder „vom unaufhebbaren Streben nach versöhnter Gemeinschaft“ – Gesamtdeutung .............
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Inhaltsverzeichnis
9
3.3.1.3 „Nur keine Aufregung?“ – Vom Gastmahl im Thomasevangelium (EvThom 64) ............................................ 146 3.3.2 Die Gleichniserzählung vom Gastmahl als Hoffnungsbild – ein Impuls der Wirkungsgeschichte .......... 149 3.4 Der „Zorn Gottes“ in den Gleichniserzählungen Jesu – Zusammenfassung der Analyseergebnisse ............................ 152
4.
5.
6.
7.
Der „zornige Jesus“ – Widerhall des göttlichen Zorns? ................. 4.1 Begründung und Eingrenzung des Untersuchungsbereichs ............................................................ 4.2 Thematische Kontexte des Zornes Jesu .................................. 4.2.1 Jesus als Antagonist des Widergöttlichen .............................. 4.2.2 Identitätsgeheimhaltung, Sendungsverständnis und die Anforderung der Nachfolge...................................................... 4.2.3 Die „Sache Jesu“: Existenzielle Neuorientierung in Barmherzigkeit ........................................................................... 4.2.4 Die Gefahr der widergöttlichen Verführung und das göttliche Gericht ........................................................................ 4.2.5 „Ausklang in Jerusalem“ – Die Tempelreinigung ................. 4.3 Fazit .............................................................................................. Der Kreuzestod Jesu – „letzter Akt zur Besänftigung des zornigen Gottes?“ .................................................................................... 5.1 Skizzierung der Problemstellung ............................................ 5.2 Der Tod Jesu und der Zorn Gottes – Ansatzpunkte .............. 5.2.1 Jesu Tod – ein „Lösepreis für viele“ (Mk 10,45)? ................... 5.2.2 Die Abendmahlsworte Jesu ....................................................... 5.2.3 Jesus in Getsemani – ein Bittgebet zur Verschonung vom Zorn Gottes? ....................................................................... 5.3 Zusammenführung und Ausblick ............................................ Wirkungsgeschichte – Die Rede vom „Zorn Gottes“ bei Paulus, eine Verzerrung der Heilsbotschaft Jesu? ........................... 6.1 Vorüberlegungen ....................................................................... 6.2 Paulinische Theologie: Gott, Jesus Christus und die Frage nach der göttlichen Gerechtigkeit ............................... 6.3 Kontexte des „Zornes Gottes“ bei Paulus............................... 6.4 Fazit ..............................................................................................
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„Jesus und der Zorn Gottes“ – Zusammenführung ......................... 200
10
Inhaltsverzeichnis
C. „Auf dem theologischen Irrweg?“ Die Rede vom
„Zorn Gottes“ ... ..................................................................................
1. 2.
… Ausdruck eines naiven Anthropomorphismus? ........................... 205
… nicht mehr auf der Höhe des theologischen Diskurses? ............ 210
D. Hauptteil II: „Jesus und der Zorn Gottes“ – didaktische Perspektiven .............................................................. 1.
205
Ein „Thema“ für den Religionsunterricht? – Zur didaktischen Begründung ............................................................................................... 1.1 Ausgangsbedingungen gegenwärtigen Religionsunterrichts .................................................................. 1.2 „Jesus und der Zorn Gottes“ als Baustein kompetenzorientierten Lernens ............................................. 1.2.1 Grundanliegen kompetenzorientierten Unterrichts ........... 1.2.2 „Jesus und der Zorn Gottes“ als Beitrag zur Entwicklung religiöser Kompetenz? .............................................................. 1.2.2.1 Grundlagen und Ansatzpunkte der Kompetenzentwicklung ............................................................ 1.2.2.2 Anknüpfungsmöglichkeiten zur Kompetenzentwicklung am Beispiel der Kernlehrpläne NRW.............................................................................................. 1.2.2.3 Zwischenfazit: „Jesus und der Zorn Gottes“ – ein Gewinn für den kompetenzorientierten Religionsunterricht? .................................................................. 1.3 „Jesus und der Zorn Gottes“ – Relevanz und Impulse im Kontext zentraler religionsdidaktischer Prinzipien ............ Ein Gewinn für biblisches Lernen? .......................................... 1.3.1 1.3.1.1 Ausgangslage und hermeneutische Voraussetzungen ........ 1.3.1.2 Potenziale des Ausgangsthemas im Kontext biblischen Lernens ........................................................................................ 1.3.1.3 Fazit .............................................................................................. 1.3.2 Impulse für ethisches Lernen................................................... 1.3.3 Impulse für interreligiöses Lernen.......................................... Impulse für emotionales Lernen ............................................. 1.3.4 1.4 Fazit: „Jesus und der Zorn Gottes“ – ein potenzieller Baustein zur Entwicklung von religiöser Kompetenz und bestenfalls darüber hinaus! ..............................................
221 222 223 226 226 230 230
240
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264
Inhaltsverzeichnis
2.
3.
4.
Konkretisierung I – Entwicklungspsychologische Voraussetzungen und lebensweltliche Impulse............................... 2.1 Anliegen des Kapitels ................................................................ 2.2 Zorn als menschliche Emotion ................................................ 2.3 „Jesusbilder“ und damit verbundene Herausforderungen.................................................................... 2.4 Zur Genese von Gottesvorstellungen...................................... Konkretisierung II – Kompetenzerwartungen.................................. 3.1 Leitende Perspektiven und Orientierungsanker................... 3.2 Inhaltsfelder und konkretisierte Kompetenzerwartungen für die Sekundarstufen I und II am Beispiel der Kernlehrpläne NRW für das Gymnasium ... Kompetenzerwartungen im Rahmen des achtjährig 3.2.1 organisierten gymnasialen Bildungsgangs (Unter- und Mittelstufe).................................................................................. 3.2.2 Kompetenzerwartungen im Rahmen des neunjährig organisierten gymnasialen Bildungsgangs (Unter- und Mittelstufe).................................................................................. 3.2.3 Kompetenzerwartungen für die Sekundarstufe II ................ Konkretisierung III – Lernwege und Unterrichtsentwürfe ........... Sinnstiftende Lehr- und Lernprozesse ermöglichen! – 4.1 Ein Plädoyer für die Orientierung an der interaktionalen Bibelauslegung............................................... 4.1.1 Zum Profil der interaktionalen Bibelauslegung .................... 4.1.2 Interaktionale Bibelauslegung und kompetenzorientiertes Lernen – Potenziale und Akzentuierungen........................................................................ 4.2 Unterrichtsentwürfe für die Sekundarstufen I und II ......... 4.2.1 „Jesus und der Zorn Gottes“ als Thema in der Unterstufe – erste Annäherungen........................................... 4.2.1.1 Möglichkeiten der inhaltlichen Kontextualisierung, Zugänge und Lernanlässe ......................................................... 4.2.1.2 Möglichkeiten der Kompetenzentwicklung .......................... 4.2.1.3 Unterrichtsbeispiel 1: „Wann würde Jesus heute zornig werden?“ –Die Heilung am Sabbat (Mk 3,1–6) ...................... 4.2.1.4 Unterrichtsbeispiel 2: „Ein Gott, der sich nach Gemeinschaft sehnt?“ – Die Parabel vom Gastmahl (Lk 14,16–24) ......................................................................................
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12
Inhaltsverzeichnis
4.2.1.5 Möglichkeiten zur Begleitung von Lernprozessen und Kompetenzevaluation ............................................................... 4.2.2 „Jesus und der Zorn Gottes“ als Impulsgeber? Anregungen für die Mittelstufe ............................................... 4.2.2.1 Möglichkeiten der inhaltlichen Kontextualisierung, Zugänge und Lernanlässe ......................................................... 4.2.2.2 Möglichkeiten der Kompetenzentwicklung .......................... 4.2.2.3 Unterrichtsbeispiel 1: Die Botschaft Jesu als existenzielle Ansprache begreifen (Mt 10,34–39) ................. 4.2.2.4 Unterrichtsbeispiel 2: „Jesus neu begegnen!“ – Die Tempelreinigung ........................................................................ 4.2.2.5 Unterrichtsbeispiel 3: „Gott will den Tod des Sünders!?“ – Grenzen der Rede vom göttlichen Zorn aufzeigen, lebenstragende Impulse stärken ............................................. 4.2.3 „Jesus und der Zorn Gottes“ als Thema in der Qualifikationsphase – Ansatzpunkte einer vertiefenden Auseinandersetzung am Beispiel von Mt 18,23–35............... 4.2.3.1 Möglichkeiten der inhaltlichen Kontextualisierung, Zugänge und Lernanlässe ......................................................... 4.2.3.2 Möglichkeiten der Kompetenzentwicklung .......................... 4.2.3.3 Phasen und Schritte der Texterschließung ........................... 4.2.3.3.1 Vorbereitung und Ansatzpunkte der Textbegegnung ......... 4.2.3.3.2 Schritte der Texterarbeitung ................................................... 4.2.3.3.3 Perspektiven der weitergehenden Aneignung ..................... 4.2.3.4 Ansatzpunkte der Weiterarbeit im Kontext christlicher Eschatologie ................................................................................ 4.3 Erste Eindrücke aus der Unterrichtspraxis ...........................
5.
310 310 311 312 313 315
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Ungenutzte Potenziale als Chance ergreifen! – Zusammenführung .................................................................................. 336
E. Ergebnis und Ausblick .....................................................................
339
F. Quellen- und Literaturverzeichnis ...........................................
347
1.
347
Quellen........................................................................................................ 1.1 Schriftliche Quellen ................................................................... 1.1.1 Textausgaben und Übersetzungen der Bibel ......................... 1.1.2 Weitere schriftliche Quellen .................................................... 1.2 Bildquellen ..................................................................................
347 347 348 349
Inhaltsverzeichnis
1.3
13
Filme ............................................................................................. 349
2.
Hilfsmittel (Wörterbücher, Konkordanzen) ...................................... 349
3. 4.
Gedruckte Sekundärliteratur ................................................................ Internetdokumente ................................................................................. 4.1 Internetdokumente mit Verfasserangabe ............................. 4.2 Verweislinks................................................................................
5.
350 374 375 378
Abbildungsverzeichnis ........................................................................... 378
G. Anhang .....................................................................................................
379
1.
Unterrichtsbeispiele für die Unterstufe: Verlaufspläne und Materialien ................................................................................................ 380 1.1 „Wann würde Jesus heute zornig werden?“ –Die Heilung am Sabbat (Mk 3,1–6).................................................. 380 1.2 „Ein Gott, der sich nach Gemeinschaft sehnt?“ – Die Parabel vom Gastmahl (Lk 14,16–24) ...................................... 386
2.
Unterrichtsbeispiele für die Mittelstufe: Verlaufspläne und Materialien ................................................................................................ 2.1 Die Botschaft Jesu als existenzielle Ansprache begreifen (Mt 10,34–39)............................................................................... 2.2 „Jesus neu begegnen!“ – Die Tempelreinigung ..................... 2.3 „Gott will den Tod des Sünders!?“ – Grenzen der Rede vom göttlichen Zorn aufzeigen, lebenstragende Impulse stärken .........................................................................................
3.
394 394 398
401
Unterrichtsbeispiel für die Oberstufe: Verlaufsplan und Materialien zur Parabelanalyse von Mt 18,23–35 ............................ 406
A.
Einleitung „Das Problem zwischen Gott und den Heutigen liegt nicht darin, daß sie ihm zu fern wären. In Wahrheit müßten sie zulassen, daß er ihnen zu nahe träte, sollten sie seine Angebote ernst nehmen. An keiner Eigenschaft des Gottes der Theologen läßt sich 1 das besser zeigen als an der peinlichsten unter allen: seinem Zorn.“ (Peter Sloterdijk)
1.
Hinführung
Die Vorstellung vom „Zorn Gottes“2 – selbst im 21. Jahrhundert noch eine potenzielle Zumutung, ja gar eine intime Anmaßung für den modernen Menschen? Zumindest erscheint es so nach dem Philosophen Peter Sloterdijk, der den Zorn als eine der „peinlichsten“ aller Eigenschaften Gottes charakterisierte und durch dieses Verdikt vor allem den alttestamentlichen Exegeten Bernd Janowski zu einer engagierten Verteidigung veranlasste.3 Würde man jedoch, den oberen Ausführungen Sloterdijks folgend, die Bruchlinie im kritischen Diskurs über die Vorstellung vom „Zorn Gottes“ zwischen einer aufklärerisch-fortschrittlich agierenden Philosophie und einer apologetisch-rückwärtsgewandten Theologie vermuten, griffe man zu kurz.
1
2
3
SLOTERDIJK, Zorn und Zeit, S. 116. Auch bei allen nachfolgenden Zitaten wird ggf. die alte Rechtschreibung eines Originals ungekennzeichnet beibehalten. Eine Ausnahme bilden verwendete Bibelübersetzungen, die im Sinne der Einheitlichkeit an die neue Rechtschreibung angepasst wurden. Weitergehende Anmerkungen durch den Verfasser werden jeweils durch die zusammengefügten Anfangsbuchstaben meines Vor- und Nachnamens (C.W.) gekennzeichnet. In den Einleitungskapiteln wird zunächst synonym vom „Zorn Gottes“, der „biblischen Rede ‚Zorn Gottes‘“ etc. gesprochen. Im Rahmen der exegetischen Auseinandersetzung wird diese Redeweise dann näher in ihrem analogen und metaphorischen Charakter ergründet. Die Anführungsstriche dienen dabei der Hervorhebung und sollen zugleich verdeutlichen, dass sich um einen Motivkomplex handelt, der einer weitergehenden Deutung bedarf. Dementsprechend werden auch bei der Bezugnahme auf den „Zorn Jesu“ Anführungsstriche verwendet. Vgl. JANOWSKI, Ein Gott, der straft und tötet?, S. 148, insgesamt S. 147–174. – Janowski wendet gegen Sloterdijk unter anderem ein, dass die alttestamentlichen Aussagen über den „Zorn Gottes“ vor allem als Ausdruck seines leidenschaftlichen Eintretens gegen lebenszerstörende Taten der Menschen und Solidarisierung mit den Opfern zu verstehen sind. Sie seien damit „als Modus seiner [göttlichen; C.W.] Liebe und Gerechtigkeit [zu verstehen]“ (ebd., S. 173) und so unaufhebbarer Bestandteil des biblischen Gottesbildes (vgl. ebd., S. 171–174).
16
A. Einleitung
Vielmehr wurde die Rede vom „Zorn Gottes“ innerhalb der christlichen Theologie von Anbeginn zutiefst kontrovers beurteilt4 und bleibt bis in die Gegenwart von einem gewissen Unbehagen geprägt, wie der Religionsphilosoph Holger Zaborowski zutreffend herausstellt: „Denn der Zorn Gottes gehört zu den Vorstellungen, die innerhalb der zeitgenössischen Theologie nicht mehr so recht ihren Ort finden, die abseits stehen, hin und wieder, wie alte Bekannte, die uns fremd geworden sind, denen wir aber immer noch Höflichkeitsbesuche abstatten, aufgesucht werden, […] aber kaum noch in den Blick geraten, wo es wichtig wird, wo es weh tun kann. Es passt nicht so recht, dass Gott – auch – zornig sein soll. Man stellt die in Bibel und Geschichte gut fundierte Rede vom Zorn Gottes unter Ideologieverdacht oder verdrängt und vergisst sie. Gottes-Rede erscheint einfacher, gewiss, wenn man sich auf die netten, die freundlichen Aspekte Gottes beschränkt: der liebe Gott, Großvater, Mutter, Freund und Geliebte, barmherzig und gnädig, gut und gerecht.“ 5
Dementsprechend verwundert es nicht, dass sich – wie verschiedene Theologen zu Recht kritisieren – insbesondere in gegenwärtigen Handbüchern der Dogmatik regelrechte „Verdrängungsstrategien“6 dieses Themas beobachten lassen. Als solche benennt Jan-Heiner Tück die Auslassung des vorliegenden Themas hin zur mythologischen Entschärfung und besonders problematischen Abklassifizierung des biblischen Zorn-Motivs als „alttestamentlich“. 7 Gleichzeitig lassen sich jedoch auch gegenläufige Ansätze feststellen, die Rede vom „Zorn Gottes“ zu rehabilitieren und sie beispielsweise im Hinblick auf ihre systematisch-theologische Relevanz hin zu befragen. In diesem Zusammenhang ist maßgeblich die Habilitationsschrift von Ralf Miggelbrink mit dem Titel „Der Zorn Gottes. Eine systematisch-theologische Untersuchung zu einem Motivkomplex biblischer Theologie in praktischer Absicht“ 8 hervorzuheben. Miggelbrinks herausragende Leistung besteht darin, durch seine umfassende exegetische Analyse die Bedeutung dieser biblischen Tradition herausgearbeitet, für den systematisch-theologischen Diskurs neu erschlossen und auf dieser Grundlage ihre Gegenwartsbedeutung reflektiert zu haben. 9 So mehren sich im 4
5 6
7
8
9
Vgl. VOLKMANN, Teilart. Zorn Gottes. IV. Theologiegeschichtlich und dogmatisch, Sp. 1906.– Hier findet sich auch eine kurze theologiegeschichtliche Übersicht. ZABOROWSKI, Im Zorn die Liebe, S. 384. JANOWSKI, Ein Gott, der straft und tötet?, S. 149. Hier bezieht er sich auf die Erkenntnisse von J.-H. Tück. Um den Rahmen der vorliegenden Hinführung nicht zu sehr auszuweiten, sei hier auf die Analyse und Übersicht bei TÜCK, Der Zorn – die andere Seite der Liebe Gottes, S. 385–387 verwiesen. Weitere Beispiele finden sich bei GROß, Zorn Gottes – ein biblisches Theologumenon, S. 199–200. Veröffentlicht unter dem Titel „Der Zorn Gottes. Geschichte und Aktualität einer ungeliebten biblischen Tradition“, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2000. Ein ähnliches Anliegen, wenn auch in deutlicher Abgrenzung von den diesbezüglichen Überlegungen Miggelbrinks, findet sich bei ZABOROWSKI, Im Zorn die Liebe, S. 383–389. Zaborowskis Kritik, die hier nicht im Detail dargelegt werden kann, setzt vor allem an Miggelbrinks Überlegungen zur Gegenwartsbedeutung dieser biblischen Tradition an,
1. Hinführung
17
aktuellen Diskurs auch zunehmend die Stimmen, die eine fundamentale Bedeutung der Rede vom „Zorn Gottes“ für die christliche Theologie betonen. 10 Diesen Ansätzen folgend will die vorliegende Studie sich einem Bereich widmen, der in der bisherigen wissenschaftlichen Neuorientierung keine angemessene Berücksichtigung gefunden hat: Zunächst der exegetischen Frage, inwieweit (trotz des vielstimmigen Zeugnisses der Evangelien) der „Zorn Gottes“ Teil der Verkündigung Jesu war und sich in den Gesamtzusammenhang seiner Botschaft vom heilvollen Beginn der Gottesherrschaft einfügt. 11 Darauf aufbauend wird die gegenwartsorientierte Frage ergründet, ob sich dieses Untersuchungsthema als Lerngegenstand eignet, der eine tiefergehende Bedeutung für heutige Schülerinnen und Schüler entfalten kann. Wie bereits hieran deutlich wird, legt die vorliegende Arbeit also eine doppelte Prämissensetzung zu Grunde: Sie setzt erstens voraus, dass das Motiv des „Zornes Gottes“ in der Verkündigung Jesu nicht randständig oder bedeutungslos ist, sondern vielmehr einen unveräußerlichen Eigenwert besitzt. Hierbei geht sie sogar zweitens noch einen Schritt weiter, indem sie (neben diesem Eigenwert) für das vorliegende Thema sogar eine Bildungsbedeutsamkeit im Rahmen des Religionsunterrichts annimmt. Beide dieser Voraussetzungen, die das leitende Untersuchungsanliegen „Jesus und der Zorn Gottes. Exegetische Grundlegung und didaktische Perspektiven“ groß umreißen, sind nicht selbstverständlich, sondern erläuterungsbedürftig.
10
11
die, ausgehend von der prophetischen Rede vom „Zorn Gottes“, in Richtung einer Wiederbelebung des Tun-Ergehens-Zusammenhangs als heutiges Reflexionsmodell für politische und zeitgeschichtliche Ereignisse weist (vgl. ebd. S. 385–388). Für einen weiterführenden Einblick über diesen Diskurs sei auf die entsprechenden Artikel in der Zeitschrift „Christ in der Gegenwart“ Nr. 7 bzw. 8/2005 verwiesen. Siehe hierzu die zuvor angeführten Autoren, wie auch für die Gottesvorstellung Jesu: KOSCH, Daniel: Zärtlichkeit und Zorn – Der Gott Jesu; in: ANNEN, Franz (Hrsg.): Gottesbilder. Herausforderungen und Geheimnis. Neuausgabe (= Topos plus Taschenbücher 453.). Freiburg (Schweiz) 2002, S. 33–61 (besonders Unterkapitel 3.2./S. 45–54). R. Miggelbrink liefert dazu im siebten Kapitel seiner oben genannten Studie erste Ansätze, legt jedoch den Schwerpunkt vor allem darauf, wie Jesus seinen bevorstehenden Tod deutete (vgl. MIGGELBRINK, Der Zorn Gottes, S. 225–251), um dann im neunten Kapitel die Rede vom „Zorn Gottes“ in der synoptischen Evangelientradition getrennt zu analysieren (vgl. ebd., S. 277–309). Die vorliegende Arbeit möchte hingegen unter Zusammenführung des vielschichtigen Zeugnisses der Evangelien untersuchen, inwiefern die Rede vom „Zorn Gottes“ sich sinnstiftend in die Heilsbotschaft Jesu einfügt bzw. als Teil dieser angenommen werden kann. Als diesbezügliches Erkenntnismedium werden dann schwerpunktmäßig entsprechende Parabeln Jesu (vgl. Mt 18,21–35; Mt 22,1–14 par. Lk 14,16–24) mit Blick auf ihre theologischen Implikationen analysiert. Während ältere exegetische Zugänge diese und ähnliche Parabeln in Bezug auf die Rede vom „Zorn Gottes“ noch selbstverständlich christologisch oder theologisch interpretierten (so z. B. bei STÄHLIN, Teilart. ὀργή E. Der Zorn des Menschen und der Zorn Gottes im NT, S. 429–430), muss eine diesbezügliche Sinnhaftigkeit im Zeichen des aktuellen theologischen Diskurses (siehe oben) neu einsichtig gemacht werden.
18
2.
A. Einleitung
Untersuchungsanliegen und leitende Ausgangsthesen
Die Ausgangsmotivation für die vorliegende Arbeit erwuchs interessanterweise zunächst weniger aus einer theoretischen Reflexion als vielmehr aus meiner praktischen Unterrichtserfahrung. So konnte ich im Religionsunterricht beobachten, dass Lernende bis hin in die Sekundarstufe II teilweise nur ein sehr reduziertes Gottesbild entwickelten bzw. die umfassende Perspektive auf Gott als einen „Gott der Liebe“ sehr einseitig verstanden. Die Konfrontation mit anders gelagerten und damit als problematisch empfundenen Gottesbildern führte darüber hinaus zur Abgrenzung zwischen dem Ersten12 und Zweiten Testament. Entsprechende Gottesvorstellungen zeigten sich beispielsweise in einem von mir unterrichteten Grundkurs der Jahrgangsstufe 12 an verschiedenen Stellen in einem fast schon naiven Verständnis der „Liebe Gottes“. Letztere wurde dann sogar vereinzelt damit gleichgesetzt, dass Gott ja sowieso immer alles verzeihe. Diese Erfahrung korrespondiert mit Ergebnissen einer empirischen Studie Peter Erdmanns aus dem Jahr 2011 (veröffentlicht unter dem Titel „Jugend und Jenseits“, Münster 2017), in der dieser die geringe Bedeutung der Vorstellung vom göttlichen Gericht und der hiermit im christlichen Verständnis verbundenen Zuweisung von Heil und Unheil für christliche Jugendliche herausstellt.13 In der Ergründung hierfür verantwortlicher Ursachen wurde mir deutlich, dass die inhaltliche Ausgestaltung des Religionsunterrichts am Gymnasium in NRW diesen Umstand eventuell unbewusst mitbeeinflusst. Wird doch eine Auseinandersetzung mit diskussionswürdigen oder zunächst vermeintlich sogar „dunklen Seiten“ Gottes in der Sekundarstufe I gar nicht erst explizit gefordert.14 Der Kernlehrplan für die Sekundarstufe II weitet die theologische Ausei-
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Die Rede vom „Ersten Testament“ erfolgt in Anschluss an die Überlegungen von E. ZENGER, Das Erste Testament, S. 152–154. Vgl. ERDMANN, Jugend und Jenseits, S. 120–121/S. 140–145 sowie die diesbezüglichen Abschlussthesen S. 293. Zu den Kompetenzerwartungen siehe: MINISTERIUM FÜR SCHULE UND W EITERBILDUNG DES LANDES N ORDRHEIN-WESTFALEN [→ nachfolgend MSW NRW] (Hrsg.), Kernlehrplan für das Gymnasium – Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen. Katholische Religionslehre [G8], S. 16– 29. Für die Jahrgangsstufe 5/6 ergaben sich zumeist nur indirekte Thematisierungsmöglichkeiten, beispielsweise im Rahmen des Inhaltsfeldes 2 „Sprechen von und mit Gott“. So sollen die Schülerinnen und Schüler hier dazu in die Lage versetzt werden, „[aufzuzeigen,] wie Widerfahrnisse des Lebens aus dem Glauben gedeutet werden können“ (S. 20) und „biblische Psalmen als Ausdruck menschlicher Erfahrungen im Glauben an Gott [zu deuten]“ (ebd.). Auch die Kompetenzerwartungen für die Jahrgangsstufen 7–9 bleiben mitunter sehr vage. Hier wird zwar beispielsweise die Fähigkeit zur Deutung prophetischer Texte in ihrem zeitlichen Kontext verlangt oder erwartet, dass die Lernenden „Gottesbilder des Alten und Neuen Testaments als Ausdruck unterschiedlicher Glaubenserfahrung
2. Untersuchungsanliegen und leitende Ausgangsthesen
19
nandersetzung zwar aus, indem verschiedene diesbezügliche Facetten von Gottesbildern in den Blick genommen werden, es fehlt jedoch auch hier eine systematische Vernetzung.15 Insgesamt wird meines Erachtens in diesen obligatorischen Vorgaben nämlich zu wenig eine Reflexion darüber angelegt, wie sich das Bild Gottes als „Gott der Liebe“ mit divergierenden, ja ggf. von uns heute als anstößig empfundenen Gottesbildern, so auch der Rede vom „Zorn Gottes“, vereinbaren lässt. 16 Gerade in dieser spannungsreichen Ambivalenz verschiedener Gottesbilder, die sowohl das Erste als auch das Zweite Testament prägen und verbinden, liegen jedoch Lernpotentiale zur Entwicklung vielschichtigerer Gottesvorstellungen von Schülerinnen und Schülern.17 Das Unterlassen entsprechender Denkbe-
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und Weltdeutung [erläutern]“ (S. 26). Es fehlen jedoch Konkretisierungen, welche Aspekte des Gottesbildes (z. B. Gewalt, Zorn, Erwählung und Verwerfung) reflektiert werden sollen. So bleibt dann auch die geforderte Fähigkeit „die Aussageabsicht und Angemessenheit unterschiedlicher Gottesvorstellungen [zu beurteilen]“ (S. 26.) unspezifisch. Diese Beobachtungen lassen sich in ganz ähnlicher Weise auch für den neuen G9-Lehrplan machen. Zur diesbezüglichen Thematisierung der Gottesfrage siehe MINISTERIUM FÜR SCHULE UND BILDUNG DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN [→ nachfolgend MSB NRW] (Hrsg.), Kernlehrplan für die Sekundarstufe I. Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Katholische Religionslehre [G9], S. 21 u. S. 29. Vgl. MSW NRW (Hrsg.), Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Katholische Religionslehre, S. 20–40. So wird mit Blick auf die Kompetenzerwartungen von Inhaltsfeld 2 „Christliche Antworten auf die Gottesfrage“ im Grundkurs der Qualifikationsphase gefordert: „Schülerinnen und Schüler […] erläutern die Schwierigkeit einer angemessenen Rede von Gott (u. a. das anthropomorphe Sprechen von Gott in geschlechterspezifischer Perspektive), […] ordnen die Theodizeefrage als eine zentrale Herausforderung des christlichen Glaubens ein, […] entfalten zentrale Aussagen des jüdisch-christlichen Gottesverständnisses (Gott als Befreier, als der ganz Andere, als der Unverfügbare, als Bundespartner), […].“ (S. 27). Ebenso sollen sie dabei „die Vielfalt von Gottesbildern [erörtern] und […] sie in Beziehung zum biblischen Bilderverbot [setzen]“ (S. 28). Noch weitergehend wird im Rahmen des Inhaltsfeldes 6 „Die christliche Hoffnung auf Vollendung“ sogar erwartet, dass die Lernenden „traditionelle und zeitgenössische theologische Deutungen der Bilder von Gericht und Vollendung im Hinblick auf das zugrundeliegende Gottes- und Menschenbild [analysieren]“ (S. 31). – Insgesamt fehlt jedoch in dieser Auflistung der Einzelkompetenzen ein „roter Faden“, der die jeweiligen theologischen Reflexionen aufeinander bezieht und vernetzt. Es ist in diesem Zusammenhang sicherlich zu berücksichtigen, dass die jeweilige Ausgestaltung der Themen durch die Fachschaften der Schulen geschieht, wo entsprechende Ideen realisiert werden können. Dies ändert jedoch nichts daran, dass bereits im Kernlehrplan entsprechende Denkbewegungen angelegt sein müssen. Für die Religionsbücher kann V. Glunz in seiner empirischen Studie die oben skizzierte Problematik der Vermittlung von Gottesbildern in den Jahrgangsstufen 5/6 nachweisen (vgl. GLUNZ, Gott im Religionsbuch, S. 517–519 u. S. 541–542). Dazu schlussfolgert der Religionspädagoge H.-J. Fraas: „Pädagogisch gesehen würde das Gottesbild des NT ohne den Hintergrund des AT seine Tiefe verlieren; die familiäre Vertrautheit Jesu mit dem Vater könnte zur Banalität eines harmlosen ‚lieben Gottes‘ führen,
20
A. Einleitung
wegungen kann sich hingegen, wie ich befürchte und wie auch die bereits genannten Beobachtungen zeigen, problematisch auswirken. Entsprechend reduzierte Gottesbilder erfassen nämlich den Kern des im Ersten Testament wurzelnden christlichen Gottesverständnisses nicht („Sachebene“). Sie können es zudem erschweren, die eigene Erfahrungs- und Lebenswirklichkeit mit Gott in Verbindung zu bringen („Subjektebene“).18 Um dieser Problematik entgegenzuwirken, aber auch um grundsätzlich ein differenziertes Verständnis von der christlichen Gottesvorstellung zu gewinnen, bietet die Auseinandersetzung mit „Jesus und dem Zorn Gottes“19 besondere Chancen. Um Missverständnissen bereits vorab vorzubeugen, sei an dieser Stelle gesagt, dass es nicht darum gehen soll, ein alternatives Jesus- oder Gottesbild zu forcieren. Dem katholischen Dogmatiker Jan-Heiner Tück ist vollends zuzustimmen, wenn er bemerkt: „Die Wesensaussage ‚Gott ist die Liebe‘ ist der hermeneutische Schlüssel, von dem aus die biblischen Zorn- und Gerichtsaussagen zu lesen sind; andernfalls riskiert man eine Verdunklung des Gottesbegriffs, die hinter das biblische Zeugnis von der unbedingt entschiedenen Liebe Gottes zurückfällt. Der Zorn Gottes ist vor diesem Hintergrund nicht als Affekt im Sinne einer spontanen Aufwallung gegen die Sünde der Menschen, sondern als Modus der Liebe Gottes zu bestimmen.“ 20
In Weiterführung dieses Gedankens wird jedoch in der vorliegenden Studie durchaus provokant die Position stark gemacht, dass ebendiese von Jesus verkündigte „Liebe Gottes“ nur durch den Einbezug der Vorstellung vom „Zorn Gottes“ einsichtig werden kann. Diese Einschätzung lässt sich in vier Ausgangsthesen weitergehend verdichten und konkretisieren: •
Erste These: Eine exegetische Erhebung der Verweise auf den „Zorn Gottes“
in der Verkündigung Jesu ist unerlässlich, um die Zusammengehörigkeit der Gottesvorstellungen im Ersten und Zweiten Testament zu erkennen und damit die biblische Gottesoffenbarung als spannungsreichen Dialog zu begreifen.21
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den eine problematisch verkürzende christliche Praxis tatsächlich daraus gemacht hat […].“ (FRAAS, Die Bibel als Buch der Bildung, S. 42; Hervorhebung im Original). So sind ihre ambivalenten Wirklichkeitserfahrungen und die damit verbundenen Anfragen, die sie an diese stellen komplexer, als dass sie durch eine einseitige Rede vom „lieben Gott“ umfassend ergründet werden könnten (vgl. hierzu auch BUCHER, Ein zu lieber Gott?, S. 184–185). Die Anführungsstriche weisen hier auf den inneren Zusammenhang des Untersuchungsgegenstandes hin, den es nachfolgend durch eine exegetische Analyse der Wort- und Tatverkündigung zu profilieren gilt. TÜCK, Der Zorn – die andere Seite der Liebe Gottes, S. 408. Zur weitergehenden Entfaltung und Akzentuierung entsprechender Gedanken siehe auch ZENGER, Das Erste Testament, S.189ff.
2. Untersuchungsanliegen und leitende Ausgangsthesen
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•
Zweite These: Nur vor dem Hintergrund der Perspektive auf den „Zorn Gottes“ gewinnt die Botschaft Jesu von einem beziehungssuchenden, den Menschen fundamental in Liebe zugewandten Gott ihre eigentliche Tiefenschärfe.22
•
Dritte These: Die Rede vom „Zorn Gottes“ lässt die Botschaft Jesu eines liebenden und deswegen auch richtenden Gottes23 aufscheinen, die unerlässlich für ein angemessenes Verständnis der christlichen Heilsbotschaft ist 24.
•
Vierte These: Die so gewonnenen exegetischen Erkenntnisse lassen sich gewinnbringend didaktisch nutzen, indem sie a) dazu beitragen können, einseitige Gottesvorstellungen (siehe oben) zu differenzieren, der Abgrenzung von Erstem und Zweitem Testament entgegenzuwirken und dabei nicht zuletzt ein allzu verharmlosendes Jesusbild zu korrigieren25 b) und zugleich einen besonderen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung und zur Entwicklung religiöser Bildung leisten.
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So bemerkt H. Zaborowski hierzu zutreffend: „Gott ist [nämlich; C.W.] nicht ein leidenschaftsloser Geist, sondern verfügt auch über Wille und Gefühl. Und daher wäre es falsch (bei allen Grenzen menschlicher Gottes-Rede), ihm nur bestimmte Gefühle zuzuschreiben, nicht aber auch den Zorn. Wenn die Rede von der Liebe Gottes theologisch sinnvoll sein soll, dann muss man auch vom Zorn Gottes sprechen: Wer liebt, aber nicht zornig sein kann, liebt eigentlich nicht. Denn Liebe bedeutet, ein Risiko einzugehen, sich zu öffnen, sich zu geben, sich auszuliefern, verletzbar zu werden.“ (ZABOROWSKI, Im Zorn die Liebe, S. 389). Hier werden im Anschluss auch Perspektiven entfaltet, wie angemessen vom Zorn Gottes gesprochen werden kann. Zum Zusammenhang von „Zorn Gottes“ und seiner Gerechtigkeit im AT siehe auch JANOWSKI, Ein Gott, der straft und tötet?, S. 172–173. Zutreffend bemerkt J.-H. Tück: „Wo diese Botschaft [vom Zorn und Gericht Gottes; C.W.] niedergehalten wird, degeneriert die Rede von Gottes Liebe leicht zur Phrase. Es bleibt jedenfalls undeutlich, dass ein Gott der Liebe gegenüber der lieblosen Verweigerung von Liebe nicht gleichgültig bleiben kann, dass er die Täter für ihre Taten zur Rechenschaft ziehen muss, wenn er nicht über das Leiden der Opfer unempfindlich hinweggehen will.“ (TÜCK, Der Zorn – die andere Seite der Liebe Gottes, S. 387–388). Ähnliche Gedanken finden sich auch bei BECKER, Jesus von Nazaret, S. 59–60. Zudem sei hier an den zentralen Einwand von J. B. Metz mit Blick auf eine angemessene Theologie nach Auschwitz erinnert: „Die Gottesrede ist entweder die Rede von der Vision und der Verheißung einer großen Gerechtigkeit, die auch an diese vergangenen Leiden rührt, oder sie ist leer und verheißungslos – auch für die gegenwärtig Lebenden. Die dieser Gottesrede immanente Frage ist zunächst und in erster Linie die Frage nach der Rettung der ungerecht Leidenden.“ (METZ, Theodizee-empfindliche Gottesrede, S. 82). Gerade auch in momentanen exegetischen Darstellungen zeigt sich dieses Bedürfnis, den Blick auf die Radikalität der Botschaft Jesu zu weiten. Vgl. hierzu exemplarisch LOHFINK, Gegen die Verharmlosung Jesu, S. 11–36; REISER, Der unbequeme Jesus, S. VII–X.
22
A. Einleitung
Damit ist in einem ersten Schritt der Rahmen der nachfolgenden Analyse aufgezeigt, nunmehr gilt es diese Ausgangsthesen zu überprüfen, zu schärfen und damit mit Blick auf ihre Angemessenheit zu profilieren. Dies geschieht jedoch nicht zum Selbstzweck, sondern die vorliegende Studie sieht sich der von der Päpstlichen Bibelkommission benannten Aufgabe der Exegese verpflichtet, „zur möglichst authentischen Vermittlung der inspirierten Botschaft der Heiligen Schrift das Ihre beizutragen“26. Damit dies gelingt, ist ein dreistufiger Weg der Analyse notwendig, der darin besteht • in einem ersten Schritt den Untersuchungsgegenstand „Jesus und der Zorn Gottes“ exegetisch einzugrenzen, zu ergründen und in den Gesamtzusammenhang der Botschaft Jesu einzuordnen, • in einem zweiten Schritt sich daraus ergebende Erkenntnisse mit Blick auf kritische theologische Anfragen einzuordnen und zu reflektieren, • und in einem dritten Schritt: dieses „Thema“ als Lerngegenstand zu „elementarisieren“27 und exemplarische Lernwege aufzuzeigen. Jeder Einzelne dieser Untersuchungsschritte setzt zahlreiche Abwägungen der Vorgehensweise(n) und methodische Einzelentscheidungen voraus. Ihre jeweilige Erläuterung wird deswegen den Haupt- und Teilkapiteln vorangestellt.
26 27
PÄPSTLICHE BIBELKOMMISSION, Die Interpretation der Bibel in der Kirche, S. 139. Zu diesem Ansatz siehe NIPKOW, Art. Elementarisierung, S. 451–453.
B.
Hauptteil I: „Jesus und der Zorn Gottes“ – Exegetische Grundlegung
1.
Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes und Klärung der exegetischen Vorgehensweise
Wenn das vorliegende Kapitel mit dem Titel „Exegetische Grundlegung“ überschrieben ist, meint dies nicht, dass es bisher keinerlei exegetische „Vorarbeiten“ gibt, auf die zurückgegriffen werden kann. Diesbezüglich verweise ich erneut auf die maßgebliche Studie von Ralf Miggelbrink. „Grundlegung“ meint vielmehr, dass – nicht zuletzt mit Blick auf die spätere Didaktisierung des vorliegenden Themas – durch die eigenständige exegetische Analyse Erkenntnisgrundlagen geschaffen werden. Zur angemessenen Bearbeitung bedarf es deswegen zunächst einer klareren Herausarbeitung des eigentlichen Untersuchungsgegenstandes, um davon ausgehend die angemessene exegetische Methodik zu bestimmen.
1.1
Klärung und Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes
Jede Arbeit, die sich mit der Verkündigung Jesu befasst, sieht sich zunächst mit einer grundsätzlichen Schwierigkeit konfrontiert, die in der Quellenlage begründet liegt. So „begegnet“ Jesus einem nie unmittelbar, sondern indirekt im Medium späterer Glaubenszeugnisse, die jeweils ihr eigenes Bild von ihm vermitteln. Insofern muss bereits vorab bewusst sein, dass jedwede Eingrenzung des Gottesbildes oder der Gottesvorstellung Jesu unter diesem Vorbehalt steht. 1 Trotzdem ist eine Annäherung an den historischen Jesus und seine Gottesvorstellung bzw. sein Verständnis der βασιλεία τοῦ Θεοῦ2 nicht von vorneherein aussichtslos. Einen ersten Ansatz kann dabei das zeitgenössische Umfeld bzw. 1
2
Diese Besonderheit der Quellenlage bemerkt auch KOSCH, Zärtlichkeit und Zorn – Der Gott Jesu, S. 34. In der vorliegenden Analyse werden als Übersetzung die Begriffe „Gottesherrschaft“, „Herrschaft Gottes“ und „Königsherrschaft Gottes“ synonym verwendet, um den hierin angesprochenen dynamischen Charakter des präsentischen und eschatologischen Wirkens Gottes zu verdeutlichen. Ferner wird auch auf die populäre Bezeichnung „Reich Gottes“ zurückgegriffen, die jedoch nicht statisch, im Sinne eines abgeschlossenen und begrenzten Zustandes, verstanden werden darf.
24
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
die Lebensumwelt Jesu bieten, da jeder Mensch durch diese Bedingungsfaktoren mitbeeinflusst wird. Hierzu ist zunächst festzuhalten, dass der Jude Jesus als historische Person stets im Dialog mit der jüdischen Tradition stand, 3 in der unter anderem auch die Rede vom „Zorn Gottes“ ihren festen Ort hatte 4. Gleichzeitig lebte er in politisch aufgeheizten Zeiten, in denen sich zahlreiche innerjüdische Erneuerungsbewegungen, die mitunter radikal-apokalyptische Vorstellungen vertraten, formierten.5 Treffend bemerkt der katholische Neutestamentler Thomas Söding hierzu: „Jesus spricht von Gottes Herrschaft und Gottes Gericht nicht im luftleeren Raum, sondern auf der Basis der Heiligen Schrift Israels, besonders der Prophetie, und im Horizont frühjüdischer Eschatologie, die das Gericht mit dem definitiven Weltuntergang und der Erschaffung eines ‚neuen Himmels und einer neuen Erde‘ (Jes 65,17; 66,22; vgl. Apk 21,1; 2Petr 3,13) verbindet.“ 6
Auch wenn eine umfassende Ergründung dieses kulturellen Bedingungsumfelds im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht möglich ist, muss hierin ein zentraler Verständnisschlüssel gesehen werden, um einzelne Aussagen Jesu vertiefend zu begreifen. Anders gewendet bedeutet dies zugleich: Die Gottesvorstellung Jesu kann nur vor dem Hintergrund der Tradition des Ersten Testaments und des zeitgenössischen Judentums angemessen verstanden und in ihrem spezifischen Charakter profiliert werden.7 Insofern gilt es entsprechende Bezüge in der konkreten Auseinandersetzung mit der Wort- und Tatverkündigung Jesu zu erhellen. Anders als beim Ansatz Ralf Miggelbrinks, der mit Blick auf das Motiv des „Zornes Gottes“ unter anderem die verschiedenen Evangelientraditionen gesondert voneinander untersucht8, soll in der vorliegenden Studie dessen Bedeutung im Gesamtzusammenhang der Botschaft Jesu verdeutlicht werden. Es gilt also diesbezüglich, trotz des 3
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So wird auch in allen neueren „Jesusbüchern“ seine jüdische Identität betont und als Verständnisschlüssel zur Ergründung seines Lebens herangezogen. Vgl. hierzu exemplarisch: SCHRÖTER, Jens: Jesus von Nazaret. Jude aus Galiläa – Retter der Welt (= Biblische Gestalten 15). Leipzig 2006 (besonders die Seiten 69–133 bzw. hier vor allem S. 105–108). W. Groß kommt insgesamt auf 375 Stellen (!), in denen das AT vom Zorn Gottes spricht (vgl. GROß, Keine Gerechtigkeit Gottes ohne Zorn Gottes, S. 18). Für einen kurzen Überblick über die innerjüdischen Erneuerungsbewegungen im 1. Jahrhundert nach Christus siehe THEIßEN /MERZ, Der historische Jesus, S. 138–141 bzw. zur Bedeutung der „Apokalyptik als (zweite) geschichtliche Voraussetzung der eschatologischen Verkündigung Jesu“ S. 228–230. SÖDING, Feuer und Schwert, S. 2, online abrufbar unter: http://www.kath.ruhr-unibochum.de/imperia/md/content/nt/feuer_und_schwert.pdf (Stand: 27.6.2020). Mit KOSCH, Zärtlichkeit und Zorn – Der Gott Jesu, S. 34. Hierin liegt insgesamt ein Konsens der Exegese. Vgl. MIGGELBRINK, Der Zorn Gottes, S. 277–310. Entsprechend kürzer ist das Kapitel, in dem Miggelbrink auf die Bedeutung des „Zornes Gottes“ in der Verkündigung Jesu (bei der er im Schwerpunkt die Deutung des eigenen Todes durch Jesus fokussiert) eingeht (vgl. ebd., S. 225–251).
1. Untersuchungsgegenstand und exegetische Vorgehensweise
25
unterschiedlichen Jesusbildes der einzelnen Evangelien, verbindende Bezugspunkte und Kontexte herauszuarbeiten. Nur so kann nämlich die Bedeutung des „Zornes Gottes“ im Gesamtzusammenhang der Verkündigung Jesu angemessen eingeschätzt und im Anschluss für den Religionsunterricht „elementarisiert“ werden. Als primärer Untersuchungsgegenstand würden sich in diesem Zusammenhang zunächst die Stellen in den Evangelien anbieten, in denen der „Zorn Gottes“, im Neuen Testament maßgeblich durch die griechischen Begriffe ὀργή und θυμός repräsentiert9, explizit erwähnt wird.10 Während dieser Zugriff zwar sachlogisch stringent erscheint, ernüchtert bei einem ersten, noch oberflächlichen Blick zunächst der Gesamtbefund. So findet sich in der Verkündigung Jesu ein expliziter Verweis auf den „Zorn Gottes“ nur in der Endzeitrede in Lk 21,23–24. Darüber hinaus ist er jedoch ein möglicher thematischer Bestandteil der Gleichnisrede Jesu (vgl. Lk 14,21b par. Mt 22,7 und Mt 18,34), wobei dabei eine Gleichsetzung des jeweiligen Handlungssouveräns mit Gott durchaus problematisiert werden kann.11 Trotz dieses Einwandes der modernen exegetischen Forschung muss zunächst festgehalten werden, dass der historische Jesus, um seine Vorstellung von der heilvollen Herrschaft Gottes zu vermitteln, selbst auf „ Gleichnisse“12 zurückgriff. Waren sie, wie Rudolf Hoppe zutreffend formuliert, für ihn doch, die „der Sache angemessene Redeweise“13 und müssen dementsprechend auch zentraler Bestandteil der nachfolgenden Ergründung der Gottesrede Jesu sein. Es zeigt sich darüber hinaus vielmehr, dass es Bestandteile der Verkündigung Jesu gibt, in denen dieses Motiv zumindest implizit vermutet werden kann, nämlich dort, wo er die Gerichtspredigt Johannes des Täufers rezipiert (z. B. in Lk 13,1–5). Dementsprechend bietet sich als ein weiterer zentraler Untersuchungsbereich das Verhältnis zwischen Jesus und Johannes dem Täufer an, genauer gesagt die Frage, inwieweit Jesus die „Täuferbotschaft“ vom unmittelbar bevorstehenden „Zorn Gottes“14 teilt, modifiziert und in seine Heilsverkündigung integriert hat. Dabei gilt es, auch wenn dies im Rahmen der Untersuchung 9
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Vgl. BENDEMANN, Art. Zorn Gottes (NT), Kapitel 1 (S. 1 in der PDF-Version), online abrufbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/59453/ (Stand: 25.06.2020). Für einen kurzen exegetischen Überblick über entsprechende Stellen siehe den oben genannten Artikel von R. von Bendemann. Besonders die Exegetin L. Schottroff wendet sich vor dem Hintergrund einer sozialgeschichtlichen Gleichnisauslegung „gegen die Annahme stehender Metaphern“ (SCHOTTROFF, Die Gleichnisse Jesu, S. 131) und insbesondere die automatische Gleichsetzung einzelner Königsgestalten mit Gott (vgl. insgesamt ebd., S. 131–134). – Die entsprechende Kritik Schottroffs, die auch bei den oben skizzierten Gleichniserzählungen ansetzt, wird bei den jeweiligen Einzelanalysen differenziert diskutiert. Der zunächst pauschal verwendete Begriff wird im Zuge der exegetischen Analyse weitergehend eingegrenzt. HOPPE, Jesus von Nazaret, S. 91 (Hervorhebung im Original). Zur Rekonstruktion dieser Botschaft siehe Kapitel B.2.2.1.
26
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
nicht umfassend erfolgen kann, die Gerichtsverkündigung Jesu 15 aspektorientiert in den Blick zu nehmen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass auch der „zornige Jesus“, bzw. Momente seiner Verkündigung und seines Wirkens, die hiervon geprägt erscheinen, weitergehende Perspektiven auf den „Zorn Gottes“ eröffnen können.16 So zürnt der biblische Jesus beispielsweise gegen den Satan sowie die Dämonen (vgl. z. B. Mt 4,10; Lk 4,41), er richtet sich wutentbrannt gegen diabolische Menschen (vgl. z. B. Joh 8,44) sowie entsprechende Formen des Unverständnisses (vgl. z. B. Mk 8,33) und letztlich nähert sich vor allem im Matthäusevangelium sein Zorn überhaupt mehr dem des endzeitlichen Richters an (vgl. z. B. Mt 11,20–24).17 Denkt man beispielsweise an die Tempelreinigung (vgl. Mk 11,15–19), verweisen zudem nicht nur seine Worte, sondern auch seine Taten womöglich auf den „Zorn Gottes“.18 Nimmt man also ernst, dass sich in und durch Jesus Gott in einzigartiger Weise selbst-offenbart hat, ja er „Bild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15) ist, ist auch dieser dritte Analysebereich sinnvollerweise zu berücksichtigen. Schließlich bietet ein Ausblick auf die paulinische Auseinandersetzung mit dem „Zorn Gottes“ (vgl. besonders Röm 1–3) die Chance, den Bezugsrahmen zu erweitern und so die Fundamentalität dieser theologischen Rede für den christlichen Glauben herauszuarbeiten. Das oben skizzierte Problem, dass ein unmittelbarer Zugriff auf den historischen Jesus nicht möglich ist, bleibt zwar auch mit Blick auf die nunmehr skizzierten Untersuchungsbereiche unlösbar bestehen. Die vorliegende Studie ist jedoch dahingehend optimistisch, sich durch den Rückgriff auf den historischen Bezugsrahmen, die ihn prägende jüdische Tradition und seine Beziehung zu Johannes dem Täufer, wie auch durch die Ergründung des ganz eigenen Profils seiner Botschaft in den Evangelien der Gottesvorstellung Jesu anzunähern.
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Gerade die zahlreichen in den 90er Jahren erschienen Studien zeigen, dass es sich hierbei um ein zutiefst komplexes und mit vielen Einzelkontroversen einhergehendes Thema handelt, dessen umfassende Analyse im Rahmen dieser Arbeit zu weit führen würde. Bei weitergehendem Interesse sei diesbezüglich auf die folgenden Werke verwiesen: REISER, Marius: Die Gerichtspredigt Jesu. Eine Untersuchung zur eschatologischen Verkündigung Jesu und ihrem frühjüdischen Hintergrund (= NTA NF 23). Münster 1990. RINIKER, Christian: Die Gerichtsverkündigung Jesu (= EHS.T 653). Bern u. a. 1999. ZAGER, Werner: Gottesherrschaft und Endgericht in der Verkündigung Jesu. Eine Untersuchung zur markinischen Jesusüberlieferung einschließlich der Q-Parallelen (= BZNW 82). Berlin/New York 1996. Mit G. Stählin, der ebendiesen Untersuchungsbereich zur Ergründung des göttlichen Zorns „in Bild und Botschaft Jesu“ heranzieht (STÄHLIN, Teilart. ὀργή E. Der Zorn des Menschen und der Zorn Gottes im NT, S. 428–430). Vgl. W. PESCH, Art. ὀργή, S. 1294–1295 (hier auch weitere Belegstellen). Auf dieses Beispiel verweist u. a. HERZER, Teilart. Zorn Gottes. III. Frühjudentum und Neues Testament, Sp. 1904.
1. Untersuchungsgegenstand und exegetische Vorgehensweise
27
Kann also der strenge historische Nachweis nicht geführt werden, so soll doch zumindest das Kriterium der historischen Plausibilität gelten, das für die nachfolgend analysierten biblischen Texte immer wieder neu diskutiert werden muss. Obwohl die Historizität der Einzelaussagen Jesu kaum je abschließend geklärt werden kann, muss jedoch zumindest der Anspruch zentral bleiben, dass sie „wenigstens ihrer Intention nach authentisch sind“19. Im Anschluss an den Grundgedanken und die Wortwahl Wilhelm Thüsings gilt somit: Ein umfassenderer Blick auf diese „ipsissima intentio Jesu“ ist vor dem Hintergrund der nachösterlichen Prägung der Jesusüberlieferung ertragreicher als der Versuch, das authentische Einzelwort Jesu, seine „ipsissima verba“, zu erheben. 20 Dabei ist klar, dass auch dieser Anspruch aufgrund der Überlieferungslage nicht vorbehaltlos und endgültig eingelöst werden kann. Es besteht jedoch die optimistische Haltung, dass durch den zusammenführenden Blick auf das Zeugnis der Evangelien zumindest Grundmomente der Absicht Jesu erkennbar werden und als Auswirkung seines irdischen Lebens plausibel gemacht werden können.21 Wenn bisher und nachfolgend also von „Jesus und dem Zorn Gottes“ gesprochen wird, gilt dabei jedoch zugleich, dass es sich stets um den vermittelten Jesus der Evangelien und insbesondere der synoptischen Tradition handelt.22
1.2
Ein Wort wie Feuer“, doch welche Auslegungsmethode? – Zur exegetischen Vorgehensweise
Bereits 1991 hat der Religionspädagoge Horst Klaus Berg in seinem Buch „Ein Wort wie Feuer. Wege lebendiger Bibelauslegung“ verschiedene exegetische Methoden systematisiert und exemplifiziert. Auch wenn ihre Zahl bis in die Gegenwart weiterhin angestiegen ist,23 zeigte sich hier bereits die immense Pluralität an Analysemöglichkeiten biblischer Texte. Diese Vielseitigkeit exegetischer „Zugänge“ ist Herausforderung und Chance zugleich. Aus dem zu untersuchenden Sachgegenstand ergibt sich nämlich zunächst, dass im Rahmen der Themenstellung ein aspektorientierter Zugriff auf die jeweiligen Passagen in den (vorrangig synoptischen) Evangelien erfolgen muss. 19
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MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft, S. 37. Hier nimmt dieser Bezug auf die Gerichtstexte und Umkehrworte Jesu in den synoptischen Evangelien. Vgl. unter anderem THÜSING, Das Gottesbild des Neuen Testaments, S. 76 (hier auch zitierte Begriffe). Siehe zu Kriterien einer wissenschaftlich verantworteten historischen Rückfrage THEIßEN/MERZ, Der historische Jesus, S. 117–119. Hier wird vor allem das „historische Plausibilitätskriterium“ (S. 117) entfaltet. Dies ist, auch wenn nachfolgend mitunter nur von „Jesus“ oder „Jesus und dem Zorn Gottes“ gesprochen wird, vorausgesetzt und muss dazu gedacht werden. Für eine aktuellere Systematisierung siehe FISCHER, Wege in die Bibel, S. 35–94.
28
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
Dabei sieht man sich mit unterschiedlichen Textgattungen konfrontiert24, für die jeweils unterschiedliche Analyseverfahren und Methoden zielführend sein können. Gemeinsam ist jedoch stets das Anliegen, sich dem historischen Jesus möglichst anzunähern und Erkenntnisse über seine Gottesvorstellungen zu gewinnen. Es gilt also zu ermessen, inwiefern eine Aussage für Jesus als plausibel angenommen werden kann und nicht das Ergebnis rein nachgelagerter bzw. nachösterlicher Interessen (z. B. des jeweiligen Evangelisten) ist. Daraus ergibt sich erstens, dass eine Heranziehung von Erkenntnissen und Einzelschritten der historisch-kritischen Methode, die versucht, die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Textes kritisch zu beleuchten, unerlässlich bleibt. 25 Weiterhin gilt es zu berücksichtigen, dass die Studie zugleich das Anliegen hat, das Thema „Jesus und der Zorn Gottes“ in seiner Bildungsrelevanz zu ermessen und dementsprechend für den Religionsunterricht zu didaktisieren. Neben der eben angesprochenen zu erhebenden Sachebene müssen somit auch immer die Schülerinnen und Schüler als spätere Rezipienten gewonnener Erkenntnisse im Blick bleiben. Insofern kann sich die exegetische Analyse nicht ausschließlich auf einen rein diachronen Zugriff beschränken. Sie muss zweitens den Text, so wie er den Lernenden begegnet, das heißt in seiner redaktionellen Endgestalt, auch zum Zentrum der Auseinandersetzung machen. 26 Dieser synchrone Zugriff harmoniert vor allem auch damit, dass die zu untersuchenden Gleichniserzählungen von sich aus eine hohe erzählerische Qualität besitzen, die beispielsweise im Kontext literaturwissenschaftlicher Auslegungsverfahren27 erschlossen werden kann. Insgesamt verzichtet die vorliegende Studie also bewusst auf eine Engführung der Interpretation durch die Festlegung auf eine einzelne Auslegungsmethode. Stattdessen wird das methodische „Setting“ den oben skizzierten Grundanliegen und Grundabsichten flexibel angepasst. Dabei wird bereits in der exegetischen Grundlegung versucht, beide oben aufgezeigten Pole, Sach- und Schülerorientierung, im Blick zu behalten, ohne jedoch die historische Rückfrage aus dem selbigen zu verlieren. 24
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Dies zeigt sich beispielsweise bereits bei den Bibelstellen, die direkt oder (meiner Auffassung nach) indirekt den „Zorn Gottes“ thematisieren (vgl. Passagen in der Endzeitrede bei Lukas, die entsprechenden Gleichnis- und Wundererzählungen etc.). Hierbei sei vor allem an Verfahrensweisen der Redaktionskritik gedacht (vgl. EBNER/H EININGER, Exegese des Neuen Testaments, S. 364). Maßgeblich hat auch die Päpstliche Bibelkommission diesbezüglich herausgestellt, dass die historisch-kritische Methode bei der Interpretation biblischer Texte zwar unersetzlich bleibt, jedoch die synchronen Zugänge gerade entsprechende Einsichten erweitern können und damit ihre Berechtigung besitzen (vgl. PÄPSTLICH BIBELKOMMISSION, Die Interpretation der Bibel in der Kirche, S. 137–138). Eine gute Zusammenschau verschiedener Analysemöglichkeiten bietet H. K. BERG, Ein Wort wie Feuer, S. 119–125. Berg spricht hier jedoch verkürzend von einer „linguistischen Auslegung“.
2. Ursprünge der Rede vom „Zorn Gottes“
2.
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Ursprünge der Rede vom „Zorn Gottes“ in der jesuanischen Verkündigung
Die Vorstellung vom göttlichen Zorn hat eine lange Geschichte innerhalb der jüdischen Tradition, was sich in einzelnen Schriften des Alten Testaments widerspiegelt. Hierin muss also der erste Ansatzpunkt für die nachfolgende Analyse gesehen werden.
2.1
Der „Zorn Gottes“ im Alten Testament – Streiflichter
„Streiflichter werfen“, ein bildhafter Ausdruck, der jedoch Möglichkeiten und Grenzen dieses Kapitels verdeutlichen soll. Möglich ist es, erhellend einzelne für die spätere Analyse hilfreiche Kontexte der Rede vom „Zorn Gottes“ im Alten Testament aufzuzeigen. Unmöglich ist es hingegen, eine systematische Zusammenschau der vielschichtigen Aussagen oder Traditionszusammenhänge zu vollziehen. Hierfür sei, neben den bereits erwähnten Aufsätzen28, auf die differenzierten Studien zur Rede vom „Zorn Gottes“ von Ralf Miggelbrink29 und speziell zum Alten Testament von Jörg Jeremias30 verwiesen. Die Vorstellung, dass eine Gottheit nicht apathisch ist, sondern überhaupt „zürnen“ kann, ist in der Antike nicht von vorneherein vorausgesetzt.31 Sie hängt eng mit dem Glauben an den Gott Israels zusammen, zu dem sich Johannes der Täufer, Jesus und später dann auch Paulus bekannten. 32 Das Alte Testament legt nämlich ein stetiges Zeugnis davon ab, dass dem einen Gott seine Schöpfung nicht gleichgültig ist, sondern er Anteil an ihrem 28
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Ergänzend kann auch der entsprechende Teilartikel von J. Fichtner im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament herangezogen werden: Vgl. FICHTNER, Teilart. ὀργή B III. Der Zorn Gottes im AT, S. 395–410. Ebenso der WiBiLex-Artikel „Zorn (AT)“ von S. WÄLCHLI, online abrufbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/35502/ (Stand: 27.06.2020). MIGGELBRINK, Ralf: Der Zorn Gottes. Geschichte und Aktualität einer ungeliebten biblischen Tradition. Freiburg i. Br./Basel/Wien 2000 (hier Teil A der Analyse von S. 63– 225). JEREMIAS, Jörg: Der Zorn Gottes im Alten Testament. Das biblische Israel zwischen Verwerfung und Erwählung. (= BthSt 104). Neukirchen-Vluyn 2009 (besonders S. 15–195). Gerade in der griechischen Philosophie, beispielsweise bei Aristoteles und Platon, findet sich der Ansatz, die Leidenschaftslosigkeit (Apatheia) Gottes vorauszusetzen (vgl. diesbezüglich z. B. die kurze Zusammenfassung bei BIELER, Verletzliches Leben, S. 85–87; hier auch Verweis auf eine vertiefende Studie). Dieser Aspekt wird in den jeweiligen Teilkapiteln ausdifferenziert und weitergehend belegt.
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
Schicksal bzw. insbesondere auch an dem seines auserwählten Volkes nimmt. Diese Anteilnahme Gottes kann durch Erzählungen seiner liebenden Zuwendung zum Ausdruck gebracht werden,33 aber auch durch die Rede von seinem „Zorn“. Um dies zu verstehen, muss man sich zunächst den Charakter von biblischen Gottesaussagen als Beziehungsaussagen über das Verhältnis von Gott zur Welt sowie zur Geschichte bewusst machen. Dazu Erich Zenger: „Die biblische Gottesrede blendet die negativen Dimensionen von Welt und Geschichte nicht aus; sie stellt sich dem Bösen und den Bösen in der Welt – und konfrontiert damit die Welterfahrungen, die von einem guten Gott zeugen. Beide Aspekte dieser Welt- und Geschichtserfahrung spiegeln sich in der biblischen Gottesrede wider: Der ‚Gott der Liebe‘ darf deshalb nicht gegen den ‚Gott des Zorns‘ ausgespielt werden; der ‚Gott der Gerechtigkeit‘ steht spannungsreich neben dem ‚Gott der Barmherzigkeit‘.“34
Da die Verarbeitung der Welt- und Geschichtserfahrung vielschichtig ist, variieren auch die Bedeutungskontexte, in denen dann im Ersten Testament vom „Zorn Gottes“ gesprochen wird.35 Dabei sollte zunächst nicht verschwiegen werden, dass dieser als grauenvoll und maßlos wahrgenommen bzw. als Deutungsbegriff für ebensolche Erfahrungen herangezogen wird (vgl. Klgl 2,20–22).36 Einige Texte des Ersten Testaments geben, wie Johannes Fichtner zutreffend bemerkt, so mit Blick auf den Zorn JHWHs zu erkennen, dass man sich im Kern „einem irrationalen, letztlich nicht deutbaren Geschehen gegenübersah, das mit rätselhafter, geheimnisvoller Urgewalt hereinbricht“ 37. In der Gesamtschau wäre es jedoch zu reduziert, die Rede vom „Zorn Gottes“ ausschließlich als Deutungsansatz von Negativerfahrungen zu begreifen. Vielmehr wird im Alten Testament der Zorn oftmals dem Königtum und damit verbundenen Herrschaftsanspruch Gottes zugeordnet. Dies geschieht beispielsweise bereits zu Beginn im Kontext der Erzählung vom „Goldenen Kalb“ (vgl. Ex
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Als diesbezüglich interessante Studie sei genannt: VERWEYEN, Hansjürgen: Ist Gott die Liebe? Spurensuche in Bibel und Tradition. Regensburg 2014 (hier werden in jedem Oberkapitel entsprechende Glaubenszeugnisse des Ersten Testaments reflektiert). ZENGER, Das Erste Testament, S. 72 (Hervorhebungen im Original). Als zäsurhaftes Ereignis, das die Interpretation der Geschichte Israels unter dem Vorzeichen des „Zornes Gottes“ bedingte, wird dabei vor allem das babylonische Exil gesehen (vgl. LIMBECK, Zürnt Gott wirklich?, S. 54–56). Wie auch insgesamt die Studie von Jörg Jeremias verdeutlicht, wird vom „Zorn Gottes“ oftmals im „deutenden Rückblick“ (JEREMIAS, Der Zorn Gottes im Alten Testament, S. 77) geredet. Neben den bereits erwähnten größeren Studien siehe für einzelne Kontexte der Rede vom „Zorn Gottes“ noch TÜCK, Der Zorn – die andere Seite der Liebe Gottes, S. 388–392. Zu diesem und weiteren Beispielen siehe GROß, Keine Gerechtigkeit Gottes ohne Zorn Gottes, S. 21–24. FICHTNER, Teilart. ὀργή B III. Der Zorn Gottes im AT, S. 402, hier auch Verweisstellen (Hervorhebung im Original durch Sperrschrift, hier aus Gründen der Einheitlichkeit in Kursivschrift überführt).
2. Ursprünge der Rede vom „Zorn Gottes“
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32,10, insgesamt 32,1–14) – einer „Urszene des Gotteszornes“38 (Bernd Janowski) – als Israel durch die Schaffung eines materiellen, sichtbaren Götzen die lebenstragende Alleinherrschaft JHWHs in Frage stellt.39 Gottes Zorn wird also dann wirkmächtig, wenn das Bundesvolk Israel sich von ihm abwendet oder gegen seine Rechts- sowie Lebensordnung verstößt.40 Ausdruck gibt dem beispielsweise auch der Prophet Zefanja, wenn er den „Tag des Herrn“ als Tag des Zorngerichts ankündigt und dabei synkretistische Kultpraktiken oder soziale Verwerfungen anprangert (vgl. Zef 1,2–18).41 Die Propheten sind im Ersten Testament so oftmals exponierte Künder des „Zornes Gottes“,42 und als dessen tiefere Wurzel scheint (wie Johannes Fichtner es unnachahmlich formuliert) „Jahves verletzte heilige Liebe“43 auf.44 „Zorn“ und „Gerechtigkeit“ Gottes scheinen zwar nicht identisch zu sein, 45 sind aber (wie auch bereits bei dem Propheten Zefanja deutlich wird) eng aufeinander bezogen.46 Diese, mit dem „Zorn Gottes“ verbundene Frage nach Gottes Gerechtigkeit und Macht ist in entscheidender Weise nicht nur für Israel als Ge-
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So die Formulierung von JANOWSKI, Ein Gott, der straft und tötet?, S. 166. Der Ägyptologe Jan Assmann betont im Zusammenhang mit dieser Stelle, dass der Zorn bzw. die Zorneszuschreibung aus der durch den Bundesschluss übernommenen Königsrolle JHWHS erwächst: „Es ist der Zorn des Richters, der rettend eingreift, und der Zorn des Herrschers, der den abtrünnigen Vasallen trifft. Idolatrie und Unterdrückung rufen den Zorn Gottes hervor, und beides sind Verstöße gegen das mit Gott geschlossene Bündnis.“ (ASSMANN, Herrschaft und Heil, S. 54). – Ex 32,1–14 ist auch insofern interessant, als dass hier deutlich wird, wie der göttliche Zorn durch die Intervention Moses gestoppt werden kann, er also situationsbedingt aufkommt und das Erste Testament hierin ebengerade keine dauerhafte Wesensbeschreibung Gottes liefern will. Zur diesbezüglichen Erkenntnis und weitergehenden Analyse siehe Jörg JEREMIAS, Der Zorn Gottes im Alten Testament, S. 143–150; JANOWSKI, Ein Gott, der straft und tötet?, S. 166–169. Vgl. TÜCK, Der Zorn – die andere Seite der Liebe Gottes, S. 390, weiterführend FICHTNER, Teilart. ὀργή B III. Der Zorn Gottes im AT, S. 403–404. Hierauf verweist TÜCK, Der Zorn – die andere Seite der Liebe Gottes, S. 390. Vgl. hierzu vertiefend Jörg JEREMIAS, Der Zorn Gottes im Alten Testament, S. 77–120. FICHTNER, Teilart. ὀργή B III. Der Zorn Gottes im AT, S. 404 (Hervorhebung im Original durch Sperrschrift). Fichtner (ebd.) macht sehr zutreffend deutlich, dass die prophetische Verkündigung des „Zornes Gottes“ im Kern die Abwendung des erwählten Volkes von Gott (und damit von dessen sich im Bundesschluss dokumentierenden, liebenden Hinwendung) anklagt. Vgl. ebd., S. 409–410. W. Groß kommt in seiner Analyse der Aussagen des „Zornes Gottes“, ähnlich wie J. Assmann (siehe oben), zu dem Gesamtergebnis, dass die biblischen Autoren diesen seiner Gerechtigkeit zuordnen: „Gerechtigkeit kommt Gott in seiner königlichen Funktion zu, insofern er die Geschicke der Völker, speziell seines Volkes lenkt. Sein Zorn entbrennt dann, wenn sein gerechtes, Leben förderndes Welt- oder Israel-Regiment auf Widerstand stößt, und er zielt auf Vernichtung dieses Widerstandes.“ (GROß, Zorn Gottes – ein biblisches Theologumenon, S. 233).
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
samtheit bedeutsam, sondern wird auch vor dem Hintergrund des Einzelschicksals in den Psalmen thematisiert.47 So fordert zum Beispiel der Beter in Psalm 7 ein zorniges Gerichtshandeln Gottes (vgl. Ps 7,7) zur Errettung aus den Händen der Feinde als Ausdruck des leidenschaftlichen göttlichen Eintretens für Gerechtigkeit ein.48 Besitzen Zornesaussagen durchaus mitunter einen affektiven Charakter,49 ist beispielsweise in Psalm 7 doch dabei ebengerade nicht eine willkürliche Leidenschaft Gottes50 und insgesamt keine dauerhafte Wesenseigenschaft angesprochen51. Wie bereits diese kurzen Einblicke verdeutlichen, ist die Rede vom „Zorn Gottes“ für die Theologie des Alten Testaments nicht nebensächlich, sondern führt vielmehr ins Zentrum der Vorstellung eines Gottes, der in lebendiger Beziehung zu seiner Schöpfung, der Menschheit und insbesondere Israel steht. Im Kern ist immer die Frage nach dem göttlichen Heilshandeln und dabei vor allem nach der göttlichen Gerechtigkeit präsent. Es verwundert also nicht, dass in den bewegten Lebensumständen zur Zeit Jesu die Rede vom „Zorn Gottes“ bei Einzelnen eine ganz eigene Dynamik und Bedeutung entfalten konnte. Sie wussten sich dabei mit dem Zeugnis des Ersten Testaments verbunden und sahen sich vielleicht sogar in der Tradition entsprechender prophetischer Vorbilder. Dies gilt es nun weitergehend zu berücksichtigen, wenn im Nachfolgenden die Predigt Johannes des Täufers eingehend analysiert wird.
2.2
„Asketischer Zornesprophet vs. lebensbejahender Heilsprediger?“ – Zum Verhältnis von Johannes dem Täufer und Jesus
Muss man, wenn man nach dem historischen Jesus fragt, automatisch mit Johannes dem Täufer beginnen? Nicht zwangsläufig, andernfalls würde man sich 47 48 49
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Vgl. hierzu grundlegend Jörg JEREMIAS, Der Zorn Gottes im Alten Testament, S. 26–29. Vgl. ebd., S. 26–27. Dies betont zutreffend W. H ÄRLE, Die Rede von der Liebe und vom Zorn Gottes, S. 351. Er stellt hier heraus, dass „schon die Wurzeln der [hebräischen; C.W.] Hauptbegriffe für Zorn […] unmittelbar in den psychosomatischen Bereich der Affektäußerung [verweisen]: schnauben, brünstig sein, entbrennen, sich ereifern, ausbrechen, anfahren, toben, stürmen“. Zum weitergehenden Verständnis bemerkt B. Janowski: „Die Metapher des Zorns steht hier aber nicht für die Erwartung einer irrationalen Einzelaktion JHWHs, eines jähen, unkontrollierten Affekts Gottes, sondern für die Durchsetzung und Wahrung eines Wirkzusammenhangs, kraft dessen dem Bedrängten Gerechtigkeit widerfährt, und zwar gegen alle Infragestellung durch die Frevler.“ (JANOWSKI, Teilart. Richten und Retten II, S. 237). Vgl. hierzu vertiefend auch DIETZ, Biblische und systematisch-theologische Aspekte, S. 47 (These 5).
2. Ursprünge der Rede vom „Zorn Gottes“
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jedoch eine wichtige Chance nehmen, die Botschaft Jesu vor dem Hintergrund des Menschen zu begreifen, der ihn höchstwahrscheinlich nachhaltig geprägt hat. Bereits die Evangelien weisen an vielen Stellen auf eine besondere, tiefere Beziehung zwischen Jesus und Johannes hin,52 dementsprechend wird diese auch von der gegenwärtigen Exegese angenommen. Stellvertretend für viele ähnliche Auffassungen bemerkt der katholische Neutestamentler Josef Ernst: „Offenbar gab es da doch eine geistige und geistesgeschichtliche Verwandtschaft [zwischen Jesus und Johannes dem Täufer; C.W.], die tiefer reicht als eine bloß zeitlich-räumliche Nähe oder das gleiche soziologische Umfeld der breit gefächerten jüdischen Reformbewegungen. Um es einmal überspitzt zu formulieren: Man kann Jesus und seine Verkündigung nicht ohne Johannes den Täufer verstehen. Darf man auch umgekehrt sagen: Johannes der Täufer bleibt als religiöse Erscheinung rätselhaft ohne Jesus von Nazaret?“ 53
Auch wenn man nicht so weit gehen muss, Johannes den Täufer als Lehrer Jesu anzusehen54, ist eine Auseinandersetzung mit seiner Botschaft hilfreich, um sich Jesu Gottesvorstellungen anzunähern und ihr besonderes Profil hervortreten zu lassen. Dies ist für das vorliegende Thema umso entscheidender, als Johannes im Zeugnis der Evangelien selbst die Verkündigung vom kommenden „Zorn Gottes“ ins Zentrum seiner Predigt stellte. Insofern soll es nun zunächst darum gehen, seine Botschaft nachzuvollziehen, um anschließend ihren Einfluss auf die Verkündigung Jesu zu ermessen.
2.2.1
„Der Zorn Gottes“ – die Verkündigung Johannes des Täufers
Im Kontext eines historischen Zugriffs auf Johannes den Täufer ist man zunächst mit dem für die Antike nicht untypischen Problem konfrontiert, dass er dem heutigen Betrachter im Fremd- und nicht im Selbstzeugnis begegnet. Insofern gilt es auch hier zunächst Möglichkeiten und Grenzen einer historischen Rückfrage zu ermessen. Dies bedeutet im Sinne des historischen Arbeitens und Denkens, die „Quellenlage“ einzuschätzen.
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Als eine der markantesten Stellen sei hier an die Taufe Jesus durch Johannes erinnert (vgl. z. B. Mk 1,9–11). ERNST, Johannes der Täufer – der Lehrer Jesu?, S. 8. Diese Position wird in der heutigen exegetischen Forschung mehrheitlich vertreten: Vgl. exemplarisch THEIßEN /MERZ, Der historische Jesus, S. 184–198; ebenso grundlegend BECKER, Jesus von Nazaret, S. 37–99. – Für Kritik an entsprechenden als hypothetisch angesehenen Überlegungen vgl. BERGER, Die Bibelfälscher, S. 27–33.
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
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2.2.1.1 Quellenlage Als wichtigste Grundlage zur Erhellung des Wirkens Johannes des Täufers dienen die urchristlichen Quellen, allen voran die kanonischen Evangelien mit den in ihnen enthaltenen Traditionsströmen.55 Diese besitzen jedoch kein neutrales Informationsinteresse, sondern verfolgen vielmehr eine gezielte Überlieferungsabsicht, indem sie ausgehend vom Glauben an Jesus Christus die Bedeutung des Täufers reflektieren.56 Von einem solchen christologischen Interesse unbeeinflusst, bezieht sich hingegen auch der jüdische Historiker Flavius Josephus auf Johannes den Täufer bzw. die Ereignisse, die zu seiner politisch motivierten Hinrichtung durch Herodes Antipas geführt haben (vgl. Antiquitates Judaicae, Buch 18, Kap. 5,2 bzw. 116– 119).57 Interessanterweise findet sich in der von Josephus nur schemenhaft skizzierten „Täuferpredigt“ (vgl. Ant. 18, Kap. 5,2 bzw. 117–118) keinerlei Bezugnahme auf den „Zorn Gottes“. Vielmehr tritt (anders als in den urchristlichen Quellen) ihre eschatologische Dimension zugunsten einer vom Vollkommenheitsideal geleiteten Forderung nach zwischenmenschlicher Gerechtigkeit und einem damit verbundenem frommen, also von Aufrichtigkeit geprägten Lebenswandel in der Beziehung zu Gott zurück.58 Für die Fragestellung der vorliegenden Studie ergibt sich also bereits zu Beginn die Überlegung, welche dieser Überlieferungsbestände man als glaubwürdiger einschätzt, da sich im letzteren Falle eine tiefergehende Beschäftigung mit Johannes dem Täufer und seiner Beziehung zu Jesus erübrigt. Dabei gibt die exegetische Forschung den Überlieferungsbeständen der Evangelien den Vorzug. Mehrheitlich geht man nämlich davon aus, dass Flavius Josephus im Hinblick auf seinen römischen Adressatenkreis darum bestrebt war, „Johannes mit wenigen Schlagworten als hellenistischen Tugendlehrer [zu zeichnen,] entsprechend seiner Gewohnheit, jüdische Gruppen in Analogie zu hellenistischen Philosophenschulen darzustellen“ 59. Es lässt sich sogar vermuten, dass Johannes durch Josephus` adressatenorientierte Glättung, die ihn jedweder politischen Anstößigkeit beraubt, bewusst verharmlost wird.60 55
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Für eine gute Übersicht über entsprechende Stellen siehe BÖTTRICH, Art. Johannes der Täufer, 2. (S. 1–2 in der PDF-Version), online abrufbar unter: http://www.bibel wissenschaft.de/stichwort/51874/ (Stand: 25.6.2020). Vgl. THEIßEN/MERZ, Der historische Jesus, S. 184–185; für eine differenzierte Beschreibung der „Täuferbilder“ der Evangelien siehe U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer, S. 100–197. Vgl. THEIßEN/MERZ, Der historische Jesus, S. 185. Für die Stelle in deutscher Übersetzung siehe Flavius Josephus, Jüdische Altertümer 18, Kap. 5.2 bzw. 116–119 (CLEMENTZ, S. 832). Dies wird sehr anschaulich in einer tabellarischen Gegenüberstellung des entsprechenden Quellenbestandes herausgearbeitet bei THEIßEN /MERZ, Der historische Jesus, S. 187. Ebd. Vgl. zu dieser These weiterführend die nachvollziehbare Erläuterung bei ERNST, Johannes der Täufer – der Lehrer Jesu?, S. 118–119 sowie die nachfolgenden Überlegungen.
2. Ursprünge der Rede vom „Zorn Gottes“
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Martin Ebner weist in diesem Zusammenhang zudem zutreffend auf einen inneren Bruch in der Erzähllogik bei Josephus hin, nämlich dass das geschilderte Auftreten Johannes des Täufers als „hellenistischer Tugendlehrer“ das prophylaktische Eingreifen von Herodes Antipas nicht ohne Weiteres schlüssig erklären kann.61 Anders als bei einer die bestehenden Herrschaftsverhältnisse radikal in Frage stellenden eschatologisch-apokalyptischen Botschaft, bleibt hierbei nämlich offen, worin dann die fundamentale politische Provokation Johannes des Täufers gelegen haben soll. 62 Für die vorliegende Studie ergibt sich hieraus, dass die Darstellung der Botschaft des Johannes in der urchristlichen Überlieferung als historisch plausibler eingeschätzt werden kann und daher die Grundlage der weiteren Analyse bildet.
2.2.1.2 Auftreten und Wirkungsstätte von Johannes dem Täufer Bevor die Botschaft des Johannes vertiefend herausgearbeitet und gedeutet wird, ist es überdies zielführend, einen kurzen Blick auf seinen Lebensstil und den Ort seines Wirkens zu werfen. Diese sind nämlich, wie sich zeigen wird, zeichenhaft und symbolisch codiert und verdeutlichen somit eine Tiefendimension seiner Botschaft. Eine für den Evangelisten ungewöhnliche63 und ohne weitergehende Absicht verfasste Bemerkung zum Erscheinungsbild Johannes des Täufers findet sich bereits zu Beginn des Markusevangeliums: „Und (es) war Johannes angezogen mit Haaren vom Kamel und einem ledernen Gürtel um seine Hüfte und essend Heuschrecken und wilden Honig.“ 64 (Mk 1,6)
Dieses Auftreten und vor allem seine hier angedeutete asketische Lebensweise weckten anscheinend bereits bei Zeitgenossen mitunter den wenig schmeichelhaften Eindruck, der Täufer sei von den Dämonen besessen (vgl. Mt 11,18 par. Lk 7,33). Gleichzeitig eröffnete es den für seine Botschaft Aufnahmebereiten aber mit Blick auf das Erste Testament auch zahlreiche typologische Bezugsmöglichkeiten, wie zum Beispiel mit dem Verweis auf das Prophetengewand (vgl. Sach 13,4) oder Assoziationen zum Propheten Elija (vgl. 2 Kön 1,8).65 Womöglich wird Johannes, der sich als Künder Gottes begriff, sich selbst Elija zum Vorbild genommen haben, ohne dass jedoch zu klären ist, wie weit seine Identifikation
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„Allerdings verwundert es in der Darstellung des Josephus sehr, wie ein hellenistischer Tugendlehrer derart politisch provozieren und seinen Landesherren zum Einschreiten bewegen kann.“ (EBNER, Jesus von Nazaret in seiner Zeit, S. 88–89). Mit ebd. Hierauf verweist U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer, S. 23. Übersetzung des MÜNCHENER N EUEN TESTAMENTS (→ MNT). Vgl. ERNST, Teilart. Johannes, biblische Personen. 3) Johannes der Täufer, Sp. 873; U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer, S. 23–24.
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
mit diesem ging.66 Die Wahl der Kleidung und Nahrung der Beduinen wie auch der Wüste als Ort seines Wirkens (vgl. z. B. Mk 1,4; Lk 7,24; Mt 11,7) konnte darüber hinaus von Zeitgenossen vor allem auch „als bewusste eschatologische Demonstration“67 interpretiert werden. So deckte sich, wie Ulrich B. Müller zutreffend bemerkt, Johannes Auftreten, mit dem er sich deutlich vom Leben der Bewohner im Kulturland abgrenzte, mit seiner Umkehrbotschaft. Folgt man dieser Ansicht Müllers weitergehend, war die hierin enthaltene Abkehr vom Bestehenden vielleicht sogar eine symbolische Kritik an einer im Glauben an die Erwählung durch Gott wurzelnden, falschen Heilsgewissheit Israels, ja letztlich an der momentan geltenden Kult- und Lebensordnung.68 Die konkreten Orte des Wirkens des Täufers und vor allem der Tauftätigkeit im Jordan (vgl. Mk 1,5–9; Mt 3,6; Lk 3,3; Joh 1,28) bleiben dabei jedoch letztlich nur schwer lokalisierbar.69 Insofern erscheint der Versuch, eine Stelle gegenüber von Jericho, an der Josua das Volk Israel ins Heilige Land geführt hat (vgl. Jos 4,13.19), als konkrete Wirkungsstätte zu benennen 70, symbolisch reizvoll71, aufgrund fehlender konkreter Angaben historisch aber eher fraglich. Wenn somit entsprechend weitreichende Deutungsweisen relativiert werden müssen, trifft es jedoch im Sinne des bisher Gesagten zu, dass es sich bei der Wüste um eine sehr gezielte, im Zeichen der religiösen Identität Israels höchst bedeutungsvolle Ortswahl handelte. Hierzu bemerkt Josef Ernst sehr akzentuiert: „Weil die herkömmlichen Formen der jüdischen Religion für Johannes leer und sinnlos geworden sind, müssen neue her. Man erfährt die Gegenwart Gottes nicht im Heiligtum in Jerusalem, sondern in der Wüste. Gott ist von jetzt an mit seinem Volk wie damals beim Exodus aus der Knechtschaft in Ägypten, jetzt aber nicht in der Wolke und in der Feuersäule, sondern in der angekündigten ‚Taufe mit Feuer‘. Die Gotteserfahrungen des Propheten Elija auf dem Weg zum Horeb (1 Kön 19,4–8) bekommen in der Predigt des Johannes in der Wüste einen neuen Sinn. Von diesem toten Bezirk geht auch jetzt Leben aus. Im Hinhören auf die Botschaft des Johannes mit ihrer her-
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Vgl. hierzu auch die Abwägung bei ERNST, Johannes der Täufer – der Lehrer Jesu?, S. 102– 103. U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer, S. 25. Vgl. hierzu ebd., S. 24–25. – Zur weitergehenden Begründung siehe die nachfolgenden Ausführungen. Für eine Übersicht über die verschiedenen Zeugnisse der Evangelien vgl. BÖTTRICH, Art. Johannes der Täufer, 3.3. (S. 5–7 in der PDF-Version), online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/51874/ (Stand: 25.6.2020). Vgl. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, S. 296–297. Hierzu H. Stegemann: „In einer Art symbolischer, prophetischer Zeichenhandlung setzte Johannes somit das Volk Israel vor dem Übergang zur künftigen Heilszeit in Entsprechung zu jener Wüstengeneration Israels, der zwar das Heil bereits verheißen war, deren Mitglieder aber erst zugrunde gehen mußten, bevor ihre Kinder das Heilsziel erreichen durften.“ (ebd., S. 297; Hervorhebungen im Original).
2. Ursprünge der Rede vom „Zorn Gottes“
37
ben Kritik an den Ruhmestiteln des Volkes zeigt sich ein Bruch, der auch in der äußeren Abkehr von Jerusalem, dem Tempel und dem Kult sichtbar wird. […] Johannes hat alles hinter sich gelassen, um im Rückblick auf die Anfänge der Wüstenzeit des Volkes ganz neu zu beginnen.“ 72
Es zeigt sich also, dass der Lebensstil des Johannes nicht zufällig gewählt, sondern „integrativer Bestandteil“ 73 seiner Verkündigung war und ihre tiefergehende Heilsbedeutung zeichenhaft verdeutlichen sollte. Symbolisch verdichtete sich dies in dem von ihm praktizierten Taufakt, dessen Bedeutung aber erst vor dem Hintergrund seiner Botschaft vollends skizziert werden kann.
2.2.1.3 „Johannes und der Zorn Gottes“ – Zum Kernbestand einer radikalen Botschaft Die Verkündigung Johannes des Täufers kann aus der Logienquelle, die zwei Einzelüberlieferungen zusammengefügt hat (vgl. Mt 3,7–10/3,11–3,12 bzw. Lk 3,7– 9/3,11–12), rekonstruiert werden. Die exegetische Forschung geht, wie bereits erwähnt, davon aus, dass trotz des christlichen Traditionsprozesses hier die Botschaft des Johannes weitgehend authentisch überliefert wurde,74 wobei jedoch der Bestand der zweiten Einzelüberlieferung kontrovers diskutiert wird.75 Der ursprüngliche Text der ersten Verkündigung Johannes des Täufers lautete wahrscheinlich76: 1a b 2a b 72 73 74
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„Schlangenbrut, wer lehrte euch77, dem kommenden Zorn78 zu entfliehen? Bringt also der Umkehr entsprechende Frucht! Und wähnt nicht, euch sagen zu dürfen 79:
ERNST, Johannes der Täufer – der Lehrer Jesu?, S. 91–92. Vgl. ebd., S. 92. – Ernst bezieht sich hierbei zunächst nur auf die Ortswahl. Vgl. hierzu exemplarisch REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 156–157; BECKER, Jesus von Nazaret, S. 40–41; U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer, S. 26; MERKLEIN, Die Umkehrpredigt, S. 110–112 (hier auch weitere Verweise). Siehe hierzu auch die weiteren Ausführungen sowie grundlegend die Überlegungen bei BECKER, Jesus von Nazaret, S. 52–56. Textrekonstruktion nach HOFFMANN /HEIL (Hrsg.), Die Spruchquelle Q, S. 32–33. – Die Gliederung und Unterstreichung erfolgt in Anschluss an BECKER, Jesus von Nazaret, S. 40, weitere Teilaspekte wurden durch mich kursiv hervorgehoben. Die nachfolgende, an Becker (siehe oben) angelehnte Übersetzung, weicht mitunter von der Übersetzung Hoffmanns, Dörings und Heils ab. Insgesamt sei diesbezüglich auf die nachfolgenden Erläuterungen verwiesen. Eine in Bezug auf das Anliegen des Johannes akzentuiertere Übersetzung lautet: „Wer hat euch in Aussicht gestellt […].“ (HOFFMANN /HEIL [Hrsg.], Die Spruchquelle Q, S. 33). Der griechische Begriff „ὀργή“ besitzt auch weitergehend die Bedeutung „Strafgericht“, wodurch der thematische Kontext verdeutlicht wird. Ergänzend ist deswegen auch die erweiterte Übersetzung mit „Zorn(gericht)“ möglich (so ebd., S. 33). Dies passt, wie sich im Weiteren zeigen wird, zu der Bedeutung des hier eröffneten Motivrahmens. So die pointierte Übersetzung F. STIERS.
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
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‚Zum Vater haben wir den Abraham!‘ Denn ich sage euch: Es kann Gott aus diesen Steinen dem Abraham Kinder erwecken! Schon aber ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt. Jeder Baum keine gute Frucht bringend80, wird herausgehauen 81 und ins Feuer geworfen.“
Wie bereits die hier gewählte Anordnung verdeutlicht, sind diese kurzen Aussagen mit Blick auf ihre theologischen Implikationen höchst verdichtet formuliert und dementsprechend mit weitreichender Bedeutung aufgeladen: Durch eine aggressiv-konfrontative Eröffnung (vgl. 1a) wird seinen Zuhörern zunächst ungeschönt, im Motiv des Zornes verdichtet, ihre bedrohliche heilsgeschichtliche Ausgangssituation vor Augen geführt (vgl. 1b). Es folgt der positiv gefasste Umkehrruf (vgl. 2a), dem negativ und warnend die zwecklose Berufung auf die „Abrahamkindschaft“ bzw. die hierin vermutete schützende Erwählungs- und Heilsoption gegenübergestellt wird (2b–3b), um abschließend die Unmittelbarkeit des drohenden Gerichts sowie die Folgen fehlender Umkehr in drastischen Bildern auszumalen (vgl. 4a–c).82 Auffällig ist, dass jeweils die Signalworte „Zorn“ – „Frucht“ – „Abraham“ in fast umgekehrter Folge „Abraham“ – „Frucht“ – „Feuer“83 wieder aufgenommen werden.84 Das Bild des unmittelbar drohenden göttlichen Zorns und seiner Folgen rahmt so die gesamte Predigt ein, in deren Mitte die unumgehbare Forderung nach Neuorientierung entfaltet wird. Gegenwart und Zukunft erscheinen hier so eng aufeinander bezogen zu sein (4a: „Schon aber ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt.“), dass für den Angesprochenen nur noch wenig Spielraum verbleibt, „das einzig Sinnvolle, das er noch tun kann, ist, sich auf diese bedrohlich nahe und selbst bedrohliche Zukunft einzulassen, sich [ganz; C.W.] von ihr bestimmen zu lassen“ 85. Gerade hierdurch führt Johannes seinen Zuhörern mit großer Eindringlichkeit vor Augen, dass es im Zeichen des drohenden und endgültigen Gerichts Gottes keinen anderen Ausweg als die unmittelbare und fundamentale Umkehr geben kann.86 80
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Aufgrund des im griechischen Text verwendeten Partizips betont U. B. Müller, dass diese Aussage konditional, im Sinne von: „Wenn ein Baum keine gute Frucht bringt, dann […]“ aufgefasst werden müsse (vgl. MÜLLER, Johannes der Täufer, S. 26). Die sich hieraus ergebende Forschungskontroverse wird im Rahmen dieses Kapitels skizziert und beurteilt. Auch wenn man eher Steine aus einem Felsen heraushaut, verdeutlicht diese Wortwahl F. STIERS anschaulicher, wie radikal und drastisch Gott im Falle einer fehlenden Umkehr wirken wird. Vgl. zur Gliederung auch U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer, S. 26; BECKER, Jesus von Nazaret, S. 41. Wie die weiteren Ausführungen zeigen werden, hängen das Feuer- und Zornmotiv eng zusammen. So zutreffend BECKER, Jesus von Nazaret, S. 41. MERKLEIN, Die Umkehrpredigt, S. 114. Das erkennt zutreffend ebd.
2. Ursprünge der Rede vom „Zorn Gottes“
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Die eröffnende Bezugnahme auf den „kommenden Zorn“ ist in diesem Zusammenhang nicht nur ein signalhafter Auftakt, sondern eine Art Schlüsselwort, auf dessen Grundlage sich die gesamte Verkündigung konstituiert und auf das sie verweist. Hierzu Jürgen Becker sehr prägnant: „Dies ist offenkundig sein entscheidendes Stichwort, zu dem hin wie bei einem Magneten alles andere ausgerichtet wird. Oder anders gewendet: Dieses Zentralwort zu entfalten, sieht der Täufer als seine entscheidende Aufgabe an. Damit steht er in prophetischer Tradition, haben doch auch Israels Propheten nicht ganz selten Leitworte für ihre Verkündigung gewählt.“ 87
Dieses von Johannes dem Täufer gewählte Motiv ist nicht neu, sondern adaptiert vielmehr die alttestamentliche Gerichtseschatologie bzw. die prophetische Tradition des „Tags Jahwes“, der bei Ezechiel und Zefanja auch analog als „Tag des Zorns Jahwes“ (vgl. Ez 7,19; Zef 1,18) bezeichnet wird.88 Hiermit können dann Vorstellungen eines punktuellen Gerichts gegen Israel bis hin zu der universalisierten Perspektive eines Weltgerichts, von dem dann auch die anderen Völker betroffen sind, verbunden werden.89 Interessanterweise findet sich im Zusammenhang mit dieser Vorstellung vom „Tag Jahwes“ auch das Motiv des Feuers bzw. Verbrennens der Gottlosen (vgl. besonders das Bild des Ofens bei Mal 3,19).90 Für das Verständnis der vorliegenden Verkündigung des Johannes ist somit entscheidend, dass er den „kommenden Zorn“ Gottes im Kontext einer eschatologischen Gerichtsvorstellung begreift.91 Das für den Täufer typische, radikale Bild des Feuers bzw. Verbrennens, das auch weitere Teile seiner Predigt bestimmt92, verweist in diesem Zusammenhang auf den Charakter dieses Gerichts als „Vernichtungsgericht“. 93 87
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BECKER, Jesus von Nazaret, S. 41. Als weitere Beispiele führt J. Becker nachfolgend in der Fußnote 3 z. B. den Propheten Zefanja mit dem Zentralwort „der Tag Jahwes“ (Zef 1,14) an. Vgl. U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer, S. 28; grundlegend R EISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 158; BECKER, Jesus von Nazaret, S. 44. Vgl. hierzu vertiefend den Überblick bei BECK, Art. Tag Jahwes (AT), 3. (S. 4–9 in der PDFVersion), online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/32258/ (Stand: 25.6.2020); weiterführend auch: Jörg JEREMIAS, Der Zorn Gottes im Alten Testament, S. 112–120. Vgl. REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 159–160; ebenso U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer, S. 29. Vgl. hierzu auch weiterführend die Zusammenfassung der exegetischen Analyse bei REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 180–182. Siehe hierzu das nachfolgende Kapitel, vor allem das Bild der „Feuertaufe“. So maßgeblich BECKER, Jesus von Nazaret, S. 43 (hier auch eine tiefergehende Erläuterung); weiterhin WOLTER, „Gericht“ und „Heil“, S. 43 (hier auch Verweis auf weitere Autoren). Als andere im damaligen kulturellen Kontext denkbare Gerichtsart wäre, wie beide Autoren herausstellen, ein „forensisches Gerichtsverfahren“ denkbar (vgl. z. B. Joel 4,2.14).
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
Dieser Begriff, besonders die bedrohliche Rede von „Vernichtung“ mag aus unserer heutigen Vorstellungswelt, maßgeblich aufgrund der Schrecken des 20. Jahrhunderts, zu Recht irritieren. Wichtig ist jedoch, dass im damaligen Verständnishorizont, so auch bei Johannes, das Gericht immer als konstitutiver Teil göttlichen Heilshandelns gesehen wird.94 Gericht und Heil stehen somit nicht im Widerspruch zueinander, sondern bilden eine unaufhebbare Einheit, wie Michael Wolter zutreffend herausstellt: „Gericht und Heil stehen vielmehr immer auf ein und derselben Seite: Die Vernichtung und Verurteilung der Sünder, das Unheil, das Gottes Gericht über die Frevler und Gottlosen bringt, ist vor allem aber auch darum nichts anderes als ein Heilsgeschehen, weil es die Verlorenheit des Heilsvolkes und der Gerechten in Heil transformiert. Der Richter handelt als Retter und umgekehrt; das Richten und das Retten Gottes sind ‚Korrelate‘ ein und desselben Handelns Gottes. Das Gericht […] ist der Vorgang, mit dem Gott seine heilvolle Schöpfungsordnung eschatisch aufrichtet und sie gegen alles ihr Entgegenstehende durchsetzt: Gottes Gerichtshandeln ist Heilshandeln.“95
Johannes dachte womöglich weniger an katastrophale kosmische Ereignisse, die dieses Geschehen begleiten, 96 steht doch in seiner Predigt vielmehr das Schicksal des zeitgenössischen Israel im Zentrum, dem seine volle Sorge galt. 97 In der exegetischen Forschung wird diesbezüglich kontrovers beurteilt, ob Johannes dieses Gericht „apodiktisch“ ansagt, dieses also als eine unabwendbare Zukunft begreift,98 oder vielmehr die Umkehrmöglichkeit fokussiert und seine Verkündigung damit den „Charakter bedingter Gerichtspredigt“ aufweist99. Hiermit geht einher, ob man Johannes den Täufer beispielsweise eher in den
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Dies verdeutlicht besonders WOLTER, „Gericht“ und „Heil“, S. 42–43. Ebd., S. 43 (Hervorhebungen im Original). M. Wolter spricht sich, unter Bezugnahme auf B. Janowski und A. Weiser (siehe Fußnote 51 im Original), insgesamt überzeugend gegen den konstruierten und in Bezug auf die damalige Vorstellungswelt anachronischen Antagonismus von „Gericht“ und „Heil“ bzw. „Unheil“ aus (vgl. besonders ebd., S. 42–44). Diesbezüglich bemerkte bereits zuvor M. Reiser zutreffend: „Das Heil der Gerechten (bzw. Israels) ist das Ziel des Gerichts. Dieser Satz gilt wie für die gesamte frühjüdische Eschatologie[,] so auch für den Täufer. Und so haben Matthäus und Lukas nicht ganz zu Unrecht den Täufer eine ‚Frohbotschaft‘ und die Nähe des Gottesreichs verkünden lassen […].“ (REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 182; vgl. weiterhin S. 174–175). Insofern greift es auch zu kurz, wenn H. Merklein bemerkt: „Es geht um die Zukunft, und zwar um eine durchweg negativ qualifizierte Zukunft. Was kommt, ist der ‚Zorn‘, also ein furchtbares Strafgericht Gottes.“ (MERKLEIN, Die Umkehrpredigt, S. 113). Vgl. BECKER, Jesus von Nazaret, 43–44. Vgl. ebd. S. 41 sowie vertiefend S. 45–52. Vgl. hierzu vor allem MERKLEIN, Die Umkehrpredigt, S. 113; BECKER, Jesus von Nazaret, S. 41–42. So vor allem U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer, S. 28 (hier auch wörtliches Zitat; grundlegend auch S. 26–28). Trotz der hier vollzogenen Abgrenzung der Position Beckers werden die zentralen Unterschiede der hier begründeten Position nur begrenzt deutlich.
2. Ursprünge der Rede vom „Zorn Gottes“
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Kontext „israelitischer und frühjüdischer Gerichtsprophetie“100, oder den „der Tradition deuteronomistischer Umkehrpredigt“101 einordnet. Wie bereits aufgezeigt werden konnte, griff Johannes verschiedene Versatzstücke aus der Tradition des Ersten Testaments auf, aufgrund seines ganz eigenen Profils war es sicherlich aber bereits für Zeitgenossen nicht leicht, ihn in ein bestimmtes Muster einzuordnen. So interessant die oben skizzierte theoretische Kontroverse auch ist, sollte sie mit Blick auf die Ergründung seines pragmatisch-kommunikativen Anliegens, das gerade darauf abzielt, bestehende Denkmuster zu durchbrechen, in den Hintergrund treten. Über allem steht nämlich sein Ruf zur Umkehr, mit dem er seine noch unentschlossenen Zuhörer durch den Verweis auf den „kommenden Zorn [Gottes]“ in ihrer gegenwärtigen Lebensausrichtung fundamental irritiert und dabei in eine allesbedeutende Entscheidungssituation bringt. 102 Dabei zielt er auf eine so grundlegende existenzielle Verunsicherung ab, dass er mit der Berufung auf die Erwählungstradition Israels und der in ihr enthaltenen Gewissheit fortdauernden göttlichen Erbarmens bricht (2bc: „Und wähnt nicht, euch sagen zu dürfen: ‚Zum Vater haben wir den Abraham!“).103 Zur Veranschaulichung seiner Umkehrforderung greift Johannes ein in der jüdischen Paränese geläufiges Bild von Baum und Frucht auf, um auf die Entscheidungsfreiheit des Menschen und die damit verbundene Handlungsverpflichtung zu verweisen.104 Dabei bleibt jedoch die Antwort darauf, wie diese „gute Frucht“ der Umkehr bzw. die eschatologische Neuorientierung konkret aussehen soll, seltsam unbestimmt. Sie schließt sicherlich zunächst die Anerkenntnis der eigenen heilsgeschichtlichen Ausgangssituation, des drohenden „Zornes Gottes“ und seiner Berechtigung, ein.105 Geht sie im Zeichen der Naherwartung des kommenden Gerichts im Empfang der durch Johannes gespendeten
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BECKER, Jesus von Nazaret, S. 57, grundlegend S. 56–58. U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer, S. 27; grundlegend S. 26–28. Hierauf verweist WOLTER, „Gericht“ und „Heil“, S. 56. M. Wolter unterscheidet im Rahmen seiner Typisierung verschiedene „pragmatische Situationen“, denen die Gerichtsaussagen von Jesus sowie Johannes zugeordnet werden können und die dementsprechend eine unterschiedliche Funktion gewinnen. Die vorliegende Überlieferung ordnet er hierbei dem Bereich „Johannes/Jesus und die noch indifferente Öffentlichkeit“ (vgl. ebd., S. 56– 57) zu, ein anderer Bereich ist für ihn „Johannes/Jesus und ihr jeweiliger Jüngerkreis“ (vgl. ebd., S. 57–60). Vgl. hierzu grundlegend die Analyse bei BECKER, Jesus von Nazaret, S. 45–49. J. Becker charakterisiert den „Verweis auf die Erwählungstraditionen“ als den „genuin israeltischfrühjüdische[n] Weg, um sich nach einem Fehlverhalten erneut der göttlichen Gnade zu vergewissern“ (ebd. S. 47). Vor diesem Hintergrund wird noch deutlicher, wie fundamental Johannes im Sinne seiner Botschaft mit bestehenden Vorstellungen der Heilsvergewisserung bricht, um eine radikale Neuorientierung zu bewirken. So ERNST, Johannes der Täufer – der Lehrer Jesu?, S. 78. Vgl. auch MERKLEIN, Die Umkehrpredigt, S. 116.
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
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Taufe auf, 106 oder verlangt sie vielmehr auch eine nachfolgende Neuausrichtung des eigenen Handelns, wie beispielsweise durch die Befolgung der Tora107? Letztlich wird man aufgrund des Quellenbestandes keine sichere Antwort auf diese Frage erlangen. Grundsätzlich schließt jedoch auch der Empfang der Taufe ein, dass man sein altes Leben hinter sich lässt, was zumindest auch einen Neuanfang im Handeln impliziert.108 Dass Johannes gerade auch sein Wirken mit lebensorientierenden Weisungen verband, deutet sich auch in den Evangelien an (vgl. die Kritik an der Heirat des Herodes Antipas in Mk 6,17–18). Während diese sich jedoch historisch nicht mehr rekonstruieren lassen, kann das Profil der Taufe durch Johannes mit Blick auf seine Botschaft weitergehend geschärft werden.
2.2.1.4 Wer ist der „Kommende“? –Zum weiteren Bestand der Täuferbotschaft Die weitere Botschaft Johannes des Täufers ist deutlich schwerer zu rekonstruieren, da der Text, neben den oben angesprochenen Teilen der Logienquelle auch bei Markus (vgl. Mk 1,7–8) überliefert ist. Hinzu kommt, dass eine nachträgliche christliche Bearbeitung angenommen werden kann.109 Als wahrscheinliche Rekonstruktion dieser „Johannesworte“ ergibt sich nach Jürgen Becker110: 1a b c 2a b 3a b c
„Ich taufe euch mit Wasser, der nach mir Kommende jedoch ist stärker als ich, für ihn bin ich zu gering, die Sandalen zu lösen. Er wird euch mit [heiligem Geist und] Feuer taufen; in seiner Hand liegt (schon) die Worfschaufel. Und er wird seine Tenne säubern. Und er wird seinen Weizen in der Scheune sammeln, die Spreu aber wird er im unauslöschlichen Feuer verbrennen.“
Auch hier zeigt sich wiederum das für Johannes typische Bild des Feuers, um das vernichtende göttliche Gerichtshandeln zu verdeutlichen (vgl. besonders 3c). Neu ist vor allem die Gegenüberstellung dieses Bildes mit der von Johannes
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So ebd., S. 116–118. In diese Richtung tendiert beispielsweise BECKER, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth, S. 63–64; ebenso EBNER, Jesus von Nazaret in seiner Zeit, S. 84. Letzteres deutet auch die Darstellung der Lehre Johannes des Täufers bei Flavius Josephus an: Vgl. Flavius Josephus, Jüdische Altertümer 18, Kap. 5.2 bzw. 117–118 (CLEMENTZ, S. 832). Vgl. BECKER, Jesus von Nazaret, S. 52; U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer, S. 33. Rekonstruktion, Übersetzung und Hervorhebungen übernommen von BECKER, Jesus von Nazaret, S. 52; eine sehr ähnliche Rekonstruktion findet sich bei REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 154–156.
2. Ursprünge der Rede vom „Zorn Gottes“
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gespendeten Wassertaufe111, deren Empfang die einzige Möglichkeit ist, im Gerichtszorn bzw. der hiermit verbundenen Feuertaufe zu bestehen. 112 Die eben angesprochene Fundamentalität und Unmittelbarkeit der geforderten Entscheidungssituation wird hier vor allem durch die in der Bildmetaphorik angesprochenen Vorgänge verdeutlicht. Martin Ebner betont diesbezüglich, dass sich im aktuellen Moment der Verkündigung mit der Entscheidung für oder gegen die von Johannes geforderte Umkehr bereits die Trennung von Spreu und Weizen vollzieht. Der angekündigte „Kommende“ würde demnach lediglich die Tenne mithilfe der für den Aufräumvorgang notwendigen Worfschaufel reinigen, das heißt übertragen, die hier getroffene Entscheidung positiv oder negativ bestätigen.113 Für die Frage, wer dieser Angekündigte ist, bestehen zwei denkbare Möglichkeiten. Entweder verweist das Motiv „des Kommens“ direkt auf Gott bzw. seine Wiederkehr zum Gericht (vgl. auch Jes 66,15–16; Sach 14,5; Ps 50,3 etc.)114 oder, aufgrund der für das Frühjudentum wenig geläufigen Anthropomorphismen (1c: „für ihn bin ich zu gering, seine Sandalen zu lösen.“), auf eine Mittlergestalt. Hier käme dann die Gestalt des Menschensohnes in Frage.115 Letztlich ist dieser Aspekt aber auch nicht entscheidend, da auch der Repräsentant nicht eigenmächtig, sondern in Verkörperung der Autorität Gottes fungiert. Insofern wird eindeutig auf das Gerichtshandeln Gottes, seinen „kommenden Zorn“ verwiesen.116
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Auch der Charakter der „Johannestaufe“ wird in der Forschung, beispielsweise in Bezug auf religionsgeschichtliche Parallelen und das sich hierin manifestierende Selbstverständnis des Täufers, unterschiedlich beurteilt. Da die Einzeldiskussion im Rahmen dieser Arbeit zu weit führt, sei hier auf die Zusammenfassung und Analyse bei U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer, S. 38–44 verwiesen. „Wie Wasser das Feuer bändigt, so löscht die Taufe den Gerichtszorn.“ (BECKER, Jesus von Nazaret, S. 53). Vgl. EBNER, Jesus von Nazaret in seiner Zeit, S. 84. M. Wolter weist ausgehend von dieser Deutung auf den interessanten Aspekt hin, dass Q 3,17 so „als stabilisierendes Trostwort an die Angehörigen des Täuferkreises konzipiert [wäre]“ (WOLTER, „Gericht“ und „Heil“, S. 52). Seine Funktion sei demnach zu vermitteln, dass die positive Belohnung ihrer Umkehr bald erfolgen wird (vgl. ebd., S. 52–53). – M. Reiser plädiert grundsätzlich für eine andere Übersetzung des Bildwortes: „Die Wurfschaufel ist in seiner Hand; er wird seinen Ausdrusch reinigen […]“ (REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 155) und sieht hierin vielmehr den noch folgenden eschatologischen Reinigungs- bzw. Scheidungsvorgang des gedroschenen Getreides angesprochen (vgl. vertiefend ebd., S. 165–169). So U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer, S. 34–35; vertiefend THEIßEN /MERZ, Der historische Jesus, S. 189. Vgl. hierzu die nachvollziehbare Begründung von BECKER, Jesus von Nazaret, S. 54–56. Hierin könnte, laut Becker, auch ein Erklärungsansatz dafür liegen, dass Jesus bei seinen Gerichtsaussagen auch auf die Menschensohntradition zurückgriff (vgl. S. 56). Vgl. THEIßEN/MERZ, Der historische Jesus, S. 190; EBNER, Jesus von Nazaret in seiner Zeit, S. 84/Fußnote 120.
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
44
Zusammenfassend lässt sich also zunächst festhalten: In der Ankündigung ebendieses „Zornes Gottes“ konzentriert sich die appellhafte Verkündigung des Täufers, mit der er seine Zeitgenossen in die Entscheidungssituation ruft. Sie ist, so kann man als eine zentrale Erkenntnis zusammenfassen, trotz drastischer Bildmetaphorik, eine Heilsbotschaft: So verweist Johannes auf das kommende Gericht als Durchsetzung der heilvollen Herrschaft Gottes bzw. des Heils für die umgekehrten Gerechten.117
2.2.2
Leben im Zeichen des „Zornes Gottes“: Jesus als Teil der Täufergemeinschaft
In der exegetischen Forschung ist es zunächst weitestgehend unumstritten, dass Jesus sich von der Botschaft Johannes des Täufers angesprochen fühlte und – vielmehr noch – seiner Zustimmung durch den Empfang der Taufe Ausdruck verlieh. Dementsprechend haben auch die Synoptiker eine entsprechende Szene in ihre Erzählungen integriert (vgl. Mk 1,9–11; Mt 3,13–17; Lk 3,21–22). Was alleine noch kein historisches Indiz sein muss, gewinnt jedoch eine besondere historische Plausibilität, wenn man sich die Anstößigkeit des Vorgangs der Taufe durch Johannes bewusst macht: Impliziert diese doch nicht nur ein Sündeneingeständnis Jesu, sondern sie kann vielmehr noch als Unterordnung unter den Täufer gedeutet werden.118 Verdeutlicht man sich noch einmal die oben skizzierte Fundamentalität der von Johannes geforderten Entscheidungssituation, so lässt sich herausstellen, dass Jesus zunächst auch dessen bedrohliche Botschaft vom „kommenden Zorn“ Gottes bzw. der so akzentuierten Naheschatologie geteilt haben muss.119 Mit Blick auf die weitere Entwicklung zeigt sich jedoch, dass Jesus den Täuferkreis verließ, eine eigene Bewegung konstituierte, sich im weltoffenen Wirken sowie Auftreten von Johannes eindeutig unterschied und eine eigenständige Botschaft profilierte.120 Einzelne Erwähnungen bei den Synoptikern (vor allem die Vision vom Satanssturz in Lk 10,18b–c: „Ich sah den Satan einem Blitz gleich aus dem Himmel fallen.“) deuten diesbezüglich darauf hin, dass Jesus ein visionäres Erlebnis zuteilwurde, durch das sich seine Sicht auf die
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Dieser Aspekt wird sehr zutreffend herausgestellt bei REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 180–182; vgl. weiterhin die bereits oben zitierten Ausführungen bei WOLTER, „Gericht“ und „Heil“, S. 43–44. Vgl. hierzu exemplarisch THEIßEN /MERZ, Der historische Jesus, S. 193–194; ebenso EBNER, Jesus von Nazaret in seiner Zeit, S. 93–96. So auch DIETZ, Biblische und systematisch-theologische Aspekte, S. 51 (These 12); ähnlich U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer, S. 56. Differenziert wird dieser Zusammenhang analysiert und profiliert von BECKER, Jesus von Nazaret, S. 58–99 Zu den Unterschieden siehe beispielswiese kurz die Zusammenfassung bei WOLTER, „Gericht“ und „Heil“, S. 33.
2. Ursprünge der Rede vom „Zorn Gottes“
45
heilsgeschichtlichen Zusammenhänge veränderte.121 Diese „neue Perspektive“ Jesu umreißt Ulrich B. Müller wie folgt: „Auch Jesu Vision vom Satanssturz besagt, dass bei Gott schon etwas geschehen ist, was die Gegenwart betrifft. Was Jesus aber vom Täufer trennt, ist seine Überzeugung, dass das Ende nicht nur als nah erwartet werden muss, da die Vorbereitungen dafür quasi abgeschlossen sind, sondern dass im Satanssturz [das meint den vorentscheidenden endzeitlichen Sieg über den Satan im Himmel; C.W.] ein eschatologisches Ereignis bereits stattgefunden hat. Seitdem kann die Macht der Gottesherrschaft in Jesu Wirken als gegenwärtig erfahren werden. Wichtiger noch: Bei Johannes dem Täufer tauchen Heil und Rettung vor dem kommenden Zorn nur als letzte Möglichkeit auf, die Israel in der Annahme der Umkehrtaufe ergreifen soll; die Realisierung des Heils bleibt der Zukunft vorbehalten. […] Bei Jesus dagegen hat Gott in einem neuen Erwählungshandeln gegenüber Israel die Heilswende bereits eingeleitet, was sich in der Gegenwart in der Zuwendung zu Zöllnern und Sündern zeichenhaft realisiert. Im Bild gesprochen: Johannes der Täufer steht noch im Warteraum der Zukunft, Jesus hat die Tür zur Zukunft bereits geöffnet.“ 122
Insofern bleibt zu fragen, ob die Botschaft vom „Zorn Gottes“ lediglich eine später in den Hintergrund getretene Anfangszustimmung Jesu besaß oder konstitutives Element seiner Botschaft blieb. Wie die Überlegungen Müllers bereits nahelegen, ist das hierbei zu untersuchende Spannungsfeld weiter gefasst, als dass es in einer eindimensionalen Ergründung des „Zornesmotivs“ erschöpfend begriffen werden könnte. Vielmehr muss es nunmehr um eine vergleichende Verhältnisbestimmung des Zusammenhangs von Gegenwart und Zukunft, Zorn und Gnade, Gericht und Heil gehen.
2.2.3
Jesu Abkehr von der bedrückenden „Zornesbotschaft“ des Täufers?
„Entgegen einer verbreiteten, allzu schematisierenden und deshalb undifferenzierten Vorstellung ist Johannes nicht nur der Gerichtsprediger und Jesus nicht nur der Heilsprediger.“ 123
Die oben zitierte Feststellung Rudolf Hoppes skizziert bereits die grundlegenden Perspektiven, durch die in der exegetischen Forschung versucht wird, den Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Wirken von Johannes und Jesus nachzuspüren. Es geht im Kern um die Frage des jeweiligen Stellenwerts und inneren Zusammenhangs von Heils- und Gerichtsbotschaft beider Protagonisten.124
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Vgl. vertiefend die Analyse von EBNER, Jesus von Nazaret in seiner Zeit, S. 100–108. U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer, S. 64–65 (Hervorhebung im Original). HOPPE, Jesus von Nazaret, S. 34 (Hervorhebungen im Original). Für eine Übersicht über den Stand der Forschungsdiskussion siehe WOLTER, „Gericht“ und „Heil“, S. 35–40.
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
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Im aktuellen Diskurs wird zugleich deutlich, dass die Gerichtsverkündigung als integraler Bestandteil der Botschaft des historischen Jesus anerkannt wird, was sich aufgrund der Quellenlage als unerlässlich herausstellt. 125 Wenn Jesus offensichtlich auch vom „Gericht“ gesprochen hat, besagt das allerdings noch nicht, inwieweit er das johanneische Wirklichkeitsverständnis vom „kommenden Zorn [Gottes]“ geteilt hat. Eine in diesem Zusammenhang wegweisende Stelle findet sich im Lukasevangelium in Kapitel 13.126 Nachdem einige Personen Jesus davon berichtet haben, dass Galiläer von Pilatus umgebracht wurden und ihr Blut mit dem ihrer Opfertiere vermischt wurde (Lk 13,1), erwidert er: 2b c d 3a b c
„Meint ihr, diese Galiläer seien sündiger gewesen als alle Galiläer, weil sie das erlitten haben? Nein, sage ich euch, sondern wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr alle gleichermaßen umkommen!“ 127 (Lk 13,2–3)
Diesen Gedanken weiterführend schließt Jesus dann, unter Bezugnahme auf ein vorangegangenes Unglück, an: 4a b c 5a b c
„Oder jene achtzehn, auf die der Turm in Schiloach fiel und sie tötete, meint ihr [etwa], sie seien schuldiger gewesen als alle Menschen, die in Jerusalem wohnen? Nein, sage ich euch, sondern wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr alle ebenso umkommen!“128 (Lk 13,4–5)
Die vorliegende Szene und vor allem die zentralen Jesusworte können ein hohes Maß an historischer Plausibilität und Authentizität beanspruchen. 129 Hierfür
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Diesbezüglich sei auf die hohe Zahl der Gerichtsworte Jesu in den synoptischen Evangelien, ja ihr Vorhandensein in allen größeren Strängen der Jesustradition und verschiedenen Textgattungen verwiesen: Vgl. SÖDING, Feuer und Schwert, S. 2, online abrufbar unter: http://www.kath.ruhr-uni-bochum.de/imperia/md/content/nt/feuer_und_schwert.pdf (Stand: 27.06.2020.). – Ebenso kommen die bereits ausgewiesenen Studien von Reiser, Riniker und Zager einhellig zu dem Ergebnis, dass die Gerichtsverkündigung Jesu integraler Bestandteil seines historischen Wirkens war. Diese Stelle wird in der exegetischen Forschung oftmals zur Analyse herangezogen. Es gibt noch weitere Beispiele, die auf entsprechende Gerichtsverständnisse Jesu hinweisen (z. B. die Jesusworte in Lk 17,22–37, besonders 17,26–30). Das nachfolgende Beispiel soll jedoch ins Zentrum gestellt werden, da hierin der Bezug zu Johannes dem Täufer besonders offensichtlich wird. Übersetzung von BOVON, Das Evangelium nach Lukas II, S. 370. – Untergliederung und Hervorhebung durch C.W., um Parallelen zu verdeutlichen. Übersetzung von ebd., S. 371. Vgl. hierzu vor allem die ausführliche Analyse bei RINIKER, Die Gerichtsverkündigung Jesu, S. 163–170. Riniker begründet hier (unter anderem) nachvollziehbar, dass das vorliegende
2. Ursprünge der Rede vom „Zorn Gottes“
47
spricht auch, wie sich im Weiteren zeigen wird, dass sie charakteristische Elemente der Täuferpredigt aufweisen, was die Ursprünge dieser Verkündigung Jesu erklären könnte.130 Interessant für die vorliegende Analyse ist hier vor allem der von Jesus in den Blick genommene Zusammenhang von Schuld und Schicksal bzw. Sühne. Dieser hat für ihn nicht die Funktion, die vergangenen Ereignisse zu erklären und zu plausibilisieren, sondern will durch eine in die Zukunft gewandte, eschatologische Perspektive131 appellativ wirken. Hierzu Christian Riniker: „Der [von Jesus angesprochene; C.W.] Schuld-Sühne-Zusammenhang interpretiert nicht die vorhandene Gegenwart oder Vergangenheit des Leidens, […] sondern er wird zum Aufruf an die Gegenwart auf Zukunft hin. Er betrifft […] gerade auch die Fragesteller selbst, die Zuschauer. Nach diesem selben Zusammenhang sind nämlich auch sie, im Verein mit dem ganzen ‚bösen Geschlecht‘, dem endgültigen Untergang geweiht, es sei denn – und hier liegt die unbequeme Pointe des Logions – sie gingen den Weg der Umkehr und orientierten ihr Leben radikal neu. Das Auf und Ab von Glück und Unglück, das Mehr oder Weniger an Schuld wird also von der Eschatologie her in Frage gestellt und von ihr her letztlich irrelevant. Vom kommenden Gericht her kann es nur noch die eine Forderung der Umkehr für alle geben.“ 132
Adressaten Jesu sind also nicht nur die konkreten Zuhörer, sondern ganz Israel, wie durch den exemplarischen Verweis auf Jerusalem und Galiläa, und auch das zweimal hervorgehobene „alle“ nahegelegt wird.133 Dies, wie auch der zentrale Umkehrruf vor dem Hintergrund einer (hier impliziten) Gerichtsandrohung, zeigen, dass Jesus einen bewussten Bezug zur Botschaft Johannes des Täufers aufrechterhält. Er verzichtet dabei zwar darauf, von Johannes die Rede vom „Zorn(gericht) Gottes“ als Leitmotiv zu übernehmen –
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Logion sprachlich von Jesus stammen könnte, eine Überlagerung durch spätere Gemeindeinteressen nicht nachweisbar ist und es sich im Gesamtzusammenhang als kohärent erweist (vgl. z. B. Lk 17,26–30 par). Mit BECKER, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth, S. 87–88. Interessanterweise berücksichtigt L. Schottroff bei ihrer Deutung des vorliegenden „Gleichnisses“ diesen historisch plausiblen Ursprung und den damit verbundenen Deutungshorizont dieses Jesuswortes nicht. Für sie verweist es auf den „drohenden Krieg Roms gegen das jüdische Volk“ (SCHOTTROFF, Die Gleichnisse Jesu, S. 81). So sei es in dieser Situation der Ohnmacht gegenüber der imperialistischen Übermacht Roms ein Aufruf zur Umkehr, zur Neubesinnung des Volkes durch ein gerechtes Leben im Sinne der Tora (vgl. vertiefend ebd., S. 83–85). Diese politisch-eschatologische Deutung ist ihm Rahmen ihrer befreiungstheologischen Programmatik nachvollziehbar. Bereits der Verweis auf das vergangene Unglück in Lk 13,4–5 zeigt jedoch, dass mit diesem Jesuswort nicht alleine eine politische Dimension angesprochen wird. Zum eschatologischen Bedeutungshorizont des Verbs ἀπόλλυμι in Lk 13,3.5 bzw. des Substantivs ἀπώλεια siehe z. B. Mk 8,35 par; Mt 7,13/10,28; Lk 17,27.29. Hierauf verweist unter dem Einbezug weiterer Beispiele RINIKER, Die Gerichtsverkündigung Jesu, S. 168/Fußnote 307. Ebd., S. 168 (Hervorhebungen im Original; zur Belegfußnote Rinikers siehe oben). So zutreffend BECKER, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth, S. 87.
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
als solches dient ihm an anderen Stellen der Verweis auf die heilvolle (Königs-) Herrschaft Gottes (griech. βασιλεία τοῦ θεοῦ)134 – an einem entscheidenden Punkt teilt er aber dessen Überzeugung: Jesus sieht wie Johannes potentiell ganz Israel dem drohenden Gericht Gottes gegenübergestellt,135 woraus sich eine dringende Forderung zur Umkehr ergibt, durch die letztlich eine Teilung bedingt wird, die durch das Heilsvolk selbst geht. 136 Was den Täufer und Jesus verbindet, sind also zwei zentrale Aspekte: Beide zentrieren, wie Rudolf Hoppe zutreffend erkennt, ihre Botschaft theologisch, indem sie versuchen, „Welt, Geschichte und Mensch radikal von Gott her zu sehen und auf den Prüfstand zu stellen“.137 Gottes kommender Zorn bzw. sein kommendes Gericht qualifizieren die Gegenwart als fundamentale Entscheidungszeit, in der ausgehend von einem jeweils eröffneten Heilsangebot eine radikale Neuorientierung zu diesem hin gefordert ist.138 Einige neutestamentliche Exegeten versuchen davon ausgehend die entscheidende Differenz zwischen Jesus und Johannes durch eine Präzisierung des 134
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Vgl. REISER, Dier Gerichtspredigt Jesu, S. 306. M. Reiser bemerkt in diesem Zusammenhang, dass dieser Begriff in frühjüdischen Schriften nur selten verwendet wird, um auf das eschatologische Heil zu verweisen. Vgl. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft, S. 35–37. Merklein spricht in diesem Zusammenhang von der „,anthropologischen‘ Prämisse“ (ebd., S. 35), die Jesus und Johannes teilen. Auch wenn diese Begriffswahl etwas unglücklich ist, schließlich wollen beide keine Grundbeschreibung des Menschen in seinem Sein vor Gott vollziehen, ist die oben skizzierte Schlussfolgerung auf Grundlage von Lk 13,1–5 zutreffend. Sie wird auch geteilt durch J. Becker: „Jesu Heilsbotschaft ist nicht an ein Israel gerichtet, dessen Gottesverhältnis und Bundesverhalten für ihn in einem relativ guten Zustand wären. Seine eigene und neue Ansage von Gottes heilvoller Nähe für Israel geht vielmehr gerade davon aus, daß in grundsätzlicher Übereinstimmung mit der Ansicht des Täufers das mit ihm zeitgleiche Israel seine göttlichen Bundeszusagen restlos verbraucht hat. Dem erwählten Volk hat sich seine Erwählung in Gerichtsbedrohung gewendet.“ (BECKER, Jesus von Nazaret, S. 63, weiterhin S. 63–65). – Reiser stellt in Abgrenzung zu den beiden erstgenannten Autoren heraus, dass auch in der Vorstellung von Johannes das Gericht nur über die Sünder ergeht, also keine Vorstellung von Israel als „massa perditionis“ (so Becker) vorliegt (vgl. REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 181–182). Der entscheidende Konsens aller Autoren liegt darin, dass Johannes und auch Jesus alle diejenigen vom Gericht bedroht sehen, die das jeweils eröffnete Heilsangebot ausschlagen. So REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 303–304. Diesbezüglich differenziert Reiser jedoch zwischen Jesus und Johannes, da Jesus im Gegensatz zu Johannes seine Hoffnung auf ganz Israel als geeintes Heilsvolk nie aufgegeben habe. Vielmehr noch habe er trotz der Erfahrung von Ablehnung durch einen großen Teil Israels seinen Tod als „Lösegeld für viele“ (Mk 10,45) gedeutet (vgl. ebd., S. 304). – Gleichzeitig kann es als eindringliche Warnung an seine Zeitgenossen gesehen werden, wenn Jesus in Mt 8,11–12 seine Gerichtsankündigung im Kontext der Verheißung für die Völker zum Ausdruck bringt (vgl. U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer und Jesus von Nazaret, S. 45–46). HOPPE, Jesus von Nazaret, S. 34 (hier auch wörtliches Zitat; Hervorhebung im Original). Dieser zentrale Aspekt wird (wenn auch jeweils modifiziert) beispielsweise herausgestellt bei WOLTER, „Gericht“ und „Heil“, S. 44; THEIßEN /MERZ, Der historische Jesus, S. 243 bzw. 250–251; R EISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 304–305; BECKER, Jesus von Nazaret, S. 61.
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jeweiligen Verständnisses von Heil und Gericht, Gnade und Zorn zu erfassen.139 So sieht beispielsweise Jürgen Becker einen zentralen Unterschied darin, dass für Jesus zwar die Bedrohung durch das Gericht weiter fortbestehe, dieser jedoch im Gegensatz zum Täufer davon ausgehe, dass Gott die Option einer „gegenwärtigen Gnadenzeit“ 140 einräume, die sich positiv auf die Zukunft auswirke. Anders als bei Johannes sei das Gericht bei Jesus so nicht unabwendbar, sondern er eröffne eine positive Lebenschance, die man im Zeichen der Umkehr und damit verbundenen Teilhabe an der Gottesherrschaft, nutzen könne. 141 Tatsächlich lässt sich diese Beobachtung Beckers einer vorausgehenden Gnade Gottes und seines liebenden Werbens um die, die seiner Herrschaft scheinbar fernstehen, an zahlreichen Momenten des Wirkens und der Verkündigung Jesu belegen. In diesem Zusammenhang sei beispielsweise an die Parabel vom „verlorenen Sohn“ in Lk 15,11–32142, wie auch insgesamt an Gleichnisse gedacht, die vom Verlieren und Wiederfinden handeln (vgl. z. B. Lk 15,1–10). Ähnlich verhält es sich auch mit den Gastmählern Jesu (vgl. Lk 19,1–10), bei denen die Ausgestoßenen in die heilende Gemeinschaft mit Gott hineingeholt werden. Dementsprechend charakterisiert Thomas Söding sie auch als „gelebte Gleichnisse“143. Zu problematisieren ist jedoch die von Becker hieraus abgeleitete Schlussfolgerung: „Gott ist [in der Verkündigung Jesu; C.W.] in Kürze erst der strafende, jetzt ist er der vergebende [Gott]. Doch darf man Gnade und Zorn nicht einfach nur zeitlich nacheinander ordnen, denn es liegt zugleich eine sachlich-theologische Wertung vor: Eigentlich ist das 139
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Vgl. BECKER, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth, S. 96–97/Jesus von Nazaret, S. 98–99; MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft, S. 38–39. BECKER, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth, S. 97. Vgl. ebd., S. 96–97. – Ganz ähnlich ist auch die diesbezügliche Position H. Merkleins, der den unbedingten Heilswillen Gottes betont. Dementsprechend sei das Gericht nur die Folge, wenn man das Heil ablehnt, weil Jesu Verkündigung „im wesentlichen Ansage des von Gott her unbedingten eschatologischen Heils“ sei (vgl. MERKLEIN, Gericht und Heil, S. 67; hier auch wörtliches Zitat). H. Merklein macht an dieser Parabel bzw. der bedingungslosen Annahme des älteren Sohnes durch den Vater (unter anderem) auch das im Vergleich zu Johannes veränderte Umkehrverständnis Jesu fest: „Umkehr ist deshalb letztlich und sachlich auch hier nicht das, was der Sohn vor der Vergebung tun muß, sondern das, was er nach der Vergebung tun kann. In der Tat, die Vergebung stellt das bisherige Vater-Sohn-Verhältnis nicht nur wieder her, sondern sie konstituiert ein neues Verhältnis. Der Sohn wird den Vater mit anderen, neuen Augen gesehen haben. Und dieses neue Verhältnis begründet auch ein neues Verhalten. Umkehr kann daher sachlich für Jesus nur heißen: Leben aus dem geschenkten Heil […]; das ist die geforderte Abkehr von den Sünden. Umkehr meint […] Leben in der Hoffnung auf die endliche Realisierung des Heils für die gesamte Welt in der kommenden Gottesherrschaft.“ (MERKLEIN, Die Umkehrpredigt, S. 124). SÖDING, Gottes Geheimnis sichtbar machen, S. 62 (hier auch eine tiefergehende Erläuterung).
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung opus proprium des Gottes Jesu die Güte und Liebe und das Richten nur das opus alienum.“144
Legt diese doch nahe, dass göttliche Gnade und göttlicher Zorn, Heil und Gericht in einen Widerspruch oder zumindest eine gewisse Spannung zueinander treten. Insbesondere das „Richten“ als nicht näher charakterisiertes „opus alienum“ scheint nach Becker doch in einer gewissen Opposition zum Handeln des liebenden Gottes zu stehen. Bereits Marius Reiser schlussfolgerte diesbezüglich deswegen vorsichtiger, dass sowohl Heil als auch Gericht bzw. Verdammnis in einem unauflöslichen dialektischen Verhältnis zueinander ständen und zwei Seiten eines Geschehens seien. So schließe die Restitution von Gottes guter Schöpfung die Vernichtung des Bösen mit ein. Während Jesus den Menschen diesbezüglich die „Heilsseite“ zeige, lege Johannes den Akzent auf die „Gerichtsseite“. Beiden sei aber bewusst, was jeweils auf der anderen Seite dieser „Medaille“ sei. 145 Im vorliegenden Verständnis Reisers wird der innere Zusammenhang von göttlichem Heils- und Gerichtshandeln zwar weitaus zutreffender erfasst, trotzdem verbleibt der Eindruck einer gewissen „Zweigleisigkeit“ im Wirken Gottes. Diesbezüglich sind vor allem die bereits mit Blick auf die Botschaft Johannes des Täufers skizzierten Überlegungen Michael Wolters hilfreich, der sich der Gerichtssemantik ausgehend von dem damaligen kulturellen Kontext und hiermit verbundenen gerichtseschatologischen Vorstellungen annähert.146 So gelingt es ihm durch seine Analyse aufzuzeigen, dass der heute oftmals als problematisch wahrgenommene Widerspruch zwischen Heil und Gericht, das mit Unheil gleichgesetzt wird, anachronisch ist.147 Vielmehr ist das Gericht, wie Wolter nachvollziehbar aufzeigen kann, nämlich im damaligen Verständnis „integraler Bestandsteil“ 148 des Heilshandelns Gottes, das heißt „der Vorgang, mit dem Gott seine heilvolle Schöpfungsordnung eschatisch aufrichtet und sie gegen alles ihr
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BECKER, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth, S. 97 (Hervorhebungen im Original). Vgl. REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 307 (hier auch wörtlich zitierte Begriffe) im Zusammenhang mit S. 314 (sowie vertiefend S. 306–307, 313–314). Hiermit wendet sich Reiser auch gegen entsprechende Vorstellungen bei Becker und Merklein, dass das Gericht bei Johannes unumstößlich sei, wohingegen Jesus nur das Kommen des Heils, nicht aber das des Gerichts als unabwendbar aufgezeigt habe (vgl. BECKER, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth, S. 97 bzw. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft, S. 38–39). Vgl. WOLTER, „Gericht“ und „Heil“, S. 40–45. Wolter zeigt auf, dass sich im damaligen eschatologischen Verständnis maßgeblich zwei Gerichtstypen voneinander unterscheiden lassen (vgl. ebd., S. 41–43), einmal das „Vernichtungsgericht“ (S. 41–42) und zugleich „[d]as forensisch ausgerichtete Verfahren vor dem Thron des Richters“ (S. 42; kursive Hervorhebungen jeweils nicht übernommen). Gemeinsam sei beiden, dass sie zur Durchsetzung des Heils dienen, also Teil des Heilshandelns Gottes sind. Ebd., S. 42.
2. Ursprünge der Rede vom „Zorn Gottes“
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Entgegenstehende durchsetzt“149. Damit korrespondieren zentrale Gerichtsvorstellungen des Ersten Testaments, nach denen Retten und Richten korrelativ aufeinander zu beziehen sind, man also von einer „rettende[n] Gerechtigkeit“150 Gottes sprechen kann (vgl. z. B. Ps 7).151 Vor dem Hintergrund dieser kulturellen Prägung kann also davon ausgegangen werden, dass Jesus und Johannes, fernab unterschiedlicher Gerichtskonzeptionen152, von einem gleichen Zusammenhang ausgehen153: Gott wird zeitnah seine universale Herrschaft aufrichten, indem er Gericht hält. Der heilvolle Ausgang bzw. die Zuweisung von Heil und Unheil hängt dabei davon ab, wie man sich in der aktuellen Entscheidungssituation verhält, das heißt, ob man den jeweiligen Appell zur existenziellen Neuorientierung annimmt oder nicht. 154 Es zeigt sich also, dass die Gerichtsvorstellung in der Verkündigung Jesu kein Widerspruch zum Heilshandeln und damit auch zur Liebe Gottes sein muss. So wird die von Becker zu Recht für die Botschaft Jesu angenommene, von Gott in Liebe geschenkte Zeit der Gnade ja nicht hinfällig. Sie gewinnt für Jesus ihr besonderes Profil vielmehr dadurch, dass er im Zeichen seines bevorstehenden Gerichtshandelns uneingeschränkt bei den Menschen darum wirbt, diese anzunehmen. Das Gericht ist es dann, wie oben herausgestellt, das diese Entscheidung zu ihrer letzten Konsequenz führt, also den Menschen, der diese Beziehung zu Gott durch Neuorientierung bejaht, letztgültig in einen neuen Heilszusammenhang hineinnimmt. Hierin ist aber auch das spannungsreiche Moment enthalten, dass sich derjenige, der sich der Heilszusage verweigert, im Gericht
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Ebd., S. 43. „Die rettende Gerechtigkeit“ ist der programmatische Titel und das zentrale Thema einer Aufsatzsammlung von B. Janowski (siehe unten). Vgl. die Analyse der geschichtlichen Entwicklung einer entsprechenden Vorstellung bei JANOWSKI, Teilart. Richten und Retten II, S. 231–239. An anderer Stelle bemerkt Janowski als Kritik an dem Vorwurf, dass der barmherzige Gott Jesu vom richtenden Gott des AT zu unterscheiden sei: „Die Eigenbegrifflichkeit des atl. Gerichtsgedankens weist demgegenüber in eine andere Richtung. Sie ist Ausdruck der Überzeugung, daß Gott rettet, indem er ‚richtet‘ […], d.h. das Unrecht ahndet und das Böse nicht straffrei ausgehen läßt (iustitia connectiva). Im Horizont der konnektiven Gerechtigkeit sind ‚Richten‘ und ‚Retten‘ Handlungskorrelate und das G. Gottes die theol. Antwort auf die Frage nach der letztinstanzlichen Grundlage gerechten Lebens und Handelns.“ (JANOWSKI, Teilart. Gericht Gottes II. Altes Testament, Sp. 733). Bei Johannes sieht Wolter eher den Gerichtstyp des Vernichtungsgerichts angesprochen, wohingegen bei Jesus eher beide Gerichtstypen (vgl. Lk 13,1–5/17,26–30 bzw. Lk 11,31f. par Mt 12,41f.) nachzuweisen seien (vgl. WOLTER, „Gericht“ und „Heil“, S. 43). J. Schröter spricht von einer diesbezüglichen „Analogie“ beider Verkündigungen (vgl. SCHRÖTER, Jesus von Nazaret, S. 137). Dieser Begriff erfasst den tieferen Zusammenhang beider Botschaften zielführend, weist jedoch in Bezug auf die Differenz beider Botschaften eine Unschärfe auf. In Anlehnung an WOLTER, „Gericht“ und „Heil“, S. 44.
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
Gottes mit der Zuweisung von Unheil konfrontiert sieht. 155 Die Aufteilung in einen „Gott der Liebe und Gnade“ wie auch einen „Gott des Gerichts“ konstruiert also letztlich einen Gegensatz, der im damaligen Vorstellungsrahmen nicht gegeben ist.156 Auch wenn Jesus (womöglich bewusst) nicht wie Johannes das Motiv vom „kommenden Zorn“ als Verweis auf das Gericht aufgreift,157 wäre ich vorsichtig, diesen Aspekt aus seinem diesbezüglichen Verständnis auszuklammern158 oder gar insgesamt als Widerspruch zu seiner Gnadenbotschaft159 zu begreifen. Bereits die großen Übereinstimmungen mit der Botschaft des Täufers in Lk 13,1– 5 deuten schließlich auf ähnliche Vorstellungen von Jesus und Johannes hin. 160 155
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Insofern ist H. Merkleins Aussage, dass das Gericht in der Verkündigung Jesu als Folge der Ablehnung des Heils aufscheint, eingeschränkt zuzustimmen (vgl. MERKLEIN, Gericht und Heil, S. 67). Sie müsste jedoch ausgehend von den bisher herausgestellten Aspekten dahingehend präzisiert werden, dass nicht das Gericht an sich, sondern der unheilvolle Gerichtsausgang eine Folge des abgelehnten Heilsangebots ist. Gerade dadurch verliert die Gerichtsvorstellung dann auch ihre Anstößigkeit und es wird vielmehr deutlich, dass es sich um ein Heilswirken, auf dessen positiven oder negativen Ausgang der Mensch mit Einfluss nimmt, handelt. Dementsprechend ist gerade den Exegeten Recht zu geben, die zwar Spannungsmomente in der Gotteserfahrung anerkennen, sich aber gegen einen diesbezüglichen Widerspruch in Gott oder eine Flucht in den Dualismus aussprechen. Vgl. hierzu JANOWSKI, Ein Gott, der straft und tötet?, S. 58–59; ZENGER, Das Erste Testament, S. 72; DIETRICH/LINK, Die dunklen Seiten Gottes I, S. 148–152. So BECKER, Jesus von Nazaret, S. 99. Hierzu im Gegensatz R. Miggelbrink: „Insbesondere alle emotionalen Attribute des Gotteszornes treten in der Verkündigung Jesu zurück. Der Gott Jesu wird mit dem Einbruch der Basileia Gerechtigkeit schaffen ohne Zorn und ohne Rache.“ (MIGGELBRINK, Der zornige Gott, S. 78/Der Zorn Gottes, S. 230–231.). Trotzdem kann, wie die bisherige und nachfolgende Analyse deutlich macht, der gerechtigkeits- und heilschaffende Aspekt dieses Handlungs- und Beziehungsbegriffs für Jesus sinnvoll angenommen werden. Ausgehend von seinen Überlegungen zu Gerichtskonzeptionen des Urchristentums stellte bereits E. Brandenburger infrage, dass die Vorstellung vom „Zorngericht“ Gottes konstitutiv für die Botschaft Jesu sei, da sie hier unter anderem ja auch nicht explizit erwähnt werde (vgl. BRANDENBURGER, Gerichtskonzeptionen im Urchristentum und ihre Voraussetzungen, S. 337 und weiterführend S. 338). Die ausdrückliche Verwendung eines Begriffs ist jedoch diesbezüglich nicht das einzig ausschlaggebende Kriterium, sondern vielmehr das die Verkündigung prägende Wirklichkeits- und Heilsverständnis. Dass dies nicht gegeben ist, deutet sich bereits im Lukasevangelium an. So überliefert Lukas einerseits als Einziger die Parabel vom „verlorenen Sohn“ (vgl. Lk 15,11–32), in dem, wie bereits eben angesprochen, die Perspektive auf eine bedingungslose, gnadenhafte Vergebungsbereitschaft Gottes auf einzigartige Weise verdichtet wird. Gleichzeitig greift ebendieser lukanische Jesus jedoch in seiner eschatologischen Endzeitrede im Hinblick auf die kommende Verwüstung Jerusalems das Motiv des „Zornes Gottes“ auf (Lk 21,23b →griech. ὀργή). Entsprechend stellt H. Merklein heraus, dass im Verständnis Jesu Israel in seiner Gesamtheit sich dem Zorngericht Gottes gegenübergestellt sehe (vgl. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft, S. 37).
2. Ursprünge der Rede vom „Zorn Gottes“
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Aber auch ein weiter als auf den Aspekt des johanneischen „Zorngerichts“ gefasster Blick auf die Verkündigung Jesu weist in diese Richtung. Exemplarisch kann dies bereits hier 161 in Bezug auf den von Jesus geforderten Umgang mit überbordendem Reichtum und den Umgang mit den Armen verdeutlicht werden, da dies für ihn dafür ausschlaggebend ist, ob die existenzielle Neuorientierung gelingt. Dementsprechend brandmarkt er den Reichtum als Ausschlusskriterium für das Reich Gottes und damit das endgültige Heil (vgl. Mk 10,25.31).162 Diese Radikalität Jesu ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass es gerade der „Mammon“ ist, der in Konkurrenz zum Herrschaftsanspruch Gottes treten kann (vgl. Mt 6,24; Lk 16,13)163, indem er als personalisierter Götze eine falsche Existenzsicherung verheißt und trügerisch als vermeintlicher, die Furcht vorm Sterben lindernder „Schutzgott gegen den Tod“ 164 fungiert (vgl. Lk 12,16–20).165 Der „ungerechte Mammon“ (Lk 16,9) macht einen so nicht nur zum Teilhaber an einer ungerechten Wirtschaftsordnung,166 sondern führt vor allem dazu, dass man den für die gelingende Gottesbeziehung fundamentalen Anspruch der Nächstenliebe (vgl. Mt 22,37–40) verfehlt, indem man das Leid des Armen nicht wahrnimmt (vgl. Lk 16,19–21)167. Der von Jesus den Reichen, das heißt denen, die nicht umkehren und sich weiterhin gegen Gott stellen (siehe oben), angedrohte Ausschluss vom Reich Gottes ist gleichbedeutend damit, in die Gehenna im Zeichen des Endgerichts geworfen zu werden (vgl. Mk 9,43.45.47).168 Auch wenn sich zwar motivgeschichtlich in entsprechenden Aussagen Jesu kein unmittelbarer Bezug zum „Zorn Gottes“ nachweisen lässt, berühren sie
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In Kapitel B.4 werden die nunmehr benannten sowie weitergehende Aspekte in der Botschaft Jesu vertieft und systematisiert, Vgl. zu diesem Aspekt in der jesuanischen Gerichtsvorstellung auch ZAGER, Gottesherrschaft und Endgericht in der Verkündigung Jesu, S. 313 sowie vertiefend S.193–200. M. Reiser verweist darauf, dass durch die Beibehaltung des semitischen Wortes „Mammon“ der Eindruck verdichtet wird, dass das Geld hier als „personifizierte Gegenmacht zu Gott begriffen wird“ (REISER, Der unbequeme Jesus, S. 123). MARGUERAT, Gott und Geld – ein Widerspruch?, S. 14. Vgl. hierzu auch die Gedanken bei ebd., S. 12 u. 14. Den hierin implizierten Vorwurf erwähnt auch Marguerat (ebd., S. 15). Für L. Schottroff wird beispielsweise im Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus (Lk 16,14–31) weniger ein individuelles Fehlverhalten, als vielmehr ein strukturelles Unrecht grundsätzlich kritisiert: „Allein durch die Teilhabe am Reichtum auf Kosten der Armen geschieht der Mammonsdienst, der die Beziehung zu Gott zerstört.“ (SCHOTTROFF, Die Gleichnisse Jesu, S. 222). Vgl. ZAGER, Gottesherrschaft und Endgericht in der Verkündigung Jesu, S. 313. M. Reiser arbeitet heraus, dass sowohl Jesus als auch Johannes auf die endgültige Verdammung mit einem Verweis auf Jes 66,24 anspielen (vgl. REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 303 bzw. vertiefend S. 222–224). Insgesamt thematisiert Jesaja 66 die Endzeit und Heilsvollendung für Jerusalem. In Jesaja 66,15 wird diesbezüglich interessanteweise auf den „Zorn Gottes“, mit dem dieser Vergeltung übt, verwiesen.
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
doch mittelbar das, was durch diese personale Metapher für Gottes Beziehungshandeln im Ersten Testament (auch) ausgesagt werden soll169: Gott nimmt die Infragestellung seines Herrschaftsanspruchs durch entsprechende Gegenmächte und das gemeinschaftsverletzende Verhalten nicht ungerührt hin,170 er wird seine gerechtigkeitsschaffende Königsherrschaft letztendlich gegen lebensfeindliche Kräfte und Mächte durchsetzen. In diesem Verständnis, mit Blick auf Gottes uneingeschränkte Solidarität mit den Ausgebeuteten, für deren Recht er einsteht, bestimmen also zumindest implizit mit dem Motiv des „Zornes Gottes“ verbundene Vorstellungen Jesu Sichtweise auf die heilvolle Durchsetzung der Gottesherrschaft (und seinen eindringlichen Appell rechtzeitig umzukehren).171 Ebendiese Frage nach dem Umgang mit den Geringsten ist es dann entscheidender Weise auch, die in der Endzeitrede des matthäischen Jesus das Gericht des Menschensohnes über die Völker bestimmt (vgl. Mt 25,31–46). Es mag zunächst verwundern, dass die Endzeitrede Jesu bzw. seine eschatologische Rede erst so spät im Rahmen der Analyse Beachtung findet. Scheinen
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Ein möglicher Einwand könnte darin liegen, dass man zwischen dem Zorn als Moment innergeschichtlichen Gerechtigkeitshandelns Gottes (vgl. z. B. Psalm 7) und dem bei Jesus fokussierten endzeitlichen, in Teilen von apokalyptischen Vorstellungen geprägten Gerichtszusammenhang unterscheidet. Als letztgültiger Beziehungsbegriff, der zum Ausdruck bringt, dass Gott seine lebenstragende Herrschaft sowie Gerechtigkeit für die Menschen durchsetzt, ist dies jedoch nicht entscheidend. Auch in der eschatologischen Gerichtsankündigung des Propheten Zefanja findet sich dementsprechend die Drohung an die durch ihren Reichtum dekadente und damit gottlose Oberschicht (vgl. Zef 1,12–13). Für Jesus ist darüber hinaus die Gottesherrschaft etwas dynamisches, wodurch Gegenwart und Zukunft unmittelbar aufeinander bezogen bleiben. Vgl. hierzu auch TÜCK, Der Zorn – die andere Seite der Liebe Gottes, S. 394. Dieser charakterisiert ausgehend von seiner biblischen Untersuchung den Zorn als „Verhältnisbegriff“, der mit menschlichem Versagen korreliere. Diesbezügliche Ausprägungen können die Abkehr von Gott oder die gemeinschaftsschädigende Verletzung der Tora sein. Da es im Kern jedoch um das Beziehungsgeflecht „Gott, Mensch und Mitmensch“ geht, würde ich eher von einer personalen Metapher für Gottes Beziehungshandeln sprechen. – Für ein angemessenes Verständnis der Botschaft Jesu ist weiterhin zentral, dass es nicht eine zornige Vergeltung der Einzelsünde ist, die die Zielperspektive des kommenden Gerichts bestimmt, was besonders an der inklusiven Praxis Jesu gegenüber den Sündern deutlich wird (dies betont auch zutreffend MIGGELBRINK, Der zornige Gott, S. 78). – Treffend kommt dies auch in dem vorliegenden Zitat von W. Dietz zum Ausdruck: „Im Zentrum der Botschaft Jesu steht die Verkündigung der väterlichen Liebe Gottes: Der Sünder ist nicht hoffnungslos dem Zorn Gottes ausgeliefert, sondern darf auf Gottes Barmherzigkeit und Vergebung vertrauen.“ (DIETZ, Biblische und systematisch-theologische Aspekte, S. 50 bzw. These 9). Dies erkennt völlig zutreffend D. Kosch: „Der Zorn des Gottes Jesu gegen Selbstgerechtigkeit, Hartherzigkeit und Reichtum ist nicht Ausdruck seiner Lieblosigkeit, sondern die Kehrseite seiner Solidarität mit den Armen.“ (KOSCH, Zärtlichkeit und Zorn – Der Gott Jesu, S. 53).
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doch hier mit dem Ausblick auf die Zukunft der Welt, mit der prophezeiten Wiederkehr des Menschensohnes und nicht zuletzt mit dem angedrohten Weltgericht die zentralen Bezugspunkte zu einem Vergleich mit der Botschaft Johannes des Täufers eröffnet zu werden. Ursache hierfür ist zunächst die für die historische Rückfrage problematische Überlieferungslage. So ist es streng genommen nicht eine „Endzeitrede“, sondern die Synoptiker bieten jeweils ihre ganz eigenständige Version dieser eschatologischen Predigt Jesu: Während sich bei Markus eine Art „Basistext“ 172 findet (vgl. Mk 13,1–37), erweitert Matthäus diese Vorlage bereits durch Teile aus der Logienquelle und eigenes Sondergut (vgl. Mt 24–25), wohingegen Lukas sie weitergehend noch in eine „kleine“ und „große“ Endzeitrede aufteilt (vgl. Lk 17,20–37/21,5–36).173 Dies bedeutet im Umkehrschluss jedoch nicht, dass die markinische Endzeitrede den Leser besonders nah an die ursprüngliche Verkündigung Jesu heranführt, wie Helmut Merklein vor dem Hintergrund der szenischen Einleitung in Mk 13,1–4 bemerkt: „Nur zum geringsten Teil handelt es sich um authentische Jesusworte. Der Text stellt ein Konglomerat von relectures dar, die sich gegenseitig durchdringen und überlagern. Zu bewältigen sind die eigene Angst und Unsicherheit von seiten des Autors bzw. der von ihm angezielten Leserschaft, aber auch die Traditionen einer jüdischen und christlichen Apokalyptik. Die relecture erfolgt mit Hilfe der Heiligen Schrift (des Alten Testaments) und im Geiste Jesu, wobei die Heilige Schrift und bestimmte Worte Jesu dann selbst wieder einer relecture unterzogen werden.“ 174
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Den Aufbau fasst C. Böttrich wie folgt zusammen: „Zu Beginn steht die Ansage von Krieg/Verfolgung/Flucht: falsche Messiasse werden auftreten; es wird zu Kriegen und Verfolgungen der Gemeinde kommen. Dann erfolgt die Parusie: kosmische Katastrophen signalisieren das Ende dieser Schöpfung; der Menschensohn aber kommt ‚in den Wolken mit Kraft und Herrlichkeit‘. Daran schließen sich verschiedene Paränesen und Parusiegleichnisse an. Den Abschluss bildet eine Mahnung zur Wachsamkeit.“ (BÖTTRICH, Art. Apokalyptik (NT), 3.2. bzw. S. 8–9 in der PDF-Version, online abrufbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/49908/ [Stand: 25.06.2020]). Vgl. hierzu grundlegend MERKLEIN, Die Jesusgeschichte – synoptisch gelesen, S. 190–205. So zutreffend ebd., S. 191. Weitergehend bemerkt beispielsweise C. Böttrich: „Dass hier Zeiterfahrungen anklingen, ist evident. Der Lärm des Jüdischen Krieges (66–70 n. Chr.) hallt unüberhörbar in Mk 13 wider. Mk 13 verfolgt angesichts einer schweren Bedrohung der Gemeinde eine doppelte Absicht: Einerseits gilt es, an der Parusieerwartung festzuhalten – der Herr ist wirklich nahe; anderseits gilt es, einer Art ‚Parusiefieber‘ zu wehren – der Krieg gehört bereits zu den Vorzeichen der Endzeit, ist selbst aber ‚noch nicht das Ende‘ (Mk 13,7). Dem Evangelisten geht es hier nicht etwa um einen Blick in die Zukunft, sondern vor allem um die Bewältigung einer bedrängenden Gegenwart.“ (BÖTTRICH, Art. Apokalyptik, 3.2. bzw. S. 9 in der PDF-Version; Link oben ausgewiesen).
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Zugleich explizieren die Endzeitreden trotz ihrer Nähe zur traditionellen Gerichtsthematik des Ersten Testaments 175 das Motiv des „Zornes Gottes“ kaum weitergehend. Nur im Lukasevangelium wird es einmal mit Blick auf das vor der Wiederkehr des Menschensohnes über Jerusalem hereinbrechende Strafgericht genannt (vgl. Lk 21,23). Die eigenartige Spannung erwächst in dieser Stelle dadurch, dass die durch den lukanischen Jesus prophezeiten Geschehnisse, sprich die Zerstörung Jerusalems, sich in der Lebenswelt der Leser des Lukasevangeliums bereits ereignet haben und die Parusie somit gleichzeitig verbürgen.176 Lukas bezieht sich dabei durch viele Formulierungen und Wendungen auf die Einnahme sowie Verwüstung Jerusalems durch Nebukadnezar im Jahr 587 v. Christus. Dieses Geschehen wird, wie Wilfried Eckey zutreffend herausstellt, als „prototypisch“ für die spätere Eroberung Jerusalems durch die Römer im Jahr 70 nach Christus begriffen.177 In der hier angekündigten Verwüstung als „Tage der Rache“ (vgl. Lk 21,22 bzw. Dtn 32,35; Hos 9,7; Jes 61,2) gelangen für Lukas somit die bereits in der prophetischen Tradition zahlreich zu findenden Unheilsdrohungen gegen die Heilige Stadt zum Vollzug.178 Wenn durch die hier vorfindliche Rede des lukanischen Jesus vom „Zorn Gottes“ somit die Zerstörung Jerusalems heilsgeschichtlich als Gerichtshandeln Gottes interpretiert und ihr für die Wiederkehr des Menschensohnes eine Bedeutung zugemessen wird, bleibt dieses Motiv jedoch in seinem konkreten Bezug zum konkreten historischen Ereignis verhaftet und ist von nachgelagerten Gemeindeinteressen bestimmt.179 Aufschlussreicher für die Vorstellung des göttlichen Gerichts ist in diesem Zusammenhang eher die ausschließlich bei Matthäus überlieferte, bildhaft-metaphorische Erzählung180 der eschatologischen Scheidung der „Guten“ und „Bösen“ durch den Menschensohn (vgl. Mt 25,31–46). Auch in ihr finden sich, durch
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Die Verse Mk 13,24–25 verweisen beispielsweise auf Jes 13,10 wie auch Jes 34,4 bzw. 34,10, die von der Zerstörung Babels und Edoms handeln. Wie H. Merklein jedoch richtig herausstellt, wird in der vorliegenden Stelle weniger die Gerichtsthematik verdeutlicht als vielmehr die kosmische Dimension der Ereignisse (vgl. MERKLEIN, Die Jesusgeschichte – synoptisch gelesen, S. 194). Vgl. ECKEY, Das Lukasevangelium II, S. 847 u. S. 850–851. Vgl. ebd., S. 861 (hier auch der in Anführungsstrichen hervorgehobene Begriff). Vgl. T.P. Osborne in: R. PESCH u. a./OSBORNE, Die lebendigste Jesuserzählung, S. 241. Hierzu T. P. Osborne: „Lukas deutet die Verwüstung Jerusalems als die Folge der Ablehnung des Friedensangebotes, das zur Versöhnung zwischen den Völkern geführt hätte. Laut der lukanischen Chronologie liegt bei der Ankündigung Jesu die Zerstörung Jerusalems noch 40 Jahre in der Zukunft. Für die Christen, für die er schreibt und die auf die Zerstörung zurückschauen, soll diese ‚Ankündigung‘ das Unfassbare verstehen helfen und zur Mahnung werden.“ (ebd.). Zur Gattungsbestimmung vgl. z. B. STEICHELE, Was am Ende zählt (Mt 25,31–46), S. 177–178.
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das Erste Testament geprägte Bilder und Bezüge zur diesbezüglichen und frühjüdischen Apokalyptik.181 Entscheidend ist jedoch vor allem ihr appellativer Charakter, da es vor allem auch um eine Neuorientierung des Lebens in der Gegenwart geht. Nicht zuletzt wird ja in dieser Stelle der Umgang mit den Notleidenden zur Richtschnur des eigenen Schicksals. Dazu Walter Klaiber: „Im neutestamentlichen Zusammenhang aber weist das Wort von den geringsten Brüdern und Schwestern [vgl. besonders Mt 25,40; C.W.] auch auf die ethischen und sozialen Konsequenzen der Menschwerdung Jesu hin. Der Menschgewordene fragt nach der gelebten Solidarität mit denen, mit denen er sich solidarisch gemacht hat. Die Erzählung vom Weltgericht spricht nicht vom Glauben an Jesus als Maßstab im Gericht. Sie fragt nach dem selbstverständlichen Tun angesichts der Not der Mitmenschen. Aber sie zeigt, wie dieser Glaube zur Motivation für rechtes und solidarisches Handeln werden muss. Wer Jesus Christus als Herrn und Heiland bekennt, kann nicht mehr achtlos an Menschen in Not vorbei gehen. Dass der Menschensohn als Weltenrichter kommt, macht unbezweifelbar, dass Menschlichkeit zum Maßstab des Gerichts wird. Um es mit Paulus zu sagen: Es gilt ‚der Glaube, der in der Liebe tätig ist‘ (Gal 5,6).“ 182
Es zeigt sich also, dass insbesondere die eschatologischen Reden Jesu zwar ihren Ursprung in seiner historischen Existenz haben, gleichzeitig aber über diese und seine irdische Verkündigung hinausweisen. Sie verdeutlichen zunächst die auf Jesus beruhende Überzeugung der frühen Gemeinden, dass die Geschichte nicht ziellos verläuft, sondern das Heilswirken Gottes, seine heilvolle Herrschaft, auf eine Vollendung, ein Ziel zustrebt und somit sinnhaft ist. So verdichtet sich auch in Mt 25 eine Hoffnungsperspektive, besonders, wie Bettina Eltrop herausstellt, mit Blick auf den „solidarischen Menschensohn Jesus Christus in der Anknüpfung an alttestamentliche Erfahrungen des schöpferischen und zugleich parteilich an der Seite der Armen und Kleinen stehenden Gottes Israels“183. Gerade die Niedrigsten und Leidenden werden es sein, für deren Recht Gott sich am Ende verbürgt und für die er Gerechtigkeit herstellt. 184 Darin liegt, fernab der christologischen Implikationen, auch ein bleibender Bezug zur Lehre Johannes des Täufers, der das kommende Gericht Gottes als Teil
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Vgl. hierzu ausführlich ebd., S. 180–182. Steichele nennt mit Blick auf das Bild des „Hirten“ beispielsweise das Buch Ezechiel (vgl. z. B. Ez 20,37a. u. 38a). Weiterhin, mit Blick auf den „Menschensohn“, das Buch Daniel (z. B. Dan 7,13–14), das äthiopische Henochbuch (z. B. äth Hen 62–63) und das 4. Buch Esra (4 Esra 13,3–4). KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 210 (Text im Original grau unterlegt). – Der Appell zum Tun der Werke der Liebe findet sich auch besonders in der Tradition des Ersten Testaments. Siehe hierzu mit entsprechenden Bezugsstellen ELTROP, Das Jüngste Gericht, S. 221. ELTROP, Das Jüngste Gericht, S. 224. Vgl. auch STEICHELE, Was am Ende zählt (Mt 25,31–46), S. 186.
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
des Heilswerdungsprozesses verkündigte, seine Zeitgenossen über die heilsgeschichtliche Ausgangssituation aufklären und zu fundamentaler Umkehr mahnen wollte. Die Prägung des Erzählstoffes durch Matthäus verdeutlicht überdies, dass der hier immanente Aufruf zur Wachsamkeit in Bezug auf die Lebensausrichtung seine fundamentale Bedeutung gewinnt. So bleiben Gegenwart und Zukunft, Heilsbeginn und Heilsvollendung, eng aufeinander bezogen und ineinander verschränkt.185 Die durch Jesus geschenkte neue Existenz fordert stets zu einer fundamentalen Neuorientierung heraus, die letztlich lebensentscheidend wird. Was für die eschatologischen Reden Jesu gilt, gilt insgesamt für die Botschaften vom Gericht Gottes: „Solche Bilder sind keine platte Drohbotschaft. Vielmehr verweisen sie auf die grundsätzliche ‚Ent-scheidung‘, in die die Menschen gerufen sind: Lassen sie sich auf Gott und sein Heilsangebot ein […] mit der ganzen Existenz? […] Die Botschaft vom Gericht stellt unmissverständlich klar, dass es gerade nicht ‚gleich gültig‘ ist, wie und wofür sich ein Mensch entscheidet, was er tut oder lässt, ob er Opfer oder Täter ist. Die biblischen Gerichtsbilder haben darum Appellcharakter: Sie treiben an zum Handeln hier und jetzt, zum Einsatz für die Welt und für die Nächsten (Mt 25,31–36). Sie rufen in die Verantwortung, aus der sich niemand herausreden und die nicht einfach an andere abgewälzt werden kann und zeugen so von einem unbedingten Ernstnehmen des Menschen und dessen, was er tut. Konsequenterweise ist das Gericht Gottes kein von außen verhängtes Fremdurteil, sondern die innere Konsequenz des Handelns hier und jetzt: Menschen richten sich durch ihr Tun und Handeln letztlich selbst, und grundgelegt wird dieses Selbstgericht in diesem Leben […].“ 186
So lässt sich festhalten: Erst durch die Perspektive des Gerichts gewinnt auch die Botschaft Jesu von der heilvollen Aufrichtung der Gottesherrschaft ihre eigentliche Tiefenschärfe und Verbindlichkeit. Erst durch sie gerät der Mensch als verantwortliches und selbstbestimmtes Individuum, das positiv wie auch negativ Einfluss auf das eigene Schicksal hat, in den Blick. – In diesem Verständnis wollen auch die Gerichtsbilder das Leben ganz im Sinne der durch Gott geschenkten neuen Wirklichkeit des Heils verändern.
185
186
Hierzu J. Ernst: „Jede Stunde stellt uns in die Entscheidung (Krisis), das Gericht des Menschensohn-Richters bezieht sich auf das gegenwärtige Verhalten gegenüber den Mitmenschen (vgl. Mt 25,31–46). Die falschen oder richtigen Entscheidungen im Heute können Gericht, aber auch Gnade bedeuten.“ (ERNST, Das Evangelium nach Markus, S. 393). Dieses Anliegen betont auch STEICHELE, Was am Ende zählt (Mt 25,31–46), S. 185. PEMSEL-MAIER, Gericht – Himmel – Hölle – Fegefeuer als Hoffnungsbilder lesen, S. 206–207.
2. Ursprünge der Rede vom „Zorn Gottes“
2.2.4
59
„Asketischer Zornesprophet vs. lebensbejahender Heilsprediger?“ – Zusammenführung
Auf der Grundlage des letzten Kapitels 187 könnte man den Eindruck gewinnen, dass Jesus und Johannes der Täufer im Prinzip mit unterschiedlichen Akzentsetzungen die gleiche Botschaft verkündet haben. Wie steht es also um ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede? Eine zentrale Möglichkeit der diesbezüglich noch genaueren Profilierung bietet ihre jeweilige Bewertung der heilsgeschichtlichen Ausgangssituationen. Während für Johannes die Heilsverwirklichung nämlich erst unmittelbar im Zeichen des „kommenden Zornes“ Gottes bevorsteht, spricht Jesus dieser Gegenwart bereits eine ihr ganz eigene soteriologische Qualität zu. Diese ist, wie Helmut Merklein treffend formuliert, für ihn bestimmt durch eine „neue, von Gott gesetzte Wirklichkeit des Heils“188. Insofern ist Jesu Botschaft davon geprägt, dass er diese Heilszusage Gottes insbesondere zu den Deklassierten, denen, die scheinbar der heilvollen Herrschaft Gottes noch fern sind, trägt und für sie die neue Gottesbeziehung erfahrbar werden lässt. Jesus unterscheidet sich in diesem Zusammenhang von Johannes nicht nur in seiner positiven Beurteilung der Gegenwart, sondern auch in der Rolle, die er sich selbst im Rahmen dieser – die vorfindliche Welt transzendierenden – Heilsverwirklichung zuspricht. Dieses ihm genuine Selbstverständnis zeigt sich mit Blick auf die Dämonenaustreibungen, wenn er bemerkt: „Wenn ich aber durch den Finger Gottes die Dämonen hinaustreibe, so ist zu Euch die Herrschaft Gottes gekommen.“ (Lk 11,20)
Jesus begreift also sein Wirken „als integralen Bestandteil der machtvollen Durchsetzung der Königsherrschaft Gottes auf Erden“ 189, in diesem ist für ihn „das Israel verheißene eschatische Heil Gottes […] bereits punktuell erfahrbar“190 – so resümiert Michael Wolter zutreffend.191 Wie Johannes weiß Jesus darum, dass die heilsgeschichtliche Ausgangssituation einen zur Entscheidung drängt.192 Für ihn ist es jedoch die Umkehr als Ausrichtung auf seine Person und
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189 190 191
192
Da das vorliegende Kapitel zur Zusammenfassung der Erkenntnisse dient, werden nur noch neue Aspekte und zentrale Gedanken einzelner Autoren durch einen Einzelnachweis belegt. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft, S. 39 (Hervorhebung im Original); ähnlich auch BECKER, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth, S. 97 bzw. Jesus von Nazaret, S. 98–99. WOLTER, „Gericht“ und „Heil“, S. 62. Ebd. (Hervorhebung im Original). Vgl. insgesamt ebd., S. 61–63. – Wolter erläutert diesem Zusammenhang auch weitergehend an Lk 7,22 par. Vgl. auch KOSCH, Zärtlichkeit und Zorn – Der Gott Jesu, S. 43.
60
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
Verkündigung hin, die über die eigene heil- oder unheilvolle Zukunft entscheidet.193 Vor diesem Hintergrund wirkt das Gericht als „eschatologische Scheidung“194 bereits in die Gegenwart hinein.195 Diesem Verständnis folgend kann der Täufer im Johannesevangelium dann auch verkünden, dass derjenige, der nicht an Jesus Christus glaubt und ihm Gefolgschaft leistet, weiterhin dem Gotteszorn verfallen sein wird (vgl. Joh 3,35–36). Ebenso kann sich der lukanische Jesus beispielsweise selbst mit dem von Johannes angekündigten Stärkeren, der mit Feuer taufen wird, identifizieren und sein irdisches Wirken als Beginn des hierin symbolisierten Gerichts begreifen (vgl. Lk 12,49).196 Es wird also deutlich, dass die von Johannes noch als signalhafter Auftakt genutzte Rede vom „kommenden Zorn“ als Leitmotiv der Verkündigung Jesu zu kurz greift und diese nicht trägt: Nicht nur, dass es an einer entsprechenden Quellengrundlage mangelt, vielmehr noch könnte sie die gnadenzentrierte Botschaft Jesu vom Einbruch der heilvollen Herrschaft Gottes in das „Hier und Jetzt“, den sich durch seine Person vollziehenden „Beginn der Heilswende“197 nicht angemessen zum Ausdruck bringen. Zugleich kann und darf dieses Gnadengeschenk, und hier stimmt Jesus mit dem Täufer überein, nicht als „billige Gnade“ fehlverstanden werden.198 Beide werben ja gerade deshalb um die Annahme ihrer jeweiligen Heilsoption, weil sie das Schicksal ihrer Zeitgenossen im Hinblick auf das bevorstehende Gericht Gottes reflektieren. Dieser Horizont scheint bei beiden in seiner existenziellen Bedrohlichkeit auf (vgl. Mt 3,7–10 par. mit Lk 13,1–5), ist jedoch sowohl bei Johannes als auch Jesus als Teil eines tieferen Heilshandelns Gottes zu begreifen, mit dem dieser seine Herrschaft durchsetzt. Dies schließt, wie Michael Wolter sachlich zutreffend herausarbeitet, ein, dass auf Grundlage der göttlichen Gerechtigkeit über Heil und Unheil der Menschen entschieden wird.199 Für die vorliegende Studie ist darüber hinausgehend jedoch relevant, ob man exegetisch begründbar auch davon sprechen kann, dass Jesus in sein Gerichtverständnis die Vorstellung vom „Zorn Gottes“ integrierte. Mit Blick auf die vorangegangene Analyse lassen sich diesbezüglich folgende zentrale Erkenntnisse festhalten: 193
194 195 196 197 198
199
Vgl. hierzu die Zusammenfassung der Analyse bei R EISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 301– 302. Dieser Fachbegriff ist in der exegetischen Forschung gängig. Vgl. hierzu z. B. auch REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 311. So die Deutung von Lk 12,49 bei ECKEY, Das Lukasevangelium II, S. 609. BECKER, Jesus von Nazaret, S. 99. Die Charakterisierung einer verschwenderisch ausgeschütteten, „billigen Gnade“ ohne Konsequenzen für die eigene Existenz geht auf Dietrich Bonhoeffer zurück. Den vorliegenden Einwand formuliert zutreffend DIETZ, Biblische und systematisch-theologische Aspekte, S. 50 (These 10). Vgl. WOLTER, „Gericht“ und „Heil“, S. 44 u. S.61.
2. Ursprünge der Rede vom „Zorn Gottes“
61
Erstens: Für Jesus war eine entsprechende Vorstellung vom „Zorn Gottes“ insbesondere im eschatologischen Zusammenhang nicht fremd und mit seinem Gottesbild grundsätzlich nicht unvereinbar,200 dies zeigt bereits seine anfängliche Zustimmung zur johanneischen Verkündigung durch den Empfang der Taufe.201 Darüber hinaus griff er, trotz des ganz eigenen Profils seiner Heilsverkündigung, zentrale Aspekte der Täuferbotschaft wieder auf (vgl. Lk 13,1–5), um die Menschen zur Umkehr zu mahnen202 und ihnen die fundamentale Bedeutung einer existenziellen Neuorientierung vor Augen zu führen. So blieb die Botschaft vom göttlichen Gericht als Voraussetzung dieses Prozesses der Heilswerdung von Mensch und Welt unerlässlicher Bestandteil seiner Botschaft. Darin, dass Gott seine heilvolle Herrschaft aufrichtet und seine Gerechtigkeit gegen die lebensfeindlichen Widerstände durchsetzt, klingen zumindest Kontexte an, die im Alten Testament mit der Beziehungsmetapher des Zorns zum Ausdruck gebracht werden können. Gerade wenn Jesus auf den Umgang mit Reichtum und die mangelnde Solidarität mit den Bedürftigen verweist203, wird seine Botschaft für das Motiv des „Zornes Gottes“ als Einspruch gegen eine fehlgeleitete Existenzorientierung transparent.204 Zweitens: Fernab der exegetischen Abwägung gilt es jedoch diesen Zusammenhang weitergehend daraufhin zu durchdenken, ob die Perspektive des „Zorns“ zu einem tieferen Verständnis der Botschaft Jesu beitragen kann. Meines Erachtens ist diesbezüglich dem grundsätzlichen Einwand Beachtung zu schenken, dass gerade die Rede vom Zorn und Gericht Gottes das Profil seiner Liebe schärft. Gerät so doch in den Blick, dass Gott innerlich nicht gewillt ist, das Leiden der Opfer und das lebensfeindliche Handeln der Täter zu akzeptieren.205 Es kann angenommen werden, dass auch Jesus kein naives Verständnis von der liebenden Zuwendung Gottes hatte. Stellt sich im Umkehrschluss doch die Kernfrage: Kann Gott unberührt bleiben, wenn jemand seine Heilsoption ausschlägt, ja vielmehr noch in freier Entscheidung in seiner gottes-, menschenund letztlich lebensfeindlichen Existenz verharrt? Für Jesus gibt es, wie oben aufgezeigt, die diesbezügliche Perspektive eines Ausschlusses vom Reich Gottes im Zeichen des Endgerichts. Gerade weil Gott jedoch den Menschen nicht teilnahmslos gegenübersteht, versucht Jesus durch seine Wort- und Tatverkündi-
200 201 202
203 204
205
Vgl. auch MIGGELBRINK, Der Zorn Gottes, S. 229. Vgl. auch DIETZ, Biblische und systematisch-theologische Aspekte, S. 51 (These 12). Die Bedeutung der Umkehr in der Gerichtspredigt Jesu stellt besonders REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 313 heraus. – Auch Johannes verwendet die radikale Rede vom „Zorn Gottes“, wie oben aufgezeigt, um seinen Zuhörer dazu zu bewegen, sich neu zu Gott hin zu orientieren, auch er verweist auf ein letztgültiges Heilshandeln Gottes. Vgl. KOSCH, Zärtlichkeit und Zorn – Der Gott Jesu, S. 53. Dieser Aspekt wird in den nachfolgenden Kapiteln weitergehend herausgearbeitet und profiliert. Vgl. TÜCK, Der Zorn – die andere Seite der Liebe Gottes, S. 387–388.
62
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
gung alles, um die Menschen zu einer Heilsannahme, das heißt einer Neuorientierung hinein in die heilvolle Herrschaft Gottes im Zeichen des kommenden Gerichts, zu bewegen. Die Metapher des Zorns206 kann für das Verständnis dieses eschatologischen Zusammenhangs in der Botschaft Jesu grundsätzlich hilfreich sein: Wie die Rede von der „Liebe Gottes“ dessen bedingungsloses Werben um den sündigen Menschen zum Ausdruck bringt, kann die Rede vom „Zorn Gottes“ sein tiefergehendes Involviertsein bzw. sein Verletztsein bei einer letztlichen Zurückweisung dieser durch Jesus neu eröffneten Beziehung verdeutlichen. 207 Als Handlungsbegriff verweist sie hierüber hinausgehend vielmehr noch auf Gottes unbedingten Willen zur Durchsetzung seiner heilvollen Herrschaft und damit auf sein letztgültig engagiertes Eintreten für Gerechtigkeit. 208 Gerade in dieser Verständnisdimension des Gerichts liegt nämlich das verbindende Moment zwischen Jesus und Johannes. In Bezug auf Jesus ist jedoch davor zu warnen, die Rede vom „Zorn Gottes“ überzustrapazieren oder das Gericht Gottes gar als Bild für ein grausames Vergeltungs- oder Vernichtungshandeln gegenüber den Sündern fehlzuinterpretieren. Ganz im Gegensatz will der Gott Jesu, wie deutlich geworden sein sollte, seine Herrschaft nämlich vorrangig durch eine gnadenhafte Hineinnahme der Sünder in diesen Heilszusammenhang erreichen. Dieses „Reich Gottes wird bevölkert von begnadigten Sündern“209, wie Ralf Miggelbrink treffend bemerkt. Für die weitere Analyse ergibt sich zunächst, dass auch implizite Verweise auf das Motiv des „Zornes Gottes“ nicht im Widerspruch zur Verkündigung Jesu stehen müssen, sondern sich in die Perspektive des heilvollen Beginns der Herrschaft Gottes einfügen und diese erhellen können. Dabei gilt es, die bereits offengelegten Zusammenhänge weiter zu verfolgen, insbesondere mit Blick darauf, inwiefern diese Beziehungsmetapher ein tieferes Verständnis des von Jesus 206
207
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209
Der „Zorn Gottes“ wird, wie bisher deutlich wurde und die weiteren Ausführungen zeigen, hier nicht als „Eigenschaft“ gedacht. So will auch das AT mit dieser Metapher ebengerade keine Wesensbeschreibung Gottes vollziehen (vgl. auch GROß, Zorn Gottes – ein biblisches Theologumenon, S. 233–234 → Zorn als „Aktions- bzw. Reaktionsweise“ Gottes). Insofern verwundert es nicht, wenn R. Miggelbrink im Rahmen seiner exegetischen Analyse folgert, dass sich aus der Gerichtsverkündigung Jesu kaum Erkenntnisse über den „Zorn als Eigenschaft Gottes“ gewinnen lassen (vgl. MIGGELBRINK, Der Zorn Gottes, S. 235.) S. Volkmann arbeitet heraus, dass gerade auch die metaphorische Rede vom „Zorn“ zentral ist, um Gottes Gericht vor dem Hintergrund des christlichen Verständniszugangs „Gott ist die Liebe“ angemessen zu begreifen (vgl. VOLKMANN, Der Zorn Gottes, S. 266–267) Ergänzend hierzu bemerkt D. Kosch: „Die schon im Ersten Testament und im Judentum geprägte Metapher ‚Reich Gottes‘ geht zurück auf die Vorstellung, dass Gott herrscht wie ein König. Vom hebräischen oder aramäischen Sprachverständnis her ist damit nicht eine Zustandsbeschreibung gemeint, sondern ein dynamisches Geschehen: Gott setzt sich durch. Jesus geht es also nicht um das ‚Sein‘ oder das ‚Wesen‘ Gottes, sondern um sein Handeln.“ (KOSCH, Zärtlichkeit und Zorn – Der Gott Jesu, S. 42). MIGGELBRINK, Der zornige Gott, S. 78.
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
63
verkündigten liebenden Gottes ermöglicht. Deswegen werden in einem nächsten Schritt diesbezügliche Parabeln Jesu analysiert, die versuchen, ebendiese Verbindung zwischen Gott und dem Menschen, Irdischem und Himmlischem, Aussagbarkeit und Unbegreiflichkeit der Gottesherrschaft auszuloten.
3.
Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu? „Wer Ohren hat, die hörend sind, der höre!“ 210 (Lk 8,8d)
Im vorliegenden Zitat des lukanischen Jesus (vgl. auch Mk 4,23 bzw. Mt 13,9), der dieses auf die Parabel vom Sämann (vgl. Lk 8,4–8a) folgen lässt, klingt bereits die appellhafte Bedeutung der Gleichnisrede Jesu an: „Gleichnisse“ 211 (bzw. für die vorliegende Untersuchung konkreter: Parabeln212) sollen und wollen, anders als vielleicht ein reduziertes Verständnis dieses Jesusworts nahelegen könnte, die Hörerschaft nicht zu passiven Rezipienten und Rezipientinnen festgefügter theologischer Wahrheiten machen. Angestrebt wird vielmehr, diese aktiv in eine Auseinandersetzung zu verstricken und dadurch letztlich zu einem kreativen Erkenntnisprozess zu bewegen.213
210 211
212
213
So die Übersetzung F. STIERS. Grundsätzlich handelt es sich bei der Bezeichnung „Gleichnis“ um einen Sammelbegriff, unter dem sich verschiedene Unterformen subsumieren lassen: Vgl. hierzu ERLEMANN, Art. Gleichnisse (NT), 1. (S. 1–5 in der PDF-Version), online abrufbar unter: http://www.bibel wissenschaft.de/stichwort/48932/ (Stand: 25.06.2020). Bei den für die Analyse relevanten Texten handelt es sich (wie Erlemann zutreffend herausstellt) um Parabeln bzw. Gleichniserzählungen: „Im Unterschied zum ‚besprechenden‘ Gleichnis erzählt die Parabel eine weitgehend realistisch wirkende, aber frei erfundene und einmalige Handlung, die von der Interaktion mehrerer Akteure (Herr, Knechte usw.) lebt. […] Wie beim ‚Gleichnis‘ klammert die Parabel die ‚Sache‘ im Bild aus (Konterdetermination und zentripetale Struktur). Allerdings enthält sie Verweiselemente, die das Erzählte transparent für eine externe Deutungsebene machen. Zu diesen Verweiselementen gehören geprägte Metaphern und Bildfelder, Extravaganzen, zeitgeschichtliche Anspielungen, Einleitungsformeln sowie Anwendungen (zentrifugale Elemente) […].“ (ebd., 1.2.2. bzw. S. 3). Vgl. hierzu auch BIEBERSTEIN, Die bewegende Kraft der Gleichnisse, S. 63–67; ZIMMERMANN, Die Gleichnisse Jesu, 12–14; ferner P. MÜLLER (u. a.), Die Gleichnisse Jesu, S. 45 (Punkt 3). Dieser Aspekt wurde besonders von P. Ricoeur und H. Weder im Rahmen einer „metapherntheoretischen Auslegung“ stark gemacht (für eine Übersicht über diesen Ansatz siehe P. MÜLLER [u. a.], Die Gleichnisse Jesu, S. 29–33). Er bestimmt maßgeblich auch die Gleichnisauslegung von G. Eichholz und W. Harnisch (vgl. hierzu das zusammenfassende Kapitel „Das Gleichnis als Spiel“ bei ebd., S. 38–40).
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
64
So fundamental die diesbezügliche Relevanz der Gleichnisrede für ein tieferes Verständnis der Botschaft Jesu ist, so umstritten ist dabei die Frage nach ihrer angemessenen Interpretation. Ein Blick auf die letzten hundert Jahre gleichnistheoretischer Reflexion seit Adolf Jülicher führt diese Problematik eindrucksvoll vor Augen.214 Die Suche nach Verweisen auf den „Zorn Gottes“ in den Gleichniserzählungen Jesu (vgl. Mt 18,23–35; Mt 22,1–14 par. Lk 14,16–23/24) muss diesem Problem Rechnung tragen, oder konkreter formuliert: Für ihre exegetisch verantwortbare Analyse müssen, ausgehend von einem Blick auf bisherige Ansätze im Rahmen der Gleichnistheorie, zentrale Untersuchungsaspekte und methodische Vorgehensweisen geklärt werden. Nur so kann abschließend angemessen eingeschätzt werden, ob die hier eröffnete Rede vom Zorn des jeweiligen Handlungssouveräns in Mt 18,34, Mt 22,7 und 14,21 auch exegetisch auf Gott übertragbar ist.
3.1
Impulse der Gleichnistheorie
Ziel des vorliegenden Kapitels ist es somit nicht, verschiedene Ansätze der Gleichnisauslegung zu resümieren und in ihrer jeweiligen Bedeutung zu diskutieren. Vom Anspruch her wesentlich bescheidener gilt es nunmehr mit Blick auf die Forschungsgeschichte einzelne, für die exegetische Analyse zentrale, Diskussionsaspekte auszuweisen und sich hieraus ergebende Impulse sowie Konsequenzen für die vorliegende Arbeit zu reflektieren. Zur besseren Übersichtlichkeit werden diese nachfolgend in Form einer Nummerierung aufgelistet. Wenn nachfolgend von „Gleichnissen“ gesprochen wird, ist zugleich bewusst, dass es sich hierbei um eine sprachlich notwendige Vereinfachung handelt. 1. Die Bedeutung der historischen Rückfrage und der literarischen Neukontex-
tualisierung: Gleichnisse besitzen, worin sich die exegetische Forschung weitestgehend einig ist, „als ‚Urgestein‘ der Jesusüberlieferung“215,eine zentrale Bedeutung für die Rückfrage nach dem historischen Jesus und seiner Botschaft. 216 214
215 216
In der Forschung ist diese zäsurhafte Bedeutung A. Jülichers, der sich gegen eine allegorische Gleichnisinterpretation wandte, unumstritten. Für einen differenzierten Überblick über den Ansatz Jülichers sowie die nachfolgende Forschungsgeschichte, die in einer Aufnahme, Weiterführung oder Neuakzentuierung der Überlegungen Jülichers bestand, siehe ERLEMANN, Gleichnisauslegung, S. 11–52; P. MÜLLER (u. a.), Die Gleichnisse Jesu, S. 16– 43; für eine Kurzzusammenfassung siehe NEUBRAND, Die Gleichnisse Jesu in der neutestamentlichen Forschung, S. 89–93. – Teilaspekte der Forschungsdiskussion werden auch im nachfolgenden Kapitel skizziert. ERLEMANN, Gleichnisauslegung, S.12. Vgl. beispielsweise ebd.
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
65
Dementsprechend hat es im Rahmen der Auslegungstradition immer wieder Versuche gegeben, aus den späteren Überarbeitungen der Evangelien die mündliche Urgestalt der jeweiligen Gleichnisse Jesu zu rekonstruieren und sie vor dem Hintergrund ihres ursprünglichen historischen Kontextes im Leben Jesu zu begreifen.217 Dieses, beispielsweise von Joachim Jeremias noch ambitioniert verfolgte Anliegen, den „bestimmten historischen Ort“218 im Leben Jesu ausfindig zu machen und damit ein Verständnis des Ursprungssinns der Gleichnisse zurückzugewinnen, wird jedoch heute weitaus kritischer gesehen. So resümiert beispielsweise Maria Neubrand: „Auch die seit Jülicher immer wieder geäußerte Meinung, dass die urchristliche Überlieferung die Gleichnisse Jesu aufgrund neuer literarischer und Gemeinde-Kontexte ‚verfälscht‘ hat, muss sich der Tatsache stellen, dass wir Jesu Gleichnisse eben ‚nur‘ in der Überlieferung der Evangelientradition haben und dass sie nie anders als als Gleichnisse des ‚erinnerten Jesus‘ zu verstehen sind. Eine ‚Ursprungssituation‘ ermitteln zu wollen[,] bleibt ebenso Konstrukt wie ein postuliertes ‚ursprüngliches‘ Gleichnis Jesu.“219
Für die vorliegende Analyse ergeben sich hieraus zwei zentrale Konsequenzen: Aufgrund der Überlieferungslage wird es auch bei der Analyse der Parabeln Jesu nicht möglich sein, seine ureigenste Stimme (seine „ipsissima vox“) zu rekonstruieren.220 Trotzdem bleibt der bereits im exegetischen Eingangskapitel skizzierte Anspruch bestehen, dass die jeweils gewonnene Aussage Jesu zumindest als Auswirkung seines Lebens verständlich gemacht
217
218 219
220
Für eine Übersicht über die entsprechende Richtung der Auslegungstradition, die in der Nachfolge A. Jülichers vor allem von Joachim Jeremias und C. H. Dodd weitergehend elaboriert wurde vgl. ERLEMANN, Gleichnisauslegung, S. 27–28; P. MÜLLER (u. a.), Die Gleichnisse Jesu, S. 23–24; N EUBRAND, Die Gleichnisse Jesu in der neutestamentlichen Forschung, S. 90–91. Vgl. Joachim JEREMIAS, Die Gleichnisse Jesu, S. 14. NEUBRAND, Die Gleichnisse Jesu in der neutestamentlichen Forschung, S. 93. Auch L. Schottroff geht davon aus, dass die ursprüngliche Gleichnisrede Jesu, außerhalb ihrer Überlieferung in den Evangelien, nicht mehr zugänglich ist (vgl. SCHOTTROFF, Die Gleichnisse Jesu, S. 139). Gleichzeitig erkennt sie jedoch an, dass die Versionen der Gleichnisse Jesu in den synoptischen Evangelien als „glaubwürdig“ einzustufen sind, da „die Lebensbedingungen und Ausdrucksweisen der Befreiungsarbeit Jesu und der Nachfolgegruppe zu seinen Lebzeiten sich nicht wesentlich von der der Nachfolgegruppen unterscheiden, die in den synoptischen Evangelien zu Wort kommen“ (ebd.). So noch der Anspruch von Joachim JEREMIAS, Die Gleichnisse Jesu, S. 14. Hierzu im Gegensatz erheben neuere Grundlagenwerke diesen Anspruch nicht mehr: Vgl. ZIMMERMANN, Die Gleichnisse Jesu, S. 3–5. Gleichnisse werden hier von Zimmermann als „prädestinierte Medien der Jesuserinnerung“ (S. 5) angesehen, ohne „dass die in den urchristlichen Texten überlieferten Gleichnisse genau in diesem Wortlaut von Jesus gesprochen wurden“ und es in Bezug auf einige „sogar eher unwahrscheinlich [ist], das Jesus überhaupt der Urheber dieser Gleichnisse war“(S. 4).
66
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung werden kann und somit eine historische Plausibilität besitzt. 221 Dabei gilt es den Bedeutungszuwachs, den ein Gleichnis durch seine Neukontextualisierung im Rahmen des Evangeliums erfährt, zu erfassen.222
2. Die Frage nach den konkreten Verfahren und methodischen Schritten der Auslegung: Je nach Absicht und Verständnis der Gleichnisse variierten auch die Erschließungsmethoden, mit denen man sich diesen annäherte. 223 In der neueren Gleichnisauslegung setzen sich als „integrativ“224 zu charakterisierende Auslegungsmodelle durch, bei denen versucht wird, unterschiedliche Zugänge anzubahnen und zu verbinden.225 Auch im Rahmen der nachfolgenden Analyse soll eine Engführung der Auslegung vermieden werden.
3. Die Frage nach dem angemessenen Umgang mit dem „metaphorischen Gehalt“ der „Gleichnisse“:
Fernab der Gattungsfrage scheint es heute in der Gleichnisforschung unumstritten zu sein, dass Gleichnisse eine „metaphorische Dimension [besitzen]“226.Ungeklärt bleibt hingegen, wodurch diese generiert wird.227 Für die vorliegende exegetische Auslegung ist darüber hinaus entscheidend, durch welche Kriterien man die (vermeintlich) metaphorische Redeweise, das
221
222
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227
Siehe zu Kriterien einer wissenschaftlich-verantworteten historischen Rückfrage, insbesondere dem „historische[n] Plausibilitätskriterium“, auch vertiefend THEIßEN/MERZ, Der historische Jesus, S. 117–119. Diesen Gedanken folgen beispielsweise auch P. MÜLLER (u. a.), Die Gleichnisse Jesu, S. 44–45; ZIMMERMANN, Die Gleichnisse Jesu, S. 4–5. Die Bedeutung des „literarischen Kontexts“ für die Interpretation stellt auch SCHOTTROFF, Die Gleichnisse Jesu, S. 145–146 heraus. P. Müller und seine Mitautoren betonen zudem die Notwendigkeit der historischen Rückfrage in Bezug „auf den Ursprungsort der Gleichnisse in der Verkündigung Jesu als auch auf ihre spätere Wirkungsgeschichte“ (MÜLLER [u. a], Die Gleichnisse Jesu, S. 45 bzw. insgesamt S. 44–45). R. Zimmermann unterscheidet im Rahmen der Forschungsgeschichte insgesamt drei unterschiedliche Zugangsweisen (vgl. ZIMMERMANN, Die Gleichnisse Jesu, S. 14–16): „historisch-diachrone Zugänge“ (S. 15), solche aus dem Bereich „literarischer Zugänge“ (S. 14– 15) sowie „hermeneutische bzw. leserorientierte Zugänge“ (S. 15–16). Während beispielsweise der Zugriff Jeremias (siehe oben) noch maßgeblich von der Literar- und Formkritik geprägt war, griffen spätere Ansätze vor allem auf narrativ-linguistische Analyseverfahren zurück. In diese Richtung weisen beispielsweise auch Ansätze, bei denen Gleichnisse „als autonome ästhetische Objekte“ (THEIßEN/MERZ, Der historische Jesus, S. 289) wahrgenommen werden (vgl. hierzu die Zusammenfassung mit Verweis auf Vertreter dieser Position bei ebd., S. 289–290). Diese Bezeichnung wählt ZIMMERMANN, Die Gleichnisse Jesu, S. 16. Vgl. ebd., S. 16 bzw. 32–44; P. MÜLLER (u. a.), Die Gleichnisse Jesu, S. 44–47. So resümierten zuletzt ERLEMANN /NICKEL-BACON /LOOSE, Gleichnisse – Fabeln – Parabeln, S. 24. „Verwendet das Gleichnis die Metapher als ‚Baustein‘ oder ergibt sich die metaphorische Dimension der Erzählung aus ihrem situativen und literarischen Kontext?“ (ERLEMANN /NICKEL-BACON /LOOSE, Gleichnisse – Fabeln – Parabeln, S. 24).
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
67
meint den bildspendenden Bereich, auf ihre Tiefendimension hin befragt. Als gängige Praxis hierfür hat sich in neueren Auslegungsansätzen zunächst vor allem eine sozialgeschichtliche Analyse etabliert, die versucht einzelne Realien vor dem Hintergrund der damaligen Lebenswelt zu verstehen. Weiterhin wird dann die Bildwelt ausgehend von damaligen Sprachkonventionen und geprägten Traditionen interpretiert, um so ihren tieferliegenden semantischen Gehalt zu erschließen. 228 Die Exegetin Luise Schottroff spricht sich jedoch in diesem Zusammenhang überzeugend dafür aus, situativ-kontextuell herauszufiltern, ob das „Gleichnis“ neben einer sozialgeschichtlich erfassbaren Ebene überhaupt metaphorische Rede verwendet. Dabei wendet sie sich gegen eine „Annahme stehender Metaphern“229, die immer nach einem gleichen Muster interpretiert werden können. Als ein Beispiel hierfür führt sie an, dass das im zeitgenössischen Judentum gängige Bild des Königs nicht automatisch als Metapher für Gott verstanden werden müsse, sondern durchaus auch (nur) auf einen weltlichen König und dessen zur Gottesherrschaft in Kontrast stehenden weltlichen Herrschaft verweisen könne.230 Schottroff spricht in diesem Zusammenhang von „antithetische[n] Gleichnissen“ 231, die Himmlisches und Irdisches ebengerade nicht gleichsetzen, sondern Kontraste zum „ReichGottes“ verdeutlichen wollen.232 Die von Schottroff geforderte Unvoreingenommenheit im Umgang mit den jeweiligen Gleichnistexten korrespondiert mit gleichnistheoretischen Ansätzen, die betonen, dass auch die metaphorische Sprache die Zuhörerschaft jeweils auf eine nur ihr eigene Weise in einen aktiv-kreativen Prozess mit hineinnehmen will. 233 Für die exegetische Analyse ergeben sich hieraus vor allem zwei Konsequenzen: Zum einen gilt es im Rahmen einer sozialgeschichtlichen Analyse die sich in der Parabel widerspiegelnden Gesellschaftsverhältnisse zu erfassen und sie somit lebensweltlich zu kontextualisieren. So kann die sozialgeschichtliche Auslegung als eine Art „Sieb“ fungieren, das hilft, tieferliegende 228
229 230 231 232 233
Vgl. exemplarisch ZIMMERMANN, Die Gleichnisse Jesu, S. 36–41; ferner SCHOTTROFF, Die Gleichnisse Jesu, S. 295 (hier Übersicht über die Gesamtmethodik) sowie P. MÜLLER (u. a.), Die Gleichnisse Jesu, S. 45. SCHOTTROFF, Die Gleichnisse Jesu, S. 132. Vgl. weiterführend ebd., S. 131–134. Ebd., S. 295. Vgl. ebd., S. 136–137. Vgl. hierzu auch die grundlegenden Gedanken bei BIEBERSTEIN, Die bewegende Kraft der Gleichnisse, S. 65–67; P. MÜLLER (u. a.), Die Gleichnisse Jesu, S. 45 (Punkt 3). – Für eine vertiefende Übersicht über entsprechende Ansätze, Gleichnisse beispielsweise als „erweiterte Metaphern“ sowie „Sprachereignisse“ zu begreifen, siehe ERLEMANN, Gleichnisauslegung, S. 29–33 (hier auch die Begriffe); P. MÜLLER (u. a.), Die Gleichnisse Jesu, S. 26–33. Gemeinsam ist entsprechenden Ansätzen, die metaphorische Rede vor dem Hintergrund einer existenziellen Ansprache an die Zuhörerschaft zu begreifen.
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung Sinndimensionen offenzulegen, und funktional zu weitergehenden Analyseschritten hinführt. Dabei gilt es jedoch, im Sinne Luise Schottroffs, nicht leichtfertig von „stehenden Metaphern“ auszugehen, sondern jeweils kritisch zu prüfen, ob eine entsprechende metaphorische Interpretation der Parabel überhaupt sinntragend ist.
4. Die Bedeutung der kommunikativ-pragmatischen Dimension der Gleichnisrede:
Gleichnisse nehmen – vielleicht noch mehr als andere Arten der Unterweisung – den Zuhörer in einen Kommunikationsprozess hinein.234 Wie Wolfgang Harnisch in Abgrenzung zu Adolf Jülicher zutreffend feststellt, liegt eine tiefere Problematik der Gleichnisrede in diesem Zusammenhang darin, dass die synoptische Tradition nahezu keine Hinweise auf den ursprünglichen Anlass und damit authentischen Kontext gibt. 235 Möglich ist es jedoch, wie bereits die vorangegangenen Überlegungen verdeutlichen, sich dem Erfahrungskontext der Zuhörerschaft anzunähern und abzuwägen, inwiefern dieser bestätigt, durchbrochen oder erweitert wird.236 Dies kann im Rahmen der exegetischen Ergründung zunächst die Perspektive damaliger Zeitgenossen Jesu fokussieren, muss jedoch im Hinblick auf eine spätere Didaktisierung auch heutige Erfahrungswirklichkeiten miteinbeziehen.
5. Die Frage nach der Begrenztheit und Offenheit der Deutung: „Gleichnis[se] im engeren Sinn“237 wollen eine Botschaft vermitteln, zielen
auf eine „Pointe“ hin, so ein Konsens innerhalb der Gleichnisforschung.238 Worin dann jedoch die eigentliche Zielaussage von Parabeln liegt, ist mitunter völlig umstritten, was die Deutungsvielfalt dokumentiert. Als vielversprechende Zugriffsmöglichkeit erweist sich in diesem Zusammenhang der im von Ruben Zimmermann herausgegebenen, aktuellen „Kompendium der Gleichnisse Jesu“239 gewählte Ansatz, eine „verbindliche Offenheit der Auslegung“240 zu ermöglichen. Die Verbindlichkeit liegt bei diesem Ansatz darin,
234
235 236 237
238 239 240
Vgl. hierzu weiterführend den bereits eben angesprochenen Artikel von BIEBERSTEIN, Die bewegende Kraft der Gleichnisse, S. 63–67. Im Rahmen der Gleichnisauslegung wurde dieser kommunikationstheoretische Auslegungsansatz vor allem von T. Aurelio und E. Arens weitergehend ausgearbeitet (vgl. hierzu die kurze Übersicht bei P. MÜLLER (u. a.), Die Gleichnisse Jesu, S. 34–37). Vgl. HARNISCH, Die Sprachkraft der Analogie, S. 57. In Übereinstimmung mit P. MÜLLER (u. a.), Die Gleichnisse Jesu, S. 45–46 (hier Punkt 4). Zur Begrifflichkeit siehe ERLEMANN, Art. Gleichnisse (NT), 1.2.1. (S. 3 in der PDF-Version), online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/48932/ (Stand: 25.06.2020). Vgl. ERLEMANN/NICKEL-BACON/L OOSE, Gleichnisse – Fabeln – Parabeln, S. 24. ZIMMERMANN, Ruben (Hrsg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu. Gütersloh 22015. ZIMMERMANN, Das neue „Kompendium der Gleichnisse Jesu“, S. 97.
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
69
dass „aufgrund historisch-semantischer Sprachkonventionen oder aufgrund philologischer Einsichten Grenzen benannt werden, jenseits derer eine Auslegung falsch oder missverständlich ist“ 241. Hierzu zählt auch, wie bereits zuvor skizziert, dass die aus der Gleichnisinterpretation gewonnene Aussage im Rahmen der Reich-Gottes-Botschaft Jesu „authentisch“ ist, diese also erhellt und nicht im Widerspruch zu ihr steht. Innerhalb dieses Interpretationsrahmens soll jedoch eine Bandbreite, mitunter auch divergierender Deutungen eröffnet werden.242 Gerade im Ansatz Zimmermanns liegt meines Erachtens auch für die vorliegende Arbeit eine Chance, einer exegetischen Engführung entgegenzuwirken.243 Nicht zuletzt aufgrund des didaktischen Anliegens kann gerade ein solcher Zugriff wie auch der Blick auf die Wirkungsgeschichte 244 der Gleichniserzählungen dabei helfen, verschiedene, exegetisch verantwortbare Sinndimensionen des vorliegenden Textes zu erschließen, die im Religionsunterricht den eigenen Deutungsprozess unterstützen können. Aus den zuvor skizzierten Impulsen und Konsequenzen der Forschungsgeschichte ergeben sich, in Orientierung an der Methodik Ruben Zimmermanns245, folgende Untersuchungsschritte: 241 242 243
244
245
Vgl. ebd., S. 97. Vgl. ebd. Hierin liegt ein Hauptkritikpunkt an einzelnen neueren Gleichnisauslegungen, in denen kategorisch herausgestellt wird, dass bei den Gleichniserzählungen in Mt 18,23–35; Mt 22,1–14/Lk 14,15–24 nicht Bezüge zu Gott eröffnet werden sollen. Vielmehr sei durchweg kontrastiv von einem weltlichen, bisweilen tyrannischen Herrscher die Rede. Ein Beispiel hierfür ist die Studie L. SCHOTTROFFS: Die Gleichnisse Jesu. Gütersloh 32010; vgl. zur Deutung von Mt 18,21–35 Seite 257–266 bzw. zur Deutung von Mt 22,1–14/Lk 14,12–24 Seite 55–68 bzw. S. 69–77). Insgesamt ist zu hinterfragen, ob ihr „Verständnis sozialgeschichtlicher Bibelauslegung im Rahmen kontextueller Theologien“ (S. 109) und die damit verbundene (berechtigte) Kritik an einzelnen Auslegungstraditionen (vgl. S. 11–13; S. 109– 119) nicht auch eine hermeneutische Perspektive bedingt, von der ausgehend als anstößig empfundene Bilder automatisch von Gott „weggerückt“ und damit theologisch entschärft werden. Ähnlich geht auch M. KÖHNLEIN im Zeichen seines programmatischen Werktitels „Gleichnisse Jesu – Visionen einer besseren Welt“ vor (vgl. exemplarisch die Deutung von Mt 18,23–35 auf Seite 95–108). – Eine weitergehende Diskussion zu entsprechenden Interpretationen erfolgt in den weiteren Kapiteln. Die wirkungsgeschichtliche Auslegung ist heute fester Bestandteil in vielen Evangelienkommentaren. Das hierin wurzelnde, dynamische Potential wird sehr pointiert im Dokument der Päpstlichen Bibelkommission herausgestellt (vgl. PÄPSTLICHE BIBELKOMMISSION, Die Interpretation der Bibel in der Kirche, S. 55–57). Vgl. ZIMMERMANN, Die Gleichnisse Jesu, S. 32–44. Anders als im „Kompendium der Gleichnisse Jesu“ wird der „historischen Rückfrage“ im Sinne der Ausgangsfragestellung der vorliegenden Studie ein eigenes Unterkapitel gewidmet, ebenso wird auch die „Neukontextualisierung“ im jeweiligen Evangelium gesondert untersucht. Die kommunikativepragmatische Dimension der Gleichniserzählungen wird hierbei nicht in einem eigenen Kapitel, sondern im Zusammenhang mit den jeweiligen Analyseschritten reflektiert.
70
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
a) die Übersetzung der jeweiligen Gleichniserzählung, b) die historische Rückfrage bzw. die Frage nach der „Verortung“ des Gleichnisses im Hinblick auf den historischen Jesus, c) die narrative Analyse des Textes, d) die sozialgeschichtliche Analyse, e) die Analyse der metaphorisch-symbolischen Bezüge (Bildfeldtradition), f) die Analyse der Kontextualisierung (intratextuelle Bezüge), g) die Gesamtdeutung im Kontext der Botschaft Jesu von der heilvollen „Gottesherrschaft“, h) Impulse der Wirkungsgeschichte der Parabel246. Durch die Analyseschritte soll gerade ein angemessenes Verständnis des „Zornesmotivs“ gewonnen werden, um sich hieraus ergebende theologische Deutungsmöglichkeiten abzuwägen. Als Textgrundlage soll in diesem Zusammenhang der Text in seiner kanonischen Endgestalt herangezogen werden.247 Falls jedoch redaktionskritische Einwände gegen einzelne Passagen bestehen, wird jeweils abgewogen, inwieweit sich Deutungshorizonte verschieben können.
3.2
„Gott – vom mitleidend-gnädigen zum zornig-erbarmungslosen Herrscher?“ – Eine Analyse von Mt 18,21–35
Am Anfang der vorliegenden Analyse soll zunächst der Text übersetzt werden. Um die kontextuelle Einordnung der vorliegenden Parabel für eine weitergehende Deutung präsent zu halten, werden die Verse Mt 18,21–22 bzw. Vers 35 hier einbezogen. Die unterschiedlichen Erzählebenen wie auch Dialogpassagen werden dabei jedoch optisch durch Einrückung hervorgehoben. Auf die weitergehende Benennung einer thematischen Überschrift wird zunächst verzichtet,
246
247
Im Hinblick auf die innere Stringenz der Analyse könnte dieses Unterkapitel auch der Gesamtdeutung vorangestellt werden. Meines Erachtens ist es jedoch zunächst notwendig, durch die Gesamtdeutung einen Verständnishorizont offenzulegen, von dem ausgehend dann auf den weitergehenden, dynamischen Rezeptionsprozess geschaut wird. Dies soll dabei helfen, genauer zu erkennen, welche Einzelmomente jeweils Bedeutung gewannen, welche neuen Sinnpotentiale erschlossen wurden oder inwieweit die Ebene der zulässigen Interpretation verlassen wurde. Insofern sind die beiden letzten Analyseschritte organisch aufeinander bezogen. Die griechische Grundlage der Rekonstruktion des griechischen Textes bildet für alle Gleichniserzählungen die 28. Auflage des Nestle-Aland „NOVUM TESTAMENTUM GRAECE“. Zusätzlich herangezogene Übersetzungen werden jeweils durch Fußnoten ausgewiesen.
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
71
da diese erst durch die Analyse erfasst werden soll. Sie bildet dann den Titel der resümierenden Deutung.
3.2.1
Übersetzung
21 Da kam Petrus zu ihm hin und sagte: Herr, wie oft wird sündigen gegen mich mein Bruder, und ich werde ihm erlassen? Bis siebenmal?248 22 Jesus sagt zu ihm: Ich sage dir nicht: Bis zu siebenmal, sondern bis zu siebzigmal siebenmal.249 23 Deswegen ist das Königtum der Himmel einem menschlichen König250 ähnlich251, der Abrechnung halten wollte mit seinen Sklaven252. 24 Als er aber begann, mit ihnen abzurechnen, wurde ihm einer vorgeführt, der [ihm] zehntausend Talente schuldig war. 25 Da er aber nichts hatte zum Vergelten 253, befahl der Herr, ihn und die Frau und die Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen und so zu vergelten.254
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So die textnahe Übersetzung der Frage Petri im MNT. Ihre „Stoßrichtung“ wird jedoch besser in der Übersetzung von W. Klaiber deutlich: „Herr, wie oft darf mein Bruder gegen mich sündigen, und ich muss ihm vergeben?“ (KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 49; Hervorhebungen durch C.W.). So die sprachlich elegante Form der revidierten EINHEITSÜBERSETZUNG 2016 (→ EÜ 2016). Ob man hier textlich präziser „Menschenkönig“ (SCHOTTROFF, Die Gleichnisse Jesu, S. 257) oder nur „König“ (z. B. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 64) übersetzt, hängt stark damit zusammen, ob man darin eine für die Interpretation weitreichendere Bedeutung vermutet. L. Schottroff weist bei der Interpretation von Mt 22,1–14 zutreffend darauf hin, dass die Übersetzung des griechischen Verbs ὁμοιόω mit „ähnlich sein“, „vergleichen“ oder „gleichsetzen“ bereits sehr stark von der jeweils bestimmenden Gleichnistheorie bedingt sei (vgl. SCHOTTROFF, Verheißung für alle Völker, S. 480). Die Übersetzung mit „ähnlich sein“ (so auch LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 64) birgt hierbei die größte Offenheit für mögliche Analogien, berücksichtigt aber gleichzeitig auch die Andersartigkeit der Königsherrschaft Gottes. Auch denkbar ist eine Übersetzung von δοῦλος mit „Knecht“. – Durch die Übersetzung mit „Sklave“ soll nur eine Form der persönlichen Unfreiheit und Abhängigkeit zum Ausdruck gebracht werden, wohingegen der jeweilige soziale Status des so Bezeichneten kontextuell geklärt werden muss. Entsprechend werden die Bezeichnungen „Sklave“ und „Knecht“ auch synonym verwendet. Folgender Aspekt wird noch im Rahmen der sozialgeschichtlichen Analyse vertiefend reflektiert. Moderner übersetzt U. Luz: „Da er aber zahlungsunfähig war […].“ (L UZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 64). Übersetzung von U. POPLUTZ, Eine universale Jesusgeschichte, S. 190. – Sperriger, aber dafür etwas dem griechischen Text näher lautete die Übersetzung im MNT: „Da er aber nicht(s) hatte zurückzugeben, befahl der Herr, dass er verkauft werde und die Frau und
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
26
Da warf der Sklave sich vor ihm nieder und bat ihn kniefällig255: Sei großmütig zu mir256, und alles werde ich Dir zurückzahlen! Der Herr jenes Sklaven wurde aber im Innersten ergriffen257, ließ ihn frei und erließ ihm die Schuld. Als aber jener Sklave herauskam, fand er einen seiner Mitsklaven, der ihm hundert Denare schuldete, und er packte ihn und würgte ihn und sagte: Gib zurück, was Du [mir] schuldest!258 Da warf sich sein Mitknecht nieder und bat ihn und sagte 259: Sei großmütig zu mir und ich werde Dir [alles] zurückzahlen. Er aber wollte nicht, sondern ging fort und warf ihn ins Gefängnis, bis er abgegolten habe das Geschuldete. 260
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260
die Kinder und alles, wieviel er hat, und dass zurückgeben werde.“ Der hier gewählte Begriff „Vergeltung“ bzw. „vergelten“ bringt nicht zuletzt auch durch seine rechtliche Dimension treffender zum Ausdruck, dass ein Missverhältnis entstanden ist, dessen Ausgleich es bedarf. Interessant ist hierüber hinausgehend die anders gelagerte Übersetzung von S. Schneider: „… – weil er aber nicht vermochte zurückzuzahlen, befahl ihm der Herr, dass verkauft wird sowohl die Frau und die Kinder als auch alles, was er hat, und dass zurückbezahlt wird.“ (SCHNEIDER, Barmherzigkeit und Zorn!, S.166, zur tiefergehenden Begründung siehe S. 164–169). Wörtlicher: „Fallend nun fiel der Sklave nieder vor ihm“ (MNT). – In der hier gewählten Übersetzung von KLAIBER (Das Matthäusevangelium II, S. 49) kommt jedoch die Demutsund Achtungsgeste des Sklaven pointierter zum Ausdruck. Noch anschaulicher übersetzt deswegen F. STIER: „Da warf sich der Knecht nieder, verneigte sich tief vor ihm und sagte …“. Das Bedeutungsspektrum des Verbs μακροθυμέω verweist eher auf den Aspekt des „Geduldhabens“ bzw. „Ausharrens“. Im Hinblick auf die Aussichtslosigkeit, die unaufbringbare Schuldensumme zurückzuzahlen, erscheint jedoch die vorliegende Übersetzung im MNT treffender. So die offenere Übersetzung bei POPLUTZ, Eine universale Jesusgeschichte, S. 190. Denkbar wäre es auch, das Verhalten des Königs mit „Mitleid haben“ zu übersetzen. Im revidierten Text der Lutherbibel von 1984 heißt es „Da hatte der Herr Erbarmen …“. Eine entsprechende Übersetzung bildet jedoch bereits vorab eine, für theologische Auslegungsmuster gängige, semantische Opposition zu den beiden Reaktionen des Königs in Vers 27 („Erbarmen“) und Vers 34 („Zorn“) aus (vgl. hierzu besonders ERLEMANN, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, S. 77 bzw. S. 81–82), die nachfolgend erst überprüft werden soll. So die Übersetzung F. STIERS. Übersetzung in starker Anlehnung an KLAIBER (siehe oben), um die Analogie beider Verhaltensweisen zu verdeutlichen. Trotzdem ist die „Huldigungsgeste“ hier, da es sich nicht um einen König handelt, zurückgenommen – so zutreffend SCHNEIDER, Wehrhafte Liebe (Mt 18,23–35), S. 267. Übersetzung in starker Anlehnung an U. POPLUTZ, Eine universale Jesusgeschichte, S. 190.
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu? 31
73
Als aber seine Mitsklaven das Geschehene sahen, wurden sie sehr betrübt261, und kamen und berichteten ihrem Herrn alles, was geschehen war. Dann rief sein Herr ihn herbei und sagte zu ihm: Bösartiger Sklave, all jene Schuld erließ ich Dir, weil Du mich darum batest!262 Hättest nicht auch Du dich Deines Mitknechts erbarmen müssen, wie ich mich Deiner erbarmt habe?263 Und in seinem Zorn264 lieferte der Herr ihn den Folterern aus, bis er abgegolten habe alles Geschuldete. So wird auch mein Vater, der himmlische, Euch tun, wenn Ihr nicht von Herzen erlasst – ein jeder von Euch seinem Bruder.265
32
33 34 35
3.2.2
„Kann so eine Erzählung von Jesus stammen?“ – Zur historischen Rückfrage
Die vorliegende Parabel wird nur bei Matthäus überliefert. Dementsprechend enthält sie hohe Bestandteile „an redaktionellem Vorzugsvokabular“266. Denkbar ist somit, dass Matthäus eine zuvor mündlich tradierte Erzählung verschriftlicht hat.267 Auch wenn die vorliegende Parabel, wie die nachfolgende narrative Analyse zeigen wird, in sich geschlossen komponiert ist, ist einzelnen redaktionskritischen Einwänden Beachtung zu schenken. Der katholische Neutestamentler Ulrich Luz resümiert diesbezüglich mit Blick auf die in der exegetischen Forschung vertretenen Positionen zur vorliegenden Gleichniserzählung „zwei Grundtypen von Dekomposition“268, die unterschiedlich weit gefasst sind. So geht Hans Weder beispielsweise davon aus, dass die ursprüngliche Parabel nur
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Sehr schön akzentuiert ist auch hier die Übersetzung von U. POPLUTZ: „Als nun seine Mitknechte das Geschehene sahen, wurden sie traurig – so sehr!“ (ebd.). Übersetzung in Anlehnung an das MNT. Hier mit den Worten „Böser Sklave…“ eingeleitet. Die von mir gewählte Übersetzung soll jedoch die Entrüstung des Herren über das rein eigennützige Verhalten des ersten Sklaven noch klarer verdeutlichen. So die Übersetzung von W. KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 49. Die persönlichen Anreden wurden durch Großschreibung von mir akzentuiert. Durch die hier gewählte Formulierung der revidierten EÜ 2016 wird sehr gut deutlich, dass der Zorn bereits zuvor im Herrn aufkommen und weiter gewachsen ist. So die syntaktische gelungene Übersetzung von Vers 35 durch F. STIER. – Die Anreden wurden durch den Verfasser hervorgehoben. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 66. Die zahlreichen Einzelbelege für die jeweiligen Verse finden sich in Fußnote 9. Diese These vertritt U. Luz (vgl. ebd.). Ebd., S. 67.
74
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
die Verse 23–30 umfasste269, andere Exegeten setzen bei dem für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit zentralen Vers 34 an, der als sekundäre Hinzufügung betrachtet wird270. Interessant ist, dass bei entsprechenden Positionen zwar vordergründig mit der Logik des Erzählzusammenhangs bzw. der narrativen Stringenz der Erzählung argumentiert wird, im Kern aber theologische Werturteile maßgeblich sind. So bemerkt beispielsweise Joachim Gnilka: „Innerhalb der Gleichnisgeschichte ist V 34 ein zusätzliches Element, denn er verlagert den Akzent von der Güte des Herrn auf das unerbittliche Gericht.“271
Hans Weder konkretisiert den Grund der bei Gnilka anklingenden Ablehnung noch weitergehend, wenn er dann herausstellt: „Das nach V. 34 über den Knecht hereinbrechende Gericht dagegen darf gar nicht mehr erzählt werden, denn es relativiert die zuvorkommende Barmherzigkeit Gottes. Es macht diese nämlich abhängig von unserem (Un-)Vermögen, ihr zu entsprechen.“272
Wie schon der inklusive Sprachgebrach Weders verdeutlicht, scheint es hier weniger das historisch-kritische Sachargument273 als vielmehr ein persönliches, theologisches Unbehagen zu sein, dass die traditions- und redaktionskritische Analyse bestimmt. Insgesamt basieren viele der entsprechenden Argumentationen, wie Marius Reiser zutreffend feststellt, auf einer „petitio principii“, einem Zirkelbeweis, da die Aussageabsicht der Parabel unter Ausschluss von Vers 34 (oder weiterer Verse) erhoben und dann zur Begründung dieses Ausschlusses angeführt wird.274 269
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273
274
Vgl. zur Gesamthypothese WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, S. 212 (bzw. S. 210– 213). Vgl. hierzu beispielsweise HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 264–265; GNILKA, Das Matthäusevangelium II, S. 144; zur weitergehenden Deutung siehe S. 146–147. GNILKA, Das Matthäusevangelium II, S. 144 (Hervorhebungen durch C.W.); vgl. weitergehend auch die Begründung bei HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 264–265. WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, S. 215 (Hervorhebung im Original, Unterstreichung durch C.W.). Zuvor führt er mit Blick auf den sekundären Charakter der Verse 31–34 sprachlich-stilistische Aspekte an (vgl. WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, S. 211/Fußnote 7 und 8), die aber in weiten Teilen bereits von W. Harnisch nachvollziehbar widerlegt werden (vgl. HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 262–264). Vgl. REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 266 (hier auch wörtlich zitierter Begriff). Diese Kritik Reisers wird auch sehr deutlich bei der entsprechenden Begründung von W. Harnisch. Dieser argumentiert damit, dass durch die Widerrufung der zuvor gewährten Barmherzigkeit durch den König „die Souveränität der privilegierten dramatischen Figur eingeschränkt [wäre]“ (H ARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 265), so dass letztlich eine Hineinnahe von Vers 34 in den Erzählzusammenhang einen „Selbstwiderspruch des Handlungssouveräns“ (ebd., S. 265) bedinge. Hiergegen könnte man anführen, dass sich die Souveränität des Königs gerade in der flexiblen Reaktion auf eine neu entstandene Ausgangssituation zeigt, bei der er das Verhalten des ersten Sklaven entsprechend seines
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
75
In Bezug auf den Umgang mit dem vorliegenden Textbestand ist deswegen Ulrich Luz rechtzugeben, der diesbezüglich resümiert: „Die traditionsgeschichtlichen Rekonstruktionsversuche nötigen zu einer grundsätzlichen Bemerkung: Wir haben hier m.E. ein Musterbeispiel dafür, wie theologische Prämissen eine traditionsgeschichtliche Rekonstruktion leiten. Offensichtlich möchte man den Gerichtsgedanken von Jesus fernhalten. Sachkritik durch Traditionsgeschichte?“275
Aus redaktions- sowie literarkritischer Perspektive gibt es somit letztlich keine zwingenden Indizien, die dazu führen würden, die vorliegende Gleichniserzählung insgesamt als Neuschöpfung von Matthäus zu begreifen, oder sie dem historischen Jesus abzusprechen. 276 Dementsprechend soll durch die nun folgende Analyse geprüft werden, inwieweit die vorliegende Parabel sich unter Einschluss von Vers 34 in die Botschaft Jesu einfügt, neue Impulse liefert und daher mit Blick darauf, was man heute als Kernbestand der Gottesvorstellung Jesu anerkennt, eine Authentizität beanspruchen kann.
3.2.3
Ein „Drama in drei Akten“277 – Narrative Analyse
Die vorliegende Parabel wartet nicht mit einem harmonischen Handlungsverlauf auf, sondern endet tragisch mit der grausamen Verurteilung des ersten Knechts, der seine Gnade beim König vollends verspielt hat. Das hier narrativ entfaltete „Drama“ konstituiert sich in drei Szenen (V. 23b–27, V. 28–30, V. 31– 34), die jeweils durch eine teilweise Parallelität im Aufbau und zugleich auch durch Kontraste geprägt sind.278
275 276
277
278
Handelns sanktioniert. Vom Erzählzusammenhang existiert also zunächst kein fundamentaler Widerspruch. Dieser entsteht erst, wenn man wie Harnisch von der Deutung ausgeht, dass im Handeln des Königs „der Akt der Güte als ein Ereignis in Erscheinung treten [soll], das sich durch die Macht des Faktischen nicht beeinträchtigen lässt“ (ebd., S. 265). LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 67. Vgl. hierzu grundlegend auch die Analyse bei WEISER, Die Knechtsgleichnisse der synoptischen Evangelien, S. 87–93 (besonders S. 92–93). Ebenso LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 68. Luz sieht vor allem die Verse 35 und 23a, aufgrund der Verklammerung mit weiteren Versen des Kapitels 18, als redaktionelle Bearbeitungen an. Da sich die Deutungshorizonte jedoch aus einer Analyse des Bildbereichs ergeben sollen, wäre eine Herausnahme des bereits deutungsleitenden Verses 35 nicht problematisch. Diese Formulierung wählt z. B. KÖHNLEIN, Gleichnisse Jesu – Visionen einer besseren Welt, S. 96. Diese Aufteilung wird von der Mehrheit der Exegeten und Exegetinnen geteilt: Vgl. für einen Überblick SCHNEIDER, Barmherzigkeit und Zorn!, S. 161/Fußnote 4. W. Harnisch bestimmt den Charakter der Szenen beispielsweise in der Abfolge Situation – Krise – Lösung (vgl. HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 259). Eine diesbezüglich besonders anschauliche Aufgliederung der Szenenstruktur findet sich bei ROOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 445–446.
76
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
Die erste Szene (V. 23b–27) ist im Haus (bzw. Palast) des Königs angesiedelt, sowohl der König als auch der erste Sklave sind dabei die zentralen Protagonisten. Im Anschluss an die Einforderung einer extrem hohen Schuldsumme von 10.000 Talenten (V 24–25) unterwirft sich der erste Sklave mit der Bitte um Zahlungsaufschub (V. 26). Überraschend erlässt ihm der mitleidend-gnädige Herr diese dann (V. 27). Es folgt die zweite Szene vor dem Haus des Königs, die sich zwischen dem ersten Sklaven und einem Mitsklaven abspielt. Analog zur vorangegangenen Situation, wenn auch bereits zu Beginn wesentlich gewaltvoller, fordert der erste Sklave vom zweiten Sklaven eine deutlich geringere Schuldensumme von 100 Denaren zurück (V. 28), die dieser ebenfalls nicht entrichten kann und dementsprechend um einen Aufschub bittet (V. 29). Im Kontrast zu den eigenen Erfahrungen gewährt der erste Sklave diesem nun keine Gnade, sondern lässt ihn ins Gefängnis werfen (V. 30). Dadurch ist der „dramatische Boden“ für die dritte und letzte Szene angelegt: Nachdem der Herr von dem Verhalten des ersten Sklaven erfahren hat (V. 31)279, klagt er diesen in einer Schlussrede an (V. 32–33), was letztlich darin mündet, dass er ihn im Zorn den Folterknechten zur Begleichung der Schuld(en) übergibt.280 Wiederholungen verbinden die einzelnen Szenen und dienen dabei erzählerisch oftmals der Kontrastierung (vgl. die Höhe der Schuldensummen, die nahezu identischen Bitten um Schuldenerlass, die positive sowie negative Reaktion der Gläubiger).281 Die dramatische Handlung erwächst insgesamt aus der Dreieckskonstellation des Königs als „Handlungssouverän“, seiner Interaktion mit dem ersten Sklaven als „Mittelfigur“ und dessen Interaktion mit dem zweiten Sklaven als „Drittfigur“.282 In auffälliger Parallelität wird jeweils in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Gläubiger und Schuldner in den Blick genommen (vgl. V. 26/29 bzw. 30/34).283 Eine besondere Spannung entsteht hierbei aus dem „Rollenwechsel der Mittelfigur“284, dem, wie es Uta Poplutz treffend formuliert, „gnadenlosen Begnadeten“285, dem ersten Sklaven. Sein Verhalten ruft in besonderer Weise den Protest 279
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Insgesamt wäre es möglich, in Vers 31 eine weitere Szene zu sehen, da hier neue Handlungsträger auftreten (vgl. auch die weitergehenden Überlegungen bei LEUTZSCH, Verschuldung und Überschuldung, S. 107). Vgl. hierzu besonders die Übersicht bei ROOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 445–446. Dies betont beispielsweise LEUTZSCH, Verschuldung und Überschuldung, S. 106; ebenso ERLEMANN, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, S. 78. Vgl. zu diesem Typ des „dramatischen Dreiecks“ vertiefend HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 74–83 (hier auch die entsprechend durch Anführungsstriche gekennzeichneten Fachtermini); eine kurze Zusammenfassung findet sich bei EBNER/HEININGER, Exegese des Neuen Testaments, S. 77–78. Dies bemerkt beispielsweise auch LUCK, Das Evangelium nach Matthäus, S. 208. Vgl. HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 259. So die sehr treffende Formulierung bei POPLUTZ, Eine universale Jesusgeschichte, S.191.
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der Hörer- bzw. Leserschaft hervor, der in der Gruppe der Mitsklaven seinen Widerhall findet.286 Bereits die in Vers 29 in Bezug auf den zweiten Sklaven gewählte Rede vom „Mitsklaven“ (griech. σύνδουλος) verdeutlicht nämlich die aufgrund derselben Klassenzugehörigkeit eigentlich geforderte Solidarität,287 die dieser erste Sklave aus unbenannten Motiven288 nicht bereit ist zu gewähren. Vielmehr noch ist sein Umgang mit dem Gegenüber von Anfang an von Brutalität geprägt (vgl. V. 28); die Verweigerung des Zahlungsaufschubes erscheint im Hinblick auf die weitaus geringere Schuldensumme289 in keiner Weise nachvollziehbar. Die vom Erzähler intendierte Leserlenkung zielt also darauf ab, das völlig unverständliche und anstößige Verhalten des ersten Sklaven vor Augen zu führen, ja Empörung zu provozieren.290 Er und nicht der König als Handlungssouverän und „Autoritätsfigur“291 soll Gegenstand der Kritik sein. Dieser König ist insgesamt interessanterweise die einzige Erzählfigur, über deren Handlungsmotive man direkt Auskünfte erhält. Es wird deutlich, dass er nicht teilnahmslos auf das Schicksal des ersten Sklaven blickt, sondern vielmehr von dessen aussichtsloser Situation innerlich betroffen ist (V. 27), also Mitleid und Erbarmen empfindet. Seine Reaktion, die in der Freilassung des Sklaven mündet, überrascht und übersteigt dabei bei Weitem das Erwartbare.292 Wie sein Mitleid nicht selbstbezogen, sondern auf ein Gegenüber ausgerichtet ist, ist es dann auch sein Zorn. Dieser erwächst nämlich aus dem Verhalten
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Vgl. z. B. LEUTZSCH, Verschuldung und Überschuldung, S. 107; ebenso POPLUTZ, Eine universale Jesusgeschichte S. 191. – M. Wolter geht vielmehr davon aus, dass der vom Erzähler „intendierte Hörer“ sich in der Person des ersten Sklaven widerspiegelt (vgl. W OLTER, „Gericht“ und „Heil“, S. 67). Dies ist für den ersten Teil der Erzählung auch plausibel, greift jedoch für die Gesamterzählung zu kurz. Dies erkennt zutreffend LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 71/Fußnote 51. M. Köhnlein bemerkt psychologisierend, dass dieser die Begegnung mit dem König als Demütigung empfunden habe und dementsprechend „nur einen starken Aggressionstau, eine Riesenwut“ empfinde (vgl. KÖHNLEIN, Gleichnisse Jesu – Visionen einer besseren Welt, S. 103; hier auch wörtlich zitierte Formulierung). Diese bunte Ausmalung der Gefühlswelt sollte jedoch nicht drüber hinwegtäuschen, dass die Erzählung über die Motive des ersten Sklaven keine Auskunft gibt, hier also eine erzählerische Leerstelle vorliegt. Den augenfälligen Kontrast beider Schuldensummen bzw. die im Vergleich geringe Schuldensumme des zweiten Sklaven erwähnen beispielsweise LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 71; ROOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 446. Vgl. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 71–72 (hier auch weiterführende Gedanken); für eine Übersicht über weitere Autoren siehe SCHNEIDER, Barmherzigkeit und Zorn!, S. 161/Fußnote 3. Vgl. die weiterführende Analyse zu entsprechenden Autoritätsfiguren im Matthäusevangelium bei MÜNCH, Die Gleichnisse Jesu im Matthäusevangelium, S. 197–201. Diesen erzählerisch überraschenden Wendepunkt betont beispielsweise auch KÖHNLEIN, Gleichnisse Jesu – Visionen einer besseren Welt, S. 100.
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
des ersten Sklaven gegenüber dem zweiten.293 Die den Herrn dabei leitenden Wertmaßstäbe werden indirekt in der Anklage des Königs in Vers 33 deutlich:
„Hättest nicht auch Du dich Deines Mitknechts erbarmen müssen, wie ich mich Deiner erbarmt habe?“294. Diese Worte geben zu erkennen, dass zumindest die
Wertausgangsbasis des Königs gleichgeblieben ist: So ist es die Vergebungsbereitschaft, die zunächst Maßstab seines Umgangs mit dem ersten Sklaven war und beim zweiten Mal zur Richtschnur von dessen Verurteilung wird (V. 34). So wird der König – in Aufgriff der Formulierung Sebastian Schneiders – erzählerisch insgesamt als „zugewandt und barmherzig“295, zugleich aber auch als „streng und gerecht“296 charakterisiert. Eine erneute Vergebungsbereitschaft entspräche nicht den Erwartungen und dem Gerechtigkeitsempfinden der sich mit dem geringeren Sklaven solidarisierenden Zuhörer und Zuhörerinnen, da sich dieser erste Sklave ihr zuvor selbst entzogen hat.297 Tatsächlich könnte man deswegen unter Aufgriff der Position von Wolfgang Harnisch fragen, warum die Erzählung mit der rhetorisch zu verstehenden Frage in Vers 33 nicht stilgemäß endet 298? Ein erzählerisches Anliegen liegt vermutlich darin, wiederum Gegensätzlichkeit und Kontrast als belebende und thematische Bezüge eröffnende Mittel einzusetzen, nunmehr durch die Gegenüberstellung zweier Reaktionsweisen des Königs sowie damit verbundener Gefühlsregungen: Auf der einen Seite steht so das Erbarmen des Herrn, mit dem dieser zunächst die Schulden erlässt (vgl. V. 27), auf der anderen Seite sein Zorn, mit dem er die anfängliche Entscheidung revidiert (vgl. V. 34).299 Nach Kurt Erlemann ist folglich erzählerisch thematisiert, warum der König den zugesagten Schuldenerlass widerruft bzw. auf einer abstrakteren Ebene, in welcher Beziehung sein Zorn und sein Erbarmen zueinander stehen.300
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M. Leutzsch merkt darüber hinaus zutreffend an, dass die vorliegende Parabel insgesamt eine „affektive Dimension“ besitzt, „die den HörerInnen als Identifikationsangebot dient“ (LEUTZSCH, Verschuldung und Überschuldung, S. 107/Fußnote 5). So die Übersetzung von W. KLAIBER (s.o.). SCHNEIDER, Wehrhafte Liebe (Mt 18,23–35), S. 273 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 272 (Hervorhebung im Original). Beide Aspekte benennt Schneider in seiner abschließenden, theologischen Deutung. Dies betont auch LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 72. Dieses Argument für den Charakter von Vers 34 als spätere Erweiterung der Tradition formuliert HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 264. Bereits A. Weiser bemerkt im Gegensatz zu Harnisch, dass ein Vergleich mit den anderen 38 Gleichnissen der Synoptiker dem entgegenstehe. So gäbe es keines, das mit einer offenen Frage ende, die der Hörer nicht unmittelbar beantworten könne (vgl. WEISER, Die Knechtsgleichnisse der synoptischen Evangelien, S. 91). So zutreffend ERLEMANN, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, S. 77. Vgl. ebd.
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
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Inwiefern Vers 34 diesbezüglich neue Impulse liefert, kann jedoch alleine auf der textimmanenten, sprachlich-narrativen Ebene nicht beantwortet werden. Hierfür müssen vielmehr weitergehende Informationen zum sozialgeschichtlichen Hintergrund wie auch der tiefergehenden Bedeutung und Symbolik der hier angesprochenen Zusammenhänge erhoben werden.
3.2.4
Sozialgeschichtliche Analyse
Die fiktionale Dimension von „Gleichnissen“ bedingt, dass sie die vorfindliche Realität nicht einfach abbilden, sondern dass diese mitunter nur übertrieben, gebrochen und deswegen selektiv in die Erzählung eingebaut wird.301 Die damit einhergehende, berechtigte Frage, ob eine sozialgeschichtliche Analyse aufgrund dieses Kompositions- sowie Konstruktionscharakters zielführend ist,302 kann jedoch positiv beantwortet werden. So trägt ein Blick auf das zeitgenössische Umfeld des Erzählers zu einem besseren Verständnis der Parabeln bei303 und von diesem abweichende Elemente können als Hinweise auf weitergehende Sinnebenen hin analysiert werden304. In Bezug auf die vorliegende Erzählung sind es vor allem zwei Bereiche, die für eine weitergehende sozialgeschichtliche Analyse relevant sind: Die hierarchische Beziehung zwischen den einzelnen Figuren der Erzählung (siehe oben), deren Bedeutung und Auswirkung im Kontext einer größeren „Schuldenthematik“ (Schuldensumme, Schuldenerlass, Schuldeneintreibung) entfaltet wird. 305 Dabei hat in der exegetischen Auseinandersetzung vor allem die hohe Schuldensumme des ersten Sklaven von 10.000 Talenten zu Kontroversen geführt. Während einige Exegeten diese als unrealistisch und bewusst eingesetztes erzählerisches Mittel beurteilen,306 kommen andere zu dem Ergebnis, dass 301
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Dies stellt im Hinblick auf die Gleichnisse des Matthäusevangeliums C. Münch heraus (vgl. MÜNCH, Die Gleichnisse Jesu im Matthäusevangelium, S. 183, insgesamt S. 175–183). Vgl. zu dieser Diskussion ROOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 450 (hier Verweis auf weitere Autoren). Mit ebd. Vgl. hierzu auch die differenzierteren Überlegungen bei MASSA, Verstehensbedingungen von Gleichnissen, S. 224–231 (besonders S. 226–227). H. Roose benennt als maßgebliche Diskussionsaspekte der exegetischen Forschung: „a. die Höhe der Schuld des 1. Sklaven, b. der königliche Schuldenerlass, c. die in der Parabel vorausgesetzten rechtlichen Verhältnisse“ (ROOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 451). – Ich denke jedoch, dass gerade der letzte Aspekt aufgrund der unklaren Lokalisierung des Handlungsortes dieser fiktionalen Erzählungen, zu weit führt. Vgl. neben der bereits im Rahmen der narrativen Analyse angeführten Position von U. Luz (vgl. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 71–72) exemplarisch die Bemerkung U. Lucks: „Um des Kontrastes willen, der im Dienste der Evidenz des Gleichnisses steht, wird mit einer so großen Summe gearbeitet.“ (LUCK, Das Evangelium nach Matthäus, S. 209). Eine entsprechende Haltung kommt auch in der Bemerkung des Neutestamentlers D. A. Hagner zum Ausdruck: “Parables, however, by their nature often employ hyperbole
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
entsprechende Summen doch vorstellbar sein könnten307. Luise Schottroff regt in diesem Zusammenhang an, die Schuldensumme weniger als einen privaten Kredit, als vielmehr als Tribute von Herrschaftsgebieten zu verstehen. Demnach wären königliche Abgabe- und Steuerforderungen angesprochen, die ein in der Sklavenhierarchie hoch gestellter Sklave308 einziehen müsse.309 Fernab ihres Zustandekommens verweist die Größe der Schuldensumme insgesamt auf eine gesellschaftliche Sphäre, die den damaligen Zuhörern und Zuhörerinnen im Umfeld Jesu aus ihrem Lebensumfeld wenig vertraut sein dürfte. Der erste Sklave bietet somit wenig Identifikationspotential. 310 Dabei überrascht jedoch die für diese höchste Gesellschaftsschicht eher rüde und damit unangemessene Verfahrensweise, in der der König zunächst mit ihm verfährt. Hier werden dann vielmehr, wie Martin Leutzsch zutreffend erkennt, die Erfahrungen der „kleinen Leute“ mit ihren Gläubigern aufgegriffen und verarbeitet.311 Auf diese verweist auch die Schuldensumme des zweiten Sklaven von 100 Denaren, ein Betrag, der im Lebensumfeld der ärmeren Leute im damaligen Palästina vielerlei gedankliche Anknüpfungspunkte bietet. Dazu meint sehr anschaulich Martin Leutzsch: „In Palästina hätte mit 100 Denaren ein Lohnarbeiter samt Familie ein halbes Jahr notdürftig auskommen können. Der Betrag hätte für den Kauf einer mittelmäßigen Kuh ausgereicht. Man hätte gut zwei Jahresmieten für ein Häuschen damit bestreiten oder zwei bis drei Personen neu einkleiden können. 100 Denare wären die Hälfte des üblichen Brautpreises bei der Eheschließung mit einer Jungfrau gewesen.“ 312
Ob darüber hinaus, wie Luise Schottroff es vermutet, durch die beiden Schuldner auf zwei „Grundsituationen der antiken Finanzwirtschaft“ (Eintreibung von Abgaben, Schuldeneinforderungen) Bezug genommen wird, „die wegen ihrer Brutalität von den Betroffenen gefürchtet waren“,313 bleibt fraglich.314 Richtig hieran ist sicherlich, dass den damaligen Zuhörern und Zuhörerinnen plastisch die
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for effect, and there is no reason to require that every point correspond to historical reality.” (H AGNER, Matthew 14–28, S. 538). Vgl. hierzu die Analyse bei LEUTZSCH, Verschuldung und Überschuldung, S. 113–119. L. Schottroff spricht diesbezüglich unpräzise von einem „Finanzsklaven“ (SCHOTTROFF, Die Gleichnisse Jesu, S. 259). Eine nähere Bestimmung ist jedoch, da ein eindeutiges Herrschaftsgebiet nicht identifizierbar ist, kaum möglich. Letzteres betont auch LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 69. Vgl. SCHOTTROFF, Die Gleichnisse Jesu, S. 258–259, dem schließt sich beispielsweise auch ROOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 451 an. Vgl. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 69. Vgl. LEUTZSCH, Verschuldung und Überschuldung, S. 119 (hier auch wörtliches Zitat). Ebd., S. 119–120. So SCHOTTROFF, Die Gleichnisse Jesu, S. 259 (hier auch wörtliche Zitate). Bereits M. Leutzsch betont zutreffend, dass die Erzählung nicht präzisiert, um welche Arten von Gläubigern (und Schuldnern) es sich handelt (vgl. LEUTZSCH, Verschuldung und Überschuldung, S. 120).
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
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existenziell bedrohliche Dimension von Schuldenabhängigkeiten vor Augen geführt wurde. Dabei ist es sozialgeschichtlich nicht vorrangig entscheidend, ob der Handlungsort dieser Erzählung innerhalb oder außerhalb Palästinas angesiedelt ist. Treffend betont Beat Weber: „Im Blick auf sozio-juristische und fiskalische Gegebenheiten ist im multilingualen Palästina des 1. Jh.s n. Chr. [sic!] mit hellenistisch-römischem Einfluß zu rechnen, so daß die Alternative ‚jüdisch‘ versus ‚heidnisch‘ weder der Komplexheit der damaligen Situation noch der des Gleichnisses angemessen und daher abzuweisen ist. ‚Heidnische‘ Elemente sind zwar unbestreitbar, aber mit einer generellen Verweisung der Szenerie in nichtjüdische Umwelt handelt man sich für die theologische Interpretation des Gleichnisses im mt Kontext nur Aporien ein.“ 315
Demgemäß will die vorliegende Gleichniserzählung, gerade in Bezug auf die Schuldensituation des ersten Sklaven nicht zu einer Spekulation darüber anregen, welcher zeitgenössische König konkret gemeint sein könnte, sondern im Angesichte einer erdrückenden Schuldenlast die Ausweglosigkeit seiner Situation, seine Angewiesenheit auf Erbarmen verdeutlichen 316. Bereits hier scheint also auf, „daß es um keinen tatsächlichen Rechtsfall geht, sondern ganz offensichtlich eine mehrsinnige Geschichte erzählt wird“317. Letzteres deutet auch eine weitergehende sozialgeschichtliche Analyse an: Die erste Reaktion des Königs, der Befehl den Sklaven, seine Frau, seine Kinder und seinen Besitz zu verkaufen318 (V. 25), spiegelt nicht jüdisches Recht wider, das beispielsweise einen Verkauf der Ehefrauen nicht kennt.319 Erzählstrategisch sollen die nunmehr angedrohten Sanktionen vielmehr die ungeheure Dimension der Verschuldung und die existenziell bedrohliche Ausgangssituation des
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WEBER, Alltagswelt und Gottesreich, S. 181. Weber grenzt sich hier besonders von der Position Joachim Jeremias` ab (siehe Fußnote 119/120 im Original). Mit WEISER, Die Knechtsgleichnisse der synoptischen Evangelien, S. 79. MASSA, Verstehensbedingungen von Gleichnissen, S. 226 und im Anschluss hieran ROOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 451. S. Schneider favorisiert, wie bereits bei der Erläuterung der Übersetzung kurz aufgezeigt, ein leicht variiertes Verständnis der vorliegenden Stelle. Für ihn ist hier zunächst nur der Verkauf der Familie und des Besitzes als Mittel der Schuldentilgung angesprochen, den der Sklave versucht abzuwenden. Dementsprechend sieht Schneider nachfolgend die Barmherzigkeit des Königs stärker betont, da dieser nicht nur auf diese Tilgungsart verzichtet, sondern auch noch die Schulden gesamt erlässt (vgl. SCHNEIDER, Barmherzigkeit und Zorn!, S. 164–169). Trotz der ausführlichen Darlegung Schneiders muss betont werden, dass er eine alternative Übersetzung zwar nachvollziehbar begründet, diese jedoch aufgrund der Satzstellung auch keinen Absolutheitsanspruch erheben kann. Letztlich ergeben sich, mit Ausnahme einer stärkeren Akzentuierung der bereits hervorgehobenen Gnadenhandlung des Königs, keine grundlegenden Akzentverschiebungen. Vgl. LUCK, Das Evangelium nach Matthäus, S. 209; ebenso WIEFEL, Das Evangelium nach Matthäus, S.329, wie auch die ausführliche Analyse bei LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 69–70.
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
Schuldners verdeutlichen.320 Der nachfolgende vollständige Schuldenerlass (V. 27) überrascht deswegen zunächst. Beat Weber hat diesbezüglich herausgearbeitet, dass einzelne königliche Schuldenerlasse in der Welt des Alten Orients historisch nachweisbar sind. Sie kamen beispielsweise bei Thronbesteigungen vor, die als Ausdruck einer heilsgeschichtlichen Zäsur zelebriert werden konnten, wobei das Interesse mitunter durchaus auch herrschaftspragmatisch bedingt war (z. B. um Landflucht einzudämmen). Von ihnen konnten in unterschiedlichen Verschuldungssituationen sowohl ethnische wie auch soziale Gruppen, als auch einzelne Untertanen profitieren.321 Trotz entsprechender historischer Bezüge muss eingewandt werden, dass der hier geschilderte Fall analogielos bleibt. 322 Zumal hier eindeutig nicht Herrschaftspragmatismus das Handeln des Königs bestimmt323, sondern wohl eher ehrliches Mitleid324 (vgl. V. 27: „Σπλαγχνισθεὶς δὲ ὁ κύριος τοῦ δούλου …“). Für die damalige Zuhörerschaft wird darüber hinaus die erlassene Summe unglaublich gewesen sein. 325 Auch an dieser Stelle der Erzählung scheint also, wie Hanna Roose zutreffend bemerkt, ein erneutes „Indiz für Mehrsinnigkeit“ gegeben zu sein, 326 zumal das Verb ἀφίημι (= erlassen, vergeben) eine gewisse Zweideutigkeit besitzt, da im religiösen Sinne auch die Vergebung von Sünden angesprochen sein kann327. So großmütig der dem ersten Sklaven erbrachte Gnadenerweis ist, so befremdlich wirkt das Verhalten dieses gegenüber dem zweiten Sklaven im Zeichen der viel geringeren Schuldensumme (V. 28, 30). Dabei entspricht es durchaus noch dem damaligen Umgang mit Schuldnern. Das diesbezügliche Würgen wurde zwar mitunter negativ wahrgenommen, physische Gewalt zur Schuldeneintreibung war jedoch nicht ungewöhnlich.328 Die nachfolgende „Schuldhaft“ 320 321
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Mit WEBER, Alltagswelt und Gottesreich, S. 175. Vgl. ebd., S. 177–178 (hier auch viele konkrete Beispiele und der Verweis auf entsprechende Quellen). Auch H. Roose stellt in Frage, ob der vorliegende Gnadenerlass „durch diese Belege abgedeckt ist“ (ROOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 451). U. Luz merkt zudem zutreffend an, dass die persönliche Notsituation eines Schuldners alleine wohl kaum ein Grund für entsprechende Gnadenerlasse gewesen seien konnte und zudem der Verzicht auf eine derartig große Summe undenkbar sei (vgl. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 71/Fußnote 49). Zu diesem Verständnis tendieren beispielswiese SCHOTTROFF, Die Gleichnisse Jesu, S. 260; HERZOG, Parables as Subversive Speech, S. 142. Dies stellt zutreffend KÖHNLEIN, Gleichnisse Jesu – Visionen einer besseren Welt, S. 100 heraus. Vgl. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 71. Vgl. ROOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 451 (hier auch wörtliches Zitat). So LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 71; L EROY, Art. ἀφίημι, Sp. 437–438. Vgl. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 71 (besonders auch Fußnote 53); WEISER, Die Knechtsgleichnisse der synoptischen Evangelien, S. 82; ebenso LEUTZSCH, Verschuldung und Überschuldung, S. 120.
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
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ist zwar dem jüdischen Recht unbekannt, aufgrund ihrer weiten Verbreitung in der antiken Welt in dem hiervon beeinflussten Palästina jedoch nicht undenkbar.329 Insgesamt ist entscheidend, dass die vorliegende Gleichniserzählung entsprechende vorfindliche soziale Verhältnisse zwar voraussetzt, sie aber in Frage stellt und auf ein neues Bewusstsein ihnen gegenüber abzielt. Dazu Ulrich Luz: „Wenn die Leser/innen sich über sein Verhalten [= das Verhalten des ersten Sklaven; C.W.] besonders empören, dann deswegen, weil in V 24–27 von dem ungeheuren Schuldenerlaß erzählt worden ist, der ihm vorher gewährt worden war. Diese Vorgeschichte verfremdet die übliche Brutalität des Alltags; sie wird nun als etwas in Wahrheit Empörendes ansichtig. Die Vorgeschichte […] verändert also die Augen der Leser/innen.“330
Die Charakterisierung der diese Empörung Verkörpernden als Mitsklaven (V. 31) fußt mit Blick auf ihre sozialgeschichtlichen Hintergründe, wie Martin Leutzsch vermutet, womöglich „in einem grundlegenden Beziehungskonzept der israelitisch-jüdischen Gesellschaft, das die Solidarität aller betont und immer wieder Bemühung um Gleichheit und Gerechtigkeit freisetzt: [nämlich dem der; C.W.] Geschwisterlichkeit“331 (vgl. auch später Mt 18,35). Liegt vielleicht sogar das nachfolgende Eingreifen des Herrschers (V. 34), das Einkerkern und Foltern des ersten Sklaven, in einem weitergehenden Schutzanliegen gegenüber dem zweiten Schuldner begründet?332 Entgegen einem solch sozial motivierten Eingreifen deutet vieles zunächst auf eine deutlich brutalisierte Form der Schuldeneintreibung hin (Schuldhaft und Folter). Folter galt damals als legitimes Instrument, um eine Begleichung der Schulden zu erzielen, z. B. indem man hierdurch eine Offenlegung von Geldverstecken erzwang oder die Angehörigen unter Druck setzte.333 Im vorliegenden Kontext muss jedoch eingewandt werden, dass die Funktion der Folter nicht benannt wird334 und ihre Sinnhaftigkeit als „Eintreibungsinstrument“ vor dem Hintergrund der unmöglich aufzubringenden Summe von
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Vgl. ROOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 452; LEUTZSCH, Verschuldung und Überschuldung, S. 120. Bei Leutzsch findet sich auch ein kurzer Überblick darüber, welche Formen von Schuldhaft verbreitet waren. Diesbezügliche Informationen finden sich auch bei REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 264/Fußnote 10. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 71. LEUTZSCH, Verschuldung und Überschuldung, S. 122. Diese Möglichkeit benennt M. Leutzsch (ebd.). Vgl. WEISER, Die Knechtsgleichnisse der synoptischen Evangelien, S. 88. Ein anschauliches Beispiel bietet Philo von Alexandrien, De specialibus legibus III, 159–163 (siehe hierzu auch SCHOTTROFF, Die Gleichnisse Jesu, S. 259–260). S. Schneider merkt hierzu an, dass „die palindromische Struktur des Gleichnisses einen Hinweis auf die 10.0000 Talente geradezu verlangt hätte“ (SCHNEIDER, Barmherzigkeit und Zorn!, S. 170). Richtig ist hieran, dass zumindest ein Verweis auf diese die Funktion der
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10.000 Talenten absurd ist335. Ebenso unverständlich erscheint der tiefe Groll des Herren, sein „Zürnen“. Dieses ist eigentlich unbegründet, da sich der erste Schuldner bei seiner Schuldeneinforderung im Rahmen geltender Verfahrensweisen bewegte. Gerade an dieser Stelle wird also erkennbar, dass die sozialgeschichtliche Perspektive (zumindest, wenn man sie lediglich als Analyse der Realien begreift) alleine nicht ausreicht, um die eigentliche Tiefendimension der vorliegenden Parabel offenzulegen. Die Erzählung will ja gerade, wie bereits oben skizziert, dass ebendiese Sicht des Alltäglichen, der hier geltenden Normen und Verfahrensweisen, durchbrochen wird: Das vorangegangene persönliche Beziehungsgeschehen zwischen dem König und dem ersten Schuldner hat also die Maßstäbe der jeden Tag erfahrbaren Lebenswirklichkeit, die Gültigkeit der prägenden sozialen Umstände, punktuell aufgebrochen und ihnen ihre Legitimation genommen.336 Aufgrund dieser neuen Wirklichkeit, die zugleich auch ein neues Verhältnis zum Mitmenschen verlangt, zürnt der König. Als Zwischenfazit337 der sozialgeschichtlichen Analyse kann somit herausgestellt werden, dass die vorliegende Parabel zeitgenössische Erfahrungen der lebensbedrohenden sowie lebensvernichtenden Macht von Schuldenverstrickungen aufgreift und plastisch vor Augen führt. Darin, und nicht in der Abbildung eines konkreten sozialen Kontextes oder herausragenden Einzelfalls, liegt ihr Anliegen. Auch wenn die Parabel sich dabei erzählerisch auf verschiedenen Stufen der Gesellschaft bewegt, ist es doch die Perspektive der „einfachen“ Leute bzw. das in ihrer Erfahrungswelt Vorstellbare, das hier aufgegriffen wird.338 Dabei werden
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Folter erhellt hätte. Denkbar ist aber auch, dass der Erzähler diese Informationen aufgrund der Tatsache, dass der Umgang mit Schuldnern und Schulden (Eintreibung, Erlass) den Kern der Gleichniserzählung bildet, als überflüssig angesehen hat. Bereits A. Weiser erkennt die Höhe der hier angesprochenen Schuld als Problem (vgl. WEISER, Die Knechtsgleichnisse der synoptischen Evangelien, S. 88). Zumindest wenn man weitergehende metaphorische Bezüge (siehe unten) ausblendet, bleibt es sachlogisch fraglich, warum der König eine unergiebige und damit funktionslose Folter einsetzten sollte. Dies ist ein Konsens in der exegetischen Forschung, der von den bisher genannten Autoren, wenn auch unterschiedlich akzentuiert, geteilt wird. Meines Erachtens ist jedoch die Herausstellung, dass es ein Beziehungsgeschehen ist, das auf einer anderen Ebene liegt als prägende soziale Umstände, zentral. Einzelbelege sind der vorangegangenen Analyse zu entnehmen. Diesen Zug arbeitet zutreffend L EUTZSCH, Verschuldung und Überschuldung, S. 124 heraus. Seine weitergehende Lokalisierung des Milieus als „die jüdische Bevölkerung auf Königsland“, ist jedoch in Frage zu stellen. Wie oben bereits herausgestellt, ist das Milieu nicht eindeutig identifizierbar. Wahrscheinlich liegt eine entsprechende Eingrenzung, die ja gleichzeitig auch den Adressatenkreis verengt, nicht im Interesse des Erzählers. Dies ändert jedoch nichts an der von Leutzsch herausgestellten Perspektive der Gleichniserzählung. So ist es auch möglich, sich ausgehend vom eigenen sozialen Kontext die Auswirkungen von Schulden in anderen sozialen Kontexten vorzustellen.
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
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Erwartungen nicht einfach nur bestätigt, sondern vielmehr durchbrochen, wie es besonders beim Erlass der Schulden durch den König geschieht. Das alltäglich als „Normalität“ Hingenommene, scheint vor diesem Hintergrund als das in Wahrheit „Ungerechte“ und „Anstößige“ auf.339 Gerade deswegen empören sich die Mitsklaven und gerade deswegen verdichtet sich das Handlungsgeschehen im abschließenden Zorn des Königs. Für ein vertiefendes Verständnis ist es unerlässlich zu berücksichtigen, dass die Erzählung sich auf verschiedenen Ebenen bewegt: Der abstrakteren Ebene des in der Lebenswelt Existenten, also der Verschuldung und Schuldeneintreibung, und der Ebene des persönlichen Beziehungsgeschehens zwischen dem ersten Sklaven und dem Herren, vor deren Hintergrund diese Wirklichkeit infrage gestellt und transzendiert wird.340 Die Parabel will also von vorneherein über das Alltägliche hinausgehende Denkbewegungen anregen, Mehrdimensionalität und Mehrsinnigkeit sind bewusst in ihr angelegt.341 Insofern ist eine Analyse der metaphorisch-symbolischen Bezüge unerlässlich. Nur durch sie kann geklärt werden, ob dem scheinbar so grausam-widersprüchlichen Handeln des Herrschers eine tiefere Sinnhaftigkeit zugemessen werden kann.
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Dies erkennt mit Blick auf das Verhalten des ersten Sklaven bereits LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 71–72. Die sozialgeschichtliche Analyse hat darüber hinausgehend verdeutlicht, dass sich durch das sich hier ereignende Beziehungsgeschehen eine fundamentale Neubewertung der sozialen Verhältnisse vollzieht. Diesen Aspekt verkennt Luise Schottroff (vgl. SCHOTTROFF, Die Gleichnisse Jesu, S. 258– 261). Wollte die Erzählung nur die Realität des Agierens eines erbarmungslosen, in seiner Machtausübung und seinem Machtpragmatismus absoluten Herrschers abbilden, bräuchte sie die dramatische Entwicklung und die hiermit verbundene Benennung einzelner Gefühle nicht. So begründet der Herrscher seine abschließende Anklage gegenüber dem ersten Sklaven ja gerade damit, dass diesem seine aus der eigenen Erfahrung des mitleidsvollen Handelns erwachsene Pflicht zu Erbarmen gegenüber dem zweiten Sklaven nicht einsichtig geworden ist (vgl. V. 33). Er bindet sein Handeln und Agieren also an den Wertmaßstab des Erbarmens, das nicht allein durch Herrschaftspragmatismus erklärbar ist. Ein berechtigter Einwand ist, dass er ebendieses Erbarmen scheinbar gegenüber dem ersten Sklaven widerruft, wodurch eher die willkürliche Machtausübung bestimmend erscheint. Diesbezüglich muss jedoch betont werden, dass er sein Erbarmen nicht willkürlich, sondern wie oben aufgezeigt durch den Maßstab des mangelnden Gnadenerweises begründet widerruft. – Grundsätzlich sei auch an dieser Stelle bereits auf die weitergehende Deutung von W. Harnisch verwiesen, der das entsprechende Kapitel richtungsweisend mit „Enteignung des Wirklichen“ betitelt (vgl. HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 272–275). Mit MASSA, Verstehensbedingungen von Gleichnissen, S. 226–227 wie auch ROOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 450–451.
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3.2.5
Analyse der metaphorisch-symbolischen Bezüge
In der exegetischen Forschung wurde vor allem den maßgeblichen Handlungsträgern (König, erster Sklave) sowie deren Interaktionen (Schuldenerlass und Schuldeneintreibung) eine tiefergehende metaphorische Bedeutung zugesprochen. Eine im zeitgenössischen Kontext Jesu naheliegende Möglichkeit bestand darin, das Bild des Königs mit Gott zu assoziieren. 342 Diese Metapher war nämlich nicht nur ein in der antiken Umwelt Israels geläufiges Attribut Gottes, 343 sondern hatte insbesondere in der jüdischen Tradition ihre feste Verankerung. So findet sich im Alten Testament oftmals das Bild JHWHs als König (vgl. z. B. Ps 47; Ps 29, 10–11; Num 23,21; Jes 6,5), der von den Gläubigen Ehrerbietung sowie Gefolgschaft verlangt und sich durch seine unterstützende Zuwendung entsprechend revanchiert.344 Er herrscht wie ein König über diese Erde (vgl. Ps 24), die Völker (vgl. Ps 47,3–4), die Güter der Schöpfung (vgl. Jes 41,17–20) und insbesondere Israel.345 JHWH ist deswegen König und Richter zugleich (vgl. Ps 96,10). Interessanterweise lässt sich für Mt 18,23–34 sogar noch weitergehend textimmanent erhärten, dass durch die hier gewählte Metaphorik bewusst theologische Bezüge ermöglicht werden sollen: Die in Mt 18,26 erwähnte Demutsgeste des ersten Schuldners, sein Niederfallen (Proskynese), war nämlich nicht nur vor den Königen im Alten Orient, sondern auch als Ehrerbietung gegenüber den Göttern üblich.346 Hinzu kommt, dass bei der vom ersten Sklaven erbetenen Geduld des Herrn (vgl. Mt 18,24) ein Verb (griech. μακροθυμέω) aufgegriffen wird, das in der Septuaginta ein Verhalten Gottes ausdrückt, der seinen Zorn im Zaum hält (vgl. Ex 34,6; Ps 7,12 LXX; Ps 85,15 LXX).347 Dieses bringt in enger Analogie zur Barmherzigkeit Gottes seine große Geduld, insbesondere mit den Sündern zum Ausdruck, die er nicht seinem Zorn anheimstellt, sondern ihnen, sofern sie umkehren, Vergebung zu Teil werden lässt und sie damit errettet. 348 Vor dem Hintergrund dieser vielseitigen theologischen Verweise erscheint die pauschale Kritik daran, im vorliegenden Gleichnis den König mit Gott zu
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Siehe hierzu die Kurzusammenfassung bei ROOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 455 bzw. zu ihrer maßgeblichen Gesamtanalyse der metaphorischen Bezüge S. 453–455. Vgl. ERLEMANN, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, S. 85 (besonders Fußnote 179). Dieser Aspekt wird benannt bei ebd., S. 85. Vgl. CARTER, Resisting and Imitating the Empire, S. 269. So LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 70; im Anschluss hieran ROOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 455. Vgl. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 70/Fußnote 46. Vgl. HOLLANDER, Art. μακροϑυμία κτλ., Sp. 936–937.
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
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assoziieren349, höchst fragwürdig350 bzw. es sollte in aller Deutlichkeit herausgestellt werden: Man sollte es in Bezug auf die Zeitgenossen Jesu für wahrscheinlich halten, dass die vorliegende Gleichniserzählung theologische Impulse freigesetzt und entsprechende Denkbewegungen angeregt hat. 351 Darauf weist auch ein interessanter Verbwechsel hin, der darüber hinaus ein weitergehendes Interpretationsspektrum eröffnet. Auffällig ist nämlich, dass in der Zurechtweisung des ersten Sklaven durch den Herrn in Mt 18,33 das Verb ἐλεέω (= sich erbarmen, Mitleid haben) verwendet wird. In Mt 18,27 war noch das Wort σπλαγχνίζομαι (= sich erbarmen, Mitleid empfinden) gebraucht worden.352 Was zunächst nur wie eine interessante sprachliche Variation anmutet, verändert, wie Ulrich Luz zutreffend betont, seine Bedeutung vor dem Hintergrund, dass ἐλεέω ein vieldeutigeres Wort ist, bei dem vor allem auch Perspektiven auf das Erbarmen Gottes eröffnet werden können.353 Hiermit eng verbunden kann es aber auch auf ein von Gott gefordertes zwischenmenschliches Verhalten Bezug nehmen.354 Gerade dies korrespondiert mit der Anklage des Königs in Bezug auf das erbarmungslose Agieren des zuvor begnadeten ersten Sklaven. Insgesamt deutet sich also bereits erneut an, dass die eröffnete Gesamtthematik der Gleichniserzählung, das meint die im „Herren-Sklaven-Verhältnis“ verdichtete Problematik des „Schuldens“, der „Schuldigkeit“ und der „Schuldenvergeltung“, semantisch weiter gefasst ist, als dass darin nur eine profane, innerweltliche Abhängigkeitsbeziehung mit entsprechenden Vergeltungsfolgen angesprochen wird. Damit korrespondiert, dass der Begriff „Knecht“ im Alten Testament in religiös-theologischen Kontexten Verwendung findet und dort unter anderem, wie Alfons Weiser differenziert herausarbeitet, den einzelnen Gläubigen, aber auch Gesamtisrael in seinem Gottesverhältnis meinen kann.355 Kurt Erlemann kann darüber hinaus aufzeigen, dass rabbinische Gleichnisse das 349
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352 353 354 355
Diese übt vor allem SCHOTTROFF, Die Gleichnisse Jesu, S. 264–266; ihrer Auffassung schließt sich bei seiner Interpretation KÖHNLEIN, Gleichnisse Jesu – Visionen einer besseren Welt, S. 96–108, an. Dies betont (wenn auch meines Erachtens zu vorsichtig) ROOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 459. Hierin ist eine grundsätzliche Kritik an dem Ansatz von L. Schottroff zu sehen. Ihre These, dass es sich bei Mt 18,23–34 eindeutig um ein „antithetisches Gottesgleichnis“ (SCHOTTROFF, Die Gleichnisse Jesu, S. 265) handelt, nimmt die Interpretationsmöglichkeiten ebenso wenig ernst wie die Ansätze, die eine theologische Deutung absolut setzen. Diese Beobachtung macht LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 73. So zutreffend ebd. Siehe hierzu auch vertiefend und weiterführend STAUDINGER, Art. ἔλεος κτλ., Sp. 1048. Vgl. WEISER, Die Knechtsgleichnisse der synoptischen Evangelien, S. 23. Weiser benennt als Kontexte beispielsweise die „demütige Selbstbezeichnung des Gläubigen im Gebet vor Gott“ (z. B. Ex 4,10), Aussagen Gottes über einen Frommen oder einen von ihm Erwählten (z. B. Abraham in Gen 26,24) wie auch die Verwendung als Bezeichnung der auf Gott vertrauenden Frommen (z. B. Ps 34,23). Eine Weitung auf ganz Israel findet sich beispielsweise in Jes 41,8–10.
88
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
Bild Gottes als „‚Gläubiger‘ des Menschen“356 kennen.357. Den alttestamentlichen Bezugspunkt bildet nach ihm das Verständnis von Sünde als einer gegenüber Gott angehäuften Schuld (vgl. Ps 31,2 LXX), was darauf hindeute, dass so „das Verhältnis zwischen Gott und Menschen bildhaft u. a. als ‚Rechts- und Geschäftsverhältnis‘ verstanden wurde, wobei dem Menschen die Rolle des ‚Schuldners‘ zufiel“358. Prüft man dementsprechend das semantische Bedeutungsspektrum der im Begriffsfeld „Schuld“ verwendeten Ausdrücke, lässt sich hierzu eine weitere zentrale Beobachtung machen. In Vers 24, 28, 30, 32, 34 werden jeweils Worte aus der Gruppe des „ὀφειλ-Stammes“ zur Kennzeichnung der Schuldzusammenhänge gebraucht.359 Finanztechnisch kann hierdurch zur Zeit Jesu eine Geldschuld angesprochen werden, ebenso jedoch in einem geweiteten Verständnis eine Sündenschuld.360 Positiv auf Vers 34 angewendet kann, wie Sebastian Schneider vermutet, vielleicht sogar eine ausstehende „sittlich-moralische Verpflichtung“361 zum Ausdruck gebracht werden, nämlich das Erbarmen gegenüber dem Mitsklaven.362 Im Sinne letzterer Deutung kann die abschließende Anklage des Königs gegenüber dem ersten Sklaven auch Assoziationen zur weisheitlichen Literatur eröffnen, in der das eigene Vergebungshandeln als Bedingung für göttliches Erbarmen herausgestellt und seine Verweigerung als Grundlage für Gottes strafendes Handeln benannt wird (vgl. Sir 28,1–7).363 356 357 358
359
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361 362
363
ERLEMANN, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, S. 87 Vgl. zur Analyse ebd. S. 87–90. Ebd., S. 87. Erlemann verweist hier in Fußnote 83 bereits darauf, dass mit entsprechenden Vorstellungen oftmals das Bild der „Abrechnung“ mit Verweischarakter auf das Endgericht verknüpft wurde. Auf diesen Aspekt wird im Laufe der Analyse noch weiter eingegangen werden. Diese Beobachtung macht W EISER, Die Knechtsgleichnisse der synoptischen Evangelien, S. 77 (hier auch wörtlich zitierte Formulierung). Besonders A. Weiser (ebd.) betont, dass es in der vorliegenden Gleichniserzählung zentral um die Vergebung von Sündenschuld gehe. Insgesamt zeigt sich bei Lukas und Matthäus die Tendenz einer synonymen Verwendung von ὀφείλημα und ἁμαρτία (vgl. WOLTER, Art. ὀφειλέτης κτλ., Sp. 1345). So SCHNEIDER, Barmherzigkeit und Zorn!, S. 170. Vgl. ebd., S. 170–171. – Hier auch eine weitergehende Begründung, die innerhalb der Gesamtdeutung noch diskutiert wird. Zu diesem Zusammenhang siehe ERLEMANN, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, S. 90; ebenso FIEDLER, Das Matthäusevangelium, S. 307/Fußnote 25 (hier auch weiterführende Literatur). M. Reiser betont jedoch, dass keine direkte Parallele zu Sir 28,2 gegeben sei, da der Knecht nicht nur deswegen gerichtet werde, weil er Barmherzigkeit verweigert habe, sondern weil sie ihm zuvor im Übermaß zuteilwurde (vgl. REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 268; ebenso die vertiefenden Gedanken bei WEISER, Die Knechtsgleichnisse der synoptischen Evangelien, S. 95.). – In Bezug auf die vorliegende Gleichniserzählung vermutet B. Weber sogar, dass ein, wie sie es formuliert, „eschatologisch verstandener Jobel- und Erlassjahrbezug“ wahrscheinlich ist (vgl. WEBER, Vergeltung oder Vergebung!?, S. 144, bzw. für das Gesamtfazit S. 144–145). Letztlich bleiben entsprechende
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
89
Zusammengefasst lässt sich also für Mt 18,23–34 zunächst festhalten, dass die Parabel vielseitige theologische Bezüge und Assoziationsmöglichkeiten eröffnet(e). Sie ist semantisch offen für ein Verständnis über das Verhältnis zwischen dem Menschen und Gott, sündhafte menschliche Existenz und ein demgegenüber übergroßes Erbarmen Gottes. Gleichzeitig eröffnen sich dabei weitere Perspektiven auf die Vergebungsbereitschaft im zwischenmenschlichen Verhalten. Mit Blick auf ein Parabelende in Vers 33 würden sicherlich auch heutige Exegeten und Exegetinnen keinerlei Schwierigkeit haben, diese für damalige Zuhörer und Zuhörerinnen deutlich werdende metaphorische Offenheit bzw. den Verweischarakter auf Gott anzuerkennen. – Dass sich der eigentliche Konflikt dann an Vers 34 bzw. dem abschließenden Strafhandeln des Königs entzündet, macht das nachfolgende Zitat von Manfred Köhnlein deutlich: „Es wäre unlogisch, wenn Jesus vom ‚himmlischen Vater‘ gesprochen hätte – den er doch seit seiner Taufe als ‚Abba‘, als liebevollen Vater verstand –, um ihn dann mit dem unberechenbaren Despoten gleichzusetzen, der genauso unbegründet vergibt, wie er gnadenlos foltern lässt.“364
Verortet man also wie Köhnlein das Problem der vorliegenden Parabel nicht in ihrer Erzähllogik bzw. in der erzählerisch als unlogisch angesehen Zurücknahme des Gnadenerweises, dann in der Unvereinbarkeit des dadurch implizierten Gottesbildes mit der Botschaft Jesu. Dementgegen möchte ich mit Blick auf zwei weitergehende Möglichkeiten aufzeigen, wie diese Gleichniserzählung unter Einschluss von Vers 34 verstanden werden könnte. Eine in der exegetischen Forschung hervorstechende Überlegung hat, wie bereits oben angesprochen, Sebastian Schneider365 aufgestellt, die, aufgrund ihrer Singularität, kurz dargelegt und beurteilt werden soll: Schneiders zentrale Ausgangsthese ist, dass der König in Vers 34 ebengerade nicht seinen Schuldenerlass und damit sein geschenktes Erbarmen zurücknehme. Dementsprechend sei hier mit dem Ausdruck τὸ ὀφειλόμενον vielmehr eine „moralische Schuld“366 des ersten Schuldners angesprochen. Dabei deute auch die lediglich in der Beziehung vom König und ersten Schuldner auftretende Verwendung von „πᾶς“ in Vers 26, 32, 34 darauf hin, dass die Schuld von vorneherein weiter gefasst sei und „Geld und Dank bzw. Erbarmen“ meine.367 Da in
364
365
366 367
Bezüge zu den alttestamentlichen Erlassjahrgesetzen jedoch zu vage (mit LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 70/Fußnote 48). KÖHNLEIN, Gleichnisse Jesu – Visionen einer besseren Welt, S. 105; ähnlich zuvor auch SCHOTTROFF, Die Gleichnisse Jesu, S. 264–266. Vgl. zur differenzierten exegetischen Gesamtanalyse SCHNEIDER, Barmherzigkeit und Zorn!, S. 169–171, zur akzentuierten Zusammenfassung siehe SCHNEIDER, Wehrhafte Liebe (Mt 18,23–35), S. 268–269. Ebd., S. 268–269 (Hervorhebung im Original). Vgl. SCHNEIDER, Barmherzigkeit und Zorn!, S. 171 (hier auch wörtliches Zitat).
90
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
Vers 27 das entsprechende Wort „πᾶς“ fehle, werde deutlich, dass der König dem Sklaven zwar die Geldschuld erlassen habe, die aus diesem Gnadenakt erwachsene Pflicht zum Erbarmen bzw. zur Weitergabe desselben nicht. Gerade ein entsprechendes Bewusstsein des ersten Sklaven, dass gelebtes Erbarmen gegenüber seinem Schuldner gefordert sei, solle die Übergabe an die Folterknechte erreichen.368 Folgt man dem Verständnis Schneiders, ergibt sich ein umfassenderes Verständnis von Liebe und Barmherzigkeit, die sich ebengerade nicht nur in der Beziehung zwischen dem ersten Sklaven und dem König ereignet, sondern letzteren zum liebend-zornigen Eintreten gegen die Unbarmherzigkeit des ersten Sklaven bzw. zum Schutz des zweiten Sklaven motiviert. 369 Für damalige Zuhörer und Zuhörerinnen Jesu wäre eine solche Wendung nicht fremd. Vielmehr fügt sie sich in die alttestamentliche Rede vom „Zorn Gottes“ als Ausdrucks- sowie Antriebsmoment von Gottes Gerechtigkeit schaffendem Handeln ein. 370 Zu problematisieren ist jedoch an der Deutung Schneiders, dass der vorliegende Text in Bezug darauf, ob der König am Ende auf eine Bewusstseinsänderung des ersten Sklaven abzielt oder doch nur seine Geldforderungen mit Gewalt eintreibt, nicht eindeutig ist. Der Bildteil verweist vielmehr, wie oben aufgezeigt, mit der Gefangennahme und Folterung des ersten Sklaven auf ein Instrument, das eindeutig Assoziationen zur Eintreibung von Geldschulden weckte. Entscheidend ist, dass selbst letzteres Verständnis, das eine Zurücknahme der anfänglich geschenkten Gnade impliziert, für damalige Zeitgenossen und Zeitgenossinnen eine theologische Deutung der vorliegenden Gleichniserzählung nicht anstößig gemacht oder ausgeschlossen hätte. Wie Kurt Erlemann zunächst zu Recht herausstellt, kennt die alttestamentliche Tradition die Zurücknahme des zuvor Gegebenen als Folge des göttlichen Zorns – eine Vorstellung, die eng mit der Rede von der „Reue Gottes“ verbunden ist. Auslösendes Moment dieser göttlichen Reue, die eine Aufhebung der zugesagten heilvollen Zuwendung wie aber auch der Unheilsdrohung bewirken kann, ist stets das Verhalten der Menschen gegenüber Gott (vgl. Jer 18,7–10).371 Der Verständniskontext wird sogar noch geweitet, wenn man sich weitergehend die in Vers 34 anklingenden Bezüge zum Endgericht vor Augen führt.372 So 368 369 370
371 372
Vgl. ebd. Vgl. hierzu die weitergehende Deutung bei ebd., S. 173–174. Diesen Bezug betont auch MÜNCH, Die Gleichnisse Jesu im Matthäusevangelium, S. 193. Für weitergehende Beispiele und Literatur zu diesem Motivzusammenhang sei vor allem auf das vorangegangene Oberkapitel 2 dieses Hauptteils verwiesen. Vgl. ERLEMANN, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, S. 90–91. Diesen Motivhintergrund hat zuletzt M. Roose noch einmal verteidigt (vgl. ROOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 454–455). Als Hauptargumente führt sie an, dass der Wortstamm „βασαν“ im damaligen zeitgenössischen Kontext auf „die endzeitlichen Höllenqualen“ verweise (vgl. z. B. Off 14,10f.; Lk 16,23.28/2 Makk 7,17; gr.Hen 10,13; 4 Esr 7,67 etc.). Zudem
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
91
könnte man im zornigen Handeln des Königs „an den eschatologischen Zorn Gottes und sein Zorngericht denken“373. Für die damalige Hörerschaft wäre mit diesen Anklängen an die Gerichtsthematik dann eben kein rein weltlich-despotischer Willkürakt, sondern ein tiefergehender Heils- und Gerechtigkeitszusammenhang, sprich Gottes Heilshandeln angesprochen.374 Der Blick auf den bildhaften und metaphorischen Bedeutungshintergrund des Verses 34 macht somit zwei zentrale Aspekte deutlich: Sein Bezug ist nicht eindeutig, sondern semantisch offen. Gegebenenfalls hat dieser bereits unter der damaligen Anhängerschaft Jesu Kontroversen ausgelöst, wie man ihn vor dem Hintergrund der Botschaft von der angebrochenen und zur Vollendung durchdringenden Herrschaft Gottes begreifen kann. Falls diese die hier enthaltenen theologischen Bezüge gesehen hat, stand Vers 34 nicht im Widerspruch zur jüdischen Tradition, sondern fügte sich vielmehr sinnhaft in diese ein. So scheinen vom Erzählkontext gerade mit Blick auf die biblische Rede vom „Zorn Gottes“ entscheidende Momente, wie das göttliche Gericht und sein heilschaffend-liebendes Eintreten für Gerechtigkeit, auf.
3.2.6
Intratextuelle Bezüge
Die vorliegende Gleichniserzählung wird im Matthäusevangelium als Bestandteil der Gemeinderede (vgl. Mt 18,1–35) überliefert. In dieser vierten Rede, die Matthäus aus Worten Jesu zusammengefügt hat, ist besonders das Motiv der gegenseitigen Sorge prägend.375 Wie Walter Klaiber es treffend formuliert, gerät nach der Verdeutlichung der „Sorge um die Schwachen und Geringen“ (V. 18,1– 14) der „Umgang mit Fehlverhalten untereinander“ (V. 18,15–20) in den Blick, um so abschließend die „Notwendigkeit immer neuer Vergebung“ zu fokussieren (V. 18,21–35).376 Die vorliegende Parabel nimmt im Erzählgefüge der
373 374
375 376
sei eine große Parallelität mit anderen Parabeln gegeben, die in ihrer eschatologischen Akzentuierung ähnlich gewaltsam endeten (vgl. Mt 25,31–46; 13,40.49; 21,33–44, 24,45– 51). Eine bis heute gegen diese Position vorgebrachte Kritik besteht darin, dass im Erzählrahmen die Zeit der Folter begrenzt ist. So sieht auch S. Schneider vor allem die auf die Gegenwart bezogene pädagogische Funktion der Strafmaßnahmen (vgl. SCHNEIDER, Barmherzigkeit und Zorn!, S. 174/Fußnote 47). Hieran zeigt sich, dass bis heute keine abschließende Klärung erreicht werden kann. Meines Erachtens war es für damalige Zeitgenossen möglich, im Zeichen der Rede vom „Zorn des Königs“ eine eschatologische Dimension zu erkennen, zumindest wenn sie die Lage des ersten Schuldners als aussichtslos beurteilt haben. – Dies ist angesichts der Schuldensumme wahrscheinlich. REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 267. Vgl. hierzu vor allem die Analyse in Unterkapitel B.2.2 zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der Botschaft von Jesus und Johannes dem Täufer. Vgl. WEISER, Die Knechtsgleichnisse der synoptischen Evangelien, S. 104. Die hier gewählte, inhaltliche Gliederung einschließlich der in Anführungsstrichen hervorgehobenen Abschnittsbenennung wurde übernommen von KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 33.
92
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
Gemeinderede so eine gesonderte Stellung ein, sie ist – wie Sebastian Schneider zutreffend herausstellt – deren „wirkungsvoller Abschluss“377. Die eigentliche Parabel (Mt 18, 23–34) wird dabei thematisch kontextualisiert (V. 18, 22–23 → „Deswegen ist das Königtum der Himmel einem menschlichen König ähnlich …“) und letztlich gedeutet (Mt 18,35: „So wird auch mein Vater, der himmlische, Euch tun, wenn Ihr nicht von Herzen erlasst – ein jeder von Euch seinem Bruder.“378).379 Den Ausgangspunkt bildet hierbei die Frage von Petrus an Jesus, wie oft Vergebung gegenüber Mitmenschen, die sich an einem selbst versündigt haben, gefordert sei. Leserinnen und Leser des Matthäusevangeliums wissen dabei um die Sonderrolle des Petrus. Er ist nicht nur Sprecher der Jünger (vgl. z. B. Mt 15,15), sondern erscheint bei Evangelisten als vom Herrn aus ihrem Kreis Hervorgehobener (vgl. Mt 10,2) und in besonderer Weise Bevollmächtigter (vgl. Mt 16,18f.), der für die Kirche bindende Weisungen erhält.380 Jesus antwortet ihm mit dem Verweis auf eine Forderung zu grenzenloser Vergebungsbereitschaft.381 Die vorliegende Parabel dient jedoch entscheidender Weise ebengerade nicht dazu, diese Antwort Jesu zu veranschaulichen, 382 sondern liefert vielmehr im Bild des wirklichkeitsverändernden Gnadenerweises des Königs gegenüber dem ersten Schuldner eine Begründung dafür, warum dieser Mensch zu uneingeschränkter Vergebungsbereitschaft befähigt ist 383. Dabei greifen die abschließenden mahnenden Worte Jesu in Vers 35 nur selektiv einen Teil der Erzählung auf, indem sie auf die gewaltvolle Ahndung der mangelnden Vergebungsbereitschaft des ersten Sklaven durch den König Bezug nehmen. Die Gesamtaussage der vorliegenden Parabel wird so zu einer Drohung verdichtet und verkürzt, ja letztlich im Sinne einer Mahnung und ethischen Belehrung paränetisch funktionalisiert.384. Dies könnte nicht zuletzt auf eine redaktionelle Bearbeitung hindeuten.385 Zumindest lässt sich aber festhalten, dass die Parabel in ihrem Bildgehalt und
377 378 379
380 381
382 383
384 385
SCHNEIDER, Wehrhafte Liebe (Mt 18,23–35), S. 265. Im Wortlaut mit F. STIER. Roose spricht diesbezüglich davon, dass Vers 18,23 das „Thema“ aufzeige und Vers 18,35 die „Anwendung“ der Erzählung biete (vgl. ROOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 448). Vgl. WEISER, Die Knechtsgleichnisse der synoptischen Evangelien, S. 103–104. Zur Entschlüsselung der Zahlensymbolik siehe beispielsweise ROOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 449; LUCK, Das Evangelium nach Matthäus, S. 208; ebenso die Gedanken bei KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 50. In Abgrenzung zu WIEFEL, Das Evangelium nach Matthäus, S. 327. Diese „Stoßrichtung“ erkennt beispielsweise zutreffend KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 51; vgl. hierzu weiterführend auch R OOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 449. Vgl. WEISER, Die Knechtsgleichnisse der synoptischen Evangelien, S. 101. Vgl. auch WEISER, Die Knechtsgleichnisse der synoptischen Evangelien, S. 100–101; LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III., S. 68.
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
93
Deutungspotential weitreichender ist als ihre abschließende Anwendung.386 Besonders ihr Bildteil eröffnet im größeren Kontext des gesamten Matthäusevangeliums dann vielseitige intratextuelle Bezüge und trägt selbst zu einem größeren Verständnis der Botschaft Jesu im Matthäusevangelium bei. Dies wird besonders an der hier angesprochenen Thematik der Schuld und Schuldvergebung deutlich, die zentrale Bezüge zum Vater Unser ermöglicht (vgl. Mt 6,12: „Und lass uns nach unser Verschulden, wie auch wir nachgelassen haben unseren Schuldnern.“387). Die vorliegende Parabel greift allerdings den hier wie auch an anderen Stellen geäußerten Gedanken einer Entsprechung menschlichen Handelns gegenüber den Mitmenschen sowie dem Handeln Gottes (vgl. z. B. Mt 7,1–2) nicht lediglich auf, sondern erhellt die Voraussetzungen. So macht sie durch den Schuldenerlass des Königs anschaulich, dass dem eigenen Handeln ein ungeheurer Gnadenerweis vorausgeht, der zu ebendiesem eigenen Vergebungshandeln befähigt und verpflichtet.388 Vor diesem Hintergrund gerät, wie Ulrich Luz betont, die Forderung nach einer „imitatio dei“ in den Blick (vgl. Mt 18,32–33), wie sie auch in Mt 5,48 gefordert wird.389 Das Assoziationsspektrum der Figur des Königs, dessen Handeln Orientierungsmaßstab sein soll, wird im Kontext des Matthäusevangeliums sogar dahin gehend erweitert, dass er selbst mit Jesus in Beziehung gesetzt werden kann. So ist das ihn überkommende große Mitleid (vgl. Mt 18,27) zugleich prägend für Jesu Umgang mit seinen Mitmenschen (vgl. Mt 9,36; 14,14; 15,32; 20,34).390 Anders als dieses positiv besetzte Verhalten ist das abschließende Zürnen des Königs im Kontext des Matthäusevangeliums durchaus ambivalent wahrnehmbar. Während es im zwischenmenschlichen Bereich nämlich auf ein sündhaftes menschliches Handeln verweist und damit verdeutlicht, wie es das Menschsein ins Gegenteil verkehrt (vgl. Mt 5,22),391 ist der Zorn Jesu im Matthäusevangelium hingegen positiv besetzt392 und richtet sich bewusst gegen das Widergöttliche bzw. den Satan (vgl. Mt 4,10; 16,23). Im Kontext der bei Matthäus 386
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Vgl. ROOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 448; ebenso KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 54. Im Wortlaut mit F. STIER. Diese zutreffende Beobachtung macht (unter Aufgriff der Position H. Merkleins) M. Reiser: „Aber wir sollten nicht die Parabel mit Hilfe der Logien, sondern die Logien mit Hilfe der Parabel erläutern. Die Parabel nennt den unausgesprochenen Vordersatz der Logien: Weil wir selbst Gottes Gnade empfangen haben, deshalb können und sollen wir das Richten unterlassen, sollen wir vergeben und großzügig sein. Sonst haben wir die Gnade vergeblich empfangen.“ (REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 269). Vgl. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 73 (hier auch wörtlich zitierter Begriff). Dies stellt zutreffend KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 52 heraus. Bereits C. Münch erkannte, dass die meisten Attribute der „Herren“ in den Gleichnissen Bezüge zu Gott oder Jesus eröffnen (vgl. MÜNCH, Die Gleichnisse Jesu im Matthäusevangelium, S. 198). Vgl. W. PESCH. Art. ὀργίζομαι, Sp. 1297 (hier auch die Benennung weitergehender Kontexte). Siehe dazu auch das spätere Analysekapitel.
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
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überlieferten Predigt Johannes des Täufers vom „Zorn Gottes“ (vgl. Mt 3,7) wird, wie bereits aufgezeigt, zudem der Bezug zum Gericht Gottes, zu einem gerechtigkeits- und heilschaffenden Wirken möglich. Kontextuell erscheint vor allem letzteres Assoziationsspektrum am wahrscheinlichsten, da die vorliegende Parabel, wie in der Exegese betont wird, eine große Nähe zu anderen eschatologisch konnotierten Parabeln des Matthäusevangeliums, die ähnlich gewaltsam ausklingen (vgl. Mt 25,31–46; 13,40.49; 21,33–44; 24,45–51), besitzt.393 Als Erkenntnis lassen sich insgesamt folgende Einsichten herausstellen: Während der kontextuelle Rahmen, insbesondere die abschließende Auslegung sowie Anwendung der Parabel Mt 18,23–34, im paränetischen Interesse die Pflicht zur Vergebung fokussiert, eröffnet gerade die Bildhälfte vielseitige Impulse und Assoziationsmöglichkeiten im Kontext des Matthäusevangeliums. Besonders verstärkt sich dabei eine positive Wahrnehmung des Königs, der in seinem Mitleids- und Erbarmungshandeln mit Jesus oder Gott assoziiert werden kann. Insofern scheint abschließend durchaus auch eine Assoziation zu Gottes heilschaffendem Gericht möglich.
3.2.7
Von der lebensorientierenden und letztgültig verbürgten Kraft der Barmherzigkeit – Gesamtdeutung394
Versucht man Gemeinsamkeiten im exegetischen Umgang mit der vorliegenden Parabel herauszustellen, ist es wohl der Versuch, ihre Integrität in Frage zu stellen. Sei es im Rahmen von redaktionskritischen Verfahren oder narrativen Erwägungen, ist es besonders Vers 34, der nicht recht in das Bild vieler Ausleger zu passen scheint. Hinzu treten dabei neuere Ansätze der „theologischen Entschärfung“, bei denen versucht wird, jedwede mit dem Bild des Königs verbundenen theologischen Assoziationen abzulehnen: „Das Gleichnis und seine Anwendung werden missverstanden, wenn der König im Gleichnis mit Gott identifiziert wird […]. […] Das Bild des Gleichniskönigs unterscheidet sich fundamental von dem Gottes. Gottes Vaterschaft führt die Menschheit in die umfassende Heilung. Der Gleichniskönig endet am Schluss dort, wo das Gleichnis begann: mit der Überlastung eines Einzelnen – und der Bevölkerung – mit Abgaben, die mit Gewalt aus ihnen herausgepresst werden.“ 395
Diese eindringliche Position Luise Schottroffs (und anderer) muss jedoch mit Blick auf die vorangegangenen Erkenntnisse problematisiert und weitergedacht werden: 393
394
395
Vgl. ROOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 454–455 sowie REID, Violent Endings in Matthew`s Parables, S. 252–255. Bereits belegte Ergebnisse werden, da hier Erkenntnisse zusammengefasst werden, nicht wieder einzeln ausgewiesen. SCHOTTROFF, Die Gleichnisse Jesu, S. 264.
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
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Erstens: Gerade die Analyse des metaphorisch-symbolischen Bedeutungshintergrunds hat gezeigt, dass im Kontext der jüdischen Tradition des Ersten Testaments eine Vielzahl von theologischen Assoziationsmöglichkeiten in Bezug auf das Verhältnis zwischen Mensch und Gott eröffnet wurde. Wer die damaligen Rezipienten und Rezipientinnen ernst nimmt, darf es ihnen nicht kategorisch absprechen, dass sie selbst entsprechende theologische Denkbewegungen vollzogen haben. Diesen zeitgenössischen Deutungshorizont anzuerkennen, ist ebengerade nicht damit gleichzusetzen, „Gott auf dem Weg allegorischer Auslegung in den Text einzuschmuggeln“396. Zweitens: Wie sich im Rahmen dieses Kapitels noch weitergehend zeigen wird, ist auch ebendiese theologische Interpretation weniger widersprüchlich, als entsprechende Ansätze es weismachen wollen. Vielmehr fügt sich diese Deutung konsequent in die Botschaft Jesu von der Gottesherrschaft ein und liefert hierzu wichtige Impulse. Drittens: Neben dem Problem der „theologischen Entschärfung“ ist ebenso der Ansatz einer „paränetischen Verschärfung“ bzw. Engführung der Deutung auf Grundlage von Vers 18,35 zu vermeiden.397 Sicherlich fokussiert dieser zutreffend ein Anliegen der vorliegenden Erzählung, greift jedoch, wie im letzten Kapitel herausgestellt, nur einen Aspekt ihres interpretationsreichen Bildbestandes auf. Zudem wird das zuvor im Bildteil erzählerisch entfaltete Beziehungsgeschehen, das ja durch eine unbegreifliche Gnadentat des Königs seine eigentliche Bedeutung gewinnt, sehr stark auf den Aspekt einer Drohbotschaft reduziert. Um es salopper zu formulieren: Die aus dem Handeln des Königs erwachsene Erkenntnis lautet primär: „Lebe aus der Dir geschenkten unermesslichen Gnade heraus!“ und nicht: „Wenn Du nicht selbst Gnade zeigst, dann wird es Dir wirklich schlecht ergehen!“. Positiv gewendet: Angemessen rezipiert wird die vorliegende Parabel nur, wenn man sie vor dem Hintergrund der Botschaft Jesu vom heilvollen Beginn der lebenstragenden Herrschaft Gottes und ihrer Neubestimmung des Verhältnisses von Gott – Mensch – Mitmensch her liest. Bereits die sozialgeschichtliche Analyse hat ja verdeutlicht, dass im Rahmen eines neuartigen Beziehungsgeschehens die Welt des Alltäglichen mit den sie bestimmenden Maßstäben durchbrochen wird.398
396
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Dieser Vorwurf wird benannt und gleichzeitig entkräftet bei DIETZFELBINGER, Das Gleichnis von der erlassenen Schuld, S. 446. Hier ist voll und ganz W. Klaiber zuzustimmen: „Das Gleichnis selbst ist reicher und muss nicht auf diese Botschaft [von V. 18,35; C.W.] beschränkt werden.“ (KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 54). Insofern trifft die von Harnisch in seiner Deutung gewählte Rede von einer „Enteignung des Wirklichen“ (HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 272) zu. Zur weitergehenden Deutung bei Harnisch, die jedoch andere Akzente als die vorliegende setzt, vgl. ebd., S. 272–275.
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
Diesbezüglich verbildlicht die vorliegende Gleichniserzählung zunächst das unbegreifliche Gnadenhandeln Gottes, sein Mitleid, mit dem er dem schuldigen Menschen seine unermessliche Schuld erlässt. 399 Hier kommt also, wie Eta Linnemann zutreffend bemerkt, eine neue „Ordnung der Barmherzigkeit“400 zum Tragen, auf die es sich einzulassen gilt.401 Der erste Sklave wird so in eine Situation versetzt, in der er selbst frei entscheiden kann, ob er diesen Gnadenzusammenhang umfassend in seinem Leben wirksam werden lässt, er also aus der Gnade heraus leben möchte.402 Dies impliziert in einem umfassenden Verständnis, sein eigenes Handeln gegenüber dem Mitmenschen neu auszurichten. Da dieser Schritt nicht erfolgt, bleibt der erste Sklave bildlich gesprochen eigentlich im „alten Leben“, seiner selbstentfremdenden Existenz verhaftet, in dem der Zusammenhang von Schuld und gnadenloser Schuldeneintreibung wirksam ist. Ihm gelingt es nicht, die Gnadenoption in sein Leben zu integrieren, vielmehr noch: Er dispensiert sich selbst von dieser Gnade, indem er sich in seiner selbstzerstörerischen Gnadenlosigkeit an seinem Mitmenschen versündigt.403 Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Schuldenthematik mit Blick auf die Sünde des Menschen zwar eine metaphorische Dimension besitzt, für Zeitgenossen Jesu dabei aber zugleich auf einen Lebens- und Erfahrungsbereich verweist, in dem das Vergebungshandeln eine konkrete soziale Dimension gewinnt und so die Praxis des sozialen Miteinanders verändern will. Wird die diese 399
400 401 402
403
Dieser Zug wird bis in die neuesten Auslegungen der vorliegenden Gleichniserzählung betont (vgl. z. B. KLAIBER, das Matthäusevangelium II, S. 54–55) So LINNEMANN, Gleichnisse Jesu, S. 110 (Hervorhebung im Original). Vgl. zur Gesamtdeutung ebd., S. 109–111. Den Entscheidungscharakter der neutestamentlichen Gerichtsbilder betont auch PEMSELMAIER, Gericht – Himmel – Hölle – Fegefeuer als Hoffnungsbilder lesen, S. 206–207. Hierzu bemerkt D.O. Via vertiefend: „Das Gleichnis deutet an, daß man unerwartet eine Offenheit oder Empfänglichkeit bei anderen finden kann, die einen von einem bedrückenden Problem befreien und eine überraschende neue Möglichkeit der Existenz eröffnen. Wenn jedoch die neue Situation nicht ins Innere geht, so daß man offen für andere wird und Ansprüche aufgeben kann, dann geht die neue Situation verloren. Die Annahme dessen, was von anderen unverdient empfangen wird, ohne die Ausbreitung solcher Großherzigkeit trocknet die Fähigkeit zu empfangen aus, und die Isolation wird so vollständig gemacht. Die schließliche physische Isolation des unbarmherzigen Knechts von seinem Herrn und von seinen Mitknechten bekräftigt nur die Entfremdung von anderen, die von Anfang an in seinem Selbstverständnis enthalten war und niemals durchbrochen wurde.“ Insgesamt resümiert Via: „Zum Abschluß dieses Kapitels kann festgehalten werden, daß die Tragödie des ‚Unbarmherzigen Knechtes‘ entscheidend aus dem Versagen resultiert, auf Gnade angemessen zu antworten […].“ (VIA, Die Gleichnisse Jesu, S. 135–136 bzw. S. 137; hier in der Übersetzung von E. GÜTTGEMANNS). – Auch wenn Via die Aussage der Gleichnniserzählung im Rahmen seiner existenziellen Auslegung (zu) stark weitet, erkennt er zutreffend, dass in Bezug auf die tragische Entwicklung nicht das Handeln des Königs, sondern die Unfähigkeit des ersten Sklaven, das Gnadengeschenk in seine Existenzweise zu integrieren, liegt.
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
97
Wirklichkeit transzendierende Vergebungsbereitschaft Gottes nämlich ernst genommen, dürfen auch bereits gegenwärtig bestehende ausbeuterische und unterdrückerische finanzielle Abhängigkeitsverhältnisse nicht aufrechterhalten werden.404 Die Rede von der „Liebe Gottes“ und seinem „Zorn“ bilden so im Kontext einer theologischen Deutung kein Gegensatzpaar, sondern sind vor dem Hintergrund dieses Beziehungsgeflechts zwischen Gott, Mensch und Mitmensch zu begreifen. Im Handeln des Königs wird deutlich: Gott lässt die Lieblosigkeit, ja die Verweigerung der Barmherzigkeit405 im Umgang mit dem Mitmenschen nicht ungesühnt, und so richtet der König in der vorliegenden Gleichniserzählung das gnadenlose Verhalten des ersten Sklaven. Völlig zutreffend hat die in Mt 18,34 wurzelnde Implikation bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Hermann Olshausen erkannt, ein Deutungsansatz, der heute in den neuesten Auslegungen interessanterweise wiederentdeckt wird406: „Die Idee der göttlichen ὀργή widerspricht nicht der Liebe Gottes […]; der Zorn Gottes ist vielmehr nichts als die Offenbarung Gottes als der Liebe gegen das Böse. Nach seiner Gerechtigkeit demnach, die Jedem das Seine zutheilt, und die natürlich von dem göttlichen Wesen der Liebe nicht getrennt gedacht werden kann, thut Gott in der Gnade dem Verwandten wohl, im Zorn dem Entfremdeten wehe. Da indeß der Mensch nicht das Böse selber ist, sondern es nur in einer oder der anderen Beziehung in sich einläßt, zürnt Gott nur dem Bösen an ihm. In dem göttlichen Zorn spricht sich somit nur eine andere Form der heiligenden Thätigkeit Gottes aus. Wo die erbarmende Thätigkeit mißverstanden oder gemißbraucht wird, wie von diesem Knecht, da tritt die strafende ein.“ 407
In der vorliegenden Erzählung ist also vor dem Deutungshorizont der göttlichen Gnade und Liebe auch die Frage nach Gottes Gerechtigkeitshandeln berührt,408 wie vor allem in der Reaktion der für die Zuhörer Identifikationspotential
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Diesen Aspekt erkennt völlig zutreffend CRÜSEMANN, “… wie wir vergeben unseren Schuldigern”, S. 102. Der Begriff der Barmherzigkeit ist seit Papst Franziskus sicherlich zum gern (mitunter inflationär) verwendeten Leitwort geworden. Hier trifft dieses jedoch prägnant die Zielperspektive der vorliegenden Gleichniserzählung, was vor allem an dem Verhalten des Königs erkennbar wird, der – von der Not des ersten Sklaven ergriffen – Gnade walten lässt. Entsprechend knüpft auch Jesus nachfolgend mit den Worten an: „So wird auch mein Vater, der himmlische, euch tun, wenn Ihr nicht von Herzen erlasst – ein jeder von euch seinem Bruder.“ (Mt 18,35 in der Übersetzung F. STIERS). So zuletzt bei SCHNEIDER, Barmherzigkeit und Zorn!, S. 173–174. OLSHAUSEN, Biblischer Commentar I, S. 568. Das Zitat wurde an das heutige Schriftbild angepasst, die Rechtschreibung des Originals wurde dabei beibehalten. – Für eine aktuelle Auslegung siehe SCHNEIDER, Wehrhafte Liebe (Mt 18,23–35), S. 272–274. Auch S. Schneider (ebd., S. 273) resümiert, dass Jesus uns durch diese Parabel zeigen will, „dass Gott gerecht und barmherzig ist“ (Hervorhebung im Original). Diese Dimension der Erzählung klingt weiterhin auch an bei R OOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 455, wird jedoch mit Blick auf die hier angesprochenen Sinndimensionen nicht weitergehend reflektiert.
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
bietenden Mitsklaven (vgl. 18,31) deutlich wird409. Vielmehr noch lässt sich sagen, dass die Parabel auf einen wichtigen Zusammenhang verweist: Wenn Gottes Liebe wirklich aufrichtig und verlässlich sein soll, kann das unbarmherzige Verhalten ihn nicht unberührt lassen, dann ist sein Gerechtigkeitshandeln gefordert.410 Wer dies erkennt, begreift, dass hier kein Widerspruch des Handlungssouveräns vorliegt411: „Der Zorn des Königs gegen den unbarmherzigen Knecht ist [nämlich; C.W.] Ausdruck seiner barmherzigen Liebe, denn auf diese Weise sorgt er dafür, dass sein Erbarmen nicht nur diesem ersten Knecht, sondern allen Knechten zugutekommt, besonders dem, der durch den ersten Knecht ins Gefängnis geworfen wurde.“ 412
Sebastian Schneider deutet die Parabel dahingehend, „dass Gott so sehr Liebe ist, dass er gegen das, was sie verletzt, einschreitet“ 413. Sein Ansatz geht, wie eben bereits herausgestellt, dabei davon aus, dass das abschließende Handeln des Königs als „pädagogische Strafe“414 zu einer Läuterung des ersten Sklaven dient.415 Diese Interpretation, mit der zugleich eine zweite Chance impliziert wird, kommt unserem modernen Verständnis entgegen, ist jedoch nur ein möglicher Denkansatz. Entscheidend ist, dass auch ein möglicher Verweis auf das Endgericht, die Aussage der Parabel zwar radikalisieren würde, die obere Deutung jedoch nicht obsolet macht. So würde vor allem verdeutlicht, dass in Gottes heilschaffendem Gericht das Unheilshandeln des Menschen, wie es in der Gnadenverweigerung des ersten Sklaven zum Ausdruck kommt, „letzt-gültig“ gesühnt wird. Mt 18,34 würde sich so in die Botschaft Jesu einfügen, die, wie im Vergleich der Botschaft von Jesus und Johannes aufgezeigt, auch das Richten als integralen Bestandteil des Heilshandelns Gottes kennt. Es verdeutlicht, wie Daniel Kosch herausstellt, zugleich warnend die „Solidarität Gottes mit allen, die ausgegrenzt, ausgebeutet oder auf ihre Schuld festgelegt werden“.416 Die präsentische wie auch futurische Dimension der von Jesus verkündeten Herrschaft Gottes sensibilisiert diesbezüglich dafür, dass die Sanktionierung des eigenen Handelns nicht in einer fernen Zukunft eintritt. Die Zuhörer und Zuhörerinnen Jesu wüssten mit Blick auf dieses hier anklingende Endgericht, dass es 409 410
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Vgl. auch SCHNEIDER, Barmherzigkeit und Zorn!, S. 173. Diesen Aspekt erkennt und verdeutlicht auch S. Schneider (ebd.). Hier sei zur Vertiefung noch einmal an die von J.-H. Tück vorgebrachte systematisch-theologische Kritik an einer Unterschlagung der Rede vom „Zorn Gottes“ erinnert (vgl. Fußnote 24). Gegen die Kritik von HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 265. SCHNEIDER, Barmherzigkeit und Zorn!, S. 174 Ebd., S. 177. SCHNEIDER, Wehrhafte Liebe (Mt 18,23–35), S. 269. Vgl. hierzu akzentuiert auch ebd., S. 268–269. So KOSCH, Zärtlichkeit und Zorn – Der Gott Jesu, S. 52 (hier auch wörtliches Zitat) bzw. vertiefend S. 49–53.
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
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keine ferne Größe darstellt, sondern als „eschatologische Scheidung“ bereits in die Gegenwart hineinwirkt.417 Letztlich ist es (wie auch in V. 35 anklingt) die Umkehr im Sinne eines Einlassens auf das Heilsangebot Jesu und seine Botschaft, die über die eigene heil- oder unheilvolle Zukunft entscheidet. 418 Dabei benutzt die vorliegende Parabel für das göttliche Gericht eine gewaltvolle, für heutige Leser befremdlich Metaphorik, deren Bildwelt vielleicht überdacht werden kann.419 Dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier bewusst auch auf eine Wirklichkeit verwiesen werden soll, deren existenziell bedrohlicher Charakter nicht durch sanftere, dem heutigen Verständnis verträglichere Sprachbilder abgemildert werden darf.420 Sind Gerichtsworte – die Freiheit des Menschen ernst nehmend – nämlich ihrem Wesen nach „‚Aufruf zur ‚Ent-scheidung‘“421, geht es im wahrsten Sinne des Wortes um alles: eine neue, heilvolle Existenz oder die lebenszerstörerische Entfremdung. Dabei verdichten vor allem die abschließenden Worte Jesu (Mt 18,35) eindrücklich, wie heilsnotwendig eine Orientierung des Handelns an der lebensorientierenden Kraft der von Gott geschenkten und endgültig verbürgten Gnade oder besser gesagt seiner Barmherzigkeit422 ist:
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Vgl. vertiefend und erweiternd THEIßEN/MERZ, Der historische Jesus, S. 244–245. Vgl. zu diesem Aspekt REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 301–302 u. S. 314. Falls man eine eschatologische Dimension von Vers 34 sieht, darf man diesen Aspekt nicht unberücksichtigt lassen. Sicherlich macht der „ endgerichtliche Horizont“ eine „eigentliche ‚Tragik‘“ der vorliegenden Parabel aus (so ROOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 459; hier auch wörtliche Zitate). Die wahre Tragik liegt jedoch darin, dass der erste Knecht die Heilsoption des Königs zu einer schuldbefreiten Existenz und hieraus resultierende Verpflichtungen gegenüber dem Nächsten nicht erkennt, d. h. in seine gegenwärtige Existenz integriert, was sich dann auch eschatologisch auswirkt. Vgl. hierzu auch REID, Violent Endings in Matthew`s Parables, S. 254 und unter Aufgriff dieser Position auch ROOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 459. Diesbezüglich sei auf das Schreiben der Glaubenskongregation an alle Bischöfe „Recentiores episcoporum synodi“ vom 17. Mai 1979 verwiesen, in dem es heißt: „Jene Bilder hingegen, welche wir in der Heiligen Schrift verwandt finden, verdienen eine besondere Ehrfurcht. Man muß ihren tieferen Sinn verstehen und die Gefahr vermeiden, sie allzu sehr abzuschwächen, weil das oft die Wirklichkeit selbst verflüchtigt, die in diesen Bildern angedeutet wird.“ (KONGREGATION FÜR DIE GLAUBENSLEHRE, Schreiben zu einigen Fragen der Eschatologie, S. 6). PEMSEL-MAIER, Gericht – Himmel – Hölle – Fegefeuer als Hoffnungsbilder lesen, S. 206. – Das ausführliche Zitat findet sich im vorliegenden Hauptteil B am Ende des Unterkapitels 2.2.3. Hierzu bemerkt vertiefend Papst Franziskus: „Etymologisch gesehen bedeutet ‚Barmherzigkeit‘, das Herz für die Not zu öffnen. Und damit sind wir auch schon beim Herrn: Die Barmherzigkeit ist jene göttliche Haltung, die umarmt, das Sich-Schenken Gottes, der empfängt, der sich hinabbeugt zur Vergebung.“ (FRANZISKUS I., Der Name Gottes ist Barmherzigkeit, S. 29; hier in der Übersetzung von E. LIEBL).
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung „So wird auch mein Vater, der himmlische, Euch tun, wenn Ihr nicht von Herzen erlasst – ein jeder von Euch seinem Bruder.“ 423 (Mt 18,35)
Wer diesen Satz isoliert liest, reduziert die Aussage der Parabel auf das Bild eines zornig-strafenden Gottes. Wer es jedoch im Kontext von Mt 18,33 begreift, erkennt, dass nichts anderes gefordert ist als die Nachahmung der einem selbst durch einen barmherzigen Gott zuteil gewordenen Vergebungsbereitschaft (vgl. Mt 5,48; Lk 6,36).424 Zutreffend resümiert deswegen Walter Klaiber: „Auch die harte Reaktion des Königs entspringt nicht einem sadistischen Gottesbild, sondern macht anschaulich, wie unmöglich und untragbar ein Verhalten ist, das die Güte Gottes missachtet und nicht lebt. Ob nicht auch Gott siebenundsiebzig Mal vergeben müsste – und es vielleicht auch tut – wird nicht diskutiert. Das Gleichnis hat in unserem Zusammenhang nur ein Ziel: Es soll deutlich machen: Anderen zu vergeben ist eigentlich selbstverständlich und nicht schwierig, wenn man sich bewusst macht, wie sehr wir von der Vergebung Gottes leben. Aber umgekehrt gilt eben auch: Von dieser Vergebung leben zu wollen, ohne sich von der Güte Gottes anstecken zu lassen, ist eine gefährliche Selbsttäuschung.“ 425
So verstanden, will die Parabel Mt 18,23–34 keine Gegenposition zu der Botschaft Jesu von der gnadenhaft-liebenden Zuwendung Gottes zu den Menschen ausbilden, sondern vielmehr das Bewusstsein für einen entscheidenden Akzent schärfen: Die aus Liebe geschenkte Vergebung durch Gott ermöglicht und fordert im „Hier und Jetzt“ eine fundamentale Neuorientierung hin zum barmherzigen und vergebungsbereiten Umgang mit dem ihr ebenfalls bedürfenden Mitmenschen. Nur so gelingt es, die eigene Existenz zu transzendieren und Anteil an dieser neuen, durch Gott gesetzten Wirklichkeit zu gewinnen. Indem Gott selbst in seinem Zorn als Zeichen seiner Gerechtigkeit die „liebelose[…] Verweigerung von Liebe“426 bzw. gelebter Barmherzigkeit nicht ungesühnt lässt und die Entscheidung hierzu letztgültig sanktioniert 427, tritt er verbindlich für deren
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Im Wortlaut mit der Übersetzung von F. STIER. Diesen Zug betont auch zutreffend LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 73. KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 55. TÜCK, Der Zorn – die andere Seite der Liebe Gottes, S. 387 (bzw. zum Gesamtgedanken S. 387–388). Die zugespitzte Handlungsentwicklung der Gleichniserzählung könnte dahingehend missverstanden werden, dass eine einzelne Fehlentscheidung (wie sie sich in der Reaktion des ersten Sklaven gegenüber dem zweiten zeigt) reicht, um die Gnade Gottes zu verspielen. Dagegen ist einzuwenden, dass die vorliegende Parabel dramaturgisch verdichtet und mit plakativen Mitteln aufzeigen möchte, worin eine fehlgeleitete Existenzorientierung zum Ausdruck kommt und wie sie sich auswirkt. – Auch hier geht es nicht darum, summarisch festzulegen, wie oft der erste Sklave die Barmherzigkeit gegenüber seinem Mitknecht verweigert hat/verweigern darf, sondern welche Auswirkungen es hat, den eigenen, destruktiven Lebensentwurf beizubehalten. Wichtig ist für die vorliegende Gleichniserzählung, dass sie dies verhindern möchte und deswegen die Notwendigkeit zur rechtzeitigen existenziellen Neuorientierung verdeutlicht. Dabei ist es der die Barmherzigkeit konsequent verweigernde Mensch selbst, der in
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
101
existenzielle Sinnhaftigkeit ein.428 Entsprechend könnte eine Überschrift zu der vorliegenden Parabel lauten: Von der lebensorientierenden und letztgültig
verbürgten Kraft der Barmherzigkeit!
3.2.8
Impuls der Wirkungsgeschichte
Wie bereits an der Benennung des vorliegenden Kapitels deutlich wird, kann es hier nicht darum gehen, die Wirkungsgeschichte der vorliegenden Gleichniserzählung umfassend darzulegen.429 Vielmehr sollen reizvolle Zeugnisse der Auseinandersetzung mit der Erzählung im Laufe ihres „Wegs“ durch die Geschichte reflektiert werden. Während im Kontext der Auslegungstradition vor allem die Frage relevant war, inwieweit Gott seine den Menschen gewährte Sündenvergebung wieder revidieren kann,430 wird nunmehr der Blick auf eine literarische Rezeption des Gleichnisses gelegt. Eine sehr eindrückliche Auseinandersetzung, auf die bereits Ulrich Luz zu Recht verweist431, hat in diesem Zusammenhang Leo Tolstoi in seiner Erzählung „Auf Feuer habe acht!“432 geschaffen. Diese handelt von dem Konflikt zweier Nachbarn, Iwan und Gawrila, deren aus gegenseitigen Beschuldigungen erwachsene Konfrontation sich immer weiter zuspitzt, bis letztlich nach einem von Gawrila gelegten Feuer das halbe Dorf abbrennt. Besonders dem Vater Iwans fällt hierbei die Rolle zu, seinen Sohn vor der bedrohlichen Macht des Kreislaufs gegenseitiger Verurteilungen zu warnen und letztlich auf eine Vergebungshaltung hinzuwirken:
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einem Zustand tiefster Ferne und Entfremdung von Gott sowie dem Mitmenschen verharrt. Darin liegt die eigentliche Bedrohung, und nicht im späteren Gericht. Ebendiese frei gewählte Entscheidung ist es dann nämlich, die Gott im Gericht sanktioniert. Deswegen ist – trotz unterschiedlicher Akzentsetzungen – der von S. Schneider für die Parabel gewählte Titel „Wehrhafte Liebe“ sehr gelungen. Ebenfalls ist ihm mit Blick auf seine zentrale Schlussfolgerung zuzustimmen: „Gottes Barmherzigkeit ist demnach keine schwache Barmherzigkeit, die alles mit sich machen ließe, sondern eine wehrhafte, die dem Bösen entschieden entgegentritt, um das zu schützen, was sie schenkt: Vergebung, Zuwendung und Liebe!“ (SCHNEIDER, Wehrhafte Liebe [Mt 18,23–35], S. 273). Vgl. hierzu LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 76–78; mit wenigen neuen Akzenten auch ROOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 459–460. Vgl. hierzu LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 76–77. Verschiedene Ausleger versuchten vor allem auch zu ergründen, wodurch ein Verlust der durch Gott in Christus geschenkten Vergebung bedingt sein kann. Besonders im Rahmen der reformatorischen Auslegung wurde herausgestellt, dass auch die Zurücknahme der göttlichen Gnade als Teil der göttlichen Freiheit anerkannt werden müsse (vgl. ebd. S. 77). Vgl. ebd., S. 78/Fußnote 91. LEO TOLSTOI: Auf Feuer habe acht! (1885); u. a. erschienen in: Ders.: Wo die Liebe ist, da ist auch Gott. Erzählungen. Gießen 52015, S. 30–60. Hier nachfolgend in der Übersetzung von Arthur LUTHER zitiert.
102
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung „Sieh zu, Wanja, sage niemandem, wer das Feuer angelegt hat. Decke die Sünden des anderen zu, dann vergibt Gott euch beiden.“ 433
Die Stärke von Tolstois Erzählung liegt vor allem darin, dass sie die lebens- und existenzzerstörerische Kraft mangelnder Vergebungsbereitschaft dem schuldigen Mitmenschen gegenüber eindrücklich vor Augen führt. Dabei integriert sie jedoch ein über den biblischen Text hinausgehendes Hoffnungsmoment, da sich Iwan (und auch Gawrila) abschließend ebengerade nicht einem letzten scheidenden, von Gott gewirkten Gericht gegenübersehen. Vielmehr wirkt das Feuer als Katalysator eines Neubeginns, vor dessen Hintergrund eine lebenstragende Existenz in gegenseitiger Vergebungsbereitschaft im „Hier und Jetzt“ möglich wird. Die Erzählung setzt also an dem Punkt an, bevor es zum Äußersten kommt, bevor die hartherzige, lediglich eigenen Interessen folgende Vergeltungsmentalität eine alles vernichtende Dimension angenommen hat und zum unabänderlichen Gericht über das eigene Unheilshandeln führt. 434 So betrachtet lässt Tolstoi mit dem Aussparen des „eschatologische[n], endgerichtliche[n] Horizont[s], der die eigentliche ‚Tragik‘ ausmacht“435, oberflächlich gesehen einen zentralen Aspekt von Mt 18,23–35 unberücksichtigt,436 eröffnet damit aber den Blick auf einen entscheidenden Appell der biblischen Erzählung: Lebe aus der Vergebung Gottes vergebungsvoll mit Deinem Mitmenschen, um selbst ein heilvolles Leben zu haben! – In den im Abbrennen des halben Dorfes aufgezeigten lebensbedrohlichen, zutiefst destruktiven Auswirkungen einer gegenteiligen Existenzorientierung klingen so bereits weitergehenden Folgen einer mangelnden Umkehr düster an. Aber Leo Tolstoi will, ganz im Sinne der Botschaft Jesu, verdeutlichen: Dazu soll und muss es nicht kommen! Der Neubeginn in einer gnadengewirkten Existenz ist möglich: „Und sie hielten auf gute Nachbarschaft, wie die Väter es getan hatten. Und Iwan Stscherbakow blieb der Mahnung seines Vaters und des göttlichen Gebotes eingedenk, dass man das Feuer gleich am Anfang löschen müsse. Und wenn ihm einer etwas Böses tat, suchte er sich nicht, am andern zu rächen, sondern das Böse gutzumachen; und wenn ihm jemand ein böses Wort gab, dachte er nicht daran, ihm eine noch bösere Antwort zu geben, sondern nur daran, wie er den andern belehren könnte, dass er nichts Böses rede. Und das suchte er auch seinen 433
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Ebd., S. 59 (Übersetzung A. LUTHER). Vorausgegangen ist hierbei Iwans Einsicht, dass er die Ausbreitung des Feuers hätte verhindern können, wenn er nicht in blinder Wut Gawrila verfolgt hätte. „Dieses ‚Gericht’ ist aber etwas Vor-Letztes: Die Feuerbrunst führt den Bauern Iwan dazu, zu seinem Vater zu sagen: ‚Vergib mir, ich bin schuldig vor dir und vor Gott!‘ Es führt zu einem Neuanfang. Bei Matthäus scheint es das Ende zu sein.“ (LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 78/Fußnote 91). ROOSE, Das Aufleben der Schuld, S. 459 (Hervorhebung im Original). So der (unter Bezugnahme auf U. Luz) geäußerte, vorsichtige Vorwurf bei ebd., S. 459– 460.
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
103
Weibern und Kindern beizubringen. Und sein Wohlstand hob sich wieder, und Iwan Stscherbakow lebte besser als je zuvor.“ 437
„Nur Gäste aus der zweiten Reihe?“ – Die Erzählung(en) vom großen Mahl (Mt 22,1–14 par. Lk 14,16–24)
3.3
Die Besonderheit der im Folgenden analysierten Gleichniserzählung ist, dass sie in deutlicher Abweichung bei Lukas (vgl. Lk 14,16–24), Matthäus (vgl. Mt 22,2– 14) und zudem noch im apokryphen Thomasevangelium (EvThom 64) überliefert wird. Dementsprechend lohnt es sich, zunächst einige traditions- sowie redaktionskritische Überlegungen voranzustellen.
3.3.1
Wie lautete die ursprüngliche Gleichniserzählung?
Die unterschiedlichen Fassungen des Gleichnistextes bei den oben genannten Synoptikern haben im Laufe der Auslegungsgeschichte bis in die Reformationszeit dazu geführt, dass man von zwei unterschiedlichen auf Jesus zurückzuführenden Parabeln ausging.438 Aufgrund sprachlicher Ähnlichkeiten 439 wie auch inhaltlicher Gemeinsamkeiten (Nichterscheinen der Erstgeladenen, Zorn des Königs als Reaktion hierauf, erfolgreiche Einladung zweiter Gäste)440 war hingegen die neuere exegetische Forschung darum bestrebt, eine gemeinsame Überlieferungsgrundlage in der Logienquelle Q zu rekonstruieren441. Auch wenn die Mehrheit der Ausleger diese Überlieferungstheorie teilt, bleibt eine entsprechende Erhebung eines „Q-Textes“ hypothetisch und wird von namhaften Exegeten problematisiert442, wenn nicht sogar aufgrund geringer wörtlicher Kongruenz beider synoptischer Erzählfassungen völlig abgelehnt443. Dieser Umstand bedingt, dass, auch wenn „von einer gemeinsamen Vorstufe
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TOLSTOI, Auf Feuer habe acht!, S. 60 (Übersetzung A. LUTHER). Vgl. hierzu LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 232–233 (besonders auch Fußnote 10). Vgl. die Übersicht bei WEREN, From Q to Matthew 22,1–14, S. 663–664. Siehe für einen vertiefenden Vergleich auch ERLEMANN, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, S. 170. Vgl. hierzu exemplarisch H OPPE, Das Gastmahlgleichnis Jesu (Mt 22,1–10/Lk 14,16–24), S. 280–290. Skeptisch äußert sich beispielsweise LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 233 (besonders auch Fußnote 12, hier Verweis auf weitere Autoren). So zuletzt beispielsweise KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 117.
104
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
auszugehen ist“444, die Aufdeckung einzelner Redaktionsschichten der Evangelisten Lukas und Matthäus höchst spekulativ bleibt.445 In diesem Gesamtbefund liegt gleichzeitig begründet, dass die genaue Ermittlung eines Ursprungsgleichnisses aus dem Munde Jesu nicht möglich ist. 446 Am ehesten wird man vom grundlegenden Erzählzusammenhang noch annehmen können, dass die ursprüngliche Parabel von einem reichen Mann handelt, dessen Einladung von den Erstgeladenen ausgeschlagen wird. Aus Zorn hierüber lädt dieser dann beliebige andere, ursprünglich nicht eingeplante Gäste zum Mahl.447 Für die weitere Analyse stellt sich somit die Frage, ob man mit einem vermuteten ursprünglichen Text der Parabel operiert448 oder die jeweiligen „Versionen“ der Evangelisten heranzieht. Gegen die erste Variante spricht dabei Folgendes: Erstens: Die Rekonstruktion eines möglichen Ursprungstextes bleibt hypothetisch und spekulativ. Dieser Text kann somit keinen weitergehenden Authentizitätsanspruch, basierend auf einer vermeintlichen Nähe zur Botschaft des historischen Jesus, erheben. Zweitens: Die unterschiedlichen Fassungen von Matthäus und Lukas (wie auch Thomas) sind zwar nachösterlich geprägt und somit höchstwahrscheinlich redaktionell bearbeitet. Sie sind jedoch unter dieser Prämisse ein authentischer Versuch, die Botschaft Jesu für ihre Zeit zu interpretieren. Dies schließt eine historische Rückfrage nicht aus, sondern ermöglicht umso mehr, die Vereinbarkeit mit anderen Teilen der Botschaft Jesu zu prüfen. Aus diesem Grund ist einer Einzelanalyse der jeweiligen Gleichniserzählungen der Vorzug zu geben. – Für die strenge historische Rückfrage mag dieser Ansatz unbefriedigend sein, er ist jedoch aufgrund der bereits angesprochenen Problemstellung der einzig gangbare Weg, um der vielseitigen Überlieferung gerecht zu werden.
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KÄHLER, Jesu Gleichnisse als Poesie und Therapie, S. 117 (besonders auch Fußnote 284, hier sehr umfassender Verweis auf Vertreter dieser Position). V. Hasler meint beispielsweise in der matthäischen Fassung drei maßgebliche Redaktionsschichten offenlegen zu können (vgl. HASLER, Die königliche Hochzeit, S. 28–34). – Ein Grundproblem dieses und ähnlicher Ansätze ist, dass, ohne gesichertes Wissen über das Ursprungsgleichnis sowie den Überlieferungsprozess, entsprechende Überlegungen rein spekulativ sind. Diese Versuche unternehmen beispielsweise HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 243–244; ebenso unter Einbezug der entsprechenden Überlieferung im Thomasevangelium LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 235–236. Mit REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 227. So beispielsweise der bereits angesprochene Ansatz von HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 242–246.
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
105
Für die Auseinandersetzung mit der Mt-Fassung der vorliegenden Parabel bedeutet dies auch, die Verse 11 bis 14, die keine Analogie zu Lukas aufweisen, in die Analyse miteinzubeziehen. 449
3.3.1.1 Die Parabel vom königlichen Hochzeitsmahl bei Matthäus (Mt 22,1–14) 3.3.1.1.1 Übersetzung450 1 Und antwortend sprach Jesus wieder in Gleichnissen zu ihnen, und sagte: 2 Mit dem Königtum der Himmel ist es ähnlich 451 wie mit einem Menschenkönig, der für seinen Sohn ein Hochzeitsfest veranstaltete. 3 Und er schickte seine Sklaven, um die Eingeladenen zur Hochzeit zu rufen, aber sie wollten nicht kommen. 4 Wieder sandte er andere Sklaven und sagte: Sagt zu den Gerufenen: Siehe, mein Mahl habe ich bereitet, meine Ochsen und die Masttiere (sind) geschlachtet und alles (ist) bereit – [nun] auf, zur Hochzeit!452 5 Die aber scherten sich nicht darum und gingen weg, der eine auf den eigenen Acker, der andere zu seinem Geschäft.453 6 Die übrigen aber ergriffen seine Sklaven, demütigten454 sie und töteten sie. 7 Darüber geriet der König in Zorn und schickte seine Kampftruppen, richtete jene Mörder zugrunde und steckte ihre Stadt in Brand.455 8 Da sagt er seinen Sklaven:
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Zu diesbezüglich weitergehenden textkritischen Überlegungen siehe LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 234–235. Die nachfolgende Übersetzung orientiert sich primär am MNT, wird jedoch (soweit vom griechischen Text her zulässig) syntaktisch und stilistisch modifiziert. Mitunter werden diesbezüglich weitere Übersetzungen einbezogen und durch Fußnoten ausgewiesen. Bei der Übersetzung gelten die bereits im Hinblick auf Mt 18,23 vorgebrachten Überlegungen von L. SCHOTTROFF, Verheißung für alle Völker, S. 480. Noch pointierter übersetzt L. Schottroff: „Kommt her zum Hochzeitsfest.“ (SCHOTTROFF, Verheißung für alle Völker, S. 479. Versübersetzung im Wortlaut mit U. POPLUTZ, Eine universale Jesusgeschichte, S. 218. Hierdurch wird syntaktisch besonders schön die Gleichgültigkeit gegenüber dem verzweifelten Werben des Königs zum Ausdruck gebracht. So F. STIER. Während die Übersetzung mit „misshandeln“ (so im MNT) bereits reine physische Gewalt impliziert, wird hier die semantische Offenheit gewahrt. Auch hier übersetzt STIER Vers 7 sprachlich sehr akzentuiert.
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung Das Hochzeitsmahl ist zwar bereit, die Gerufenen aber waren nicht würdig456 [teilzunehmen]. Geht nun an die Kreuzungen der Wege und wie viele immer ihr findet, ruft zur Hochzeit. Als jene Sklaven auf die Wege hinausgegangen waren, brachten sie alle zusammen, die sie fanden, Böse und Gute; und gefüllt wurde der Hochzeitssaal von (zu Tisch) Liegenden. Als aber der König hereinkam, um zu schauen die (zu Tisch) Liegenden, sah er dort einen Menschen, der nicht [wie angemessen] mit einem Hochzeitsgewand bekleidet war. Und er sagte zu ihm: Gefährte, wie kamst du hier herein – ohne ein Hochzeitsgewand? Der aber verstummte. Da sprach der König zu den Dienern: Bindet ihm Füße und Hände und werft ihn hinaus in die äußerste Dunkelheit! Dort wird Weinen und Zähneknirschen sein!457 Denn viele sind Berufene, wenige aber Auserwählte! 458
3.3.1.1.2 „Aus zwei mach eins?“ – Narrative Analyse Die Gliederung der vorliegenden Parabel kann unterschiedliche Akzente setzen. Während Vers 2 mit dem Verweis auf das vom König für seinen Sohn 459
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Das vorliegende Adjektiv („ἄξιος“) wird oftmals auch zutreffend mit „wert sein“ übersetzt. Die Übersetzung mit „würdig sein“ (vgl. MNT wie auch POPLUTZ, Eine universale Jesusgeschichte, S. 218) lenkt den Blick stärker auf die Erstgeladenen und ihre Reaktion, durch die sie ihre ursprünglich vorhandene Berechtigung der Teilhabe am Fest verspielt haben. So übersetzt POPLUTZ, Eine universale Jesusgeschichte, S. 218; fast identisch übersetzt auch KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, 117. So beispielsweise übersetzt bei POPLUTZ, Eine universale Jesusgeschichte, S. 218 und im MNT. Zwar bietet der Sohn bzw. seine Hochzeit den Anlass des Festes, ihn aber als „das magnetische Zentrum des Handlungsablaufs“ (GNILKA, Das Matthäusevangelium II, S. 237) anzusehen, ist wohl eher einer unbewussten christologischen Lesart der vorliegenden Parabel geschuldet. Erzählerisch bildet die Erwähnung, dass der König ein Festmahl für seinen Sohn ausrichtet, nicht mehr als einen „Aufhänger“. Entsprechend findet dieser Sohn auch bis zum Ende keine Erwähnung mehr, obwohl ein Auftreten beim Hochzeitsmahl durchaus denkbar wäre. Ob diesem Aspekt auf einer weitergehenden Interpretationsebene eine Relevanz zukommt, kann im Rahmen dieses Analyseschritts nicht entschieden werden.
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
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ausgerichtete Hochzeitsmahl in die Gleichniserzählung einführt, 460 ist die weitergehende Unterteilung in einzelne Sinnabschnitte diskussionswürdig. Aus literarkritischer Sicht ist es möglich, das Gleichnis in zwei grundlegende Abschnitte, konkret von Vers 2–10 und von Vers 11–13461, zu untergliedern.462 Jedoch gibt es in der exegetischen Forschung auch andere, durchaus sinnvoll begründete Unterteilungsvorschläge.463 Ulrich Luz regt beispielsweise an, Vers 3–7 und Vers 8–13 als zusammenhängende Erzähleinheiten zu betrachten. 464 Für diese Überlegungen spricht, dass der Verlauf beider Passagen jeweils in einer tragischen Entwicklung (Ausschluss und Bestrafung der Erstgeladenen bzw. des einzelnen Hochzeitsgastes) mündet. Zumindest vom inhaltlichen Spannungsbogen ist dadurch eine gewisse Eigenständigkeit sowie mit Blick auf den Gesamtzusammenhang Parallelität der beiden Erzählabschnitte gegeben. Problematisiert werden muss jedoch, dass zumindest der erste Handlungsverlauf nicht, wie von Luz betont, ein katastrophales Ende nimmt465, sondern sich zunächst, mit der königlichen Aufforderung zur Einladung der zweiten Gäste (V. 8–9), eine positive Wendung vollzieht. Den Versen 8 und 9 kommt somit die Bedeutung einer Gelenkstelle zu, da sie die erste und zweite Erzähleinheit inhaltlich miteinander verbinden und die Vorrausetzung für die nachfolgende dramatisch-tragische Entwicklung bilden. Das für den weiteren Spannungsverlauf tragende und die Frage nach einer Lösung evozierende Konfliktmoment eröffnet dann Vers 10, der interessanterweise von der indifferenten Einladung der bösen und guten Gäste berichtet.466 Der König als Handlungssouverän nimmt im Erzählgeschehen eine das Gesamtgeschehen dominierende sowie steuernde Rolle ein. 467 Es ist dabei jedoch nicht so, wie beispielsweise Ulrich Luz annimmt, dass eine „Einheit der ganzen Parabel […] nur durch den gleichbleibenden Handlungssouverän und die
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Die Bedeutung von Halbvers 2b als „Exposition“ benennt beispielsweise ERLEMANN, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, S. 171. Indes ist hier jedoch nicht das „Thema“ des Gleichnisses benannt (so SCHOTTROFF, Verheißung für alle Völker, S. 480). Dieses ist nämlich eindeutig weiter gefasst und behandelt die Frage, wie es zu der Erwählung der Zweitgeladenen kommt und dabei ein Ausschluss vom Hochzeitsmahl trotz anfänglicher Einladung möglich ist (mit ERLEMANN, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, S. 172). Es geht also um Teilhabe und Ausschluss vom Hochzeitsmahl. Auf die Besonderheit von Vers 14 wird nachfolgend eingegangen. Vgl. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 231 mit Fußnote 5. Für eine Übersicht siehe ebd., Fußnote 5. Vgl. ebd., S. 231. Vgl. ebd. Vgl. auch GNILKA, Das Matthäusevangelium II, S. 240. Dies bringt J. Gnilka gut zum Ausdruck: „Beherrschende Figur in der Geschichte ist der König. Seine Anweisungen bringen das Geschehen in Bewegung, regeln es, führen es auf ein Ziel hin.“ (ebd., S. 234).
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
chronologische Abfolge gegeben [ist], nicht aber durch einen durchlaufenden Handlungsfaden“468. Vielmehr erwächst der die Einheit ausmachende, sich steigernde Spannungsverlauf daraus, dass sich der König jeweils mit zwei Gruppen von Gästen und hier jeweils mit konkreten Opponenten konfrontiert sieht (die Gesamtgruppe der Erstgeladenen, der einzelne Hochzeitsgast), auf die er mit der ganzen Härte seines Strafhandelns reagiert. Den Sklaven sowie späteren Tischdienern als bloßen „Erfüllungsgehilfen“ der königlichen Weisungen fällt insgesamt eine rein nebengeordnete Rolle zu.469 Insgesamt lässt sich so ein zweifacher Spannungsbogen der Erzählung ausmachen: Dieser beginnt mit der Ablehnung der Einladung durch die ersten Gäste bis hin zur Neuausrichtung des Festes mit den Zweitgeladenen. Er setzt dann mit der Auseinandersetzung des Königs mit dem einzelnen Gast ein und mündet in dessen gewaltsamen Ausschluss vom Hochzeitsmahl. 470 Ein erzählerisches Stilmittel liegt, wie Uta Poplutz zutreffend herausstellt, vor allem in der „Irritation“ 471, die auf verschiedene Weise geschieht. Insbesondere geschieht dies dadurch, dass die Parabel bewusst ein Unverständnis gegenüber dem Verhalten der Erstgeladenen erzeugt, deren absichtsvolle Ablehnung der Einladung472 bis hin zur radikal-negativen Steigerung, dem Töten der gesandten Sklaven des Königs (vgl. V. 6), unvorstellbar scheint. 473 Hinzu treten logische Brüche bzw. Entwicklungen, die sich nicht stringent aus dem Handlungsverlauf erklären lassen.474 Als markanteste Stelle ist in diesem Zusammenhang wohl die Verfahrensweise des Königs mit dem Hochzeitsgast ohne passendes Gewand zu nennen. Der königliche Vorwurf des fehlenden
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LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 231–232. Fraglich ist deswegen, ob das von Harnisch angenommene „dramatische Dreieck“ bzw. die „Dreierformation mit antithetischem Zwillingspaar“ (vgl. HARNISCH, Die Geichniserzählungen Jesu, S. 79–81) wirklich auf die Gesamterzählung zutrifft. Dafür sind die jeweiligen Sklaven erzählerisch zu farblos gehalten. Zudem sind die beiden geladenen Gruppen, mit Ausnahme, dass die einen die Einladung befolgen, zu wenig kontrastiv voneinander abgegrenzt. Vgl. auch ERLEMANN, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, S. 172. Dieses zentrale Merkmal der Parabel betont zutreffend POPLUTZ, Eine universale Jesusgeschichte, S. 219. A. Vögtle stellt zu Recht heraus, dass die Ablehnung in Mt 22,3b anders als bei Lk 14,18a bereits von Beginn an den Charakter einer „willentlichen Verweigerung“ hat (vgl. VÖGTLE, Gott und seine Gäste, S. 50; hier auch wörtliches Zitat). Ähnlich ERLEMANN, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, S. 173 an. W. Harnisch betont, dass sich bei dem wiederholten Bitten des Königs sowie der Reaktion der Erstgeladenen (Übergang zur Tagesordnung; Ermordung der Knechte) „eine vom Stilprinzip der Klimax bestimmte Doppelung“ zeige (vgl. HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 234; hier auch wörtliches Zitat). Für einen differenzierten Blick auf die „Brüche auf der Erzähloberfläche“ siehe LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 232.
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Gewandes erscheint logisch nicht nachvollziehbar,475 „denn woher sollten die spontan nachgeladenen Gäste angemessene Kleidung haben, und warum sollte der König, der sein Festmahl in dieser Weise zum Ziel führen will, seine Gäste auf Kleiderordnungen inspizieren“476? Hierin erzählerisches Unvermögen zu vermuten, griffe jedoch zu kurz, vielmehr trifft Ulrich Luz die erzählerische Absicht: „Kurz, der Mt-Text verunsichert, so wie er vorliegt, seine Leser/innen: Sie merken, daß die Geschichte als Geschichte nicht trägt und werden durch die Brüche dazu angeregt, sie zu dekodieren und zu hinterfragen.“ 477
Für das Untersuchungsanliegen ist in diesem Zusammenhang zentral, welche erzählerische Bedeutung dem Motiv des „Zorns“ (vgl. V. 7) zukommt. Der Zorn des Königs als Reaktion auf die Ablehnung seiner Einladung ist interessanterweise zunächst die einzig explizit benannte Begründung seines Handelns. Er wirkt gleichzeitig als Katalysator für den Fortgang der Entwicklung und löst, wie Wolfgang Wiefel betont, „eine Ereignisfolge aus, die den Charakter eines Strafgerichts hat“478. Gleichzeitig scheint der nun nicht mehr ausdrücklich genannte königliche Zorn als fortwirkendes Moment die harte Behandlung des Einzelgastes zum Abschluss hin zu bedingen.479 In Opposition dazu steht der Wille des Königs ausgiebig ein Hochzeitsfest mit seinen Gästen zu feiern.480 Erzählerisch auffällig ist, dass die Ausrichtung dieses Hochzeitsfestes in seiner Werthaltung anscheinend die vorrangige Rolle einnimmt.481 Deshalb versucht er fast schon verzweifelt die Erstgeladenen positiv für dieses zu gewinnen (vgl. V. 4).482 So wird verdeutlicht, dass es nicht um eine formelle
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Mit Luz (ebd.). – Auch die Überlegung, dass dieser Gast sich ggf. listenreich an entsprechenden Türstehern vorbeigeschlichen hat (vgl. KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 120), wirkt als Erklärung zu schwach. So zutreffend von BENDEMANN, Art. Zorn Gottes (NT), 4. (S. 9 in der PDF-Version), online abrufbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/59453/ (Stand: 25.06.2020). LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 232 (in Anlehnung an W. Harnisch, Verweis in Fußnote 7 im Original); vgl. deswegen weiterführend HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 235. WIEFEL, Das Evangelium nach Matthäus, S. 377. Mit BENDEMANN, Art. Zorn Gottes (NT), 4. (S. 8 in der PDF-Version), Link bereits oben ausgewiesen. Fraglich ist jedoch, ob hierin, wie K. ERLEMANN (Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, S. 192–194) vermutet, tatsächlich eine Aussage bezüglich des „universalen Heilswillens Gottes“ (S. 192) sowie über den göttlichen „Partikularismus, der vom Ausschluß bestimmter Gruppen vom Heil ausgeht“ (S. 192), wurzelt. Diesen Aspekt erkennt im Hinblick auf die lukanische Fassung des vorliegenden Gleichnisses BOVON, Das Evangelium nach Lukas II, S. 503–504. U. Luz bemerkt sehr zutreffend, dass der König „geradezu rührend [reagiert]“. (LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 240.)
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Ladung zum anstehenden Fest geht, sondern, wie es Anton Vögtle unnachahmlich formuliert, um das „unglaubliche Liebeswerben des einladenden Königs“483. Die sich ebenfalls klimaxartig steigernde Verweigerung dieser Offerte484 bedingt dann auch gerade keine Absage des Festes, sondern eine Weitung des Adressatenkreises, um es in jedem Fall zu gewährleisten. Bemerkenswert ist dabei die direkte Charakterisierung der nachgeladenen Gäste durch den Erzähler. Während die erste Gruppe der Festteilnehmer abschließend „lediglich“ aus dem Mund des Königs als für das Fest unwürdig befunden wurde (vgl. V. 8b), heißt es bei der Sammlung der zweiten Festgruppe nunmehr direkt, dass „Gute“ und „Böse“ geladen wurden (V. 10). Bereits hier klingt erzählerisch neben dem Moment der bedingungslosen Einladung das Konfliktpotential unterschiedlicher, nebeneinander existierender Lebensausrichtungen an.485 Insgesamt unterstreicht die Erzählung so die zentrale Stellung des Hochzeitsmahles, an dessen Teilhabe und Selbstausschluss sich Wohl oder Wehe der Erzählfiguren entscheidet.
3.3.1.1.3 Nur eine Erzählung über Auswüchse „imperialer Gastmahlpolitik“486? – Sozialgeschichtliche Analyse Wie bereits aufgezeigt, ist die bestimmende Ausgangssituation der vorliegenden Erzählung die Ausrichtung eines Gastmahles, das noch weitergehend als Hochzeitsmahl spezifiziert wird. Königliche Gastmähler konnten zeitgenössisch durchaus mit negativen Vorstellungen verbunden werden, wie sich vor allem in Mk 6,17–29 (par Mt 14,3–12) zeigt.487 In der dort geschilderten Szenerie mündet das von Herodes Antipas mit zivilen und militärischen Eliten ausgerichtete Festmahl sogar in der finalen Enthauptung Johannes des Täufers. Es ist jedoch zu hinterfragen, ob – wie Luise Schottroff vermutet – bei der damaligen Hörerschaft noch weitergehende Assoziationen zu Auswüchsen „imperialer Gastmahlpolitik“488 aufgekommen sind.489 Zutreffend ist sicherlich, dass
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VÖGTLE, Gott und seine Gäste, S. 50. Zutreffend bemerkt W. Harnisch: „Das Stilmoment der Steigerung beherrscht also nicht nur die Schilderung der Werbung, sondern auch die der Weigerung. Dies hat zur Folge, daß der Kontrast zwischen beiden Seiten verschärft und die in der Begegnung zum Austrag kommende Spannung intensiviert wird.“ (H ARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 234). Mit KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 120. SCHOTTROFF, Verheißung für alle Völker, S. 481. Vgl. ebd. (hier auch Verweis auf ein weiteres Beispiel). Ebd. Vgl. weiterführend ebd., S. 481–483.
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entsprechende Festmähler, deren Adressaten sowohl gesellschaftlich bedeutsame Eliten wie auch das „einfache Volk“ sein konnten, im römischen Imperium eine politische Dimension besaßen. Ihre Funktion lag zumeist darin, Loyalität zum Ausdruck zu bringen oder zu bewirken.490 In Bezug auf die Gäste der vorliegenden Erzählung wäre dabei beispielsweise an eine soziale Elite zu denken, die im Zeichen eines Patronatsverhältnisses dem Willen des Königs Gehorsam leistet und hierfür gleichzeitig mit Macht und Wohlstand entlohnt wird.491 Vor diesem Hintergrund erscheint die Ablehnung der Einladung, die sich bis zur Ermordung der königlichen Sklaven steigert, nicht nur wie ein unhöflicher Verstoß gegen die geltende Konvention, sondern sogar wie ein Akt der unverhohlenen Rebellion (vgl. auch 2 Sam 10,4f; 2 Chr 30,10f; Jdt 1,10f).492 Das entsprechend massive Eingreifen des Königs bedeutet so zwar von der inneren Erzähllogik her einen Bruch493, wird aber auf der Ebene des „Politischen“ bzw. der Machtbehauptung – schließlich werden sein Machtanspruch und seine Souveränität massiv in Frage gestellt – verständlich. 494 Trotzdem wäre es auch aus sozialgeschichtlicher Perspektive verkürzt, wenn man den Festmählern nur ein negatives Assoziationsspektrum zuordnet. Nicht zuletzt hatten inklusive Gastmähler eine feste Verankerung in der sozialen Praxis des historischen Jesus 495 und konnten mit Bildern des „vollendeten Glücks“496 (vgl. Jes 25,6) verbunden werden. Der Bochumer Neutestamentler Thomas Söding führt dazu weiter aus: „Das Bezaubernde am Bild des vollendeten Gastmahls ist, dass die elementaren Bedürfnisse – Essen und Trinken – befriedigt werden, ohne dass die Menschen darauf reduziert sind. Es wird in der Gemeinschaft mit anderen gefeiert; es wird geteilt, ohne dass es an irgendetwas fehlt. Es wird miteinander aus dem Vollen geschöpft:
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Verschiedene Belege und weitergehende Erläuterungen finden sich bei ebd., S. 482. So CARTER, Resisting an Imitating the Empire, S. 270. Mit KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 118 (hier auch Verweis auf die angeführten Bibelstellen) und SCHOTTROFF, Verheißung für alle Völker, S. 482 – Treffend bemerkt W. Wiefel: „Dieser von Matthäus hinzugefügte Zug (dreigliedrig: Greifen, Mißhandeln, Töten) steigert die Mißachtung zur verbrecherischen Auflehnung gegen den König.“ (WIEFEL, Das Evangelium nach Matthäus, S. 377). Bereits die zuvor Geladenen hatten ihr Desinteresse dadurch bekundet, dass sie ihren profanen Alltagsgeschäften den Vorrang gaben, was keinen wirklichen Entschuldigungsgrund darstellt (vgl. KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 118). Vgl. auch weiterführend die Gedanken bei HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 234–235. Schottroff spricht in diesem Zusammenhang von einer „imperiale[n] Machtstrategie“ (SCHOTTROFF, Verheißung für alle Völker, S. 482). Diesen Gesichtspunkt arbeitet vor ihr schon sehr differenziert CARTER, Resisting and Imitating the Empire, S. 270 heraus. Als Bezugsmoment für die vorliegende Stelle verweist auf diesen Aspekt auch WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, S. 188. SÖDING, Gottes Geheimnis sichtbar machen, S. 62.
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung Geteilte Freude ist doppelte Freude. Jesus hat das wahr gemacht. Seine Gastmähler vermitteln einen Vorgeschmack der vollendeten Gottesherrschaft.“ 497
So eröffnet die Erzählung Perspektiven auf weitergehende sozialgeschichtliche Dimensionen, als dass sie nur „über Strukturen imperialer Herrschaft, ihrer Gastmahlpolitik und Gewalt [berichtet]“ 498. Dies wird vor allem auch deutlich, wenn man versucht, die in der Parabel angesprochene Zerstörung der Stadt (vgl. Mt 22,7) tiefergehend zu ergründen. In der exegetischen Forschung wird als zentrales historisches Ereignis und damit zentrale sozialgeschichtlich relevante Erfahrungsdimension die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70. n. Chr. benannt.499 Karl Heinrich Rengstorf hat dem jedoch entschieden widersprochen und betont, dass hier „ein aus dem alten Orient stammender und bis in das nachbiblische palästinische Judentum erhaltener Topos“ 500 aufgegriffen werde. Für das Verständnis von Mt 22,7 sei besonders relevant, dass dieser in den rabbinischen Königsgleichnissen dazu diene, „die Souveränität Gottes an der Besonderheit seines Handelns zu verdeutlichen“ 501.502 Auch wenn die These Rengstorfs diskussionswürdig bleibt, 503 sensibilisiert sie weitergehend dafür, dass die Gleichniserzählung nicht nur einen Einblick in imperiales Gewalthandeln geben will, sondern vielmehr noch einen die sozialgeschichtlichen Verhältnisse übersteigenden Zug enthält.504 Augenscheinlich wird dies im zweiten Teil der Parabel, in dem davon berichtet wird, dass der König den Menschen ohne Hochzeitsgewand von der Tafel verbannt. Dieser bereits 497 498 499
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Ebd. Vgl. SCHOTTROFF, Verheißung für alle Völker, S. 483. Für eine Übersicht über einzelne Vertreter dieser Position, angefangen bei A. Jülicher, siehe HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 235/Fußnote 177. Zuletzt schloss sich dieser Position beispielsweise KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 119 an. RENGSTORF, Die Stadt der Mörder (Mt 22,7), S. 125. Ebd., S. 126. Vgl. grundlegend ebd., S. 108–125. Als alttestamentliche Beispiele, in denen das Motiv jeweils unterschiedlich stark ausgeprägt ist, können benannt werden Ri 1,8; 2 Sam 12,26– 30, 1 Makk 5,28 sowie besonders Jes 5,24ff. (vgl. WIEFEL, Das Evangelium nach Matthäus, S. 378/Fußnote 19). U. Luz kritisiert an den Überlegungen von Rengstorf, dass einzelne Quellenbelege nicht automatisch die Existenz eines traditionellen Topos begründen (vgl. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 242/Fußnote 56). Ebenso bleibt jedoch auch der von ihm vermutete Verweis auf die Zerstörung Jerusalems fraglich. So erkennt Luz für den damaligen Kontext ja selbst an, dass „Könige und Armeen gelegentlich feindliche Städte zu erobern und anzuzünden [pflegten], so daß es nicht verwunderlich ist, wenn nichtbiblische und biblische Texte davon reden […]“ (ebd.). Am ehesten ist wohl L. Schottroff zuzustimmen, dass zumindest die sozialgeschichtliche Untersuchung diese Frage unentschieden lässt bzw. lassen kann (vgl. SCHOTTROFF, Verheißung für alle Völker, S. 483). Gemeinsam ist beiden Ansätzen ja, dass sie in Mt 22,7 einen gewollten Verweis auf die Geschichtsmächtigkeit Gottes und damit seine Souveränität sehen. Zu dieser „Dekodierungsaufforderung“ siehe auch bereits die Erkenntnisse im Kontext der narrativen Analyse (hier auch Verweis auf entsprechende Autoren).
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von der inneren Handlungsentwicklung her fragwürdige Zug (siehe oben), mutet umso seltsamer an, wenn man sich bewusst macht, dass die hier angefeindete Person (anders als die Erstgeladenen) gegen keine soziale Konvention verstößt. So war es bei antiken Hochzeiten zwar üblich, im feierlichen und sauberen Aufzug zu erscheinen, den Brauch, als Teilnahmebedingungen ein spezielles Hochzeitsgewand zu tragen, gab es jedoch nicht.505 Auch an dieser Stelle deutet sich also ein tieferes Interesse der Erzählung an, die Hörer- und Leserschaft zu einer über die soziale Wirklichkeit hinausgehenden, metaphorischen Denkbewegung und Lesart anzuregen.506 Letztere ist – vielmehr noch als in der letzten Gleichniserzählung – der entscheidende Schlüssel zum angemessenen Verständnis der hier vor der Zuhörerschaft ausgebreiteten erzählten Welt.
3.3.1.1.4 Analyse der metaphorisch-symbolischen Bezüge Die zuletzt geäußerte These trifft, wie nach der Analyse von Mt 18,23–34 zu erwarten, nicht auf uneingeschränkte Zustimmung im Rahmen der exegetischen Forschung. An prominenter Stelle ist diesbezüglich wiederum Luise Schottroff zu nennen, nach der „in Mt 22,1–14 keine Kette allegorischer Elemente vorliegt, sondern eine fiktive Skizze imperialer Strukturen, die mit Gottes Königsein und seinen Rufen verglichen werden soll, um die tiefe Differenz zwischen Gott und der Gewalt ‚der Könige dieser Erde‘ zu erkennen“507. Diese, von Schottroff bereits zuvor im Kontext als anstößig empfundener Texte geäußerte „Kontrastierungsthese“ mag oberflächlich greifen, verkennt jedoch die Feinheiten des erzählerischen Arrangements. Damit ist gemeint: Um eine kontrastive Gegenwelt zur heilvollen Herrschaft Gottes zu zeichnen, bedürfte es der Thematik des Hochzeitsmahles nicht. Sogar der gesamte dramatische Aufbau bis hin zum scheinbar unbegreiflichen Ausschluss des letzten Gastes müsste erzählerisch nicht entsprechend komplex konstruiert werden.508 Folgt man der These Schottroffs, bleibt fraglich, ob es überhaupt vorrangig das Medium der Gleichnisrede bräuchte, um die vermuteten Kontraste zwischen unheilvollen, weltlichen Machtstrukturen und heilvoller Gottesherrschaft zu vermitteln.509 505
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Vgl. exemplarisch LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 244/Fußnote 68 (hier weiterführende Quellenangaben). – Auch M. Klaiber betont, dass zwar der Brauch, Festgewänder zu verschenken, überliefert sei (vgl. Gen 45,22; Ri 14,12; 2 Kön 5,22), es aber keine Belege für eine Einkleidung der Hochzeitsgäste gebe. Zudem deute die Frage des Königs nicht auf eine entsprechende Konvention hin (vgl. KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 120). Mit LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 244. SCHOTTROFF, Verheißung für alle Völker, S. 484. Dies ist ja gerade der Grund, warum die Mehrheit der Exegeten und Exegetinnen auf eine tieferliegende, metaphorische Leseart rekurriert. Hier sei nur auf die verschiedenen Arten der prophetischen Drohrede verwiesen.
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Für damalige Zuhörer und Zuhörerinnen zumindest bot die vorliegende Parabel, neben der theologisch aufgeladenen Königsmetapher (vgl. die Analyse von Mt 18,21–35), vielseitige Anknüpfungspunkte, um über die Welt des Alltäglichen hinauszublicken. Bereits die Thematik des Hochzeitmahles mag dabei weitreichende Assoziationen geweckt haben, wird hier mit der „Hochzeit“ doch bewusst eine Beziehungsmetapher aufgegriffen, die die enge Bindung JHWHs zu Israel zum Ausdruck bringen kann (vgl. Hos 1–3; Jer 3,1–10).510 Für spätere christliche Leser war das Hochzeitsfest vor allem auch ein Bild für die Vollendung des Heils bzw. das kommende Reich Gottes (vgl. Offb 19,7–10).511 Dementsprechend liegt im Kontext der alttestamentlichen Tradition ein zentraler Bezugspunkt der „Gastmahlthematik“ in ihrem Verweischarakter auf das eschatologische Mahl. 512 Weiterführend verdeutlicht Thomas Söding: „Das Festmahl aber ist ein sprechendes Symbol für das Reich Gottes, schon im Alten Testament und im Frühjudentum. Die zukünftige Vollendung der Gottesherrschaft wird im Bild eines Festmahles vorgestellt – bei Jesaja (25,6ff) wie in der äthiopischen Henochapokalypse (62,13f). Die Aussagekraft dieses Bildes besteht in einem doppelten [sic!]. Einerseits hält es den festlichen Charakter der eschatologischen Vollendung fest: Im Reich Gottes herrscht die reine Freude. Andererseits illustriert es den kommunialen Charakter der eschatologischen Vollendung: Das Volk Gottes findet sich in voller Zahl zur Mahlgemeinschaft zusammen, um sich seines Gottes zu freuen, der ihm dieses Mahl bereitet.“ 513
Dabei ist in Jes 25,6 das von Gott für alle Völker ausgerichtete Festmahl interessanterweise ein Kontrastmotiv zu dem zuvor thematisierten endzeitlichen, göttlichen Gericht (vgl. Jes 24).514 Wie Kurt Erlemann aufzeigen kann, ist die enge Verschränkung von Gerichts- und Festmahlthematik dabei vor allem auch in rabbinischen Gleichnissen präsent, wobei entsprechende Teilhabebedingungen reflektiert werden (vgl. Midr Koh 9,8).515 Bei dem Aspekt des Hochzeitsmahles als Heilsgeschehen geht es also auch um die zentrale Frage, wer an diesem teilhat oder hiervon ausgeschlossen wird. Dementsprechend hat die Abweisung der Einladung zum Fest durch die ersten Gäste, die an die Klage über das gewaltsame Schicksal der von Gott gesandten Propheten erinnert (vgl. Jer 7,25–27; Neh 9,26; 2 Chr 36,15–17)516, oberflächlich 510 511 512 513
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Vgl. CARTER, Resisting and Imitating the Empire, S. 269. Vgl. VÖGTLE, Gott und seine Gäste, S. 49; KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 118. Vgl. auch REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 227–228. SÖDING, Das Gleichnis vom Festmahl, S. 66. – Auch wenn Matthäus, anders als Lukas, von einem „Hochzeitsmahl“ spricht, treffen die genannten Aspekte zu. Auf diesen interessanten Bezugspunkt macht ERLEMANN, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, S. 188 aufmerksam. Vgl. weiterführend ebd., S. 189–191. Hier wird auch die entsprechende Bezugsquelle abgedruckt. Vgl. KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 118–119. Interessant ist vor allem 2. Chronik 36,16: „Sie aber verhöhnten die Boten Gottes, verachteten sein Wort und verspotteten
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betrachtet eine brutale königliche Bestrafung zur Folge (vgl. V. 7). Vom Bildbestand her werden dabei aber die Aspekte aufgegriffen, die Anklänge zum göttlichen Gericht erzeugen. Wie bereits in den letzten Kapiteln aufgezeigt, ist das Motiv des Zornes nämlich Ausdrucksmoment des Gerichtshandelns Gottes (vgl. für die vorliegende Stelle besonders auch Jes 5,24–25).517 Außerdem wird wiederum das Bild des Feuers bzw. des Verbrennens als klassische alttestamentliche Gerichtsmetapher verwendet.518 Ähnliches geschieht dann wieder am Ende der Erzählung, die mit einem apokalyptisch anmutenden Ausspruch schließt (V. 14). 519 Fraglich bleibt jedoch, ob hier mit Blick auf die Errettung eine pessimistische Sichtweise, wie sie sich in der zeitgenössischen Apokalyptik (z. B. in 4 Esr 8,1.3 u. 8,41) widerspiegelt, geteilt wird.520 Es lässt sich somit zusammenfassend festhalten, dass der Hörerschaft der Parabel mögliche Gedankenverknüpfungen zu der Frage nach der heilvollen Gemeinschaft mit Gott und dem Gericht als Ausschluss von dieser eröffnet wurden bzw. werden. Insofern verwundert es auch wenig, dass hier ebenso die Frage nach der Teilhabe an dieser Heilsveranstaltung aufgeworfen wird, qualifiziert der König doch die ersten Gäste als für das Fest unwürdig (vgl. V. 8) und lässt den unliebsamen Hochzeitgast kurzerhand gewaltvoll vor die Tür setzen (vgl. V. 13). Kurt Erlemann verweist in diesem Zusammenhang auf eine für das Verständnis interessante Bezugsstelle im rabbinischen Schrifttum in Midr Koh 9,8, wo insbesondere auf die angemessene innere Bereitschaft sowie Vorbereitung zur plötzlich eingeforderten Teilnahme am Gastmahl, symbolisiert durch die angemessene Kleiderwahl, verwiesen wird.521
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seine Propheten, bis der Zorn des HERRN gegen sein Volk so groß wurde, dass es keine Heilung mehr gab.“ (Text im Wortlaut der revidierten EÜ 2016). Vgl. GNILKA, Das Matthäusevangelium II, S. 239 wie auch die entsprechenden Analysen zum Verhältnis von Jesus und Johannes. Siehe hierzu auch die bei der Analyse der Botschaft Johannes des Täufers angeführten Stellen. – Falls man davon ausgeht, dass hier der Fall Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. heilsgeschichtlich eingeordnet wird (so z. B. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 242), dann wäre eine Wahrnehmung der Rolle Roms als Instrument des göttlichen Gerichtsund Heilsplanes ähnlich wie im Kontext der alttestamentlichen Tradition bei Assyrien, Babylon und Persien möglich (vgl. TURNER, Matthew, S. 523; CARTER, Resisting and Imitating the Empire, S. 270–271). Vgl. auch GNILKA, Das Matthäusevangelium II, S. 241. J. Gnilka lässt diese Frage beispielsweise offen (vgl. ebd.), wohingegen W. Klaiber einen geringeren Pessimismus vermutet (vgl. KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 122). Auch die vorangegangene Verfahrensweise mit dem ungebetenen Hochzeitsgast verweist, wie sich in der Analyse der intratextuellen Bezüge noch zeigen wird, auf die Ebene des Jüngsten Gerichts und der Hölle (vgl. z. B. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 244). Text abgedruckt bei ERLEMANN, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, S. 189– 190 (hier auch weitergehende Deutung).
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Ein entsprechendes Hochzeitsgewand wird in Jes 61,10 als „Mantel der Gerechtigkeit“ bezeichnet, hier steht es wahrscheinlich als „Ausdruck für die neue Existenz, die zur Teilnahme an Gottes Fest und zum Leben in der Gemeinschaft mit ihm befähigt“522. – Es ist somit wahrscheinlich ein „äußeres Zeichen für eine innere Haltung wie Bereitschaft und ‚Würdigsein‘“523 und verweist auf eine „neue Seinsweise“524. Nicht von ungefähr spricht Paulus davon, dass der Getaufte Christus (vgl. Gal 3,27) wie ein Gewand anlegt.525 Fraglich bleibt jedoch in diesem Zusammenhang, was sich die Hörer und Hörerinnen dieser Gleichniserzählung darunter vorgestellt haben. 526 Mit aller Vorsicht wird man wohl sagen können, dass sich für die Anhängerschaft Jesu wahrscheinlich vor allem aus dem Kontext seines Wirkens konkretisierte, worin die neue, von Gott geschenkte Existenz zum Ausdruck gebracht wird.527 Im Laufe der Auslegungstradition war darüber hinaus relevant, ob die Gruppe der als unwürdig befundenen Erstgeladenen näher identifiziert werden kann. Diesbezüglich hat sich als klassisches Deutungsmuster eine Gleichsetzung dieser mit Israel herauskristallisiert. Seine Ablehnung des in Jesus Christus eröffneten Heilsangebotes Gottes habe das göttliche Gericht in Form der Zerstörung Jerusalems und die Ladung weiterer Gäste bedingt, wobei letztere dann mit den Heiden bzw. der christlichen Gemeinde gleichgesetzt werden.528 Falls man für die vorliegende Erzählung das „Denkmodell der deuteronomistischen Prophetenmordtradition“529 als zentralen gedanklichen Anknüpfungspunkt sieht, könnten die zunächst geladenen Gäste tatsächlich kollektiv auf Israel verweisen.530 Im Rahmen einer textimmanenten Ebene und mit Blick auf das weitergehende Deutungsspektrum ergibt sich diese Interpretation jedoch nicht zwangsläufig. So gibt es keine eindeutigen Hinweise, dass die zunächst Geladenen stellvertretend für die Gesamtheit Israels stehen sollten. Wohl eher repräsentieren sie eine religiöse Führungsschicht.531
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528 529 530 531
KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 121. So ERLEMANN, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, S. 178. SCHWEIZER, Das Evangelium nach Matthäus, S. 274. Auf diese interessante Bezugsstelle verweist ebd. Vgl. dazu die vertiefende Analyse der intratextuellen Bezüge. J. Gnilka spricht unter Verweis auf andere intratextuelle Bezüge (vgl. Mt 3,15) vom „Tun der Gerechtigkeit“ (GNILKA, Das Matthäusevangelium II, S. 241). – Falls man dieses Gleichnis dem historischen Jesus zuspricht, würde ich das mögliche Assoziationsspektrum im Kontext der Botschaft Jesu jedoch nicht auf die Überlieferung des Matthäus eingrenzen. Insofern wird sich die nachfolgende Analyse dieser Frage noch genauer widmen. Diesen Deutungsansatz resümiert SCHOTTROFF, Verheißung für alle Völker, S. 484. So LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 242. Vgl. ebd., S. 242/Fußnote 57 (hier entsprechende Quellenverweise). So betont beispielsweise auch P. Fiedler, dass Jesus vom Kontext des Matthäusevangeliums her diese Worte auf die jüdische Führungsschicht bzw. Hohepriester bezieht (vgl. FIEDLER, Das Matthäusevangelium, S. 332 und 334). Auch in sozialgeschichtlicher Perspek-
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Gleichzeitig verkennt eine Interpretation, die den Schwerpunkt auf das Gegeneinanderausspielen von Israel und den Heiden legt, die Absicht der Erzählung: Ginge es um eine entsprechend einfach konstruierte Botschaft, würde Vers 8 den Abschluss bilden. Er ist aber, wie im Rahmen der formal narrativen Analyse aufgezeigt, nur der Auftakt für eine noch dramatischere Zuspitzung. Es ist hierbei wahrscheinlich, dass die Zuhörer und Zuhörerinnen sich mit der zweitgeladenen Gruppe identifiziert haben. Man wird mit ihnen also Jesusanhänger oder spätere Christen, kurzum potentielle Teilhaber an der heilvollen Vollendung der Herrschaft Gottes assoziiert haben. 532 Genau diese anscheinend nunmehr so sicher Privilegierten werden durch den dramatischen Erzählverlauf in ihrem Existenzverständnis irritiert. So wendet sich der Evangelist – wie unter anderem Walter Klaiber zutreffend betont – warnend gegen eine an der Oberfläche verbleibende heilsoptimistische Perspektive, bei der die Berufung folgenund konsequenzlos für das eigene Leben bleibt.533 Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Die vorliegende Erzählung konnte ggf. von damaligen Zeitgenossen als Kontrastgleichnis zur heilvollen Herrschaft Gottes gesehen werden, musste dies aber keineswegs. Vielmehr noch scheint in der metaphorisch dicht aufgeladenen Thematik des Hochzeits- und Festmahles stetig ein Verweis auf die „endzeitliche Gemeinschaft mit Gott“ 534 auf. Insofern verwundert es nicht, dass mit Blick auf diese „Heilsveranstaltung“ auch die Gerichtsthematik anklingt, ist sie doch im damaligen Verständnis Teil der heilvollen Aufrichtung der Herrschaft Gottes 535. Die Rede vom Zürnen des Königs kann dabei im innerweltlichen Zusammenhang als Teil seines politischen Machthandelns verstanden werden, gleichzeitig aber auch bildliches Ausdrucksmoment eines die gewählte Existenzorientierung ahndenden Gerichtshandelns Gottes sein.
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tive würde es Sinn machen, dass zunächst eine besonders privilegierte Schicht zum Hochzeitsmahl für den Königssohn geladen ist. Wie es U. Poplutz (die im Gegensatz zu P. Fiedler auch die Pharisäer angesprochen sieht) formuliert: „Liest man die drei Parabeln zusammen, muss man die Erstgeladenen – auf der Erzählebene die soziale Elite – auf der Deutungsebene mit der religiösen Elite, d.h. mit den jüdischen Autoritäten gleichsetzen, mit denen sich Jesus auseinandersetzt (21,45; 22,15). Sie verweigern sich genauso nachhaltig der Einladung des Königs wie es der erste Ja-Sager Sohn, der den Willen des Vaters dann doch nicht ausführt (21,30), oder die bösen Weinbergpächter (21,35–39), die ihrer Aufgabe nicht gerecht werden, getan haben.“ (POPLUTZ, Eine universale Jesusgeschichte, S. 219). Die Mehrheit in der exegetischen Forschung sieht oftmals als indirekten Adressaten die Gemeinde von Matthäus im Vordergrund. Dies ist grundsätzlich zutreffend, zumal wenn man ihn als maßgeblichen Redaktor am Werk sieht. Grundsätzlich sind diese Worte aber an all jene gesprochen, die glauben, in der Nachfolge Jesu in eine neue Heilsgemeinschaft eingetreten zu sein, die zu einer Teilhabe an der gegenwärtigen und kommenden Herrschaft Gottes privilegiert. Vgl. KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 122 bzw. die Zusammenführung auf S.122–123. So ERLEMANN, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, S. 177. Hier sei erneut auf die zutreffende Analyse von WOLTER, „Gericht“ und „Heil“, S. 42–44 verwiesen.
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Die Frage, wie hierbei die einzelnen Personengruppen zu identifizieren sind, lässt sich im Rahmen dieses Analyseschritts nicht endgültig beantworten. Aufschlüsse darüber, wen zumindest die Rezipientenschaft des Matthäusevangeliums hiermit identifizieren konnte, liefert jedoch, wie sich bereits andeutet, der größere intratextuelle Erzählzusammenhang.
3.3.1.1.5 Intratextuelle Bezüge Den dramatischen Ausgangskontext der vorliegenden Gleichniserzählung bildet die triumphale Ankunft Jesu in Jerusalem, die gleichzeitig eine Konfrontation mit den religiösen Autoritäten bedingt. Ihr folgt die Endzeitrede Jesu. 536 Dabei verweist die von den religiösen Führern im Tempel eröffnete Frage nach der Vollmacht Jesu (Mt 21,23–27) und die abschließende Frage Jesu an die Pharisäer, wessen Sohn der Christus sei (vgl. Mt 22,41–46), rahmend auf den Kern dieser Auseinandersetzung. Sie wird in einem Komplex von drei Gleichniserzählungen (21,28–22,14) und drei Streitgesprächen (22,15–22,40) entfaltet.537 In allen drei Parabeln werden stets Söhne thematisiert, worin ein vernetzendes Erzählelement liegt.538 In der Aggression gegen die Boten des Königs besteht zudem eine starke inhaltliche Verbindung zur vorangegangenen Winzerparabel (vgl. Mt 21,38–39).539 Besonders das in der vorliegenden Parabel geprägte Bild des Sohnes als Bräutigam dürfte Assoziationen zu Jesus geweckt haben (vgl. Mt 9,15).540 Wie Ulrich Luz annimmt, waren der Zuhörerschaft auch konkrete „Erwartungen des kommenden himmlischen Bräutigams Jesus“ vertraut (vgl. Mt 25,1–13).541 Dieser Spur folgend könnte der Hochzeitssaal (vgl. z. B. Mt 25,10) dann, wie Ulrich Luck annimmt, als „Ort des himmlischen Festmahls in der Gottesherrschaft“ verstanden worden sein.542 Genährt werden entsprechende Gedankenverknüpfungen auch dadurch, dass das in Vers 4 verwendete Verb für „rufen“ eschatologische Anklänge besitzt und dementsprechend auch in den Berufungserzählungen gebraucht wird (vgl. Mt 4,21; 9,13).543 Nicht zuletzt kennzeichnet es darüber hinaus bei Paulus den Ruf in die Gottesherrschaft (1 Thess 2,12).544 Dazu kontrastiv wird bei Matthäus der abschließend skizzierte „Ort“, an den der Gast ohne Hochzeitsgewand verstoßen wird, oftmals mit gleichlautenden
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Vgl. weitergehend KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 90–91. Vgl. hierzu auch POPLUTZ, Eine universale Jesusgeschichte, S. 213. Vgl. ebd., S. 217. Vgl. SÖDING, Das Gleichnis vom Festmahl, S. 62. Vgl. z. B. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 239. Vgl. ebd. (hier auch wörtlich zitierte Formulierung). Vgl. LUCK, Das Evangelium nach Matthäus, S. 238 (hier wörtlich zitierte Formulierung). So GNILKA, Das Matthäusevangelium II, S. 238. Vgl. ebd.
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Metaphern verbildlicht (vgl. z. B. Mt 13,42; 24,51).545 Er wird so gekennzeichnet als ein „Ort des Verderbens“546 und ist dementsprechend ein vom Evangelisten „verwendetes Bild für den Ausschluß vom Reiche Gottes und für die darin liegende Strafe“547. Während es somit bildhafte Wendungen gibt, die im Rahmen des Matthäusevangeliums eine eindeutige semantische Aufladung erfahren, bleiben andere Teile der Erzählung seltsam unbestimmt. Hierzu zählt vor allem auch das „Hochzeitsgewand“, dessen Bedeutung in der exegetischen Forschung bis heute umstritten ist. Den diesbezüglich plausibelsten Deutungsansatz hat Joachim Gnilka vorgelegt: „Das hochzeitliche Kleid muß etwas bezeichnen, für das der Mensch Verantwortung trägt. Seine nähere Bestimmung hat über vergleichbare Texte im Evangelium zu erfolgen. In anderen Gerichtsschilderungen bei Mt wird der Mensch nach seinem Tun gerichtet, daß er die Worte der Bergpredigt nicht nur gehört, sondern auch getan hat (7,24 ff), daß er den Willen des Vaters getan hat (7,21), daß er die Werke der Barmherzigkeit aufzuweisen hat (25,41 ff). Somit ist es das Tun der Gerechtigkeit (vgl. 3,15).“548
In Gnilkas Ausführungen wird zutreffend deutlich, dass es im Rahmen des Matthäusevangeliums verschiedene Bezugspunkte gibt, die die von Jesus geforderte und vom Menschen verantwortete Neuausrichtung der eigenen Existenz in einem neuen Gerechtigkeitszusammenhang positiv bestimmen. Die Bedeutungsoffenheit des gewählten Bildes wirft diesen Denkanstoß jedoch gleichzeitig auf die Hörer und Hörerinnen zurück und fordert sie zur weitergehenden „Selbstbefragung“ heraus.549 Bis zu dieser Stelle zeigt sich somit, dass diese Parabel einen größeren Reflexionsprozess ermöglicht, als dass sie nur die in Mt 20,25 enthaltene Kritik Jesu am Machtmissbrauch der weltlichen Herrscher veranschaulicht 550. So verstanden kann die Rede vom Zorn des Königs intratextuell als begleitendes Moment 545 546 547 548 549
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Auf diese Stellen verweist u. a. auch WIEFEL, Das Evangelium nach Matthäus S. 378. Ebd. SCHNACKENBURG, Das Matthäusevangelium II, S. 210–211. GNILKA, Das Matthäusevangelium II, S. 241. Für weitere Bezugsstellen im Matthäusevangelium siehe RÖLVER, »Deine Gerechtigkeit steht wie die Berge Gottes.« (Ps, 36,7), S. 163. Rölver spricht diesbezüglich sehr zutreffend von „offene[n] Arbeitsaufträge[n“] des matthäischen Jesus. So KESSLER, Das Königtum Gottes und der Menschenkönig, S. 164–166. – Grundsätzlich ist Kessler, dem es um eine Deutung im Sinne der Programmatik von L. Schottroff geht, zuzustimmen, dass Matthäus auch immer wieder kontrastive Bilder der gewaltvollen menschlichen Herrschaft aufgreift. Die vorliegende Parabel aber nur unter diesem Gesichtspunkt zu begreifen, ist vor dem Hintergrund des komplexen erzählerischen Arrangements verkürzt. Zudem stellt die von ihm gewählte Kapitelüberschrift „Das Gleichnis im Kontext des Matthäusevangeliums“ eine sachliche Verzerrung dar, da alle diesem Deutungsansatz widersprechenden Bezugsstellen bewusst oder unbewusst ausgeblendet werden.
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seines brutalen Herrschaftsgebarens verstanden werden, aufgrund der vielen anderen eschatologischen Verweise aber auch auf diese Dimension hin gedeutet werden. Dies gilt insbesondere auch in Bezug auf die Frage, wer mit den jeweils geladenen Gästen gemeint sein könnte. Bereits der oben skizzierte unmittelbare Erzählkontext legt zunächst nahe, hinter den Erstgeladenen die religiösen Führer bzw. das religiöse Establishment zu vermuten. Schließlich sieht sich Jesus, wie bereits aufgezeigt, permanent mit ihrer Kritik und ihren Anfeindungen konfrontiert. Ebenso zeigt sich jedoch im Matthäusevangelium auch eine Generalisierungstendenz, so dass Israel als Kollektiv angesprochen wird, was besonders in Vers 7 anklingt (vgl. als weitergehende Bezugsstellen Mt 23,34–36; 23,37–39).551 Dabei wird jedoch im Fortgang des vorliegenden Erzählzusammenhangs auch bewusst zwischen dem Volk, das die Lehre Jesu positiv aufnimmt (vgl. Mt 22,33), und der religiösen Führungsschicht bzw. den religiösen Autoritäten unterschieden.552 Damit korrespondiert Jesus stetiges Werben um und seine Hinwendung zu „den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (Mt 15,24).553 Es zeigt sich also, dass selbst das Matthäusevangelium in Bezug auf die Frage, ob hier Israel in seiner Gesamtheit repräsentiert wird, eindeutig nur uneindeutige Rückschlüsse ermöglicht. Da eine entsprechende Interpretation aber weitreichende Implikationen enthält, halte ich es für fatal, die Erstgeladenen ohne Weiteres mit Israel gleichzusetzen. Gleiches gilt deswegen auch dafür, hinter den Zweitgeladenen automatisch die „Heiden“ zu vermuten. Tatsächlich erinnert der vom König erteilte Befehl (V. 9: „Geht nun …) an den Missionsauftrag von Mt 28,19.554 Neben den demnach angesprochenen Heiden sind aber im Kontext des Evangeliums noch weitere Gruppen in Israel bzw. „andere Landsleute“555 denkbar, z. B. die „einfachen“ Menschen an den Wegkreuzungen, vermeintliche Sünder wie Zöllner und Prostituierte (vgl. Mt 21,32) oder ebengerade diejenigen, die im Sinne der Gottesherrschaft handeln (vgl. Mt 21,41.43).556 Wie bereits im Rahmen der narrativen Analyse aufgezeigt, liegt die Dramatik der Erzählung insgesamt jedoch weniger auf der Kontrastierung beider Gruppen als vielmehr darin, dass selbst bei den Zweitgeladenen noch „Böse und Gute“ (V. 10c) vertreten sind. In der Charakterisierung dieser Gruppe als „corpus mixtum“
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Auf diesen Aspekt verweist zutreffend LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 242–243 (hier vertiefende Überlegungen). Vgl. POPLUTZ, Eine universale Jesusgeschichte, S. 221; ebenso KONRADT , Die neue Matthäusperspektive, S. 131–132. Vgl. auch vertiefend SÖDING, Das Gleichnis vom Festmahl, S. 68. Hierauf verweist unter anderem GNILKA, Das Matthäusevangelium II, S. 239–240. FIEDLER, Das Matthäusevangelium, S. 334. Vgl. POPLUTZ, Eine universale Jesusgeschichte, S. 219. U. Poplutz sieht an dieser Stelle insbesondere diese Gruppen der religiösen Elite gegenübergestellt.
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erkennt man Parallelen zu anderen Gleichnissen aus dem matthäischen Sondergut (vgl. Mt 13,24–30. 36–43; 13,47–52).557 Möglich ist dabei, dass hier bereits die Kirche bzw. die christliche Gemeinde im Blick ist.558 In Bezug auf die kontextuelle Einordnung des Gleichnisses im Erzählzusammenhang des Matthäusevangeliums lässt sich also Folgendes festhalten: Es zeigt sich, dass damalige Rezipienten und Rezipientinnen vielerlei eschatologische Bezüge bzw. Bezüge zu Jesu Verkündigung von der heilvollen Herrschaft Gottes erkennen konnten. Ihnen wird also ein größerer Denkprozess ermöglicht, als nur Momente gewaltvoller innerweltlicher Machtausübung wiederzuerkennen. Die Kontrastierung zwischen Israel und den Heiden wird durch einen Blick auf die intratextuellen Bezüge weder eindeutig belegt noch eindeutig widerlegt. Gerade die neuere Matthäusforschung hat aber dementgegen die Wurzeln des Matthäusevangeliums im Judentum und die damit verbundene Bedeutung, die er dem Volk Israel im Heilswerdungsprozess zuspricht, profiliert. 559 Dies sollte insgesamt davor warnen, hierin auch eine Kernaussage der vorliegenden Erzählung zu vermuten. Erkennbar ist hingegen, dass durch das Bild des Hochzeitsgewandes die Hörerschaft zu einer Suchbewegung darüber angeregt wird, was durch dieses symbolisiert werden könnte. Falls man dieser Spur durch das Matthäusevangelium folgt, gerät beispielsweise die Frage in den Blick, inwieweit man eine neue Existenz durch das eigene Gerechtigkeitshandeln im Zeichen der heilvollen Herrschaft Gottes verwirklicht. – Hier eröffnen sich zugleich Bezüge zum „Zorn Gottes“ als Ausdruck seines Beziehungshandelns, mit dem er der fehlgeleiten Existenzorientierung richtend engagiert entgegentritt (vgl. die vorangegangene Deutung von Mt 18,34).
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Vgl. WIEFEL, Das Evangelium nach Matthäus, S. 378 (hier auch wörtlich zitierte Bezeichnung). Zur weiteren Entfaltung vgl. z. B. GNILKA, Das Matthäusevangelium II, S.240. Dazu vertiefend M. Konradt: „Matthäus' zentrales Anliegen ist es, sowohl an der besonderen Stellung Israels als Volk Gottes festzuhalten, als auch die Universalität des mit Jesus Christus verbundenen Heils zur Geltung zu bringen. Um beides zusammenzubinden, betont er zum einen mit seiner Darstellung des irdischen Wirkens Jesu die Erfüllung der Israel gegebenen Heilsverheißungen. Zum anderen deutet er das als einheitlichen Zusammen hang begriffene Geschehen des Sterben Jesu ‚für unsere Sünden‘ und seiner Auferweckung und Einsetzung zum Weltenherrn, dem ‚alle Vollmacht gegeben ist im Himmel und auf Erden‘ (28,18), als Grunddatum für die Ausweitung des Heils auf alle Völker. Wichtig ist, dass für Matthäus damit nichts Anderes zur Erfüllung kommt als das, worauf die Geschichte Israels von Abraham an angelegt war.“ (KONRADT, Die neue Matthäusperspektive, S. 132, hier mit Verweis auf eine vertiefende Studie von C. Ziethe; vgl. weiterführend auch ebd., S. 130–133).
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3.3.1.1.6 Vom Zuspruch und Anspruch der Heilsverwirklichung – Gesamtdeutung Grundsätzlich gibt es wiederum zwei kontrastive Grundoptionen, um den tieferen Sinn dieser Gleichniserzählung zu ermessen: Eine Lesart besteht darin, sie der Gruppe der „antithetische[n] Gleichnisse“ 560 zuzuordnen, die durch die Bezugnahme auf eine pervertierte weltliche Herrschaft einen Kontrast zur heilvollen Herrschaft Gottes aufzeigen möchten.561 Die andere Lesart sieht im Gegensatz hierzu in der vorliegenden Erzählung vor allem tiefere Aussagen über die heilvolle Herrschaft Gottes und ihrer endgültige Durchsetzung angesprochen.562 Tatsächlich scheint zunächst besonders eine primäre Sicht auf Mt 22,7 die erste Deutungsrichtung zu unterstützen: Der König handelt in der Zerstörung der Stadt vermeintlich so brutal und indifferent, wie man es von einem kompromisslosen Machthaber erwarten würde, in sozialgeschichtlicher Perspektive scheinen so Dimensionen imperialen Herrschaftsgebarens auf.563 Im Zeichen der Botschaft Jesu und der Gesamtkomposition der vorliegenden Gleichniserzählungen können aber auch Bilder für die vollendete Heilsgemeinschaft mit Gott und sein Gerichtshandeln als Teil dieses Heilswerdungsprozesses erkannt werden. Dafür spricht die hier gewählte Bildmetaphorik wie auch die kontextuelle Einbettung im Matthäusevangelium. Es ist also damals wie heute legitim, über die kontrastierende Offenlegung innerweltlicher Gewaltstrukturen hinauszublicken. Folgt man dieser zweiten, metaphorischen Lesart der Parabel, liegt – auch wenn dies im Rahmen des erzählerischen Arrangements leicht vergessen werden kann – der zentrale Bezugspunkt auf dem Hochzeitsmahl als Freudenfest und Heilszusage.564 „Grundzug des Gottesbildes ist“, wie Kurt Erlemann zutreffend erkennt, „der unbedingte Wille zur Durchführung der Heilsverantstaltung, selbst unter Auswechselung der Geladenen, falls nötig.“565 Das tiefergehende Sinnpotenzial der matthäischen Version vom großen Festmahl liegt dabei dann in seinem Schluss bzw. der Szene vom Ausschluss des Gastes ohne Hochzeitsgewand.566 Auch wenn dieses Bild schwer zu entschlüsseln ist, deutet sich doch an, dass vom Menschen eine neue Existenzorientierung gefordert wird. Die bedingungslose Einladung zum Festmahl, soll ebengerade nicht
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Diesen Begriff prägt (wie bereits aufgezeigt) SCHOTTROFF, Die Gleichnisse Jesu, S. 295. Vgl. die bereits angesprochenen Autoren, für die vorliegende Stelle besonders SCHOTTROFF, Die Gleichnisse Jesu, S. 67–68. Siehe hierzu die bereits angesprochenen sowie die nachfolgend ausgewiesenen Autoren. Vgl. hierzu grundlegend SCHOTTROFF, Verheißung für alle Völker, S. 481–483. So zutreffend GNILKA, Das Matthäusevangelium II, S. 244. ERLEMANN, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, S. 187. In Anschluss an LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 249.
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folgenlos bleiben, sondern fordert vom Menschen in dieses neue, heilvolle Leben einzutreten, ja in diesem aufzugehen.567 Darin alleine die Forderung nach einer Bewährung durch gute Werke zu sehen,568 greift zu kurz, treffend bemerkt W. Klaiber zu diesem vielmehr ganzheitlichen Prozess der Heilswerdung: „Offen bleibt die Frage, was auf der Sachebene die Entsprechung zum Hochzeitsgewand darstellt. Ist es der Glaube? So die reformatorische Auslegung. Oder [sind es; C.W.] die guten Werke? So die klassische katholische Interpretation. Oder [ist es; C.W.] die geistgewirkte Heiligung? So John Wesley in einer Predigt zum Text. Matthäus hat sicher an das Ineinander von Hören und Tun gedacht, von dem Jesus am Ende der Bergpredigt spricht (7,21–27); mit Paulus könnte man vom Glauben sprechen, ‚der durch Liebe wirksam ist‘ (Gal 5,6).“ 569
Wie Kurt Erlemann differenziert herausarbeitet, klingen im Rahmen einer theologischen Lesart, die versucht die Reaktionen des Königs weiter auszudeuten, Momente eines göttlichen „Universalismus“, des Willens zum Heil aller Menschen, wie auch eines „Partikularismus“, des Ausschlusses einzelner Personen(gruppen) vom Heil, an.570 Dieser Interpretationsrichtung folgend wurde beispielsweise in Mt 22,7 zunächst das Gericht über Israel und weiterführend eine Warnung an die an seine Stelle getretene christliche Gemeinde vor einer falschen Heilsgewissheit vermutet.571 Richtig hieran ist sicherlich, dass weniger die Diffamierung Israels bzw. der jüdischen Führer als vielmehr der kritische Blick auf die eigene Gemeinschaft das Anliegen von Matthäus bestimmt.572 In Bezug auf die Botschaft Jesu
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Diesen Aspekt entfalten und akzentuieren beispielsweise SCHWEIZER, Das Evangelium nach Matthäus, S. 274–275 wie auch KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 121. So beispielsweise U. Luz: „Auf diesem für die Leser/innen unerwarteten Schluß liegt das Gewicht. Das Gericht über Israel, das die Jesusboten abgelehnt und verfolgt hatte, darf für die Gemeinde, die nun an dessen Stelle tritt, kein Grund zur Selbstsicherheit werden. Mit der Annahme der Einladung, mit der Taufe und mit der Zugehörigkeit zur Gemeinde ist nämlich noch gar nichts entschieden. Vielmehr leben in der Gemeinde Gute und Böse zusammen. Die Gemeindeglieder besitzen also das Heil nicht, sondern können es wieder verlieren. Sie haben es durch ihre Werke zu bewähren. Für die Gemeinde gilt nichts anderes als das, was schon für Israel galt: Eine Einladung ist kein Garantieschein.“ (LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 249; Hervorhebung im Original). KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 122 (Text im Original grau unterlegt). Vgl. ERLEMANN, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, S. 192–193 (hier auch die zitierten Fachbegriffe). So LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 249. „Mit dem Gleichnis vom Hochzeitsgewand wendet Matthäus den kritischen Blick weg vom Versagen der jüdischen Führer hin auf die Situation in der christlichen Gemeinde. Er wehrt damit allem antijüdischen kirchlichen Triumphalismus. Wie oft in seinem Evangelium wird das, was kritisch über das Verhalten der Synagoge zu sagen ist, auch zur Anfrage an die Kirche.“ (KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 123; Text im Original grau
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wäre es jedoch völlig fehlverstanden, ein grundsätzliches Verdikt gegen Israel anzunehmen. Hierzu Thomas Söding: „Es kann ja kein Zweifel bestehen, daß Jesus das Ziel seiner Sendung in der Sammlung ganz Israels gesehen und – unbeschadet seiner Gerichtspredigt – von seiner Sendungsabsicht und seinem Dienst an Israel auch dort nicht abgelassen hat, wo er mit seiner Botschaft abgelehnt worden ist. Auf Widerstände hat Jesus nicht mit Rückzug und Abwendung, sondern mit Zuwendung und insgesamt mit der Intensivierung seiner Hinwendung zu den ‚verlorenen Schafen des Hauses Israel‘ (Mt 15,24) reagiert.“573
Das eigentliche Spannungsmoment der vorliegenden Parabel liegt, anders als es der Schlusssatz in Mt 22,14 („Denn viele sind Berufene, wenige aber Auserwählte.“) suggeriert, nicht in der Aussage über einen göttlichen Heilspartikularismus. In ihm wird vielmehr die Aussage des vorangegangenen Bildteils, in dem der Ausschluss des Hochzeitsgastes ja ebengerade die tragische Ausnahme darstellt, ins Gegenteil verkehrt.574 Auch hierdurch wird der Leser- und Hörerschaft – die im Gegensatz zum Menschen ohne Hochzeitsgewand nunmehr gewarnt ist – zwar eine lebensbedeutsame Erkenntnis eingeschärft, nämlich dass man ein der Berufung entsprechendes Leben führen muss.575 Letztlich verstellt jedoch diese Schlusssentenz den Blick auf einen entscheidenden Aspekt des vorangegangenen Bildteils: Gerät in der persönlichen Auseinandersetzung des Königs mit dem Hochzeitsgast doch der einzelne Mensch, das Individuum mit seiner Lebensausrichtung in den Fokus.576 Während die Schlusssentenz in Mt 22,14 also das Aussagegewicht auf das Handeln Gottes und seine diesbezügliche Souveränität einer eschatologischen Scheidung verlagert, nimmt der Bildteil den einzelnen Menschen mit seiner Entscheidung ernst.577 Weiterführend bemerkt Joachim Gnilka zur in der Erzählung angelegten Dialektik zwischen der Souveränität Gottes und der Freiheit des Menschen:
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unterlegt) – Dieser zutreffende Aspekt sollte im Hinblick auf die antijüdische Instrumentalisierung der vorliegenden Gleichniserzählung im Zuge ihrer weiteren Auslegungsgeschichte nicht vergessen werden. SÖDING, Das Gleichnis vom Festmahl, S. 68 (Hervorhebung im Original). Dies erkennt zutreffend WIEFEL, Das Evangelium nach Matthäus, S. 378–379. Diese Intention wird beispielsweise benannt von FIEDLER, Das Matthäusevangelium, S. 335. Nicht zuletzt wird der Hochzeitsgast ohne Kleid in Mt 22,12 unmittelbar durch den König angesprochen. Auch wenn die Rede vom „Individuum“ anachronisch ist und nicht die zeitgenössische Vorstellungswelt trifft, muss man sich bewusst machen, dass auch die Berufungserzählungen durchgängig von Menschen, die eine persönlichen Ansprache erfahren, handeln (vgl. z. B. Mt 4,18–22). Insofern ist stets der einzelne Mensch mit seiner persönlichen Entscheidung im Blick, sich auf die heilvolle Herrschaft Gottes einzulassen. Insgesamt zeigt sich hier die von S. Pemsel-Maier zutreffend herausgestellte Bedeutung der Gerichtsworte als „Aufruf zur ‚Ent-scheidung‘“ (vgl. PEMSEL-MAIER, Gericht – Himmel – Hölle – Fegefeuer als Hoffnungsbilder lesen, S. 206–207).
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„Gott hat das letzte Wort. Er erwählt. Der Erwählungsgedanke schließt paradoxerweise die menschliche Freiheit nicht aus. In seiner Freiheit soll sich der Einzelne bewußt werden, daß es ein Zu-Spät geben kann.“ 578
Man kann also resümieren: Hier liegt keine Erzählung vor, die rein im Kontrast zur heilvollen Herrschaft Gottes verstanden werden muss oder ausschließlich Assoziationen zu Gottes Zorn und Gottes Gericht eröffnen will. Vielmehr geht es um ein Heilsversprechen Gottes und dessen unbedingten Wunsch, die vollendete Heilsgemeinschaft zu verwirklichen. Der Mensch ist dabei entscheidender Weise nicht willenloses Objekt, sondern bestimmt wie bei seiner Berufung frei darüber, ob er bis zuletzt Anteil an diesem Heilswerdungsprozess hat. Der „ Zorn Gottes“ und sein Gericht sind, auch wenn sie bis zum Ende hin in der vorliegenden Erzählung präsent bleiben, Folge der Verweigerung oder nur oberflächlich angenommen Einladung in die neue Gottesbeziehung. Welche dieser Sinndimensionen konkret gesehen wurde, hängt davon ab, in welche Lebenswelt die vorliegende Parabel hineingesprochen wurde. Heutige Vorbehalte mögen darin liegen, dass hier scheinbar die Bedingungslosigkeit des Heilsangebotes Gottes in Frage gestellt wird.579 Dieser Vorwurf ist jedoch zu relativieren: So deutet vieles darauf hin, dass das Gericht als Konsequenz aus der expliziten oder impliziten Entscheidung gegen das Heilsangebot resultiert. Es ist eine Reaktion auf das bewusste „Nein“ zur sich vollendenden Gottesgemeinschaft und Teilnahme der sich durchsetzenden Königsherrschaft Gottes „als ein dynamisches Heilsgeschehen […], das die Gegenwart erfaßt“580. Insofern trifft die vorliegende Feststellung Dan Otto Vias zu: „Die selbe [sic!] Einladung ist Gericht oder Gnade entsprechend dem Charakter der Antwort des Menschen. Wir haben hier die für das NT typische dialektische Konzeption, daß der Mensch seinen Ort durch Gottes Handeln erhält, sich zugleich jedoch selbst durch seine freie Wahl seinen Ort gibt […].“ 581
Der Mensch wird so in seiner Selbstbestimmung ernst genommen und mit Blick auf die eschatologische Sinndimension überwiegt nicht der „Zorn Gottes“, sondern sein Wille, möglichst vielen Menschen Anteil am vollendeten Heil zu schenken. Noch deutlicher wird dies in der lukanischen Parabel vom großen Gastbzw. Festmahl.
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GNILKA, Das Matthäusevangelium II, S. 244. Gnilka nimmt dabei abschließend Bezug auf H.-G. Fritzsche und H. Thielicke (vgl. Fußnote 50 im Original). Diesen Aspekt erwähnt KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 122. SÖDING, Das Gleichnis vom Festmahl, S. 69. VIA, Die Gleichnisse Jesu, S. 175–176 (hier in der Übersetzung von E. GÜTTGEMANNS). – Zentral ist meines Erachtens, dass die matthäische Fassung der vorliegenden Parabel durch die Metaphorik des „Hochzeitsgewands“ beide Aspekte dieser „dialektische[n] Konzeption“ gleichwertig integriert.
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3.3.1.2 Die Parabel vom großen Gastmahl bei Lukas (Lk 14,16–24) Die entsprechende Parabel bei Lukas weist gewisse Bezugsmomente zu der matthäischen Fassung auf, schafft jedoch einen ganz eigenständigen Erzählzusammenhang. Um Doppelungen zu vermeiden, wird auf bereits gewonnene Teilergebnisse des letzten Kapitels verwiesen und es werden die besonderen Merkmale der lukanischen Gleichniserzählung ins Zentrum gestellt.
3.3.1.2.1 Übersetzung582 15 Dieses aber hörend583 sprach einer der mit (zu Tisch) Liegenden zu ihm: Selig, welcher Brot im Königtum Gottes essen darf 584. 16 Der aber sprach zu ihm: Irgendein Mensch585 veranstaltete ein großes Mahl und rief viele, 17 und er schickte seinen Sklaven zur Stunde des Gastmahls, zu sprechen zu den Gerufenen: Kommt, es steht schon bereit!586 18 Aber sie fingen auf einmal alle587 an, sich zu entschuldigen. Der erste sprach zu ihm: Ich habe einen Acker gekauft, und notgedrungen588 muss ich hinausgehen, um ihn zu besehen. Bitte, entschuldige mich! 589 582
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Die nachfolgende Übersetzung orientiert sich primär am MNT, wird jedoch (soweit vom griechischen Text her zulässig) syntaktisch und stilistisch modifiziert. Mitunter werden diesbezüglich weitere Übersetzungen einbezogen und durch Fußnoten ausgewiesen. Zuvor hatte Jesus darauf verwiesen, dass man (entgegen gängiger Konventionen) selbstlos die Benachteiligten und Deklassierten zu seinen Gastmählern laden soll, um so einen Lohn bei der „Auferstehung der Gerechten“ zu erhalten. Im MNT zutreffend übersetzt mit „isst“, die Übersetzung mit „essen darf“ (siehe auch SCHOTTROFF, Von der Schwierigkeit zu teilen, S. 593), macht aber die Hoffnung auf das Zukünftige deutlicher. Im Griechischen steht hier einfach „ἄνθρωπός τις“, so dass in Vers 16 zunächst der Gastgeber, nachfolgend dann auch die Gäste und der Anlass seltsam unbestimmt bleiben (vgl. zu dieser Beobachtung und weitergehenden Deutung BECHMANN /KÜGLER, „Es ist noch Platz!“, S. 42–43). Im Wortlaut mit F. STIER, dessen Übersetzung die Unmittelbarkeit des bevorstehenden Festes gut erfasst. – Zur weiteren Deutung dieses Aspekts siehe das nachfolgende Kapitel. Die Gäste verweigern ihre Teilnahme am Gastmahl nicht nur unerwartet plötzlich, sondern „ἀπὸ μιᾶς πάντες“. Ob hiermit „einmütig“ gemeint ist, kann nicht eindeutig beantwortet werden. L. Schottroff bemerkt im Hinblick auf die hiermit verfolgte Absicht weitergehend zutreffend, dass vor allem der darin wurzelnde Affront gegenüber dem Gastgeber zum Ausdruck gebracht werden soll (vgl. SCHOTTROFF, Von der Schwierigkeit zu teilen, S. 595). Übersetzung F. STIERS. So die Formulierung der revidierten EÜ 2016, in welcher der lapidare Charakter der Absage gut zum Ausdruck gebracht wird.
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Und ein anderer sprach: Fünf Gespanne Rinder kaufte ich, und ich gehe, um sie zu prüfen. Bitte, entschuldige mich! 20 Und ein anderer sprach: Eine Frau heiratete ich, und deswegen kann ich nicht kommen. 21 Und ankommend meldete der Sklave seinem Herrn dieses. Da geriet der Hausherr in Zorn und sprach zu seinem Sklaven: Geh schnell hinaus auf die Straßen und Gassen der Stadt, und die Armen und Krüppel und Blinden und Lahmen führe herein, hierher! 22 Und (es) sprach der Sklave: Herr, es ist geschehen, was du befahlst – und trotzdem ist noch Platz. 23 Und (es) sprach der Herr zu dem Sklaven: Geh hinaus an die Wege und Zäune und zwinge (sie) hineinzukommen, damit gefüllt wird mein Haus! 24 Denn ich sage euch: Keiner jener Männer, die gerufen waren, wird kosten mein Gastmahl.590
3.3.1.2.2 Narrative Analyse Die lukanische Komposition der Parabel vom Festmahl kennzeichnet sich durch einen erzählerisch klar aufgebauten, linearen dramatischen Verlauf. Dieser strukturiert sich, wie Reinhard von Bendemann pointiert herausstellt, „nach dem Schema: Tat, Krise und Lösung“591: Die Ausgangsproblemstellung entsteht aus der Einladung des Gastgebers zu einem Festmahl (vgl. V. 16–17), die negative Reaktionen der Erstgeladenen zur Folge hat (vgl. V. 18–20). Die aus ihrer gemeinschaftlichen Absage (vgl. V. 18) erwachsene Krise erfährt dann durch die Nachladung zweier Gruppen ihre Lösung (vgl. V. 21c–23).592 Vers 21a/b, in dem der Zorn des Hausherrn über die Reaktion der Erstgeladenen geschildert wird, kommt so die Funktion eines dramaturgischen Wendepunkts zu. 593 590
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In der exegetischen Forschung ist umstritten, ob der abschließende Satz vom Hausherrn oder dem lukanischen Jesus stammt. Siehe hierzu auch die nachfolgenden Gedanken im Rahmen der narrativen Analyse. BENDEMANN, Art. Zorn Gottes (NT), 4. (S. 6 in der PDF-Version), online abrufbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/59453/ (Stand: 25.06.2020). Mit Bendemann (ebd.). – Da dieser Gliederungsansatz die Dramatik des Handlungsverlaufes meines Erachtens nach am besten erfasst, würde ich ihn anderen Gliederungsvorschlägen vorziehen. Für eine alternative Gliederung siehe z. B. BOVON, Das Evangelium nach Lukas II, S. 502: „1. Die erste Einladung an viele“ (vgl. V. 16–17); „2. Die Absage aller“ (vgl. V. 18–20); „3. Die Rückkehr des Knechts und Reaktion des Herrn“ (vgl. V. 21a/bc); „4. Die letzte Einladung“ (vgl. V. 22–23); „5. Schlusssatz in der Ich-Form“ (vgl. V. 24). Dies stellen mit Blick auf die Funktion von V. 21 auch BECHMANN /KÜGLER, „Es ist noch Platz!“, S. 50/51 heraus.
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Die Spannung erwächst dabei aus einer Dreiecksbeziehung, dem Hausherrn als eigentlichen „Handlungssouverän“ und einem „antithetischen Zwillingspaar“, bei dem die Erstgeladenen die „dramatische Hauptfigur“ und die Nachgeladenen die „dramatische Nebenfigur“ repräsentieren. 594 Den Erstgeladenen kommt dabei (zumindest unbewusst) eine Rolle als Gegenspieler des Gastgebers zu. So kränken sie ihn durch ihre lapidare Absage als Reaktion auf seine leidenschaftliche Einladung. Anders als bei Matthäus diskreditieren sie sich durch ihr Verhalten jedoch nicht moralisch, ja ihre Gründe sind hier in Ansätzen sogar nachvollziehbar595. Wie auch bei Matthäus gibt dann auch die nachfolgende Erwähnung des Zorns dem Gastgeber ein Gesicht, ja macht ihn, wie Ulrike Bechmann und Joachim Kügler zutreffend betonen, „zur Person“596. Dabei wirkt sein Zorn ebengerade nicht destruktiv, sondern legt die eigentliche Bedeutung, die er dem Stattfinden des Festes beimisst, offen.597 Interessant ist, dass im Fortgang der Erzählung nunmehr einzelne Entwicklungen gezielt gestrafft bzw. nur noch verkürzt dargelegt werden. Folglich bleibt beispielsweise die Ausführung des zweiten und dritten Aussendungsbefehls unerwähnt.598 Dadurch gewinnt die Handlungsentwicklung einen drängenden Zug, man spürt fast das intensive und unbedingte Verlangen des Hausherrn, den Saal mit Gästen zu füllen, damit das Festmahl ausgerichtet werden kann. Dies unterstreicht das bereits bei Matthäus festgestellte Anliegen des Handlungssouveräns, sein Festmahl trotz widriger Umstände auszurichten, umso stärker.599 Insgesamt scheint in der lukanischen Fassung der Faktor „Zeit“ bzw. die Dringlichkeit der Entscheidungssituation von zentraler Bedeutung zu sein 600: Bereits zu Beginn heißt es nämlich, dass nunmehr der unumstößliche Zeitpunkt 594
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Vgl. grundsätzlich H ARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 79–81 (hier auch die zitierten Fachbegriffe). Zur vorliegenden Stelle siehe BENDEMANN, Art. Zorn Gottes (NT), 4. (S. 6 in der PDF-Version), Link bereits oben ausgewiesen. – M. Wolter kritisiert hingegen, dass die vorliegende Erzählung ebengerade kein „dramatisches Dreieck“ ausbilde, da unter anderem kein Verhalten der weiteren Eingeladenen geschildert werde, das sie in Kontrast zu den Erstgeladenen setze. Zudem würden sie nicht als „selbstständige Erzählfiguren“ präsentiert (vgl. WOLTER, Das Lukasevangelium S. 509; hier auch wörtliche Zitate). Diese Kritik Wolters ist, aufgrund des Übergewichts der Erzählung auf dem Hausherrn als Handlungssouverän, zutreffend. Einzuwenden bleibt jedoch, dass der Kontrast zwischen den „Erstgeladenen“ und den „Nachgeladenen“, die durch die Benennung ihrer sozialen und damit existenziellen Not im Gegensatz zu den wohl situierten Erstgeladenen keineswegs farblos bleiben, konstitutiv für die erzählerische Dramatik ist. Zu Recht betont dies beispielsweise SÖDING, Das Gleichnis vom Festmahl, S. 71; zuvor bereits WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, S. 187. Söding interpretiert diesen Aspekt auch weitergehend, worauf noch in der nachfolgenden Analyse Bezug genommen wird. Vgl. BECHMANN /KÜGLER, „Es ist noch Platz!“, S. 51. Vgl. auch ebd. Dies bemerkt zutreffend BOVON, Das Evangelium nach Lukas II, S. 503. Vgl. auch ebd., S. 503–504. Vgl. hierzu die Analyse bei ebd., S. 504.
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des Festes gekommen sei (vgl. V. 17), ja dieses Festmahl scheint nicht mehr aufgeschoben werden zu können, so dass der Hausherr am Ende sogar von seinen Sklaven explizit fordert, die Gäste „hineinzuzwingen“ (vgl. V. 23).601 Ganz anders stellt sich die Situation hingegen bei Matthäus dar: Hier findet der König noch Zeit, in aller Ruhe die „Stadt der Mörder“602 auszulöschen (vgl. Mt 22,7). Eine ähnliche Akzentuierung erfährt bei Lukas auch die Ebene des „Raums“, der nicht nur Handlungsort, sondern vielmehr noch Ebene eines Beziehungsgeschehens ist. Die Erzählung konstituiert dabei zwei kontrastive Bereiche, den des „Inneren“ und den des „Äußeren“603: Demgemäß gibt es zum einen das Haus des Herrn und den noch „intimeren“ Ort des Mahls, zum anderen das „Außen“, die Stadt und das noch dahinter liegende Land. – Prägend ist im Kontext des Handlungsverlaufs die durch den Hausherrn veranlasste Dynamik, die Hineinnahme aus dem Bereich des Äußeren in den Bereich des Inneren.604 Die so erzählerisch geschlossene Komposition enthält interessanterweise eine scheinbar gewollte Irritation, die sich darin manifestiert, dass der Urheber der Schlusssentenz nicht eindeutig zu identifizieren ist: Spricht hier noch der Hausherr oder ist es der lukanische Jesus selbst, der die Erzählung abschließend deutet?605 Die aus diesen verschiedenen Kommunikationsebenen erwachsene Komplexität verdeutlicht auch das nachfolgende Zitat von Wolfgang Harnisch: „Weiterführend scheint folgende Überlegung. In der unübersehbaren Störung des dialogischen Zusammenhangs bekundet sich eine Verschiebung der Redesituation, die rückwirkend die Erzählung als ganze betrifft. Die Leser werden nämlich selbst angesprochen und dazu veranlaßt, das Ich der Schlußsentenz, das vordergründig durchaus der Figur des Gastgebers im Gleichnis zukommt, mit dem Ich des Gleichniserzählers zu identifizieren. Das […] Schlußwort übernimmt somit die hermeneutische Funktion einer an die Leser adressierten Auslegungsanweisung: Das Wort des Herrn im Gleichnis wird zum Herrenwort über das Gleichnis, von dem her sich eine umfassende Polyvalenz des Gesagten erschließt.“ 606
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Hierauf verweist ebd.; ebenso WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, S. 186–187. – Besonders pointiert formuliert im Anschluss an Weder (u. a.) T. Söding: „Der Kairos ist da; das Fest steht an; nun muß man kommen, wenn man mitfeiern will.“ (SÖDING, Das Gleichnis vom Festmahl, S. 67). So der Titel des bereits erwähnten Aufsatzes von K. H. Rengstorf. Zu dieser zutreffenden Beobachtung siehe BOVON, Das Evangelium nach Lukas II, S. 504. Diesen Aspekt benennt, wenn auch mitunter anders akzentuiert, sehr zutreffend Bovon (vgl. ebd.). Im Gegensatz zu ihm würde ich jedoch nicht die Rolle des Knechts als Vermittler überbetonen. Vielmehr ist es der Herr, der souverän den Ortswechsel veranlasst und einfordert, wohingegen der Sklave erzählerisch farblos bleibt. Sehr präzise bemerkt A. Vögtle: „Ein Problem für sich ist noch die Ausschlußversicherung Lk 14,24. Wer ist der Sprecher, der sich mit ‚denn ich sage euch‘ einführt und von ‚meinem Mahl‘ spricht? Wer sind sodann die mit ‚euch‘ Angeredeten?“ (V ÖGTLE, Gott und seine Gäste, S. 43). HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 238 (Hervorhebungen im Original).
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Mit Blick auf den erzählerischen Rahmen (vgl. Vers 14,15.24) erscheint es mir sinnvoller, den abschließenden Kommentar dem lukanischen Jesus zuzuordnen607, wobei eine gewisse diesbezügliche Offenheit vom Evangelisten vielleicht bewusst gewollt ist608. In jedem Fall zeigt sich aber, dass hier komplexe Kommunikationsebenen ineinandergreifen.609 Erzählerisch wird so eine bewusste Suchbewegung nach Mehrsinnigkeit und der persönlichen Bedeutung des hier Gesagten angeregt.
3.3.1.2.3 Sozialgeschichtliche Analyse Wie bereits in der Analyse von Mt 22,1–14 herausgestellt, eröffnet die Gastmahlthematik immer auch implizite Bezüge zur inklusiven jesuanischen Gastmahlpraxis. Dies tritt in der lukanischen Parabel umso deutlicher hervor, da nunmehr – in enger Analogie zum Wirken des irdischen Jesu – die sozial und religiös Deklassierten eine Einladung zum Gastmahl erhalten. Diese Form der Mahlgemeinschaft besitzt also eine soziale Dimension, ist jedoch in ihrer tieferen Symbolik immer auch bedeutungsvoller, nämlich wie Hans Weder zutreffend betont „Zeichen für die annehmende Liebe, von der die neue Zeit der Gottesherrschaft erfüllt ist“ 610. Damit transzendiert sie gleichzeitig die Bedeutung, die Gastmähler in der griechisch-römischen, aber auch in der jüdischen Umwelt zu damaliger Zeit hatten. Die Sitte des Gastmahls war nämlich vorrangig in der Oberschicht gebräuchlich und dementsprechend mit sozialer Bedeutung aufgeladen. So lud man Gäste ein, die die eigene soziale Stellung teilten, oder einem höheren sozialen Stand angehörten.611 Auch in der vorliegenden Gleichniserzählung deutet sich ebendiese soziale Schicht der Wohlhabenden an, worauf vor allem auch die Entschuldigungsgründe der Erstgeladenen verweisen.612 607
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Auch W. Eckey geht, unter anderem mit Verweis auf Lk 11,8; 15,7.10; 16,9, davon aus, dass der abschließende Kommentar dem Erzähler der Parabel zuzuordnen ist (vgl. ECKEY, Das Lukasevangelium II, S. 663f.). Mit BECHMANN/KÜGLER, „Es ist noch Platz!“, S. 58–59. Vgl. hierzu auch HOPPE, Gottes Einladung zum Festmahl, S. 102–103. WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, S. 188. Vgl. hierzu sowie zu weiteren Kennzeichen des Gastmahles SCHOTTROFF, Von der Schwierigkeit zu teilen, S. 596. Vgl. ebd.; anschaulich auch W. Eckey: „Für ein Rind zahlte man in Palästina im 1./2. Jh. n. Chr. 100–200 Denare. Eine Familie benötigte dort zur Sicherung des Existenzminimums ein Jahreseinkommen von wenigstens 200 Denaren. Viele Familien verfügten wahrscheinlich kaum über mehr. So stellte schon ein Gespann kräftiger Zugochsen einen hohen Wert dar.“ (ECKEY, Das Lukasevangelium II, S. 661–662; Hervorhebung im Original.) Zu relativieren ist damit einhergehend die Auffassung von H. Klein, dass der Hausherr nicht besonders wohlhabend sei, da er nur einen Diener habe (vgl. KLEIN, Das Lukasevangelium, S. 508). Es wird nur ein Sklave erwähnt, da nur diesem als Mittler eine Funktion im Erzählgeschehen zukommt. Dies schließt nicht aus, dass es auch andere Sklaven gibt, die dem
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Bei diesen werden im hellenistischen und palästinensischen Kulturraum vertraute Lebenssituationen aufgegriffen.613 Die diesbezüglich gewählten Beispiele (vgl. V. 18–20) bezeichnen, wie Thomas Söding betont, „die elementaren Lebensbeziehungen von Menschen: den Besitz, die Arbeit und die Familie einschließlich der Sexualität“ und die damit verbundenen „primären Handlungsfelder“.614 Diesbezüglich zeige sich, dass die Erstgeladenen der Mehrung ihres Besitzes, der Steigerung ihrer landwirtschaftlichen Produktionskraft sowie der Erhaltung ihres Familienbestandes den Vorrang vor der Teilnahme am Fest einräumen.615 Die Parabel kritisiert jedoch nicht in Form einer einfachen Sozialkritik Besitz und ökonomisches Agieren als automatisches Ausschlusskriterium, sondern vielmehr die falsche Prioritätensetzung in der akuten Entscheidungssituation. 616 Denkbar ist, dass die vorgebrachten Entschuldigungen sogar eine strategisch eingesetzte, verschlüsselte Form der Absage darstellen, um das eigene Desinteresse nicht direkt offenzulegen.617 Zentral ist fernab einzelner sozialer Konventionen insgesamt, dass die Rechtfertigungen für das Nichterscheinen zum Fest auf der Metaebene der Erzählung im Kern als fehlgeleitet angesehen werden sollen und auf der konkreten Erzählebene vom Gastgeber auch genauso empfunden werden.618 Der Ausschluss der einen vom Fest bedingt die Nachladung der neuen Gäste, genauer die Hereinnahme der „sozial und kultisch Deklassierten und der karitativen Hilfe Bedürftigen“619. Aus sozialgeschichtlicher Perspektive dürfte aufgrund der jüdischen Tradition eine Unterstützung der Notleidenden als vertraut bzw. als durch die Tora verbürgt und gefordert angesehen worden sein (vgl. Jes 58,7; Spr 22,9/25,21; Ps 146,7).620 Als praktische Ausübung dieses Grundsatzes der Armenfürsorge bzw. „der Praktizierung des Rechtes der Armen“621 kannte man
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Hausherrn bei der Ausrichtung des Festmahls assistieren (mit SCHOTTROFF, Von der Schwierigkeit zu teilen, S. 597), ihre Erwähnung wäre jedoch für den Handlungsverlauf völlig überflüssig. Vgl. DORMEYER, Das Lukasevangelium, S. 174. Vgl. SÖDING, Das Gleichnis vom Festmahl, S. 71 (hier auch wörtlich zitierte Formulierungen; Hervorhebung im Original). Vgl. ebd., S. 72 So zutreffend WOLTER, Das Lukasevangelium, S. 511; H OPPE, Gottes Einladung zum Festmahl, S. 104. So z. B. DORMEYER, Das Lukasevangelium, S. 175. Vgl. auch SCHOTTROFF, Von der Schwierigkeit zu teilen, S. 597. ECKEY, Das Lukasevangelium II, S. 662. Teile der Exegetenschaft gehen davon aus, dass auch die letztgeladene Gruppe (V. 23) einen entsprechenden Personenkreis repräsentiert und demensprechend Deklassierte innerhalb und außerhalb der Stadt hineingeholt werden sollen (vgl. z. B. WOLTER, Das Lukasevangelium, S. 513; SCHOTTROFF, Von der Schwierigkeit zu teilen, S. 597). Vgl. KÖHNLEIN, Gleichnisse Jesu – Visionen einer besseren Welt, S. 230. SCHOTTROFF, Die Gleichnisse Jesu, S. 72.
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dementsprechend die Einladung dieser zu Mählern durch diejenigen, die Häuser besaßen.622 Fraglich ist jedoch, ob die entsprechenden Ersatzeinladungen nicht vielmehr als zornig-trotzige Reaktion auf den Affront durch die Erstgeladenen anzusehen sind? Geht es dem Hausherrn vielleicht sogar gerade um deren öffentliche soziale Bloßstellung623? Vielleicht schwingt dieses Moment in seiner Reaktion zunächst mit. Es erklärt jedoch zu wenig, warum der Hausherr bei der Nachladung entsprechend verfährt. Im Rahmen der sozialen Konstituierung damaliger Gastmähler muss man sich nämlich bewusst machen, dass hierin nicht nur die soziale Homogenität, sondern auch die mit Einladungen verbundene Erwartung nach Gegenleistungen vollständig aufgebrochen wird.624 Der so vollzogene Schritt in Richtung einer sozialen „Neukonzipierung“ des Gastmahls (über eine einfache Armenfürsorge hinaus) ist gerade aus sozialgeschichtlicher Perspektive zu radikal, als dass er nur als „billige Retourkutsche“ gedeutet werden darf, denn: „Innerhalb der Erzählung handelt es sich um die Ärmsten innerhalb der Gesellschaft, diejenigen, für die die Teilnahme an einem ‚großen Mahl‘ regulär nicht in Betracht käme. Im lukanischen Zusammenhang ist dies wichtig: Der Zorn des Gastgebers führt zu einer Überwindung, einer Inversion der auf Gegenseitigkeit abgestimmten Freundschaftsethik der hellenistisch-römischen Mehrheitsgesellschaft.“ 625
Als Zwischenfazit der sozialgeschichtlichen Analyse kann festgehalten werden, dass die lukanische Fassung der Parabel vor allem auch in der Entschuldigung der Erstgeladenen und Nachladung weiterer Personengruppen den Fokus auf die
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Vgl. ebd. bzw. hier auch die entsprechenden Quellenverweise. So L. Schottroff: „Ich verstehe die Erzählung als die Geschichte eines beleidigten Gastgebers, der sich Ersatzgäste einlädt, um die Erstgeladenen zu ärgern und öffentlich zu diskriminieren. Er will mit der Einladung der Armen gar kein gutes Werk tun.“ (SCHOTTROFF, Von der Schwierigkeit zu teilen, S. 600). Diesbezüglich bemerkt deswegen beispielsweise M. Wolter: „Die Aufzählung der Menschen, die der Sklave holen soll, wiederholt den Katalog von V. 13 in unwesentlich veränderter Reihenfolge und ruft damit auch das in V. 14 genannte Merkmal dieser Gruppe auf: Es sind solche, die nicht in der Lage sind, die Einladung mit einer Gegeneinladung zu beantworten.“ (WOLTER, Das Lukasevangelium, S. 512). Im Rahmen einer Trotzreaktion wäre es beispielsweise sinnvoller, einen sozial gleichrangigen Personenkreis nachzuladen, um hierdurch die Unabhängigkeit und soziale Vernetzung zu dokumentieren. Denkbar ist es auch, wie bei Matthäus beschrieben, eine indifferente Gruppe nachzuladen. Zudem legt die Erzählung das eigentliche Motiv des Hausherrn in Vers 23 selbst offen: „Geh hinaus an die Wege und Zäune und zwinge (sie) hereinzukommen, damit gefüllt wird mein Haus !“ (MNT). BENDEMANN, Art. Zorn Gottes (NT), 4. (S. 6–7 in der PDF-Version), online abrufbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/59453/ (Stand: 25.06.2020). Interessant ist zudem der bei J. P. Heil angesprochene Aspekt, dass der Gastgeber eine soziale Verwandlung vollzieht, in deren Folge er sich zur Nicht-Elite hin orientiert (vgl. weitergehend H EIL, The Meal Scenes in Luke-Acts, S. 106–111).
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sozialen Lebensumstände verlagert: Während die Erstgeladenen ihre Lebensprioritäten im entscheidenden Moment falsch setzen, sind es die sozial Deklassierten, die nunmehr Anteil am Festmahl gewinnen, wodurch gesellschaftliche Schranken durchbrochen werden. Bereits hierin ist ein fundamentaler, die innerweltlich-sozialen Verhältnisse neuorientierender Heilswerdungsprozess impliziert, bei dem der Zorn des Hausherrn interessanterweise primär konstruktive, lebenstragende Impulse freisetzt.626 Die eigentliche Tiefendimension der darin wurzelnden Botschaft erschließt sich jedoch erst sinnhaft mit Blick auf die metaphorisch-symbolische Dimension der Erzählung.
3.3.1.2.4 Analyse der metaphorisch-symbolischen Bezüge Wie bereits in der Analyse der matthäischen Parabel herausgestellt, konnte das hier bereitete Mahl vor dem Hintergrund der alttestamentlichen Tradition als Metapher für das kommende Reich Gottes bzw. die Gottesherrschaft verstanden werden.627 Bei Lukas, der anders als Matthäus nicht von einem Hochzeitsmahl, sondern von einem Festmahl spricht, tritt diese positive Assoziationsmöglichkeit noch eindeutiger hervor. Fraglich ist, ob zudem das erste Kapitel des Zefanjabuches als Vorlage für die Ursprungsform der Parabeln gedient haben könnte.628 So handelt dieses von einem Schlachtopferfest am „Tag des Herrn“ (vgl. Zef 1,7–13), der aufgrund des ihn kennzeichnenden Gerichtshandelns auch als „Tag des Zorns“ charakterisiert wird (so in Zef 1,15). Trotz gewisser Bezugsmomente muss jedoch eingewandt werden, dass bei Lukas der Gerichtsgedanke nicht in gleicher Form wie beim Propheten Zefanja dominiert. Während in Zef 1 dieses Gericht vor allem auch die Oberschicht trifft, die als egoistisch-dekadent und letztlich in ihrer Leugnung der Geschichtsmächtigkeit JHWHs als gottlos charakterisiert wird (vgl. Zef 1,12), fehlt diese Fundamentalkritik bei Lukas.629 Zutreffend ist sicherlich, dass die lukanische Erzählung mögliche Assoziationen zu „Gottes Zorn“ und hiermit verbundenem Gerichtshandeln ermöglicht. Diesbezüglich ist jedoch ihre bewusste Neuakzentuierung zu beachten. Anders als bei Matthäus (vgl. Mt 22,7) bedingt der Zorn des durch die Absage brüskierten Hausherrn ebengerade kein entsprechendes „Vernichtungshandeln“. Dieses andere Gesicht des Zorns bei Lukas charakterisiert Helen Stotzer-Kloo wie folgt:
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Vgl. hierzu auch die akzentuierte Deutung bei BECHMANN /KÜGLER, „Es ist noch Platz!“, S. 51 wie auch besonders S. 62–63. Vgl. zusätzlich zu den bereits herausgestellten Aspekten BOVON, Das Evangelium nach Lukas II, S. 508/Fußnote 31 (hier noch weiterführende Literatur) sowie die weitergehende Erläuterung dieses Bildes bei SCHOTTROFF, Von der Schwierigkeit zu teilen, S. 598–599. Vgl. hierzu vertiefend BOVON, Das Evangelium nach Lukas II, S. 510. Es darf nicht vergessen werden, dass bei Lukas die sozial höher Gestellten zunächst die Adressaten des Gastmahles sind.
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung „Was ist das für ein Zorn? Er hat offenbar nicht nur mit dem Ärger darüber zu tun, dass die Gäste seiner Einladung nicht Folge leisteten. Dann würde er [= der Hausherr; C.W.] im Zorn das Fest absagen. Aber dieser Zorn hier sagt nicht ab, schliesst [sic!] nicht zu, sondern öffnet, bietet weiterhin an. Er erinnert an den Zorn Gottes im Alten Testament, an seinen Zorn über das ungehorsame Israel, in dem er ihm zugleich und dennoch immer neu Heil anbietet.“ 630
So eingängig dieser theologische Bezug Stotzer-Kloos auf den ersten Blick ist, muss er doch dahingehend problematisiert werden, dass den Erstgeladenen in der vorliegenden Erzählung (zumindest explizit631) keine zweite Chance eingeräumt wird. Tritt doch an ihre Stelle die Gruppe der Nachgeladenen. Folgt man also dieser Denkbewegung, stellt sich die Frage, ob hier dann nicht sogar die Verwerfung Israels impliziert ist. Entsprechende Überlegungen greifen aber zu kurz, was sich bereits darin zeigt, dass im Ersten Testament der Gedanke einer liebenden Überwindung des göttlichen Zorns zur Heilswerdung Israels gefasst wird.632 Aus zeitgenössischer Sicht könnte in der Verwerfung der Erstgeladenen natürlich auch primär eine provokante, aufrüttelnde und damit zur Umkehr mahnende Kritik an einer scheinbaren Erwählungssicherheit gesehen werden, wie sie sich bereits bei Johannes dem Täufer findet.633 In dieser Tradition wäre die vorliegende Parabel als Drohwort an das für das Heilsangebot auserkorene, erwählte Volk Israel zu sehen, die Einladung nicht auszuschlagen, da dann in der Folge des göttlichen Zorns andere seinen Platz einnehmen würden.634 Anders als bei Johannes oder im Umkehrwort Jesu in Lk 13,2–5 ergibt sich jedoch dann die weitergehende Frage, mit wem die Nachgeladenen und damit „neuen“ potentiellen oder faktischen Heilsanwärter zu identifizieren sind. In 630
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STOTZER-KLOO, Eingeladen zum Fest, S. 198. – Insgesamt wird in ihrem Text auf die Verwendung von „ß“ verzichtet. Um den Lesefluss nicht zu stören, wird dies nur angemerkt, wenn das Wort zugleich in alter und neuer Rechtschreibung falsch geschrieben ist. Es bleibt zu berücksichtigen, dass der Hausherr kein vernichtendes Strafgericht an ihnen vollzieht, so dass zumindest theoretisch eine Teilhabe denkbar bleibt. Dieser Aspekt wird in der Gesamtdeutung noch weitergehend vertieft. Bereits in Hos 14,5 wird dieser Gedanke an eine Heilung Israels durch die Liebe Gottes, die in der letztgültigen Überwindung des göttlichen Zorns Ausdruck findet, aufgebracht. Vgl. dazu Jörg JEREMIAS, Der Zorn Gottes im Alten Testament, S. 173–180. Siehe hierzu das entsprechende Analysekapitel. So M. Reiser: „Mit ihr [= der ursprünglichen Parabel; C.W.] stellte Jesus dem Volk anschaulich vor Augen, was auf dem Spiel stand und welche Folge ein Nein auf seine Einladung nach sich ziehen mußte. Mit einem Nein würde es auf das eschatologische Heil verzichten und hätte sich damit selbst gerichtet. […] Gottes Zorn braucht also gar nicht strafend einzugreifen, wie er das nach der matthäischen Version tut (Mt 22,7); das Gericht vollstreckt Israel an sich selbst. In der lukanischen Version, und so zweifellos auch in der ursprünglichen Parabel Jesu, sorgt der Zorn des Gastgebers lediglich für Ersatzgäste. Dieser Zug der Parabel zeigt noch einmal deutlich, daß es Jesus mit seiner Erzählung allein um Israel geht und nicht etwa um eine Verheißung für die Heiden. Wer möchte schon die Rolle von solchen Ersatzgästen spielen?“ (R EISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 230–231).
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der Auslegungstradition wird dieser Überlegung folgend in der dritten Einladung beispielsweise eine lukanische Reflexion über „den Übergang von der Juden- zur Heidenmission“635 gesehen.636 Hier liegt jedoch eine zu weit gefasste Interpretation vor, die durch den Bildbestand alleine nicht gegeben ist.637 Vielleicht sind es nunmehr die Armen und Deklassierten auch außerhalb der Stadt, denen Anteil am Festmahl gegeben wird.638 Gegebenenfalls „spielt [Lukas] hier auf die Stadt-, die Land- und die Weltmission an“639, wodurch für Zeitgenossen vor allem ein Assoziationsspektrum auf das von Gott den Völkern verheißene Festmahl auf dem Zion (vgl. Jes 25,6– 8) eröffnet würde640. All dies ist möglich, aber nicht das Naheliegendste. Charakteristisches und damit zentrales Element der lukanischen Parabel bleibt nämlich im Vergleich zu Matthäus der besondere Fokus auf dem Umgang des Hausherrn mit den sozial an den Rand Gedrängten. Gerade hierdurch wurden für die damalige Zuhörerschaft sicherlich primäre Sinndimensionen erkennbar, die eindeutige Assoziationen zum Handeln Gottes weckten. So zeugt das Erste Testament von einem Gott, der die Armen aktiv in das Heilsgeschehen und die Heilsgemeinschaft einbeziehen will, ja solidarisch Partei für sie ergreift.641 Die Unterdrückung der Armen kann für Israel zur Gerichtsdrohung werden (vgl. Jer 5,26–28), wie auch Gott als Retter der Armen angerufen werden kann (vgl. Ps 35,10). Noch grundlegender wird in der Spruchweisheit sogar das abfällige oder barmherzige Verhalten ihnen gegenüber mit dem Verhalten Gott, dem Schöpfer, gegenüber gleichgestellt (vgl. Spr 14,31).642 Dabei könnte vor allem auch die Nennung der „Kranken“ bzw. Krüppel, Lahmen und Blinden Assoziationen zu sozialer wie auch ggf. religiöser Ausgrenzung geweckt haben (vgl. auch 2 Sam 5,8).643 In heutigen Auslegungen findet sich dabei der Ansatz, die Bezeichnung „Arme“ metaphorisch zu sehen oder entsprechend auszuweiten. 644 Dies darf jedoch, wie Luise Schottroff zutreffend anmerkt, nicht unberücksichtigt lassen, 635 636 637
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WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, S. 192. Vgl. auch ebd., S. 192–193. Dies betont in Abgrenzung zu Weder bereits ERLEMANN, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, S. 185/Fußnote 415. Vgl. hierzu auch die Begründung W OLTER, Das Lukasevangelium, S. 513. So KÖHNLEIN, Gleichnisse Jesu – Visionen einer besseren Welt, S. 231. Vgl. ECKEY, Das Lukasevangelium II, S. 663. Vgl. grundlegend KESSLER, Art. Armut / Arme (AT), 2. (S. 1 in der PDF-Version), online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/13829/ (Stand: 25.06.2020). Vgl. ebd. Vgl. weiterführend FREY-ANTHES, Art. Krankheit und Heilung (AT), 6.4. (S. 15 in der PDFVersion), online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/de/stichwort/24036/. Hier wird erwähnt, dass die Heilung blinder und tauber Menschen auf den Anbruch der Heilszeit verweist. Vgl. hierzu vertiefend SCHOTTROFF, Von der Schwierigkeit zu teilen, S. 599. Schottroff verweist hier auf traditionelle Interpretationsmuster, nach denen die Armen „eine Metapher
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dass im damaligen Kontext konkret Menschen gemeint sind, deren Leben von extremer materieller Armut bedroht ist. 645 Sie werden insbesondere in den Seligpreisungen (vgl. Mt 5,3) mit dem griechischen Begriff πτωχοί bezeichnet.646 Das griechische Wort πτωχός besitzt, wie Luise Schottroff herausstellt, insofern auch religiöse Implikationen, als der Zustand des „Arm-Seins“ bedingen kann, dass die Beziehung zu Gott in Frage gestellt wird. 647 Gerade dies wird für damalige Hörerinnen und Hörer noch deutlicher gemacht haben, dass die vorliegende Gleichniserzählung von einem alle Maßstäbe durchbrechenden Heilsereignis zeugt: Werden durch das Gastmahl doch nicht nur die materiellen Bedürfnisse dieser am Rand Stehenden gestillt, sondern sie werden vollwertiger Bestandteil einer neuen, versöhnten (Heils-)Gemeinschaft.648 Zusammenfassend lässt sich also herausstellen: Auch bei Lukas eröffnen sich Assoziationsmöglichkeiten zur heil- und freudvollen Vollendung der Gottesherrschaft, die im Bild des „Festmahles“ Ausdruck finden. Anders als bei Matthäus sind jedoch die Bezüge zum göttlichen Zorn und dem göttlichen Gericht nicht in derselben Form ausgeprägt. Zwar zürnt der Hausherr über die Absage durch die Erstgeladenen, setzt jedoch danach alles daran, den Festsaal zu füllen. Insofern sind, wenn man diese theologischen und soteriologischen Bezüge erkennt, Implikationen zu der Überwindung des Zornes Gottes gegeben.649 Dabei bleibt es schwierig, vor allem die jeweiligen mit der Einladung adressierten Gruppen tiefergehend zu erfassen. Möglich, aber keineswegs zwingend
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für alle [sind], die vor Gott mit leeren Händen stehen oder die in irgendeiner Weise vom Leben geschlagen sind“. Vgl. ebd. „Μακάριοι οἱ πτωχοὶ τῷ πνεύματι …“ (Mt 5,3). Vgl. SCHOTTROFF, Von der Schwierigkeit zu teilen, S. 599. – L. Schottroff wendet sich dementsprechend auch dagegen die Wendung „Arme im Geiste“ (in Mt 5,3) lediglich im übertragenen Sinne zu verstehen: „Vielmehr ist Armut im Geiste ein Zustand, der auch in der materiellen Existenz besteht. Es ist ein Zustand, in dem die Menschen Gott nicht loben können (s. Jes 61,3; Ps 22,27), indem sie rechtlos sind, leiden und ohnmächtig sind […]. Armut im Geiste bezeichnet einen Notzustand[,] der umfassend ist: die soziale, rechtliche, politische, religiöse und psychische Lage ist arm. Daß dabei der umfassende Charakter des Elends durch die Armut des Geistes verdeutlicht wird, betont speziell, daß sich der Mangel auch darin auswirkt, daß der Arme (Rechtlose, politisch Ohnmächtige) auch unfähig ist, Gott zu loben.“ (SCHOTTROFF, Das geschundene Volk, S 163; Hervorhebungen im Original). M Reiser bemerkt: „Wer möchte schon die Rolle von solchen Ersatzgästen spielen?“ (REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 231). Diese Herabsetzung der Gruppe der Nachgeladenen fußt auf seiner Gesamtdeutung (siehe oben). Geht man davon aus, dass mit den Ersatzgästen nicht die Heiden, sondern (wie es der Text andeutet) Menschen in einer umfassenden existenziellen Notsituation gemeint sind, ändert sich die Perspektive: Für sie ist die Einladung zum Fest ein Ausweg aus ihrer existenziellen Notsituation und damit nichts anderes als eine alles Erwartbare durchbrechende, fundamentale Heilserfahrung. Siehe hierzu auch die Abschlussdeutung, in der entsprechende Autoren, die diese These vertreten, genannt werden.
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ist es, in der Gruppe der Erstgeladenen Israel zu sehen. Hierbei stünde dann jedoch weniger eine „Verwerfungsbotschaft“ als vielmehr eine „Drohbotschaft“, die mahnend zur Umkehr bewegen will, im Zentrum. Problematisch wird diese Deutung vor allem dann, wenn man versucht die Gruppe der Nachgeladenen zu konkretisieren oder gar gegen die erste Gruppe auszuspielen. Gegebenenfalls ist dies auch ein eindeutiger Hinweis darauf, von zu weit gehenden allegorischen Deutungen Abstand zu nehmen. So werden die Armen in ihrer existenziellen Not und damit auch tendenziell erfahrenen Gottverlassenheit konkret benannt. In der vorliegenden Parabel werden sie interessanterweise zum primären Adressaten der Festeinladung, wodurch das sich hier ereignende Heilsgeschehen sein besonderes Profil gewinnt.
3.3.1.2.5 Intratextuelle Bezüge „Am Anfang war das Mahl“. – Diese Aussage trifft nicht nur auf das Thema der vorliegenden Gleichniserzählung zu, sondern auch auf den erzählerischen Gesamtzusammenhang: Ereignisort ist nämlich das Haus eines Pharisäers, in dem Jesus den Sabbat mitfeiert und nunmehr, als eine Art finaler „Höhepunkt“650, zu einer letzten Gleichnisrede ansetzt. 651 Der unmittelbare Kontext der vorliegenden Parabel gibt dabei die Frage nach der Teilhabe am Reich Gottes vor (vgl. rahmend Lk 14,15/14,24), die durch die Aussage eines Beteiligten interessanterweise auch mit Rückgriff auf die Mahlmetaphorik eingeleitet wird: „Selig, welcher Brot im Königtum Gottes essen darf.“ (V. 15b). Das „Gastmahl“ ist dabei nicht nur der situative Kontext, innerhalb dessen Jesus seine Lehre entfaltet, sondern vielmehr auch innerer Gegenstand dieser Lehre. Jesu Worte fokussieren diesbezüglich die angemessene Platzwahl beim Gastmahl (vgl. Lk 14,7–11), das Verhalten als Gastgeber (vgl. Lk 14,12–14) und die Teilhabe am Gastmahl (vgl. Lk 14,15–24).652 Dabei ist die soziale Dimension, die Frage nach Rang und Status, Selbsterniedrigung und Selbsterhöhung stets präsent (vgl. besonders Lk 14,11). Sowohl Lukas 14,12–14 als auch die vorliegende Parabel sind aufeinander bezogen, da in ihnen die Einladung der Deklassierten in den Blick gerät.653 Vers 15 leitet dabei nicht nur zu der vorliegenden Parabel über, sondern fokussiert die Perspektive auf das eschatologische Mahl bzw. die Teilhabe an der vollendeten Gottesherrschaft.654 Die vorliegende Gleichniserzählung eröffnet 650 651
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So BOVON, Das Evangelium nach Lukas II, S. 501. Für eine differenziertere Analyse des szenischen Aufbaus und der Struktur von Lk 14,1– 24 siehe BECHMANN/KÜGLER, „Es ist noch Platz!“, S. 27–39. Vgl. auch T. P. Osborne in: R. PESCH u. a./OSBORNE, Die lebendigste Jesuserzählung, S. 171. Vgl. ebd. H. Klein bemerkt hierzu: „Geht es in V. 7–14 um ein irdisches Mahl mit himmlischen Konsequenzen, so in V. 15–24 um das himmlische Mahl selbst und darum, wer daran teilnimmt.“ (KLEIN, Das Lukasevangelium, S. 505). Zu der zentralen „Vernetzungsfunktion“
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dabei zwei zentrale Bezüge, die sie thematisch nicht nur in den unmittelbaren Erzählkontext, sondern vielmehr in den größeren Zusammenhang des Lukasevangeliums integrieren: 1. die Gastmahlthematik bzw. zentrale Bedeutung von Mahlzeiten; 655 2. die besondere Hervorhebung der Notleidenden, denen die Frohe Botschaft von der Gottesherrschaft gilt656 bzw. in deren Heilung sich für den Evangelisten das wirkmächtige Anbrechen der heilvollen Herrschaft Gottes widerspiegelt (vgl. auch Lk 4,23–27; 7,21–23)657. In Bezug auf die gesonderte Stellung von Mahlzeiten fällt auf, dass in ihnen intensive Begegnungen Jesu mit den Pharisäern, aber auch Sündern und Zöllnern stattfinden. Thomas P. Osborne spricht deswegen sogar von einer diesbezüglichen „‚Mahl-Kultur‘“658. Sie sind Orte seiner Auseinandersetzung mit den Pharisäern, bei denen er sich und seine Mission verdeutlicht, lehrt, ermahnt und versucht, die Wirklichkeit der Gottesherrschaft einsichtig zu machen (vgl. Lk 5,29– 39; Lk 7,36–40; 11, 37–54; 14). Sie sind zugleich Orte, an denen Jesus die Zuwendung und Solidarität zu den Sündern (vgl. Lk 5,29–32; 7,34) sowie Armen (vgl. Lk 11, 41; Lk 14,12–14) einfordert und praktiziert. Und sie sind nicht zuletzt und in ihrer zentralsten Bedeutung die Orte, an denen die anbrechende Herrschaft Gottes und die hiermit verbundene heilvolle Errettung selbst erfahrbar wird.659 Dabei geht ihre gemeinschaftsstiftende Bedeutung über das irdische Wirken Jesu und seinen Tod hinaus660, wie vor allem die Einsetzungsworte im Kontext des letzten Passamahls mit seinen Jüngern zeigen (so in Lk 22,14–20). Jesus selbst
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von Vers 15 im Rahmen des Gesamtkapitels siehe vertiefend BECHMANN/KÜGLER, „Es ist noch Platz!“, S. 41. Vgl. grundlegend BOVON, Das Evangelium nach Lukas II, S. 464–466; ebenso BECHMANN/KÜGLER, „Es ist noch Platz!“, S. 40–41. T. P. Osborne stellt als einen der „katechetische[n] und theologische[n] Schwerpunkte des Lukasevangeliums“ (R. PESCH u. a./OSBORNE, Die lebendigste Jesuserzählung, S. 10) zutreffend heraus, dass besonders Gruppen in ihren sozialen Notlagen und dementsprechend das solidarische Verhalten der Wohlhabenden in den Blick geraten (vgl. ebd., S. 14). Vgl. zur weiteren Vertiefung auch BECHMANN /KÜGLER, „Es ist noch Platz!“, S. 18–20. Vgl. auch SCHWEIZER, Das Evangelium nach Lukas, S. 157. So T. P. Osborne (in: R. PESCH u. a./OSBORNE, Die lebendigste Jesuserzählung, S. 249). Vgl. auch BECHMANN /KÜGLER, „Es ist noch Platz!“, S. 25–27. Neben dem inklusiven Charakter der Gastmähler (vgl. den von den Pharisäern erhobenen Vorwurf in Lk 15,1–2) und der damit verbundenen Vorwegnahme der heils- und gemeinschaftsstiftenden Dimension der Gottesherrschaft, sei vor allem auch an die „Speisung der 5000“ bzw. das hier zelebrierte Festessen erinnert (vgl. Lk 9,10–17). Zu einer weiterführenden Deutung der markinischen Fassung dieser Erzählung siehe LOHFINK, Gegen die Verharmlosung Jesu, S. 62– 74. – Unter Verweis auf Lk 19,9 und 15,24 stellt J. Ernst zutreffend heraus, dass die Mahlgemeinschaft bereits die gegenwärtige Erfahrung von heilvoller Errettung ausdrückt (vgl. ERNST, Das Evangelium nach Lukas, S. 445). Insofern verwundert es nicht, dass sie auch der Ort der Begegnung mit dem Auferstanden sind (vgl. Lk 24,30–41 bzw. 43).
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weitet im Rahmen dieser Mahlszene den Blick auf die eschatologische Zukunft hin: „Denn ich sage euch: Nimmermehr werde ich trinken von nun an vom Gewächs des Weinstocks, bis das Königtum Gottes kommt!“ 661 (Lk 22,18 parr. Mk 14,25; Mt 26,29)
In den Gastmählern als Ort der Gemeinschaft sowie Solidarität verdichten sich bei Lukas, so kann man zunächst festhalten, Erfahrungen mit dem irdischen Jesus und seiner Botschaft bis hin zur Vollendung der Gottesherrschaft. Für den Evangelisten bedeuten Gastmähler darüber hinaus bereits in der Gegenwart eine Umorientierung von einer pragmatischen Gastfreundschaft hin zur barmherzigen Einladung der Benachteiligten (vgl. Lk 14,12–14).662 Die vorliegende Parabel setzt jedoch noch weitergehende Akzente, als dass sie diese Forderung nach solidarischer Neuorientierung veranschaulicht. Auch geht es in ihr nicht darum, einen Gegensatz zwischen Armen und Reichen zu eröffnen oder gegen Wohlhabende zu polemisieren.663 Ein gewisser Bezug eröffnet sich eher zu den bei Lukas überlieferten jesuanischen Seligpreisungen an Arme, Hungernde, Weinende sowie Gehasste und den hiermit verbundenen Weherufen an Reiche, Satte, Lachende und Anerkannte (vgl. Lk 6,20–26).664 So wird durch die Kontrastierung in Lk 6,20–26 mit Blick auf das Gottesreich „in stereotyper Art und Weise [betont], wie menschliche Schicksale umgekehrt werden“665. Ein Zug, der, je nachdem wie man die Festmetapher versteht, auch in der vorliegenden Erzählung erkannt werden kann, jedoch nicht überbetont werden sollte. Die Seligpreisungen lassen den Zeitpunkt offen, an dem sich diese Umkehr vollzieht.666 Die vorliegende Gleichniserzählung verdeutlicht dazu erweiternd, dass die Wohlhabenderen und damit vermeintlich von Gott Begünstigten den
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So die Übersetzung von F. STIER. Diese erfasst den Ursprungssinn des Logions sprachlich am elegantesten. Zutreffend die Erläuterung von T. P. Osborne: „Aus dieser neuen Sensibilität heraus soll man bereit sein, auf die Vorteile einer ‚strategischen‘ Gastfreundschaft zu verzichten und seine Tür und seinen Tisch für die Benachteiligten aufzutun. Da die Belohnung dieser nicht auf Profit ausgerichteten Gastfreundschaft von dem barmherzigen und gerechten Gott vollzogen wird, kann man den, der so handelt, schon jetzt selig preisen [sic!]. Obwohl die sozial Benachteiligten die vorrangig Begünstigten der Frohbotschaft Jesu sind, kann man nicht übersehen, dass im Lk-Ev die Verwirklichung der Botschaft auch die Evangelisierung und Umkehr der Reichen bedingt.“(in: R. PESCH u. a./OSBORNE, Die lebendigste Jesuserzählung, S. 171). So sind es die Erstgeladenen selbst, die sich von der Teilnahme am Fest ausschließen. Zudem deutet der letzte Entschuldigungsgrund (vgl. V. 20) in eine andere Richtung. Diesen Bezug sieht beispielsweise auch ECKEY, Das Lukasevangelium II, S. 663. T. P. Osborne in: R. PESCH u. a./OSBORNE, Die lebendigste Jesuserzählung, S. 79. Vgl. ebd.
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„Kairos“667 zur Teilhabe am Gastmahl verstreichen lassen 668, hierdurch ihren Anteil an diesem verlieren und dieses Fest trotzdem mit den zuvor Deklassierten in seiner ganzen Fülle gefeiert wird. Begreift der Leser diese theologisch-soteriologischen Implikationen, ergeben sich weiterhin Anklänge an das Magnificat, in dem Gottes Handeln, durch das er Niedrige und Hungrige zu ihrem Recht kommen lässt, gepriesen wird (vgl. Lk 1,52b–53a).669 Gleichzeitig weiß er aber auch, dass nicht das Ausspielen verschiedener Menschengruppen gegeneinander, die Strafe der einen und Belohnung der anderen, das Handeln Gottes dominiert. Dies zeigt sich beispielsweise in der Gleichniserzählung vom „verlorenen Sohn" (vgl. Lk 15,1–32), in dem der Wunsch nach einem Fest in versöhnter Gemeinschaft das Handeln des Vaters bestimmt.670 Die vorliegende Parabel fügt sich weitergehend in die vorangegangene Reihe von bildhaften Jesusworten ein, durch die Jesus Denkbewegungen bezüglich der Dynamik des Kommens der Gottesherrschaft, deren wirkmächtiger Durchsetzung und Annahme, anzuregen versucht.671 Der Zorn des Gastgebers ist dabei weniger destruktiv als der angedrohte „Zorn Gottes“ in der Endzeitrede in Lk 21,23. Er bewirkt nicht Not und die letztliche Zerstörung Jerusalems (vgl. Lk 21,24), wie es sich auch in der matthäischen Parabel andeutet, sondern die unmittelbare Nachladung zur Verwirklichung des Freudenfestes. Als Fazit einer Analyse der intratextuellen Bezüge lässt sich herausstellen: Das Bild des Festmahles konnte von den Rezipienten und Rezipientinnen des Lukasevangeliums zentral mit der Botschaft Jesu von der heilvollen Herrschaft Gottes in Verbindung gebracht werden. Es ist sowohl bildhafter Ausdruck der gegenwärtigen Erfahrbarkeit dieser, also der präsentischen Dimension der Herrschaft Gottes, als auch Verweis auf das hoffnungsvolle Kommende. Im Zusammenspiel mit den Gleichnissen im Lukasevangelium, die die beginnende Transformation der Welt veranschaulichen, kann auch das hier geschilderte Fest, das trotz aller Widrigkeiten stattfindet, mit der heilschaffenden sowie unaufhaltsamen Durchsetzung der Gottesherrschaft wie auch ebendieser
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Begriff in diesem Zusammenhang zutreffend verwendet von SÖDING, Das Gleichnis vom Festmahl, S. 67. Für E. Schweizer erinnern die Erstgeladenen an den älteren Sohn (vgl. Lk 15,25–32) sowie die Mitmenschen Noachs und Lots (vgl. SCHWEIZER, Das Evangelium nach Lukas, S. 158). So ECKEY, Das Lukasevangelium II, S. 663. Vgl. hierzu weiterführend VENETZ, Lob der Unverschämtheit, S. 145–146. Mit T. P. Osborne, der die vorliegende Parabel im Zusammenhang mit dem Gleichnis vom Feigenbaum (vgl. Lk 13,6–9), dem Senfkorn und dem Sauerteig (vgl. Lk 13,18–21) sieht (vgl. R. PESCH u. a./OSBORNE, Die lebendigste Jesuserzählung, S. 173). Weiterführend ist auch die Gesamtdeutung von SÖDING, Das Gleichnis vom Festmahl, S. 72–83 interessant, auf die in der weiteren Analyse noch Bezug genommen wird.
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„Anziehungskraft der Basileia“672 assoziiert werden. Eng mit der Thematik des Gastmahles ist dabei im Lukasevangelium auch die sich in der Wort- und Tatverkündigung Jesu widerspiegelnde Zuwendung Gottes zu den in verschiedener Hinsicht Notleidenden und Deklassierten verbunden. Ihre Heilung ist für den Evangelisten, um die Formulierung Eduard Schweizers aufzugreifen, „Kennzeichen des vollmächtigen Einbruchs Gottes, der die noch viel tiefere Not und Entfremdung des Menschen von Gott und damit von sich selbst heilen will“673. Entsprechend verdichten sich diese Bezüge bereits an den zentralen Stellen des Evangeliums, dem Magnificat wie auch den Seligpreisungen. So nimmt das Lukasevangelium seine Zuhörerschaft in eine Dynamik hinein, von der auch das eigene Handeln gegenüber den Leidenden nicht unberührt bleiben kann.674
3.3.1.2.6 „Im Zorn die Liebe“675 oder „vom unaufhebbaren Streben nach versöhnter Gemeinschaft“ – Gesamtdeutung Die vorliegende Gleichniserzählung hat trotz einzelner Ähnlichkeiten zum Plot der matthäischen Variante ihr ganz eigenes Profil. Sie zunächst vorrangig rein sozialgeschichtlich, als Erzählung über einen beleidigt-zornigen Hausherrn und seine Trotzreaktion zu lesen, 676 ist möglich, birgt aber die Gefahr, dass entscheidende Sinnangebote unerschlossen bleiben. Besonders im Rahmen der interund intratextuellen Bezüge wird nämlich ein derartig weites Assoziationsspektrum zu Gott und seinem Heilshandeln eröffnet, dass gerade hierin ihre eigentliche und lebensorientierende Aussageabsicht aufscheint. Ebenfalls zu verkürzt wäre es, die mahnende Absicht bzw. die paränetische Dimension der vorliegenden Parabel überzubetonen.677 Dies legen zwar die drohenden Abschlussworte in Lk 14,24 nahe („Keiner jener Männer, die gerufen waren, wird kosten mein Mahl.“678), sie als alleinigen Deutungsschlüssel heranzuziehen, kann jedoch die Sichtweise auf die vorangegangene Bildhälfte einengen.
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SÖDING, Das Gleichnis vom Festmahl, S. 77. Söding sieht hier die „Pointe“ des Ursprungsgleichnisses. SCHWEIZER, Das Evangelium nach Lukas, S. 157. Schweizer bezieht diese Aussage hier auf die Heilung der Armen „durch Jesus und die Gemeinde“. Zu denken ist dabei auch an die Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter in Lk 10,25–37. So der Titel des bereits erwähnten Aufsatzes von H. Zaborowski. Dieser trifft auch den Charakter und die Aussageabsicht der vorliegenden Gleichniserzählung, wie die nachfolgenden Überlegungen zeigen werden. Auch wenn ihre Gesamtdeutung komplexer ist, tendiert hierzu SCHOTTROFF, Von der Schwierigkeit zu teilen, S. 600–601. Mit SÖDING, Das Gleichnis vom Festmahl, S. 72–75 (hier auch weitergehender Verweis auf entsprechende Autoren, die diese These vertreten). Übersetzung: MNT.
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Tatsächlich scheint der zornige Hausherr dann nur Ersatzpersonen einzuladen, um aufzuzeigen, dass die Erstgeladenen unabänderlich eine einmalige Chance verpasst haben.679 Gegen ein solches Verständnis lassen sich jedoch sowohl von Seiten der Erzähllogik als auch vor dem Hintergrund der Reich-GottesVerkündigung Jesu her zentrale Einwände formulieren: Erstens: Wäre es in der vorliegenden Gleichniserzählung nur darum gegangen, die Erkenntnis von Vers 24 vorzubereiten, hätte nach der Absage der Gäste und dem hieraus resultierenden Zorn des Hausherrn ein einfacher Verweis auf die Nachladung anderer Gäste ausgereicht. Stattdessen wird von einer doppelten Nachladung berichtet. Dass dies nur eine funktionslose Ausschmückung sein soll, ist aufgrund der sinnvollen Einbettung in den erzählerischen Gesamtzusammenhang (siehe oben) wenig einsichtig. Zweitens: Eine entsprechende Deutung kann gleichzeitig bedingen, die Gruppe der Nachgeladenen automatisch nur als zweitklassige Ersatzgäste wahrzunehmen.680 Mit der Praxis Jesu und dem Lukasevangelium vertraute Hörer und Hörerinnen dieser Erzählung wissen jedoch um die besondere Zuwendung des lukanischen Jesu zu den Armen und Deklassierten. Gerade in dieser Zuwendung findet das Anbrechen der heilvollen Herrschaft Gottes in einzigartiger Weise Ausdruck. Insofern eröffnet die vorliegende Erzählung gewollt oder ungewollt entsprechende Deutungshorizonte. Die Erwähnung der unter dem Unrecht der Welt Leidenden (die ja erzählerisch ebenso hätte ausgespart werden können) ist somit mehr als nur eine belanglose Ausschmückung, sie legt vielmehr den Charakter des Gastmahles als Heilsereignis offen. Entscheidend für das Verständnis der vorliegenden Erzählung ist darüber hinaus vor allem, dass das bei Matthäus noch dominante Muster von „Zorn“ und „Strafe“ bei Lukas eben gerade nicht als Katalysator des Erkenntnisprozesses fungiert. Anders formuliert: Der Zorn des Hausherrn hat in dieser Parabel ein anderes Profil als bei Matthäus, in dessen Erzählvariante er bis zum Ende hin präsent ist und mit dem Gerichtshandeln Gottes assoziiert werden kann. Zu Lk 14,21a bemerkt Helen Stozer-Kloo deswegen: „Das Gleichnis hätte hier aufhören können mit einem einzigen Satz des Hausherrn: ‚Wenn ihr nicht wollt, dann lasst es eben bleiben!‘ Der Hausherr hätte sich beleidigt oder auch erhaben achselzuckend zurückziehen können. Ihm könnte es ja gleich sein, wenn die Geladenen die ihnen angebotenen Freuden ausschlagen. Seltsamerweise aber macht gerade sein Zorn deutlich, dass ihm das Fest nicht gleichgültig ist. Sein Zorn bedeutet nicht Zerstörung, sondern drückt Trauer aus, Fassungslosigkeit darüber, dass seine Einladung missverstanden und abgelehnt wird. In seinem Suchen nach neuen Möglichkeiten offenbart sich überraschend Liebe, Zuwendung, Bitte. So will der Hausherr im Gleichnis das Fest weiterhin halten. Er will weiter einladen, will,
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Diese Verständnismöglichkeit benennt und widerlegt im Hinblick auf eine rekonstruierte Version der Ursprungsparabel beispielsweise T. Söding (vgl. SÖDING, Das Gleichnis vom Festmahl, S. 74). In diese Richtung tendiert beispielsweise REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 231.
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
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dass Gäste kommen, um sie zu bewirten und zu beschenken. Er will mit ihnen zusammen essen und trinken und sich freuen.“ 681
Erkennt man die darin wurzelnden theologischen und soteriologischen Implikationen, gerät, wie Thomas Söding mit Blick auf die von ihm hypothetisch rekonstruierte, ursprüngliche Version der Parabel zutreffend betont, vor allem der unbedingte Heilswille Gottes in den Blick: „Entscheidend ist dann freilich, aus dem Gleichnis zu erfahren, daß Gott sich durch die Unwilligkeit der eingeladenen Menschen keineswegs von seiner heilbringenden Absicht abbringen läßt, sondern im Gegenteil je und je seinen gerechten Zorn überwindet, um doch noch Menschen zu gewinnen, an seinem Fest teilzunehmen – dadurch, daß er seine Einladung ausweitet und intensiviert. Das Gleichnis verkündet Gott als den, der im Zuge seiner eschatologischen Selbstoffenbarung die Widerstände überwinden wird – allein deshalb, weil er in seinem Basileia-Handeln, dem Jesus Gestalt gibt, keinen anderem Gesetz als dem des ‚Je-mehr‘ folgt.“682
Thomas Söding ist dahingehend zuzustimmen, dass auch die vorliegende, lukanische Gleichniserzählung eine „soteriologische“ Aussageabsicht683 besitzt. 684 Wie umfassend dieses Heilsgeschehen in diese Wirklichkeit eingreift, wird darin deutlich, dass die zunächst Deklassierten nunmehr primäre Teilhaber des Festes sind. Bildlich wird zudem dieser Dynamik der zur Vollendung gelangenden Herrschaft Gottes durch die vom Hausherrn veranlasste Hineinahme aus dem Bereich des Äußeren in den Bereich des Inneren Ausdruck verliehen.685 Gerade hierin zeigt sich auch das weitergehende sinnschöpferische Potential des Fortschreitens der Erzählung. Das Fest kann dabei für damalige Zeitgenossen in einzigartiger Weise, als eine Art Hoffnungsbild, die heilvolle Wirklichkeit ebendieser fortschreitenden Gottesherrschaft vor Augen führen. So greift es einerseits auf ein innerweltlich
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STOTZER-KLOO, Eingeladen zum Fest, S. 199. SÖDING, Das Gleichnis vom Festmahl, S. 76–77. Mit Bezeichnung „Je-mehr“ bezieht Söding sich auf J. Ratzinger (vgl. weiterführend Fußnote 74 im Original). Vgl. ebd., S. 77. F. Bovon stellt zutreffend heraus, dass die vorliegende Parabel in der Exegese oftmals im heilsgeschichtlich oder ethisch gedeutet wird (vgl. BOVON, Das Evangelium nach Lukas II, S. 512, hier auch Verweis auf die Vertreter entsprechender Positionen). Eine Engführung der jeweiligen Deutungsansätze kann jedoch den umfassenden, ganzheitlichen Charakter der durchdringenden Herrschaft Gottes verkennen: Die Gottesherrschaft wirkt in die Gegenwart hinein und verändert diese, wodurch den Menschen neue Freiräume und Möglichkeiten des Handelns erwachsen. Eine heilsgeschichtliche Auslegung, die beispielsweise einzelne Etappen der Erwählung angesprochen sieht, suggeriert fälschlich, dass einzelne Phasen dieses Heils- und Heilungsprozesses bereits abgeschlossen sind. Eine dominierende ethische Auslegung drängt die Transformation der Wirklichkeit als Ausgangspunkt jedweder Neuorientierung in den Hintergrund. Siehe hierzu die narrative Analyse mit entsprechenden Verweisstellen, besonders BOVON, Das Evangelium nach Lukas II, S. 504.
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
bekanntes Erfahrungsgeschehen zurück, eröffnet jedoch gleichzeitig eine die Erfahrungswelt transzendierende Dimension, wie Thomas Söding weitergehend verdeutlicht: „Die den Menschen auf der Straße ausgerichtete Einladung, am Fest teilzunehmen, macht aus Fremden willkommene Gäste; sie bietet den Menschen von der Straße ein Zuhause; sie verwandelt Isolation in Integration; sie bringt einander unbekannte Menschen zusammen; sie nutzt die Chance zufälliger Begegnungen für die Stiftung endgültiger Gemeinschaft. Das Symbol des Gastmahles ist geeignet, die Faszination der Basileia plastisch werden zu lassen. Diese Faszination liegt nicht nur in der Aussicht auf Essen und Trinken in Hülle und Fülle; sie liegt auch nicht nur in der Aussicht auf die Teilnahme an einem großen Fest; sie liegt vor allem in der Aussicht auf eine Gemeinschaft, die nicht durch die gemeinsame Befriedigung elementarer Lebensbedürfnisse gestiftet wird, sondern durch die gemeinsame Partizipation an der Gnadenfülle Gottes, also kein Zweckbündnis ist, sondern communio sanctorum.“686
Entscheidend ist dabei, dass diese Ladung zum Gastmahl nicht abgeschlossen ist, die Ausführung des Auftrages durch den Knecht bleibt unerwähnt. Die aufmerksame Hörerschaft weiß also: Im Haus des Herrn gibt es noch freie Plätze, die Teilhabe am heilsstiftenden „Freudenfest“ ist noch immer möglich. 687 Allein dies zeigt, dass die vorliegende Gleichniserzählung nicht die bildhafte Entfaltung der Verwerfung der Erstgeladenen anstrebt. 688 Auch geht es ihr nicht darum, zur Identifizierung der jeweiligen Gruppen herauszufordern. Angesprochen ist vielmehr jeder, der wie die Erstgeladenen handelt und sich nicht auf die durch Jesus verkündete, heilvolle Gottesgemeinschaft einlässt. 689 Die große sinnschöpfende Dimension dieser Parabel liegt somit vielmehr darin, dass sie den Menschen in seiner freiheitlichen Entscheidung als aktiven Teilhaber an diesem Heilswerdungsprozess ernst nimmt690 und dadurch zur Transformation der Wirklichkeit beitragen will 691. Anstatt sich, wie die Erstgeladenen 686
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689 690
691
SÖDING, Das Gleichnis vom Festmahl, S. 77 (Hervorhebung im Original). F. Bovon betont zu Recht, dass die „Abendmahls- und Eucharistiefeiern […] das Gastmahl im Gottesreich auf ungeschickte und zugleich doch völlig adäquate Weise vorweg[nehmen] und [es] repräsentieren“ (BOVON, Das Evangelium nach Lukas II, S. 523). Diesen Aspekt erkennt zutreffend ECKEY, Das Lukasevangelium II, S. 663. Eine Engführung der Auslegung liegt nicht nur darin, die Erstgeladenen mit Israel zu assoziieren, sondern auch den Charakter der vorliegenden Gleichniserzählung zu verkennen. Hier geht es, wie auch das obere Zitat von T. Söding sehr schön deutlich macht, ebengerade nicht primär um Ausschluss und Strafe, sondern um Hineinnahme und Heilserfüllung. Dieser letztgültige Wunsch Gottes nach Versöhnung klingt bei Lukas in besonderer Weise auch in der Parabel vom „verlorenen Sohn“ an (vgl. hierzu auch vertiefend V ENETZ, Lob der Unverschämtheit, S. 145–146). So zutreffend VENETZ, Lob der Unverschämtheit, S. 65. Dies wird besonders an der zweiten Entschuldigung in Vers 19 deutlich. Dazu bemerkt J. Ernst: „Die sprachliche Nuancierung verdient Beachtung: vom ‚Muß‘ ist nicht mehr die Rede, nur noch vom freien Willensentschluß.“ (ERNST, Das Evangelium nach Lukas, S. 444). Diese Absicht der lukanischen Parabel betont (ohne Akzentuierung des Freiheitsaspekts) auch BOVON, Das Evangelium nach Lukas II, S. 523. Für H. Weder verweist der Gegensatz
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
145
im Innerweltlichen zu verlieren, dieses absolut und damit die Prioritäten falsch zu setzen, sollen die Zuhörer sensibel für die „Zeichen der Zeit“ sein. 692 Für Lukas, so kann man ergänzen, soll sich diese beginnende und zur Vollendung dringende Gottesherrschaft bereits im „Hier und Jetzt“, in der eigenen sozialen Praxis niederschlagen (vgl. Lk 14, 12–14).693 „Zorn“ ist somit nicht das Leitmotiv oder Thema der vorliegenden Parabel. Wohl eröffnet sie aber in ihrer theologischen Lesart damit verbundene Sinndimensionen: Gottes heilvolle Herrschaft, veranschaulicht im Bild des Freudenfestes, wird sich ungeachtet aller Hindernisse durchsetzen. Wie ein Magnet zieht sie die Menschen, insbesondere die, die in dieser Welt außen vor stehen, an und nimmt sie in diesen Heils- und damit auch Heilungsprozess der Welt hinein. In der lukanischen Version ist der „Zorn Gottes“ nicht mit den klassischen Motiven des Gerichts verbunden. Vielmehr scheint es so, dass er nur kurzzeitig aufscheint und im Zeichen einer noch bedingungsloseren Einladungspraxis sowie liebenden Zuwendung transformiert wird. Dennoch wissen die Hörerinnen und Hörer durch die Verwendung dieser Beziehungsmetapher, dass Gott der Antwort des Menschen auf dieses Heilsangebot nicht gleichgültig gegenübersteht, sondern sie „mit-erleidet“. Insofern hat der hier angesprochene Zorn vor allem auch Anklänge an tiefe Enttäuschung sowie Entrüstung angesichts der Beziehungs- und damit Heilsverweigerung.694 Mit dieser personalen Metaphorik wird also, wie Gustav Stählin grundsätzlich zutreffend andeutete, einer „verletzten Liebe“695 eines mitfühlenden Gottes Ausdruck verliehen. Somit bedarf es des
692 693
694 695
zwischen der Gruppe der Erstgeladenen und der Gruppe der Zweitgeladenen sogar auf „zwei Seiten im Hörer selbst: seine alte Einstellung zur Jenseitigkeit des Freudenmahls und seine neue Einsicht in das, was jetzt an der Zeit ist“ (WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, S. 189; Hervorhebungen im Original). W. Harnisch sieht die Botschaft vor allem im Hinblick „auf eine Alternative im konkreten Umgang mit der Zeit, auf den Verlust oder Gewinn gegenwärtiger Existenz“ (HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 255), Diesen Zug betont besonders auch VENETZ, Lob der Unverschämtheit, S. 64–65. K. Erlemann sieht die Absicht der Parabel sogar ausschließlich in einer „Werbung an jüdische oder judenchristliche Kreise […], die einerseits ihre vergleichsweise gute soziale Stellung nicht aufgeben wollen und sich andererseits aus Gründen der kultischen Reinheit bestimmten Gruppen in der Gemeinde verweigern“ (ERLEMANN, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, S. 186). Siehe hierzu auch R. von Bendemann: „Im Kontext hat das Gleichnis Lk 14,16–24 eine mahnende Funktion; es soll nicht nur dem erzählten jüdischen Auditorium, sondern auch einer christlichen Leserschaft verdeutlichen, dass man sich der Einladung in die eschatologische Mahlgemeinschaft, wie sie sich in der Tischgemeinschaft Jesu bereits manifestiert, nicht widersetzen soll; es will ermuntern, an ihr teilzunehmen, und es will anleiten, eigene Einladungspraxis und Statusfixierung selbstkritisch zu überprüfen.“ (BENDEMANN, Art. Zorn Gottes (NT), 4. (S. 7 in der PDF-Version), online abrufbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/59453/ [Stand: 25.06.2020]). Siehe zudem das obere Zitat von H. Stotzer-Kloo. STÄHLIN, Teilart. ὀργή E. Der Zorn des Menschen und der Zorn Gottes im NT, S. 420 u. 429. Stählin spricht jedoch, ausgehend von den behandelten Gleichniserzählungen, mit Blick
146
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
drohenden Verses 24 eigentlich nicht, um zu begreifen, dass es im Zeichen dieser heilvollen Verwandlung der Wirklichkeit zentral ist, woran der Mensch „sein Herz hängt“ und auf welches gnadenstiftende Beziehungsgeschehen er sich, nicht zuletzt in der gemeinsamen Mahlpraxis, einlässt. Nach dem Gang der Gleichniserzählung weiß man jedoch zugleich: Dieser Gott will das Heil der Menschen, er lässt sich unter keinen Umständen davon abbringen, den Festsaal zu füllen und damit den dynamischen Heilswerdungsprozess zu vollenden. Es liegt also am Menschen selbst, dies zu erkennen und die eigene Freiheit verantwortungsvoll zu nutzen. Gottes „Ja“ zur Gemeinschaft, seine Einladung bleibt bestehen.696
3.3.1.3 „Nur keine Aufregung?“ – Vom Gastmahl im Thomasevangelium (EvThom 64) Zum Abschluss bietet sich noch ein kurzer Blick auf die Überlieferung der Gleichniserzählung vom Gastmahl im Thomasevangelium an: 1 Jesus spricht: Ein Mensch hatte Gäste. Und als er das Mahl bereitet hatte, sandte er seinen Sklaven, damit er die Gäste einlade. 2 Er kam zu dem ersten (und) sprach zu ihm: Mein Herr lädt dich ein. 3 Er sprach: Ich habe Geld(forderungen) gegenüber Kaufleuten. Sie kommen zu mir am Abend. Ich werde gehen (und) ihnen Anweisungen geben. Ich entschuldige mich für das Mahl. 4 Er kam zu einem anderen (und) sprach zu ihm: Mein Herr hat dich eingeladen. 5 Er sprach zu ihm: Ich habe ein Haus gekauft, und man bittet mich für einen Tag. Ich werde keine Zeit haben. 8 Er kam zu einem anderen (und) sprach zu ihm: Mein Herr lädt dich ein. 9 Er sprach zu ihm: Ich habe ein Dorf gekauft. Da ich gehe, die Abgaben zu bekommen, werde ich nicht kommen können. Ich entschuldige mich. 6 Er ging zu einem anderen (und) sprach zu ihm: Mein Herr lädt dich ein. 7 Er sprach zu ihm: auf Jesus Christus weiter gefasst vom „ heiligen[n] Zorn des verschmähten Erbarmens und der verletzten Liebe“(S. 429; Hervorhebung im Original durch Sperrschrift). – Gerade 696
durch die nunmehr skizzierte Auslegung wird erst erahnbar, was den Charakter ebendieser „verletzten Liebe“ ausmacht. Hierzu U. Bechmann und J. Kügler zutreffend: „Die Einladung endet nie, das Mahl bleibt zugänglich und immer und immer noch ist Platz für alle, die kommen und sich beschenken lassen können.“ (BECHMANN/KÜGLER, „Es ist noch Platz!“, S. 63).
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
147
Mein Freund wird heiraten, und ich bin es, der das Mahl bereiten wird. Ich werde nicht kommen können. Ich entschuldige mich für das Mahl. 10 Der Sklave kam und sagte seinem Herrn: Die, die du zum Mahl eingeladen hast, haben sich entschuldigt. 11 Der Herr sprach zu seinem Sklaven: Gehe hinaus auf die Wege. Die, die du finden wirst, bringe mit, damit sie Mahl halten. 12 Die Käufer und die Händler [werden] nicht eingehen zu den Orten meines Vaters. [Übersetzung übernommen aus: HOFFMANN/H EIL (Hrsg.), Die Spruchquelle Q, S. 95 697; Einrückungen durch C.W.]
Die entsprechende Variante des Thomasevangeliums enthält keine explizite Rede über den Zorn des Handlungssouveräns, weswegen sie für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit zunächst weniger relevant erscheint. Ihre erzählerischen Akzentsetzungen können jedoch dabei helfen, das jeweilige Profil der Versionen von Matthäus sowie Lukas schärfer zu sehen. Nicht zuletzt kann es interessant sein, zu ermessen, warum bei Thomas auf das semantisch aufgeladene Motiv des Zornes gänzlich verzichtet wird. Im Vergleich zu den anderen Erzählvarianten fällt bereits zu Beginn der sehr einfache Aufbau der Erzählung ins Auge.698 Sie lässt sich (u. a. nach Wolfgang Harnisch) in drei Szenen gliedern: Während die erste Szene die Einladung des Gastgebers zum Festmahl (V. 1) einleitet, thematisiert die zweite Szene jeweils vier Einzelabsagen der Gäste auf diese durch einen Boten überbrachte Offerte (V. 2–9). Verbindendes Moment ist dabei, dass jeweils auf ökonomische und kommerzielle Beweggründe verwiesen wird. Dies mündet in der dritten Szene, der Einladung von Ersatzgästen und einem Drohwort an die Kaufleute und Händler (V. 10–11).699 Es zeigt sich also, dass bei Thomas die Kritik an der Ökonomie und am Reichtum besonders akzentuiert wird. Die hierin implizierte Mahnung korrespondiert im größeren Erzählkontext mit der im Thomasevangelium deutlich werdenden Auffassung, dass Reichtum den Weg zur tieferen Welt- und Gotteserkenntnis und damit zum Heil versperrt (vgl. auch EvThom 63).700 Im engeren Erzählzusammenhang wird deutlich, dass der „Parabelcharakter“ im Gegensatz zu den anderen Erzählversionen von Lukas und Matthäus nicht eindeutig herausgestellt wird. So fehlen beispielsweise einleitende Worte 697
698 699 700
Die Übersetzung folgt: Schenke, Hans-Martin/Bethge, Hans-Gebhard/Kaiser, Ursula Ulrike (Hrsg.): Nag Hammadi Deutsch. 1. Band: NHC I,1–V,1. Eingeleitet und übersetzt von Mitgliedern des Berliner Arbeitskreises für Koptisch-Gnostische Schriften (= KoptischGnostische Schriften II/GCS NF 8). Berlin/New York 2001, S. 175. – Die von Hoffmann und Heil vollzogene Umstellung der dritten und vierten Entschuldigung wurde beibehalten, um die Parallelen zu den synoptischen Parabeln deutlicher hervortreten zu lassen. Dies betont auch BOVON, Das Evangelium nach Lukas II, S. 506. Vgl. auch HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 240–241. Vgl. SCHOTTROFF, Von der Schwierigkeit zu teilen, S. 602.
148
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
Jesu mit entsprechendem Verweischarakter,701 wobei zumindest die letzte Passage einen weitergehenden Deutungshorizont eröffnet. Dazu Wolfgang Harnisch: „Das Stück trägt zunächst das Gepräge einer Parabel. Aber wie bei der lukanischen Parallele ist der Leser gehalten, der Erzählung einen allegorischen Sinn abzugewinnen. Und wieder wird diese Veränderung der Texteinstellung durch die Schlußsentenz ausgelöst, die sich dem erzählerischen Duktus nur gezwungen einfügt […]. Als Störfaktor wirkt insonderheit die Erwähnung der ,Orte meines Vaters‘. Es handelt sich um ein unmotiviert eingebrachtes Aussageelement das der Ebene des Erzählten fremd bleibt. Gestützt durch den Gesamtzusammenhang des Thomasevangeliums, signalisiert dieser Ausdruck ein gnostisch qualifiziertes Beziehungsgeflecht, in dem der Gleichnisherr zugleich die Rolle eines ,Sohnes‘ übernimmt. Seine Funktion ist die des Offenbarers, denn durch ihn erschließt sich das transmundane Reich des Vaters. Demgegenüber erscheinen die Erstgeladenen als symbolische Repräsentanten weltverstrickter Menschen, die sich dem gnostischen Ruf widersetzen.“ 702
Inwieweit das Thomasevangelium von gnostischen Einflüssen geprägt ist, bleibt sicherlich diskussionswürdig.703 In dieser Vorstellungswelt könnte jedoch eine Erklärung liegen, warum in der vorliegenden Stelle keine Aussage über den Zorn des Gastgebers getätigt wird: Während die jüdische Tradition das Zürnen Gottes als ausdrucksstarke Metapher für dessen Beziehungshandeln kennt, eröffnen sich so Sinnperspektiven auf einen gleichmütigen, nicht von emotionalen Neigungen ergriffenen Gott.704 Das Fehlen dieser Dimension macht jedoch deutlich, dass ein entscheidender Impuls der Erzählversionen von Lukas und Matthäus, ja des jüdisch-christlichen Gottesverständnisses verlorengeht: Auch wenn die Rede vom „Zorn“ des Herrn mitunter bedrohlich, ja fast schon erschreckende Züge enthält, bringt sie doch eine tiefe Anteilnahme zum Ausdruck. „Zorn“ ist eben Ausdruck eines Beziehungsgeschehens, in dem Gott das Gegenüber nicht gleichgültig ist, in dem das Verhalten des Menschen ihn ernsthaft aufrichtig „be-trifft“. Diese personale Redeweise kann als Ausdruck irdischer Unvollkommenheit abgelehnt werden, sie kann aber auch die Tiefe des Geheimnisses der Gottesbeziehung erahnen lassen.
701 702
703 704
Dies betont zutreffend L. Schottroff (ebd.). HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 241 (Hervorhebungen im Original, hier auch bereits die Verwendung einfacher Anführungsstriche). Vgl. hierzu auch kurz LEICHT, „… und er sagte ihm drei Worte“, S. 29. Diesen Aspekt erkennt auch BOVON, Das Evangelium nach Lukas II, S. 506. – Zum gnostischen Gottesbild bemerkt H.-J. Klauck: „Der eigentliche Gott ist [im Verständnis der Gnosis; C.W.] nicht eifersüchtig, nicht zornig, bestraft und bevorzugt nicht willkürlich, droht nicht dauernd damit, Schöpfung und Menschheit wieder zu vernichten. All das tut nur der böse Demiurg [= nach dem gnostischen Verständnis der Schöpfergott der Bibel; C.W.].“ (KLAUCK, Erlösung durch Erkenntnis, S. 27).
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
3.3.2
149
Die Gleichniserzählung vom Gastmahl als Hoffnungsbild – ein Impuls der Wirkungsgeschichte
Die Wirkungsgeschichte der vielseitig überlieferten Parabel vom Gastmahl dokumentiert sich vor allem in Form ihrer Auslegung durch die jeweiligen zeitgenössischen Theologen.705 Immer wieder war es vor allem auch in der matthäischen Variante der Parabel unter anderem das Moment des göttlichen Zorns bzw. seines Vergeltungshandelns, dass den Deutungszugang zum vorliegenden Text bestimmte. Ein diesbezügliches Zeugnis ist die Interpretation bei Johannes Chrysostomus,706 in der die Ausdeutung historischer Ereignisse und ihrer heilsgeschichtlichen Implikationen sich gegenseitig bedingen: „Weil sie [= die Juden; C.W.] sich weigerten, zu erscheinen und sogar die Boten umbrachten, so steckt der Herr ihre Städte in Brand und entsendet seine Heere, um sie zu vernichten. In diesen Worten weissagt Christus, was später unter Vespasian tatsächlich geschah, sowie auch, dass sie durch ihren Unglauben ihm gegenüber auch den Vater erbittert hatten; darum ist es auch er selbst, der strafend gegen sie einschreitet. Die Belagerung erfolgte daher auch nicht unmittelbar, nachdem sie Christus getötet hatten, sondern erst vierzig Jahre später, als sie auch Stephanus gesteinigt, Jakobus umgebracht, die Apostel misshandelt hatten. Gott offenbarte dadurch seine Langmut. Siehst du also, wie ernst seine Drohungen sind, und wie rasch sie sich erfüllen? Brachen doch diese Ereignisse herein, als noch Johannes lebte und viele andere, die Christus noch gekannt hatten; sie, die Ohrenzeugen jener Weissagung gewesen waren, sollten Augenzeugen ihrer Erfüllung sein.“ 707
Die auch aus dieser Deutung abgeleitete These, diese und andere Gleichniserzählungen seien „zum mächtigen Instrument der theologischen Vernichtung des jüdischen Volkes geworden“708, lässt sich jedoch in ihrer Pauschalität nicht aufrechterhalten. Vielmehr noch tendierten einzelne Ausleger dazu, in Mt 22,7 einen Verweis auf jedwedes göttliche Gerichtshandeln an unfolgsamen Menschen zu sehen709 und so die bedrohliche Sinndimension der vorliegenden Erzählung
705
706 707
708 709
Da eine Einzelbehandlung für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit zu weit führt, sei hier auf die nachfolgende Überblicksdarstellung verwiesen: BOVON, Das Evangelium nach Lukas II, S. 516–522; LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 246–249. Hierauf verweisen auch die nachfolgend zitierten Exegetinnen und Exegeten. Johannes Chrysostomus, Kommentar zum Evangelium des hl. Matthäus, Homilie 69 zu Kapitel 22,1–14; hier in der Übersetzung von J. C. BAUR (S. 384–385) aus der Reihe „Bibliothek der Kirchenväter“. Diese ist inzwischen an die neue Rechtschreibung angepasst online abrufbar unter: https://bkv.unifr.ch/works/71/versions/84/divisions/47261 (Stand: 25.06.2020). So SCHOTTROFF, Verheißung für alle Völker, S. 486. Vgl. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 247. Als Autoren nennt Luz unter anderem Hieronymus, Gregor den Großen und Grotius.
150
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
zu verstärken710. Hierin zeigt sich also eine selektive und verkürzende Sichtweise auf die für die Parabel zentrale Zornes- und Gerichtsthematik. Die eigentlich zentrale und lebenstragende Aussage des „Gleichnisses vom Gastmahl“ wird vielmehr in einem Bildstreifen des Codex Aureus Epternacensis aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts n. Chr. verdeutlicht. Als Grundlage dient diesem die lukanische Fassung der Parabel.711
Abbildung 1: „Igelhaar-Meister“: Illustration zum Gleichnis vom Gastmahl (Lk 14,16–24) aus dem Codex Aureus Epternacensis (entstanden in der 1. Hälfte des 11. Jahrhunderts). Buchmalerei auf Pergament, ca. 44 × 31 cm. Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum, Inv.-Nr. Hs 156142, folio 77v. © Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg (Fotostelle). – Hier ist nur der im Bereich des Satzspiegels befindliche Bildteil abgedruckt.
710
711
Zu nennen ist dabei auch die Aufforderung, die Menschen „hineinzuzwingen“ in Lk 14,23c, welche als Argument für Zwangsbekehrungen herangezogen wurde (vgl. hierzu auch SCHOTTROFF, Von der Schwierigkeit zu teilen, S. 602–603; ferner BECHMANN/KÜGLER, „Es ist noch Platz!“, S. 56). Eine ausgezeichnete Bilddeutung findet sich bei: COLLARD-LOMMEL, Das Gleichnis vom großen Gastmahl (Lk 14,13–24), S. 73 u. 75. Die nachfolgende Deutung orientiert sich an dieser.
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
151
Der Betrachter kann in diesem dreiteiligen Bild dem Weg der Armen, die zum Mahl des Herrn geladen sind, folgen. An dessen Ende, hinein in eine fast schon himmlische Sphäre, ist das Gastmahl im oberen Bildteil dargestellt. In einzigartiger Weise gelingt es in diesem Zusammenhang dem Maler, verschiedene Hoffnungsperspektiven der lukanischen Parabel aufscheinen zu lassen: Zunächst verdeutlicht das Bild die einzigartige Anziehungskraft, die von diesem Festereignis ausgeht. – Die Armen mühen sich mit Leibeskräften ab, den Berg hin zum Gastmahl zu erklimmen und trotz ihrer Anstrengungen wirkt es gerade im mittleren Bildteil so, als würden sie gleichzeitig von einer unsichtbaren Kraft in dieses Geschehen hineingezogen werden (vgl. besonders die farbigen Wellen). Fast unweigerlich fühlt man sich so, wie Denise Collard Lommel zutreffend herausstellt, an das Magnifikat erinnert (vgl. Lk 1,52–53).712 Dass sich an dem „Ort“, an den es sie zieht, wahrhaft Heilendes ereignet und so Heilsgeschehen verwirklicht, verdeutlicht dann der obere Bildteil: So gewinnen die Armen nicht nur Anteil an einem festlichen Mahl, zu dem ein Diener bereits die erste Schale trägt, sondern sie erfahren vielmehr noch eine vollendete Gemeinschaft in Form einer persönlichen Annahme durch den Hausherrn, der die Hand eines dieser Ausgeschlossenen umschlossen hat und ihn nahezu an sich zieht. 713 Sensibel, und den Vorbehalt der Gleichnisrede wahrend, handelt es sich hierbei nicht um einen naiven Versuch, Gott bildlich darzustellen. Dementsprechend wird dieser, Lk 14,16 folgend, als „HOMO QUIDAM“ bezeichnet. – Und doch wird göttliche Wirklichkeit einsichtig: Die Speisen (Brot und Fische) und Gegenstände (Goldschalen) „deuten auf den eucharistischen Tisch hin, und darüber hinaus auf die Gemeinschaft im Himmel“ 714. Es sind somit nicht das Gerichtsmotiv und das göttliche Verwerfungshandeln, die die Szenerie bestimmen, sondern eine Heilsperspektive. Vielmehr noch verdeutlicht das Bild etwas Entscheidendes: Am oberen Tisch des Herrn sind noch Plätze frei und der Diener ist kurz davor auszurücken, um diese zu füllen. Die Besitzenden haben sich zwar zuvor selbst die Teilhabe an diesem Heilsereignis genommen, indem sie im Zeichen ihrer Verhaftung im Weltlichen den entgegengesetzten Weg eingeschlagen haben.715 Es zeigt aber auch: Der selbst gewählte Ausschluss ist eine freie Entscheidung und damit nicht endgültig – eine Umkehr (im Bild reicht der Schritt in die andere Richtung aus) ist weiterhin möglich. Wie Denise Collard-Lommel in ihrem Kommentar zutreffend verdeutlicht, laden die Wellen durch ihre bunte Farbgebung fast schon zu einer Rückbesinnung auf diese Heilsoption ein: 712 713 714 715
Vgl. ebd., S. 73 u. 75. Vgl. ebd., S. 73. So die treffende Formulierung Collard-Lommels (ebd.). Vgl. hierzu besonders anschaulich die von oben nach unten gehende Leserichtung der Absagen wie auch die Darstellung der jeweiligen Erstgeladenen. So weisen diese gerade im mittleren Bildteil in die Richtung ihres irdischen Besitzes.
152
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung „Und wenn die armen Reichen weiterhin ahnungslos bleiben sollten, so erinnert der mittelalterliche Maler sie durch die auffälligen merkwürdig nach oben wallenden farbigen Wellen an die unendliche Liebe unseres Gottes, der alle Menschen an sich ziehen möchte. ‚Wenn du die Gabe Gottes kennen würdest ...‘ (Joh 4,10)“ 716.
Dadurch gelingt es dem Maler dieses Bildes, auch ohne Gerichtsdarstellung, die Parabel als Heilszusage und Mahnung vor Augen zu führen. Der „Zorn des Herrn“ ist vor diesem Hintergrund wenn überhaupt nur als liebendes Verletztsein auf die Zurückweisung seines Beziehungsangebots und nicht mehr als dunkles Vergeltungshandeln zu begreifen. In Wahrheit geht es ihm um Versöhnung und Gemeinschaft, ein Impuls, den das Bild in einzigartiger Weise erfahrbar werden lässt. – Die Liebe Gottes ist so, um mit Wilfried Härle zu sprechen, im wahrsten Sinne „gemeinschaftssuchende Liebe“717.
3.4
Der „Zorn Gottes“ in den Gleichniserzählungen Jesu – Zusammenfassung der Analyseergebnisse
Ausgehend von den Ergebnissen der Analysen lassen sich folgende Erkenntnisse formulieren, die jeweils akzentuiert gebündelt und dann erläutert werden: •
Eine metaphorische Lesart der vorliegenden Gleichniserzählungen ist angezeigt.
Gerade bei den vorliegenden „schwierigen“ oder vermeintlich „anstößigen“ Parabeln dominieren heute Ansätze, die sich hauptsächlich auf ihre sozialgeschichtliche Ebene fokussieren und sie davon ausgehend als Kontrasterzählungen zur heilvollen Herrschaft Gottes begreifen. Dieser Ansatz greift, vor allem wenn er als alleiniger Interpretationszugang verabsolutiert wird, zu kurz. Positiv formuliert: Wer die damalige und heutige Rezipienten- und Hörerschaft ernst nimmt, muss anerkennen, dass in den vorliegenden Texten eine durch die ersttestamentliche Tradition und zeitgenössische Umwelt vielschichtig codierte Bildwelt vorliegt, die zu weitergehenden Denkbewegungen nahezu herausfordert.
•
Insbesondere eine theologische Deutung der Bildwelt hilft dabei, neue Tiefendimensionen der heilvollen Botschaft Jesu von der bereits begonnenen und zur Vollendung drängenden Gottesherrschaft zu erkennen. Wie aufgezeigt werden konnte, enthält die Bildwelt vielschichtige Hoffnungsbilder, die den Charakter der Königsherrschaft Gottes plastisch werden lassen. Zu diesen zählt vor allem das erwähnte Festmahl, das die Freude
716 717
So zutreffend Collard-Lommel (ebd., S. 75). HÄRLE, Die Rede von der Liebe und vom Zorn Gottes, S. 353 (Hervorhebung im Original).
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
153
und den heilvollen Charakter der gemeinschaftsstiftenden Herrschaft Gottes verständlicher macht und gleichzeitig die eigene Erfahrungswelt transzendiert. •
Der jeweilige Zorn des Handlungssouveräns lässt sich vor dem Hintergrund der Tradition des Ersten Testaments theologisch begreifen, wenngleich die Rede vom „Zorn Gottes“ nicht das Leitmotiv dieser „Heilserzählungen“ bildet. Die jeweilige zornige Reaktion des Königs oder Herren lässt sich vor dem Hintergrund der Tradition des Ersten Testaments (siehe unten) begreifen. Bei einer theologischen Lesart darf das „Zornesmotiv“ nicht in der Form überbetont werden, dass man den hoffungsvollen Grundton der vorliegenden Erzählungen überhört. So geht es in Mt 18,21–35 vor allem um einen unermesslichen Gnadenakt Gottes, durch den er dem Menschen neues Leben ermöglicht und eine Neugestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen auf der Grundlage von Barmherzigkeit und darin eingeschlossener Vergebungsbereitschaft gegenüber dem Mitmenschen einfordert. Mt 22,1–10 und Lk 14,16–23 zeigen, wie umfassend der Wille Gottes ist, den Menschen, insbesondere den Deklassierten, Anteil an seiner vollendeten Heilsgemeinschaft zu geben und dass ihn nichts davon abbringen kann, das „rauschende Fest“ als Ausdruck heilschaffender Gemeinschaft auszurichten. Kurzum: Es sind Erzählungen von der liebenden Zuwendung Gottes zu den Menschen, deswegen dürfen die jeweiligen Schlusssentenzen (vgl. Mt 18,35; Mt 22,14; Lk 14,24) nicht isoliert betrachtet werden.
•
Die Erwähnung des Zorns ist unerlässlich, um den Charakter der liebenden und fordernden Zuwendung Gottes zu den Menschen angemessen zu begreifen. Könnte man nicht auf die Erwähnung des Zornes, die den jeweiligen Erzählungen scheinbar einen garstigen, dunklen Grundton verleiht, verzichten? Meines Erachtens nicht, da nur sie die Facetten der Hoffnungsbotschaft aufscheinen lässt. So verdeutlicht der Zorn des Königs in Mt 18,34, dass Gott der „lieblosen Verweigerung von Liebe“ 718 nicht gleichgültig gegenübersteht, sondern im Zeichen seines gerechtigkeitsschaffenden Handelns das Unrecht sühnt und hierdurch die Sinnhaftigkeit der gelebten Barmherzigkeit verbürgt. Gerade dadurch wird eingeschärft, dass die neu geschenkte Existenz den Menschen auch dazu befähigt, einen heilvollen Neubeginn zu wagen. Sie soll lebensorientierend und handlungsverändernd sein, ein Zug der auch in Mt 22,11–13 zum Tragen kommt.
718
TÜCK, Der Zorn – die andere Seite der Liebe Gottes, S. 387.
154
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung Der „Zorn“ verdeutlicht so, dass die Hineinnahme des Menschen in diesen neuen Heilszusammenhang ihn in die Verantwortung nimmt und seinen freien Willensentschluss anerkennt, da ebengerade auch die Verweigerung dieser lebenstragenden Option Konsequenzen zeitigt. „Zorn“ und „Gericht“ hängen in diesem Verständnis, wie aufgezeigt, unmittelbar zusammen. Dabei bedienen die behandelnden Parabeln gerade vor dem Hintergrund dieses Kontextes Schreckensbilder – das Handeln der Könige und Herren scheint mitunter weltlichen Despoten um nichts nachzustehen. Die Anstößigkeit einer Rede vom „Weinen und Zähneknirschen“ (Mt 22,13d) und von „Folterknechten“ (Mt 18,34) kann für heutige Leser und Leserinnen nur schwer abgemildert werden. Es sind letztlich unvollkommene Versuche, die Fundamentalität der richtigen Lebensausrichtung in Bezug auf die Botschaft Jesu zu verdeutlichen und zur Verantwortung zu mahnen. 719
•
Die Gleichnisrede vom „Zorn Gottes“ verdeutlicht in einzigartiger Weise, dass es sich nicht um eine Wesensaussage über Gott, sondern um eine Beziehungsaussage handelt720.
Der Mehrwert der Gleichnisrede vom „Zorn Gottes“ liegt vielmehr darin, dass die behandelten Parabeln die heilswirksamen Zusammenhänge nicht abstrakt, sondern am Beispiel von „konkreten“ Menschen, von Königen und Hausherren, Sklaven und geladenen Gästen verdeutlichen. Dadurch wird umso mehr verständlich, dass es sich letztlich um Beziehungsgeschehen handelt. Als Beziehungsmetapher ermöglicht die Rede vom „Zorn Gottes“ nämlich anzudeuten, dass es Gott nicht gleichgültig ist, ob der Mensch die lebensverändernde Kraft seiner heilvollen Herrschaft wirksam werden lässt. Sie komplettiert die Rede von der „Liebe Gottes“, da nunmehr auch Gottes Haltung zum „Nein“ des Menschen, seine tiefe diesbezügliche Entrüstung aussagbar wird.721
719
720
721
Vgl. zu dem hier angesprochenen Zusammenhang auch grundlegend PEMSEL-MAIER, Gericht – Himmel – Hölle – Fegefeuer als Hoffnungsbilder lesen, S. 206–207 u. S. 208. Diesen Aspekt verdeutlichen (ohne Bezugnahme auf die Gleichnisrede) zutreffend HÄRLE, Die Rede von der Liebe und vom Zorn Gottes, S. 348 wie auch TRUMMER, Der „sanfte“ Jesus und der „zornige“ Gott, S. 134; ebenso bereits zuvor G. Stählin: „Auch im NT gibt es kein beziehungsloses Zürnen Gottes, auch hier ist der Zorn nicht ein Zug des göttlichen Wesens […].“ (STÄHLIN, Teilart. ὀργή E. Der Zorn des Menschen und der Zorn Gottes im NT, S. 439. Hierzu W. Härle: „Gottes Zorn ist Reaktion auf die Sünde des Menschen. Gottes Heiligkeit wird durch den Ungehorsam des Menschen verletzt, und darum zürnt Gott. Mehr noch: Es ist gerade Gottes Liebe, die durch die menschliche Sünde verletzt wird und seinen Zorn auf den Plan ruft. Und in Verlängerung und Steigerung dessen betont die heilige Schrift, dass Gottes Langmut und Geduld, mit der er seinen Zorn zurückhält, diesen Zorn sogar noch steigert, wenn und wo die erhoffte Buße des Menschen ausbleibt (Röm 2,4 f; 9,22
3. Der „Zorn Gottes“ – ein Thema der Gleichnisverkündigung Jesu?
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Dieser Zug scheint vor allem in Lk 14,21 auf, da hier auf eine „klassische“ Gerichtsmetaphorik verzichtet wird, wodurch vor allem der Aspekt des „Verletztseins“ Gottes angesichts des „Neins“ der Geladenen aufscheint. 722 •
Liebe und Barmherzigkeit sind hingegen ein inneres Antriebsmoment und damit ein Wesenszug Gottes.723
Während der „Zorn Gottes“ in den vorliegenden Gleichniserzählungen immer als eine Reaktion auf eine Verweigerungshaltung des jeweiligen Gegenübers erkennbar wird, erscheint die liebende Zuwendung ein inneres Antriebsmoment zu sein. Sie findet in den Gleichniserzählungen vom Gastmahl darin Ausdruck, dass sich der jeweilige Handlungssouverän trotz aller Widrigkeiten nicht davon abbringen lässt, das Freudenfest auszurichten. Dies lässt sich nur dadurch erklären, dass es ihm ein inneres Bedürfnis ist. Da die Teilhabe am Fest für die Geladenen zum Heilsereignis wird, ist es nichts anderes als Ausdruck wesenhafter Barmherzigkeit. Letzteres zeigt sich auch im „Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger“ darin, dass er diesem von sich aus und damit unbedingt eine unermessliche Schuld erlässt. •
Die vorliegenden Parabeln fügen sich sinnvoll in die Heilsbotschaft Jesu von der gegenwärtigen und zur Vollendung dringenden Gottesherrschaft ein. Für viele mögen die vorliegenden Parabeln wie ein dunkler Fremdkörper in der hellen Hoffnungsbotschaft Jesu wirken. Gerade die unterschiedlichen Fassungen der Gleichniserzählung vom Festmahl bei Lukas und Matthäus zeigen eine redaktionelle Bearbeitung. Zugleich vertiefen und erläutern aber alle behandelten Texte den Kern des Anliegens Jesu. Sie handeln von
722
723
sowie Mt 18,23–35).“ (H ÄRLE, Die Rede von der Liebe und vom Zorn Gottes, S. 348; Hervorhebungen im Original). Vgl. auch STÄHLIN, Teilart. ὀργή E. Der Zorn des Menschen und der Zorn Gottes im NT, S. 420/429. Siehe für die vorliegenden Gleichniserzählungen auch seine diesbezüglichen, ersten Ansätze einer christologischen wie auch theologischen Deutung auf S. 429. Zum grundsätzlichen Verständnis der Rede vom „Zorn Gottes“ als Ausdruck eines Beziehungsgeschehens siehe zudem PETZEL /RECK (Hrsg.), Von Abba bis Zorn Gottes, S. 200–202. Auch W. Dietz betont diesen fundamentalen Unterschied zwischen der „Liebe Gottes“ und seinem „Zorn“: „Zorn ist in diesem Sinn stets Antwort, nachgängige Heimsuchung, Konsequenz von Abirrung (vgl. Röm 1,18ff). Liebe ist hingegen Gottes erstes und letztes Wort, sein Vorwort zur Existenz des Menschen und der Welt überhaupt. Von daher besteht zwischen Gottes Liebe und seinem Zorn ein ewig ungleiches Verhältnis, eine tiefe Asymmetrie, deren Unausgleichbarkeit im noch andauernden Widerstand des Bösen und der Sünde liegt. Ohne Sünde kein Zorn.“ (DIETZ, Biblische und systematisch-theologische Aspekte, S. 49 bzw. These 8c.) – Zentral ist, dass dieser Zug des Gottesbildes einen tragfähigen Dialog mit einer liberalen islamischen Theologie ermöglicht. Hier sei auf M. Khorchide verwiesen, der die Barmherzigkeit als Wesenseigenschaft Gottes und damit hermeneutischen Schlüssel zu dessen Verständnis stark macht (vgl. hierzu grundlegend KHORCHIDE, Islam ist Barmherzigkeit, S. 37–45).
156
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung der Aufrichtung der Gottesherrschaft und dem Gericht als Teil dieses Heilswerdungsprozesses. Sie eröffnen den Blick auf einen Gott, der unermessliche Schuld erlässt und alle Schritte unternimmt, den Menschen Anteil an heilsgewirkter Gemeinschaft zu geben. Sie zeigen dem Menschen, dass er begründet hoffen darf, an diesem Heilsgeschehen teilzuhaben, mahnen ihn aber auch zur Umkehr bzw. dazu, diese lebensorientierende Heilsoption nicht leichtfertig auszuschlagen. So sind sie Teil einer unermesslichen Freudenbotschaft Jesu an Israel und letztlich all diejenigen, die ihm nachfolgen. Dies konkretisiert sich besonders, wenn man weitergehend auf das Zeugnis der Evangelien vom „Zorn Jesu“ blickt.
4.
Der „zornige Jesus“ – Widerhall des göttlichen Zorns?
4.1
Begründung und Eingrenzung des Untersuchungsbereichs
Der vorliegende Analyseteil geht von der grundlegenden Prämisse aus, dass aus den Reaktionen Jesu, zu denen letztlich auch sein Zorn zählt, theologische Rückschlüsse in Bezug auf den Willen Gottes möglich sind. Dies lässt sich dadurch begründen, dass die Evangelien selbst Jesus Christus als denjenigen verkünden, durch den die heilvolle Gottesherrschaft unmittelbar in diese Welt getreten ist und aufgerichtet wird. Wie im Vergleich von Jesus und Johannes bereits herausgestellt werden konnte, deutet vieles darauf hin, dass Jesus selbst in seinem Auftreten den Anspruch erhoben hat, Gott in einzigartiger Weise zu repräsentieren. Sein Verhalten ist somit niemals Selbstdarstellung, sondern stets Gottesoffenbarung, dies gilt für seine liebende Zuwendung zu den Menschen wie auch für seinen Zorn.724 Daraus ergibt sich zunächst die Frage, woran dieser „Zorn Jesu“ festgemacht werden soll und wodurch dessen eigentliche Tiefendimension erschlossen werden kann. Primär erscheint es sinnvoll, auf Verben und Adjektive in den Evangelientexten zu schauen, die Emotionen Jesu zum Ausdruck bringen. Hierüber hinaus kann aber auch ein Blick auf den erzählerischen Kontext des Handelns 724
Hierzu zutreffend G. Stählin: „Jesu Zürnen ist zunächst ein Zeichen dafür, daß er ein Mensch von Fleisch und Blut war; aber es ist doch nie ein allzumenschliches Zürnen. Es trägt immer etwas von der Art des Zürnens Gottes an sich; das wird vor allem deutlich an dem, worüber und warum Jesus zürnt.“ (STÄHLIN, Teilart. ὀργή E. Der Zorn des Menschen und der Zorn Gottes im NT, S. 428).
4. Der „zornige Jesus“ – Widerhall des göttlichen Zorns?
157
Jesu erfolgen, beispielsweise auf die Art und Weise, wie er im jeweiligen Beziehungsgeschehen verfährt, auf welche Begebenheiten er reagiert und wie drastisch seine Worte sind. Diesbezüglich können insbesondere einzelne Taten und radikale Sprachbilder Rückschlüsse auf eine innere Erregung zulassen. Die oben beschriebenen Aspekte helfen zwar, den „Zorn Jesu“ bzw. den Zorn des einem jeweils in den Evangelien entgegentretenden, für manche Kritiker vielleicht nur noch „literarischen“, Jesus zu erkennen, müssen jedoch in Bezug auf die Ausgangsfragestellung weitergehend ausgewertet werden. Um die theologische Tiefendimension zu erschließen, soll das jeweilige Verhalten Jesu deswegen dahingehend analysiert werden, inwieweit sich Bezugspunkte zur Rede vom Zorn Gottes in der Tradition des Ersten Testamentes und anderen Teilen seiner Botschaft von der heilvollen Herrschaft Gottes eröffnen. So wird auch dem Anspruch der historischen Plausibilität Rechnung getragen. Aufgrund der großen Materialfülle soll ein aspektorientierter Zugriff erfolgen, bei dem einzelne übergeordnete Zusammenhänge, die auf den Zorn Jesu verweisen, systematisiert und zusammengeführt werden.725 Die Endzeitrede Jesu, die bereits im Kontext des Vergleichs zwischen Jesus und Johannes behandelt wurde, wird dabei nicht nochmals eigens analysiert, sie wird jedoch bei der Gesamtinterpretation mit einbezogen.
4.2
Thematische Kontexte des Zornes Jesu
4.2.1
Jesus als Antagonist des Widergöttlichen
Von unmittelbaren Konfrontationen Jesu mit widergöttlichen Mächten zeugen die synoptischen Evangelien vor allem im Zusammenhang mit seinen Dämonenaustreibungen. Diese sind, nach Ansicht der exegetischen Forschung, ein historisches Faktum. Demnach waren sie auch Ansatzpunkt zeitgenössischer Vorwürfe gegen Jesus (vgl. Mk 3,22).726 Zugleich wird, wie bereits aufgezeigt, sein exklusives Selbstverständnis erkennbar (vgl. Lk 11,20). Immer wieder werden so bei den Synoptikern Situationen geschildert, in denen Jesus mit Dämonen bzw. von Dämonen besessenen Personen konfrontiert wird. Das hierin wurzelnde Konfliktpotenzial verdeutlicht bereits die Gestaltung der entsprechenden Szenen. Eine solche Erzählung findet sich beispielsweise im Markusevangelium, das erstmalig eine Dämonenaustreibung Jesu im Kontext 725
726
Siehe hierzu grundlegend ebd., S. 428–430 bzw. TRUMMER, Der „sanfte“ Jesus und der „zornige“ Gott, S. 120–123; weiterführend auch den für die vorliegenden Thematik interessanten Aufsatz von Klaus BERGER: Der „brutale“ Jesus. Gewaltsames in Wirken und Verkündigung Jesu; in: BiKi 51 (3/1996), S. 119–127. Zur differenzierten Auseinandersetzung mit dem Vorwurf in Mk 3,22 und der Historizität der Dämonenaustreibung siehe EBNER, Jesus von Nazaret in seiner Zeit, S. 126–144.
158
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
seiner Verkündigung in einer Synagoge in Kafarnaum erwähnt. Sprachlich unnachahmlich übersetzt diese Fridolin Stier: „Und gleich war da in ihrer Synagoge ein Mensch mit einem unreinen Geist. Und der schrie auf und sagte: ‚Was willst du von uns, Jesus von Nazaret? Du bist gekommen, uns zugrunde zu richten. Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes.‘ Aber Jesus herrschte ihn an und sagte: ‚Verstumme und fahr aus von ihm!‘ Und ihn schüttelnd und mit gewaltigem Heulen aufheulend fuhr der unreine Geist von ihm aus.“ 727 (Mk 1,23–26)
So sehr Jesu zornig entschlossenes Entgegentreten in dieser Stelle vernehmbar ist, so deutlich wird auch, dass es in dieser Erzählung um mehr als nur einen emotionsgeladenen Konflikt geht. Vielmehr scheint im hier beschrieben „Anherrschen“ des Dämons durch Jesus eine Machtfrage ausgehandelt bzw. eine Machtdurchsetzung demonstriert zu werden. Dies wird umso deutlicher, wenn man sich bewusst macht, dass das entsprechende Verb (ἐπιτιμάω) auch im Kontext der Stillung des Seesturms (vgl. Mk 4,39 parr.) verwendet wird.728 Wer hinter diesem Machterweis steht, legt Jesus selbst in Lk 11,20 offen: „Wenn ich aber durch den Finger Gottes die Dämonen hinaustreibe, so ist zu Euch die Herrschaft Gottes gekommen.“
Es ist also Gott selbst, der in den Dämonenaustreibungen wirkt und seine heilvolle Herrschaft durchsetzt. 729 Spiegelt sich im Auftreten Jesu aber auch zugleich eine Form des göttlichen Zorns wider? Zumindest in der alttestamentlichen Tradition, insbesondere den Psalmen, ist ein Zusammenhang zwischen der geforderten Durchsetzung der Herrschaft Gottes und seines Zornes als Zeichen der selbigen präsent. Demgemäß richtet sich der göttliche Zorn vor allem in den Hymnen gegen Widersacher, die die göttliche Weltordnung bedrohen, wodurch der Machtanspruch Gottes betont wird.730 727 728
729
730
So die Übersetzung von F. STIER (Hervorhebungen durch C.W.). Vgl. zur Verwendung des Verbs weiterführend auch GIESEN, Art. ἐπιτιμάω, Sp. 107; ebenso TRUMMER, Der „sanfte“ Jesus und der „zornige“ Gott, S. 120–122 (besonders auch S. 122). Hierzu M. Ebner: „Mit jedem Dämon, der ausgetrieben wird und damit seinen Machtbereich freigibt, wächst der Machtbereich der Gottesherrschaft auf Erden.“ (EBNER, Jesus von Nazaret in seiner Zeit, S. 143). Weiterhin J. Gnilka: „Es muß beachtet werden, daß mit ἐπιτιμᾶν (auch 4,39; 9,25) jenes Wort aufgegriffen ist, das die griechische Bibel für das machtvolle Schelten Jahwes gebraucht. Jesus tritt an die Stelle Jahwes.“ (GNILKA, Das Evangelium nach Markus I, S. 81). Vgl. Jörg JEREMIAS, Der Zorn Gottes im Alten Testament, S. 27. Von diesem Gedanken ausgehend bemerkt Jeremias: „Wenn die Völkerwelt leichtfertig gegen Gott und seine Ordnung einen Aufstand plant (Ps 2), dann trifft sie gleicherweise der Spott des Weltherrschers […] wie sein Zorn (V. 5), in dem er sie auf seinen königlichen Stellvertreter und auf den Zion als Ort seiner Herrschaft verweist. Wenn die Völker diese Ordnung Gottes missachten, trifft sie die tödliche Macht seines Zorns. […] Furchtbar und schreckenerregend
4. Der „zornige Jesus“ – Widerhall des göttlichen Zorns?
159
Auch wenn hierin keine direkte Analogie zu den Dämonenaustreibungen vorliegt, wird doch deutlich, dass die „Zornesmetapher“ Gottes machtvolles Handeln zur Durchsetzung seiner heilvollen Herrschaft zum Ausdruck bringen kann. Insofern erscheint es nur konsequent, dass Jesus als unmittelbarer Repräsentant Gottes, den dämonischen Rivalen – wie auch den anderen „widergöttliche[n] Willensgewalten und -kräfte[n]“731 zornig-entschlossen gegenübertritt. An prominentester Stelle dann, wenn er den Satan in seine Schranken verweist (vgl. z. B. Mt 4,10).732
4.2.2
Identitätsgeheimhaltung, Sendungsverständnis und die Anforderung der Nachfolge
Durchaus zornige Reaktionen Jesu finden sich im Zusammenhang mit Dämonenaustreibungen, vor allem auch dann, wenn er den Dämonen verbietet seine wahre Identität offenzulegen (vgl. Mk 1,24–25). Kompositorisch sind diese Teil des im Markusevangelium vorfindlichen „Messiasgeheimnisses“, dessen historische Ursprünge, literarische Absichten und christologische Implikationen nur schwer zu erfassen sind.733 Für die vorliegende Fragestellung führt dementsprechend eine Auswertung entsprechender Passagen zu weit, zeigt sich doch, dass der Zorn Jesu hier eine untergeordnete Rolle spielt. Letztlich geht es nämlich bei diesem Motivkomplex auch darum, offenzulegen, warum Jesus zu Lebzeiten von einzelnen Gruppen verkannt wurde und darum, der Rezipientenschaft die Bedeutung ihres diesbezüglichen, nachösterlichen Erkenntnisvorsprungs vor Augen zu führen.734 Ein anderer Akzent wird in einer bei Markus geschilderten Auseinandersetzung zwischen Jesus und Petrus deutlich, bei der der weitergehende Konflikt zwischen beiden Protagonisten spürbar wird (vgl. Mk 8,27–33). Im Kern geht es hier um das Leidensschicksal Jesu (vgl. Mk 8,31),735 das Petrus, der zuvor noch im
731 732 733
734
735
ist Gott andernorts primär als der königliche Sieger im urzeitlichen Chaoskampf, in dem er alle Mächte unterwarf, die diese Welt in ihrem Bestand zu bedrohen vermögen (z.B. Ps 89,8ff.). Seine grenzenlose Kraft kam in der Geschichte vor allem am Schilfmeer zum Ausdruck, als die mit ‚Pferd und Wagen‘ modern ausgerüstete Weltmacht Ägypten handlungsunfähig wurde, nur weil Gott seinen Kriegs- und Siegesruf ertönen ließ (Ps 76,7).“ (ebd.). STÄHLIN, Teilart. ὀργή E. Der Zorn des Menschen und der Zorn Gottes im NT, S. 428. Für weitere Beispiele siehe ebd. Vgl. hierzu grundlegend ZELLER, Art. Messiasgeheimnis, online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/51998/ (Stand: 27.06.2020); GNILKA, Das Evangelium nach Markus I, S. 167–170. Für die tiefere Bedeutung siehe die oben angeführten Literaturverweise, besonders auch Unterpunkt 2.5. im Artikel von D. Zeller. Die große Anlehnung an das Motiv des „leidenden Gerechten“ (vgl. besonders auch Ps 34,20) verdeutlicht R. PESCH, Das Markusevangelium II, S. 49–52.
160
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
Christusbekenntnis die Identität seines Lehrers gemutmaßt hatte, nicht akzeptieren will. Bereits diese kurze Zusammenfassung verdeutlicht die erzählerische Verdichtung christologisch relevanter Einzelfragen, so dass die Historizität der vorliegenden Szene oftmals angezweifelt wird.736 Trotzdem ist die Konfrontation, die in einer ungeahnt harschen Zurechtweisung Petri mündet, so hervorstechend, dass eine reine nachträgliche Erfindung mehr als fragwürdig erscheint. 737 Tatsächlich ist der Gang der Episode erstaunlich: In Anlehnung an die Auseinandersetzung bei den Dämonenaustreibungen herrscht Petrus Jesus zunächst an (vgl. auch Mk 1,25; 3,12), um dann seinerseits eine barsche Abfuhr und Zurechtweisung durch Jesus zu erhalten. 738 Wenn nicht bereits diese Szenerie die Anstößigkeit der geschilderten Situation offenlegt, sind es dann die Worte Jesu, die er dem exponierten Jünger nahezu „entgegenschleudert“: „Geh fort, hinter mich, Satanas! Denn im Sinn hast Du nicht Gottes Sache 739, sondern die der Menschen.“ (Mk 8,33e–g)
Die harsche Wortwahl Jesu, die offensichtlich auch Ausdruck tiefer innerer Erregung ist740, erfolgt jedoch nicht willkürlich. Bereits der anfängliche Befehl Jesu an Petrus, hinter ihn zu treten, verdeutlicht dies. In ihm artikuliert sich der Appell, den Jünger zur Nachfolge zu mahnen (vgl. Mk 1,17.20; 8,34).741 Petrus selbst droht vom Glauben abzufallen und in seinem Anliegen, Jesus vom gottgewollten Leidensweg abzubringen, zeigt sich der satanische Versucher (vgl. auch Mt 4,10).742 Der eigentliche „Vertrauensjünger“ wird somit nicht als Vertrauter erfahren. Im Gegenteil, wie Rudolf Pesch zutreffend herausstellt: „Die Anrede Petri als Satan kennzeichnet ihn als Widersacher, Hinderer und Versucher des Gerechten, des Menschensohnes.“ 743 736 737
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742 743
Gegen die Historizität wendet sich beispielsweise R. PESCH (ebd., S. 55). J. Gnilka bemerkt aufgrund dessen, dass es sich um „alte Tradition“ handele (vgl. GNILKA, Das Evangelium nach Markus II, S. 13). Für eine vertiefte Auseinandersetzung siehe auch DINKLER, Petrusbekenntnis und Satanswort, S. 130–132. Dinkler kommt zur Schlussfolgerung, dass im ursprünglich zusammengehörigen Petrusbekenntnis und Satanswort ein historisches „Fragment“ vorliege (vgl. ebd., S. 142, ebenso nachfolgende Anmerkungen). Auf den Kontext der Dämonenaustreibungen verweist auch EBNER, Das Markusevangelium, S. 90. So übersetzt beispielsweise F. STIER. Dem wahrscheinlichen Sinn nahe kommt auch die Übersetzung von J. Gnilka „[…] denn du sinnst nicht auf das Göttliche, sondern das Menschliche.“ (GNILKA, Das Evangelium nach Markus II, S. 10). G. Lohmeyer bemerkt hierzu: „Aber weshalb hier diese furchtbare Anrede an den nächsten Jünger, der eben noch bekannte: Du bist der Gesalbte?“ (L OHMEYER, Das Evangelium des Markus, S. 168). Vgl. hierzu unter anderem die Analyse bei GNILKA, Das Evangelium nach Markus II, S. 17; weiterhin ERNST, Das Evangelium nach Markus, S. 238–239; BÖTTRICH, Petrus, S. 107. Auf diesem Zusammenhang verweisen zutreffend Gnilka (ebd.) und Ernst (ebd., S. 238). R. PESCH, Das Markusevangelium II, S. 54 (Hervorhebung im Original). Als Bezugsstelle im Ersten Testament siehe Ps 55,13–15.
4. Der „zornige Jesus“ – Widerhall des göttlichen Zorns?
161
Negativ richtet sich also der Zorn Jesu dabei gegen das Widergöttliche bzw. die Person, die sein gottgegebenes Schicksal infrage stellt 744, doch liegt darin zugleich eine für den Zuhörer und die Zuhörerin existenziell bedeutsame Botschaft. Zunächst gibt Jesus zu erkennen, was „nachfolgen“ bedeutet. Es schließt die Schicksalsgemeinschaft mit ihm auf seinem Leidensweg ein, wie vor allem die nachfolgenden Verse bei Markus verdeutlichen. 745 Christologische Erkenntnis und eigenes Existenzverständnis durchdringen sich so gegenseitig, wie Josef Ernst in seiner Deutung erläutert: „Mk zeichnet in der ersten Leidensankündigung das Bild des leidenden Gerechten, der sich im Dienen als der Menschensohn ausweist. Macht und Herrlichkeit sind von Jesus als satanische Versuchung zurückgewiesen worden; mehr noch: Wer jetzt schon kurzschlüssig den Strahlenglanz der eschatologischen Vollendung in diese Welt hineinzieht, verkennt die Grundverfassung dieser noch unfertigen Welt. Hier ist eine radikale Besinnung auf das Kreuz als das Gesetz des gegenwärtigen Lebens gefordert.“746
Die vorliegende Episode eröffnet zwar mit der Verwendung der „Menschensohn-Metapher“, den Verweis auf den „leidenden Gerechten“ und auch hiermit verbundene Psalmenanklänge stiften zahlreiche Bezüge zum Ersten Testament. Mit Blick auf die Rede vom „Zorn Gottes“ bleibt es jedoch aufgrund der hier vorliegenden christologischen Zuspitzung der Aussagen schwierig, eine bestimmte Tradition als hervorstechend zu identifizieren. Trotzdem zeigen sich im vorliegenden Zorn Jesu Momente, die sich durchaus mit anderen Teilen seiner Botschaft, in denen der „Zorn Gottes“ thematisiert wird, in Verbindung bringen lassen. So droht Petrus durch seine Weigerung, die Notwendigkeit des Leidensschicksals Jesu anzuerkennen, auch die Anforderungen der Nachfolge zu verfehlen. Ebendieses Moment einer fehlgeleiten Existenzorientierung klingt auch in den behandelten Gleichniserzählungen vom „großen Mahl“ an (vgl. besonders die Analyse zu Mt 22,1–14). Nur bestimmt die vorliegende Erzählung nicht das eschatologische Hoffnungsbild des Festmahles, sondern es werden die Herausforderungen der irdischen Nachfolge fokussiert. Teilhabe am durch Gott geschenkten Heilswerdungsprozess bedeutet insbesondere auch, sich bis zu dessen endgültiger Durchsetzung den leidvollen Verwerfungen der „alten Welt“ zu stellen (vgl. besonders Mk 8,34–35).747 744
745
746 747
Für E. Dinkler ist aufgrund traditions- und redaktionskritischer Überlegungen das Satanswort Jesu ursprünglich als unmittelbare Zurückweisung des Messiasbekenntnisses zu begreifen (vgl. zusammenfassend DINKLER, Petrusbekenntnis und Satanswort, S. 152–153). Auch wenn die Auseinandersetzung dann im Kern um das Verständnis der „Messiasrolle“ Jesu gegangen wäre, ist darin zugleich der tiefere Konflikt um die Frage nach dem Leidensschicksal Jesu bzw. der Notwendigkeit seines Leidens impliziert. Hierauf verweist beispielsweise auch BÖTTRICH, Petrus, S.107; ebenso ERNST, Das Evangelium nach Markus, S. 238–239. ERNST, Das Evangelium nach Markus, S. 239 (hier auch weitergehende Deutungen). Dies wird schon in dem oberen Zitat von J. Ernst deutlich. Zur tiefergehenden Deutung siehe auch GNILKA, Das Evangelium nach Markus II, S. 27–28.
162
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
Dieser Zusammenhang lässt sich durch weitere Stellen entfalten und erweitern: Mt 10,34–11,1.748 Hier verdeutlicht Jesus durch das radikale Bild des Schwertes (vgl. Mt 10,34), dass das ersehnte messianische Friedensreich (vgl. Jes 9,6) gerade noch nicht vollendet ist, sondern die Entscheidung für ihn Bedrohung und Spaltung, sogar bis in die Familien hinein (vgl. 10,35), mit sich bringt.749 Bedeutsam ist, dass Jesus ebengerade keinen Leidensfatalismus forcieren will: „Der sein Leben gefunden hat, verlieren wird er es, und der sein Leben verloren hat um meinetwillen, finden wird er es.“ 750 (vgl. Mt 10,39)
Um „Jesu Willen“ leiden bedeutet nämlich, für die „Sache Jesu“ bis in die letzte Konsequenz einzutreten. Hierzu besonders akzentuiert Walter Klaiber: „Wichtig ist dabei der kleine Zusatz um meinetwillen. Es geht Jesus nicht um Leiden um des Leidens willen, etwa zur Abtötung des eigenen Ichs. Sein Leben um Jesu willen einzusetzen bedeutet, sich mit den Zielen seiner Sendung zu identifizieren, also für die heilende und befreiende Nähe des Gottesreiches einzutreten und die Sache der Armen und Leidenden zur eigenen Sache zu machen.“ 751
Im „Zorn Jesu“ spiegelt sich so der „Zorn Gottes“ wider, wenn die Anforderungen an die eigene Lebensausrichtung, die Fundamentalität der existenziellen Neuorientierung verkannt werden. Die behandelten Gleichniserzählungen Mt 22,1–14 par. Lk 14,16–24 ergänzen das vorliegende düstere Bild der Leidensnachfolge in Bezug auf die lebenstragende Hoffnungsperspektive. Am Ende steht, unter anderem ausgedrückt durch das Bild des Mahles, das „Freudenfest“ einer vollendeten Gemeinschaft mit Gott. Auch wenn die Leidensnachfolge somit nicht zwangsläufig das bestimmende Schicksal darstellt, verdeutlicht diese jedoch, dass irdische Verwerfungen und Tod Teil dieses Heilswerdungsprozesses sein können. Dabei ist ein innerer Zusammenhang zu beachten, der auch bereits in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht angeklungen ist: Durch die Gottesoffenbarung Jesu wird der Mensch in eine Entscheidungssituation gerufen. Die Annahme dieser neuen Gottesbeziehung impliziert zugleich eine liebende Neuorientierung hin zum Mitmenschen,752 durch die der Berufene aktiven Anteil an der heilvollen Durchsetzung der Gottesherrschaft gewinnt. Insofern verwundert es wenig, dass gerade die Verweigerung der „Sache Jesu“, sprich der gelebten Barmherzigkeit, seinen Zorn zur Folge hat. 748
749 750
751 752
Zur Radikalität der von Jesus geforderten Nachfolge siehe auch weiterführend MIGGELBRINK, Der Zorn Gottes, S. 235. Vgl. weiterührend KLAIBER, Das Matthäusevangelium I, S. 214–215. Übersetzung in Anlehnung an das MNT; ähnlich auch POPLUTZ, Eine universale Jesusgeschichte, S. 116. Den Sinn noch etwas akzentuierter erfasst F. STIER mit der Übersetzung: „Wer sein Leben finden will […].“ KLAIBER, Das Matthäusevangelium I, S. 217 (Hervorhebungen im Original). Diesen Aspekt betont in Bezug auf die Gerichtsworte Jesu auch besonders PEMSEL-MAIER, Gericht – Himmel – Hölle – Fegefeuer als Hoffnungsbilder lesen, S. 206–207.
4. Der „zornige Jesus“ – Widerhall des göttlichen Zorns?
4.2.3
163
Die „Sache Jesu“: Existenzielle Neuorientierung in Barmherzigkeit
Für Jesus bilden Gottes- und Nächstenliebe eine unaufhebbare Einheit (vgl. Lk 10,25–29.37), was besonders in der Perikope von der Heilung eines Gelähmten am Sabbat deutlich wird (Mk 3,1–6 parr. Mt 12,9–14; Lk 6,6–11 bzw. 14,1–6).753 Die hier beschriebene Heilung eines Mannes mit lebloser Hand stellt zunächst keine unmittelbare medizinische Notwendigkeit dar. 754 Insofern scheint es Jesus vielmehr darum zu gehen, seiner Zuhörerschaft etwas Grundsätzliches vor Augen zu führen. Dies zeigt vor allem seine an die Umherstehenden gerichtete rhetorische Frage755: „Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder Böses zu tun, ein Leben zu retten oder zu töten?“ 756 (Mk 3,4)
Das Sabbatgebot als Teil der göttlichen Gebote erfährt hierbei eine Neuakzentuierung. Durch „Aufdeckung der humanen Perspektiven des Gottesgebotes“ 757 zeigt Jesus, dass der Dienst am Nächsten zugleich „Gottes-Dienst“ ist. Die Heilung ist, wie Ulrich Luz unnachahmlich formuliert, „ein konkreter Modellfall der Liebe“758. In ihr wird beispielhaft deutlich, was es bedeutet, am Sabbat das Gute, das heißt den Willen Gottes, der im Liebesgebot kulminiert, zu tun. 759 Darin liegt begründet, warum sie unmittelbar erfolgen muss.760 753
754
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756
757
758 759
760
Dieser Gedanke wird für die vorliegende Stelle weitergehend entfaltet bei ERNST, Das Evangelium nach Markus, S. 106–107. Zur Kritik siehe unten. Es betonen nahezu alle Ausleger, dass Jesus die Heilung auch an einem anderen Tag als dem Sabbat hätte durchführen können. Die Situation des Gelähmten bedroht zwar grundsätzlich seine Existenz, ist jedoch nicht so akut lebensbedrohlich, dass sie keine Aufschiebung dulde. In Bezug auf die geschickte sprachliche Gestaltung und die daraus resultierenden Folgen merkt J. Gnilka an: „‚Gutes tun oder Böses tun‘ bildet eine Antithese, die in Parallele steht zu ‚Leben retten oder töten‘. Am Sabbat ein Leben retten, hätten auch die Gegner erlaubt und gefordert. Jesus geht rigoros über ihre Auffassung hinaus, wenn er nicht bloß die gute, helfende Tat dem Lebenretten gleichstellt und damit für den Sabbat erlaubt, sondern auch ihre Unterlassung wie das Lebentöten als böse ansieht.“ (GNILKA, Das Evangelium nach Markus I, S. 127). So übersetzt J. GNILKA (ebd., S. 125). Sprachlich etwas zu radikal heißt es in der revidierten EÜ 2016: „Was ist am Sabbat erlaubt – Gutes zu tun oder Böses, ein Leben zu retten oder es zu vernichten?“ (Hervorhebung durch C.W.). ERNST, Das Evangelium nach Markus, S. 107. – Störend ist bei Ernst jedoch die Abgrenzung des Handelns Jesu vom, wie er es nennt, „jüdischen Gesetzesrigorismus“. Dies verkennt nämlich, dass dem Sabbatgebot von Anfang an eine humane Zielsetzung zugrunde lag. Jesus erfindet diese nicht neu, sondern öffnet seinen Zuhörern erneut die Augen für diese Dimension und hiermit verbundene Notwendigkeiten. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus II, S. 240. Den exemplarischen Charakter betont auch Luz (ebd.) wie auch unter Bezugnahme auf diese Position KLAIBER, Das Matthäusevangelium I, S. 245. So zutreffend KLAIBER, Das Matthäusevangelium I, S. 245.
164
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
Die Weigerung der Anwesenden, diesen Zusammenhang zu begreifen, lässt Jesus nicht unberührt. Der Evangelist Markus schildert ungeahnt heftige Emotionen: „Da blickt er voll Zorn umher – sie an, [tief] traurig über die Starre ihres Herzens 761 […].“ (Mk 3,5ab)
Mit der Klage über die „Verstocktheit des Herzens“ stellt sich Jesus in die Tradition der alttestamentlichen Propheten (vgl. Jer 3,17/7,24/9,13/16,12/18,12/ 23,17; Ps 81,13; Dtn 29,18).762 Durch dieses Sprachbild wird drastisch die größte Form des Unglaubens ausgesagt.763 Die Anklänge an den Propheten Jeremia eröffnen darüber hinaus den größeren Kontext der Rede vom „Zorn Gottes“.764 Bei Paulus wird die „Verstocktheit des Herzens“ dann sogar explizit in Bezug zum göttlichen Gericht gesetzt (vgl. Röm 2,5). Und doch scheint es hier weniger ein „Zorn des eschatologischen Richters“765 zu sein, der in der Gestalt Jesu den Angesprochenen entgegentritt. Vielmehr deutet sich ja an, dass Jesus innerlich betrübt darüber ist, dass diese den Sinn seines Handelns nicht begreifen. In der vorliegenden Erzählung spiegelt sich so eine Gefahr wider, die auch schon in den analysierten Parabeln ins Bild gefasst wurde: Die hier anwesenden Zuhörer Jesu bleiben „herzensblind“, das heißt, innerlich und existenziell von seiner Hoffnungsbotschaft unberührt. Gerade deshalb scheitern sie darin, sich der neuen Heilswirklichkeit der Gottesherrschaft zu öffnen und Anteil am Heilswerdungsprozess dieser Welt zu gewinnen. Diese Erzählung mag nicht dem historischen Jesus zuzuordnen sein 766 und doch verweist sie auf sein Anliegen. Während die Gleichniserzählungen zugleich bereits die Letztkonsequenzen dieser Verfehlung fokussieren, nimmt die Reaktion Jesu in der vorliegenden Perikope die in den Parabeln ebenso relevante, gegenwärtige Entscheidungssituation in den Blick. In seinem Zorn klingen die Folgen dieser fehlgeleiteten Lebensausrichtung bereits an, und doch zeigt seine Trauer, dass die von ihm Getadelten ihm nicht gleichgültig sind. Sie sind in der Dramaturgie der vorliegenden Erzählung für Jesus bzw. für die „Sache Gottes“
761 762 763 764
765
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Im Wortlaut mit F. STIER. Vgl. GNILKA, Das Evangelium nach Markus I, S. 128. So zutreffend Gnilka (ebd.). Vgl. Jörg JEREMIAS, Der Zorn Gottes im Alten Testament, S. 90–94. Jeremias betont, dass kein anderes Buch der Bibel so viele Bezüge zum göttlichen Zorn biete wie das Buch Jeremia. Bei ihm begegnet, wie einzelne der oberen Stellen verdeutlichen, die Rede von der „Verstocktheit des Herzens“ immer dann, wenn das Volk nicht bereit ist, von seinem bösen Tun abzulassen und sich dem Willen Gottes zu öffnen. STÄHLIN, Teilart. ὀργή E. Der Zorn des Menschen und der Zorn Gottes im NT, S. 430 (Hervorhebung im Original durch Sperrschrift, hier aus Gründen der formalen Einheitlichkeit kursiv gekennzeichnet). Zur differenzierten Analyse siehe GNILKA, Das Evangelium nach Markus I, S. 125–126.
4. Der „zornige Jesus“ – Widerhall des göttlichen Zorns?
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eben noch nicht verloren.767 Dabei zielt Jesus primär auf den inneren Wandel der Menschen ab, wie vor allem die bei allen Synoptikern überlieferten „Weherufe“ gegen die Pharisäer verdeutlichen. Exemplarisch kann dies auch am Beispiel des lukanischen Jesus im Kontext eines Essens im Haus eines Pharisäers nachvollzogen werden (vgl. Lk 11,37–54). Auch wenn nicht sicher geklärt werden kann, ob die hier geäußerten Drohworte vom historischen Jesus stammen, bleibt doch die grundsätzliche Auseinandersetzung zwischen ihm und den Pharisäern um die Reinheitsvorschriften (die Jesus hier zum Auftakt des Mahls bewusst ignoriert) historisch höchst wahrscheinlich.768 Für die Leitfrage des vorliegenden Kapitels ist diese Stelle darüber hinaus beachtenswert, da Jesus bereits zu Beginn die Bedeutung der inneren Haltung, der inneren Umkehr für die Gottesbeziehung erhellt und konkretisiert. Konkret wirft Jesus den Pharisäern hier vor, dass ihr äußeres Handeln nicht ihre innere Haltung widerspiegelt (vgl. Lk 11,39),769 ja er ruft sie zu einem inneren Läuterungsprozess auf: „Jedoch, das Innere 770 gebt als Almosen, und siehe, alles ist euch rein!“ 771 (Lk 11,41).
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Ein Fehler ist es oftmals, die Auseinandersetzung Jesu mit den Pharisäern bzw. anderen Autoritäten aus der nachösterlichen und durch die christliche Abspaltung geprägten Perspektive zu begreifen. In der konkreten Situation des irdischen Wirkens Jesu waren es jedoch lebendige, offene Streitgespräche, in denen es um die Frage nach der lebenstragenden Gottesbeziehung ging. Weil sich hierin das Gelingen der eigenen Existenz entschied, ist davon auszugehen, dass Jesus seinen Gesprächspartnern nicht gleichgültig gegenübertreten konnte und versuchte, sie von der Heilsoption der Gottesherrschaft zu überzeugen. So ist G. Stählin zuzustimmen, wenn er bemerkt, dass es sich hierbei um einen „Zorn der Liebe [Jesu handelt; C.W.], die auch die Pharisäer für das Reich der Barmherzigkeit gewinnen will“ (STÄHLIN, Teilart. ὀργή E. Der Zorn des Menschen und der Zorn Gottes im NT, S. 429; weiterhin auch Fußnote 333). Mit ECKEY, Das Lukasevangelium II, S. 552; zur Analyse der Haltung Jesu gegenüber dem Reinheitsgebot siehe THEIßEN /MERZ, Der historische Jesus, S. 326–327. W. Eckey überschreibt das entsprechende Auslegungskapitel etwas flapsig mit den Worten: „Der Hauptvorwurf: Außen hui, innen pfui! “ (ECKEY, Das Lukasevangelium II, S. 552, Hervorhebung im Original). Für W. Eckey spielt dies auf den Inhalt der Gefäße und Schüsseln an, der den Armen zugetragen werden soll (vgl. ebd., S. 553). Für F. Bovon könnte auch das „Innere des Herzens“ gemeint sein (vgl. BOVON, Das Evangelium nach Lukas II, S. 228). Von der Aussageabsicht besteht dabei kein Widerspruch: Jesus fordert den inneren Wandel, die Erneuerung des Herzens der Menschen. Dieser findet Ausdruck in der Barmherzigkeit, dem selbstlosen Beschenken der Bedürftigen. So übersetzt R. PESCH (in Zusammenarbeit mit U. Wilckens und R. Kratz) in: R. PESCH u. a./OSBORNE, Die lebendigste Jesuserzählung, S. 140. Die von ihnen gefundenen Formulierungen sind im Sinne des griechischen Textes und erzählerischen Kontextes für eine tiefere Bedeutung durchlässig, ohne dass diese bereits in die Übersetzung hineingetragen wird.
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
Folgt man dieser Spur im Lukasevangelium, so wird deutlich, dass Jesus den inneren Wandel als Neuorientierung zur Barmherzigkeit hin begreift (vgl. Lk 6,36).772 Diese findet Ausdruck in der Freiheit vom materiellen Besitz bzw. der Verwendung des Besitzes als Mittel zur Wohltätigkeit gegenüber den ihn Bedürfenden (vgl. z. B. Lk 12,33; Apg 9,36/10,2.4.31/24,17; Tob 12,8–9).773 Für Lukas ist der freie und gemeinschaftliche Umgang mit dem irdischen Besitz, das Schenken an Bedürftige, somit ein Anzeichen für das gereinigte Verhältnis zu Gott (vgl. Apg 2,44–45; 4,34–37).774 Die Kontextualisierung dieser Worte Jesu in der zornigen Konfrontation mit den Pharisäern verstellt oft den Blick darauf, dass hier etwas angesprochen wird, was nicht für die Gegner Jesu, sondern primär für die Menschen in seiner Nachfolge relevant ist. Insofern verwundert es nicht, dass der vom Evangelisten Lukas erzählerisch gespannte Bogen erst in der Bekehrung des Zachäus, der seinen Reichtum mit den Armen teilt, endet (vgl. Lk 19,8).775 Der insgesamt von Jesus eröffnete Zusammenhang zwischen radikaler Zuwendung zu den Sündern, seiner Kritik an selbstgerechter Frömmigkeit und der von ihm als unhintergehbar geforderten Gemeinschaft mit den Armen spiegelt sich entscheidender Weise auch in den behandelten Parabeln wider. Zentral ist dabei der von Daniel Kosch herausgestellte Zusammenhang: „Für die religiös, gesellschaftlich oder wirtschaftlich Besitzenden, die Reichen und Einflussreichen ist die Teilhabe an der Herrschaft Gottes nur zu haben, wenn sie bereit sind, ihre eigenen Herrschaftsansprüche aufzugeben und ihren Besitz mit den Armen zu teilen. Die niemanden ausschließende Güte Gottes begegnet ihnen nicht als Erlaubnis, alles so zu lassen, wie es ist, sondern als Forderung. Wer von der Zärtlichkeit Gottes spricht und diese im eigenen Leben zu erfahren hofft, kann selbst nicht hartherzig bleiben [vgl. Mt 18,23–35; C.W.]. Wer das Reich Gottes als großes Gastmahl versteht [vgl. u. a. Lk 14,16–24 par. Mt 22,1–14; C.W.], zu dem unterschiedslos alle zugelassen sind und bei dem niemand hungrig draußen bleibt, darf sich nicht durch eigenes Besitzstreben mitschuldig machen an einer Gesellschaft, in der die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden. Der Zorn des Gottes Jesu gegen Selbstgerechtigkeit, Hartherzigkeit und Reichtum ist nicht Ausdruck seiner Lieblosigkeit, sondern die Kehrseite seiner Solidarität mit den Armen.“ 776
Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Während die Parabeln jeweils bildhaft-metaphorisch auf die existenzielle Neuausrichtung im Zeichen der gegenwärtigen und zur Vollendung dringenden Gottesherrschaft verweisen, ergänzt der „Zorn Jesu“ dies durch seine konkrete Leidenschaftlichkeit. Gleichzeitig wird die dabei innewohnende Verpflichtung des Menschen deutlich, das Verhältnis zum Mitmenschen – insbesondere zu den Ärmsten – im Zeichen gelebter Barmherzigkeit in Richtung göttlicher Heilswirklichkeit zu transzendieren. 772 773 774 775 776
Vgl. zu dieser und nachfolgenden Beobachtungen ECKEY, Das Lukasevangelium II, S. 553. Vgl. ebd. (hier auch die angeführten Bibelverweise). Vgl. ebd. So T. P. Osborne in: R. PESCH u. a./OSBORNE, Die lebendigste Jesuserzählung, S. 141. KOSCH, Zärtlichkeit und Zorn – Der Gott Jesu, S. 52 bzw. grundlegend S. 49–53.
4. Der „zornige Jesus“ – Widerhall des göttlichen Zorns?
4.2.4
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Die Gefahr der widergöttlichen Verführung und das göttliche Gericht
Mit Blick auf die vorangegangenen Analyseergebnisse verwundert es nicht, dass in den synoptischen Evangelien der „zornige Jesus“ seinen Jüngern vor allem auch immer wieder die Gefahr des Glaubensabfalls und hieraus erwachsender Konsequenzen einschärft (vgl. besonders Mk 9,41–48 parr. Mt 18,6–9; Lk 17,1–2). Der innere Zusammenhang zwischen der positiv geforderten Solidarität mit den Deklassierten und der Mahnung, sich nicht vom Bösen verführen zu lassen, ist auch hier immanent. Besonders der Evangelist Matthäus bettet in der Erzählung vom „Rangstreit der Jünger“ entsprechende Warnungen in den größeren Zusammenhang der geforderten Sorge um die Schwachen und Geringen ein (vgl. Mt 18,1–14). Als Auftakt der vorliegenden Szene stellt der matthäische Jesus als „wortloses Gleichnis“777 ein Kind in die Mitte, um seine sich im Streit über ihren potenziellen Status in einem wohl sehr weltlich verstandenen „Reich Gottes“ befindenden Jünger zu belehren. Dies impliziert zunächst, fernab aller romantisierenden Vorstellungen vom „Kindsein“, die sozialrevolutionäre Forderung auf radikalen Statusverzicht (vgl. besonders Mt 18,4).778 Zugleich wird durch den anschließenden Appell zur Aufnahme und Annahme eines schutzlosen und in seiner sozialen Stellung niedrigen Kindes (vgl. Mt 18,5) eine Analogie zum Handeln Gottes hergestellt: „Ein Kind im Namen Jesu aufzunehmen[,] heißt also, zu einem von vielen als unwert angesehenen Leben Ja zu sagen, weil Gott im Namen Jesu gerade zu den Kleinen und Armen Ja sagt (vgl. 5,3; 19,14). Weil sich Jesus mit den Kindern, den Niedrigen und den Armen identifiziert, darum gilt: der nimmt mich auf. Hier leuchtet schon ein Grundsatz auf, der in der großen Erzählung vom Weltgericht entfaltet werden wird: ‚Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan‘ (25,40).“ 779
Matthäus macht hierdurch den präsentischen wie auch eschatologischen Zusammenhang780 zwischen innerer Neuorientierung, liebender Annahme der 777 778
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KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 34. Das Bild des Kindes wird oftmals mit dem Bild der Unmündigkeit und damit radikalen Angewiesenheit auf Gott in Verbindung gebracht. Dies greift jedoch zu kurz: „Da Kinder in der Antike von den Erwachsenen her definiert wurden, somit als ‚unfertige Erwachsene‘ auf einer niedrigeren Stufe angesiedelt waren, ist dieses Beispiel revolutionärer, als es heutigen Leserinnen und Lesern bewusst sein mag. Jesus buchstabiert dies so aus: Sich von den geltenden Maßstäben zu lösen – sich ‚umzuwenden‘ und zu erniedrigen, um ‚wie ein Kind zu werden‘, bedeutet den radikalen Verzicht auf Macht, Recht und Status. Genau darin zeigt sich die wahre Größe in der Gemeinschaft Jesu.“ (POPLUTZ, Eine universale Jesusgeschichte, S. 185; Hervorhebungen im Original). KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 36 (Hervorhebungen im Original). Vgl. hierzu die entsprechenden Analysekapitel B 2.2.3 und 2.2.4 m Kontext des Vergleichs zwischen Jesus und Johannes.
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
Geringsten und dem Letztbezug zur heilschaffenden Vollendung der Gottesherrschaft im Gericht einsichtig. Deswegen darf man die dann folgenden Warnungen vor der Verführung zum Bösen (vgl. Mt 18,6–9) nicht davon isoliert betrachten. Letztere werden insbesondere bei den Synoptikern in drastischen Worten Jesu ausgemalt, markant ist in diesem Zusammenhang das Wort vom Mühlstein: „Und wer einem dieser Kleinen, die glauben, Ärgernis gibt, viel besser wäre es für ihn, ihm wäre ein Eselsmühlstein umgehängt und er würde ins Meer geworfen.“ 781 (Mk 9,42 parr. Mt 18,6; Lk 17,2).
Folgt man der exegetischen Forschung sind mit den „Kleinen, die glauben“ in der markinischen Endgestalt dieses Jesusspruchs wohl am ehesten die „Geringen und Unterprivilegierten in der Gemeinde“782 bzw. die hier „sozial Niedriggestellte[n]“783 gemeint. Möglich ist aber auch eine weitergefasste Lesart, wie Ulrich Luz sie für das Matthäusevangelium favorisiert: „‚Kleine‘ sind alle matthäischen Christ/innen, sofern sie diese Bedeutungslosigkeit [aus Sicht der Welt; C.W.] bejahen und sie als Demut und Liebe praktizieren.“784. Ähnlich offen und je nach kontextuellen Bezügen unterschiedlich zu deuten ist auch, welches Fehlverhalten gegenüber diesem Personenkreis konkret gemeint ist: Geht es darum, sie nicht zum Glaubensabfall zu verführen785 oder diese zu „skandalisieren“, indem man ihnen auch in der Gemeinde gemäß ihrem sozialen Rang einen geringeren Status zuspricht786? In jedem Fall ist dann ein Verhalten in den Blick genommen, durch das man sie aktiv von der Teilhabe an der heilschaffenden und damit einzig lebenstragenden Wirklichkeit der Gottesherrschaft ausgrenzt.787 Dabei fokussieren die weiteren drastischen Worte Jesu, sich zum Bösen verleitender Körperteile zu entledigen (vgl. Mk 9,43–48 wie auch Mt 18,8–9), die Forderung, nicht selbst in Versuchung zu geraten. In der Gesamtheit verdeutlicht Jesus durch seine zornige Verkündigung, dass man für sich selbst und für den Mitmenschen verantwortlich ist. 788 Mit drastischen Bildern von Gericht und
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Übersetzung (unter kleinen syntaktischen Umstellungen) im Wortlaut mit GNILKA, Das Evangelium nach Markus II, S. 62. Ähnlich übersetzt auch F. STIER. GNILKA, Das Evangelium nach Markus II, S. 64. Eine mögliche Bezugsstelle ist Mk 4,17. EBNER, Das Markusevangelium, S. 104. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 21. So unter anderem GNILKA, Das Evangelium nach Markus II, S. 64. So EBNER, Das Markusevangelium, S. 104. Bezugspunkt ist hierbei der Grundsatz vom Dienen (vgl. Mk 9,37). Zu Übersetzungsproblemen der Wörter σκανδαλίζειν sowie σκάνδαλον siehe die Überlegungen bei LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 19. Luz weist darauf hin, dass der vorliegende Wortstamm vor allem auch etwas impliziert, das „das Leben eines Menschen oder des Gottesvolkes zerstört“ (ebd.). Als Bezugsstellen nennt er unter anderem Jos 23,12f; Ri 2,3 und Hos 4,17. Vgl. auch die Deutung bei KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 39.
4. Der „zornige Jesus“ – Widerhall des göttlichen Zorns?
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(Höllen-)Strafe (vgl. besonders Mk 9,47–49)789 macht er schmerzvoll deutlich, welche Gefahr erwächst, wenn die Beziehung des Nächsten wie auch die eigene Beziehung zu Gott bedroht ist.790 Diese unheilschwangeren Vorstellungen (besonders Mk 9,43) scheinen nicht recht zum sanften Jesus zu passen, doch dürften sie ihm zumindest nicht fremd gewesen sein. Niemand anderes als Johannes der Täufer selbst war es, der ähnliche Bilder von göttlichem Zorn und vernichtendem Feuer aufgriff, um die Notwendigkeit der Umkehr zu verdeutlichen. Jesus, als wahrscheinlicher Anhänger des Täuferkreises, partizipierte an dieser Vorstellungswelt. 791 So verkündet dann auch an anderer Stelle der lukanische Jesus in aller Entschiedenheit: „Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen!“ 792 (Lk 12,49)
Jesus greift so, in Analogie zu Johannes dem Täufer, das eschatologische Bild des göttlichen Gerichts auf, das er zugleich auf sich bezieht, um sein Sendungsverständnis793 zu akzentuieren: „Johannes der Täufer hat den ‚Stärkeren‘ als Feuertäufer angekündigt, der das Endgericht damit vollzieht, daß er in der Kraft des Gottesgeistes das Gottesvolk definitiv reinigt und erneuert (3,16). Jesus hat sich mit diesem Feuertäufer identifiziert und sein Erdenwirken als Entfachung des Gerichtsfeuers verstanden. Und zwar so, daß sich bei seinem und seiner Boten Zug […] an der Entscheidung für ihn die Teilhabe
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Zum im Weiteren verwendeten Begriff „Gehenna“ (vgl. Mk 9,45) bemerkt J. Gnilka: „Ort der Strafe ist die Gehenna oder – im Anschluß an Jes 66,24 – das unauslöschliche Feuer (vgl. die Täuferpredigt Mt 3,12 par). Der Name Gehenna rührt her vom Tal der Söhne Hinnoms südlich von Jerusalem […]. Zur Zeit der Könige Ahas und Manasse geriet es in Verruf, weil man dort dem Moloch Kinder opferte, Söhne und Töchter ‚durch das Feuer führte‘ (2Kön 23,10; vgl. 16,3; 21,6). Der Profet [sic!] Jeremia verfluchte es (Jer 7,32ff; 19,6). Im Anschluß an diese Vorgeschichte entwickelte sich im apokalyptischen Judentum die Erwartung, daß in dieser ‚verfluchten Schlucht‘ (äthHen 27,1) das endzeitliche Strafgericht stattfinden und das höllische Feuer aufbrechen wird […]. Die Spruchtrias wird abgeschlossen mit einem Zitat aus Jes 66,24, das sich schon beim Profeten [sic!] auf das Gericht im Hinnomtal bezieht. Der nicht sterbende Wurm und das nicht erlöschende Feuer meinen praktisch die Vernichtung. Der Wurm steht für die Verwesung, die – wie das Feuer – vom Menschen empfunden wird. Bei Tritojesaja ist das Gericht erstmalig nicht als einmaliger Akt gefaßt, sondern als ewiger Zustand, als ewige Verdammnis. […] Die Vorstellung von Wurm und Feuer setzt sich im Judentum durch, und Markus kann auf sie zurückgreifen […].“ (GNILKA, Das Evangelium nach Markus II, S. 65–66). Vgl. besonders auch die Deutung bei KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 39. Hier sei auf das entsprechende Analysekapitel B.2.2.1 verwiesen. Dort werden auch einzelne Positionen ausgewiesen. Hier im Wortlaut der revidierten EÜ 2016, da die Dramatik der Worte Jesu sehr schön zum Ausdruck gebracht wird. – Vom griechischen Text her genauer übersetzt das MNT: „Feuer kam ich zu werfen auf die Erde, und was will ich, wenn (nicht), (dass) es schon angezündet wäre.“ Vgl. auch das vorangegangene Analysekapitel B.4.2.2.
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung an der heilsamen Gottesgemeinschaft im endzeitliehen Gottesvolk und an der Entscheidung gegen ihn das Verderben in der Gottesferne ereignet. Der in Jesu Erdenwirken von Gott angefachte Brand (49b, vermutlich Passivum divinum) zur Reinigung des Gottesvolkes erfaßt auch ihn selbst.“ 794
Dabei ist der Grund für diese Worte bei beiden entscheidender Weise nicht der Wille, einen dem Menschen feindlichen Gott zu verkünden.795 Vielmehr wissen sie darum, dass, wenn die eigene oder die Beziehung der Mitmenschen zu Gott vom Scheitern bedroht ist, es im wahrsten Sinne des Wortes um alles geht. 796 Insofern sind ihre Mahnung und Warnung nichts anderes als Ausdruck der inneren Sorge um die Mitmenschen. Zutreffend bemerkt Sabine Pemsel-Maier zu der grundsätzlichen Funktion der Rede von „Hölle“ und „ewiger Verdammnis“: „Die Rede von der Hölle stellt gewissermaßen die Kehrseite der Heilsbotschaft, den Gegenpol zur Hoffnung auf den Himmel dar. Damit bringt sie zum Ausdruck, dass es für den Menschen tatsächlich um ‚alles oder nichts‘ geht: Heil oder Unheil, Gerettet werden oder Zugrundegehen. Gelingen oder Scheitern menschlichen Lebens und menschlicher Zukunft steht auf dem Spiel. Nicht eine Beschreibung des Jenseits ist das Ziel solcher Rede, sondern der Aufruf zur Entscheidung im Diesseits, zu Glaube und Umkehr. In diesem Sinne haben die neutestamentlichen Höllenworte nicht informativen, sondern aufrüttelnden Charakter. Sie erteilen keine Auskunft über das künftige Schicksal, sondern nehmen den Menschen hier und jetzt in die Pflicht und stellen ihn in eine unbedingte Verantwortung hinein. Die Hölle ist als Möglichkeit in der Freiheit des Menschen angelegt und zugleich mit ihr gegeben.“797
Das zornige Handeln und die Gerichtsverkündigung Jesu sind also, wie sich als roter Faden der Analyse abzeichnet, von dem Impuls geleitet, den Menschen für diese Gottesbeziehung zu öffnen, widerstreitende Momente zu bekämpfen und dadurch eine existenzielle Neuorientierung zu ermöglichen. In Analogie zur alttestamentlichen Rede vom „Zorn Gottes“ bringt Jesus durch seinen Zorn zum Ausdruck, „was Gott in seiner Zuwendung zur Welt und zu Israel nicht will“ 798. So sind die impliziten Verweise auf den „Zorn Gottes“ auch bei ihm ein vehementer Einspruch gegen die Sünde, die letztlich den Menschen von Gott und damit von sich selbst sowie seiner Berufung entfremdet.799 Klaus Berger vergleicht deswegen Jesus zutreffend mit einem Arzt, der in seinen Gerichtsworten die Mitmenschen auf ihre gegenwärtige Situation hinweise, weil 794 795 796 797
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ECKEY, Das Lukasevangelium II; S. 609 (Hervorhebung im Original). Mit BERGER, Der „brutale“ Jesus, S. 126. Nach W. Klaibers Deutung zu Mt 18,6–9 (vgl. KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 39). PEMSEL-MAIER, Gericht – Himmel – Hölle – Fegefeuer als Hoffnungsbilder lesen, S. 208; vgl. für die Gerichtsbotschaft Jesu auch BERGER, Der „brutale“ Jesus, S. 126. JANOWSKI, Ein Gott, der straft und tötet?, S. 172 (Hervorhebung im Original). Hier bezieht sich Janowski jedoch auf die alttestamentliche Rede vom Zorn Gottes. So Janowski (ebd.). Er erläutert diese Aussage nachfolgend durch ein Zitat von J.-H. Tück (vgl. dazu die Verweise im Einleitungskapitel).
4. Der „zornige Jesus“ – Widerhall des göttlichen Zorns?
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er auf die Lebensbedrohlichkeit der existenziellen Verfehlung aufmerksam machen möchte.800 In dieser Perspektive werden auch die weiteren drastischen Androhungen des göttlichen Gerichts durch Jesus, beispielsweise gegen die gleichgültigen Städte in Galiläa (vgl. Mt 11,20–24 par. Lk 10,12–15)801 wie auch gegen die Pharisäer (besonders pointiert Mt 12,34–37)802 verständlich. Positiv gewendet: Jesu „Herzensanliegen“ ist es, die Menschen mit Gott zu versöhnen und die unverstellte Gottesbeziehung zu ermöglichen. Dementsprechend klingen, wenn sich Menschen seiner Botschaft von der Gottesherrschaft verweigern, auch Zorn, tiefe Enttäuschung und Trauer mit. Auch sie zeugen aber von ernsthaftem Mitgefühl und sind so Teil seiner engagierten Liebe.
4.2.5
„Ausklang in Jerusalem“ – Die Tempelreinigung
Jesu vehementes Eintreten gegen die Mächte, die die Gottesbeziehung verstellen, wird vor allem in den biblischen Erzählungen der „Tempelreinigung“ deutlich. Diese hat auch eine reiche Wirkungsgeschichte in der bildenden Kunst. Besonders drastisch ist beispielsweise die Darstellung in einem Fresko Giotto die Bondones zu Beginn des 14. Jahrhunderts, in der es auf einen ersten Blick fast so scheint, als habe Jesus die geballte Faust zum Schlag erhoben. Auch Rembrandt präsentiert dem Betrachter, sichtlich von der johanneischen Fassung dieser Erzählung inspiriert (vgl. Joh 2,13–16), einen zornig dreinschauenden Jesus, der
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Vgl. BERGER, Der „brutale“ Jesus, S. 126. F. Bovon folgert zutreffend, dass insbesondere in den Drohworten gegen Kafarnaum „Gefühlsbewegung, Trauer, enttäuschte Liebe“ deutlich werden (vgl. BOVON, Das Evangelium nach Lukas II, S. 56; hier auch wörtliches Zitat). Dabei ist bei der Erzählgestaltung vor allem entscheidend, dass die hier geäußerten Worte Jesu zwar wie ein Verdikt klingen, sein Wirken und Werben für die neue Gottesbeziehung in Galiläa aber nicht enden: Umkehr und Neuorientierung sind weiterhin möglich (vgl. KLAIBER, Das Matthäusevangelium I, S. 233). Auch wenn Jesus die Pharisäer hier in Anklang an die Worte Johannes des Täufers als „Schlangenbrut“ angreift (vgl. Mt 3,7c), um vor ihrer grundlegenden Bösartigkeit zu warnen (vgl. SCHWEIZER, Das Evangelium nach Matthäus, S. 187), dürfen diese Worte nicht isoliert betrachtet werden. Zunächst ist entscheidend, dass die Hoffnungsbotschaft von Mt 12,28 im Hintergrund steht: Die Unheil schaffende Kraft des Bösen wird zunehmend schwinden, die heilschaffende Herrschaft Gottes wirkt befreiend in die gegenwärtige Not der von Sünde bedrohten Menschen hinein (so zutreffend KLAIBER, Das Matthäusevangelium I, S. 252, 255). Gleichzeitig ist in diesen Worten Jesu wiederum die Entscheidungssituation präsent: „Entsprechend dem eigenen Verhalten in Bezug auf Jesu Vollmacht, die in seinem Wirken sichtbar und erfahrbar wird, wird man selbst gerichtet oder gerechtfertigt werden.“ (POPLUTZ, Eine universale Jesusgeschichte, S. 135). Es geht also auch hier im Kern darum, sich für die heilschaffende Option der Gottesherrschaft zu öffnen und diese anzunehmen.
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
mit aller Härte (und ebenfalls einer Geißel in der Hand) den Händlern und Geldwechslern entgegentritt.803 Weniger emotional aufgeladen erscheinen da die „Berichte“ der Synoptiker (vgl. Mt 21,12–17; Mk 11,15–19; Lk 19,45–48), in denen lediglich das Hinaustreiben der Händler und Umstoßen der Tische der Geldwechsler und Taubenverkäufer erwähnt wird. Es wäre also falsch, hier von einer wutentbrannten Kurzschlussreaktion Jesu auszugehen, denn dafür ist sein Handeln zu zielgerichtet und der gewählte Ort theologisch zu bedeutsam. Vielmehr betont man in der exegetischen Forschung deswegen, dass der historische Kern dieser Erzählung(en) vor allem in einer gezielten „prophetischen Zeichenhandlung“ Jesu bestand. 804 Je nachdem, welche Einzelkriterien man für die Erfüllung dieses Handlungstyps aufstellt, bleibt es fraglich, ob diese Aktion Jesu als solche zu klassifizieren ist. 805 Zentral ist hierfür, dass Jesus sein symbolisch aufgeladenes Handeln mit Hilfe eines theologischen Bezugs interpretiert (siehe unten). 806 Bei Matthäus wird dies noch dadurch hervorgehoben, dass das Volk Jesus zuvor als Propheten charakterisiert hat (vgl. Mt 21,11).807 In der Zusammenschau weist also das erzählerische Arrangement über ein spontan-situatives Handeln Jesu hinaus und sein Tun gewinnt grundlegenden Offenbarungscharakter. Somit geht es weniger darum, ein Missfallen des Gottessohnes auszudrücken, als vielmehr durch sein Wirken positiv auf den Willen Gottes zu verweisen. Man könnte mit Blick auf die prophetische Tradition festhalten: Das geschilderte Handeln Jesu konfrontiert die Zuhörerinnen und Zuhörer unmittelbar mit Gott. Worin jedoch die eigentliche Kritik am Tempel zu sehen ist und wie fundamental diese angelegt ist, bleibt schwierig zu ermessen. 808 Verständnishinweise
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Beide Bilder sind online abrufbar. Genauere Angaben sind dem Literaturverzeichnis zu entnehmen. Vgl. z. B. HOPPE, Jesus von Nazaret, S. 152; ebenso POPLUTZ, Eine universale Jesusgeschichte, S. 211. Als Kriterien zur Klassifizierung von „Zeichenhandlungen“ im AT benennt J. Krispenz (unter anderem): „Im Zentrum des Berichtes steht eine Handlung, die der Prophet durchführt und die sich nicht als sinnvolle, zweckorientierte Handlung in den situativen Kontext einfügt. Die Handlung weist vielmehr über sich hinaus und inszeniert eine Botschaft an die Zuschauer der Handlung oder an die Leser des Berichtes von der Zeichenhandlung.“ (KRISPENZ, Art. Zeichenhandlung, 2. bzw. S. 3 in der PDF-Version, online abrufbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/de/stichwort/35274/ [Stand: 25.06.2020]). Vgl. POPLUTZ, Eine universale Jesusgeschichte, S. 211. Vgl. ebd. Hierzu beispielsweise J. Gnilka: „Beabsichtigt sie die Wiederherstellung des korrumpierten Tempelkultes? Ist sie Ausdruck der Erwartung, daß ein neuer Tempel entstehen soll, wie es apokalyptischer Hoffnung entspricht […]?“ (GNILKA, Das Evangelium nach Markus II, S. 128).
4. Der „zornige Jesus“ – Widerhall des göttlichen Zorns?
173
ergeben sich jedoch daraus, dass Jesus, unter Verweis auf die Schrift, seine Lehre an Zitate der Propheten Jesaja und Jeremia anlehnt: „Mein Haus soll ein Bethaus für alle Völker gerufen werden [vgl. Jes 56,7; C.W.]. Ihr aber habt es zu einer Räuberhöhle gemacht [vgl. Jer 7,11; C.W.].“809 (Mk 11,17d–e)
Diesbezüglich bemerkt Joachim Gnilka, der durch eine redaktionelle Bearbeitung vom Evangelisten Markus ausgeht: „Die freie Ausgestaltung des zweiten Zitats [vgl. Jer 7,11; C.W.] legt den Nachdruck auf dieses, wie das Ganze zu einer einheitlichen Aussage wird, die die positive und negative Funktion des Tempels umschreibt. Im antithetischen Parallelismus stehen Gebetshaus für alle Völker und Räuberhöhle, göttliche Zielsetzung und menschliches Versagen einander gegenüber.“ 810
Der vom markinischen Jesus gewählte Verweis auf den Propheten Jeremia ist insofern interessant, als dieser als einer der profiliertesten Künder des „Zornes Gottes“ gilt. 811 Der Zorn Jesu richtet sich bei der Tempelreinigung, wie besonders auch bei Matthäus deutlich wird, am ehesten wohl gegen die Entweihung des Tempels durch eine „Kommerzialisierung des Opferbetriebs“812, also dessen Missbrauch für Gewinnmaximierung und geschäftliches Treiben.813 Positiv bestimmt soll dieser vielmehr ein Ort der Gottesbegegnung im Gebet sein.814 Mt 21,15–17 führt diesen Gedanken noch weiter aus. So beginnt Jesus hier in der Folge Blinde und Lahme zu heilen. Gottesbegegnung schließt begreiflicherweise ein, dass Menschen ganzheitliche Annahme erfahren815 – gerade Jesus
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So die Übersetzung F. STIERS. GNILKA, Das Evangelium nach Markus II, S. 129. – Selbst wenn man eine redaktionelle Bearbeitung vermutet, ist es nicht gleichbedeutend damit, dass entsprechende prophetische Verweise nicht sinnvoll für den historischen Jesus angenommen werden können. Gerade mit Blick auf die theologische Bedeutsamkeit des Tempels kann, meines Erachtens, vermutet werden, dass Jesus sich hier bewusst auf die prophetische Tradition bezog, um davon ausgehend sein Verständnis von der Gottesherrschaft zu profilieren. Vgl. Jörg JEREMIAS, Der Zorn Gottes im Alten Testament, S. 90–94. KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 98. So ebd. Vgl. ebd., S. 98–99 – Klaiber verweist zuvor auch darauf, dass Matthäus den letzten Teil des Jesajazitats („für alle Völker“) wahrscheinlich weggelassen hat, da der Tempel inzwischen zerstört wurde und damit die Vision einer Völkerwallfahrt zum Zion nicht mehr angemessen sei (vgl. ebd., S. 97). Vgl. dazu beispielsweise Benedikt XVI. in seinem Angelus-Gebet: „Wohin Jesus kommt, dort bringt der Schöpfergeist Leben, und die Menschen sind von den Krankheiten des Leibes und des Geistes geheilt. Die Herrschaft Gottes offenbart sich also in der ganzheitlichen Heilung des Menschen.“ (BENEDIKT XVI., Angelus [27. Januar 2008], online abrufbar unter: http://www.vatican.va/content/benedict-xvi/de/angelus/2008/documents/hf_benxvi_ang_20080127.html [Stand: 25.06.2020]).
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B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
begreift seine Wunder „als erfahrbare Realisierung der Solidarität Gottes mit Welt und Mensch und der beginnenden Aufrichtung seiner Herrschaft“816. An dieser Stelle wird, wie Walter Klaiber zutreffend betont, die in Mt 9,13 und 12,7 formulierte Maxime „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“ (vgl. auch Hos 6,6) unmittelbar verständlich. 817 Zusammenfassend bemerkt er deswegen zum Verständnis der matthäischen Erzählfassung: „Jesus ‚reinigt‘ nicht den Tempel, er schafft Platz: Platz für heilendes Handeln, Platz für das Lob Gottes, Platz für Barmherzigkeit anstelle des Opferbetriebs. Ob Jesus den Opferkult grundsätzlich in Frage gestellt hat, bleibt offen. Aber er warnt vor Gefahren! Es geht nicht um die Entweihung des heiligen Raumes, sondern um seine Befreiung für Menschen in Not.“818
In der „Tempelreinigung“ Jesu hallt somit nicht nur der göttliche Zorn wider, sondern Gottes unumstößlicher Wille, dem Menschen Anteil an einer neuen Form der Beziehung und einem darin wirksam werdenden ganzheitlichen Heilswerdungsprozess zu geben. Daher ist die vorliegende Episode zugleich auch Ausdruck eines einzigartigen Selbstverständnisses Jesu 819 bzw. der durch ihn eröffneten Gottesoffenbarung. Diese erzählerische Akzentsetzung wird bei dem Evangelisten Johannes noch verstärkt, bei dem Jesus im Kontext der Tempelreinigung zudem die Drohung vom Niederreißen und Wiederaufrichten des Tempels ausspricht (vgl. Joh 2,19). So fraglich es ist, ob man dieses Logion überhaupt Jesu zusprechen kann,820 so schwierig bleibt auch sein angemessenes Verständnis: Wird hierdurch auf die Auferweckung Jesu Christi von den Toten, der an die Stelle des Tempels tritt, verwiesen821? Verdeutlicht es einen „messianischen Anspruch“822? Soll hier die Vollmacht Jesu, den für die endzeitliche Heilszeit erwarteten Tempel Gottes aufzurichten, verdeutlicht werden823? Unumstößlich zeigt sich am ehesten der Anspruch Jesu, Neuorientierung zu bewirken. Wie sich der Zorn Jesu gegen die aktuellen Strukturen des Tempelbetriebs richtete, so eröffnet diese Aussage die Perspektive auf einen Neubeginn im Zeichen der eschatologischen Heilswende. Zorn oder auch Drohungen sind vor diesem Hintergrund niemals destruktiv zu begreifen, sondern besitzen durch die sie leitende Hoffnungsperspektive einen produktiven Kern. 816 817 818 819 820
821 822 823
HOPPE, Jesus von Nazaret, S. 134–135. Vgl. KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 98. Ebd., S. 99 (Text im Original grau unterlegt). Siehe hierzu auch die nachfolgenden Überlegungen zum „Tempelwort“ Jesu. Bei Markus und Matthäus wird diese Aussage nur indirekt als Vorwurf der Gegner gegen Jesus wiedergegeben (vgl. Mk 14,58 bzw. Mt 26,61). R. Hoppe geht jedoch beispielsweise davon aus, dass Johannes diese Tradition historisch angemessen im Kontext der Tempelreinigung lokalisiert (vgl. HOPPE, Jesus von Nazaret, S. 152 bzw. insgesamt S. 152–153). Hierzu tendiert GNILKA, Das Evangelium nach Markus II, S. 280. So R. PESCH, Das Markusevangelium II, S. 434. So KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 240 (hier auch Quellenverweise).
4. Der „zornige Jesus“ – Widerhall des göttlichen Zorns?
175
Dies ist auch für die die Tempelreinigung begleitende Erzählung von der
Verfluchung des Feigenbaums zu beachten (vgl. rahmend Mk 11,12–14/11,20–25 sowie Mt 21,18–22). Das Verdorren von Bäumen kann mit Blick auf die Tradition des Ersten Testaments sicherlich metaphorisch als Gerichtsverweis verstanden worden sein (vgl. z. B. Jes 34,4; Hos 9,16; Ps 105,33).824 Eine weitergehende Assoziation des Feigenbaums mit Israel ist dabei denkbar, aber nicht zwingend.825 Eher kommt bei Matthäus mit dem „Frucht bringen“ der Ertrag dessen, was man aus seiner gottgegebenen Lebenskraft und den hierin wurzelnden Gestaltungsmöglichkeiten macht, in den Blick (vgl. Mt 3,8; 7,16).826 Insofern erscheint auch das „Verdorren“ unter Berücksichtigung seiner symbolischen Bedeutung Konsequenz daraus zu sein, dass das eigene lebensschöpfende Potenzial nicht entfaltet bzw. mit anderen geteilt wird. 827 Vor dem Hintergrund der erzählerischen Kontextualisierung zielt die eigentliche Absicht dieses „Wunders“ zudem nicht nur darauf ab, das Gerichtshandeln Gottes symbolisch zu verdeutlichen, wie die nachfolgenden Jesusworte zeigen.828 Vielmehr geht es insbesondere in der matthäischen Fassung dieser Erzählung darum, den Jüngern Teilhabe an der Vollmacht Jesu zuzusagen und sie mit der Hoffnungsperspektive des unerschütterlichen Glaubens zu konfrontieren, durch den selbst Unmögliches möglich wird.829 Wenn Josef Ernst mit Blick auf die markinische Fassung in Bezug auf die nachfolgenden Worte Jesu (vgl. Mk 11,24–25) darauf verweist, dass „Glaube, Beten und Bereitschaft zum Verzeihen […] Grundthemen der christlichen Verkündigung [sind]“830, ist dies sicherlich zutreffend. Sie sind aber bereits, so lässt sich akzentuieren, Kernbestände der Botschaft Jesu bzw. dessen, worin sich die konsequente Annahme der neuen Heilswirklichkeit ausdrückt.831
824 825
826 827 828 829
830 831
Vgl. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 201. U. Luz bemerkt, dass es sich dabei um keine feststehende Metapher handelt, hält jedoch eine Assoziation mit Blick auf die prophetische Tradition (vgl. Jer 8,13) und die vorangegangenen Verse für wahrscheinlich. Diesbezüglich stellt er jedoch auch heraus, dass der konkrete Adressat (Israel, Jerusalem, eine religiöse Führungsgruppe) offenbleibt (vgl. ebd., S. 201–202). Andere Exegeten und Exegetinnen lehnen diese Deutung, aufgrund mangelnder Belege für die Verwendung dieser Metapher in Bezug auf die Gesamtheit Israels, ab (vgl. z. B. POPLUTZ, Eine universale Jesusgeschichte, S. 213). Vgl. KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 101. Mit ebd., S. 102. Vgl. auch LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 202. Vgl. KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 102–103; POPLUTZ, Eine universale Jesusgeschichte, S. 213. ERNST, Das Evangelium nach Markus, S. 334. Die Bedeutung des gemeinschaftlichen Gebets als vertrauensstiftende Grundlage der Gottesbeziehung zeigt sich beispielsweise bei der Stiftung des „Vater Unsers“ (vgl. Mt 6,9– 13). Die hohe Bedeutung gelebter Vergebungsbereitschaft wird beispielsweise in der bereits analysierten Parabel vom unbarmherzigen Knecht deutlich.
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
176
Insgesamt ist Ulrich Luz uneingeschränkt zuzustimmen, dass die Verfluchung des Feigenbaums „zugleich eine zeichenhafte Gerichtsankündigung und ein Glaubenswunder [ist]“832. Zu akzentuieren ist die von Luz angenommene heilsgeschichtliche und existenzielle Dimension des Feigenbaumwunders833. So überwiegt im Gesamtblick seine existenzielle, lebensorientierende Absicht: Es fungiert als Warnung an die, die das Potenzial der Herrschaft Gottes ungenutzt lassen, ihr Leben im Sinne Gottes auszurichten834 und als Aufforderung an die Jesus Nachfolgenden, sich ganz auf diese neue, heilsstiftende Glaubens- sowie Beziehungswirklichkeit einzulassen.
4.3
Fazit „Denn Gott sandte seinen Sohn nicht [dazu] in die Welt aus, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn befreit 835 werde.“ (Joh 3,17)
Auch wenn die Theologie des Johannes, insbesondere die ihn leitenden dualistischen Vorstellungen wie auch die Bedeutung, die er Jesus Christus als Gesandter Gottes zuspricht, komplexer sind,836 bringt das Zitat der Überschrift einen Grundzug des Wirkens Jesu zum Ausdruck. Dieses zielt stets auf die umfassende Erlösung der Menschen ab. – Er will sie dazu bewegen, sich auf die heilschaffende Wirklichkeit der Gottesherrschaft einzulassen. Insofern ist der Zorn auch nicht das bestimmende Moment, mit dem Jesus seinen Mitmenschen entgegentritt, vielmehr ist selbst dieser von einer tieferen, mitleidsvollen Sorge geprägt.837 Der „Zorn Jesu“ ist somit nicht Ausdruck wilder Raserei oder hasserfüllter Ablehnung, sondern Ausdruck engagierter Anteilnahme. Er verweist explizit darauf, was Gott für den Menschen nicht will, und implizit zeigt er, welche Anforderung die liebende Annahme durch Gott an den Menschen stellt. Das zornige Handeln und die Verkündigung Jesu zielen so stets darauf ab, den Menschen neu für die Gottesbeziehung zu öffnen und dadurch eine neue Existenzausrichtung zu ermöglichen. Liest man das zornige Verhalten Jesu unter diesen Prämissen, so lassen sich folgende Erkenntnisse gewinnen838:
832 833 834 835 836
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838
Vgl. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, S. 202 (Hervorhebungen im Original). Vgl. ebd., S. 202–203. Vgl. auch KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 103. Hier im Sinne von „Rettung“ und „Erlösung“ zu verstehen. Vgl. hierzu sehr übersichtlich das Schaubild bei KÜGLER, Eine wortgewaltige Jesus-Darstellung, S. 192. Vgl. hierzu auch DIETZ, Biblische und systematisch-theologische Aspekte, S. 51 (These 11); weiterhin MIGGELBRINK, Der Zorn Gottes, S. 236. Ergebnisse der Analyse werden hier nicht erneut einzeln belegt.
4. Der „zornige Jesus“ – Widerhall des göttlichen Zorns? •
177
Im „Zorn Jesu“ richtet sich Gott gegen die lebensfeindlichen Mächte und Mechanismen, die den Menschen von seiner heilvollen Herrschaft entfremden. Wie sich der Zorn Gottes gegen seine Widersacher richtet, trifft die Dämonen der Zorn Jesu. Die Dämonenaustreibungen sind zentraler Ausdruck der Aufrichtung der Gottesherrschaft auf Erden, in ihnen macht Gott seinen Herrschaftsanspruch unmittelbar deutlich. Der „Zorn Jesu“ verdeutlicht so letztlich Gottes Machtanspruch. In der „Tempelreinigung“ wie auch in den Warnungen vor den widergöttlichen Verführungen (siehe These 2) zeigt sich darüber hinaus, dass Jesus sich entschieden gegen die Mechanismen und Strukturen wehrt, die die Beziehung sowie den Zugang zu Gott verstellen. Besonders in der matthäischen Variante der „Tempelreinigung“ wird deutlich, was den Tempel als Ort der befreienden Gotteserfahrung, die in gelebter Barmherzigkeit Ausdruck findet, ausmacht.
•
Der „Zorn Jesu“ korrespondiert mit der Forderung an seine Jünger, dem Lebensfeindlichen keinen Raum zu gewähren.
Blickt man auf die Verwendung der Rede vom „Zorn Gottes“ im Ersten Testament, so wird deutlich, dass sie sich in enger Analogie zur Gerichtsmetaphorik oftmals gegen die Verführung zum Bösen, das heißt gegen menschliches Fehlverhalten, richtet. 839 Auch Jesus bringt diesen Zusammenhang zum Ausdruck, indem er den Jüngern in drastischen Bildern die Verantwortung vor Augen führt, sich und die Geringsten vor dem Glaubensabfall zu schützen. Der „Zorn Jesu“ macht dabei zunächst deutlich, dass ihm ihr Schicksal nicht gleichgültig ist, weil hierdurch die lebenstragende Gottesbeziehung und damit ihre gesamte Existenz bedroht ist. In Kombination mit den bedrohlichen Verweisen auf die Hölle als letztbestimmende Konsequenz der Verführung zum Bösen, hallt in ihm zugleich der eschatologische Zorn des richtenden Gottes wider. •
Im „Zorn Jesu“ wird der Charakter der Gottesherrschaft als bedingungsloses, aber auch heraus-forderndes Geschenk840 deutlich. Die Betonung, dass die heilswirkende Gottesherrschaft ein gnadenhaftes Geschenk ist, kann dazu verleiten, die darin enthaltene Verantwortung des
839 840
Vgl. z. B. Zef 1, wo das Gericht über Juda angekündigt und begründet wird. Dieses Bild wird oft mit Blick auf Jesu Heilsbotschaft verwendet. Die hieraus erwachsene Verpflichtung verdeutlicht (ohne Bezug zum „Zorn Jesu“) sehr akzentuiert G. Augustin: „Die Heilsbotschaft Jesu ist eine befreiende, heilende, helfende und erlösende Botschaft. Dies alles umfasst das Reich Gottes, das mit der Person Jesu untrennbar verbunden ist. Es ist ein reines Geschenk, das allerdings an die Menschen die entschiedene Forderung stellt, den Willen Gottes zu suchen und zu erfüllen. Gott, der liebende Vater, schenkt den Menschen das Reich Gottes ohne irgendeine Vorleistung und Vorbedingung […].“ (AUGUSTIN, Kraft der Barmherzigkeit, S. 73.)
178
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung Menschen zu verkennen. Jesus erste Zuwendung zu den Menschen ist die liebende Annahme. Sein Zorn hingegen verdeutlicht, dass das heilvolle Anbrechen der Gottesherrschaft lebenswirksam werden muss und dadurch Ansprüche an die, die ihm nachfolgen wollen, stellt. Dies wird beispielsweise in der Auseinandersetzung mit Petrus erkennbar, der die Notwendigkeit des Leidensschicksals als mögliche (nicht zu suchende) Konsequenz des engagierten Eintretens für die befreiende Macht des Gottesreiches implizit negiert. Ebenso zeigt es sich auch in der Auseinandersetzung mit den Pharisäern, die verkennen, dass eine radikale Hinwendung zu den Menschen gefordert ist (vgl. Mk, 3,1–6; Lk 11,37–41). Entsprechende Aspekte wurden auch bereits in den analysierten Parabeln deutlich. Verweise auf den „Zorn Gottes“ und den „Zorn Jesu“ besitzen einen gemeinsamen Kern, nämlich die Forderung nach fundamentaler, existenzieller Neuorientierung als Teil einer neuen Heilswirklichkeit.841 Dies korrespondiert mit der Absicht der neutestamentlichen Gerichtsbilder.842
•
Der „Zorn Jesu“ bestimmt positiv, was gefordert ist: Barmherzigkeit und Solidarität gegenüber den Geringsten.843 Gottes- und Nächstenliebe bilden so eine unaufhebbare Einheit844.
Im „Zorn Jesu“ artikuliert sich ein konstruktives Moment seiner Verkündigung. Wie der „Zorn Gottes“ im Ersten Testament beispielsweise zum Schutz der Schwachen dient (vgl. z. B. Ex 22,20–26), richtet sich der „Zorn Jesu“ gegen die Verweigerung der Barmherzigkeit gegenüber den Mitmenschen. Treffend formuliert Klaus Hofmeister: „Im zornigen Jesus zeigt sich eine Leidenschaft, die aus Mitgefühl kommt, sich wiederum für Mitgefühl starkmacht, die auf Veränderung drängt, die die Religionsvertreter seiner Zeit aufrütteln will.“ 845
Positiv zeigt sich hierdurch, dass die befreiende Macht der heilvollen Herrschaft Gottes insbesondere darin Ausdruck findet, dass man den sozial Schwächsten und Geringsten Anteil hieran gewährt. Jesus selbst lebte dies,
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842
843
844 845
Vgl. hierzu auch die ähnlichen Gedanken bei KOSCH, Zärtlichkeit und Zorn – Der Gott Jesu, S. 52–53. Zur Bedeutung der Gerichtsbilder siehe PEMSEL-MAIER, Gericht – Himmel – Hölle – Fegefeuer als Hoffnungsbilder lesen, S. 206–207. Vgl. diesbezüglich auch die Ausgangsthese von W. Dietz: „Jesu Verkündigung rückt durch sein Geschick in ein neues Licht. Seine Botschaft zielt auf Liebe und Erbarmen: ‚Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.‘ (Lk 6,36). Sie schließt aber den Zorn über Saturiertheit und Selbstgefälligkeit nicht aus (vgl. die Weheworte der Feldrede Lk 6,24ff).“ (DIETZ, Biblische und systematisch-theologische Aspekte, S. 52 bzw. These 13). Vgl. ebenso KOSCH, Zärtlichkeit und Zorn – Der Gott Jesu, S. 52–53. Vgl. hierzu auch vertiefend AUGUSTIN, Kraft der Barmherzigkeit, S. 75–79. HOFMEISTER, Leidenschaft aus Mitgefühl, S. 36.
4. Der „zornige Jesus“ – Widerhall des göttlichen Zorns?
179
wie bereits aufgezeigt, durch sein Handeln vor (vgl. die erwähnten Gastmähler, Wunderheilungen etc.). Zugleich verdeutlichen aber die behandelten Parabeln wie auch das Bild des Weltgerichts bei Matthäus (vgl. Mt 25,31– 46), dass sich in der Zuwendung zu den Schwächsten und Geringsten das eigene Schicksal im Gericht entscheidet. Das Zürnen Jesu gegenüber der Verweigerung der Liebe verdeutlicht, was Gott im Zeichen der heilvollen Wirklichkeit vom Menschen erwartet und besitzt dadurch lebensverändernde Kraft. Der „Zorn Gottes“ als eschatologisches Gerichtshandeln klingt so zwar an, das endgültige Gericht wird aber, da die Chance zur Neuorientierung intendiert ist, noch nicht vorweggenommen. •
Im Zorn zeigt sich Jesu Gottesunmittelbarkeit und sein authentisches Menschsein, worin ein bleibendes Identifikationspotenzial liegt. Wenn der zornige Jesus als direkter Repräsentant Gottes die Dämonen entmachtet (vgl. u. a. Mk 1,24–26 und Lk 11,20), wenn er vielfältig die Menschen zu Umkehr und existenzieller Neuorientierung mahnt (siehe oben), ja wenn er sich selbst mit dem von Johannes angekündigten „Feuertäufer“846, durch den sich Gottes eschatologisches Gericht im hier und jetzt vollzieht, identifiziert (vgl. Lk 12,49) – ja dann hallt im „Zorn Jesu“ der „Zorn Gottes“ auf einzigartige Weise wider. In ihm wird so in besonderer Weise Jesu ungeheure Nähe zu Gott, seine einzigartige Gottesbeziehung, ja letztlich seine Gottesunmittelbarkeit erkennbar.847 Zugleich verdeutlicht er aber vielmehr noch, dass Jesus auch „wahrer Mensch“ war: „In Predigten und frommen Texten wird Jesus oft allzu ‚gezähmt‘ dargestellt. Aber in seiner Leidenschaft, die aus Mitgefühl kommt, zeigt sich eine positive Lebensenergie. Um der Liebe willen muss man seine Aggression nicht zügeln. Im Gegenteil. Mut zur Konfrontation, konstruktive Aggression und sogar der Zorn zeigen Jesus als einen ‚ganzen‘ und einen ‚wahren‘ Menschen.“ 848
Im „Zorn Jesu“ liegt so ein bleibendes Identifikationspotenzial, das Perspektiven darauf eröffnet, konstruktiv mit der eigenen menschlichen Impulsivität und Leidenschaftlichkeit umzugehen. Im zornigen Jesus als Ausdruck
846
847
848
ECKEY, Das Lukasevangelium II, S. 609 (hier auch die bereits zitierte Gesamtdeutung der Stelle Lk 12,49). So bereits in Ansätzen STÄHLIN, Teilart. ὀργή E. Der Zorn des Menschen und der Zorn Gottes im NT, S. 428. – In Abgrenzung zu Stählin, der das Zürnen Jesu deswegen als „nie ein allzumenschliches Zürnen“ beurteilt, sehe ich diese grundlegende Distanz nicht. Vielmehr eröffnet uns Jesus Perspektiven darauf, wie wir unseren eigenen Zorn im Sinne Gottes „transzendieren“ können (siehe hierzu die weiteren Ausführungen). HOFMEISTER, Leidenschaft aus Mitgefühl, S. 37; siehe vertiefend auch TRUMMER, Der „sanfte“ Jesus und der „zornige“ Gott, S. 133–134.
180
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung seines wahren Gott- und Menschseins werden uns zugleich Sinnperspektiven eröffnet, wie wir unser Leben, aber auch unseren eigenen Zorn im Sinne der heilvollen Herrschaft Gottes „transzendieren“ können.
5.
Der Kreuzestod Jesu – „letzter Akt zur Besänftigung des zornigen Gottes?“
5.1
Skizzierung der Problemstellung
Bereits die Benennung des vorliegenden Kapitels mag befremdlich klingen. Tritt in ihr doch die Rede vom „Zorn Gottes“ mit einer bisher unbekannten Vehemenz und Bedrohlichkeit in Erscheinung. Blickt man jedoch in die Theologiegeschichte, so wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit dem Tod Jesu zentraler Gegenstand der nachösterlichen Bedeutungszumessung des Christusereignisses gewesen ist. Gerade im Rahmen der christlichen Soteriologie gewann die Deutung des Todes Jesu, genauer dessen Verständnis als Sühnehandeln, große Relevanz. Im Anschluss an die Satisfaktionslehre von Anselm von Canterbury hat dabei vor allem Martin Luther den Gedanken des „göttlichen Zorns“ aufgenommen849. Während für Luther damit verbundene Sühnevorstellungen noch selbstverständlich waren, wird dieses Deutungsmodell von heutigen Theologen zunehmend angezweifelt.850 Einen umfassenden Zugang zu dieser komplexen und im wahrsten Sinne des Wortes emotionsgeladenen Thematik zu gewinnen, erscheint somit als kaum lösbare Aufgabe. Möglich ist es jedoch, zu prüfen, ob sich in den Evangelien Hinweise darauf finden, wie Jesus seinen Tod verstanden hat. Ziel ist es dabei nicht, verschiedene Interpretamente des Neuen Testaments zum Tod Jesu zu analysieren, denn zu vielseitig sind die christologischen Reflexionsansätze zu dieser Frage.851 849
850
851
Vgl. hierzu sehr akzentuiert W. Miggelbrink: „So drastisch wie Luther die Dimension des leidenden Jesus betont, so drastisch kann er andererseits den zürnenden Gott darstellen: Was Jesus am Kreuz durchlebt und durchleidet, ist nichts anderes als die ganze Wucht des Gotteszornes, den Gott legitimerweise gegen eine sündige Welt richtet.“ (MIGGELBRINK, Der zornige Gott, S. 93, zur Analyse insgesamt 91–95.) Für einen kurzen Einblick in das aktuelle Konfliktpotenzial siehe LEHNICK, Warum starb Jesus am Kreuz?, online abrufbar unter: https://unserekirche.de/archiv/2009/03/ warum-starb-jesus-am-kreuz-2371/ (Stand: 25.06.2020). Eine sehr gute Übersicht beinhaltet das Vorlesungsskript von T. SÖDING mit dem Titel „Der Skandal des Kreuzes. Deutungen des Todes Jesu“: Vgl. http://www.kath.ruhr-unibochum.de/imperia/md/content/nt/nt/aktuellevorlesungen/vorlesungsskriptedownlo
5. Der Kreuzestod Jesu
181
Vielmehr sollen Einzelaussagen Jesu, die Bezüge zum „Zorn Gottes“ beinhalten können, aufgezeigt und im Hinblick auf die historische Rückfrage diskutiert werden. Als Untersuchungsaspekte, „die als mögliche Ausgangspunkte für eine ‚ureigene‘ Todesdeutung [Jesu; C.W.] gelten können“852, kommen dabei das „Lösepreiswort“ (Mk 10,45), die Überlieferung des letzten Abendmahles und hiermit im erzählerischen Kontext stehende Worte Jesu in Frage. 853 Voraussetzung dieser spekulativen Rekonstruktion eines Todesverständnisses Jesu ist, dass er seinen Tod erahnte und ihm eine zentrale Bedeutung für das Heilswirken Gottes zusprach. Zumindest diesbezüglich scheint man sich in der heutigen exegetischen Forschung mehrheitlich einig zu sein.854
5.2
Der Tod Jesu und der Zorn Gottes – Ansatzpunkte
5.2.1
Jesu Tod – ein „Lösepreis für viele“ (Mk 10,45)?
Im Kontext des Todesverständnisses Jesu fällt eine Stelle im Markusevangelium ins Auge, in der seine Jüngerbelehrung in den folgenden denkwürdigen Worten mündet: „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösepreis für viele.“ 855 (Mk 10,45).
Wer allerdings glaubt, hierin eine direkte Todesdeutung durch den historischen Jesus zu finden, wird durch die exegetische Forschung überwiegend ernüchtert. Zwar ist man sich im Hinblick auf die Traditionsgeschichte dieser Jesusworte in keiner Weise einig, glaubt jedoch aufgrund einer sehr abweichenden Fassung in Lk 22,27 mehrheitlich, dass hier eine Erweiterung der Überlieferung vorliegt.856
852 853
854
855
856
ad/vlskriptess2012/skript_tod_jesu_ss_2012_rub.pdf (Stand: 27.06.2020). Hier skizzierte sowie diskutierte Ansätze sind unter anderem das „Motiv des verfolgten Propheten“ (S. 15–18), das „Motiv des leidenden Gerechten“ (S. 19–20), das „Motiv des leidenden Gottesknechts“ (S. 21–22) und hiermit einhergehend das „Motiv der Sühne“ (S. 23–24) und das „Motiv der Stellvertretung“ (S. 25–26). – Grundlegend sei hier auch auf die Studie von G. BARTH (Der Tod Jesu Christi im Verständnis des Neuen Testaments. Neukirchen-Vluyn 1992) verwiesen. FREY, Probleme der Deutung des Todes Jesu, S. 28. Vgl. ebd. – Frey nennt darüber hinaus noch das Tempellogion (Mk 14,58 parr.). Da dieses jedoch bereits in der vorangegangenen Analyse behandelt wurde, wird es hier ausgeklammert. Vgl. hierzu unter Verweis auf zentrale Argumente und Forschungspositionen MIGGELBRINK, Der Zorn Gottes, S. 240–241. Übersetzung von GNILKA, Das Evangelium nach Markus II, S. 98; ähnlich auch F. STIER. – Zur komplexen Semantik des Wortes „λύτρον“ (auch mit „Lösegeld“ übersetzbar) siehe KERTELGE, Art. λύτρον, Sp. 901–904. Ansätze zur Rekonstruktion der „Überlieferungskette“ finden sich bei beispielsweise bei BARTH, Der Tod Jesu Christi im Verständnis des Neuen Testaments, S. 13–14. Für J. Gnilka
182
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
In letzter Konsequenz wird diese Aussage deswegen dem historischen Jesus also abgesprochen.857 Sie jedoch deswegen aus der Analyse auszuschließen, wäre verfrüht, kann doch in ihr, wenn auch nicht wörtlich, zumindest dem Geist nach eine authentische Todesdeutung Jesu vorliegen.858 Versucht man somit die Aussage über den Tod Jesu zu begreifen, gerät vor allem eine Passage in Jesaja 53,10–12 bzw. das hier prägende Motiv vom leidenden Gottesknecht als Verständniszugang in den Blick.859 Hierzu Joachim Gnilka: „Das Wort [Mk 10,35; C.W.] ist ohne den Hintergrund von Jes 53,10–12 nicht verstehbar. Obwohl weder der Jesajatext zitiert noch das Schicksal des Gottesknechtes insgesamt auf Jesus übertragen ist, wird die Vorstellung vom stellvertretenden Sühnetod für die Vielen in freier Form von dort entlehnt. Gegenüber Jes 53, wo das Sühneleiden des Knechtes als ein Handeln Gottes dargestellt ist […], betont das Menschensohnwort die freiwillige Hingabe des Lebens. […] Der Menschensohn zahlt mit seinem Leben für und anstelle der Vielen, die dem Verderben anheimgegeben sind, und wird somit zu ihrem Retter. Daß damit die Befreiung von der Sündenschuld gemeint ist, sollte nicht bestritten werden. Wem der Lösepreis gezahlt wird, wird nicht gesagt, so sehr steht die Freiwilligkeit des Sterbens im Vordergrund.“ 860
Entgegen dem Verständnis eines zornigen Gottes, der ein Sühneopfer einfordert, steht in dieser Aussage ganz der sich hingebende Jesus im Fokus.861 Dabei verweist der Begriff des „Lösegeldes“, anders als es die Sühneopferterminologie nahelegt, vor allem auf das, was durch den Tod Jesu für „die Vielen“ erlangt wird: Befreiung und eine neue Lebensperspektive.862 Wer diese „Vielen“ sind, das heißt für wen diese Heilszusage letztlich gilt, bleibt offen. Denkbar ist, dass hier eine exklusive Gemeinschaft angesprochen wird, ebenso legt sich von Jes 53 aber auch eine universale Bedeutung dieses Jesuswortes nahe.863 Ist diese Vorstellung mit dem Gottesbild Jesu und seiner Botschaft jedoch wirklich vereinbar? Um diese Frage zu beantworten, soll eine weitere Szene, in der der Gedanke der Lebenshingabe Bedeutung gewinnt, hinzugezogen werden: Die Worte Jesu beim letzten Abendmahl.
857 858
859 860 861 862 863
ist die Aussage Mk 10,45d hierüber hinaus ein „eigenständiger Traditionssplitter“ (GNILKA, Das Evangelium nach Markus II, S. 100). Joachim Jeremias geht hingegen davon aus, dass es zwei voneinander unabhängige Traditionsstränge gab (vgl. JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie I, S. 278). So beispielsweise MERKLEIN, Der Sühnetod Jesu, S. 36. Noch positiver wertet Joachim Jeremias: „Wer die Abendmahlsworte im Kern für echt hält, wird keine Bedenken haben, die Substanz dieses Logions auf Jesus zurückzuführen.“ (JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie I, S. 279; hier unter weitergehendem Verweis auf C. Colpe). Die vorliegende Stelle wird in der exegetischen Forschung oftmals angeführt. GNILKA, Das Evangelium nach Markus II, S. 104. Dies betont u. a. MIGGELBRINK, Der zornige Gott, S. 90. Mit Miggelbrink (vgl. ebd., S. 89–90). Vgl. auch GNILKA, Das Evangelium nach Markus II, S. 104.
5. Der Kreuzestod Jesu
5.2.2
183
Die Abendmahlsworte Jesu
Obwohl die Abendmahlsworte Jesu im Neuen Testament vielfach überliefert sind (vgl. 1 Kor 11,23–26; Mk 14,22–25 par. Mt 26,26–29; Lk 22,19–20),864 wird mit Blick auf den historischen Jesus ihre Aussagekraft aufgrund ihrer nachösterlichen Prägung bzw. liturgischen Funktion angezweifelt865. Gerade weil zwei unterschiedliche, voneinander unbeeinflusste Überlieferungsstränge wahrscheinlich sind (vgl. Mk 14,22ff./Mt 26,26ff. bzw. 1 Kor 11,23ff./Lk 22,19f.),866 bleibt der Versuch, eine gemeinsame Urform dieser Texte zu rekonstruieren867, spekulativ.868 Bescheidener veranschlagt erscheint es jedoch, wie Jürgen Becker richtig anmerkt, zumindest möglich, „Umrisse der Tradition und einzelne Motive [zu] analysieren“869, wie auch die in diesen Worten enthaltene Theologie kritisch im Kontext der Botschaft zu reflektieren. Für die vorliegende Fragestellung ist dabei relevant, dass Jesus im Rahmen der Abendmahlstexte seinen Tod als „Lebenshingabe“ 870 deutet (vgl. Mk 14,24; Mt 26,28; Lk 22,19; 1 Kor 11,24). So findet sich beispielsweise in Mt 26,28 die im Rahmen der Theologiegeschichte wirkmächtige Aussage Jesu, dass die Jünger aus dem Becher trinken sollen, da dies sein „Blut des Bundes“ (vgl. Ex 24,8) sei. Dessen Vergießen spricht er dabei die Funktion der Sündenvergebung zu. Joachim Jeremias betont in diesem Zusammenhang, dass Vorstellungen über die Sühnewirksamkeit des Todes im zeitgenössischen Umfeld Jesu vertraut waren. Dabei verweist er unter anderem auf die Auffassung im hellenistischen Judentum, nach der das Leiden sowie der Tod der Märtyrer den auf Israel lastenden „Zorn Gottes“ beendet (vgl. besonders 2 Makk 7,37–38 und 4 Makk 6,27– 29).871
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869 870
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Für eine gute Übersicht über den Aufbau der jeweiligen Texte siehe BÖSEN, Der letzte Tag des Jesus von Nazaret, S. 100. Vgl. MIGGELBRINK, Der Zorn Gottes, S. 242–243 (hier auch weitergehende Verweise). Vgl. BÖSEN, Der letzte Tag des Jesus von Nazaret, S. 101/M 38. Einen Versuch, die gemeinsame Essenz aller Überlieferungen herauszustellen, unternimmt beispielsweise Joachim JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie I, S. 274. Ein neuerer Rekonstruktionsversuch eines „Urberichts“ vom letzten Abendmahl findet sich bei HEININGER, Das letzte Mahl Jesu, S. 35–36 (hier auch die zitierte Begrifflichkeit). Gegen entsprechende Versuche wendet sich grundsätzlich z. B. BECKER, Jesus von Nazaret, S. 418. BECKER, Jesus von Nazaret, S. 418. Diesen Begriff prägt unter anderem B. Janowski: „Der Begriff der ‚Lebenshingabe‘ meint die Gesamtexistenz Jesu, d.h. das Leben, das Jesus in liebender Hingabe an die anderen gelebt hat, und den Tod, der die Konsequenz dieses Lebens war.“ (JANOWSKI, Das Leben für andere hingeben, S. 98; Hervorhebungen im Original). Vgl. Joachim JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie I, S. 273. Für die Interpretation weitergehender Stellen siehe BARTH, Der Tod Jesu Christi im Verständnis des Neuen Testaments, S. 59–64; AVEMARIE, Lebenshingabe und heilschaffender Tod in der rabbinischen Literatur, S. 179–185.
184
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
Fernab der Anfrage, ob dies den vorliegenden Zusammenhang erhellen kann,872 bleibt die bereits im letzten Kapitel skizzierte Problemstellung, inwieweit eine Sühnevorstellung mit der Botschaft Jesu vereinbar ist: Findet sich nicht in der prophetischen Tradition bis hin zu Johannes dem Täufer, eine Heilszusage ohne die Notwendigkeit eines Opfers 873? Betont nicht Gott selbst im Ersten Testament bereits seine Souveränität der Vergebung, unabhängig von jedweder Opferleistung (vgl. Jes 43,22–28; Hos 6,6)874? Ist es nicht Jesus selbst, der mit seinem Wirken entsprechende Vorstellungen ad absurdum führt875? Auch in der heutigen exegetischen Forschung wird dies so beurteilt, wie die vorliegenden Aussage Jürgen Beckers exemplarisch verdeutlicht: „Man wird weiter auf Jesu Botschaft sehen müssen: Sie enthält nirgends ein Indiz, daß Gottes Zuwendung zu den Verlorenen noch eines besonderen Lebenseinsatzes Jesu bedurfte. Gott ist und bleibt der endzeitlich Rettende für alle, weil er es mit seiner Herrschaftsaufrichtung so will. Dies sagt sachlich auch Mk 14,25, ohne dem dabei erwähnten Tod Jesu noch eine gesonderte Heilsbedeutung zuzuweisen.“ 876
Becker und andere sensibilisieren zu Recht für ein Fehlverständnis von Sühne, nach dem einerseits Jesus zwar einen liebenden, vergebungsbereiten Gott verkündet, diese Gnade dann aber noch von ihm erwirkt werden musste. 877 Problematisiert werden muss darüber hinaus der Ansatz, die „Lebenshingabe“ Jesu in Zusammenhang mit dem göttlichen Zorn zu bringen. Beide können zwar einen Bezug zur Gerichtsbotschaft haben, Verweise auf den „Zorn Gottes“ im Wirken Jesu haben dabei allerdings stets die existenzielle Neuorientierung des Einzelnen im Zeichen der neuen Heilswirklichkeit im Blick. 878 Sie machen gerade so deutlich, dass es Gott nicht gleichgültig ist, woran der Mensch „sein Herz hängt“ – die Rede vom „Zorn Gottes“ ist vielmehr Ausdruck des Gerechtigkeit schaffenden und in die Verantwortung nehmenden Wirkens Gottes. 872
873
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878
Zur Kritik siehe MIGGELBRINK, Der Zorn Gottes, S. 246. – Miggelbrink weist hier darauf hin, dass es in 2 Makk 7 keinerlei Hinweis darauf gibt, „daß der Bruder sein Leben als kompensatorische Leistung Gott anbietet“, und in keiner Weise der Kontext einer „individualisierten Sündenvorstellung mit dem korrespondierenden Sühnetheologoumenon“ angesprochen sei. Dies trifft zu. Trotzdem klingt in dieser Stelle zumindest der Gedanke an, dass der Tod des Märtyrers, in dem die unumstößliche Glaubenstreue Ausdruck findet, besänftigend und damit sühnend auf den „Zorn Gottes“ einwirkt. Folgenden Einwand betont zutreffend HAACKER, Gekreuzigt unter Pontius Pilatus – wozu?, S. 48. Vgl. ebd. Hier sei auf das letzte Analysekapitel verwiesen. K Haacker (ebd.) bezieht sich zudem auf die Parabel vom „verlorenen Sohn“. BECKER, Jesus von Nazaret, S. 420. „Sollte man wirklich die Annahme vollziehen, daß Jesus die Sühne der Sünden, die er in seiner Praxis als Prediger vergeben hat, am Kreuz erst noch verdienen mußte?“ (MIGGELBRINK, Der Zorn Gottes, S. 245; für seinen Verweis auf diese Position teilende Autoren siehe auch Fußnote 424 im Original). Siehe dazu die entsprechenden Analyseergebnisse der vorangegangenen Hauptkapitel.
5. Der Kreuzestod Jesu
185
Kurzum: Sühne kann demnach nicht so verstanden werden, dass Jesus die Verantwortung des Einzelnen im Heilswerdungsprozess durch die stellvertretende Hingabe seines Lebens obsolet werden lässt.879 Sich allzu sehr auf das Bild eines zürnenden Gottes zu beschränken, ist im vorliegenden Kontext aber vor allem auch theologisch problematisch. Erzeugt es doch Anklänge an allzu gewaltverherrlichende oder sogar lebenszerstörerische Gottesvorstellungen, nach denen die Gottheit ein besänftigendes Opfer einfordert, anleitet und positiv bejaht. 880 Als Verständniszugang zur Erschließung der lebenstragenden Dimension von „Sühne“, die der Botschaft Jesu entspricht, scheint eine dementsprechende Deutung somit ungeeignet zu sein. Einen diesbezüglichen, positiven Ansatzpunkt zum Verständnis des Sühnetods Jesu liefert hingegen Helmut Merklein, der die Ursprünge dieser Vorstellung sogar beim historischen Jesus selbst vermutet. 881 Für ihn ist das Spannungsverhältnis zentral, das sich aus dem von Jesus verkündeten, endgültigen Heilswillen Gottes für ganz Israel und seiner gleichzeitigen Ablehnung durch die Hochpriester als dessen maßgebliche religiöse Repräsentanten ergab: „Das eschatologische Erwählungshandeln Gottes, das Jesu [sic!] für ganz Israel verkündet hatte, war damit in seiner Qualität als göttliches Geschehen erheblich beeinträchtigt, wenn nicht sogar – als offensichtlich unwirksames Geschehen – ad absurdum geführt. Der Sühnegedanke […] bot die Möglichkeit, dieser theologisch schwerwiegenden Folgerung entgegenzusteuern. Jesus hätte dann – wohl unter Rückgriff auf Jes 53 – beim letzten Mahl seinen (zu erwartenden) Tod als Sühne für Israel gedeutet, dessen mehrheitliche Ablehnung sich deutlich abzeichnete. Damit war sichergestellt, daß selbst die Verweigerung den eschatologischen Heilsentschluß Gottes nicht rückgängig machen und die Wirksamkeit des göttlichen Erwählungshandelns nicht in Frage stellen kann. Das eschatologische Handeln Gottes erwies sich vielmehr gerade im Tode seines Repräsentanten als wirksames Geschehen, indem Gott den Tod seines eschatologischen Boten zum Akt der Sühne werden ließ. Israel blieb weiterhin Adressat und Objekt göttlichen Heilshandelns. Jesu Sühnetod begründet demnach kein neues Heil, das auch nur im Entferntesten in Spannung steht zu jenem Heilsgeschehen, das Jesus seit Beginn seines Wirkens proklamiert und repräsentiert hat. Das Heil des Sühnetodes Jesu ist vielmehr integraler Bestandteil eben dieses Geschehens der Gottesherrschaft.“ 882
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H. Merklein verweist deswegen mit Blick auf den biblischen Gedanken der stellvertretenden Sühne zu Recht auf dessen „symbolische Dimension“ (MERKLEIN, Wie hat Jesus seinen Tod verstanden?, S. 188–189, weiterführend auch das Abschlusskapitel). Ähnliche Vorwürfe thematisiert und reflektiert auch SÖLLE, Christologie auf der Anklagebank, S. 131–133 (besonders S. 132). Vgl. MERKLEIN, Wie hat Jesus seinen Tod verstanden?, S. 183–186. Abschließend schlussfolgert Merklein: „Die Deutung des Todes Jesu im Sinne des Sühnetods liegt daher so sehr in der Konsequenz seiner Botschaft, daß meines Erachtens doch ernsthaft mit der Möglichkeit zu rechnen ist, daß diese Deutung auf Jesus selbst zurückgeht.“ (ebd., S. 186). Ebd., S. 185 (Hervorhebungen im Original). – Eine ähnliche Deutung findet sich bereits bei R. PESCH, Das Abendmahl und Jesu Todesverständnis, S. 103–111.
186
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
Merklein begreift den Sühnetod Jesu so als finalen Akt, um die letztgültige Hineinnahme ganz Israels in das Heilsgeschehen der Gottesherrschaft zu gewährleisten. Tatsächlich liefert er damit tragfähige Ansatzpunkte, um diesen Schritt als Liebestat und Ausdruck des unumstößlichen, umfassenden Heilswillens Gottes für Israel zu begreifen.883 In der historischen Rückschau wäre dies wohl am ehesten durch einen inneren Erkenntnisprozess Jesu erklärbar, der durch die ihm in Jerusalem entgegenschlagende Ablehnung angeregt wurde. Trotzdem bleibt ungeklärt, welches Verständnis von Sühne Jesus in diesem Zusammenhang hatte. 884 Gerade wenn man dabei, wie Merklein, auf Jesaja 53 verweist, ist es jedoch nicht möglich, die von Jesus als Objekt seines Sühnetods genannten „Vielen“ auf Israel einzugrenzen. So erscheint der Gottesknecht ebengerade inklusiv als „Licht“ der für Gottes Heil bestimmten Völker und Nationen (vgl. Jes 42,6; 49,6f.).885 Diskussionswürdig ist überdies, dass Jesus, der den Menschen in seiner Freiheit und Entscheidungsfähigkeit ernst nahm – man denke an die behandelten Gleichniserzählungen –, abschließend eine aus der Not seiner Ablehnung geborene Sühne- und Stellvertretungsvorstellung als neues Zentrum seiner Botschaft erkor. Der Ansatz, die Einsetzungsworte Jesu als Fortführung seines inklusiven Ansatzes der Sündenvergebung und damit verbundenen Entfunktionalisierung des Tempelbetriebs zu begreifen,886 erhebt diesen Schritt ebenfalls ungewollt zum eigentlichen Kern der Heilsverkündigung Jesu.
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886
Der Ansatzpunkt, den Tod Jesu als Offenbarung der Liebe Gottes zu begreifen, findet sich in anderen frühchristlichen Aussagen (vgl. hierzu BARTH, Der Tod Jesu Christi im Verständnis des Neuen Testaments, S. 98–100). Auf die Unklarheit des Sühnebegriffs verweist grundsätzlich auch MIGGELBRINK, Der Zorn Gottes, S. 245–246. Diese Dimension betont zutreffend GNILKA, Das Evangelium nach Markus II, S. 246. – Ähnlich auch L OHFINK, Gegen die Verharmlosung Jesu, S. 131–132. Lohfink geht davon aus, dass Jesus mit den „Vielen“ zunächst die 12 am Mahl teilnehmenden Jünger als Repräsentanten des endzeitlichen Israels adressiere. Da Israel gleichzeitig „ja gerade das Zeichen Gottes für die Völker“ sei (ebd., S. 132), werde hiermit jedoch sowohl die Hingabe seines Lebens für Israel als auch für die anderen, heidnischen Völker zum Ausdruck gebracht. So B. Heininger: „Hier kommt Jes 53,10–12 ins Spiel. Wenn es stimmt, dass schon das vierte Gottesknechtslied eine kultkritische Spitze hat, also das einmalige stellvertretende Sterben des Gottesknechtes die Sühnopfer im Tempel ablöst bzw. aufhebt, und der Rückgriff auf Jes 53 in der Applikation des Brotworts diesen Aspekt zumindest auch im Auge hat, dann bildet das Brotwort den End- und Höhepunkt einer Linie, die mit dem Zuspruch der Sündenvergebung durch Jesus auf offener Straße ohne vorausgehendes Sündenbekenntnis und ohne Opfer in Galiläa beginnt (Mk 2,5), sich in Jerusalem in Gestalt der Tempelaktion (Mk 11,15–19) und verbaler Tempelkritik (Mk 13,1f.; 14,58) fortsetzt – und in den Einsetzungsworten im Abendmahlssaal ihren letzten verbindlichen Ausdruck findet. Sie besagt: Vom Tempel ist kein Heil mehr zu erwarten. Der Kultbetrieb, der Sündenvergebung verspricht und im Gegenzug Opfer verlangt, hat abgewirtschaftet.“ (H EININGER, Das letzte Mahl Jesu, S. 44; Hervorhebungen im Original).
5. Der Kreuzestod Jesu
187
Die bisherige Analyse weist vielmehr darauf hin, dass sich für Jesus die Realisierung der Gottesherrschaft in der unmittelbaren Begegnung mit den Menschen seiner Zeit entschied: Nicht indirekt, sondern durch persönliche Interaktion versuchte er sie für die neue Heils- und Beziehungswirklichkeit zu öffnen und in diese hineinzunehmen, um ihnen dadurch Anteil an der Realisierung der Gottesherrschaft auf Erden zu geben.
5.2.3
Jesus in Getsemani – ein Bittgebet zur Verschonung vom Zorn Gottes?
Eine Bezugnahme auf die Getsemani-Erzählung (vgl. Mk 14,32–42 parr.) mag zunächst überraschen, scheint diese doch primär ein Zeugnis des fundamentalen Zweifelns und der Einstimmung eines scheinbar alleingelassenen Jesus auf sein Leidensschicksal zu sein.887 Aber gerade diese „Krisis des Gottessohnes“ 888, dieser Moment inniger Selbstvergewisserung im Zeichen des eigenen Todes, eröffnet, fernab der historischen Erinnerung889, einen Zugang zum Verständnis des Leidensschicksals Jesu. Ins Auge sticht jedoch eine Passage im Kontext des anfänglichen Gebetsringes Jesu, die für heutige Leser nur noch schwer verständlich ist: „Abba, Vater, alles ist dir möglich; nimm fort diesen Becher, hinweg von mir, doch nicht was ich will [ist entscheidend; C.W.], sondern was du [willst]!“890 (Mk 14,36)
Sucht man zunächst nach einzelnen Bezugsmomenten der nur schwer verständlichen Kelchmetapher, tritt vor allem die alttestamentlich-jüdische „BecherMetaphorik“ in den Blick. In dieser wird der Becher nämlich interessanterweise zumeist als Bild für den strafenden „Zorn Gottes“ bzw. das hierdurch zum Ausdruck gebrachte Gerichtshandeln Gottes verwendet (vgl. z. B. Jer 25,15–29; Ps 887
888
889
890
Eine tiefergehende Beschäftigung mit dieser Perikope findet sich in meiner Examensarbeit: Carsten Wuttke. Jesus in Getsemani (Mk 14,32–42 parr.). Exegetische Grundlegung – Aspekte der Wirkungsgeschichte – didaktischer Ausblick. Münster 2009 [unveröffentlicht]. Nachfolgend werden vor allem Gedanken und Ausführungen von S. 28–29 erneut aufgegriffen. Programmatisch wählte beispielsweise R. Feldmeier diesen Titel für seine Studie (siehe unten). Zur Streitfrage um die Historizität der Getsemani-Erzählung siehe beispielsweise die Übersicht bei F ELDMEIER, Die Krisis des Gottessohnes, S. 133–139; ebenso GNILKA, Das Evangelium nach Markus II, S. 256–258. Feldmeier ist dahingehend zuzustimmen, dass die vorliegende Erzählung wahrscheinlich in ihrem Grundbestand historisch ist bzw. einen historischen Kern hat (vgl. ebd. S. 138–139). Besonders überzeugend ist sein Verweis auf die Anstößigkeit der hier geschilderten Szenerie, nicht zuletzt wird Jesus hier in seinem ganzen Zweifeln und seiner ganzen Verzweiflung gezeigt. Dies bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass im nachösterlichen Rezeptionsprozess keine weitergehenden Deutungen zur Reflexion in diese Erzählung eingearbeitet wurden. Übersetzung in Orientierung am MNT.
188
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
75,9).891 Folgt man dieser Deutung, könnte hier tatsächlich ein tieferer Verweis auf die Verbindung von „Zorn Gottes“ und Leidensschicksal Jesu wurzeln. Besonders im Erzählzusammenhang des Markusevangeliums deutet sich in Bezug auf die Kelchmetapher der Aspekt der Stellvertretung an, in deren Konsequenz Jesus das Gericht für die Sünder erleidet.892 Und doch zeigt sich, dass eine entsprechende Metapher bereits im damaligen Kontext vielfältiger verstanden werden konnte. Das Bild des Bechers konnte nämlich auch allgemein die Bedeutung von Schicksal besitzen (vgl. z. B. Ps 16,5), womit, nach Hermann Patsch, der Akzent eher auf das „Todesgeschick“ Jesu gelegt werden würde.893 Ausgehend von der Verwendung des Kelchbildes in Mk 10,38 könnte es somit auch das kommende Leidensschicksal Jesu bzw. in der Entwicklung des Gebetes die Leidensannahme durch Jesus zum Ausdruck bringen.894 Insofern bleibt zunächst festzuhalten, dass das Getsemani-Gebet durchaus Assoziationen zur alttestamentlichen Rede vom „Zorn Gottes“ wecken konnte bzw. hierin eine zeitgenössische Möglichkeit bestand, die Bitte Jesu dementsprechend zu deuten. Dies zeigt sich insbesondere bei der Verwendung des Motivs im Markusevangelium. In Bezug auf den historischen Jesus sind allerdings die Indizien zu gering, um ihm dieses Verständnis zuzusprechen. Insgesamt deutet sich durch die Analyse an, dass das Motiv des „Zornes Gottes“ im Kontext der Deutung des Todes Jesu eher ein Verständnishemmnis als einen tragfähigen Zugang bietet.
891
892
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894
Vgl. BACKHAUS, „Lösepreis für viele“ (Mk 10,45), S. 101 sowie sehr differenziert F ELDMEIER, Die Krisis des Gottessohnes, S. 176–185. K. Backhaus sieht (u. a. unter Bezugnahme auf GNILKA, Das Evangelium nach Markus II, S. 102) in der Kelchmetapher eine Andeutung dafür, dass Jesus das göttliche Gericht anstelle der Sünder erlitten habe. Hierin liegt, seines Erachtens, eine „soteriologische Leseanweisung“ (BACKHAUS, „Lösepreis für viele“ (Mk 10,45), S. 101, insgesamt S. 101–102). Grundsätzlich geht auch R. Feldmeier in seiner Studie von diesem Bedeutungszusammenhang aus. Vgl. PATSCH, Art. ποτήριον, Sp. 340 (hier auch der zitierte, im Original ebenfalls hervorgehobene Begriff). Vgl. GUTTENBERGER, Die Gottesvorstellung im Markusevangelium, S. 197–198. Auch R. Miggelbrink kommt nach eingehender Analyse zu dem Schluss, der im Markusevangelium erwähnte Becher sei „der Becher bewußt angenommenen Leidens, den Jesus trinkt“ (MIGGELBRINK, Der Zorn Gottes, S. 287). Miggelbrink betont zutreffend, dass in der vorliegenden Szene ebengerade nicht die Reichung des Bechers durch Gott thematisiert werde und damit der metaphorische Bezug des „Zornesbechers“ als Ausdruck des Gerichts- sowie Strafhandelns Gottes nicht greife (vgl. ebd.).
5. Der Kreuzestod Jesu
5.3
189
Zusammenführung und Ausblick
In der Gesamtschau kann deswegen betont werden, dass das Bild eines „zornigen Gottes“, der das stellvertretende Lebensopfer seines Sohnes einfordert, nicht mit der Botschaft Jesu vereinbart werden kann. Wenn Jesus an anderen Stellen über den „Zorn Gottes“ spricht, dann um die Verantwortung des Einzelnen und Israels in dem von ihm offenbarten Heils- und Beziehungsgeschehen zu verdeutlichen und einzufordern. Verantwortung spricht Jesus deswegen zu, weil er von einer gnadenhaften Hinwendung Gottes zu Israel ausgeht, und er den ihm begegnenden Menschen deswegen eine aktive Teilhabe an diesem Heilswerdungsprozess zutraut. Die kontrastive Idee, dass Jesus die Menschen stellvertretend aus dieser Verantwortlichkeit entlässt oder die verheißene Gnade dann abschließend doch noch verdienen muss, verkennt diesen zentralen Aspekt seiner Botschaft. Insofern ist es folgerichtig, dass heutige Exegeten und Exegetinnen versuchen, die lebenstragende Dimension des Todes Jesu zum Ausdruck zu bringen, was sich besonders auch im Begriff der „Lebenshingabe“895 zeigt. Der Gedanke, dass Jesus seinen Tod als Sühne verstand, um das Heil für ganz Israel sicherzustellen, erscheint mit Blick auf seine Botschaft nicht zwingend, jedoch auch nicht ausgeschlossen. Trotz der Möglichkeit, Jesaja 53 als Verständnishintergrund heranzuziehen, bleibt eine entsprechende Sühnevorstellung Jesu kaum rekonstruierbar. Die heute nur noch schwer nachvollziehbare Sühnebedeutung des Todes Jesu in eine für die Moderne tragfähige Form zu übersetzen und dadurch ihre existenzielle Relevanz neu einsichtig werden zu lassen, ist Aufgabe der verschiedenen theologischen Disziplinen – insbesondere der systematischen Theologie.896 Als wichtige Bausteine können dabei die abschließenden Überlegungen Helmut Merkleins helfen: „Der biblische Sühnegedanke will nicht das Subjekt entmündigen oder aus seiner Verantwortung entlassen. […] Im Gegensatz zu einer bloß verbalen Vergebung […] läßt gerade die Symbolik der Sühne keinen Zweifel an der Wirk-lichkeit [sic!] der Sünde, ja sie führt dem Sünder diese Wirk-lichkeit in der Symbolik des Stellvertreters unübersehbar vor Augen. […] Stellvertretung bedeutet nicht, daß der Stellvertreter dem schuldigen Subjekt die Schuld wegnimmt. Der Stellvertreter ist vielmehr das Symbol einer von Gott gewährten Lebensmöglichkeit für den Sünder, der ohne dieses Symbol – den Tod vor Augen – zerbrechen oder seine Schuld verdrängen müßte. Gerade die Symbolik der Sühne eröffnet dem schuldigen Subjekt die Möglichkeit, sich uneingeschränkt zur eigenen Schuld zu stellen, im Symbol des Stellvertreters
895 896
Begriff unter anderem geprägt von B. Janowski (siehe oben). Siehe hierzu beispielsweise die Ansätze bei MIGGELBRINK, Der Zorn Gottes, S. 252–277.
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
190
den verdienten eigenen Tod zu bejahen und eben darin sich mit neuer Lebensmöglichkeit beschenken zu lassen. Erst in dieser Konstellation kann Vergebung verantwortet akzeptiert werden.“ 897
Meines Erachtens gilt es zu prüfen, ob im Anschluss an den Apostel Paulus nicht der Begriff „Versöhnung“ terminologisch angemessener ist, um das im Tod Jesu alleine aus der Gnade Gottes heraus wirksame Liebes- und Beziehungshandeln zu begreifen.898 Die bis heute andauernde theologische Suchbewegung, das Leben und Sterben Jesu Christi angemessen zu begreifen, zeigt sich in besonderer Weise auch bereits beim Apostel Paulus. Dieser war es letztlich, der, anders als in den fragmentarischen Aussagen Jesu in den Evangelien, die Bedeutung des stellvertretenden Todes Jesu vor dem Hintergrund des göttlichen Heilsplanes und Gerechtigkeitshandelns vertiefend reflektierte. Er war es auch, der dabei ein Bewusstsein vom „Zorn Gottes“ vor dem Hintergrund des „Christusereignisses“ wieder zur Sprache brachte.
6.
Wirkungsgeschichte – Die Rede vom „Zorn Gottes“ bei Paulus, eine Verzerrung der Heilsbotschaft Jesu?
6.1
Vorüberlegungen
Es mag überraschen, dass innerhalb der paulinischen Briefe ganze fünfzehn Mal vom „Zorn Gottes“ (ὀργή) gesprochen wird, dabei alleine zwölf Mal im Kontext des theologisch wirkmächtigen Römerbriefes.899 Diesbezüglich jedoch von einer Wiederentdeckung oder Renaissance des „Gotteszornes“ bei Paulus zu sprechen, verkennt, dass er sich in einer Redetradition bewegt, die ihre Ursprünge im Ersten Testament hat und bis hin zu Johannes dem Täufer sowie dem historischen Jesus geht. Kurzum: Man sollte Paulus nicht voreilig unterstellen, dass er einen Fremdkörper in die Botschaft Jesu hineingetragen hat,900 sondern prüfen, inwieweit er bei seiner Rede vom „Zorn 897 898
899
900
MERKLEIN, Wie hat Jesus seinen Tod verstanden?, S. 189. Zur terminologischen Unterscheidung von „Sühne“ und „Versöhnung“ siehe LIMBECK, Zürnt Gott wirklich?, S. 33–37. Vgl. BENDEMANN, Art. Zorn Gottes (NT), 5. (S. 10 der PDF-Version), online abrufbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/59453/ (Stand: 25.06.2020). Zum Römerbrief vgl. vertiefend auch TRUMMER, Der „sanfte“ Jesus und der „zornige“ Gott, S. 127–129. In diese Richtung tendiert, trotz insgesamt sehr differenzierter Analyse, beispielsweise M. Limbeck: „Andererseits: Achtet man darauf, wie Jesus zu den Menschen sprach und wie
6. Die Rede vom „Zorn Gottes“ bei Paulus
191
Gottes“ auf bereits vorhandene Deutungs- und Vorstellungsmodelle zurückgreift. Damit ist nicht gleichzeitig ausgesagt, dass der Apostel darum bestrebt war, authentische Jesusworte auszulegen,901 vielmehr ging es ihm darum, Jesus Christus in seiner Heilsrelevanz den Menschen näherzubringen. In den Briefen des Paulus begegnet also eine durch „Kreuz und Auferstehung“ sowie die eigene Christusbegegnung geprägte Sichtweise, die jedoch – und dies ist zentral – durchaus ihren Bezugspunkt in Jesu Geschichte, seinem Lebens- und Leidensschicksal, hat.902 Insofern gilt es auch Aussagen Pauli über den „Zorn Gottes“ als Deutung des in Christus offenbarten Geschehens zu würdigen, jedoch gleichzeitig kritisch abzuwägen, inwiefern diese sich auf die Verkündigung des historischen Jesus berufen können. Es geht also mehr darum, größere theologische Zusammenhänge zu verdeutlichen, als darum, eine umfassende Gesamtschau sowie Auslegung der jeweiligen Einzelstellen zu gewährleisten. Dabei liegt die besondere Herausforderung des Kapitels zunächst darin, die für das Verständnis entsprechender Passagen notwendige paulinische Theologie in Ansätzen darzulegen. Paulus wollte nicht als eine Art „Dogmatikprofessor“ seine Gotteslehre publizieren, diese war oftmals vielmehr eine Reaktion auf konkrete Probleme und Fragen der adressierten Gemeinden, also eine sich entwickelnde, „konkrete, aktuelle Theologie“ 903. Deshalb verwundert es wenig, dass auch keine moderne Darstellung über Paulus es schafft, ein einheitliches, systematisch geschlossenes Gesamtbild seiner Lehre zu geben.904 Die nachfolgende Annäherung an die paulinische Theologie steht somit unter der Einschränkung ihres fragmentarischen Charakters, wird jedoch helfen, seine Rede vom „Zorn Gottes“ tiefergehend zu begreifen. Dafür sollen vor allem drei Aspekte in den Blick genommen werden: Das paulinische Gottesbild, die von Paulus angenommene Bedeutung Jesu Christi für den göttlichen Heilsplan und
901
902
903 904
er sie ermutigte, in Gott den barmherzigen Vater zu sehen, der sehnsüchtig auf die Rückkehr des Verlorenen wartet und ihm mit offenen Armen entgegeneilt, dann ist es zumindest nicht mehr so einfach, Gott im Zorn zu denken. Sollte Gott in seiner Zuneigung derart schwanken? Sich also für Jesu Position zu entscheiden, fiele gewiss leichter, gäbe es nicht den Apostel Paulus, für den Gottes Zorn, gerade im Blick auf den gekreuzigten Jesus, wiederum eine feststehende Tatsache war.“ (LIMBECK, Zürnt Gott wirklich?, S. 7, siehe vertiefend auch S. 61–63). J. Becker bemerkt hierzu unter anderem: „Nicht, was Jesus selbst vertrat, ist ihm [Paulus; C.W.] entscheidend, sondern inwiefern er [Jesus Christus; C.W.] Gottes Äußerung den Menschen gegenüber ist.“ (BECKER, Paulus, S. 120). Vgl. vertiefend das Kapitel „Paulus und die Geschichte Jesu Christi“ bei REINMUTH, Paulus, S. 67–77. So zutreffend ebd., S. 164. Die grundlegenden Schwierigkeiten verdeutlicht sehr akzentuiert FENSKE, Paulus lesen und verstehen, S. 45.
192
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
die damit verbundenen Perspektiven auf die Gerechtigkeit Gottes. – Jedes einzelne dieser Themen verdient eine differenziertere Behandlung, als sie hier erfolgen kann. Insofern wird stets auf weitergehende Studien verwiesen, durch die hier angesprochene Sachzusammenhänge vertieft werden können.
6.2
Paulinische Theologie: Gott, Jesus Christus und die Frage nach der göttlichen Gerechtigkeit
Für Paulus ist Gott zunächst kein Unbekannter, sondern, trotz einer aus dem Christusereignis resultierenden Neuakzentuierung des Gottesbildes, der Gott des Ersten Testaments, der Gott Israels. 905 Dieser ist es somit, der die Welt geschaffen hat, und auf ihn hin orientiert sich die gesamte Schöpfung (vgl. Röm 11,36). Als Schöpfer ist Gott „Ursprung und Ziel“ 906 alles Seienden.907 Der eine und einzige Gott steht somit der Welt nicht apathisch gegenüber, sondern lenkt ihre Geschichte und damit das Geschick der Menschen.908 Aus dieser Vorstellung resultiert, dass die Schöpfung nicht einfach ins „Leere“ fällt, sondern das Gericht Gottes den Endpunkt bildet. Für Paulus steht dieses Gericht Gottes unmittelbar bevor,909 so dass „von daher der Weltbezug des Christen unter dem Gesichtspunkt der vergehenden Welt zu sehen ist (I. Kor 7,29–31)“910. Der entscheidende Neuansatz Pauli im Vergleich zu den Gottesvorstellungen des Ersten Testaments ist, dass sich für ihn Gott in sowie durch Jesus Christus letztgültig offenbart und dadurch zum Heil aller Menschen gewirkt hat.911 Für Paulus ist Jesus Christus mit seinem Schicksal, wie Jürgen Becker treffend anmerkt, der „personalisierte Liebeswille Gottes“ 912, wie der Apostel an verschiedenen Stellen in seinen Briefen zum Ausdruck bringt (vgl. 2 Kor 5,14; Röm 5,8).913 In diesem Zusammenhang spricht Paulus weniger dem gesamten irdischen Wirken Jesu als vielmehr seinem Tod und seiner Auferstehung eine soteriologische Bedeutung zu.914 Von den vielen Stellen, die im Zusammenhang mit dieser
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Vgl. GNILKA, Paulus von Tarsus, S. 193 (hier auch weitergehende Überlegungen zu Neuansätzen des Gottesbildes bei Paulus). So ein Teil der Kapitelüberschrift bei Gnilka (ebd.). Vgl. zu diesem Aspekt vertiefend BECKER, Paulus, S. 402–409. Vgl. ebd. S. 405. Vgl. z. B. FENSKE, Paulus lesen und verstehen, S. 83–84; BECKER, Paulus, S. 409. BECKER, Paulus, S. 409. Vgl. GNILKA, Paulus von Tarsus, S. 193. BECKER, Paulus, S. 424. Auf entsprechende Stellen verweist auch Becker (ebd.). Eine grundsätzliche Übersicht über die paulinische Soteriologie findet sich bei FENSKE, Paulus lesen und verstehen, S. 207–220.
6. Die Rede vom „Zorn Gottes“ bei Paulus
193
komplexen Thematik behandelt werden könnten915, sei exemplarisch auf eine Stelle im Römerbrief (Röm 3,21–26) verwiesen.916 Für Paulus kennzeichnet die menschliche Existenz die Sünde (vgl. Röm 3,9– 20), die Verfehlung gegenüber dem göttlichen Willen und die daraus resultierende Entfremdung zu Gott (vgl. Röm 3,23). Hiermit ist, nach Walter Klaiber, ein fundamentaler „Mangel an wahrem Leben“917, das Fehlen der von seiner Bestimmung her eigentlich gewollten Teilhabe des Menschen an der immerwährenden Herrlichkeit Gottes, gemeint.918 Menschliche Existenz wird vor diesem Hintergrund in ihrer ganzen Schuldverstrickung erkennbar,919 als ein Zustand, in dem es außerhalb der eigenen Möglichkeiten liegt, erneut in die vollendete Gemeinschaft mit Gott zu treten 920. Vor diesem Hintergrund erweist sich für Paulus die Gerechtigkeit Gottes darin, dass ebendieser initiativ tätig wird, die Wiederannäherung an den Menschen vollzieht, diesen kraft seiner Gnade durch Jesus Christus erlöst 921, und ihn so gerecht macht (vgl. Röm 3,24).922 Vor dem ersttestamentlichen Verständnishintergrund kennzeichnet Erlösung damit die Befreiung aus lebensvernichtender Fremdbestimmung, die Ermöglichung neuen Lebens sowie die Neukonstituierung einer Liebes- sowie Lebensbeziehung zwischen Gott und seinem Volk (vgl. z. B. auch Jes 43,1).923 Die dann von Paulus nachgestellte Erläuterung des Zusammenhangs zwischen dem Tod Jesu und der Befreiung aus der Sünde (vgl. Röm 3,25–26) bereitet 915
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Interessant in Bezug auf den Aspekt der „Stellvertretung“ ist sicherlich auch die Passage 2 Kor 5,14–21; vgl. auch die anschauliche Analyse bei REINMUTH , Paulus, S. 129–142. Die eigentliche Tiefenbedeutung der Rechtfertigungslehre wird vor allem im Römerbrief dargelegt. W. FENSKE (Paulus lesen und verstehen, S. 209) weist jedoch zu Recht darauf hin, dass unklar ist, inwieweit Paulus hier Traditionen aufgreift oder diese eigenständig entwickelt. Entscheidend ist jedoch, dass Paulus entsprechende Aussagen bejaht (dies bemerkt auch LIMBECK, Zürnt Gott wirklich?, S. 24). Insgesamt erscheint eine Beschäftigung mit dem Römerbrief deswegen sinnvoll, da Paulus in diesem versucht seine Theologie unbeeinflusst, das meint ohne auf konkrete Anfragen der Gemeinde zu reagieren, darzulegen (vgl. auch ebd., S. 15). KLAIBER, Der Römerbrief, S. 59. Vgl. hierzu auch die tiefergehende Interpretation bei Klaiber (ebd.). So REINMUTH, Paulus, S. 145. – C. Janssen sieht hier vor allem auch die Verstrickung in die Unrechtsstrukturen des Imperium Romanum angesprochen (vgl. vertiefend und weiterführend JANSSEN, Gottes Gericht: düstere Drohung oder Hoffnung auf Zukunft?, S. 230– 231). Dies bemerkt auch STUHLMACHER, Gerechtigkeit Gottes bei Paulus, S. 88. W. Klaiber betont, dass „Erlösung“ im zeitgenössischen Verständnis auf den Freikauf aus der Sklaverei verweisen könne (vgl. KLAIBER, Der Römerbrief, S. 60). P. Stuhlmacher bemerkt beispielsweise: „V. 24–26 proklamieren angesichts solcher Verlassenheit das neue Kommen Gottes zu seiner Kreatur und den Anbruch der neuen Gotteswelt im rettenden Opfer des Christus.“ (STUHLMACHER, Gerechtigkeit Gottes bei Paulus, S. 88). Diese Aspekte benennt und verdeutlicht völlig zutreffend KLAIBER, Der Römerbrief, S. 60 (hier auch weitergehende Bibelverweise).
194
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
heutigen Auslegern aufgrund der komplexen Satzkonstruktion große Schwierigkeiten. Wahrscheinlich ist es, dass mit der Bezeichnung Jesu als „Sühneort“ (Hilasterion) eine Analogie zwischen Jesus und dem Deckel der Bundeslade, auf den am Versöhnungstag als Sühne das Blut des geopferten Tieres gesprengt wurde (vgl. Lev 16,14–17), hergestellt werden soll. 924 Gottes Gerechtigkeit bestünde demnach darin, dass er selbst durch den Tod Jesu bzw. dessen sühnende „Lebenshingabe“925 die lebenszerstörenden Auswirkungen der menschlichen Sünden bewältigt und so zur erneuten Gemeinschaft mit sich befreit.926 Mit Ralf Miggelbrink lässt sich dazu festhalten: „Gottes Gerechtigkeit als die von Gott her sich durchsetzende Lebensordnung des Menschen ist eine aus der Kraft Gottes heraus wirksame, kreative Macht, die in der Lage ist, Menschen gerecht zu machen, sie zu rechtfertigen.“927
Gerechtgesprochen bzw. gerechtfertigt wird der Mensch für Paulus durch den Glauben an Jesus Christus, der die Teilhabe an der Gerechtigkeit Gottes eröffnet.928 Grundlage dieses „neuen Lebens“, die Chance sich aus dem Machtbereich der Sünde zu befreien, ist für ihn die schicksalhafte Hineinnahme in den Tod und die Auferstehung Jesu Christi in der Taufe (vgl. Röm 6,1–14).929 Wie fundamental für Paulus die errettende Zäsur, die Chance, eine neue Lebensperspektive durch den Glauben an Jesus Christus zu gewinnen, ist, betont Meinrad Limbeck: „Christus Jesus – wenn Paulus von ihm sprach, dachte er nicht an jemanden, der vor Jahren in Galiläa und Judäa gepredigt und geheilt hatte. Wenn Paulus von Christus Jesus sprach, dann sah er den vor sich, der von den Toten auferweckt als Herrscher 924
925
926 927 928 929
Dieser Aspekt wird in fast jeder gängigen Auslegung betont. Hilfreich zum Verständnis ist die weitergehende Erläuterung bei W. Klaiber: „Wenn der Priester seine Hand auf das Opfertier aufstemmte (Lev 4,4; 16,21), übertrug er nicht nur die zu sühnende Schuld auf das Tier. Er identifizierte den, der das Opfer darbringt, mit dem Tier, das geopfert wird. Indem das Tier den Tod dessen stirbt, der sein Leben verwirkt hat, wird das Todesverhängnis von ihm genommen und damit auch die Gemeinschaft vom Verwesungsgift ungesühnter Schuld befreit. Durch das Todesgericht hindurch ist neues Leben möglich. Dabei ist der Blutritus von besonderer Bedeutung: Das Blut gilt als Sitz des Lebens, und darum symbolisiert das vergossene Blut des Opfertiers sowohl die stellvertretende Lebenshingabe als auch das Geschenk neuen Lebens in der Begegnung mit Gott […].“ (ebd., S. 62). Zur Begrifflichkeit siehe die vorangegangenen Hinweise im Kontext der Deutung der Abendmahlsworte Jesu. Vgl. weitergehend KLAIBER, Der Römerbrief, S. 63. MIGGELBRINK, Der zornige Gott, S. 97 (Hervorhebung im Original). Vgl. hierzu weiterführend GNILKA, Paulus von Tarsus, S. 244–247. Zur Bestimmung des Verhältnisses von „Taufe“ und „Glauben“ siehe KLAIBER, Der Römerbrief, S. 108–109; für eine systematische Zusammenschau zum Sakrament der Taufe bei Paulus siehe FENSKE, Paulus lesen und verstehen, S. 124–130. – M. Limbeck betont, dass Paulus dem Tod Jesu keine sündenvergebende Bedeutung zugesprochen habe. Vielmehr bestehe für Paulus die Heilsbedeutung Jesu Christi darin, dass dieser derjenige sei, „durch den uns Menschen von Gott her kraft seines Geistes ein neues Leben ermöglicht ist“ (LIMBECK, Zürnt Gott wirklich?, S. 49, vgl. insgesamt S. 47–50).
6. Die Rede vom „Zorn Gottes“ bei Paulus
195
über alle Mächte und Gewalten [vgl. 1 Kor 15,24–27; C.W.] der Stammvater all jener war, die sich im Glauben an das Evangelium mit ihm verbanden und so die Möglichkeit hatten, in Gemeinschaft mit ihm furchtlos und frei aus Gottes Liebe zu leben – mit ihm, den Gott für uns Menschen als den Sühneort schlechthin eingesetzt hat.“930
Bereits diese schemenhafte Annäherung an die Vorstellungswelt von Paulus eröffnet jedoch die Frage, inwiefern die Rede vom „Zorn Gottes“ vor dem Hintergrund dieser Versöhnungsbotschaft Bedeutung gewinnt. Vielmehr noch gilt es – in Anlehnung an Meinrad Limbeck – weitergehend zu fragen: Zürnt dieser liebend-versöhnungsbereite Gott Jesu Christi überhaupt noch?931
6.3
Kontexte des „Zornes Gottes“ bei Paulus
Für Ralf Miggelbrink ist Paulus „Theologe der machtvoll verwandelnden Gnade Gottes als der Herzmitte christlicher Existenz“932 und „zugleich Theologe des Gotteszornes“933. Diese griffige Charakterisierung wäre falsch verstanden, wenn man daraus schlussfolgert, dass eine Theologie des Zornes bei Paulus den gleichen Stellenwert hat, wie die im Evangelium Jesu Christi zum Ausdruck gebrachte Heils- und Liebesbotschaft Gottes. Sie bestimmt maßgeblich die Perspektive des Paulus, 934 wird deswegen doch, wie eben gesehen, die „Jetztzeit“ von Paulus positiv qualifiziert als „Gottes Kairos, die von ihm bestimmte Zeit des Heils“ 935 (vgl. Röm 3,26). Der Apostel kann Jesus dabei als den verkünden, „der uns dem kommenden Zorn [Gottes] entreißt“936 (1 Thess 1,10). – Aufschlussreich ist diese Stelle vor allem deswegen, da sie, neben der Hoffnung auf die Heilsbedeutung Jesu Christi, zeigt, dass der „Zorn Gottes“ für Paulus trotz alledem noch eine existente Größe zu sein scheint. Wie bedrohlich diese gegenwartsbestimmende Wirklichkeit des Zornesgerichts Gottes ist, wird mit Blick auf den Zusammenhang von Röm 1,6– 18 darin augenscheinlich, dass ebendieses Gericht gerade das Bekenntnis zu dem von Gott in Jesus Christus gewirkten Erlösungshandeln notwendig macht.937 So heißt es in Röm 1,18, im Anschluss an die Aussage, dass der Glaube an das Evangelium errettet:
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932 933 934 935 936 937
LIMBECK, Zürnt Gott wirklich?, S. 32 (Hervorhebungen im Original). Vgl. zur Skizzierung der bei Limbeck diskutierten Problemstellung auch ebd., Kapitel A bzw. S. 9–10. Vgl. MIGGELBRINK, Der zornige Gott, S. 97. Ebd. Vgl. vertiefend BECKER, Paulus, S. 424. KLAIBER, Der Römerbrief, S. 63. So übersetzt griffig F. STIER. Vgl. auch LIMBECK, Zürnt Gott wirklich?, S. 15–16; KLAIBER, Der Römerbrief, S. 31–32.
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
196
„Denn: Es enthüllt sich Gottes Zorn[gericht] vom Himmel her wider alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, welche die Wahrheit ungerecht niederhalten.“938
Hierzu Walter Klaiber: „Dass sich diese Wirklichkeit vom Himmel her über allem menschlichen Fehlverhalten [vgl. auch Röm 1,28–32; C.W.] zeigt, macht deutlich: Dieses Gericht kommt von Gott, und niemand kann ihm entrinnen. Es ist sicher nicht die Aufgabe der christlichen Verkündigung, den Menschen vor Gottes Zorn Angst zu machen. Wohl aber ist es wichtig, den Menschen die Augen dafür zu öffnen, dass ein Leben ohne Gott ein Leben unter dem Nein Gottes gegen Sünde und Ungerechtigkeit ist, und dass die Auswirkungen dieses Neins überall zu spüren sind.“ 939
Der „Zorn Gottes“ erscheint hier, so lässt sich dieser Gedanke vertiefen, weniger ein aktives Handeln Gottes als vielmehr ein durch den Menschen selbst gewirkter Existenzzusammenhang zu sein, der eine schicksalsprägende Kraft gewinnt.940 Zugleich wird hierin nämlich ein klares Profil des Gottesbildes von Paulus erkennbar, dass Claudia Janssen wie folgt charakterisiert: „Das Gottesbild, das hinter diesen Schilderungen des Paulus aufscheint, zeigt einen Gott, der der menschlichen Geschichte verbunden ist und seine Parteilichkeit gegenüber den Opfern von Gewalt und Unrecht zum Ausdruck bringt. Paulus beschreibt einen Gott in Beziehung, dessen Zorn Ausdruck seines Beteiligtseins am Schicksal der Menschen und ihrer Beziehungen untereinander ist.“941
Für Paulus ist die durch Christus gewirkte Heilswende, wie Ralf Miggelbrink zutreffend verdeutlicht, also nicht so zu begreifen, dass ein Zeitalter des göttlichen Zorns durch ein Zeitalter des göttlichen Erbarmens abgelöst wurde: Der „Zorn Gottes“ bleibt gegenwarts- und das Endgericht Gottes zukunftsbestimmend.942 Entscheidender Weise liegt hierin für Paulus kein Widerspruch zum Liebeswillen Gottes, sondern ein konsequentes Bekenntnis zum lebensschaffenden Gott Israels, der das lebensverneinende Unrecht nicht dulden kann.943 Er begreift also, wie Eckart Reinmuth es ausdrückt, „Gottes Handeln in Liebe nicht als ein Unrechtverwischendes, sondern Schuldbeseitigendes“ 944. Vor dem Hintergrund des nahenden Gerichts ist für Paulus der Glaube an Jesus Christus die einzig angemessene Reaktion.945 Paulus kann so, wenn auch nicht ausschließlich, die Hoffnung aussprechen, dass diejenigen, die in der Gemeinschaft mit Christus leben, den Gotteszorn, also das göttliche Gericht nicht 938 939 940 941 942 943 944
945
So die Übersetzung von F. STIER (Hervorhebung durch C.W.). KLAIBER, Der Römerbrief, S. 33 (Hervorhebung im Original). Vgl. auch MIGGELBRINK, Der zornige Gott, S. 98. JANSSEN, Gottes Gericht: düstere Drohung oder Hoffnung auf Zukunft?, S. 227. Vgl. MIGGELBRINK, Der zornige Gott, S. 100–101. Vgl. auch REINMUTH, Paulus, S. 186–187. Ebd., S. 187 (hier auch die Großschreibung von „Unrechtverwischendes“ und „Schuldbeseitigendes“). Dies betont zutreffend BECKER, Paulus, S. 409.
6. Die Rede vom „Zorn Gottes“ bei Paulus
197
fürchten müssen (vgl. neben. 1 Thess 5,9 z. B. Röm 5,9).946 Was dies für den Apostel bedeutet, veranschaulicht Ralf Miggelbrink: „Wo der Mensch sich hingebend der Botschaft öffnet, dass Christus am Kreuz sein Leben hingegeben hat für die vielen, da gewinnt er Anteil an der rettenden Wirksamkeit Gottes in der Welt, da tritt er ein in den Kraftbereich der Gerechtigkeit Gottes , die das Leben jedes Menschen verwandeln will. Durch diesen Glauben als Hingabe an die Botschaft vom Gekreuzigten entgeht der Christ dem Gericht [bzw. der Strafe im Gericht; C.W.] und allen immanenten Wirksamkeiten des Gotteszorns in der Gegenwart.“947
Daraus ergibt sich im Umkehrschluss jedoch nicht, dass Paulus die christlichen Gemeinschaften als Orte der Sündlosigkeit verklärt. Vielmehr rät er beispielsweise der Gemeinde in Korinth, einen Mann, der Inzucht begangen hat, aus der Gemeinde auszuschließen (vgl. 1 Kor 5,1–5). Die dabei leitende, heute nur noch schwer verstehbare Absicht ist es, diesen Mann zu retten: Durch die Exkommunikation soll er bereits dem gegenwärtigen „Zorn Gottes“ bzw. dem Satan ausgeliefert werden und so sein Geist der Verdammnis am Jüngsten Tag entgehen (vgl. 1 Kor 5,5).948 Der Apostel weiß also um das Scheitern der Menschen wie auch der christlichen Gemeinschaft, so sehr er diese auch zum ethisch angemessenen Verhalten ermahnt.949 Das Leben in der Liebe Gottes ist für ihn Gabe, aber auch Aufgabe. So steht die Gemeinde für ihn in der Verantwortung der Raum zu sein, der vor dem Gericht rettet.950 Dabei spricht er auch im Römerbrief den Einzelnen trotz Rechtfertigung nicht vom Gericht Gottes frei, sondern betont im Gegensatz zu jedweder menschlichen Verantwortungsvergessenheit, dass jeder gemäß seiner Werke951 gerichtet wird (vgl. Röm 2,5–8; 2 Kor 5,10).952 Wenn dies auch nicht für alle „ZornAussagen“ bei Paulus gilt, scheinen in Röm 2,5 wiederum bereits bekannte, in 946
947 948
949
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952
Vgl. hierzu auch LIMBECK, Zürnt Gott wirklich?, S. 42–43. – Insgesamt gibt es jedoch unterschiedliche Aussagen in den paulinischen Briefen (vgl. hierzu auch REINMUTH, Paulus, S. 187/Fußnote 179). Ebenso gibt es nämlich Stellen, die andeuten, dass allein das gute oder schlechte Handeln über das Schicksal vor dem Richterstuhl Christi entscheidet (vgl. 2 Kor 5,9–10; Röm 2,5–6). MIGGELBRINK, Der zornige Gott, S. 101 (Hervorhebungen im Original). Vgl. erläuternd LIMBECK, Zürnt Gott wirklich?, S. 42–43 sowie etwas tiefergehende akzentuiert REINMUTH, Paulus, S. 188–189. Diesbezüglich sei weitergehend an die zahlreichen Ermahnungen der Gemeinden erinnert (z. B. Gal 6,1; Röm 15,1–3). Zur Ethik des Paulus siehe den Überblick bei FENSKE, Paulus lesen und verstehen, S. 97–110. Vgl. REINMUTH, Paulus, S. 189 (hier die weitergehende Entfaltung des Gedankens). Es wäre missverstanden, diesbezüglich von der Vergeltung von Einzeltaten bzw. einzelnen Verfehlungen auszugehen. Vielmehr geht es bei diesem Gerichtsverständnis doch um eine zusammenführende Konfrontation mit dem eigenen, in Gemeinschaft gewirkten Leben (vgl. hierzu auch die Gedanken bei STOCK, Gott der Richter, S. 253). Zu einer differenzierten Deutung dieser Stelle siehe auch KLAIBER, Der Römerbrief, S. 40– 41 u. S. 43–44.
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
198
der Tradition des Ersten Testaments verwurzelte Vorstellungen vom „Tag des Zorns“ im Hintergrund zu stehen (vgl. Zef 1,14f./1,18/2,3; Jes 13,9 etc.). 953 Paulus entbindet also trotz seiner Hoffnungsbotschaft den Menschen nicht davon, die neue gnadengewirkte Existenz in seinem Leben wirksam werden zu lassen und als konsequente Erwiderung hierauf danach zu handeln. Insofern bleibt auch die diese Lebensorientierung ernst nehmende Botschaft vom göttlichen „Gericht“ und vom „Zorn“ Fundament seiner Theologie.954
6.4
Fazit
Ohne dass damit eine Erfassung des Motivs vom „Zorn Gottes“ bei Paulus oder gar seiner Theologie erfolgt wäre, sollten Grundbezüge dieser paulinischen Redeweise deutlich geworden sein. Die provokante Überschrift dieses Kapitels: „Die Rede vom ‚Zorn Gottes‘ bei Paulus, eine Verzerrung der Heilsbotschaft Jesu?“ lässt sich im Anschluss an die Analyse verneinen. Vielmehr kann man sagen, dass Paulus – trotz eigener Akzente und theologischer Schwerpunktsetzungen – in der Tradition Jesu stand. Um dies zu verdeutlichen, ist ein erneuter Rückblick auf den historischen Jesus hilfreich. Dessen Wirken war davon bestimmt, dass er einen den Menschen liebend zugewandten Gott verkündete, der die Chance zu neuem Leben, zu einer gnadenhaft geschenkten Rückkehr in die Gottesbeziehung eröffnete. Jesus selbst sah sich dabei nicht als Randfigur in diesem Heilsgeschehen, sondern als zentralen Ausgangspunkt, was beispielsweise bei seinen Dämonenaustreibungen, aber auch in der durch ihn geschenkten Sündenvergebung und der Neukonstituierung menschlicher Gemeinschaft in den Gastmählern deutlich wurde. In der Beziehung zu ihm wurde dies erfahrbar, in und durch ihn kam die Herrschaft Gottes zu den Menschen, hielt sie Einzug in die Gegenwart.955 Paulus kannte diesen irdischen Jesus nicht, besaß diesbezüglich also nicht „das Geringste an gemeinsamem Erleben – keine Freude, keine Mühe, kein Stückchen gemeinsamen Weges –, das ihn mit dem irdischen Jesus verbunden hätte“956. Es war der Auferstandene, Jesus Christus, den Gott ihm offenbarte, wie
953
954 955
956
Dieser Aspekt wie auch eine weitergehende Auseinandersetzung mit „Zorn und Gerechtigkeit Gottes bei Paulus“ findet sich bei BENDEMANN, Art. Zorn Gottes (NT), 5. (S. 13 in der PDF-Version), online abrufbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/ 59453/ (Stand: 25.06.2020). Vgl. dazu sehr pointiert REINMUTH, Paulus, S. 189–190. Die vorliegenden Aussagen wurden im Laufe der Analyse, besonders im Vergleich zwischen Jesus und Johannes ausführlich dargelegt und belegt. Für einen kurzen Überblick sei hier nochmal auf den Vergleich von Jesus und Johannes bei WOLTER, „Gericht“ und „Heil“, S. 31–63 (besonders S. 60–63) verwiesen. LIMBECK, Zürnt Gott wirklich?, S. 39.
6. Die Rede vom „Zorn Gottes“ bei Paulus
199
er an manchen Stellen seiner Briefe andeutet (vgl. 1 Gal 1,16; 1 Kor 9,1/15,8– 10).957 Für Paulus ging der Blick also zwangsläufig durch die Perspektive von „Kreuz und Auferstehung“, um zu begreifen, wie Gott durch Jesus Christus heilschaffend in diese Welt gewirkt hat. Für uns heutige spätere Christen, die auf die Tradition des Neuen Testaments zurückschauen, mag dieser Ansatz eine Geringschätzung des irdischen Lebens Jesu von Nazaret sein. Als Ansatzpunkt einer theologischen Suchbewegung, unmittelbar nach dem Kreuzestod Jesu und im Zeichen der eigenen Christusbegegnung, war dies geboten. Blickt man dementsprechend auf den Gott, den Paulus in seinen Briefen verkündigt, zeigt sich diese Interpretation des Christusereignisses mit ihren ganz spezifischen Akzentsetzungen. Ebenso bleiben jedoch die zentralen Konturen des von Jesus verkündeten Gottesbildes erhalten: Auch für Paulus ist Gott nicht apathisch, sondern den Menschen in seinem Beziehungshandeln zugewandt. Dieser Gott will das Heil der Menschen, indem er in und durch Christus wahrhaft heilend in diese Welt wirkt, das heißt die Möglichkeit zu neuem Leben, neuer Gottesgemeinschaft eröffnet. 958 Beide, Paulus und Jesus, begreifen Gott also als „Liebenden“, der verbindlich das Heil der Menschen will. 959 Dass dieses Heilshandeln den göttlichen Zorn, sein Gericht über das Unrecht bzw. die Strukturen der Sünde einschließt, ist vom Ansatz her keine paulinische Neuinterpretation, sondern Signum des Gottes Israels, des Gottes Jesu. 960 Auch in Bezug auf die Botschaft Jesu konnte nämlich in der bisherigen Analyse verdeutlicht werden, dass sie von einer „fordernden Liebe“ Gottes ausgeht, die eine neue, gnadenhaft geschenkte Lebensoption mit der Forderung nach einer neuen Existenzorientierung bzw. dem Handeln in Barmherzigkeit verbindet. Auch für 957 958
959
960
Vgl. hierzu vertiefend REINMUTH, Paulus, S. 22–27. Hierzu J. Becker: „Denn im Blick paulinischer Bemühung um die Christologie steht Christus als Gesandter, als Gekreuzigter und Auferstandener, sowie als kommender Herr. Es sind also der Irdische und seine Zukunft, die Bedeutung erhalten. Paulus konzentriert sein Augenmerk genau darauf, weil in ihm Gott sein endzeitliches Weltverhältnis neu und grundlegend durch Liebe und nicht durch Zorn auslegt. Durch Christus will Gott nämlich kurz vor dem Ende aller Dinge sündige Menschen erwählen und verändern, damit sie mit dem Herrn für immer zusammenleben können (I. Thess 4,17; 5,9f.).“ (BECKER, Paulus, S. 424). Siehe hierzu die These von W. Dietz: „Gottes Erbarmen zielt nach Jesu Botschaft primär auf die Schuld des Menschen. Diese besteht nicht in einem moralischen Defizit, sondern im Rechtfertigungsrückstand gegenüber der väterlichen Liebe Gottes. Deshalb stellt die paulinische Rechtfertigungslehre die angemessene Antwort auf Jesu Botschaft von Sünde und Vergebung dar, wie dieser sie mit seinem Leben und Sterben, nicht nur mit Worten und Taten bezeugt. Nach Paulus konkretisiert sich Gottes Erbarmen in der grundlosen Rechtfertigung des Sünders, der als solcher unabweislich unter Gottes Zorn steht, sei es Jude oder Heide (Röm 1,18–3,20).“ (DIETZ, Biblische und systematisch-theologische Aspekte, S. 52 bzw. These 14). Vgl. zu diesem Aspekt auch die Überlegungen bei MIGGELBRINK, Der Zorn Gottes, S. 316– 317.
200
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
Jesus gibt es die Möglichkeit, dass der Mensch sich diesem Geschenk Gottes, der neuen Gottesbeziehung, verweigert und hierdurch ins alte, sündhafte Leben zurückfällt. Der Selbstausschluss aus diesem Heilswerdungsprozess hat auch für Jesus Gottes Gericht zur Folge. Auf ebendiesen Zusammenhang rekurriert Paulus bei seiner Rede vom gegenwarts- und zukunftsbestimmenden „Zorn Gottes“, dessen bedrohliche Dimension trotz Rechtfertigung durch den Glauben an Christus (vgl. Röm 3,22) existent bleibt, ja bleiben muss, weil der Mensch dieses Heilsangebot auch zurückweisen kann.961 Hiermit soll nicht gesagt sein, dass jede Aussage von Paulus über „den Zorn“ oder „das Gericht“ Gottes der Verkündigung Jesu entspricht oder mit dieser harmonisiert werden kann. Dies gilt es einzeln zu prüfen und zu diskutieren. Zu problematisieren oder zumindest historisch-kritisch zu kontextualisieren ist diesbezüglich z. B. die Stelle 1 Thess 2,16, in der Paulus den Juden verdiktartig ihre Gerichtsverfallenheit attestiert. 962 Wohl aber kann bereits hieran abschließend herausgestellt werden, dass Paulus mit seiner Rede vom „Zorn Gottes“ keinen „Fremdkörper“ in die Botschaft Jesu hineintrug, sondern versuchte den Gott Israels sowie die darauf wurzelnde jesuanische Verkündigung eines liebenden und damit auch notwendigerweise richtenden Gottes für seine nachösterliche Gegenwart neu zu begreifen.
7.
„Jesus und der Zorn Gottes“ – Zusammenführung
Ziel dieses Kapitels ist es nicht, die Einzelergebnisse der jeweiligen Analysekapitel zu wiederholen. Wohl aber können größere Zusammenhänge abschließend verdeutlicht werden.963. Die Vorstellung, dass Gott „zürnt“ bzw. die daraus resultierende Rede vom „Zorn Gottes“ konnte und kann auf eine lange Tradition im Ersten Testament zurückblicken (vgl. 2.1). Sie prägte auch noch die Vorstellungswelt zur Zeit des historischen Jesus. Dementsprechend kündete Johannes der Täufer vom nahenden „Zorn Gottes“ (vgl. 2.2.1) und auch Paulus griff diese Redeweise explizit auf (vgl. 6). Beide können, wie die analysierten Quellen verdeutlichen, ihre Hoffnungsund Heilsbotschaft ohne Schwierigkeiten mit der Vorstellung eines richtenden Gottes verbinden. Für beide stellt dies vor dem Hintergrund ihrer jüdischen 961 962 963
Vgl. hierzu auch ebd., S. 328. Vgl. diesbezüglich die Beurteilung bei BEN-CHORIN, Paulus, S. 120–123. Alle nachfolgenden Verweise beziehen sich auf dieses Oberkapitel B bzw. Hauptteil I und die entsprechenden Unterkapitel. Diese werden im Darstellungsteil nur kurz mit der Nummerierung ausgewiesen.
7. „Jesus und der Zorn Gottes“ - Zusammenführung
201
Identität – wenn auch unter unterschiedlichen Offenbarungsvorzeichen – sogar ein konsequentes Bekenntnis zum einen Gott, dem Gott Israels dar . Aufgrund dieses Traditionszusammenhangs wäre es also zu kurz gegriffen, dem historischen Jesus diese Redeweise vom „Zorn Gottes“ grundsätzlich abzusprechen und sie gar von vorneherein als Fremdkörper in seiner Heilsbotschaft zu begreifen. Die exegetisch angemessene Frage muss vielmehr sein, wie er sich zu diesem „Erbe“, das von Paulus sogar nachfolgend wieder mit Christus in Verbindung gebracht werden konnte, positionierte. Diesbezüglich konnte – in Übereinstimmung mit bisher erfolgten exegetischen Studien – aufgezeigt werden, dass der historische Jesus mit Johannes einzelne Vorstellungen teilte, ja Teile in seine Heilsbotschaft integrierte. Dazu zählt die Ansicht, dass Gott richtet. Die von Jesus verkündete, gegenwarts- und zukunftsbestimmende Aufrichtung der lebenstragenden Herrschaft Gottes schloss im damaligen Vorstellungshorizont das Gericht bzw. ihre Durchsetzung gegen die lebensfeindlichen Widerstände als Teil dieses göttlichen Heilshandelns mit ein.964 Auch ohne dass Jesus dabei explizit vom „Zorn Gottes“ sprechen und diese Beziehungsmetapher aufgreifen musste, bezieht sich seine Botschaft also auf diesen Aspekt des Heilswerdungsprozesses (vgl. 2.2.2/2.2.3). Die Rede vom „Zorn Gottes“ bildet vor diesem Verständnishintergrund keinen Widerspruch zu Jesu Botschaft von der „Liebe Gottes“, sondern akzentuiert diese Hoffnungsperspektive, indem sie auf die Gerechtigkeit Gottes und seine ernsthafte Anteilnahme an der Lebensausrichtung des Menschen verweist. Dies wurde vor allem in den analysierten Gleichniserzählungen vertiefend einsichtig (vgl. zusammenführend 3.4). So kann der Zorn des Königs in Mt 18,34 als Verweis darauf gesehen werden, dass Gott der „lieblosen Verweigerung von Liebe“ 965 nicht gleichgültig gegenübersteht,966 sondern im Zeichen seines gerechtigkeitsschaffenden, eschatologischen Handelns das Unrecht sühnt und hierdurch die Sinnhaftigkeit der gelebten Barmherzigkeit sowie darin eingeschlossener Vergebungsbereitschaft gegenüber dem Mitmenschen verbürgt (vgl. 3.2). Die im Zeichen der Gottesherrschaft neu geschenkte Existenzmöglichkeit befähigt eben gerade dazu, anders zu leben, sie soll lebensorientierend und handlungsverändernd sein. Dieser Grundzug kommt auch in Mt 22,11–13 zum Tragen (vgl. 3.3.1.1).
964 965 966
Vgl. zu diesem Zusammenhang grundlegend WOLTER, „Gericht“ und „Heil“, S. 40–45. TÜCK, Der Zorn – die andere Seite der Liebe Gottes, S. 387. Vgl. auch SCHNEIDER, Barmherzigkeit und Zorn!, S. 177. Bereits G. Stählin erkennt mit Blick auf Mk 3,5 und Mt 18,23ff. als einen zentralen Grund des göttlichen Zorns im Neuen Testament „die Erwiderung der göttlichen Liebe mit Lieblosigkeit , des Erbarmens mit Unbarmherzigkeit […]“ (STÄHLIN, Teilart. ὀργή E. Der Zorn des Menschen und der Zorn Gottes im NT, S. 443; Hervorhebung im Original durch Sperrschrift). Durch die vorliegende Studie wird es möglich, diesen Aspekt differenzierter in den Gesamtzusammenhang der Botschaft Jesu einzuordnen und seine Bedeutung für diese zu ermessen.
202
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung
Die theologische Deutung dieser Gleichniserzählungen konkretisiert mit Blick auf die impliziten Bezüge zum „Zorn Gottes“ die Botschaft Jesu dahingehend, dass die Hineinnahme des Menschen in diesen neuen Heilszusammenhang den freien Willensentschluss anerkennt, zugleich aber auch in die Verantwortung nimmt.967 So zeitigt insbesondere auch die Verweigerung der Annahme dieser lebenstragenden Option Konsequenzen und man wird im Gericht zur Rechenschaft gezogen (vgl. zusammenführend 3.4). Gerade in Bezug auf die drastische Gerichtsmetaphorik muss jedoch beachtet werden, dass sie nicht detailliert eine Zukunft beschreiben, sondern die jeweilige Gegenwart im Sinne einer Entscheidung für Gott verändern will. 968 Die Gerichtsbotschaften wollen den Glauben nicht erzwingen, sondern Jesus ist vielmehr davon überzeugt, dass die von Gott geschenkte Güte den Menschen von innen heraus positiv zu verwandeln vermag.969 Die von Jesus verkündigte „Liebe Gottes“ wird durch die Perspektive des „Zornes Gottes“ und des „Gerichts“ als bedingungsloses und forderndes Geschenk970 zugleich erkennbar. Dieser Zuspruch und Anspruch an den Menschen spiegelt sich besonders auch im Verhalten Jesu wider (vgl. 4). Auch wenn die Evangelien diesbezüglich jeweils einzelne Szenen erzählerisch ausgestalten und neu kontextualisieren, wird ein verbindendes Moment deutlich: Teilhabe an der Gottesherrschaft und damit auch das Schicksal im bereits beginnenden Gericht entscheiden sich daran, wie man sich zu Jesus und seiner Botschaft verhält. 971 Jesus will in seinem Zorn nicht „vernichten“, wohl aber Widerstände gegen die sich durchsetzende Gottesherrschaft brechen, wie sich beispielsweise bei den Dämonenaustreibungen zeigt (vgl. 4.2.1). Zwar herrscht Jesus auch seine Jünger mitunter in ungeahnt scharfer Weise an. Allerdings ist dieser Zorn in Bezug auf seine Mitmenschen stets Ausdruck eines lebendigen Beziehungsgeschehens, das im Zeichen der angebrochenen Heilszeit von Hoffnung, aber auch Angst um das Gegenüber geprägt ist. Er dient dazu, aufzurütteln, vor dem Glaubensabfall zu schützen oder 967
968 969
970 971
Vgl. hierzu auch die bereits mehrfach zitierten Überlegungen bei PEMSEL-MAIER, Gericht – Himmel – Hölle – Fegefeuer als Hoffnungsbilder lesen, S. 208. Vgl. auch ebd., S. 206–207. Vgl. hierzu die weiterführenden Gedanken bei KOSCH, Zärtlichkeit und Zorn – Der Gott Jesu, S. 54–58. Diesbezüglich nimmt Kosch auf das Gleichnis vom Schatz im Acker in Mt 13,44 Bezug: „Zugleich ist dieses Gleichnis vom Schatz im Acker ein Gegenstück zum erwähnten Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht. Wo die Entdeckung der Güte Gottes wirklich in ihrer ganzen Tragweite erfasst wird, verändert sich Leben wie von selbst: Nicht das Risiko, nicht der Mut, nicht die Entscheidung, nicht die Verzichtbereitschaft, nicht der verlassene Besitz und die zurückgelassene Sicherheit und schon gar nicht die Angst vor den Folgen stehen im Mittelpunkt, sondern die Freude des Finders!“ (ebd., S. 56). Vgl. zu diesem Teilaspekt auch AUGUSTIN, Kraft der Barmherzigkeit, S. 73. Vgl. hierzu auch grundlegend REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 301–302 im Zusammenhang mit S. 311 u. 314.
7. „Jesus und der Zorn Gottes“ - Zusammenführung
203
für die heilvolle Lebensoption der Gottesherrschaft zu gewinnen (vgl. besonders 4.2.2 u. 4.2.4). Der „Zorn Jesu“ desillusioniert die Vorstellung, dass es eine von der Nächstenliebe losgelöste Form der Gottesliebe geben kann. So zürnt Jesus besonders, wenn er eine Neuorientierung in Barmherzigkeit gegenüber dem Nächsten, insbesondere den „ungerecht Leidenden“ 972, fordert (vgl. besonders 4.2.3). Äquivalent hierzu können auch in den behandelten Parabeln Perspektiven auf den „Zorn Gottes“ als „Kehrseite seiner Solidarität mit den Armen“973 erkannt werden.974 Die behandelten Gleichniserzählungen Jesu helfen insgesamt die Rede vom „Zorn Gottes“ als Aussage über einen souveränen und zugleich persönlichen, den Menschen zugewandten Gott zu begreifen. Sie ermöglichen es relational anzudeuten, dass es Gott nicht gleichgültig ist, ob der Mensch die lebensverändernde Kraft seiner heilvollen Herrschaft wirksam werden lässt. Die Rede von der „Liebe Gottes“ erfährt so eine Vervollständigung, da nunmehr auch Gottes Haltung zum „Nein“ des Menschen gegenüber dieser gnadenhaften Heilsoption, seine tiefe diesbezügliche Entrüstung ausgesagt werden kann (vgl. besonders die Analyse der Parabel vom Gastmahl bei Lukas in 3.3.1.2). Dadurch wird zugleich einsichtig, dass Gottes Liebe und sein Zorn nicht auf derselben Ebene anzusiedeln sind: Während der „Zorn Gottes“ in den analysierten Gleichniserzählungen immer als eine Reaktion auf eine Ablehnung des jeweiligen Gegenübers verstanden werden kann, also im Kern Ausdruck eines Beziehungsgeschehens ist, vollzieht der jeweilige Handlungssouverän die liebende Zuwendung aus sich heraus. „Liebe“ erscheint so als inneres Antriebsmoment, theologisch deutet sich Barmherzigkeit als Wesenszug Gottes an. Verweise auf den „Zorn Gottes“ und den „Zorn Jesu“ verdeutlichen dabei implizit, dass die Freiheit des Gegenübers anzuerkennen ist. Sie wollen mahnen und lebensorientierend sein, zeigen aber darin, dass dem Menschen selbst die aktive Rolle zukommt, im Zeichen der begonnenen und zur Vollendung dringenden Gottesherrschaft die eigene Existenz zu transzendieren . Auf Grundlage all dieser Erkenntnisse sollte insbesondere der Tod Jesu nicht leichtfertig mit dem Motiv eines zürnenden Gottes in Verbindung gebracht werden (vgl. 5). Auch wenn sein Kreuzestod als Versöhnungshandeln theologisch einsichtig gemacht werden kann, darf ein solches Verständnis niemals im Sinne einer emotionalen Besänftigung eines tobenden Gottes missverstanden werden. Insgesamt kann somit abschließend festgehalten werden, dass die Rede vom „Zorn Gottes“ sich nicht nur sinnvoll in die Heilsbotschaft Jesu einfügt, sondern sie deren eigentliche Tiefendimension zum Vorschein bringt:
972 973 974
METZ, Theodizee-empfindliche Gottesrede, S. 82. KOSCH, Zärtlichkeit und Zorn – Der Gott Jesu, S. 53. Vgl. neben den eigenen Analyseergebnissen ebd., S. 49–53.
204
B. Hauptteil I – Exegetische Grundlegung „Was von der menschlichen Liebe zu sagen war, gilt auch und erst recht von Gottes Liebe, die das Urbild und der Ermöglichungsgrund allen menschlichen Liebens ist: Eine Liebe, die nicht zornig wäre über das, was dem Geliebten Schaden zufügt oder wodurch der Geliebte sich selbst Schaden zufügt, wäre nicht größere, sondern geringere Liebe. Die Rede vom Zorn Gottes qualifiziert Gottes Liebe als ernsthafte, als wirkliche Liebe.“975
Ohne dass Jesus oftmals explizit davon gesprochen hat, bildet sie einen integralen Bestandteil seiner Botschaft vom „liebenden Gott“ und einen Schlüssel zum angemessenen Verständnis dieser Heilszusage.
975
So völlig zutreffend HÄRLE, Die Rede von der Liebe und vom Zorn Gottes, S. 352 (Hervorhebungen im Original).
C.
„Auf dem theologischen Irrweg?“ Die Rede vom „Zorn Gottes“ ...
1.
… Ausdruck eines naiven Anthropomorphismus?
Im letzten Hauptkapitel konnte die tiefere Bedeutsamkeit der Rede vom „Zorn Gottes“ für ein Verständnis der Botschaft Jesu deutlich gemacht werden. Umso wichtiger ist es nunmehr, diese Erkenntnisse weiterzuführen und sie theologisch einzuordnen. Dabei gilt es zunächst, den Begriff „Zorn“ selbst in den Blick zu nehmen. Folgt man der profanen Begriffsbestimmung des Dudens, dann ist es ein „heftiger, leidenschaftlicher Unwille über etwas, was jemand als Unrecht empfindet oder was seinen Wünschen zuwiderläuft“1. Bereits an dieser Beschreibung wird deutlich, dass das Empfinden von Zorn einen hohen Grad an kognitiver Entwicklung erfordert und somit hauptsächlich auf die Charakterisierung einer menschlichen Emotion abzielt.2 Die Übertragung dieses Begriffs auf Gott als „‚alles bestimmende und begründende Wirklichkeit‘“3 wirkt dabei bereits von vorneherein fehlgeleitet, scheint in ihm doch oberflächlich betrachtet eine naiv gebliebene Gottesvorstellung auf, die Gott in seinem Sein auf menschliche Eigenschaften reduziert. Dazu tritt, dass insbesondere die eng mit dem Zorn verbundene Rede von der „Eifersucht“ Gottes sich der stetigen Anfrage ausgesetzt sieht, ob sie nicht religiöser Gewalt und religiösem Fundamentalismus Vorschub leiste. 4 Bevor man aber nun die anthropomorphe Rede von Gott im Spannungsfeld zwischen „naiv“ bis hin zu „gefährlich“ verortet – was sie auch als Lerngegenstand diskreditieren würde –, lohnt sich eine tiefergehende Reflexion über das grundsätzliche Wesen theologischer Aussagen. 1
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DUDENREAKTION (Hrsg.), Art. Zorn, der, online abrufbar unter: https://www.duden.de/ rechtschreibung/Zorn (Stand: 25.06.2020). Vgl. hierzu auch in Hauptteil II Unterkapitel D.2.2. So eine gängige Minimalformel, sie findet sich beispielsweise bei K. MÜLLER, Glauben – Fragen – Denken I, S. 53. Diese Problematik wird beispielsweise auch benannt bei TÜCK, Der Zorn – die andere Seite der Liebe Gottes, S. 409. Dazu vertiefend J. Assmann: „Was nun unsere Frage nach den Wurzeln der Sprache der Gewalt in den biblischen Texten angeht, scheint mir das Motiv des eifernden bzw. eifersüchtigen Gottes entscheidend. Ihm entspricht nämlich, auf menschlicher Seite der Gedanke des Eiferns für Gott, und damit eines der Zentralmotive für Gewalt.“ (ASSMANN, Monotheismus und die Sprache der Gewalt, S. 33). – Inzwischen hat Assmann seine fundamentale Kritik am Monotheismus relativiert.
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C. Die Rede vom „Zorn Gottes“
In diesem Zusammenhang ist es zunächst hilfreich, sich den Charakter und die grundsätzliche Begrenztheit theologischer Aussagen vor Augen zu führen. Karl Rahner durchdenkt dies sehr persönlich mit Blick auf die Bedeutung des analogen Sprechens von Gott: „Das vierte Laterankonzil sagt ausdrücklich, man könne über Gott von der Welt aus, also von jedwedem denkbaren Ausgangspunkt der Erkenntnis aus[,] nichts an Inhaltlichkeit positiver Art sagen, ohne dabei eine radikale Unangemessenheit dieser positiven Aussage mit der gemeinten Wirklichkeit selbst anzumerken. Aber im praktischen Betrieb der Theologie vergessen wir das immer wieder. Wir reden [auf verschiedene Weisen; C.W.] von Gott […]; wir müssen dies selbstverständlich, wir können nicht bloß von Gott schweigen, weil man dies nur kann, wirklich kann, wenn man zuerst geredet hat. Aber bei diesem Reden vergessen wir dann meistens, daß eine solche Zusage immer nur dann einigermaßen legitim von Gott ausgesagt werden kann, wenn wir sie gleichzeitig auch immer wieder zurücknehmen, die unheimliche Schwebe zwischen Ja und Nein als den wahren und einzigen festen Punkt unseres Erkennens aushalten und so unsere Aussagen immer auch hineinfallen lassen in die schweigende Unbegreiflichkeit Gottes selber […].“ 5
Wer den Stil Karl Rahners kennt, weiß, dass seine unnachahmliche und komplexe Gedankenführung mit dieser Erkenntnis noch nicht abgeschlossen ist. Trotzdem hat er bereits hier Entscheidendes verdeutlicht: Gottesrede steht immer unter dem Vorbehalt der fundamentalen Andersartigkeit und Unbegreiflichkeit Gottes. Jedwede Aussagen über Gott, so absolut sie auch vorgetragen werden mögen, besitzen einen gewissen Grad an Relativität. Insofern ist es für eine kritische und sich selbst reflektierende Theologie notwendig, die eigene Gottesrede auch immer wieder auf den Prüfstand zu stellen. Momentan geschieht dies, was für die vorliegende Analyse zentral ist, mit Blick auf eine Kritik am Modell des Theismus, wobei zugleich eine anthropomorphe Redeweise von Gott selbst zum Gegenstand der Problematisierung wird. Dies veranschaulichen beispielsweise die nachfolgenden Ausführungen von Benedikt Paul Göcke: „Neben theologischen Bildverboten des Göttlichen ist die größte philosophische Schwierigkeit für den Anthropomorphismus, dass es fraglich ist, ob die relevanten Begriffe, die zur Kennzeichnung Gottes verwendet werden, überhaupt sinnvoll auf ein per definitionem übernatürliches und transzendentes Wesen angewendet werden können, da sie ihren semantischen Ursprung in der geschaffenen Welt haben und auch nur dort mit zahlreichen prädikativen Implikationen univok anwendbar sind. Wenn sie allerdings nicht univok, sondern nur analog von Gott ausgesagt werden, dann ist es ebenso fraglich, was genau es bedeutet, im analogen Sinn von Gott zu sagen, dass er eine allwissende, allmächtige und moralisch vollkommene übernatürliche Person sei – wenn damit nicht gemeint ist, dass er eine allwissende, allmächtige und moralisch vollkommene Person ist.“ 6
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K. RAHNER, Erfahrungen eines katholischen Theologen, S. 106–107. GÖCKE, Jenseits des Theismus, S. 117 (Hervorhebung im Original).
1. … Ausdruck eines naiven Anthropomorphismus?
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So messerscharf hier ein Problem des Anthropomorphismus und vor allem der theistischen Gottesvorstellung benannt wird, so sehr muss betont werden, dass dieser Vorwurf (insofern man nicht von einer radikalen Identität von Gott und Welt ausgeht7) gegen jeden Versuch positiver „Gottesbeschreibung“ erhoben werden kann.8 Dies hängt ganz einfach damit zusammen, dass wir als Menschen in der Auseinandersetzung mit dieser Welt Erkenntnisse aufbauen und konstruieren. Insofern ist auch jedwedes Begriffsinstrumentarium, das wir zur Erfassung von Sachverhalten ausbilden, menschlich im Sinne von „subjektiv“ und zugleich „weltgebunden“, schon alleine damit es inter-subjektiv kommunizierbar bleibt. Gleichgültig, ob man also versucht, den Gottesbegriff über ein philosophisches Instrumentarium oder anthropomorphe Rede positiv zu bestimmen, wird man auf diese Bedingtheit menschlicher Erkenntnis und Sprache zurückgeworfen. Insofern ist Eberhard Jüngel in einem wichtigen Punkt zuzustimmen: Die anthropomorph geprägte Rede von Gott stellt keinen Sonderfall dar, in ihr wird vielmehr am eindringlichsten deutlich, „daß die Sprache in allem, was sie sagt, den Menschen implizit mitaussagt“.9 Anders gewendet bedeutet dies: Keine sprachliche Annäherung an die unbegreifliche Wirklichkeit Gottes, sei sie biblisch oder rein philosophisch, kann von vorneherein als legitimer betrachtet werden als die andere – entscheidend ist vielmehr, wie sie sich wechselseitig helfen können, dem Geheimnis Gottes nachzuspüren.10 7
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Dies wäre dann (vereinfachend beschrieben) eine pantheistische Gottesvorstellung (zur Definition vgl. ebd., S. 114). Auch dabei wäre jedoch das Problem, dass eine objektive Erfassung der Welt aufgrund der Bedingtheit menschlicher Erkenntnis nicht möglich ist, womit ebenfalls die Frage bestünde, ob unsere Zuschreibungen die Wirklichkeit Gottes „erfassen“. Dem würde B. P. Göcke wahrscheinlich auch zustimmen, zielen seine Ausführungen doch darauf ab, den Theismus bzw. die Vorstellung einer reinen Transzendenz Gottes in Frage zu stellen, um dann den Panentheismus als tragfähige Alternative auszuweisen. Da dieser neben der Transzendenz von einer Immanenz Gottes ausgeht, erscheint hier für Göcke eine entsprechende anthropomorphe Redeweise eher legitim (vgl. weiterführend auch ebd., S. 131–132). Vgl. JÜNGEL, Anthropomorphismus als Grundproblem neuzeitlicher Hermeneutik, S. 128 (Hervorhebung im Original; hier auch wörtliches Zitat), zum komplexeren Gedankengang siehe S. 125–131. Vgl. hierzu sehr zutreffend J. Werbick: „Man kann das alles [= meint hier die biblisch bezeugten Erfahrungen der Präsenz und des Handelns Gottes; C.W.] als anthropomorph naive Rede abtun, die durch philosophische Reflexion von den ‚Eierschalen‘ menschlich-allzumenschlicher Gottesvorstellungen zu befreien wäre. Aber damit wäre man doch nur dem eigenen Vorgehen – der eigenen Reflexion – gegenüber naiv geblieben: dem Anthropomorphismus gegenüber, der auch noch in den philosophisch gereinigten Vollkommenheitsidealen steckt. So ist es theologisch unerlässlich, die unterschiedlichen biblischen, philosophischen, aber heute auch zunehmend erfahrungswissenschaftlich inspirierten anthropomorphen Extrapolationen, die das Gott-Verstehen tragen und ‚implementieren‘, zueinander in Spannung zu bringen. So erst könnten sie sich gegenseitig kritisieren und
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C. Die Rede vom „Zorn Gottes“
Insofern gilt es zu ergründen, worin der tiefere Sinn liegen kann, sich Gott durch eine analoge, Begriffe aus der menschlichen Erfahrungswelt aufgreifende, Redeweise anzunähern. Festzuhalten ist dabei zunächst, dass die anthropomorphe Rede von Gott nicht nur das Erste Testament prägt,11 sondern auch für Jesus charakteristisch ist. In diesem Zusammenhang sei vor allem auf die Verwendung der „Vatermetaphorik“ verwiesen.12 Entsprechende Beziehungsmetaphern ermöglichen es, ein Vertrauensverhältnis des Menschen zu Gott und die von Gott gewollte Zuwendung auszusagen. Wie Gerd Theißen und Annette Merz in Bezug auf die „Vatermetaphorik“ betonen, beeinflusst dieses „Bild […] einige der intensivsten Aussagen des AT zur Barmherzigkeit Gottes“. 13 Während bei Jesus die Anrede „Mein Vater“ auf ein persönliches, besonders inniges Verhältnis zu Gott hindeutet, 14 wird in der Genesiserzählung der Mensch selbst theomorph als Gottesebenbild (vgl. Gen 1,26) charakterisiert, um seine stellvertretend für Gott wahrgenommene Schöpfungsverantwortung zu verdeutlichen15. Alles in allem kann so durch anthropomorphe (oder präziser: personale) Aussagen über Gott theologisch zum Ausdruck gebracht werden, dass dieser Gott selbst ein „Beziehungssuchender“ ist, der den intensiven Kontakt mit dem Menschen wünscht16 – ohne dass durch eine solche sprachliche Annäherung seine Unverfügbarkeit in Frage gestellt würde17. Insofern ist Michael Beintker recht zu geben, wenn er bemerkt, dass die „Verkündigung Gottes, die auf personale Metaphern verzichten wollte, […] nicht mehr auszusagen [vermag], wer Gott für uns ist“18. Die bereits bis hierhin verdeutlichte Berechtigung personaler Rede von Gott, gewinnt im Rahmen der christlichen Theologie ihr unüberbietbares Profil
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dem Verstehen dessen den Weg bahnen, der größer ist als alles, was gedacht oder verstanden werden kann – und dennoch in seiner Menschlichkeit verstanden werden will.“ (WERBICK, Gott verbindlich, S. 274). Vgl. für eine Übersicht OORSCHOT, Art. Anthropomorphismus, 3. (S. 5–11 in der PDF-Version), online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/13433/ (Stand: 27.06.2020). Vgl. hierzu auch weiterführend THEIßEN/MERZ, Der historische Jesus, S. 458–459 (hier auch der Begriff „Vatermetaphorik“). Vgl. ebd., S. 458 (hier auch wörtliches Teilzitat). Vgl. mit Blick auf „Getsemani-Episode“ (vgl. Mt 26,39 par.) beispielsweise KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 230. Vgl. OORSCHOT, Art. Anthropomorphismus, 3.5. (S. 11 in der PDF-Version), Link oben ausgewiesen. Dies bemerkt beispielsweise auch ABBOUD, Monotheismen zwischen Gewalt und Frieden, S. 109. Hierzu bemerkt M. Beintker: „Gott wird durch menschliche Züge charakterisiert – gelegentlich sogar in einer erstaunlichen Direktheit –, aber diese werden immer als Hinweise auf Gottes Zuwendung verstanden. Auch gegenüber den personalen Vorstellungen wird die Unverfügbarkeit Gottes, die Unantastbarkeit seines Geheimnisses gewahrt.“ (BEINTKER, Mit Gott reden – von Gott reden, S. 15; Hervorhebung im Original). Ebd., S. 16 (Hervorhebung im Original).
1. … Ausdruck eines naiven Anthropomorphismus?
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und ihre tiefere Begründung vor dem Hintergrund der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. Dazu Wilfried Härle: „Aber wir haben keine andere Sprache als eine solche, mit der wir Geschaffenes (sei es Wirkliches oder Erdachtes) bezeichnen können. Wir haben von Gott aber auch nur Kunde, weil und sofern er sich im geschöpflichen Bereich kundgibt – in den Werken der Schöpfung, die Spuren sind, aus denen Gottes Wesen ersehen werden kann (Röm 1,20), in geschichtlichen Taten, die gleichfalls Gottes Spuren erkennen lassen, und letztlich und authentisch in Jesus Christus, dem Ebenbild und damit der sichtbaren Spur des unsichtbaren Gottes (Kol 1,15 und Hebr 1,1 f.) in unserer Welt. Und eben dies ist zugleich die Begründung dafür, dass wir die Worte, Begriffe, Bilder, mit denen wir Geschöpfliches bezeichnen, trotz ihrer Unangemessenheit auf Gott anwenden dürfen. Und dabei sind gerade die personalen Symbole und Metaphern dem Wesen des göttlichen Heilshandelns besonders angemessen. Durch die personalen Begriffe wird deutlich, dass Gott uns nicht nur dinglich oder mechanisch, sondern worthaft (nämlich durch Gesetz und Evangelium) begegnet, anredet, ruft und eben so mit uns als Personen verkehrt.“ 19
In diesem Sinne ist es auch legitim, vom „Zorn Gottes“ im Sinne einer personalen Beziehungsmetapher zu sprechen. Dies korrespondiert mit den exegetischen Erkenntnissen, dass die Verweise auf den „Zorn Gottes“ in den Gleichniserzählungen ebengerade keine Wesensbeschreibung Gottes geben, sondern sein Beziehungshandeln erhellen wollen. Umso relevanter bleibt es deswegen, die Gefahr des religiösen Fanatismus, also einer Instrumentalisierung Gottes und des Menschen im Sinne einer lebensfeindlichen Agenda zu reflektieren. Will eine Rede vom „Zorn Gottes“ dem entgehen, darf sie Gott nicht definitorisch festlegen, sondern muss seine Freiheit wahren und zugleich emanzipatorisch der Freiheit der Menschen dienen. 20 Ein entsprechender Ansatzpunkt ergibt sich aus der „Exegetischen Grundlegung“21. So kann die Rede vom „Zorn Gottes“ als Hoffnung darauf verstanden werden, dass Gott in seiner Souveränität, im Zeichen seines eschatologischen Gerichtshandelns endgültig Gerechtigkeit schafft und zutiefst davon betroffen ist, wenn sich die Menschen in ihrer Freiheit dem durch Jesus eröffneten Heilsangebot verweigern. Besonders auch der Zorn Jesu schärft uns dabei die daraus erwachsene Verpflichtung dieses Liebesangebotes Gottes ein, sich barmherzig gegenüber dem Mitmenschen neu zu orientieren. Er ist ein Einspruch gegen das Lebensfeindliche, das, was den Menschen von Gott und seinen Mitmenschen entfremdet und somit unfrei macht. – Und damit ist es eine in die Geschichte gelegte Spur von „Gottes Liebe als ernsthafte[r], wirkliche[r] Liebe“22.
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HÄRLE, Die Rede von der Liebe und vom Zorn Gottes, S. 349–350 (Hervorhebungen im Original; hier auch weitergehender Verweis auf C. Schwöbel). Ähnliche Kriterien benennt auch JÜNGEL, Anthropomorphismus als Grundproblem neuzeitlicher Hermeneutik, S. 131. Hier sei besonders auf die Unterkapitel B.2.2.4, 3.4 und 4.3 verwiesen. HÄRLE, Die Rede von der Liebe und vom Zorn Gottes, S. 352.
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2.
C. Die Rede vom „Zorn Gottes“
… nicht mehr auf der Höhe des theologischen Diskurses?
Im letzten Kapitel konnte aufgezeigt werden, dass eine reflektierte Umgangsweise mit der Rede vom „Zorn Gottes“, die unter dem Vorbehalt der Unbegreifbarkeit Gottes sinnstiftend fungiert, möglich ist. Ungleich schwerer wiegt jedoch die Anfrage, ob das diese Rede prägende Gottesbild bzw. der Gottesbegriff nicht fehlgeleitet ist. Um diesen Fundamentalvorwurf zu verstehen, lohnt ein analytischer Blick auf die aktuelle Ausgangslage in der Theologie. Hierfür sind zunächst folgende Prämissen der Rede vom „Zorn Gottes“ zentral: Diese Redeweise geht davon aus, dass sich positiv etwas über Gott aussagen lässt.23 Zugleich wurde im Rahmen der exegetischen Untersuchung und auch im letzten Kapitel deutlich, dass sie nicht das Wesen Gottes bestimmen will, sondern sich vielmehr als personale Beziehungsmetapher charakterisieren lässt. 24 So ist die Rede vom „Zorn Gottes“ im Kontext der Frage nach dem Verhältnis Gottes zur Welt bzw. dem Verhältnis von Gott und Mensch angesiedelt. Als diesbezügliche und zugleich darüberhinausgehende Ansatzpunkte zur weitergehenden Reflexion lassen sich grundsätzlich drei „Grundmodelle philosophisch-theologischer Weltdeutung“25 unterscheiden: Der Theismus, der Pantheismus und der Panentheismus.26 So problematisch und verkürzend eine entsprechende Kategorisierung zu sein vermag und so wenig sie einzelnen theologischen Ansätzen gerecht wird, so sehr ermöglicht sie doch eine „Grobverortung“ einzelner theologischer Denkbewegungen. Für die vorliegende Studie sind in diesem Zusammenhang vor allem der Theismus und der Panentheismus näher in den Blick zu fassen. 23
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Zum gegenläufigen Ansatz der Negativen Theologie und des Apophatismus siehe vertiefend RUHSTORFER, Vom Einen reden oder schweigen, S. 64–79. Für eine tiefergehende systematisch-theologische Reflexion über die metaphorischen Aussagemöglichkeiten und -grenzen der Rede vom „Zorn Gottes“ als Teilmodell im Kontext der Basismetapher „Gott ist die Liebe“ siehe V OLKMANN, Der Zorn Gottes, S. 264–282. GÖCKE, Jenseits des Theismus, S. 113. Vgl. ebd., S. 113–115. Grundsätzlich wäre zu überlegen, ob man den Deismus noch als eigenständiges Modell integriert, oder ihn wegen der postulierten Trennung zwischen Gott und Welt vielmehr als radikale Form des Theismus begreift (hierzu tendiert z. B. RUHSTORFER, Vom Einen reden oder schweigen, S. 91–92). J. Enxing benennt hingegen, bezugnehmend S. McFague, „vier Modelle des Gott-Welt-Verhältnisses: (1) das deistische Modell, (2) das dialogische Modell, (3) das monarchische Modell (4) das agentiale Modell“ bzw. ein von McFague vertretenes „dialogisch-kommunitäres Modell“ (ENXING, Die ökologische Krise aus panentheistischer Sicht, S. 58 [Hervorhebungen im Original]; siehe erläuternd S. 60–65). Für das Anliegen des vorliegenden Kapitels ist diese Unterteilung zu speziell, wohingegen die oben genannten Modelle ermöglichen, das Spannungsfeld der Transzendenz und Immanenz Gottes, wie auch die damit eng verbundene Frage nach der Personalität Gottes differenziert zu diskutieren.
2. … nicht mehr auf der Höhe des theologischen Diskurses?
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So wäre die Rede vom „Zorn Gottes“ im traditionellen Verständnis am ehesten dem Theismus zuzuordnen, der sich nach Benedikt Paul Göcke wie folgt charakterisieren lässt: „Dieser [= der Theismus; C.W.] geht von einer strikten ontologischen Trennung zwischen Gott und der Welt aus, die wie folgt spezifiziert wird: Gott ist als Grund der Welt nicht Teil dieser Welt, sondern seiner Natur nach ein vollständig transzendentes und übernatürliches Wesen, das als ewige, allmächtige, allwissende und moralisch vollkommene Person gekennzeichnet wird. Die Welt ist in diesem Modell in ihrem Sein und So-Sein vollständig von Gott abhängig, existiert kontingenterweise ex nihilo und nur aufgrund des göttlichen Schöpfungswillens. Argumentativ stützt sich der Theismus zum einen auf religiöse Offenbarung und Tradition […] und zum anderen auf rein philosophische Argumente, die sowohl die Kontingenz der Welt als auch die Existenz eines notwendigerweise von ihr verschiedenen personalen Grundes zu zeigen beanspruchen.“ 27
Auch wenn theistische Vorstellungen noch heute verbreitet sind und den Zugang zur Gottesfrage prägen, ist dieses Deutungsmodell im aktuellen theologischen Diskurs umstritten, nicht zuletzt auch wegen des im vorangegangenen Kapitel thematisierten Vorwurfs des Anthropomorphismus.28 Grundsätzlich sieht sich der personale Theismus, insbesondere aufgrund des Gott zugeschriebenen Attributs der „Allmacht,“ mit der fundamentalen Anfrage des Theodizeeproblems in besonderem Maße konfrontiert.29 Zudem erscheint er mit den modernen, durch die Naturwissenschaft bestimmten Weltdeutungen unvereinbar, da er vor einem übernatürlichen Eingreifen Gottes ins Weltgeschehen ausgeht und so das wissenschaftliche Paradigma der kausalen Geschlossenheit von Welt sowie Kosmos in Frage stellt.30 Der Gottesbegriff und vor allem auch die Frage nach der „Personalität“ Gottes wird ausgehend von dieser und weiterer Kritik im aktuellen theologischen Diskurs kritisch ausgehandelt. 31 Als ein Neuansatz in der Gottesfrage wird von vielen Theologen der Panentheismus stark gemacht, 32 von dem Benedikt Paul Göcke sogar bereits „als Denkform der Postmoderne“33 spricht. Ob dieser die 27 28 29
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GÖCKE, Jenseits des Theismus, S. 113–114 (Hervorhebungen im Original). Vgl. ebd., S. 116–117. Vgl. hierzu kurz die Zusammenfassung entsprechender Kritik und Neuansätze bei KÜHLWEIN, Schöpfung ohne Sinn?, S. 81–86. Vgl. GÖCKE, Jenseits des Theismus, S. 117–118 bzw. zur Diskussion entsprechender „Probleme des Theismus“ siehe insgesamt S. 115–120. Für den deutschen Raum siehe beispielsweise: SCHÄRTL, Thomas/TAPP, Christian/WEGENER, Veronika (Hrsg.): Rethinking the Concept of a Personal God. Classical Theism, Personal Theism and Alternative Concepts of God (= Studien zur systematischen Theologie, Ethik und Philosophie 7). Münster 2016. Wesentlich vielschichtiger sind dabei die konkreten theologischen Konzepte, die mit Blick auf eine Modifikation des Gottesbegriffs diskutiert werden. Zu einer weiteren Übersicht siehe SCHÄRTL, Zur Debatte um den Gottesbegriff, S. 172–186. So GÖCKE, Jenseits des Theismus, S. 134.
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C. Die Rede vom „Zorn Gottes“
hochgesteckten Erwartungen erfüllen kann, bleibt abzuwarten, die mit ihm verbundenen Hoffnungen34 rechtfertigen jedoch einen näheren Blick auf diesen Zugang zur Gottesfrage. Wer dabei glaubt, ein geschlossenes Konzept des Panentheismus vorzufinden, wird relativ schnell enttäuscht. Vielmehr gibt es diesbezüglich eine Vielzahl theologischer Denkansätze.35 Trotzdem lässt sich mit aller Vorsicht ein Profil dieses theologischen Ansatzes skizzieren. Eine erste Annäherung kann über die epistemologische Bedeutung der Bezeichnung „Pan-en-theismus“ erfolgen. Diese besagt: „Alles ist in Gott“. Hierin sind so bereits die Kerngedanken dieser theologischen Neubestimmung verdichtet: Anders als beim Pantheismus werden Gott und Welt bei diesem nicht ontologisch gleichgesetzt, zugleich wird aber auch das (diesbezüglich theistische Denkansätze prägende) Gegenüberstehen von Gott und Welt aufgebrochen36: „Stattdessen ist das panentheistische Modell darauf ausgelegt, sowohl Aspekte der Transzendenz wie auch der Immanenz Gottes dadurch zu erklären, dass das Sein der Welt ontologisch zum Wesen Gottes gezählt wird, dieser aber nicht auf das Sein der Welt reduziert wird. Die Welt ist dem Panentheismus zufolge in diesem Sinne ‚in‘ Gott, aber Gott mehr als die Welt. Um die daraus resultierende Frage zu beantworten, ob die tatsächliche Welt demnach notwendigerweise als Teil des Wesens Gottes existiert, kann der Panentheist zwischen der Existenz einer Welt und der Existenz der tatsächlichen Welt unterscheiden: Zum Wesen Gottes gehört notwendigerweise die Bezogenheit auf eine Welt, aber nicht notwendigerweise die Bezogenheit auf die tatsächliche Welt.“37
Zur Veranschaulichung dieses Denkmodells verweist Michael Schrom auf das Bild eines „Raumes“, den Gott in sich schöpferisch freigibt.38 In diesem können dann „Freiheit, Bewusstsein, Wille, Personalität, Kreativität und Vernunft […] miteinander in Beziehung treten“ 39. Die große Chance sehen Befürworter des Panentheismus besonders darin, dass die Integration naturwissenschaftlicher
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Diesbezüglich problematisiert K. Ruhstorfer: „Die Erwartungen an diesen Begriff sind immens, und so gleicht er der berüchtigten ‚eierlegenden Wollmilchsau‘, die alle unsere Bedürfnisse auf einmal lösen soll: das Problem des Materialismus, des Atheismus, des Verhältnisses zu den Naturwissenschaften, das Theodizeeproblem und das Problem einer theologischen Kehre zum Subjekt etc.“ (RUHSTORFER, Vom Einen reden oder schweigen, S. 63). B. P. Göcke unterscheidet „Zwei Systeme panentheistischen Denkens“ (GÖCKE, Jenseits des Theismus, S. 121–130). Diese Kategorisierung suggeriert eine systematische Geschlossenheit, die so nicht vorliegt. Eine weitergehende „Profilskizze“ panentheistischen Denkens findet sich bei K. MÜLLER, Glauben – Fragen – Denken III, S. 756–771. Vgl. GÖCKE, Jenseits des Theismus, S. 114. Ebd. (Hervorhebungen im Original, auch hier bereits die Verwendung einfacher Anführungsstriche). Vgl. SCHROM, Gott neu denken, S. 29. Ebd.
2. … nicht mehr auf der Höhe des theologischen Diskurses?
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Erkenntnisse in dieses Gotteskonzept möglich wird.40 Vor dem Hintergrund dieses Denkansatzes wirkt die Rede vom „Zorn Gottes“ zunächst vorsichtig formuliert „einfach“, ja der Komplexität der Auseinandersetzung nicht gewachsen. Konkret stellt sich somit die Frage, inwiefern eine solche personale Beziehungsmetapher noch angemessen in panentheistische Gottesvorstellungen integriert werden kann, ja überhaupt noch zu einer Erhellung der Gottesfrage beiträgt. Eine reflexartige Ablehnung entsprechender panentheistischer Denkansätze griffe jedoch dabei zu kurz. Wurzeln diese Versuche, Gott neu zu begreifen, doch in einem zutiefst nachvollziehbaren Anliegen: Im Kern geht es nämlich darum, das Verhältnis von Gott und Welt, göttlicher Souveränität und menschlicher Autonomie, Selbst- und Weltbeziehung vernünftig, auch im Zusammenhang mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen begreifen zu können.41 Vor diese Vermittlungsaufgabe sieht sich jeder gestellt, der einen emanzipierten Glauben ermöglichen möchte. Konkret ergibt sich daraus, dass das Thema „Jesus und der Zorn Gottes“ in den Dialog mit diesen theologischen Neuansätzen treten muss, um dialogfähig zu bleiben: Erstens wäre es also zu kurz gegriffen, sich in Bezug auf die exegetisch erhobene Rede Jesu vom „Zorn Gottes“ auf den fideistischen Standpunkt zu stellen, dass hierin göttliche Offenbarung zum Ausdruck komme, die irgendwie geglaubt werden müsse. – Dem widerspricht bereits, dass die vorangegangene Auslegung selbst vernunftorientierte Deutung des biblischen Zeugnisses war. Vielmehr muss somit aufgezeigt werden, inwieweit diese „Botschaft“ vernünftig einsichtig gemacht werden kann bzw. sich konsistent mit der menschlichen Vernunft vermitteln lässt. Zweitens gilt es dabei jedoch zu beachten, dass auch entsprechende Denkbewegungen unaufhebbar auf die biblische Offenbarung, das biblische „Gottes-Zeugnis“ verwiesen bleiben. Das Nachsinnen über mögliche Gottesvorstellungen geschieht also nicht spekulativ. Insofern ist es zunächst sinnvoll, kurz den Blick dafür zu schärfen, welches Gottesbild die Rede Jesu vom „Zorn Gottes“ nahelegt. Darauf aufbauend soll dann geprüft werden, inwiefern die oben skizzierten Neuansätze, das „Gott40
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Vgl. hierzu beispielsweise die Publik-Forum-Ausgabe 1/2018 mit dem nahezu euphorischen Titel: „Gott neu denken. Über die Versöhnung von Glaube und Wissenschaft“. Grundlegend hierfür war der „Religion and Science Network Germany- Kongress 2017“ zum Thema „PanENtheismus: Gott und Welt in Beziehung“. Die einzelnen Diskussionsbeiträge sind online einsehbar unter: http://www.forum-grenzfragen.de/panentheismusgott-und-welt-in-beziehung/ (Stand: 26.06.2020). So bemerkt beispielsweise T. Schärtl: „Steht der Gottesbegriff auch theologisch vor neuen Herausforderungen? Wenn ein Minimalstandard von Rationalität darin besteht, dass wir unsere grundlegenden Überzeugungen in einen Zusammenhang mit unserer Erfahrung und ferner mit anderen grundlegenden Überzeugungen stellen können, dann ist es nötig, den Gottesbegriff selbst in den Mittelpunkt zu rücken.“ (SCHÄRTL, Zur Debatte um den Gottesbegriff, S. 166).
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C. Die Rede vom „Zorn Gottes“
Welt-Verhältnis“ zu denken, helfen können, entsprechende Vorstellungen vernünftig einsichtig zu machen, zu erweitern oder zu hinterfragen. Wie in der exegetischen Analyse aufgezeigt wurde, verweist Jesu Rede vom „Zorn Gottes“ auf ein engagiertes Beziehungshandeln Gottes und bleibt auf die Botschaft von der „Liebe Gottes“ als „hermeneutischen Schlüssel“42 verwiesen. – Sie ist also integraler Bestandteil der Botschaft von einem den Menschen in Liebe zugewandten Gott,43 durch sie wird aussagbar, dass Gott verbindlich die Beziehung zu den Menschen will. Es geht, um es im Zusammenhang mit der Tradition des Ersten Testaments zu formulieren, darum, dass die gnadenhaft in die Gemeinschaft Gerufenen zu ihrer Gottesebenbildlichkeit zurückfinden. Gefordert wird eine existenzielle Neuorientierung, hin zur lebenstragenden Beziehung mit Gott und den Mitmenschen. „Ebenbild-Sein“ ist also nicht statisch, als Zustandsbeschreibung zu begreifen, sondern bedeutet vielmehr, sich zum Bild zu machen, Gott zu repräsentieren.44 Gerade deswegen entbrennt der Zorn des Herrn gegenüber dem unbarmherzigen Knecht (vgl. Mt 18,23–35). Gerade deswegen entbrennt der Zorn Jesu gegen die „Verstocktheit des Herzens“ (vgl. Mk 3,5), also gegen die Mitleidlosigkeit. Gerade deswegen bilden Gottes- und Nächstenliebe so eine unaufhebbare Einheit. Ebendieser Gott ist es zugleich, der die Sinnhaftigkeit der gelebten Nächstenliebe konsequent verbürgt, in dem er Heil durch das Gericht schafft. Die Verweise auf den „Zorn Gottes“ im Wirken Jesu verdeutlichen, dass dieser Gott die „Frage nach der Gerechtigkeit für die unschuldig und ungerecht leidenden Opfer unseres geschichtlichen Lebens“45 ebengerade nicht unbeantwortet lässt. Jemand, der dies ernst nimmt, muss also diese Vorstellung einer heraus-fordernden Liebe Gottes, die die Freiheit des Menschen ausnahmslos anerkennt, jedoch die menschliche Berufung zur Gottesebenbildlichkeit mahnt und endgültige Gerechtigkeit realisiert, als Maßstab anerkennen. Über alldem steht, wie im vorangegangenen Kapitel aufgezeigt, das zu wahrende Geheimnis Gottes, seine Unbegreiflichkeit als Einspruch gegen alle Anmaßungen dieser Bestimmungsversuche und die noch viel größere Herausforderung zu denken, dass sich ebendieser
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TÜCK, Der Zorn – die andere Seite der Liebe Gottes, S. 408. Zur Vertiefung der hier nur wiederholend angerissenen Gedanken sei auf die entsprechenden Analysen im ersten Hauptteil B (besonders in Kapitel 3 und 4) verwiesen. Bereits mit dem „Bildgedanken“ beginnt eine Denkbewegung, die es im Zuge der philosophischen Tradition ermöglicht hat, Vernunft und Autonomie des Menschen mit dem „Gottesgedanken“ zu vereinbaren. Als Gewährsleute seien hier Anselm von Canterbury, aber auch Johann Gottlieb Fichte genannt. Diesen Zusammenhang erkennt und analysiert für Anselm von Canterbury sehr zutreffend K. Müller (vgl. MÜLLER, Glauben – Fragen – Denken III, S. 582–595) und führt ihn im Rahmen seiner ethischen Reflexionen zu Fichte fort (vgl. MÜLLER, Glauben – Fragen – Denken II, S. 542–548). METZ, Nur um Liebe geht es nicht, S. 1 (in der Druckversion), online abrufbar unter: http://www.zeit.de/2010/16/Mystik-Gerechtigkeit/ (Stand: 25.06.2020).
2. … nicht mehr auf der Höhe des theologischen Diskurses?
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unbegreifliche Gott in Jesus Christus auf einzigartige Weise gezeigt, ja selbst offenbart hat. Wie verhält sich also dieses „Gottes-Zeugnis“ zu den eingangs skizzierten „Grundmodelle[n] philosophisch-theologischer Weltdeutung“46? Zunächst ist es wichtig, dass Gott, damit er dem Menschen „persönlich-sein“ und ihm begegnen kann, ebengerade nicht im Sinne eines dualistisch verstandenen Theismus als ein rein transzendentes Gegenüber (und damit wieder als etwas vom Menschen Getrenntes) gedacht werden muss. Zutreffend stellt ausgehend von den Überlegungen Johann Gottfried Herders zur Gottesfrage der katholische Theologe und Philosoph Klaus Müller heraus: „Und doch hat er [= Herder; C.W.] einen Punkt getroffen, dem die größten seiner Zeitgenossen […] bohrend nachgehen mussten […] und der die Theologie im Ringen um das rechte Reden von Gott nie mehr losließ und auch nicht loslassen darf: dass es da unerachtet aller Differenz zwischen Gott und Mensch, Himmel und Erde etwas gibt, einen Punkt, da das Unterschiedene sich berührt, ineins schwingt, ja einen Moment lang eins ist, weil wir sonst in unserer Endlichkeit schlichtweg nichts wüssten von dem ganz Anderen und je Größeren. Und dass wir in diesem Lidschlag der Berührung ahnen, dass wir diesem Größeren nicht fern gegenüberstehen, sondern uns in ihm bewegen und in ihm leben, weil außer ihm gar nichts sein kann, wenn es je das Größere ist, über das hinaus also Größeres gar nicht gedacht werden kann. Und, ja dies auch: dass es gar nichts Persönlicheres geben kann als das, was mich derart im Innersten meines Daseins meint und anrührt.“ 47
Folgende Gedanken können entscheidender Weise helfen, die Rede vom „Zorn Gottes“ auch als Ausdrucksmöglichkeit existenzieller menschlicher Erfahrung zu begreifen: nämlich als das schmerzvolle Bewusstwerden tiefster geschöpflicher Selbstentfremdung, als Gefühl, sich von diesem heilvollen Gesamtzusammenhang, dem einen tragenden Lebensgrund abzukoppeln und sich so selbst zu verlieren.48 Ebendieser Zug ist den Verweisen auf den „Zorn Gottes“ im Wirken Jesu nicht fremd, sind sie doch gerade von dieser Sorge getragen, dass der Mensch sich existenziell verfehlt. Darüber hinaus ermöglichen panentheistische Zugänge zur Gottesfrage zu reflektieren, wie die sündhafte Verweigerung des Menschen gegenüber dem göttlichen Heilsangebot auf Gott selbst zurückwirkt49. Die anthropomorph-personale Metapher des „Zorns“ kann dabei kritisch gesehen werden, sie vermag jedoch in unnachahmlicher Weise zu verdeutlichen, dass Gott im radikalsten Sinne von der Entscheidung seines Geschöpfs „betroffen“ ist und „getroffen“ wird – man denke dabei an die behandelten Gleichniserzählungen vom großen 46 47 48 49
GÖCKE, Jenseits des Theismus, S. 113. K. MÜLLER, Dem Glauben nachdenken, S. 149. Vgl. weiterführend auch die Gedanken bei TILLICH, Systematische Theologie I, S. 326. Dazu K. Müller: „Das [panentheistisch verstandene; C.W.] ‚in‘ wird in gewissem Sinn substantial interpretiert. Das bedeutet: Das Geschaffene, das Gott freisetzt, entfaltet ein Feedback auf Gott. Die Macht, die etwas schafft, bleibt nicht unberührt und unbeeinflusst von dem, was sie geschaffen hat.“ (MÜLLER, Glauben – Fragen – Denken III, S. 757).
216
C. Die Rede vom „Zorn Gottes“
Mahl. Dieser Gedanke kann zugleich an die Menschwerdung Gottes bzw. die Selbstentäußerung Gottes im Leiden, im Tod und in der Auferstehung Jesu Christi anknüpfen.50 Anders gewendet bedeutet dies: Nur wer Gott „persönlich“, das heißt im Sinne wahrhaftiger Beziehungsfähigkeit, denkt, wird der christlichen Verkündigung gerecht und gerade auch darin hat dann die Rede vom „Zorn Gottes“ ihren Ort. Es gilt im Sinne des unerschöpflichen Seins Gottes sensibel dafür zu bleiben, „Gott als persönlich und als alles in allem zugleich [zu] denken“51. Diesbezüglich muss jedoch davor gewarnt werden, im Zeichen eines „Radikalmonismus“52 die Welt und Gott mehr und mehr gleichzusetzen, wodurch in letzter Konsequenz auch das Abgründige, Dämonische und Böse zu einem Teil von ihm erklärt würde.53 Gerade die biblische Rede vom „Zorn Gottes“ wie auch der „Zorn Jesu“ (z. B. bei den Dämonenaustreibungen) sind als Einspruch gegen dieses Widergöttliche zu lesen. In ihnen scheint auf, was in keiner Weise mit Gott identifiziert werden darf, seinem Heilswillen widerspricht und deswegen in seine Grenzen verwiesen wird.54 Deswegen erscheint die weitergehende Integration des Gedankens, dass dieser Gott das kosmische und menschliche Schicksal auf ein Ziel hin orientiert und in seinem Heilswirken auch Gerechtigkeit schafft, unerlässlich. Hierin liegt ein zentraler Kritikpunkt, der gegen Teile panentheistischen und prozesstheologischen Denkens erhoben werden kann.55 50
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Vgl. hierzu J. Werbick: „Wenn hier [im Kreuzestod und der Auferweckung Jesu Christi; C.W.] Gottes Selbstoffenbarung – Gottesbegegnung in ‚wörtlichstem‘ Sinne – geschieht, so kann das nur so verstanden werden: Gott ist im Innersten angetroffen worden und getroffen von denen, die sich seinem guten Willen, so wie er hier offenbar wurde und geschah, nicht öffnen konnten. Er ließ sich antreffen und treffen, er war wirklich da, zugänglich – erreichbar und verletzbar – bis in sein ‚Innerstes‘.“ (WERBICK, Gott verbindlich, S. 275–276; Hervorhebung im Original). K. MÜLLER, Dem Glauben nachdenken, S. 150. Müller führt den Gedanken, dass dies vor allem im Kontext der existenziellen Glaubensherausforderung deutlich werde, hier fort. RUHSTORFER, Vom Einem reden oder schweigen, S. 92. Vgl. ebd. Auch J. Rahner betont die Bedeutung der Rede des Gerichts als „Widerspruch gegen das Unrecht“ (RAHNER, Einführung in die christliche Eschatologie, S. 208) Meines Erachtens wird der oben skizzierte Einwand zu wenig berücksichtigt, wenn man das „Problem des Übels“ im Rahmen panentheistischer Denkansätze als befriedigend gelöst ansieht (so beispielsweise GÖCKE, Jenseits des Theismus, S. 133; hier auch zitierte Formulierung). Hierzu zutreffend K. Ruhrstofer: „Doch auch ein prozessphilosophischer Monismus bleibt unversöhnt und im Letzten unversöhnbar. Der anfang- und endlose Weltprozess wird zwar von einem liebenden Gott, der nicht restlos identisch ist mit ihm, begleitet, doch trägt dieser Gott noch Züge des der Absurdität trotzenden Sisyphus an sich. Gewiss, der prozesstheologische Gott muss den Stein nicht immer auf denselben Hügel rollen. Allerdings ist die Mühe eines fliegenden Holländers, das Schiff des Daseinsprozesses in immer neue Gewässer endlos fort ziehen zu müssen, nicht wesentlich angenehmer. Mit einem eher der Physik entlehnten Bild: Der fortwährend lockende Gott gleich einem Magnet, der
2. … nicht mehr auf der Höhe des theologischen Diskurses?
217
Nun muss jedoch im Gegenzug anerkannt werden, dass die damit eng verbundene Annahme einer planvollen Heilsgeschichte sich im Zuge der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse starker Kritik ausgesetzt sieht.56 Wer deswegen jedoch bereits die Annahme eines göttlichen Heilswirkens als naiven Rückfall in einen prärationalen Offenbarungsglauben diskreditiert, verkennt, wie sehr die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Vernunft selbst davon berührt ist. Niemand anderes als Immanuel Kant verdeutlicht beispielsweise, dass der Gottesgedanke als eine existenziell notwendige Annahme postuliert werden sollte, wenn die für die Vernunft konstitutive Erfahrung des „Kategorischen Imperativs“ bzw. die daraus resultierende Verpflichtung zum moralischen Handeln nicht im Kern ein absurder Selbstbetrug sein soll.57 Bei Kant zeigt sich somit der Versuch, die Vernunfterfahrung, die den Imperativ moralischen Handelns an das Menschsein erhebt, und die Weltwirklichkeit, die den Einzelnen hierfür in seinem Leben ggf. nicht mit entsprechender Glückseligkeit entlohnt, durch Gott als ausgleichende Instanz zu vereinbaren.58 Diese philosophisch höchst relevante, ja virulente Frage nach heilvoller Gerechtigkeit qua Vernünftigkeit menschlicher Moral weist, wenn auch auf einer anderen Ebene, enge Berührungspunkte zur Rede vom „Zorn Gottes“ auf, wie Klaus Müller zutreffend bemerkt: „Und zum anderen steht das Symbol des zornigen Gottes auf der affektiven Ebene der Kommunikation an der Stelle, die in der philosophischen Theologie das kantische Gottespostulat einnimmt: Dieses kommt für die Hoffnung auf, dass eine Vernunft, die sich frei an das Sittengesetz (den Kategorischen Imperativ) bindet, auch gegen die mögliche Kontrasterfahrung ausbleibenden Lebensglücks darauf vertrauen darf,
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57 58
den Gang der Dinge ohne Plan und vor allem ohne Ziel vorantreibt.“ (RUHSTORFER, Vom Einen reden oder schweigen, S. 92; Hervorhebung im Original). Dies problematisiert zu Recht SCHÄRTL, Zur Debatte um den Gottesbegriff, S. 167–170 (hier auch weiterführende Gedanken). Diesbezüglich führt er (unter anderem) die Randständigkeit der menschlichen Existenz im Kosmos, die Infragestellung des evolutionären Prozesses als „Aufstiegsgeschichte“ (S. 168) und das zufällige, nicht planvolle Auftreten von Ereignissen innerhalb der Naturgeschichte an. Vgl. K. MÜLLER, Glauben – Fragen – Denken I, S. 324, bzw. insgesamt S. 321–327. Den diesbezüglichen Gedankengang Kants fasst sehr prägnant K. Müller zusammen: „Vom Sittengesetz bzw. der Freiheit zum Gottesgedanken kommt Kant durch etwas, das man einen anthropologischen Zwischenschritt nennen kann: die Unterstellung, dass jedes vernünftige endliche Wesen danach strebe, glücklich zu sein. Sittlichkeit und Glückseligkeit sind für Kant dadurch auf natürliche Weise verbunden, dass, wer sittlich handelt, im Maße seiner bzw. ihrer Sittlichkeit auf Glückseligkeit hoffen dürfe. Die Erfahrung aber belegt hinlänglich, dass sich diese Übereinstimmung nicht notwendig einstellt […]. Soll Moralität trotzdem vernünftig sein, bedarf es einer Instanz, der letztendlich ein Ausgleich zwischen Glückswürdigkeit und Glückseligkeit zugetraut werden kann. Darum verlangt Vernunft aus Gründen der Vernünftigkeit der Moral, also deren Autonomie, für diese Versöhnung einen personalen, allwissenden und richtenden Gott zu postulieren.“ (MÜLLER, Glauben – Fragen – Denken I, S. 324. Vgl. zum tieferen Nachvollzug KANT, Kritik der praktischen Vernunft, S. 158–161 (212–215), 167–169 (224–226).
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C. Die Rede vom „Zorn Gottes“ vernünftig zu sein, weil es eine letzte Gerechtigkeit gibt. Und nur so haben wir auch Grund und Recht, für die Opfer der Geschichte wenigstens zu hoffen.“ 59
Deutlich wird hierbei, dass der Gedanke einer heilschaffenden Gerechtigkeit Gottes nicht nur unaufhebbarer Teil der Botschaft Jesu ist, sondern sich die darin wurzelnde Hoffnung auf Heil und Erlösung existenziell zutiefst vernünftig nahelegt. Gerade deswegen sollte auch die damit eng verbundene Rede vom „Zorn Gottes“ in den heutigen Debatten um den Gottesbegriff unbedingt mitreflektiert werden. Wie Johanna Rahner zutreffend herausstellt, verdichtet der Gerichtsgedanke ein fundamentales menschliches Bedürfnis nach Gerechtigkeit und die Hoffnung auf letztgültige Errettung.60 Insofern verwundert es nicht, dass er auch außerhalb des theologischen Diskurses Zuspruch findet, so im Ansatz des Professors für theoretische Philosophie Holm Tetens61. Tetens begreift Gott, durchaus im Gang moderner panentheistischer Denkbewegung, als von den Menschen als „endliche Ich-Subjekte“62 unterschiedenes „unendliches Ich-Subjekt“63 und so ist für ihn zugleich: „Alles in der Welt […] in Gott in dem Sinne, dass es Inhalt vernünftiger Gedanken Gottes ist.“64 Ungleich interessanter als der Nachvollzug der Methodik Tetens, die auf dem Aufstellen zahlreicher Prämissen und daraus resultierender Konklusionen basiert, ist, wie er ebenfalls zu einer dezidiert rational begründeten Eschatologie vordringt: „Erlösung wäre pervertiert, fiele das Leiden, das Menschen einander antun und noch antun werden, einfach dem großen Vergessen anheim und erlebten die Menschen die neue, die erlöste Welt so, als ob nie etwas Schreckliches geschehen wäre. Wir kommen in einem Heilsgeschehen nur dann als vernünftige und selbstverantwortliche Personen vor, wird jedermann schonungslos mit seinem bisherigen Leben konfrontiert. Jeder wird insbesondere konfrontiert mit sich als Täter, der anderen Menschen Leid bereitet hat, jeder muss seinen Opfern unter die Augen treten, aber auch den Tätern, die an ihm schuldig geworden sind. Insofern schließt Erlösung so etwas wie einen Gerichtsprozess ein.“ 65
Man mag Tetens vorwerfen, dass er hier den Rahmen seiner rationalen theologischen Spekulation überdehnt. Zugleich zeigt sich hier jedoch ein ernstzunehmender Versuch, dem Nihilismus eines verabsolutierten Naturalismus eine rati-
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K. MÜLLER, Dem Glauben nachdenken, S. 141. Vgl. J. RAHNER, Einführung in die christliche Eschatologie, S. 209–211. Holm TETENS: Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie (= Reclams UniversalBibliothek 19295). Stuttgart 5 2015. Ebd., S. 33 bzw. vertiefend S. 29–33. Zu diesem Begriff vgl. ebd., S. 33 bzw. vertiefend S. 33–37. Ebd., S. 36. – Unter Verwendung des Subjektbegriffs entwickelt S. Wendel, deutlich von den Gedanken K. Müllers beeinflusst, interessanterweise eine Verteidigung des personalen Theismus (vgl. WENDEL, Gott – Prinzip und Person zugleich, S. 108, zur Vertiefung S. 103–109). TETENS, Gott denken, S. 69.
2. … nicht mehr auf der Höhe des theologischen Diskurses?
219
onale Hoffnungsperspektive entgegenzustellen. Zugleich besitzt dieser Gerichtsgedanke, wie Tetens bereits hier andeutet und nachfolgend entfaltet, weitergehende moralische Implikationen, insofern er die Vernünftigkeit moralischen Handelns verbürgt. Er wirkt vielmehr existenzleitend, indem er das moralische Verhalten gegenüber dem Mitmenschen in einem tieferen Sinnzusammenhang, nämlich der Hoffnung auf Gottes Erlösungshandeln, vernünftig „verorten“ kann.66 Besonders der „Zorn Jesu“ gegen die Verweigerung gelebter Barmherzigkeit bringt dies auch zum Ausdruck. Zugleich kann die Parabel Mt 18,23–35 aber auch als Hoffnungsbotschaft für die Sinnhaftigkeit ebendieser Existenzorientierung verstanden werden.67 Insofern bedeutet der Ansatz, Gottes Heils- und damit verbundenes Gerichtshandeln zu relativieren, zugleich eine Relativierung der menschlichen Freiheit zum Guten, das meint dem solidarischen Handeln68 gegenüber dem Mitmenschen. Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Die Rede vom „Zorn Gottes“ ist auch mit Blick auf neue Denkbewegungen in der Gottesfrage dialogfähig. In der Analyse konnte gezeigt werden, dass insbesondere panentheistische Denkansätze sich dazu eignen, das „Persönlich-Sein“ Gottes tiefergehend zu begreifen. Die Aussage, dass Gott „persönlich“ ist, ist dabei nicht vorrangig mit seinem nur schwer fassbaren „Person-Sein“, sondern mit seiner Beziehungsfähigkeit zu identifizieren. Sie meint in Bezug auf die Rede vom „Zorn“, dass es auf Gott zurückwirkt, wie und ob die Menschen sich auf sein heilvolles Beziehungsangebot einlassen, er also hiervon wirklich „getroffen“ ist und beeinflusst wird. Zugleich kann der „Zorn Gottes“ aber auch als etwas verstanden werden, was der Mensch in seinem Innersten, seinem Selbstbewusstsein erfährt, nämlich das schmerzvolle Sich-Lösen von dem ihn tragenden Lebensgrund, was im Kern auch die Erfahrung tiefster existenzieller Selbstentfremdung darstellt. Gerade die Hinweise auf den „Zorn Gottes“ im Wirken Jesu wollen und sollten deswegen nicht als eine von außen kommende „Anmaßung“ verstanden werden, sondern – wie bereits die biblischen Texte verdeutlichen – als eindringliche, wahrhaft existenzielle Warnung. Damit korrespondieren in eschatologischer Perspektive systematisch-theologische Denkansätze, die das Gericht Gottes nicht als passives Geschehen begreifen, sondern als aktiven Transformationsprozess, in dem der Mensch durch die Konfrontation mit sich selbst zur Selbsterkenntnis
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Vgl. viertiefend und weiterführend ebd., S. 73–79. Interessanterweise verweist H. Tetens diesbezüglich auf die metaphorische Bildrede vom Weltgericht in Mt 25,35–45. H. Tetens stellt zutreffend heraus, dass man anstelle von Nächstenliebe auch synonym von „‚radikale[r] Solidarität‘“ (ebd., S. 74) sprechen kann. Gerade dieser Begriff ermöglicht es, das gemeinsame Anliegen gegenüber anderen, säkularen Bestrebungen zu verdeutlichen.
220
C. Die Rede vom „Zorn Gottes“
vordringt.69 Darüber hinaus versucht die Metapher des „Zorns“ zu verdeutlichen, dass Gott ebengerade im Gericht nicht teilnahmslos ist, sondern als „Liebender“ von der menschlichen Sünde unmittelbar berührt wird.70 So sehr diese neuen Arten Gott zu denken wichtige Impulse liefern, muss jedoch die Rede vom „Zorn Gottes“ zugleich als Einspruch verstanden werden: Sie richtet sich gegen einen Gottesbegriff, der Gott zu einem abstrakten Prinzip erklärt oder im Gegenzug die Welt und damit auch das in ihr enthaltene Abgründige, ja Widergöttliche, allzu leicht mit diesem identifiziert. Sie wirbt dafür, Gottes Heilswirken und sein Erlösungshandeln gegenüber dem Menschen wie auch in der gesamten Schöpfung nicht abzusprechen, sondern die verbindliche Realisierung von Gerechtigkeit als Ausdruck vernünftiger Hoffnung anzuerkennen. – Und damit wird ernst genommen, dass menschliche Freiheit in Solidarität mit dem Menschen eine lebensorientierende Verankerung besitzen muss, damit die menschliche Existenz sinnhaft ist. Für die Systematische Theologie ergibt sich somit die Frage, ob sie der hier skizzierten Spur, produktiv vom „Zorn Gottes“ zu sprechen, folgt und der hierin eröffneten theologischen Suchbewegung weiter „nach-denkt“71. In didaktischer Perspektive zeigt sich darüber hinaus: Das Thema „Jesus und der Zorn Gottes“ besitzt Potenziale, ein lebensbedeutsamer „Lerngegenstand“ zu sein.
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Vgl. zu diesem Aspekt die Gedanken bei J. RAHNER, Einführung in die christliche Eschatologie, S. 211–212. Rahner überschreibt dieses Unterkapitel mit „Gericht und Selbstgericht“. Vgl. hierzu auch vertiefend VOLKMANN, Der Zorn Gottes, S. 266–267. Die vorliegenden Ausführungen verstehen sich ergänzend zu R. Miggelbrinks Anregungen (vgl. MIGGELBRINK, Der Zorn Gottes, Hauptkapitel C, besonders auch S. 576–582 bzw. zusammenführend S. 56–61).
D.
Hauptteil II: „Jesus und der Zorn Gottes“ – didaktische Perspektiven
Steigt man – unter Nichtbeachtung der vorangegangenen Kapitel – erst hier in die vorliegende Studie zum Thema „Jesus und der Zorn Gottes“ 1 ein, mag die Überschrift provokant wirken. So scheint doch grundsätzlich eine Auseinandersetzung mit entsprechender Gottesrede, egal ob sie alttestamentliche oder neutestamentliche Texte als Grundlage hat, didaktisch nicht unproblematisch. Wurzelt in ihr nicht sogar die Gefahr, in die düsteren Zeiten einer „angstinduzierenden Bibeldidaktik“ und „Drohpädagogik“ zurückzufallen2? Bereits die Ergebnisse der exegetischen Analyse und die ihnen folgenden systematisch-theologischen Reflexionen weisen in eine andere Richtung. Aber auch im Rahmen der Religionsdidaktik werden grundsätzlich, entgegen den oben skizzierten Vorwürfen, zunehmend die Lernchancen von auf den ersten Blick „dunkel“ anmutenden Gottesbildern gesehen. Betont wird diesbezüglich beispielsweise, dass gerade auch diese Irritationen ermöglichen und so produktiv auf die Konstruktion eigener Gottesvorstellungen einwirken können.3 Zugleich erkennt man zunehmend in den „Ambivalenzerfahrungen“4, die in der Auseinandersetzung mit wechselvollen biblischen Gottesbildern gemacht und verarbeitet werden können, einen positiven Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung.5
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Wenn im Weiteren von „Jesus und dem Zorn Gottes“ gesprochen wird, dient dies der sprachlichen Griffigkeit. Es meint natürlich, je nach Kontext, den Untersuchungsgegenstand/den Lerngegenstand „Jesus und der Zorn Gottes“. Die Anführungsstriche verweisen auf den Titel der Arbeit. Sie sollen jedoch zugleich das durch die exegetische Analyse aufgezeigte, eigenständige Profil und den inneren Zusammenhang dieses Themas betonen. Diese Problematiken benennt und reflektiert BUCHER, Ein zu lieber Gott?, S. 175 (hier auch wörtlich zitierte Begriffe). Vgl. zu diesen theologischen Lernchancen auch die weitergehend akzentuierten Überlegungen von FRICKE, Die ›dunklen Seiten‹ Gottes – eine religionspädagogische Herausforderung, S. 181–183. Eine Übersicht über theologische Bedenken bei der Thematisierung der „dunklen Seiten Gottes“, wie sie beispielsweise von der Religionspädagogin C. Kalloch geäußert werden, findet sich bei ebd., S. 176–178. FRAAS, Die Bibel als Buch der Bildung, S. 48. Vgl. hierzu auch vertiefend die Gedanken von H.-J. Fraas (ebd., S. 47–48). Fraas bemerkt unter anderem: „Gerade auch die schwer verständlichen, ‚dunklen‘ Geschichten des AT und die Erfahrung dessen, wie Menschen im alten Bund damit umgehen, sind für die Bildung einer flexiblen Persönlichkeit wichtig. Etwa das ‚Hadern mit Gott‘ als eine Möglichkeit, Aggressionen nicht zu verdrängen, sondern auszuagieren, ist ein wichtiges Element, […].“ (ebd. S. 48).
222
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
Insofern lohnt es sich auch in Bezug auf das vorliegende Thema gängige Vorbehalte zurückzustellen. Oder positiv formuliert: Gerade weil das Motiv vom „Zorn Gottes“ essentiell für ein Verständnis der Botschaft Jesu ist, gilt es ihre didaktische Bedeutung zu ergründen. Wenn dieses Hauptkapitel im Plural von didaktischen Perspektiven spricht, ist hierin zugleich das zentrale Anliegen verdichtet: Geht es doch darum, das vorliegende Thema „Jesus und der Zorn Gottes“ in didaktischer Perspektive zu reflektieren. Konkret soll dabei zunächst seine Relevanz im Zeichen des aktuellen Paradigmas der sogenannten „Kompetenzorientierung“ und religionsdidaktischer Prinzipien untersucht sowie begründet werden. In einem anschließenden Oberkapitel erfolgen dann weitergehende Konkretisierungen der so angestoßenen Überlegungen bis hin zu praktischen Unterrichtsbeispielen. Die so angestrebte „Elementarisierung“6 des Untersuchungsthemas zum Lerngegenstand soll dabei aber zugleich neue didaktische Perspektiven eröffnen. Sie soll zeigen, wie das Thema in besonderer Weise ermöglicht, zur Entwicklung von religiöser Bildung beizutragen, und dass es deswegen bisherige didaktisch-thematische Zugänge konstruktiv ergänzen sollte. Die nachfolgende Analyse legt dabei den Fokus auf Schülerinnen und Schüler an weiterführenden Schulen der Sekundarstufen I und II. Dies liegt darin begründet, dass das vorliegende Thema in seiner Komplexität erst hier in seiner Tiefe ergründet werden und somit sein ganzes Potenzial im Sinne religiöser Bildung entfalten kann.
1.
Ein „Thema“ für den Religionsunterricht? – Zur didaktischen Begründung
Der positive didaktische Beitrag einer Beschäftigung mit „Jesus und dem Zorn Gottes“ wird in diesem Hauptkapitel verdeutlicht. Dafür ist es zunächst zielführend, die Ausgangsbedingungen des heutigen Religionsunterrichts zu skizzieren. Im Anschluss wird vor allem die Anknüpfungsfähigkeit dieses Themas im Rahmen des nunmehr in allen Unterrichtsfächern obligatorischen kompetenzorientierten Unterrichts aufgezeigt, um dann seinen produktiven Beitrag im Rahmen religionsdidaktischer Prinzipien abzuwägen.
6
Vgl. auch NIPKOW, Art. Elementarisierung, S. 451–453.
1. Zur didaktischen Begründung
1.1
223
Ausgangsbedingungen gegenwärtigen Religionsunterrichts
Wer nach den gegenwärtigen Bedingungen des Religionsunterrichts fragt, sieht sich oftmals mit dem schillernden Begriff der „Postmoderne“ konfrontiert, durch den versucht wird, die komplexe Ausgangslage religionspädagogischen Handelns genauer zu charakterisieren. 7 Als prägende Faktoren werden in diesem Zusammenhang dann beispielsweise „Pluralisierung und Individualisierung, Globalisierung und Digitalisierung“8 benannt. Suggerieren entsprechende Schlagwörter zunächst eine gewisse Eindeutigkeit, zeigt sich doch, dass es sich um weniger klar umgrenzte, abstrakte und theoriebeladene Begriffskonstrukte handelt. Da eine umfassende Ergründung der hiermit angesprochenen Modernisierungsprozesse9 zu weit führen würde, soll es hier genügen, die vorliegenden Zusammenhänge an Beispielen zu veranschaulichen. Bereits im Lernort Schule werden, wie mir in meiner Berufspraxis immer wieder deutlich wird, heutige Schülerinnen und Schüler im besonderen Maße dazu herausgefordert, eine selbstbestimmte Identität auszubilden, ihren eigenen Lebensweg zu finden und diesen dann eigenverantwortlich zu gestalten. Spätestens am Ende ihrer Schullaufbahn bedeutet dies, aus einer Masse neuer Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten zu wählen und damit die Weichen für die Zukunft zu stellen. Aber auch schon zuvor gilt es, Fächer zu wählen oder abzuwählen, über schulische Schwerpunkte zu entscheiden und eigene Fähigkeiten im Zuge berufsorientierender Maßnahmen zu ergründen. Hinzu tritt die mindestens ebenso vielseitige Entscheidung über die Gestaltung der eigenen Lern- und Freizeit. Bei dieser zunehmend eigenverantwortlichen Gestaltung ihrer Biographie sehen sich Jugendliche und junge Erwachsene insgesamt zur Wahl aus weit gefassten Orientierungs- wie auch Sinnangeboten, Weltanschauungen und Werten gezwungen.10 Neben Familie, Elternhaus und dem weiteren sozialen Umfeld, eröffnet dabei vor allem die zunehmend allgegenwärtige digitale Welt 11, beispielsweise durch „YouTube“, ein plurales Feld der Meinungsäußerungen und potenziellen Orientierungsmöglichkeiten.
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Zu dieser Rahmenbedingung vgl. auch zusammenfassend MENDL, Religionsdidaktik kompakt, S. 14–22. So die weitergehende Kapitelüberschrift bei ebd., S. 14. Vgl. hierzu auch ebd., S. 14–16 u. vertiefend ZIEBERTZ, Gesellschaftliche und jugendsoziologische Herausforderungen, S. 78–105. Vgl. MENDL, Religionsdidaktik kompakt, S. 19. Für aktuelle Einblicke und Stellungnahmen Jugendlicher zu diesem Teilaspekt siehe auch die „18. Shell Jugendstudie“ bzw. hier LEVEN/UTZMANN, Die Vielfalt der Digital Natives, S. 256–271.
224
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
Wer dabei glaubt, dass dem konfessionellen Religionsunterricht im Zuge einer zunehmend pluralen Religionslandschaft bei der Identitätsbildung heutiger Schülerinnen und Schüler eine zentrale Bedeutung zukommt, der wird relativ schnell desillusioniert. Vielmehr ist er (wenn überhaupt) nur ein Akteur bzw. Anbieter auf diesem pluralen „Marktplatz der Post- oder Spätmoderne“12, auf dem die Jugendlichen dazu herausgefordert sind, in der Abwägung vielseitiger Sinndeutungen ihre eigene (auch religiöse) Identität selbstbestimmt zu kreieren.13 Dies schließt ein, dass Traditionen nicht mehr aus sich heraus, vorbehaltlos akzeptiert werden, sondern sich vielmehr durch ihre konkrete Lebensbedeutsamkeit als plausibel und sinnhaft erweisen müssen.14 In meiner eigenen Praxis als Religionslehrer konnte ich diesbezüglich im kleineren Rahmen feststellen, dass religiöse Inhalte ganz im Sinne eines „Angebotscharakters“ mitunter nur selektiv, in Bezug auf die eigene Lebensrelevanz hin rezipiert werden.15 Neben den oben genannten, die Gesamtgesellschaft betreffenden religiösen Pluralisierungs- und Individualisierungstendenzen16 wird im Religionsunterricht also vor allem auch die gesamtgesellschaftliche Enttraditionalisierung und
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MENDL, Religionsdidaktik kompakt, S. 19. Vgl. hierzu auch vertiefend und weiterführend ebd., S. 18–20. Weitergehende Überlegungen zu hieraus folgenden Konsequenzen biblischen Lernens finden sich bei SCHAMBECK, Art. Bibeldidaktik, Grundfragen, 5. (S. 5 in der PDF-Version), online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100038/ (Stand: 27.6.2020). Dies zeigte sich beispielsweise im Rahmen meines Religionsunterrichts in der Jahrgangsstufe 8 im Kontext einer Reihe zur Exoduserzählung. Die Lernenden wurden dazu aufgefordert, die persönliche Lebensbedeutsamkeit des Dekalogs schriftlich zu reflektieren. Dabei bemerkte eine Schülerin: „Man könnte daraus lernen, dass es früher auch schon Gewalt, Ehebrechen usw. gab. Außerdem könnte man zum Nachdenken kommen, was für einen wichtig ist und was nicht, bzw. gelten heute die Zehn Gebote an sich nicht mehr, so dass man überlegen kann, welche Gebote für einen wichtig sind und welche nicht.“ Andere Schülerinnen und Schüler stellten vor allem die Bedeutung der Exoduserzählung als moralischer Impulsgeber heraus, wohingegen sie die theologische Dimension unberücksichtigt ließen. Hierzu bemerkt der Soziologe H.-P. Müller beispielsweise: „Unter religiöser Individualisierung werden ganz unterschiedliche und zum Teil in sich heterogene Prozesse neuer Religiosität verstanden. Zum einen zeichnet sich als neuartiges Phänomen ein ‚Glauben ohne Zugehörigkeit‘ ab. Man glaubt an Transzendentales, ohne einer der großen Kirchen anzugehören. Zum anderen spiegelt dieser Prozess eine Ausweitung des Religiösen wider, die auch die Schaffung einer ‚Bastel-Religiosität‘ aus dem gesamten Arsenal spiritueller Angebote umfasst: sei es die Sakralisierung der eigenen Person als Extremform religiöser Subjektivität, sei es die Wiederkehr des Okkulten oder auch die Sakralisierung von Liebesund Transzendenzerfahrungen mit oder ohne Drogeneinsatz. Je nach Alter, Bildung und Milieuzugehörigkeit scheint sich eine facettenreiche ‚religiöse und spirituelle Erlebnisgesellschaft‘ herauszubilden.“ (MÜLLER, Säkularisierung und die Rückkehr der Religion?, online abrufbar unter: https://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verhaelt
1. Zur didaktischen Begründung
225
eine zunehmend kirchendistanzierte Religiosität 17 spürbar, was vor allem auch aktuelle Umfragen belegen. Insbesondere christliche Jugendliche differenzieren dabei, wie die Sinus-Jugendstudie von 201618 zeigt, deutlich zwischen ihrem persönlichen, individuellen Glauben und der vorgegebenen Zugehörigkeit zu einer der Religionsgemeinschaften.19 Kulminiert man die Befragungswerte der Shell-Jugendstudien von 2002 bis 2015, bejahen beispielsweise nur 35% der katholischen und 27% der evangelischen Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 25 Jahren, dass sie an Gott als Person glauben.20 Der Aussage, dass die Kirche keine Antworten auf lebensbedeutsame Fragen hat, stimmen nach der 17. Shell-Jugendstudie von 201521 insgesamt mit 57% immer noch mehr als die Hälfte der Jugendlichen zu. 22 In der aktuellen 18. Shell-Jugendstudie sind es mit Blick auf die beiden großen christlichen Konfessionen 59% der Jugendlichen.23 Versucht man diesen hier nur angedeuteten Befund zu bilanzieren, steht der Religionsunterricht wohl (milde formuliert) „vor neuen Herausforderungen“, wie die deutschen Bischöfe in ihrem Bischofswort aus dem Jahre 200524 zutreffend erkannten, „nämlich der Vermittlung von strukturiertem und lebensbedeutsamem Grundwissen über den Glauben der Kirche, dem Vertrautmachen mit Formen gelebten Glaubens und der Förderung religiöser Dialog- und Urteilsfähigkeit“25.
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nisse-eine-sozialkunde/138614/saekularisierung-und-die-rueckkehr-der-religion [Stand: 25.06.2020]) Zu weitergehenden „Kennzeichen von Religion in der Postmoderne“ siehe MENDL, Religionsdidaktik kompakt, S. 19 (hier auch die wörtlich zitierte Formulierung). Zur Methodik siehe CALMBACH (u. a.), Wie ticken Jugendliche 2016?, S. 22–33. Befragt werden hier Jugendliche im Alter zwischen 14 und 17 Jahren. Vgl. ebd., S. 339. Vgl. GENSICKE, Die Wertorientierung der Jugend (2002–2015), S. 254 (besonders Abb. 6.13). – M. Sellmann resümiert ausgehend von entsprechenden Studien sogar: „In jugendlicher Religiosität ist Gott eine höchstens abstrakte Größe. Populäre Gottesbilder, die anthropomorph daherkommen, werden gerade wegen ihrer Konkretheit verworfen […]. […] Man kann sich Gott nur merkmalslos vorstellen, eher als ‚Höhere Macht‘ oder als ‚Energie‘. Biblische Texte oder gar dogmatische Vorgaben werden höchstens als Katalysatoren der eigenen Vorstellungen genutzt.“ (SELLMANN, Jugendliche Religiosität, S. 32; Verwendung einfacher Anführungsstriche bereits im Original). Zum Aufbau dieser repräsentativen Studie siehe https://www.shell.de/ueber-uns/dieshell-jugendstudie/ueber-die-shell-jugendstudie-2015.html (Stand: 26.06.2020). Vgl. GENSICKE, Die Wertorientierung der Jugend (2002–2015), S. 259 (Abb. 6.16). Die Konkrete Aussage lautete: „Auf Fragen, die mich wirklich bewegen, hat die Kirche keine Antwort.“ Vgl. WOLFERT /QUENZEL, Vielfalt Jugendlicher Lebenswelten, S. 156–157. SEKRETARIAT DER D EUTSCHEN BISCHOFSKONFERENZ (Hrsg.): Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen. 16. Februar 2005 (= DtBis 80). Bonn 62017. Ebd., S. 19 (die im Original vorfindlichen Spiegelstriche wurden aufgrund der syntaktischen Einpassung weggelassen). Eine kurze Übersicht über zentrale Inhalte des Dokuments findet sich bei KROPAČ, Exkurs, S. 328–330.
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
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Zugleich sieht sich der Religionsunterricht als Unterrichtsfach an staatlichen Schulen mit neuen äußeren Rahmenbedingungen schulischen Lernens konfrontiert, die sich durch den Begriff der „Kompetenzorientierung“ fassen lassen. Dazu Hartmut Lenhard: Veranlasst durch den ‚Pisa-Schock‘ im Jahr 2001 läutete die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung initiierte und von einer Arbeitsgruppe namhafter Wissenschaftler 2003 erstellte Expertise „Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards“ eine grundlegende Reform des Bildungswesens ein. Ziel dieser Reform war es, Bildungsstandards festzulegen, mit denen die fachlichen und fachübergreifenden Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern am Ende bestimmter Schullaufbahnphasen beschrieben werden. Das Paradigma „Kompetenzorientierung“ steht seither als eine Art didaktischer ‚Metastruktur‘ im Fokus der Unterrichtsentwicklung. Ganz gleich, welche Unterrichtskonzepte in den einzelnen Fächern bisher maßgebend waren: Jedes Fach muss sich dazu in Beziehung setzen und ausweisen, wie es ‚kompetenzorientiertes Lehren und Lernen‘ theoriegestützt und praxisbezogen umsetzt. Dies gilt auch für die Religionspädagogik.26
So steht der Religionsunterricht, fernab seiner konkreten Inhalte, in der doppelten Verantwortung, auf die vielfältigen Anforderungen der Gegenwart fachspezifisch angemessen zu reagieren, zugleich aber von außen kommende Vorgaben eines angemessenen schulischen Lernens zu integrieren.
„Jesus und der Zorn Gottes“ als Baustein kompetenzorientierten Lernens
1.2
Maßgebend für die Gestaltung eines zeitgemäßen Unterrichts ist dabei also die bereits eben erwähnte Kompetenzorientierung. Deswegen gilt es zu klären, was sich hinter dieser neuen Leitperspektive zeitgemäßen Unterrichts verbirgt, da sie letztlich auch Kriterien für die Sinnhaftigkeit und angemessene Didaktisierung bestimmter Lerninhalte, so auch des Ausgangsthemas der vorliegenden Studie, stellt.
1.2.1
Grundanliegen kompetenzorientierten Unterrichts
Im Kern geht es bei der Kompetenzorientierung darum, eine stärkere Nachhaltigkeit schulischen Lernens mit Blick darauf zu gewährleisten, welche lebensrelevanten Fähigkeiten Schülerinnen und Schüler erwerben27: 26
27
LENHARD, Art. Kompetenzorientierter Religionsunterricht, 1. (S. 1 in der PDF-Version), online abrufbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100016/ (Stand: 25.06.2020). Die rahmenden Anführungszeichen wurden weggelassen, um ihre unterschiedliche Verwendung im Original beizubehalten. In der vom Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) initiierten Expertise werden in Übernahme der Definition F. E. Weinerts Kompetenzen definiert als „die bei
1. Zur didaktischen Begründung
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Aufgrund der enttäuschenden PISA-Ergebnisse deutscher Schüler/innen wurden diese traditionell mehr inhaltlich orientierten Bildungspläne bundesweit neu fokussiert als Kerncurricula mit stärker kompetenzorientierten Bildungs- oder Leistungsstandards. Standards ‚benennen Ziele für die pädagogische Arbeit, ausgedrückt als erwünschte Lernergebnisse der Schülerinnen und Schüler‘ (Klieme u.a. 2003, 19). Was sollen die Schüler/innen am Ende können? Salopp formuliert: ‚Was ist drin?‘ statt ‚Was war dran?‘ In den Fächern werden fachliche „nationale Bildungsstandards“ (Mindeststandard, Kompetenzstufen) fixiert und regelmäßig kontrolliert. Mit dieser stärkeren Output- oder Ergebnisorientierung sollen nicht zuletzt die Anteile „trägen Wissens“ reduziert und insgesamt die Lernerträge und die Unterrichtsqualität gesichert und verbessert werden. 28
Konsequent (wie auch vorhersehbar) wird deswegen gegenwärtig als übergeordnetes Leitziel des Religionsunterrichts die Entwicklung „religiöser Kompetenz“ als Zusammenwirken verschiedener Teilkompetenzen benannt. Im Einzelnen bleibt jedoch dann relativ interpretationsbedürftig, was genau unter diesem „Globalziel religiöser Erziehung“29 zu verstehen ist bzw. welche Fähigkeiten es im Einzelnen zu fördern gilt. Dementsprechend vielfältig sind auch die religionspädagogischen Kompetenzmodelle, unter denen als maßgeblich der Entwurf von Ulrich Hemel, der der deutschen Bischöfe, der des Comenius-Instituts und der Georg Ritzers zu nennen sind.30 Während der weitere wissenschaftliche Diskurs zur Klärung dieser Frage sicherlich beitragen wird, hat die Kompetenzorientierung die Unterrichtspraxis „nach PISA“ bereits seit mehreren Jahren erreicht. Dabei werden beispielsweise in den Kernlehrplänen NRW für den katholischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe I (analog zu anderen Fächern) als zu schulende Kompetenzbereiche
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29
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Individuen verfügbaren oder von ihnen erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“(KLIEME [u. a.], Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards, S. 72; im Original durch Fettdruck hervorgehoben). HUWENDIEK, Didaktische Modelle, S. 39–40. In seinem Zitat bezieht er sich auf die oben genannte Expertise. Die rahmenden Anführungszeichen wurden weggelassen, um ihre unterschiedliche Verwendung im Original beizubehalten. Die hier kursive Hervorhebung erfolgt dort durch Fettdruck. LENHARD, Art. Kompetenzorientierter Religionsunterricht, 2.2. (S. 2 in der PDF-Version), online abrufbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100016/ (Stand: 25.06.2020). Für eine Übersicht über einzelne Kompetenzmodelle siehe SAJAK, Zum Verhältnis von Hermeneutik und Partizipation, S. 15–19 bzw. ZENTRUM FÜR SCHULQUALITÄT UND L EHRERBILDUNG (REDAKTION), Modelle religiöser Kompetenz, online abrufbar unter: https://lehrerfortbildung-bw.de/u_gewi/religion-rk/gym/bp2004/fb1/1_theorie/ ueber/2_ueber/1_modelle/ (Stand: 26.06.2020).
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die Sach-, Methoden-, Urteils- und Handlungskompetenz ausgewiesen.31 Bei diesbezüglich näherer Betrachtung wird zudem deutlich, dass sich in Bezug auf die Kompetenzentfaltung wie auch bei den Inhaltsfeldern32 konkrete Anregungen der deutschen Bischofskonferenz mit Blick auf „Kirchliche Richtlinien zu Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht in den Jahrgangsstufen 5–10/Sekundarstufe I (Mittlerer Schulabschluss)“ aus dem Jahre 2004 wiederfinden.33 Als an jeweiligen Inhalten des christlichen Glaubens zu entwickelnde, prozessbezogene Kompetenzen werden in diesen „Kirchlichen Richtlinien“ benannt: „religiöse Phänomene wahrnehmen“, „religiöse Sprache verstehen und verwenden“, „religiöse Zeugnisse verstehen“, „religiöses Wissen darstellen“, „in religiösen Fragen begründet urteilen“, „sich über religiöse Fragen und Überzeugungen verständigen“, „aus religiöser Motivation handeln“. 34 In diesem Zusammenhang versteht sich von selbst, dass die Konkretisierung von Teilfähigkeiten einer religiösen Kompetenz zentral ist, insgesamt jedoch vor dem Hintergrund einer damit verbundenen, grundlegenderen Reflexion über Grundlagen religiösen Lernens zu sehen ist. Dementsprechend wurden in den letzten Jahren von unterschiedlicher Seite didaktische Ansätze entwickelt, welche Merkmale einen spezifisch kompetenzorientierten Religionsunterricht kennzeichnen sollen.35 Als gemeinsame „Strukturmomente“ dieser divergierenden Ansätze benennt der Religionspädagoge Hartmut Lenhard in seinem systematisierenden WiReLex-Artikel „Kompetenzorientierter Religionsunterricht“ 36 unter anderem, dass: • die Schüler und Schülerinnen „als Subjekte des Lernens“ im Zentrum stehen bzw. der Religionsunterricht auf ihren Lernprozess hin orientiert ist (vgl. Unterpunkt 4.1. bzw. S. 11 in der PDF-Version);
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Vgl. hierzu exemplarisch MSW NRW (Hrsg.), Kernlehrplan für das Gymnasium – Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen. Katholische Religionslehre [G8], S. 14–15 bzw. Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Katholische Religionslehre, S. 17–18. Vgl. jeweils ebd., S. 15–16 bzw. ebd., S. 18–19. Siehe hierzu S EKRETARIAT DER DEUTSCHEN BISCHOFSKONFERENZ (Hrsg.). Kirchliche Richtlinien zu Bildungsstandards, S. 15–35. Ebd., S. 16 (hier, anders angeordnet, die zitierten Kompetenzbenennungen), weiterführend S. 16–18. In diesem Zusammenhang sind A. Feindt, G. Obst, W. Michalke-Leicht wie auch in Bezug auf die Kompetenzen der Lehrenden C. P. Sajak zu nennen. Eine gute Übersicht über diese didaktischen Ansätze mit Verweis auf weiterführende Literatur bietet LENHARD, Art. Kompetenzorientierter Religionsunterricht, 3. (S. 3–11 in der PDF-Version), online abrufbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100016/ (Stand: 25.06.2020). Vgl. ebd., 4. (S. 11–15 in der PDF-Version). Die Unterpunkte 4.8. („Aspekte der Unterrichtsführung“) und 4.9. („Nota bene“) werden ausgelassen, da sie zur spezifischen Profilierung des kompetenzorientierten Unterrichts nur bedingt beitragen. Nachfolgend werden direkte Zitate durch Anführungsstriche gekennzeichnet. Die Hervorhebungen des Originals werden beibehalten.
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• •
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der Unterricht im Sinne des Kompetenzerwerbs von religiös- und lebensrelevanten „Anforderungssituationen“ ausgeht (vgl. vertiefend 4.2. bzw. S. 11–12); zur Bewältigung dieser „prozessbezogene und inhaltsbezogene Kompetenzen“ entwickelt werden (vgl. vertiefend 4.3. bzw. S. 12); der Unterricht dazu „Lernarrangements“ bietet, „die den Kompetenzerwerb ermöglichen, fördern und evaluieren können“ (S. 12) und zum Kompetenzaufbau eine Beschäftigung mit „komplexen Lernaufgaben“ (S. 13) erfolgt (vgl. vertiefend 4.4. und 4.5. bzw. S. 12–14); der Unterricht dabei insgesamt auf „langfristige Lernprozesse“ angelegt ist, die durch ein „progressives, kohärentes, kompetenzorientiertes Spiralcurriculum“ gewährleistet werden (vgl. 4.6. bzw. S. 14) und im Sinne der Nachhaltigkeit „Üben und Überprüfen, Feedback und Evaluation“ als zentrale Bestandteile integriert (vgl. 4.7. bzw. S. 14).
Versucht man somit diese eher unterrichtstechnologischen Kennzeichen des kompetenzorientierten Unterrichts auf ein Kernanliegen hin zu fokussieren, erscheinen mir die Begriffe Nachhaltigkeit, Emanzipation und Ermöglichung von Partizipation tragfähig. Ein kompetenzorientierter Religionsunterricht zielt auf die stetige, gestufte Erweiterung einzelner Fähigkeiten bis hin zum jeweiligen Bildungsabschluss ab. Somit stehen einzelne Unterrichtsinhalte und Methoden nicht mehr unverbunden nebeneinander, sondern sollten sinnvoll aufeinander bezogen und in einen geschlossenen Gesamtprozess schulischen Lernens eingeflochten sein. 37 Dabei ist zugleich konstitutiv, dass schulisches Lernen keinen Selbstzweck verfolgt, sondern lebensrelevante Fähigkeiten vermitteln muss, um die Herausforderungen der Gegenwart zu bewältigen.38 Zentral geht es also darum, einen Beitrag zu einer selbstbestimmten, aktiven und verantwortungsbewussten Teilhabe an der Gesellschaft bzw. den in ihrer Lebenswelt vorfindlichen religiösen Phänomenen und Artikulationen von Religion zu ermöglichen. Deswegen gilt es zu überlegen, ob man die genannten Strukturmerkmale mit Blick auf das fachspezifische Profil um eine diesbezügliche erfahrungsbezogene Dimension stärkt. Dazu Hans Mendl: „Lernende werden ‚in Sachen Religion‘ kompetent, wenn sie in Auseinandersetzung mit den religiösen Konstruktionen anderer und unterstützt mit dem Deutungsangebot christlicher Tradition ein selbstständiges und vor der Vernunft verantwortbares
37
38
Vgl. hierzu auch SCHRÖDER, Kompetenzorientierung, S. 182. Nachfolgend werden in seinem Artikel auch weitere Vorteile der Kompetenzorientierung benannt (vgl. hierzu S. 182–184), ebenso aber auch kritische Anfragen gestellt (vgl. ebd., S. 186–190). Vgl. ebd., S. 184 (hier auch Kritik und weitergehende Reflexion dieses Aspekts).
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
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Urteil in Fragen der Religion sowie je eigene religiöse Spuren entwickeln (Deutungsund Partizipationskompetenz); […].“ 39
Insgesamt sind durch die Festschreibung der Kompetenzorientierung so zwar normative Rahmenbedingungen gesetzt, an die sich jeder Unterrichtende zu halten hat und von denen ausgehend die Sinnhaftigkeit eines Unterrichtsgegenstandes reflektiert werden muss. Dies sollte aber zugleich konstruktiv, als Chance be- und ergriffen werden. Insofern ist der kompetenzorientierte Religionsunterricht (wenn auch nicht ausschließlich) ein zentraler Ansatz, die Befähigung zu einem selbstbestimmten Leben anzubahnen und dadurch den oben skizzierten Herausforderungen der Gegenwart zu begegnen. Mit Blick auf das Ausgangsthema der vorliegenden Arbeit bedeutet dies, dass eine unterrichtliche Beschäftigung mit „Jesus und dem Zorn Gottes“ keinen Selbstzweck verfolgt. Vielmehr muss gefragt werden, wie dieses Unterrichtsthema zu einem sinnvoll begründbaren Lerninhalt werden kann. Dabei bieten die oben benannten Kennzeichen eines kompetenzorientierten Religionsunterrichts zugleich wichtige und zu konkretisierende Kriterien für die weitergehende Didaktisierung hin zu konkreten Unterrichtsbeispielen.
1.2.2
„Jesus und der Zorn Gottes“ als Beitrag zur Entwicklung religiöser Kompetenz?
Die Überschrift ist bewusst vorsichtig gewählt, um den Anspruch an das vorliegende Kapitel nicht überzustrapazieren. Oder direkter formuliert: Der Mangel an einem von allen Seiten anerkannten Kompetenzmodell religiöser Bildung kann auch im begrenzten Rahmen der vorliegenden Studie nicht gelöst werden. Hier soll deswegen zunächst primär aufgezeigt werden, inwieweit der bisherige exegetische Analysegegenstand „Jesus und der Zorn Gottes“ es ermöglicht, als Lerninhalt zu einer Kompetenzentwicklung beizutragen, die ihrerseits wiederum ein Baustein in der Entwicklung von religiöser Kompetenz sein kann. Damit werden Grundlagen geschaffen, um in späteren Oberkapiteln Teilaspekte, wie weitergehende lernpsychologische Voraussetzungen, konkrete Kompetenzerwartungen und letztlich praktische Unterrichtsbeispiele, im größeren Kontext eines kompetenzorientierten Religionsunterrichts zu konkretisieren.
1.2.2.1 Grundlagen und Ansatzpunkte der Kompetenzentwicklung Auch wenn es eine Vielzahl von Ansätzen eines kompetenzorientierten Religionsunterrichts gibt, klammert keiner dieser Ansätze die zentralen Glaubensinhalte der christlichen Religion aus. Vielmehr zielen entsprechende Modelle je-
39
MENDL, Mehr als reden über Religion, S. 12.
1. Zur didaktischen Begründung
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weils darauf ab, grundlegende Kompetenzen mit Blick auf die christliche Religion und in vertiefender Auseinandersetzung mit dieser aufzubauen. 40 Dies ist auch deswegen geboten, damit der Religionsunterricht seinen, ihm durch das Grundgesetz zugewiesenen, konfessionellen Charakter behält.41 Insofern gilt es zunächst herauszuarbeiten, welchen Beitrag der vorliegende Untersuchungsgegenstand „Jesus und der Zorn Gottes“ dazu leistet. Dieses Vorgehen mag auf einen ersten Blick dem oben genannten Anliegen eines kompetenzorientierten Religionsunterrichts entgegenstehen, die Schülerinnen und Schüler mit ihrem Lernprozess ins Zentrum der Reflexion zu stellen. Erst die sachanalytische Verdichtung des vorliegenden komplexen exegetischen Untersuchungsgegenstandes ermöglicht es jedoch, seiner kompetenzbildenden Relevanz nachzuspüren. Als methodischer Ansatzpunkt bietet sich hierfür ein Rückgriff auf das bereits vielfach erprobte Prinzip der „Elementarisierung“42 an, welches auch heute noch als zielführend für eine kompetente und kompetenzorientierte Vorbereitung des Religionsunterrichts angesehen wird.43 Auch wenn die Elementarisierung sicherlich kein umfassendes und geschlossenes Modell zur Realisierung eines kompetenzorientierten Religionsunterrichts darstellt, 44 erfüllt sie doch ein 40
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Neben dem bereits oben etwas konkreter entfalteten Kompetenzmodell der „Kirchlichen Richtlinien“ zu den Bildungsstandards ist dabei für den evangelischen Religionsunterricht beispielsweise das Kompetenzmodell des Comenius-Instituts zu nennen, bei dem die „Bezugsreligion des Religionsunterrichts “ einen entscheidenden Gegenstandsbereich darstellt (vgl. FISCHER/ELSENBAST, Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung, S. 18; Hervorhebung im Original). Vgl. GG Art. 7, Absatz 3. Siehe auch weiterführend die letzte Stellungnahme der deutschen Bischöfe: SEKRETARIAT DER DEUTSCHEN BISCHOFSKONFERENZ (Hrsg.), Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts, S. 7–9. Vgl. zur Übersicht BAUMANN, Art. Elementarisierung, 1.–3. (S. 1–5 in der PDF-Version), online abrufbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100014/ (Stand: 25.06.2020). Zur aktuellen Weiterentwicklung siehe zuletzt SCHWEITZER/HAEN/KRIMMER, Elementarisierung 2.0, S. 21–27 (hier besonders S. 23–25). Ebenso weist C. P. Sajak bei seinen Anregungen zu einer kompetenzorientierten Unterrichtsvorbereitung dieses Prinzip als zentral aus (vgl. SAJAK, Religion unterrichten, S. 48–50). – Sajak benennt als weiteres Prinzip die „Korrelation“ (vgl. ebd., S. 40–44.). Diesbezüglich ist S. Heil zuzustimmen, dass die Elementarisierung das Anliegen der Korrelation integriert und weiterführt: „Elementarisierung verbindet, korreliert theologische Inhalte mit den relevanten Lernbedingungen der Schülerinnen und Schüler. Die fünf Dimensionen der Elementarisierung (Strukturen, Wahrheiten, Erfahrungen, Zugänge, Lernformen) sind daher aufeinander bezogen und bedingen sich gegenseitig. Sie bilden eine dreidimensionale Korrelation wie oben beschrieben: Strukturen und Wahrheiten sind Inhalte, Erfahrungen und Zugänge beschreiben die Schülerinnen und Schüler, Lernformen zielen auf Vermittlung.“ (HEIL, Art. Korrelation, 4.2. bzw. S. 11 in der PDF-Version, online abrufbar unter: http://www.bibel wissenschaft.de/stichwort/100015/ [Stand: 25.06.2020]). Zur Kritik vgl. auch OBST, Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen im Religionsunterricht, S. 106.
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zentrales Anliegen desselben, wie Hans Mendl zutreffend herausstellt: „Das Elementarisierungskonzept leistet […] die Aufgabe von wechselseitigen Erschließungsprozessen zwischen dem Unterrichtsgegenstand und dem lernenden Subjekt.“45 Im gegenwärtigen Diskurs wird diesbezüglich der „Tübinger Ansatz der Elementarisierung“ am häufigsten rezipiert. 46 Karl Ernst Nipkow als maßgeblicher Vertreter dieses Ansatzes bemerkt hierzu: „Zusammengefasst erscheint das Elementare vierfach: (1) hinsichtlich der ‚elementaren Strukturen‘ als ‚das grundlegend Einfache‘: Elementarisierung als Aufgabe wissenschaftlicher Vereinfachung im Sinne sach- und textgemäßer Konzentration; (2) hinsichtlich der ‚elementaren Erfahrungen‘ als ‚das subjektiv Authentische‘: Elementarisierung als Relevanzproblem im Sinne lebensbedeutsamer Erschließung; (3) hinsichtlich der ‚elementaren Zugänge‘ als ‚das zeitlich Angemessene‘: Elementarisierung als Sequenzproblem im Sinne gesellschaftlich- und lebensgeschichtlich bedingter Verstehensvoraussetzungen; (4) hinsichtlich der ‚elementaren Wahrheiten‘ als ‚das gewissmachende Wahre‘: Elementarisierung als Vergewisserungsproblem im Streit um gewissmachende Wahrheit.“47
Ergänzend hierzu stellt Friedrich Schweitzer die Dimension der „elementaren Lernformen“ heraus, bei denen es unter Rückgriff auf die aktuelle didaktische Methodik darum geht, den Lernweg inhalts- und subjektgerecht zu gestalten.48 Sachlogisch ist es für die weitere Analyse zielführend, die elementaren Strukturen49 des Gegenstandes „Jesus und der Zorn Gottes“ zu verdichten. In einem zweiten Schritt gilt es die Dimension der elementaren Erfahrungen50 zu fokussieren. Hierbei stehen dann die Schülerinnen und Schüler als „Subjekte des
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48 49
50
MENDL, Religionsdidaktik kompakt, S. 229. Vgl. hierzu auch BAUMANN, Art. Elementarisierung, 2. (S. 2–3 in der PDF-Version; wörtliches Zitat S. 3), Link bereits oben ausgewiesen. Vgl. NIPKOW, Art. Elementarisierung, S. 452–453; Ansatz sehr übersichtlich gebündelt bei SAJAK, Religion unterrichten, S. 48–49; MENDL, Religionsdidaktik kompakt, S. 229–233. Zur weitergehenden Vertiefung siehe SCHWEITZER/H AEN /KRIMMER, Elementarisierung 2.0, S. 11–33. – Wird nachfolgend auf einzelne Dimensionen der Elementarisierung verwiesen, werden diese zur optischen Orientierung kursiv (ohne Anführungsstriche) hervorgehoben. Vgl. u. a. SCHWEITZER/HAEN/KRIMMER, Elementarisierung 2.0, S. 18–19. Als diesbezügliche Grundfrage benennt H. Mendl: „ Worin liegt die besondere, elementare Charakteristik (Struktur, Bedeutung) des Gegenstandes?“ (MENDL, Religionsdidaktik kompakt, S. 231; Hervorhebung im Original). „Welche (menschliche, religiöse) Erfahrung enthält der Gegenstand? “, „Über welche Erfahrungshorizonte bezüglich des Themas verfügen die Schülerinnen und Schüler? “ (Ebd., S. 231; Hervorhebungen im Original). – Die im Original zur Abgrenzung verwendeten Punkte werden hier und nachfolgend aus typographischen Gründen weggelassen.
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Lernens“51 im Zentrum. Zugleich wird dabei die Frage nach den elementaren Wahrheiten52 stets mitreflektiert. In Bezug auf die elementaren Strukturen kann dabei auf die bereits erfolgte Vorarbeit zurückgegriffen werden, indem vor allem die zusammenführenden Kapitel der Exegetischen Grundlegung noch einmal synthetisiert werden. So lassen sich in Bezug auf den Gegenstand „Jesus und der Zorn Gottes“ folgende Strukturen benennen: • Die biblische Rede von der „Liebe Gottes“ und von seinem „Zorn“ zeigen den inneren Zusammenhang zwischen Erstem und Zweitem Testament: Sie verweisen auf einen souveränen Gott, der in verbindlicher Beziehung zu seiner Schöpfung und den Menschen steht. • Der „Zorn Gottes“ steht in der Verkündigung Jesu nicht im Widerspruch zu der Botschaft von der liebenden Hinwendung Gottes zu den Menschen und der heilvollen Aufrichtung der Gottesherrschaft. • Durch Verweise auf den „Zorn Gottes“ wird die darin zum Ausdruck gebrachte „Liebe Gottes“ vielmehr als bedingungsloses und zugleich forderndes Geschenk, als Gabe und Aufgabe erkennbar: Die von Gott neu in Gnade geschenkte Existenz ermöglicht einen heilvollen Neubeginn, sie soll im fundamentalsten Sinne lebensverändernd und handlungsorientierend sein. 53 • Während Barmherzigkeit inneres Antriebsmoment Gottes ist, handelt es sich bei Verweisen auf den „Zorn Gottes“ um eine personale Beziehungsmetapher: Sie bringt Gottes fundamentales „Betroffen-Sein“, das meint seine Entrüstung über das „Nein“ des Menschen, dessen Ablehnung, seine heilvolle Herrschaft letztgültig wirksam werden zu lassen, zum Ausdruck.54 • So ist im Verweis auf den „Zorn Gottes“ impliziert, dass Gott die Freiheit des Menschen uneingeschränkt anerkennt, zugleich aber zur Verantwortung mahnt. • Jesu Zuwendung zu den Menschen ist Widerhall der „Liebe“ und des „Zornes Gottes“: Jesus begegnet den Menschen mit bedingungsloser Annahme und ermöglicht ein neues, gottgewirktes Leben. Auf die vielfältige Verweigerung der Menschen reagiert er jedoch mitunter ergriffen und zornig, aus Angst, dass diese Menschen die Gottesbeziehung verfehlen – und um sie zur existenziellen Neuorientierung zu mahnen. 51
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Wie oben aufgezeigt, verwendet u. a. H. Lenhard diese Formulierung. Da sie gängig ist, wird sie im Weiteren zwar durch Anführungsstriche hervorgehoben, es wird aber nicht auf eine Einzelperson verwiesen. „Was ist die (theologische, existenzielle) Grundaussage des Gegenstandes ?“; „Inwiefern betrifft es Sie als Lehrperson?“; „Was kann und soll den Schülerinnen und Schülern zugemutet werden?“ (MENDL, Religionsdidaktik kompakt, S. 232). Vgl. weiterführend auch die Gedanken bei ebd., S. 126. – Die entsprechenden Ausführungen Mendls werden in dem nachfolgenden Kapitel „Impulse für ethisches Lernen“ noch einmal ausführlich dargelegt. Vgl. auch PETZEL /RECK (Hrsg.), Von Abba bis Zorn Gottes, S. 200–201.
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D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven Das zornige Handeln und die diesbezügliche Verkündigung Jesu wirken mitunter bedrohlich, zielen aber stets darauf ab, den Menschen neu für die Gottesbeziehung zu öffnen und widerstreitende Momente zu bekämpfen. Der „Zorn Gottes“ wie auch der „Zorn Jesu“ lassen dabei zugleich positiv bestimmen, was der Anbruch der heilvollen Gottesherrschaft fordert und wozu er befähigt. Man soll seine eigene Existenz transzendieren, indem man: o Jesus konsequent nachfolgt; o dem Lebensfeindlichen keinen Raum mehr gewährt; o sich in gelebter Vergebungsbereitschaft, Barmherzigkeit und Solidarität gegenüber den Mitmenschen (insbesondere den „ungerecht Leidenden“55) öffnet; o und so das Heil, das Gott unbedingt für jeden Menschen will, in sein Leben integriert. Darin wird erkennbar, dass Gottes- und Nächstenliebe eine unaufhebbare Einheit bilden. Erst im Zorn zeigt sich das wahre und authentische Menschsein Jesu56, dadurch wird erkennbar, wie man seine menschliche Leidenschaft und Impulsivität, positiv, also im Sinne Gottes, nutzt. Der „Zorn Gottes“ verweist darüber hinaus zugleich auf das gerechtigkeitsschaffende göttliche Heilshandeln im Zeichen des eschatologischen Gerichts und verbürgt somit die Sinnhaftigkeit dieser existenziellen Neuorientierung. So sind die Verweise auf den „Zorn Gottes“ im Wirken Jesu insgesamt Ausdruck einer aufrechten und aufrichtenden Liebe Gottes.
Im letzten Punkt scheint nochmal in besonderer Weise auf, worin die elementare Wahrheit des vorliegenden Gegenstandes liegt bzw. liegen kann: In der Rede
vom „Zorn Gottes“ kommt zum Ausdruck, dass dieser Gott dem Menschen zutiefst persönlich gegenübersteht und ein Beziehungssuchender ist, der in seiner Liebe das Heil der Menschen will und deswegen von ihrer Verweigerung dieses Angebots nicht unberührt bleiben kann.57 Gerade in Letzterem scheint jedoch auch ein Wissen darum auf, dass der Mensch sich existenziell verfehlen kann, 55 56 57
METZ, Theodizee-empfindliche Gottesrede, S. 82. Vgl. zu diesem Aspekt auch H OFMEISTER, Leidenschaft aus Mitgefühl, S. 37. An dieser Stelle lohnt es sich noch einmal die Gesamtaussage Härles zu zitieren, die diesen Zusammenhang eindrucksvoll zum Ausdruck bringt: „Was von der menschlichen Liebe zu sagen war, gilt auch und erst recht von Gottes Liebe, die das Urbild und der Ermöglichungsgrund allen menschlichen Liebens ist: Eine Liebe, die nicht zornig wäre über das, was dem Geliebten Schaden zufügt oder wodurch der Geliebte sich selbst Schaden zufügt, wäre nicht größere, sondern geringere Liebe. Die Rede vom Zorn Gottes qualifiziert Gottes Liebe als ernsthafte, als wirkliche Liebe.“ (H ÄRLE, Die Rede von der Liebe und vom Zorn Gottes, S. 352; Hervorhebung im Original).
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wenn er dem Heilsangebot Gottes gleichgültig begegnet. Die Rede vom „Zorn Gottes“ will also verdeutlichen, dass Gott das Schicksal des Menschen „an-geht“. Sie gibt Zeugnis davon, dass dieser Gott bedingungslos Heil schenkt und zu neuem Leben befähigt, aber auch verlangt, dieses Leben gut, das heißt im Sinne der Mitmenschen, zu führen. Die Rede vom „Zorn Gottes“ ist so Ausdruck des Vertrauens darin, dass ebendiese Umkehr zu gelebter Barmherzigkeit möglich sowie lebenstragend ist und ebendiese Sinnhaftigkeit durch Gottes Gericht letztgültig verbürgt wird. – So ist sie zugleich ein ausdrückliches „Nein“ zu einem lebenszerstörerischen Verhalten des Menschen, welches letztlich seine Selbstentfremdung bedingt.58 Die entscheidende Frage ist nunmehr, welche Berührungspunkte zur Lebenswelt und den Fragen heutiger Schülerinnen und Schüler sich hieraus ergeben bzw. welche elementaren Erfahrungen sie prägen. Rückschlüsse hierüber ermöglicht die bereits oben erwähnte 17. Shell-Jugendstudie von 2015. Laut dieser sind die Jugendlichen, die daran glauben, dass es einen persönlichen Gott gibt, mit 26% insgesamt in der Minderheit. 59 In Bezug auf die Konfessionszugehörigkeit zeigt sich, wenn man die Werte von 2002 bis 2015 kulminiert, dass bei den katholischen Jugendlichen zwar die größte Gruppe an einen persönlichen Gott glaubt, diese aber insgesamt nur 35% der Befragten ausmacht. 23% stellen sich Gott eher unpersönlich als „überirdische Macht“ vor, 24% sind sich unsicher und 16% lehnen den Glauben an einen Gott ab. Ein ähnliches Bild zeigte sich bei den evangelischen Jugendlichen, wobei hier mit 29% die Gruppe, die sich über ihre diesbezüglichen Glaubensvorstellung unsicher ist, am größten war.60 Einen Trend zu einer eher unpersönlichen Gottesvorstellung stellt auch Hans-Georg Ziebertz mit Blick auf eigene empirische Forschungen zum Welt- und Gottesbild Jugendlicher heraus.61 58
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Siehe weitergehend auch die Überlegungen zur Bedeutung des Themas im Kontext biblischen Lernens. Vgl. GENSICKE, Die Wertorientierung der Jugend (2002–2015), S. 253 (Abbildung 6.12). Dieser Trend zeigte sich auch in der vorangegangenen Shell-Jugendstudie von 2010, in der das Übersichtskapitel zu den Gottesvorstellungen Jugendlicher sogar mit dem Titel „Gott immer weniger Person“ betitelt wurde (vgl. GENSICKE, Wertorientierung, Befinden und Problembewältigung, S. 206–207). – Insgesamt bleibt die vorliegende Studie natürlich mit dieser Frage sehr unkonkret, da nicht weitergehend ausgewiesen wird, welche für die Jugendlichen relevanten Attribute einen „persönlichen Gott“ kennzeichnen. Vgl. für eine Übersicht über die genannten Ergebnisse GENSICKE, Die Wertorientierung der Jugend (2002–2015), S. 254 (Abbildung 6.13). „Als Fazit lässt sich festhalten, dass eine pragmatische Welt- und Lebenseinstellung dominiert. Kaum relevant sind nihilistische, religionskritische und atheistische Einstellungen. Von den Aussagen, die einen religiösen Inhalt haben, unterstützen Jugendliche deistische, universalistische und metatheistische Vorstellungen, während eindeutig christliche Konnotationen eher abgelehnt als befürwortet werden. Insgesamt wird ein Wandel zu einer anonymen Vorstellung von Gott bzw. dem Göttlichen beobachtet. Gott ist nicht unterwegs in und mit der Geschichte der Menschen, sondern allenfalls eine Erstursache. Die Beziehung des Menschen zur Welt und zum Göttlichen ist unpersönlich.“ (ZIEBERTZ,
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Kontrastiv dazu zeigen die kumulierten Ergebnisse der Shell-Jugendstudien von 2002 bis 2015, dass deutlich über die Mehrheit der christlich-orthodoxen und muslimischen Jugendlichen an die Existenz Gottes als Person glaubt.62 Besonders bei muslimischen Jugendlichen wird darüber hinaus erkennbar, dass vor allem diese Gottesvorstellung eng mit der Bedeutung Gottes für die Gestaltung des eigenen Lebens verbunden ist und damit als Wertorientierung dient.63 Insgesamt bestätigen auch andere repräsentative Umfragen, so wie die SinusJugendstudie von 2016, die höhere Relevanz von Religion für die Identität muslimischer Jugendlicher und ihre damit einhergehende, Orientierung stiftende Bedeutung für das alltägliche Leben.64 In Bezug auf die sich oben andeutenden Beobachtungen ist vor allem eine repräsentative religionspädagogische Untersuchung von Peter Erdmann aus dem Jahr 2011 aufschlussreich, bei der 1603 nordrheinwestfälische Schülerinnen und Schüler der Mittel- und Oberstufen mit Blick auf ihre Jenseitsvorstellungen befragt wurden. Die diesbezüglichen Ergebnisse in Bezug auf die Bedeutung eines eschatologischen Gerichts, bei dem ja gerade auch die Verantwortung für die eigene Lebensführung im Zentrum steht, fasst Erdmann dabei wie folgt zusammen:
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Gesellschaftliche und jugendsoziologische Herausforderungen, S. 101). Für entsprechende Studienergebnisse siehe ZIEBERTZ/RIEGEL, Letzte Sicherheiten, S. 66–80 bzw. S. 207–210. Vgl. für eine Übersicht über die genannten Ergebnisse GENSICKE, Die Wertorientierung der Jugend (2002–2015), S. 254 (Abbildung 6.13). Kulminiert man entsprechend zu den persönlichen Gottesvorstellungen die Ergebnisse aus dem Zeitraum von 2002 bis 2015, betonten 76% der muslimischen Jugendlichen die Wichtigkeit des Glaubens an Gott für die eigene Lebensorientierung. Im Gegensatz dazu empfinden nur 37% der evangelischen und 45% der katholischen Jugendlichen den Glauben an Gott für die Lebensgestaltung als bedeutsam: Vgl. hierzu ebd., S. 251 (Abbildung 6.9) und für die entsprechende Schlussfolgerung über den Zusammenhang von personaler Gottesvorstellung und der Bedeutung Gottes für die persönliche Lebensführung S. 254–255. Vgl. hierzu CALMBACH (u. a.), Wie ticken Jugendliche 2016?, S. 340–342 wie auch S. 354–355. Im Gesamtresümee der Studie wird dementsprechend festgestellt: „Bei der Frage, ob Religion bzw. der Glaube an Gott den Jugendlichen wichtig ist, zeigen sich Unterschiede zwischen christlichen und muslimischen Befragten. Für muslimische Jugendliche, v. a. aus den formal niedriger gebildeten Lebenswelten, ist eine positive Identifikation mit ihrer Religion typischer als für christliche. Für sie ist Religion Teil ihrer Persönlichkeit. Sie bietet häufiger das Regelwerk für das Alltagshandeln und fungiert als moralische Leitplanke. Muslimische Jugendliche berichten daher auch häufiger von religiösen Routinen im Alltag. Sie leben ihren Glauben nicht nur offener aus, sondern sind dabei auch stärker in einen institutionellen Rahmen eingebunden. “ (ebd., S. 473). Die traditionellere Verwurzelung in einzelnen Glaubensvorstellungen wird beispielsweise in dem nachfolgenden Zitat deutlich: „Ich bin muslimisch und denke, dass es einen Schöpfer gibt namens Allah, und dass die ersten Menschen Adam und Eva sind, und eines Tages wird die Erde auch untergehen. Das heißt in anderen Worten, auch im deutschen Wort, Apokalypse nennt man das.“ (ebd., S. 342).
1. Zur didaktischen Begründung
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„Neben dem Himmel und der Wiedergeburt gehört die Gerichtsvorstellung zu den am häufigsten Jenseitsvorstellungen : 25,7% aller Schüler sprechen sich für ein Gericht und eine Trennung der Verstorbenen in einen schlechten Ort (Hölle) und guten Ort (Himmel) aus […]. Dabei gibt es jedoch auffällige interreligiöse Unterschiede zwischen christlichen und muslimischen Schülern: Bei christlichen Schülern ist das Gericht nur für 28,9% bedeutsam, ganz im Gegensatz zu muslimischen Schülern, bei denen 74,1% von seiner Wichtigkeit ausgehen. Die meisten christlichen Probanden kennen das Gericht nämlich nicht oder lehnen es ab. Das Item Nr. 25 zeigte stattdessen, dass der Gedanke der Allversöhnung die alles überragende Antwort auf das Gericht ist – wohlgemerkt von Schülern christlichen Glaubens […]. Die christlichen Schüler gehen zu 56,9% von einem Himmel aus, aber nur 21% erkennt ein Gericht und eine Trennung in einen schlechten Ort (Hölle) und einen guten Ort (Himmel) an. Damit präferieren christliche Schüler eher als muslimische Schüler einen Himmel für Alle. Bei muslimischen Schülern dagegen gehen 69,6% von der Existenz des Himmels und fast deckungsgleich 69,1% von besagter Trennung aus.“ 65
Eine Zusammenschau dieser empirischen Ergebnisse zeigt also, dass die für den christlichen Glauben zentrale Vorstellung eines persönlichen Gottes auch für die den beiden großen Konfessionen zugehörigen Jugendlichen – anders als für muslimische Jugendliche – keine Selbstverständlichkeit mehr darstellt.66 Hinzu tritt, wie Peter Erdmann bemerkt, bei Heranwachsenden, die entsprechende Glaubensinhalte nicht grundsätzlich ablehnen, eine „Verkürzung christlicher Theologie“, bei der Einzelaspekte selektiv im Sinne von „Himmel ja – Gericht und Hölle – nein, die gibt es nicht“ rezipiert werden 67 – wenn nicht auch hier eine gewisse Unentschlossenheit vorherrscht68. Zugleich scheint diesbezüglich nach der oben genannten Shell-Jugendstudie 2015 nicht nur bei ihnen, sondern insgesamt bei fast einem Viertel der Jugendlichen mit Blick auf ihr Gottesverständnis eine Unsicherheit oder Unklarheit darüber zu herrschen, woran sie eigentlich glauben sollen. 69 Grundsätzlich scheint aber, wie vor allem die aktuelle Sinus-Jugendstudie nahelegt, ein die Religionen und Konfessionen übergreifendes Interesse heuti-
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ERDMANN, Jugend und Jenseits, S. 120–121 (Hervorhebungen im Original). Siehe weiterführend zu diesem Befund auch S. 140–145. H.-G. Ziebertz und U. Riegel kommen in einer Studie sogar zu dem Ergebnis, dass christliche Glaubensinhalte und Gottesvorstellungen überwiegend auf Ablehnung stoßen (vgl. ZIEBERTZ/RIEGEL, Letzte Sicherheiten, S. 69 u. S. 80 bzw. für die konkret erfragten Teilaspekte S. 207–210. ERDMANN, Jugend und Jenseits, S. 127 (hier auch wörtliche Zitate). Die Frage ist, ob die Bedeutung des Gerichts für Schülervorstellungen im Einzelnen angemessen eingeordnet wird, wenn Erdmann die prozentualen Zustimmungswerte zu „gar keine“ und „weiß nicht“ addiert, und daraus folgert, dass das Gericht keine Bedeutung für die meisten Schüler und Schülerinnen habe (vgl. ebd., S 140). Vielmehr kann sich in einer solchen Aussage ja auch eine unentschlossene Haltung oder ein noch nicht abgeschlossener Reflexionsprozess dokumentieren. Dabei beträgt die Gruppe derjenigen, die angab, nicht zu wissen, was sie glauben soll, 24% (vgl. GENSICKE, Die Wertorientierung der Jugend [2002–2015], S. 253, Abb. 6.12).
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D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
ger Jugendlicher an den tieferen, existenziellen Sinnfragen zu bestehen. 70 Das sinngebende und lebensorientierende Potenzial von Religion(en) wird von Jugendlichen also durchaus noch anerkannt71, auch eine frühere Studie von HansGeorg Ziebertz und Ulrich Riegel verdeutlicht im Gegenzug, dass gerade auch religionskritische und atheistische Aussagen nur eine geringe Zustimmungsfähigkeit besitzen. 72 Gleichwohl sehen sich Jugendliche und Heranwachsende medial immer wieder mit problematischen Erscheinungen von Religion, besonders in Form von religiösem Fundamentalismus und religiöser Gewalt konfrontiert. Gerade auch die Angst vor einem (nicht immer religiös bedingten) Terrorismus und die Herausforderung, diesem entgegenzutreten, war für europäische Jugendliche und junge Erwachsene laut einer Jugendstudie von TUI im Jahr 2018 zentral.73 Insgesamt ermöglichen die vielseitigen Einblicke in Positionierungen heutiger Jugendlicher und junger Erwachsener es somit, auch für den kompetenzorientierten Religionsunterricht zentrale religionspädagogische „Anforderungssituationen“74 zu bestimmen. Als solche können folgende vermutet werden, ohne dass sie in ihrer Relevanz gewichtet werden können oder verallgemeinerbar sind: • das existenzielle Bedürfnis, Antworten auf Sinnfragen zu finden; • eine Unsicherheit in Bezug auf die eigenen Gottesvorstellungen und die Frage, wie man sich zu der diesbezüglichen christlichen Tradition verhalten soll75; • selektive, einseitige und verkürzende Gottesvorstellungen, die die eigene Sichtweise auf Tiefendimensionen christlicher Glaubensinhalte (z. B. die der
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Vgl. CALMBACH (u. a.), Wie ticken Jugendliche 2016?, S. 342–343. –Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang das nachfolgende Zitat eines 16jährigen, keiner Religionsgemeinschaft angehörigen, männlichen Jugendlichen, der von den Machern der Studie der Gruppe der adaptiv-pragmatischen Jugendlichen zugeordnet wird: „ Es beschäftigt einen schon sehr, auch wenn man selber nicht so gläubig ist. Man denkt halt darüber nach, was ist beispielsweise nach dem Tod, gibt es wirklich einen Gott, der dich dann danach in den Himmel schickt oder nicht. Das sind halt Fragen über Fragen, die alle unbeantwortet bleiben.“ (ebd., S. 343). Auch P. Erdmann resümiert als Ergebnis seiner Studie, dass die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler den Jenseitsglauben persönlich als relevant erachtet (vgl. ERDMANN, Jugend und Jenseits, S. 295). Vgl. vertiefend CALMBACH (u. a.), Wie ticken Jugendliche 2016?, S. 374–376. Vgl. ZIEBERTZ/RIEGEL, Letzte Sicherheiten, S. 69–70 bzw. S. 207–210. Vgl. TUI STIFTUNG (Hrsg.), Junges Europa 2018, S. 16, online abrufbar unter: https://www.tui-stiftung.de/wp-content/uploads/2018/05/TUI_Stiftung-Umfrage2018_GESAMT_ONLINEversion_180430.pdf (Stand: 27.06.2020). Vgl. hierzu beispielsweise auch LENHARD/OBST, Bibeldidaktik im kompetenzorientierten RU, S. 472 bzw. vertiefend und weiterführend OBST, Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen im Religionsunterricht, S. 178–196. Dies kann, wie die nachfolgende Analyse noch zeigen wird, natürlich auch die Vorstellungen Jesus betreffen (siehe hierzu Kapitel D.2.3).
1. Zur didaktischen Begründung
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Gerichtsvorstellung) einschränken, und es somit erschweren, neue Sinnperspektiven zu gewinnen; die Frage, welche Maßstäbe zur ethischen Orientierung gültig sind und welche Rolle Religion hierbei spielen kann; die Begegnung mit Mitschülerinnen und Mitschülern der eigenen und anderer Religionen, für die personale Gottesvorstellungen (auch mit Blick auf das Gericht Gottes) und die damit lebensnormierende Kraft der Religion mehrheitlich bedeutsam sind; die Konfrontation mit dem Phänomen religiösen Fundamentalismus sowie religiös motiviertem Terrorismus und der Frage, welche lebenstragenden und destruktiven Impulse von Religion ausgehen.
Vor diesem Hintergrund stellt eine Auseinandersetzung mit „Jesus und dem Zorn Gottes“ bzw. des hierin offenbarten zutiefst persönlichen, ernsthaft-liebenden Gottes ein vielschichtiges Reflexionsangebot dar. 76 So lassen sich auch erste Kompetenzbereiche77 skizzieren, in denen der vorliegende Untersuchungsgegenstand als Lerngegenstand zu einem Kompetenzaufbau beitragen kann: • Sachkompetenz im Sinne der Fähigkeit: o Grundlagen des im Judentum wurzelnden christlichen Gottesverständnisses und Jesu Botschaft der Gottesherrschaft differenziert zu erläutern; o verschiedene Möglichkeiten des Redens von Gott zu unterscheiden und Kennzeichen personaler Gottesrede aufzuzeigen; o lebenstragende Impulse der Gottesrede von fundamentalistischen Instrumentalisierungen abzugrenzen; o in Bezug auf Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft Maßstäbe des Handelns aus christlichen Beweggründen zu benennen. • Urteilskompetenz im Sinne der Fähigkeit: o die Bedeutung der im Wirken Jesu deutlich werdenden Gottesvorstellung für den eigenen Glauben zu bewerten; o Chancen, Grenzen und Problematiken personal-anthropomorpher Gottesrede zu prüfen und zu erörtern; o die Bedeutung einzelner Maßstäbe des Handelns aus dem christlichen Glauben heraus für die eigene Lebensführung zu bewerten. • über den Unterricht hinausgehende Handlungskompetenz im Sinne von: o den Glauben von anderen, insbesondere muslimischen Mitschülerinnen und Mitschülern, zu respektieren;
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Selbst wenn christliche Glaubensvorstellungen abgelehnt werden, kann dieses bisher zu wenig berücksichtigte Thema ggf. neue Perspektiven eröffnen. Hier angelehnt an die Kompetenzbenennung der Kernlehrpläne NRW.
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und auf Grundlage der oben skizzierten Klärung eigener religiöser Vorstellungen in einen Dialog mit den Mitgliedern der eigenen Religion und fremder Religion treten zu können.
Es versteht sich von selbst, dass die umrissenen Kompetenzbereiche der weitergehenden alters-, inhalts- und prozessbezogenen Konkretisierung bedürfen. Diese wird bis hin zu den konkreten Unterrichtsbeispielen und verbunden mit weiteren Elementarisierungsschritten in den nachfolgenden Hauptkapiteln erfolgen. Insgesamt wurde nunmehr ein Rahmen aufgezeigt, innerhalb dessen eine Thematisierung des Gegenstandes „Jesus und der Zorn Gottes“ zu einem nachhaltigen Kompetenzaufbau beitragen kann. Davon ausgehend soll nun verdeutlicht werden, inwieweit dieses Thema sich bereits sinnvoll in die bestehenden Kernlehrpläne für katholische Religionslehre bzw. die darin enthaltenen Kompetenzerwartungen einfügt.
1.2.2.2 Anknüpfungsmöglichkeiten zur Kompetenzentwicklung am Beispiel der Kernlehrpläne NRW Das vorliegende Kapitel greift auf die Kernlehrpläne für Katholische Religionslehre in Nordrhein-Westfalen78 bzw. die hier formulierten Kompetenzerwartungen79 zurück. Die Kernlehrpläne setzen zunächst die normativen Rahmenvorgaben, die wiederum grundlegend den Religionsunterricht bestimmen. Ein Lerngegenstand, der heute die Unterrichtspraxis in NRW erreichen will, muss somit anknüpfungsfähig sein an das, was als verbindlich erklärt wird. Relevanter ist jedoch, dass die Kernlehrpläne näher zu bestimmen versuchen, was religiöse Kompetenz eigentlich ausmacht und damit für religiöse Bildung grundlegend und unerlässlich ist. Der nachfolgende Schritt hilft also dabei, die gegenwärtige Bildungsrelevanz des vorliegenden Untersuchungsgegenstandes noch weitergehend zu präzisieren. Gerade dadurch wird dann seine grundlegende, über den einzelnen Lehrplan hinausgehende, Bedeutung vertiefend einsichtig. Das Thema „Jesus und der Zorn Gottes“ ermöglicht – so kann man auf Grundlage einer ersten Betrachtung festhalten – sich einen integralen Bestandteil der aus der jüdischen Tradition erwachsenen Gottesverkündigung Jesu, wie
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Aus Gründen der Platzersparnis wird hier nur im ersten Verweis auf das Bildungsministerium als Herausgeber hingewiesen, anschließend werden lediglich die Schulform und die konkrete Seitenzahl im jeweiligen Kernlehrplan benannt. Die vollständige bibliographische Angabe findet sich dann im Literaturverzeichnis. „Kompetenzerwartungen führen Prozesse und Gegenstände zusammen und beschreiben die fachlichen Anforderungen und intendierten Lernergebnisse, die bis zum Ende der Erprobungsstufe bzw. zum Ende der Sekundarstufe I verbindlich erreicht werden sollen.“ (MSW NRW [Hrsg.], Kernlehrplan für das Gymnasium – Sekundarstufe I in NordrheinWestfalen. Katholische Religionslehre[G8], S. 13; Hervorhebung im Original).
1. Zur didaktischen Begründung
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sie uns in den Evangelien entgegentritt, bewusst zu machen (siehe oben). Zentrale und durch den vorliegenden Gegenstand vernetzbare Inhaltsfelder der Kernlehrpläne sind demnach primär „Sprechen von und mit Gott“ und „Jesus der Christus“.80 In Bezug auf Letzteres erwartet der Kernlernplan für das Gymnasium NRW im Rahmen des achtjährigen Bildungsganges beispielsweise bereits für Jahrgangsstufe 5/6, dass die Lernenden „an neutestamentlichen Beispielen [erläutern], wie Jesus von Gott spricht“ und „die bildhafte Rede Jesu an Beispielen [deuten]“.81 Auch wenn dieser Kernlehrplan inzwischen ausläuft, sind hierin bereits grundlegende Basisfähigkeiten im Bereich der Sachkompetenz angesprochen, für deren Entwicklungen insbesondere die behandelten Gleichniserzählungen gewinnbringend genutzt werden können. Sind in diesen doch den Lernenden zwischenmenschliche vertraute Emotionen und Reaktionen (Vergebungsbereitschaft, Enttäuschung, Zorn, Strafe) verdichtet, durch die versucht wird, eine vielschichtige Annäherung an die göttliche Wirklichkeit als Ausdruck eines Beziehungsgeschehens zu ermöglichen. So eröffnet sich zugleich für das Inhaltsfeld „Sprechen von und mit Gott“ die Chance, ein Verständnis dahingehend auszubilden, „warum Religionen von Gott in Bildern und Symbolen sprechen“. Zugleich kann die Fähigkeit entwickelt werden, „an Beispielen Möglichkeiten und Schwierigkeiten [zu erläutern], Gott darzustellen“.82 Die exegetische Analyse hat insgesamt herausgestellt, dass Verweise auf den „Zorn Gottes“ im Wirken Jesu einen zentralen Baustein bilden, um dessen Botschaft von der heilvollen Aufrichtung der Herrschaft Gottes zu begreifen. Deswegen liegt in ihrer Thematisierung der entscheidende Schlüssel zum Aufbau von entsprechender Sachkompetenz in Bezug auf die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu. Dies gilt nicht nur für die Jahrgangsstufen 5/6, sondern auch für die nachfolgenden Jahrgangsstufen aller Schulformen. So sieht jeder Kernlehrplan für die Sek I mit zunehmender Differenzierung vor, dass Schülerinnen und Schüler das Wirken Jesu bzw. sein Reden und Handeln als Ausdruck des angebroche-
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Zu den in den Lehrplänen aller Schulformen identischen Inhaltsfeldern siehe beispielsweise ebd., S. 15–16. – Auch der neue Kernlehrplan für den neunjährigen gymnasialen Bildungsgang sieht diese Inhaltsfelder (wenn auch leicht modifiziert) weiterhin vor. Hierauf wird im späteren Teilkapitel zu den konkretisierten Kompetenzerwartungen vertiefend eingegangen. So ebd., S. 21 (hier auch jeweils wörtlich zitierte Kompetenzerwartungen). Ebd., S. 19 (hier auch jeweils wörtlich zitierte Kompetenzerwartungen). Dies sind im Rahmen der Jahrgangsstufe 5/6 formulierte Kompetenzerwartungen, die (wenn auch anders formuliert) im Kernlehrplan G9 wiederum aufgegriffen und von den Kernlehrplänen aller Schulformen vorgesehen werden: Vgl. für die Gesamtschule S. 19–20, für die Realschule S. 19–20, für die Hauptschule S. 25.
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D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
nen Gottesreiches erklären und deuten können.83 Damit einhergehend soll auch in der Mittelstufe zunehmend die Fähigkeit weiterentwickelt werden, einzelne Gottesvorstellungen in ihrer Angemessenheit beurteilen zu können.84 Gerade die biblische Rede vom „Zorn Gottes“, die ja auch destruktiv und lebensfeindlich missverstanden werden kann, eignet sich dafür. Der neue Kernlehrplan für den neunjährigen Bildungsgang am Gymnasium schafft darüber hinaus mit dem Inhaltsfeld „Religion in einer pluralen Gesellschaft“ und der nunmehr geforderten Auseinandersetzung mit Erscheinungs- sowie Ausprägungsformen religiösen Fundamentalismus85 neue Möglichkeiten der vernetzenden Kompetenzentwicklung. Wie bereits im vorangegangenen Kapitel aufgezeigt, sind der „Zorn Gottes“ in der Verkündigung Jesu wie auch der „Zorn Jesu“ selbst stets ein Appell an den Menschen, sich ganz auf die neue Heilswirklichkeit einzulassen und aus dieser Befreiungserfahrung heraus neu zu orientieren. Insofern ist der vorliegende Gegenstand zugleich auch für das vom Lehrplan vorgegebene Inhaltsfeld „Menschsein in Freiheit und Verantwortung“ relevant. Verdeutlicht er doch die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit christlicher Verantwortung86 und konfrontiert er – besonders auch mit der eschatologischen Perspektive des göttlichen Gerichts – in besonderem Maße „mit Erfahrungen von Endlichkeit, Schuld und Sünde sowie Möglichkeiten der Versöhnung und der Hoffnung auf Vollendung“87. Bereits hier deutet sich also die Chance zum nachhaltigen Aufbau von Sach-, Urteilsund im besten Falle Handlungskompetenz im Rahmen eines anthropologischethischen Inhaltschwerpunktes an. Auch in die Sekundarstufe II bzw. in der Qualifikationsphase kann der vorliegende Lerngegenstand zunächst primär im Kontext der Inhaltsfelder „Christ83
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Siehe hierzu die Kernlehrpläne Katholische Religionslehre für das Gymnasium (G8) S. 21/27, für die Gesamtschule S. 21/27, für die Realschule S. 21/27, für die Hauptschule S. 27/32/38. Vgl. hierzu für die Jahrgangsstufen 7 bis 9 beispielsweise den Kernlehrplan Katholische Religionslehre für das Gymnasium (G8), S. 26. Auch die Kernlehrpläne für die anderen Schulformen fordern unter anderem, dass die Schülerinnen und Schüler „die Aussageabsicht unterschiedlicher Gottesvorstellungen und ihre Konsequenzen erörtern können sollen“ (vgl. für die Gesamtschule S. 26, für die Realschule S. 26, für die Hauptschule S. 37). Vgl. hierzu den Kernlehrplan Katholische Religionslehre (G9), S. 34. Hierzu heißt es im Kernlehrplan G8 für die Jahrgangsstufen 7 bis 9: „Die Schülerinnen und Schüler […] stellen biblische Grundlagen der Ethik – Zehn Gebote, Goldene Regel, Nächsten- und Feindesliebe – in Grundzügen dar und zeigen exemplarisch auf, welche Konsequenzen sich daraus für menschliches Handeln ergeben, […].“ (S. 25). In den Lehrplänen für die anderen Schulformen (vgl. für die Gesamtschule S. 25, für die Realschule S. 25, für die Hauptschule S. 36) heißt es nahezu identisch: „Die Schülerinnen und Schüler können […] die biblische Ethik (Zehn Gebote, Goldene Regel, Gottes-, Nächsten- und Feindesliebe) als Grundlage für ein gelingendes Leben darstellen, […].“ So formuliert im G8-Kernlehrplan Katholische Religionslehre, S. 25. Entsprechende Kompetenzerwartungen finden sich auch in den Lehrplänen für die anderen Schulformen.
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liche Antworten auf die Gottesfrage“ und „Das Zeugnis vom Zuspruch und Anspruch Jesu Christi“ sein Potenzial entfalten. 88 Exemplarisch konnte im Rahmen der exegetischen Analyse bereits verdeutlich werden, wie sehr die Rede vom „Zorn Gottes“ ein Bindeglied zwischen dem Ersten und dem Zweiten Testament darstellt. Sie ist somit unerlässlich, um auf einem höheren Anforderungsniveau Grundlagen der jüdisch-christlichen Gottesvorstellung angemessen darstellen und erläutern zu können.89 Denkbar wäre es dafür beispielsweise, die aufgezeigte Traditionslinie des Ersten Testaments, ausgehend von Johannes dem Täufer bis hin zu Jesus und dann unter dem Vorzeichen des Christusereignisses bei Paulus, anhand ausgewählter Texte nachzuvollziehen. Im Sinne einer nachhaltigen Kompetenzentwicklung muss es aber auch hier wieder darum gehen, Möglichkeiten und Grenzen des personalen Redens von Gott charakterisieren zu können.90 Eine Chance hierzu bietet dabei sicherlich auch wiederum eine Thematisierung der Parabeln Jesu, in denen durch die Bildebene im Sinne des analogen Redens von Gott eine semantische Offenheit angelegt ist. Besonders in der Oberstufe könnten dann aber verschiedene Gleichnisauslegungen gegeneinander abgewogen werden und die Angemessenheit einer theologischen Deutung der behandelten Erzählungen vom Festmahl und dem unbarmherzigen Knecht eigens diskutiert werden. Im Kern befähigt der vorliegende Lerngegenstand insgesamt dazu, „das von Jesus gelebte und gelehrte Gottesverständnis [zu erläutern]“91. Gerade in der Qualifikationsphase, in der das „Zeugnis vom Zuspruch und Anspruch Jesu Christi“ vertiefender Gegenstand eines Halbjahres sein kann, ermöglicht eine Thematisierung dieser Aspekte, dass die Schülerinnen und Schüler diese Charakteristik der Botschaft Jesu angemessen erkennen und davon ausgehend darlegen können. Christologisch relevant ist dabei vor allem, dass im Zorn das Menschsein Jesu, seine Leidensfähigkeit und impulsive Leidenschaftlichkeit deutlich werden. Gerade so ermöglicht dieses Thema den Heranwachsenden und jungen Erwachsenen, „an einem Beispiel das Bekenntnis zum Mensch gewordenen Gott [zu erläutern]“92. Aus den oben genannten Aspekten kann nicht zuletzt ein Verständnis dahingehend entwickelt werden, welche konkreten Forderungen sich für die
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Für die Inhaltsfelder vgl. MSW NRW (Hrsg.), Kernlehrplan für die Sekundarstufe II. Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Katholische Religionslehre, S. 18–19. So heißt es in den entsprechenden Kompetenzerwartungen für den Grundkurs beispielsweise: „Die Schülerinnen und Schüler […] entfalten zentrale Aussagen des jüdisch-christlichen Gottesverständnisses (Gott als Befreier, als der ganz Andere, als der Unverfügbare, als Bundespartner), […].“ (ebd., S. 27). Zu entsprechenden Kompetenzerwartungen siehe auch ebd., S. 27–28. Ebd., S. 28. Ebd.
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D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
Kirche ableiten, „Sachwalterin des Reiches Gottes zu sein“ 93. Eine besondere Möglichkeit zur Vertiefung bietet sich in der gymnasialen Oberstufe auch dadurch, dass die Eschatologie ein eigenes Inhaltsfeld mit dem Titel „Die christliche Hoffnung auf Vollendung“ darstellt. Der „Zorn Gottes“ kann dabei von den Schülerinnen und Schülern insbesondere als Metapher für das Gerichtshandeln Gottes und damit die christliche Hoffnung auf endgültige Gerechtigkeit erkannt werden. Zugleich bieten die von mir skizzierten systematischen Reflexionen auch weitergehende Anknüpfungsmöglichkeiten. Der von mir entfalteten systematischen Denkbewegung folgend, kann anhand dieses Beziehungsbildes auch reflektiert werden, inwieweit der „Zorn Gottes“ eine innere Erfahrungswirklichkeit als Ausdruck der Selbstentfremdung darstellt, wodurch sich Anknüpfungsmöglichkeiten zu aktuell im Rahmen der systematischen Theologie diskutierten Gerichtsvorstellungen wie dem „Selbstgericht“94 bieten. So bildet der vorliegende Gegenstand für heutige Schülerinnen und Schüler einen Ansatzpunkt, um „traditionelle und zeitgenössische theologische Deutungen der Bilder von Gericht und Vollendung im Hinblick auf das zugrunde liegende Gottes- und Menschenbild [zu analysieren]“95. Insgesamt zeigen sich somit auch vielseitige Einsatz- und Vernetzungsmöglichkeiten des vorliegenden Lerngegenstandes im Rahmen der aktuellen Lehrpläne.
1.2.2.3 Zwischenfazit: „Jesus und der Zorn Gottes“ – ein Gewinn für den kompetenzorientierten Religionsunterricht? In einem ersten Zwischenfazit kann also zunächst festgehalten werden, dass der Untersuchungsgenstand „Jesus und der Zorn Gottes“ auch vor dem Hintergrund eines kompetenzorientierten Religionsunterrichts – unabhängig von der konkreten Lehrplangestaltung – einen gewinnbringenden Lerngegenstand darstellt. So ermöglicht er es, lebensrelevante Anforderungssituationen mit den zentralen Grundlagen des christlichen Glaubens sinnvoll zu vernetzen. Gerade so kann man der doppelten Anforderung eines verantworteten Religionsunterrichts, die Schülerinnen und Schüler als „Subjekte des Lernens“ ernst zu nehmen, zugleich aber auch einen Horizont erweiternden Dialog mit Grundlagen der christlichen Gottesvorstellung anzubahnen, gerecht werden. Dazu zählt auch, dass die Lernenden vor allem exemplarisch für den bildhaften Charakter religiöser Sprache sensibilisiert werden und lernen, diese angemessen zu beschreiben sowie zu verwenden. Nicht zuletzt zielt dies darauf ab, 93
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So eine geforderte Kompetenz im Rahmen des Inhaltsfeldes 4 „Kirche in ihrem Anspruch und Auftrag“ (vgl. ebd., S. 29). Vgl. hierzu auch J. RAHNER, Einführung in die christliche Eschatologie, S. 211–212. Vgl. MSW NRW (Hrsg.), Kernlehrplan für die Sekundarstufe II. Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Katholische Religionslehre, S. 31.
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die eigene Urteilsfähigkeit dahingehend auszubilden, ob die hierin verdichteten Sinnperspektiven eine lebensorientierende Funktion besitzen. Der so angeregte Verständigungsprozess über eigene und in der biblischen Tradition verdichtete Glaubensvorstellungen kann dann sogar bestenfalls in einem Dialog mit den Vorstellungen der Gläubigen anderer Religionen münden. Zentral ist jedoch für die weitergehende didaktische Begründung des vorliegenden Themas, dass das Leitbild der „Kompetenzorientierung“ alleine noch keinen didaktischen Ansatz ausmacht.96 Es greift im besten Falle vielmehr auf bereits erprobte und anerkannte religionsdidaktische Prinzipien zurück und versucht diese im Sinne einer fachlichen Profilierung sinnstiftend zu integrieren. Eben diese tieferen Grundlagen gilt es nun weitergehend zu entfalten und dadurch den Beitrag des vorliegenden Gegenstandes für die Entwicklung von religiöser Bildung vertiefend zu profilieren.
1.3
„Jesus und der Zorn Gottes“ – Relevanz und Impulse im Kontext zentraler religionsdidaktischer Prinzipien
Die hier gewählte Bezeichnung „religionsdidaktische Prinzipien“ folgt dabei dem von Georg Hilger, Stephan Leimgruber und Hans-Georg Ziebertz in ihrem Standardwerk „Religionsdidaktik. Ein Leitfaden für Ausbildung und Beruf“ vertretenen Verständnis: „Mit dem Begriff ‚religionsdidaktische Prinzipien‘ bringen wir zum Ausdruck, was aufgrund unserer Wahrnehmungen der Wirklichkeit wichtige Vorschläge für einen guten Religionsunterricht mit seinen unterschiedlichen Facetten sind. Es handelt sich dabei um Entscheidungen über Nötiges und Wünschenswertes, sodass es immer auch ‚gelenkte‘ (durch Einsichten und Werturteile) Vorschläge sind.“ 97
Sachlogisch einsichtig ist dabei, dass sich der vorliegende Gegenstand nicht im Kontext aller religionsdidaktischen Prinzipien gleich gewinnbringend didaktisieren lässt. So ist er zunächst primär in den Zusammenhang des biblischen Lernens einzuordnen. Zugleich enthält er jedoch, wie sich bereits im vorangegangenen Kapitel andeutete, wichtige Impulse für ethisches und interreligiöses Lernen, die es ebenfalls offenzulegen gilt. Die so gewählte Beschränkung schließt nicht aus, dass auch Anknüpfungspunkte zu weiteren religionsdidaktischen Prinzipien bestehen.98 96 97 98
Dies betont besonders SCHRÖDER, Kompetenzorientierung, S. 181. HILGER/LEIMGRUBER/ZIEBERTZ, Teil III: Religionsdidaktische Prinzipien. Hinführung, S. 332. Da die Auseinandersetzung mit „Jesus und dem Zorn Gottes“ eine intensive Beschäftigung mit den entsprechenden Gleichniserzählungen fordert, eröffnen sich (je nach symboldidaktischem Ansatz und dem zugrunde gelegten Symbolverständnis) auch Bezüge zum
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
246
1.3.1
Ein Gewinn für biblisches Lernen?
1.3.1.1 Ausgangslage und hermeneutische Voraussetzungen Wer sich gegenwärtig mit zusammenfassenden Artikeln zur Bibeldidaktik beschäftigt, kann zumeist relativ schnell zwei zentrale Beobachtungen machen: Zum einen wird – trotz wenigen neueren empirischen Befunden – ein Relevanzverlust der Bibel bei heutigen Jugendlichen im Zeichen der Postmoderne (vgl. D.1.1) attestiert,99 zum anderen scheint aber deswegen der Impetus umso größer, neue Herangehensweisen der Bibelarbeit zu eröffnen. Dies dokumentiert sich in einer Fülle bibeldidaktischer Konzepte seit der Jahrtausendwende.100 In diesen unterschiedlichen Ansätzen, die die Bibel im wahrsten Sinne des Wortes wieder neu mit heutigen Heranwachsenden „ins Gespräch bringen“ wollen, wird implizit deutlich, dass sie trotz aller Widrigkeiten als unerlässlich für die religiöse Bildung anerkannt wird. Worin diese spezifische Bedeutung liegt, hat Ulrich Kropač differenziert herausgearbeitet. Anschaulich zusammengefasst werden seine diesbezüglichen Ergebnisse von Hans Mendl101: Begründungsfiguren biblischen Lernens (vgl. RD, 417–421) Theologische Aspekte Ungeschminktes Menschenbild: Die Bibel enthält schonungslos die ganze Palette an menschlichen Erfahrungen und Beziehungsgeschichten, die als Spiegelungspotenzial für eigene Lebensfragen dienen können.
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symbolorientierten Lernen (vgl. hierzu grundlegend MENDL, Religionsdidaktik kompakt, S. 186–189). Ebenso wird bei der Didaktisierung des vorliegenden Lerngegenstandes die Frage nach dem christlichen Gottesverständnis fokussiert. Daraus ergeben sich im Kontext eines ökumenisch orientierten Lernens beispielsweise Ansätze, in eine Verständigung über das gemeinsame Gottesbild – auch in seinen sperrigen Facetten – zu treten (vgl. zu diesbezüglichen Zielsetzungen ökumenischen Lernens auch LEIMGRUBER, Ökumenisches Lernen, S. 459). Eine kurze Zusammenschau empirischer Befunde liefert z. B. SCHAMBECK, Art. Bibeldidaktik, Grundfragen, 3. (S. 2–3 in der PDF-Version), online abrufbar unter: http://www.bibel wissenschaft.de/stichwort/100038/ (Stand: 27.06.2020). Siehe auch THEIS, Art. Einstellungen zur Bibel, von Jugendlichen, Einleitungsteil/2. (S. 1 und S. 4–17 in der PDF-Version), online abrufbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100267/ (Stand: 27.06.2020). Eine kurze Darstellung einzelner bibeldidaktischer Konzepte findet sich beispielsweise bei KROPAČ, Biblisches Lernen, S. 421–431. Siehe vertiefend auch die jeweiligen Beiträge in ZIMMERMANN, M./ZIMMERMANN, R. (Hrsg.): Handbuch Bibeldidaktik (= UTB 3996). Tübingen 2 2018, Hauptkapitel 4. Die nachfolgende Zusammenfassung wurde übernommen von MENDL , Religionsdidaktik kompakt, S. 85. Seine Zusammenfassung basiert auf den Überlegungen von KROPAČ, Biblisches Lernen, S. 417–421.
1. Zur didaktischen Begründung
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Suchen und Fragen im Horizont der Hoffnung: Die Bibel analysiert nicht nur menschliches Leben, sie hat auch einen Aufforderungscharakter und skizziert Modelle gelingenden Lebens. Gotteswort in Menschenwort und Einladung zur Gottesbegegnung: Gott spricht, vermittelt durch menschliche Autoren, die Menschen an; die Bibel ist für Gläubige und für die Glaubensgemeinschaft ein normierendes Dokument, welches jeden Einzelnen zur Selbst- und Gottbegegnung einlädt. Bildungstheoretische Begründung Biblisches Lernen als Beitrag zur Allgemeinbildung: Dieses kulturgeschichtliche Argument weist darauf hin, dass unsere Kultur und Gesellschaft zutiefst von biblischem Gedankengut geprägt ist; wer die Welt verstehen will, benötigt biblisches Grundwissen! Biblisches Lernen als Dienst an der (religiösen) Sprachfähigkeit: Der Umgang mit biblischer Sprache und die Anregung zur eigenen Verbalisierung befähigt zu einer mehrdimensionalen Erfassung der Wirklichkeit und erweitert die rezeptive und praktische Sprachkompetenz. Biblisches Lernen als Hilfe zur Identitätsbildung: Wie bereits oben angemerkt, zielen alle modernen Bibeldidaktiken auf den Aufweis, dass biblische Texte vielfältige Lernchancen auch für die Lebenssituationen und Fragen heutiger Kinder und Jugendlicher haben und somit ein verantwortlicher Umgang mit biblischen Texten einen Beitrag zur Identitätsfindung junger Menschen leistet. Biblisches Lernen als Einüben in Kritik und Hoffnung: Biblische Texte halten, wie Johann Baptist Metz sagt, »gefährliche Erinnerungen« wach. Sie provozieren in ihrem Realismus und in ihrem Hoffnungspotenzial sowohl einen kritischen Blick auf aktuelle gesellschaftliche und politische Verhältnisse als auch auf die Entwicklungsmöglichkeiten jedes Einzelnen, der sich in diese Texte suchend und fragend hineinbegibt. Abbildung 2: Begründungsfiguren biblischen Lernens von U. Kropač, zusammengefasst durch H. Mendl (hier aus Gründen der formalen Einheitlichkeit an das Schriftbild und die Unterlegung der vorliegenden Arbeit angepasst).
Kropačs Überlegungen bieten nicht nur für die nachfolgende Herausarbeitung der didaktischen Bedeutung des Lerngegenstandes „Jesus und der Zorn Gottes“ einen zielführenden Ansatzpunkt, sondern verdeutlichen auch ein zentrales Anliegen heutiger bibeldidaktischer Konzepte. Geht es, wie Mirjam Schambeck zutreffend herausstellt, doch im Kern darum, „die Besonderheit, in der die biblischen Texte das Wort Gottes zu Gehör bringen, in einen Dialog mit den Lebensdeutungen heutiger Menschen zu bringen, und zwar in bildender Absicht“102. Dies sensibilisiert dafür, biblisches Lernen nicht als einseitig-rezeptiven Vorgang zu begreifen, sondern als sinnstiftenden und im besten Fall lebensorientierenden Interaktionsprozess zwischen der „Welt des Textes“ und
102
SCHAMBECK, Art. Bibeldidaktik, Grundfragen, Einleitungsteil (S. 1 in der PDF-Version), Link bereits oben ausgewiesen. Ähnlich auch KROPAČ, Biblisches Lernen, S. 417.
248
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
der „Welt des Lesers“.103 In diesem Wunsch nach einem sinnhaften und zugleich lebenswirksamen Bibelverstehen104 zeigt sich zugleich eine große Überschneidung zu den mit der Kompetenzorientierung verfolgten Zielsetzungen (vgl. Kapitel D.1.2.1/1.2.2). So soll eine entsprechend didaktisch arrangierte Gestaltung der Bibelarbeit vor allem ein „situiertes Lernen“105 ermöglichen, bei dem die gewonnenen Einsichten und Sinnperspektiven außerhalb des unterrichtlichen Verwendungskontextes wirksam werden können. Inwieweit dies in Bezug auf das Thema „Jesus und der Zorn Gottes“ möglich ist, ja worin seine eigentliche Bedeutung im Kontext biblischen Lernens liegt, gilt es dementsprechend zu ergründen. Dabei ist jedoch grundsätzlich zu beachten, dass die Bibel für einen christlichen Religionsunterricht nicht irgendeinen, sondern den zentralen Ausgangspunkt religiösen Lernens darstellt. Die geflügelte Rede davon, dass sie „Gotteswort in Menschenwort“ sei, also, um es mit den Worten Wolfgang Beinerts zu sagen, „Niederschlag der göttlichen Selbstkundgabe in Schriften, die menschliche Verfasser zu Autoren haben“106, verdeutlicht ihre grundlegende, normierende Geltung für den Glauben.107 Auch wenn heutige Jugendliche ihre entsprechende Sonderstellung ggf. nicht mehr in dieser Form wahrnehmen,108 sollte jedoch ein sich seiner Rolle bewusster Religionsunterricht dafür sensibilisieren. Die Arbeit mit der Bibel ist also keineswegs nebensächlich oder beliebig, da sie Gottesbilder und Glaubensvorstellungen prägen kann. Dies kann im besten Falle dazu führen, dass Menschen aus einer Beschäftigung mit der Heiligen 103
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Zur weitergehenden Entfaltung in Form eines bibeldidaktischen Ansatzes siehe SCHAMBECK, Bibeltheologische Didaktik, S. 463–468 (hier auch wörtlich zitierte Begriffe auf S. 463/465). Vgl. hierzu beispielsweise U. Kropač: „Damit lässt sich die Grundschwierigkeit einer Bibeldidaktik in der Postmoderne genauer beschreiben. Heutigem Bibelunterricht ist gewiss kein Mangel an kreativen Methoden zu unterstellen. Seine eigentliche Herausforderung besteht darin, die Leserin/den Leser und den biblischen Text in einen konstruktiven Dialog zu bringen. Sinnorientiertes Bibelverstehen ist nur möglich, wenn die Lebenswelten heutiger Schülerinnen und Schüler, ihre alltäglichen Erfahrungen und Probleme, mit der vielgestaltigen Textwelt der Schrift in Interaktion treten. Diesem Maßstab hat sich jede zeitgemäße biblische Didaktik zu stellen.“ (KROPAČ, Biblisches Lernen, S. 417; Hervorhebung im Original). Vgl. hierzu z. B. HILGER, Wie Religionsunterricht gestalten?, S. 238–239. BEINERT , Theologische Erkenntnislehre, S. 94. Hierzu zutreffend U. Kropač: „Als Zeugnis der göttlichen Selbstoffenbarung und eines geoffenbarten Menschenverständnisses besitzt die Bibel für Christen einen einzigartigen Rang. Sie übt gegenüber der gesamten Glaubenslehre und Glaubenspraxis eine normierende Funktion aus. Was auch immer als Äußerung christlichen Glaubens Geltung beansprucht – und hierzu gehört auch der Religionsunterricht –, findet in der Bibel als der UrKunde der Selbstmitteilung Gottes einen obersten und letzten Maßstab.“ (KROPAČ, Biblisches Lernen, S. 418; Hervorhebungen im Original). Vgl. hierzu auch THEIS, Art. Einstellungen zur Bibel, von Jugendlichen, 2.4. (S. 8–9 in der PDF-Version), Link bereits oben ausgewiesen.
1. Zur didaktischen Begründung
249
Schrift lebenstragende Impulse gewinnen, im schlimmsten Fall kann es aber auch destruktiv wirken. Letzteres geschieht beispielsweise dann, wenn bei einer Beschäftigung mit der Rede vom „Zorn Gottes“ das Heilsversprechen Jesu durch falsche Schwerpunktsetzungen und verengte Interpretation in den Hintergrund gerückt wird. Deswegen muss stets das Verständnis eines den Menschen in Liebe zugewandten Gottes, der ihr unbedingtes Heil will, die Auslegung der Heiligen Schrift bestimmen. Mirjam Schambeck ist somit voll und ganz zuzustimmen, wenn sie mahnend betont: „Das II. Vaticanum spricht in diesem Zusammenhang [= in Bezug auf den Interpretationszugang zur Heiligen Schrift; C.W.] davon, dass alles, was ‚gemäß des Heils des Menschen‘ geschrieben sei (secundum salutem hominis) als Gottes Wort zu gelten habe (vgl. Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils, Dei Verbum, 13). Das ist der Interpretationsschlüssel schlechthin: Da Gott ein Gott des Heils, des Lebens in Fülle und der Menschenfreundlichkeit ist, ist sein Wort ein lebensstiftendes und aufrichtendes Wort. Dort, wo ein Wort zerstört, Menschen knechtet und unterdrückt, kann es sich nicht um das Wort Gottes handeln.“ 109
Daraus ergibt sich auch eine notwendige Bedingung für die unterrichtliche Didaktisierung und Thematisierung des vorliegenden Gegenstandes „Jesus und der Zorn Gottes“: Diese darf im Zuge biblischen Lernens, nie isoliert erfolgen. Oder positiv gewendet: Sie muss vielmehr stets auf die sich aus der Tradition des Ersten Testaments speisende Botschaft Jesu von der heilvollen Gottesherrschaft, dem hier offenbar werdenden Heilsgeschenk Gottes an die Menschen, hin orientiert sein.
1.3.1.2 Potenziale des Ausgangsthemas im Kontext biblischen Lernens Es gilt also: In der Verkündigung Jesu gibt es keine für sich alleinstehende Botschaft vom „Zorn Gottes“. Der „Zorn“ ist, wie exegetisch herausgearbeitet, ebengerade nicht inneres Antriebsmoment Gottes (anders als die liebende Zuwendung und sein unbedingter Heilswille), sondern wird in der Verkündigung Jesu nur als Beziehungsmetapher verständlich. Diese soll Gottes Reaktion auf die menschliche Weigerung, sich auf die heilswirkende Gottesbeziehung und geschenkte Gnade existenziell einzulassen, verdeutlichen. Hierzu analog geht in den Evangelien auch die liebende Zuwendung Jesu zu den Menschen seinem zornigen Handeln voraus. Als so verstandene Beziehungsaussage ist die Rede vom „Zorn Gottes“ aber gerade deswegen unerlässlich, um das die Heilige Schrift durchdringende Zeug-
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SCHAMBECK, Art. Bibeldidaktik, Grundfragen, 7.1. (S. 8 in der PDF-Version), Link bereits oben ausgewiesen.
250
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
nis eines den Menschen in aufrichtiger und fordernder Liebe zugewandten Gottes vertiefend zu begreifen.110 Erst durch sie wird es ermöglicht, im Kontext biblischen Lernens den Zusammenhang biblischer Gottesrede sowie hierin verarbeiteter Erfahrungen des Ersten und Zweiten Testaments zu verstehen111.Wer also diese Sinndimension der Verkündigung Jesu ausblendet, leistet somit nicht nur dem Ausspielen beider Testamente Vorschub, 112 sondern unterschlägt noch die Chance des Facettenreichtums biblischer Gottesrede. Kurzum: Religionspädagogisch verantwortetes biblisches Lernen, das eine ernsthafte Begegnung mit der im Judentum wurzelnden christlichen Tradition ermöglichen möchte, kommt um Verweise auf den „Zorn Gottes“ (insbesondere auch in der Verkündigung Jesu) nicht umhin.113 Darüber hinaus wird durch die Beschäftigung mit dieser personalen Redeweise von Gott, wie schon im vorangegangen Oberkapitel herausgestellt, die religiöse Sprachkompetenz gefördert.114 Gerade die Möglichkeit, auch eine Vielschichtigkeit des Gottesverständnisses Jesu zu erkennen, ermöglicht es, der diesbezüglichen Herabsetzung des Ersten Testaments und einer allzu leichten Harmonisierung des Gottesbildes im Neuen Testament entgegenzuwirken. Hierdurch kann die Bibel als Gegenstand der eigenen kritischen Auseinandersetzung und des Diskurses neu entdeckt werden.115 Im Zusammenspiel mit biblischen Texten, die die Unbegreiflichkeit und Unverfügbarkeit Gottes betonen, lassen sich mit Blick auf die vielfach codierte und mitunter nicht unproblematische Zornesmetapher besonders Grenzen und Möglichkeiten religiösen Sprechens über Gott abwägen und reflektieren. Dabei kommt in Bezug auf die Rede vom „Zorn Gottes“ der performative Charakter religiöser Sprache, ihre Bedeutung als „Weg und Mittel, neue Wirklichkeit zu schaffen“116, zum Tragen. Wie bereits bei der Rede Johannes des Täu110
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Siehe hierzu auch vertiefend die verdichteten Erkenntnisse in Unterkapitel 1.2.2.1 dieses Hauptteils. – Der innere Zusammenhang der Rede vom „Zorn Gottes“ im AT und NT wird sehr schön verdeutlicht bei PETZEL /RECK (Hrsg.), Von Abba bis Zorn Gottes, S. 200–202. Dies fordert beispielsweise SCHAMBECK, Art. Bibeldidaktik, Grundfragen, 6. (S. 6 in der PDFVersion), online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100038/ (Stand: 27.06.2020). Dies geschieht klassisch in der Gegenüberstellung eines „Gottes des Zorns“ (AT) und eines „Gottes der Liebe“ (NT). Vgl. hierzu auch MENDL, Religionsdidaktik kompakt, S. 107. Mendl benennt hier das Problem einer einseitig „verkürzte[n] Rede vom ‚lieben Gott‘“ als problematisches Handlungsmuster, dem es im Sinne einer „differenzierte[n] Rede von Gott“ entgegenzuwirken gilt. Vgl. zu diesem Aspekt grundlegend ALTMEYER, Bibeldidaktik und religiöse Sprachbildung, S. 485–488. Als zentrale bibeldidaktische Leitperspektiven benennt dieser „ Biblische Sprache verstehen lernen“ (S. 485–486); „Wahrnehmen und Ausdrücken lernen durch die Bibel“ (S. 486); „Sprechen lernen im Austausch mit der Bibel “ (S. 486); „Auskunft geben lernen über die Bibel“ (S. 486–487; alle Hervorhebungen im Original). Vgl. auch ebd., S. 487. KROPAČ, Biblisches Lernen, S. 419.
1. Zur didaktischen Begründung
251
fers, den analysierten Gleichniserzählungen und besonders dem „Zorn Jesu“ als „Widerhall des göttlichen Zorns“ deutlich wurde, soll ein Bewusstsein für das geweckt werden, was nicht sein darf und wie es stattdessen sein sollte: also für das, was die heilvolle Gottesbeziehung als existenzielle Neuorientierung verlangt und wozu sie befähigt. Verweise auf den „Zorn Gottes“ wollen, einfach formuliert, etwas bewirken, nämlich den Menschen Grenzen zerstörerischen Verhaltens aufzeigen und dadurch deren Wirklichkeit positiv verändern (siehe auch unten). Gelingt es, dies im Zuge biblischen Lernens offenzulegen, liegt hierin zumindest ein Dialogangebot für heutige Schülerinnen und Schüler über Grundlagen gelingenden Lebens.117 Dies erscheint darüber hinaus auch deswegen notwendig zu sein, weil heute vor allem Fundamentalisten die Rede vom „göttlichen Zorn“ menschenfeindlich instrumentalisieren, um sich mit ihrer Weltsicht ins Recht zu setzen. 118 Die diesbezügliche Sensibilisierung in religiöser Sprache kann dabei helfen, entsprechende Instrumentalisierungen kritisch zu hinterfragen, aber auch zu diskutieren, welcher Metaphern als Annäherung an die göttliche Wirklichkeit sich religiöse Sprache überhaupt bedienen darf. Dies kann ggf. sogar im Sinne interreligiösen Lernens erfolgen. Es zeigt sich also bereits an dieser Stelle, dass das vorliegende Ausgangsthema „Jesus und der Zorn Gottes“ im Kontext biblischen Lernens vielseitige Möglichkeiten besitzt, die religiöse Sach- und Sprachkompetenz zu erweitern. Zugleich wurzeln Potenziale darin, die Persönlichkeitsentwicklung von Schülerinnen und Schülern positiv zu begleiten. Im Kern berührt die Rede vom „Zorn Gottes“ nämlich die Frage nach der Beziehung des Menschen zu Gott und konfrontiert dadurch auch mit einem realistischen, ungeschönten Menschenbild 119. So scheinen Verweise auf den göttlichen Zorn doch zunächst oberflächlich betrachtet Gottes Reaktion auf eine menschliche Abirrung zu sein, die verdeutlichen, woran und woraufhin sich der Mensch verfehlen kann. Zugleich wird dabei jedoch ein Bewusstsein dafür eröffnet, wie eine sinnhafte Existenz gelingen kann. Besonders die Parabel vom unbarmherzigen Gläubiger (vgl. Mt 18,23–35), aber auch der „Zorn Jesu“ erinnern unumstößlich daran, dass der Beginn der heilvollen Gottesherrschaft einen im Herzen nicht unberührt lassen kann, sondern einen Neubeginn in gelebter Ver-
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Es wäre falsch, sich nur auf den Themenbereich „Jesus und der Zorn Gottes“ zu beschränken. Besonders die Psalmen, in denen dieses Bild die tiefe Sehnsucht nach Gottes Gerechtigkeitshandeln zum Ausdruck bringt, können ebenfalls neue Sprachformen zur Wirklichkeitsbewältigung eröffnen. So beispielsweise beim Wirbelsturm „Katrina“. Vgl. hierzu SCHWABE, "Gott gießt seinen Zorn über Amerika"; online abrufbar unter: http://www.spiegel.de/panorama/ juengstes-gericht-gott-giesst-seinen-zorn-ueber-amerika-a-373425.html (Stand: 27.6.2020); weiterführend KAWAN, Katrina und andere Hurrikane, S. 178–179. Vgl. zu diesem Aspekt grundsätzlich auch KROPAČ, Biblisches Lernen, S. 417.
252
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
gebungsbereitschaft, Barmherzigkeit und Solidarität mit den Geringsten fordert. Im Gesamt der Botschaft Jesu wird so vielmehr erkennbar, dass es bei dieser Rede primär um das geht, was der Mensch aufgrund der bedingungslos liebenden Annahme durch Gott positiv (insbesondere mit Blick auf den Mitmenschen) zu leisten vermag.120 Besonders in der Rede vom „Zorn Gottes“ wie auch im „Zorn Jesu“ ist also die Hoffnung auf lebenstragende Umkehr impliziert. 121 Im Kern geht es also darum, ob man eine Alternativlosigkeit fehlgeleiteten, menschlichen Handelns akzeptiert oder bereit ist, die Hoffnung auf grundlegende Umkehr auch für sein Leben geltend zu machen. Gerade in diesem fundamentalen Motiv der Neuorientierung sind existenzielle Fragen und Hoffnungen verdichtet,122 die auch für heutige Schülerinnen und Schüler Relevanz besitzen können. Konkreter liegt in den oben angesprochenen thematischen Zusammenhängen auch die Möglichkeit, den vorliegenden Lerngegenstand in Beziehung zur Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern zu setzen. Zu nennen ist dabei die Herausforderung, wie wir uns in Zukunft als Gesellschaft gegenüber Flüchtlingen verhalten wollen, aber auch wie wir uns gegenüber den Schwächsten der Leistungsgesellschaft positionieren. Die mit dem Motiv des Zorns eng verbundene eschatologische Perspektive des göttlichen Gerichts bringt das existenzielle Bedürfnis zum Ausdruck, dass das eigene Verhalten in dieser Welt nicht beliebig ist. Zugleich entlastet sie den Menschen dahingehend, dass das letztgültige Gerechtigkeitswirken in der Souveränität Gottes liegt. Gerade mit Blick auf den Gegenstand „Jesus und der Zorn Gottes“ kann somit auch das Potenzial biblischen Lernens als „Einübung in Kritik und Hoffnung“123 ausgeschöpft werden. Wollen die Bilder des göttlichen Zornes und Gerichts bei dieser Identitätssuche jedoch nicht destruktiv wirken, muss uns stets die bedingungslos-liebende 120 121
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Vgl. hierzu auch weiterführend das nachfolgende Kapitel zum „ethischen Lernen“. G. Theißen benennt das „Umkehrmotiv“ als ein elementares Grundmotiv der Bibel (vgl. THEIßEN, Zur Bibel motivieren, S. 150–152). – In Bezug auf die Gleichniserzählung vom unbarmherzigen Knecht könnte eingewandt werden, dass dieser nicht die erneute Chance zur Umkehr erhält. Wie bereits herausgestellt, geht es hier jedoch primär darum, die Sinnhaftigkeit der gelebten Barmherzigkeit und die eschatologischen Konsequenzen, wenn diese Neuorientierung nicht erfolgt, zu verdeutlichen. So will diese Parabel ja gerade die Hörerschaft dazu auffordern, die Chancen der durch Gott gewirkten, neuen Lebensmöglichkeiten zu sehen. Hierin liegt das Fundament der Neuorientierung und nicht in dem durchaus drohenden Verweis auf das göttliche Gericht. Umso wichtiger ist es, entsprechende Parabeln in den Zusammenhang der Botschaft Jesu zu stellen. Dazu G. Theißen: „Das Umkehrmotiv ist eines der positivsten Motive, von denen ein Leben bewegt sein kann. Denn es sagt: Du magst immer wieder scheitern, du kannst neu anfangen! Menschen sind nicht für immer festgelegt auf ihr Fehlverhalten. Sie müssen nicht zwangsläufig im Abgrund enden. Sie können umkehren. Sie sind geboren, um wieder geboren zu werden. Sie erleiden Niederlagen, um neu aufzustehen.“ (ebd., S. 152; Hervorhebung im Original). KROPAČ, Biblisches Lernen, S. 420.
1. Zur didaktischen Begründung
253
Annahme der eigenen Person durch Gott bewusst werden. Zutreffend bemerkt Ulrich Kropač: „Es [= biblisches Lernen; C.W.] kann bei Kindern und Jugendlichen die Erfahrung anbahnen, dass sie auf der Suche nach ihrer Identität nicht auf ihr Bemühen und ihre Leistung allein setzen müssen, sondern immer schon unter dem Zuspruch eines liebenden Gottes stehen. Vielleicht kann die Bibel so dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche dem menschlichen Leben eine letzte Sinnhaftigkeit zutrauen und Mut zu diesem Leben fassen.“ 124
Die Auseinandersetzung mit der Rede vom „Zorn Gottes“ kann diesen Prozess dahingehend unterstützen, dass Schülerinnen und Schüler so „Gottes Liebe“ als Ausdruck eines wechselseitigen Beziehungsgeschehens begreifen können. Sie können erkennen, dass sie als freie Individuen Verantwortung für das Gelingen dieser Beziehung tragen und es Gott eben nicht gleichgültig ist, wie sie in diese Welt hineinwirken. Die Verweise auf den „Zorn“ lassen die personale Verbundenheit Gottes mit dem eigenen Schicksal erkennen. Durch sie wird verdeutlicht, was Gott nicht bereit ist an menschlichem Verhalten mitzutragen, weil es den Menschen in der Beziehung zu ihm, zu den Mitmenschen und damit letztlich auch von der eigenen Person entfremdet und sich mit Blick auf das Heil des Menschen destruktiv auswirkt.125 Erkennbar wird so nicht nur, dass wir als Menschen Gott nicht gleichgültig sind, sondern es werden zugleich lebensfeindliche Strukturen und Verhaltensmuster offengelegt. Gerade hieraus können (neben der theologischen Sinnperspektive) Impulse für ein gelingendes Leben und damit eine positive Persönlichkeitsentwicklung offenbar werden.126
1.3.1.3 Fazit Die Ausgangsfrage des vorliegenden Teilkapitels kann zum Abschluss eindeutig positiv beantwortet werden. So kann der Gegenstand „Jesus und der Zorn Gottes“ wichtige Sinndimensionen eröffnen, durch die die Potenziale biblischen Lernens voll ausgeschöpft werden können: Nicht nur, dass er den inneren Zusammenhang biblischer Gottesrede vertiefend begreifen lässt, vielmehr noch enthält er wichtige Impulse für die Persönlichkeitsentwicklung heutiger Kinder und Jugendlicher. Darin ist zugleich eine ethische Dimension des vorliegenden Lerngegenstandes impliziert, die nachfolgend entfaltet wird. Bei alledem gilt jedoch, um es in den Worten Mirjam Schambecks zu sagen, dass „die Entscheidung aber, die biblischen Texte als Wort Gottes an die eigene 124 125
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Ebd. Zu dieser Dimension der Rede vom „Zorn Gottes“ vgl. besonders auch PETZEL /RECK (Hrsg.), Von Abba bis Zorn Gottes, S. 201–202. Siehe hierzu die weiteren Ausführungen zur Bedeutung des Gegenstandes „Jesus und der Zorn Gottes“ im Kontext ethischen Lernens.
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
254
Person zu verstehen, […] ein unverfügbares Freiheitsgeschehen [ist], das nur die Einzelne und der Einzelne selbst vollziehen kann“127. Sicherlich hat der Religionsunterricht darauf nur begrenzten Einfluss. Er kann jedoch durch die entsprechende didaktische Gestaltung biblischen Lernens hierzu konstruktive Prozesse anregen und diese im besten Fall positiv begleiten. Insofern ist vor allem auch die Frage nach dazu geeigneten Lernwegen und Lernarrangements zentral. Diese ist dann zentraler Gegenstand des vierten Oberkapitels dieses Hauptteils.
1.3.2
Impulse für ethisches Lernen
Wenn im vorliegenden Untersuchungsgegenstand Chancen für ethisches Lernen128 gesehen werden, bedeutet das nicht, ihn für eine wie auch immer geartete Moralerziehung zu instrumentalisieren. Gerade dann würde man ja das biblische Gotteszeugnis im Sinne indoktrinärer Drohpädagogik missbrauchen. Dies wäre nicht nur mit Blick auf das biblische Gottesbild, sondern auch in Bezug auf ein zeitgemäßes Verständnis emanzipatorischen ethischen Lernens (und diesem zugrunde liegender konstruktivistischer Erkenntnisse) defizitär.129 So ist heute mit Blick auf die Zielsetzung ethischen Lernens eine Abkehr von der fehlgeleiteten Vorstellung zu erkennen, dass Lernende vorgegebene Werte und Normen einfach übernehmen. Vielmehr gerät der Prozess einer Entwicklung der ethischen Urteilsfähigkeit in den Blick.130 Dabei hebelt die im Prozesscharakter implizierte Offenheit ethischer Entscheidungsfindung jedoch nicht die notwendige Bezogenheit des ethischen Lernens auf die christliche Tradition aus.131 Sie ist vielmehr als Dialogangebot der spezifische Beitrag, den dieser im Kontext der Entwicklung einer Urteilskompetenz leisten kann.132 Insbesondere die Ethik Jesu liefert, neben dem Dekalog, wichtige Impulse für eine tragfähige Lebensgestaltung. 133 Die ihr zugrundeliegende Heilszusage an den Menschen ist aber ihr eigentliches Zentrum: „Sie [= die Ethik Jesu] wird nur verständlich im Kontext des Zentrums seiner Verkündigung vom Anbruch der Reich-Gottes-Botschaft […]. Die Barmherzigkeit Gottes erfährt ihren ersten Widerhall in der Haltung des Sich-Beschenken-Lassens; das Heil
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So zutreffend SCHAMBECK, Art. Bibeldidaktik, Grundfragen, 11. (S. 15 in der PDF-Version), online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100038/ (Stand: 27.06.2020). Vgl. hierzu grundlegend ZIEBERTZ, Ethisches Lernen, S. 434–452; MENDL , Religionsdidaktik kompakt, S. 124–130. Vgl. für einzelne konkrete Ansätze ZIEBERTZ, Ethisches Lernen, S. 439–452. Vgl. hierzu auch vertiefend ebd., S. 447–448; MENDL, Religionsdidaktik kompakt, S. 124– 125. Vgl. auch MENDL, Religionsdidaktik kompakt, S. 125–126. Vgl. hierzu weiterführend ZIEBERTZ, Ethisches Lernen, S. 449–452. Vgl. MENDL, Religionsdidaktik kompakt, S. 126.
1. Zur didaktischen Begründung
255
ist als Geschenk total und nicht zu verdienen. Sittliches Handeln kann demzufolge nicht als Leistungsprinzip verstanden werden und ist keine soteriologische Größe – man kann und braucht sich das Heil nicht zu erarbeiten. Andererseits bedeutet das aber nicht, dass menschliches Tun damit unbedeutend würde. Vielmehr setzen das von Gott geschenkte Heil und die dankbare Annahme des Menschen Kräfte zum Handeln frei. Die Ethik Jesu ist so verstanden eine ‚Handlungsermöglichung‘: Der Imperativ, die Aufforderung zum Tun, entspringt dem grundlegenden Heilsindikativ, der Zusage des Heils.“ 134
Darin ist der zentrale Sinnhorizont markiert, der im Religionsunterricht fernab der Thematisierung einzelner Werte und Normen als Impulsgeber für ethisches Lernen greifbar gemacht werden muss. Dies wird er besonders in der Gleichniserzählung in Mt 18,23–35, deren zentrale Botschaft ich in der exegetischen Auseinandersetzung abschließend mit dem Titel „Von der lebensorientierenden und letztgültig verbürgten Kraft der Barmherzigkeit“ überschrieben habe. Scheint doch mit Blick auf die theologische Sinndimension dieser Parabel das unbegreifliche Gnadenhandeln Gottes auf, sein Mitleid, mit dem er dem schuldigen Menschen seine unermessliche Schuld erlässt.135 Kommt hier doch eine neue „Ordnung der Barmherzigkeit“136 zum Tragen, auf die es sich einzulassen gilt. Wird hier doch der später dann unbarmherzig bleibende erste Knecht so in eine Situation versetzt, in der er selbst frei entscheiden kann, ob er diesen Gnadenzusammenhang umfassend in seinem Leben wirksam werden lässt, er aus „der Gnade heraus“, in Vergebungsbereitschaft zu seinem Mitmenschen Leben möchte.137 Der unbarmherzige Knecht fungiert dabei für den Erkenntnisprozess als Negativfigur, an dem die Auswirkungen des Verhaftens in einer selbstentfremdeten Existenz gezeigt werden, da der einer wahren Freiheit entgegenstehende Zusammenhang von Schuld und gnadenloser Schuldeneintreibung für ihn weiterhin wirksam ist. Ihm gelingt es nicht, die Gnadenoption in sein Leben zu integrieren, vielmehr noch: Er versündigt sich in seinem Mangel an Vergebungsbereitschaft an seinem Mitmenschen. Der anschließende Zorn des Königs, der theologisch als „Zorn Gottes“ begriffen werden kann, ist zunächst Ausdruck der Entrüstung über dieses selbstzerstörerische Verhalten. All dies sind Denkanstöße für heutige Schülerinnen und Schüler, die als Katalysator für das ethische Lernen fungieren können. Dafür ist es aber notwendig, dass durch die didaktische Gestaltung der Erarbeitung nicht das gewaltvolle Ende der Parabel ins Zentrum gestellt wird, sondern vielmehr der Fokus auf die 134 135
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Dies stellt H. Mendl (ebd.) zutreffend heraus. Dieser Zug wird bis in die neuesten Auslegungen des vorliegenden Gleichnisses betont (vgl. z. B. KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 54–55) So LINNEMANN, Die Gleichnisse Jesu, S. 110 (Hervorhebung im Original; vgl. zur Gesamtdeutung S. 109–111). Den geforderten Entscheidungscharakter der neutestamentlichen Gerichtsbilder betont z. B. auch PEMSEL-MAIER, Gericht – Himmel – Hölle – Fegefeuer als Hoffnungsbilder lesen, S. 206–207.
256
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
Vergebung und die daraus resultierenden Möglichkeiten, anders zu leben, gelegt und mit Blick auf ihre Lebensbedeutsamkeit aktualisiert wird. An dieser Stelle, wie aber auch im „Zorn Jesu“, wird mit Blick auf eine notwendige existenzielle Neuorientierung eine Grenze dessen markiert, was an destruktivem menschlichen Agieren nicht mehr hinnehmbar ist. 138 Zugleich wird positiv deutlich, wozu die begonnene Heilszeit befähigt und was sie fordert. Die darin drängend formulierten Fragen an die eigene Existenz sind: • Bin ich bereit, aus einer Haltung der radikalen Vergebungsbereitschaft zu leben (siehe oben)? • Habe ich ein offenes Herz für die Not meiner Mitmenschen oder laufe ich auch Gefahr, im Herzen blind zu sein (vgl. Mk 3,5ab)? • Wie halte ich es im Umgang mit den Geringsten, bin ich bereit barmherzig und solidarisch zu sein139? • Erkenne ich die existenziell bedeutsamen „Zeichen der Zeit“ und setze meine Prioritäten richtig, oder verliere ich mich rein im Innerweltlichen (vgl. z. B. Lk 14,16–24)140? Hierin liegen Impulse des Lerngegenstandes „Jesus und der Zorn Gottes“, die auch im Kontext ethischen Lernens fruchtbar gemacht werden können, da sie Anfragen an unsere Gegenwart stellen und deswegen in einen Dialog mit den Lernenden und ihren Orientierungsmaßstäben treten können. Dabei impliziert die Rede vom „Zorn Gottes“ zugleich auch immer die Perspektive der göttlichen Gerechtigkeit bzw. des eschatologischen Gerichts als integralen Bestandteil des göttlichen Heilshandelns. Dies kann, wie in der Gleichniserzählung vom „unbarmherzigen Knecht“, durchaus Schreckensbilder hervorrufen und grausam wirken, birgt aber gerade auch für das ethische Lernen eine Hoffnungsbotschaft, die sich produktiv auf die eigene Lebensgestaltung auswirken kann. So steht das Gericht für die christliche Hoffnung auf eine tiefere Gerechtigkeit. Damit eröffnet sich auch für aufgeklärte Menschen die Perspektive, dass moralisches Handeln im Kern nicht sinnlos und irrational, sondern Teil einer vernünftigen Existenz ist. 141
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Vgl. auch die Gedanken bei PETZEL /RECK (Hrsg.), Von Abba bis Zorn Gottes, S. 201–202. Vgl. dazu in der „Exegetischen Grundlegung“ (B.) Kapitel 4 (hier besonders die Teilkapitel 4.2.3, 4.2.4). Vgl. die entsprechende exegetische Deutung wie auch VENETZ, Lob der Unverschämtheit, S. 64–65. Vgl. dazu auch die Überlegungen im Kontext der systematisch-theologischen Zwischenreflexion (Kapitel C.2). Zum angemessenen Verständnis des elementaren Gerichtsmotivs bemerkt G. Theißen weiterführend: „Das Gerichtsmotiv lässt alles Leben in Verantwortung vor Gott führen, als stünden wir ständig vor einem Richter, der über unsere Gedanken, Worte und Werke urteilt. Man findet in unserer Kultur zwar einen Aufstand gegen diese ‚Tribunalisierung‘ des Lebens. Aber dabei hat man das unbarmherzige Tribunal des eigenen ‚Überichs‘ vor Augen, nicht das des Schöpfers, der mit den ‚Werken seiner Hände‘
1. Zur didaktischen Begründung
257
Insofern zeigt sich, dass der vorliegende Gegenstand einen tieferen Gesamtzusammenhang christlicher Ethik verdeutlicht und dadurch wichtige Impulse liefert, ethisches Lernen im Sinn der christlichen Heilsbotschaft zu fundieren. Ob es dabei gelingt, zur ethischen Urteilskompetenz der Schülerinnen und Schüler beizutragen, hängt vor allem davon ab, inwieweit ein Bezug zwischen ihrer Lebenswelt und den entsprechenden Bibeltexten angebahnt wird. Im besten Fall wird darüber hinaus ein Ansatzpunkt geschaffen, dialogfähig mit Schülerinnen und Schülern anderer Religionen zu werden. Dies führt zu einem weiteren religionsdidaktischen Prinzip, das in Bezug auf den vorliegenden Lerngegenstand vertiefend in den Blick genommen werden muss.
1.3.3
Impulse für interreligiöses Lernen
Blickt man auf die religionspädagogischen Veröffentlichungen der letzten Jahrzehnte, ist „interreligiöses Lernen“ eines der zentralen und populären Themen.142 Dies liegt vor allem darin begründet, dass hierin ein zeitgemäßer Ansatz gesehen wird, auf die, die Gesellschaft prägende, religiöse Pluralisierung und die damit einhergehenden Herausforderungen zu reagieren.143 So zielt interreligiöses Lernen vor allem darauf ab, sich im Zuge eines immer noch konfessionell gebundenen Religionsunterrichts der eigenen religiösen Identität bewusst zu werden, dabei aber auch im Sinne der gemeinschaftlichen Verantwortung für diese Welt einen Verständigungsprozess mit den „fremden“ Religionen anzuregen.144 Im Rahmen der theoretischen Entfaltung und Profilierung dieses Prinzips wurden verschiedene Konzepte entwickelt.145 Dazu treten in konsequenter Übertragung des Kompetenzparadigmas auf die Religionspädagogik in den letz-
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barmherziger ist, als es das menschliche Gewissen zulässt. Auch hier kennen alle ungebrochen aufwachsenden Menschen eine elementare Gewissenserfahrung.“ (THEIßEN, Zur Bibel motivieren, S. 163; Hervorhebungen im Original). Vgl. SAJAK, Interreligiöses Lernen, S. 9. Sajak spricht dementsprechend von einem „Trendthema“. Vgl. WILLEMS, Art. Interreligiöse Kompetenz, 1.1. (S. 1 in der PDF-Version), online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100070/ (Stand: 27.06.2020). Eine differenzierte Analyse des Ausgangskontextes für interreligiöses Lernen findet sich bei SAJAK, Interreligiöses Lernen, S. 13–21; SCHAMBECK, Interreligiöse Kompetenz, S. 18–26. Vgl. MENDL, Religionsdidaktik kompakt, S. 151. Vgl. für eine Übersicht MEYER/TAUTZ, Art. Interreligiöses Lernen, 2. (S. 4–11 in der PDFVersion), online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100068/ (Stand:25.06.2020). Im Einzelnen werden hier die nachfolgenden Ansätze von J. Lähnemann, S. Leimgruber, H. Halbfas, K. Meyer, C.-P. Sajak und M. Tautz vorgestellt. – Eine weitergehende, ausführliche Übersicht über diesbezügliche Entwicklungslinien und entsprechende Konzepte findet sich bei SAJAK, Interreligiöses Lernen, S. 53–81.
258
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
ten Jahren weitere Modelle zur Entwicklung sogenannter „interreligiöser Kompetenz“146. Trotz der Vielseitigkeit entsprechender Ansätze lässt sich ein Konsens in Bezug auf folgende Anliegen erkennen, die Joachim Willems so zusammenfasst: „Interreligiöses Lernen muss 1. eine Klärung der jeweils eigenen Position beinhalten und damit auch zur Identitätsbildung beitragen; 2. den Erwerb religionskundlicher Kenntnisse umfassen; 3. auf die Erlangung hermeneutischer Fähigkeiten abzielen; 4. sich auf den konkreten Umgang mit Angehörigen anderer Religionen beziehen; 5. auch die Entwicklung von gewünschten Einstellungen und Haltungen (starke Toleranz; Empathie) anstreben […].“ 147
Die diesbezüglich zu thematisierenden Gegenstände und Themen interreligiöser Lernprozesse sind insgesamt zwar umstritten, neue Vorschläge integrieren jedoch vor allem auch das Gottes- und Menschenbild als zentrale Inhaltsfelder.148 Eine Beschäftigung mit „Jesus und dem Zorn Gottes“ ist dabei sachlogisch dem interreligiösen Lernen vorangestellt, da sie zunächst dazu beitragen soll, Grundlagen der christlichen Gottesvorstellung vertiefend zu begreifen. Ebendiese Kenntnis der eigenen religiösen Tradition ist aber, wie bereits Johannes Lähnemann zutreffend herausstellte, zugleich eine unverzichtbare Voraussetzung, um überhaupt in eine vorurteilsfreie Begegnung mit den anderen, insbesondere monotheistischen Religionen treten zu können.149 In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass Verweise auf den göttlichen Zorn und das göttliche Gerichtshandeln auch jeweils Bestandteil der Heiligen Schriften des Judentums und Islams sind. Hierin liegt also eine tatsächliche Möglichkeit, einen Dialog über die Gottesvorstellungen in den monotheistischen Religionen anzuregen. Exkurs: Schlaglichter des Gottesbildes im Islam Während die Verbindung der Gottesrede zwischen Erstem und Zweitem Testament bereits verdeutlicht wurde, ist die Frage nach dem „Zorn Gottes“ als Teil der islamischen Gottesvorstellung komplex und eine umfassende Ergründung im Rahmen der vorliegenden Studie nicht möglich. Trotzdem lassen sich einzelne Schlaglichter des Gottesbildes aufzeigen. So wird auch in der islamischen Theologie von einem Gott als Schöpfer und Vollender der Welt ausgegangen, der in einem Endgericht die eschatologische Scheidung zwischen den Menschen herbeiführt.150
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Vgl. hierzu grundlegend den oben ausgewiesen WiReLex-Artikel zur „Interreligiösen Kompetenz“ von J. WILLEMS; weiterhin SAJAK, Interreligiöses Lernen, S. 65–72. WILLEMS, Art. Interreligiöse Kompetenz; 2.1. (S. 3 in der PDF-Version), Link bereits oben ausgewiesen. So SAJAK, Interreligiöses Lernen, S. 97 (vgl. zur gedanklichen Entfaltung S. 94–97). Vgl. LÄHNEMANN, Religionsbegegnung als Perspektive für den Unterricht, S. 17–20. Vgl. hierzu beispielsweise ausführlicher KÜNG, Der Islam, S. 118–123.
1. Zur didaktischen Begründung
259
Trotz einer im Vergleich zum christlichen Glauben radikalisierten Betonung der Transzendenz Gottes151, ist Gott im islamischen Verständnis seiner Schöpfung und dem einzelnen Menschen zugewandt. Entsprechend kann von einer „Personalität Gottes“ gesprochen werden.152 Dabei sieht der islamische Theologe Mouhanad Khorchide die Barmherzigkeit als das hervorstechende Wesensmerkmal Gottes und damit als Grundlage des Verhältnisses zwischen Mensch und Gott.153 Barmherzigkeit ist dabei aber ebengerade auch nicht mit einer Gleichgültigkeit Gottes gegenüber dem menschlichen Fehlverhalten zu verwechseln. In aller Klarheit verdeutlichen einzelne Koranverse, dass Gott die Ungläubigen, Ungerechten, Maßlosen, Treulosen etc. nicht liebt. 154 Entsprechende Stellen zeigen, dass Gott nicht bereit ist, den destruktiven Lebenswandel dieser Personen zu akzeptieren und dass er sie zur Umkehr auffordert. 155 Der Mensch wird also mit einer lebensrelevanten Entscheidungssituation konfrontiert, sich dem Willen Gottes vertrauensvoll hinzugeben und diesen Willen zu realisieren. 156 Dementsprechend unterscheidet bereits die erste Sure in Vers 7 zwischen dem Weg derjenigen, die Gottes Huld erlangen, und dem Weg derjenigen, die Gottes Zorn trifft. 157 Als Schicksal dieser, die sich den göttlichen Zorn zuziehen, wird dabei in Sure 3,162 die Hölle benannt. Ebendieses Schicksal wird in Sure 4,93 beispielsweise auch demjenigen angedroht, der einen Gläubigen vorsätzlich tötet und dadurch den göttlichen Zorn auf sich zieht. Anders als in der Verkündigung Jesu wird in diesen Stellen explizit auf den „Zorn Gottes“ verwiesen, um die Folgen der Abkehr vom Glauben und dem Willen Gottes mahnend vor Augen zu führen.158 In diesem Zusammenhang
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Vgl. vertiefend ebd., S. 123–124. Vgl. STOSCH, Herausforderung Islam, S. 69 (hier auch wörtlich zitierte Formulierung). M. Khorchide charakterisiert diese Beziehung zwischen Gott und den Menschen sogar als „dialogisches Freiheitsverhältnis“ (KHORCHIDE, Barmherzigkeit als Schlüsselkategorie der islamischen Lehre, S. 23). Vgl. maßgeblich KHORCHIDE, Islam ist Barmherzigkeit, S. 37–45; weitergehend auch STOSCH, Herausforderung Islam, S. 65–68. Eine Zusammenstellung über entsprechende Koranverse findet sich bei KHOURY, Themenkonkordanz Koran, S. 75–76. Vgl. STOSCH, Herausforderung Islam, S. 70. Vgl. ebd. Gemeint sind hier wahrscheinlich „die Polytheisten, die Juden und aus den Reihen der Muslime die Mörder, die Heuchler, die vom Glauben Abgefallenen, die Frevler“ (KHOURY, Der Koran, S. 57). Dabei gibt es im Koran noch andere Kontexte, in denen auf den „Zorn Gottes“ verwiesen wird. M. Khorchide betont beispielsweise, dass in Sure 10,100 die Verweigerung, sich der eigenen Vernunft zu bedienen, als entsprechender Anlass hervorgehoben wird (vgl. KHORCHIDE, Gott glaubt an den Menschen, S. 52).
260
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven klingt auch im Koran die bereits aus der Verkündigung Jesu bekannte Hoffnung auf göttliche Gerechtigkeit an,159 zugleich akzentuieren die behandelten Bibeltexte einen entscheidenden Aspekt. So eröffnen die Gleichniserzählungen Jesu auch die Perspektive auf einen Gott, der zürnt, weil er den Menschen unendlich nah und deswegen von der menschlichen Zurückweisung seines Heilsangebotes zutiefst getroffen ist – ja deswegen in der Beziehung zum Menschen fast schon verletzbar erscheint.160 Zugleich zeigt sich darin eine Gemeinsamkeit mit der Gottesvorstellung des Judentums. Wurzelt in der Rede vom „Zorn Gottes“ doch die Juden und Christen verbindende Hoffnung auf Gottes Gerechtigkeit und der Appell, diese Welt zu verbessern.161
Da in der Rede vom „Zorn Gottes“ der innere Zusammenhang zwischen den Gottesvorstellungen des Ersten und Zweiten Testaments erst vertiefend einsichtig wird, liegt in ihr zunächst ein entscheidender Baustein, um sich der gemeinsamen religiösen Tradition von Christentum und Judentum bewusst zu werden. Dies kann besonders die Toleranz gegenüber dem Judentum fördern, dabei aber auch die resultierende, religionsübergreifende Verantwortung für diese Welt einsichtig werden lassen. Eine Auseinandersetzung mit dem vorliegenden Thema muss sich also nicht auf die Vergleiche verschiedener Gottesvorstellungen und damit im Kern zwar notwendige, aber für interreligiöses Lernen alleine nicht ausreichende religionskundliche Erkenntnisse beschränken.162 Vielmehr soll interreligiöses Lernen
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Vgl. Sure 3,162–163: „Ist denn derjenige, der dem Wohlgefallen Gottes folgt, wie der, der sich den Groll Gottes zuzieht und dessen Heimstätte die Hölle ist? Sie nehmen verschiedene Rangstufen bei Gott ein. Und Gott sieht wohl, was sie tun.“ (Übersetzung nach A. KHOURY). Vgl. hierzu vor allem die Deutung der Parabel vom großen Gastmahl bei Lukas (Lk 14,16– 24). Hierzu heißt es in dem von P. Petzel und N. Reck herausgegebenen Buch, das in Bezug auf Vorurteile gegenüber dem Judentum aufklären will: „Die Bibel weiß im Alten wie im Neuen Testament um den Willen Gottes, sich in Welt und Geschichte leidenschaftlich für das Wahrwerden seines Willens einzusetzen. Hier ist der Ort, vom Leiden Gottes zu sprechen. Auch der Zorn kann eine Gestalt des Leidens sein, eines Leidens an der Welt, die besser sein könnte, als sie ist. Von uns erwartet Gott demgemäß unseren Einsatz für Verbesserung der Welt – anstatt uns angesichts des Leids der Welt in unverbindliches Klagen zurückzuziehen. Und anstatt das Alte Testament mit seinem zornigen Gott herabzuwürdigen, könnten wir entdecken, was uns dieser zornige, leidenschaftliche Gott zutraut: die Welt (und damit unser Leben) besser zu machen, wo immer wir sind.“ (PETZEL/R ECK [Hrsg.], Von Abba bis Zorn Gottes, S. 202.) Auch C. P. Sajak betont beispielsweise, dass interreligiöses Lernen sowohl die Dimension der religionskundlichen Vorbereitung als auch der direkten Interaktion mit Menschen anderer Religionsgemeinschaften integrieren muss (vgl. SAJAK, Interreligiöses Lernen, S. 27).
1. Zur didaktischen Begründung
261
ja Prozesse anleiten, die für die gemeinsame Begegnung mit Menschen unterschiedlicher Religionen konstitutiv sind. 163 Dazu bietet das vorliegende Thema Ansatzpunkte, die vor allem im Rahmen der Sekundarstufe II164 fruchtbar gemacht werden können. Wie bereits in den vorangegangenen Kapiteln aufgezeigt, eröffnet der Lerngegenstand „Jesus und der Zorn Gottes“ nämlich die Frage nach der eigenen Existenzorientierung. Diese Gottesrede will im Kern also dafür sensibilisieren, dass die liebende Annahme durch Gott für unsere praktische Lebensführung nicht folgenlos bleiben kann. Eben dieses Bewusstsein, dass der Gottesglaube Orientierung gibt und lebenswirksam sein muss, ist, wie aktuelle Jugendstudien zeigen, bei muslimischen Jugendlichen weitaus stärker ausgeprägt (vgl. Kapitel D.1.2.2.1). Hierin wurzelt somit die Möglichkeit zum religionsübergreifenden Dialog, also interreligiös angelegtem Lernen „im engeren Sinne“165. So kann über die gemeinsame Erarbeitung der Rede von der „Barmherzigkeit“, aber auch vom „Zorn Gottes“ in den Heiligen Schriften ein Dialog 166 zwischen christlichen und muslimischen Jugendlichen angeregt werden, inwiefern in diesem Zugang zum Gottesverständnis konstruktive oder auch destruktive Impulse liegen und welche konkreten Konsequenzen daraus für die eigene Lebenspraxis resultieren.167
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Vgl. hierzu auch weiterführend LÄHNEMANN, Religionsbegegnung als Perspektive für den Unterricht, S. 20–23. Zu „Methoden und Zugänge[n] in der Sekundarstufe II“ siehe grundsätzlich auch SAJAK, Interreligiöses Lernen, S. 111. LEIMGRUBER/ZIEBERTZ, Interkulturelles und interreligiöses Lernen, S. 463 (Hervorhebung im Original). Die Notwendigkeit, im Rahmen schulischen Lernens den unmittelbaren Dialog einzuüben, fordert beispielsweise LÄHNEMANN, Religionsbegegnung als Perspektive für den Unterricht, S. 23. Hier verweist er auch auf die Möglichkeit, in höheren Schulstufen Themen wie die jeweils als Offenbarungsgrundlagen anerkannten Schriften und die Glaubenslehre einzubeziehen. Gerade bei jüngeren Schülerinnen und Schülern müssten jedoch Zugänge zum Gottesverständnis anders angelegt werden, ein Beispiel für die Annäherung über die muslimische Gebetspraxis findet sich bei SCHAMBECK, Interreligiöse Kompetenz, S. 212– 216. Eine entsprechende Debatte wurde im Rahmen der islamischen Theologie von M. Khorchide angestoßen: „Das Hauptproblem einiger religiöser Menschen besteht darin, dass sie – wenn auch unbewusst – von einem Gottesbild ausgehen, das Gott als Antihumanisten darstellt. Sie stellen sich einen Gott vor, dem es um die eigene Verherrlichung durch die Menschen geht und der sie zu seinen Marionetten machen will, deren Rolle lediglich darin besteht, Instruktionen zu empfangen, die sie unhinterfragt ausführen müssen; ansonsten droht ihnen der Zorn Gottes, schlimmstenfalls das Höllenfeuer. Dadurch konstruieren gerade gläubige Menschen eine künstliche Spannung zwischen sich selbst und der Entfaltung ihrer Persönlichkeit, ihrer Freiheit und ihrer Mündigkeit auf der einen Seite und Gott auf der anderen. […] Der Islam, wie ich ihn verstehe und für den ich mich stark mache, beschreibt die Gott-Mensch-Beziehung völlig anders, nämlich als eine partnerschaftliche Beziehung. […] Gott will den Menschen, er glaubt an ihn, er
262
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
Jugendliche verschiedener Religionen heute über die Bedeutung der Rede vom „Zorn Gottes“ in den Heiligen Schriften sprechen zu lassen, mag im Zeichen des um sich greifenden religiösen Fanatismus problematisch erscheinen, aber es ist deswegen umso notwendiger. Gerade weil Fundamentalisten aller Religionsgemeinschaften die Rede vom „Zorn Gottes“ im Sinne einer lebens- und menschenfeindlichen Agenda instrumentalisieren, darf problemorientiertes interreligiöses Lernen in Bezug hierauf nicht schweigen. Positiv gewendet muss es durch die Ermöglichung der Begegnung Jugendlicher der drei monotheistischen Religionen vielmehr die lebenstragenden Impulse dieser Redeweise vor Augen führen, um sie von destruktiven Deutungsansätzen abzugrenzen. Gerade hierin kann auch ein Weg liegen, der oftmals von muslimischen Jugendlichen im Zuge des Vorwurfs religiöser Gewalt empfundenen, einseitigen Stigmatisierung durch die Gesellschaft168 entgegenzuwirken. Dies gelingt, wenn man die Rede vom „Zorn Gottes“ als Appell und Mahnung an den Menschen zur Sprache bringt, sich in der von einem gnädigen Gott geschenkten Beziehung existenziell neu zu orientieren und im Sinne dieses Gottes barmherzig in die Welt zu wirken.169 Das Thema „Jesus und der Zorn Gottes“ weist dabei das Potenzial auf, entsprechende Sinndimensionen zu erschließen und kann somit einen konstruktiven Beitrag im Rahmen des Dialogs leisten. Insgesamt zeigt sich also, dass es in Bezug auf die differenzierte Kenntnis der christlichen Gottesvorstellungen nicht nur Voraussetzungen schafft, in einen interreligiösen Dialog mit den anderen Religionen treten zu können, sondern auch Impulse enthält, diesen Austauschprozess positiv, im Sinne einer verantwortlichen Weltgestaltung zu begleiten. Auch wenn diese idealistische Zielsetzung nicht mehr im gleichen Maße vertreten wird wie noch vor einigen Jahren, geht es beim interreligiösen Lernen von seinen ursprünglichen Ideen her doch darum, Voraussetzungen für eine gerechtere und friedvollere Welt zu schaffen.170
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will seine Glückseligkeit, er hat sich auf ihn eingelassen und sich für ihn entschieden, deshalb ist Gott ein Humanist.“ (KHORCHIDE, Gott glaubt an den Menschen, S. 20). Diese Erfahrung benennt die aktuelle Sinus-Jugendstudie: Vgl. CALMBACH (u. a.), Wie ticken Jugendliche 2016?, S. 371. Gemeinsame Bezugspunkte im Ethos ergeben sich im Judentum und Christentum aus der funktional begründeten Gottebenbildlichkeit. Auch wenn sich im Islam dieses Verständnis der Gott-Mensch-Beziehung nicht in vergleichbarer Weise herausgebildet hat, wird hier davon ausgegangen, dass der Mensch eine Verantwortung für die Schöpfung trägt und zum Nachvollzug göttlicher Barmherzigkeit sowie Gerechtigkeit verpflichtet ist (siehe oben). Ein differenzierterer Vergleich des aus der Mensch-Gott-Beziehung resultierenden Ethos in Christentum und Islam findet sich bei TAUTZ, Interreligiöses Lernen im Religionsunterricht, S. 197–201. Diese Zielperspektive wird beispielsweise noch im „Handbuch Interreligiöses Lernen“ aus dem Jahr 2005 stark gemacht, vgl. hierzu den Artikel von FRITSCH-OPPERMANN, Globalisierung als Bedingung interreligiösen Lernens, S. 22–26; ebenso LÄHNEMANN, Religionsbegegnung als Perspektive für den Unterricht, S. 23.
1. Zur didaktischen Begründung
1.3.4
263
Impulse für emotionales Lernen
Emotionales Lernen ist im strengen Sinne kein religionsdidaktisches Prinzip, wohl aber besitzt der Religionsunterricht aufgrund seiner existenziell bedeutsamen Inhalte und dem hier besonders verbreiteten Einsatz ganzheitlicher Methoden eine sehr starke emotionale Dimension. Insofern verwundert es nicht, dass seine Bedeutung für emotionale Bildung aktuell hervorgehoben wird.171 Im Rahmen der Bibeldidaktik spiegelt sich dies beispielsweise im Konzept einer „Empathische[n] Bibeldidaktik“ wider, das vor allem von Herbert Stettberger theoretisch fundiert wurde.172 Emotionales Lernen darf dabei nicht dahingehend missverstanden werden, dass lediglich positive Gefühle thematisiert oder angeleitet werden sollen: „Ein evidenter Schritt auf dem Weg zur Emotionsregulation als Baustein emotionaler Bildung ist es jedoch auch, eher negativ konnotierte Gefühle wie Neid, Wut oder Aggression zuzulassen und ausdrücken zu können. Biblische Geschichten sind auf vielfältige Weise dazu geeignet, solche Emotionen aufzugreifen und zu reflektieren.“ 173
Gerade in der Auseinandersetzung mit Zorn als zutiefst menschlicher Emotion, die destruktive, aber auch als Ausdruck gerechter Empörung zutiefst konstruktive Impulse auf das menschliche Zusammenleben freisetzt, können emotionale Lernprozesse mitangeregt werden. Die Herausforderung des vorliegenden Themas liegt dabei darin, Unterschiede zwischen der Verwendung dieser Metapher in Bezug auf Gott und der Ausprägung von menschlichem Zorn deutlich zu machen. Dabei kann Jesus mit seinem Zorn als „Leidenschaft aus Mitgefühl“ 174 eine wichtige Vermittlungsfunktion einnehmen. – So ist es ja gerade der Zorn, der ihn in seiner ganzen Menschlichkeit zeigt. 175 In seinem Zürnen wird die Funktion des Zorns, als „Motor“ gegen das Lebensfeindliche einzutreten, erkennbar. „Zorn“ kann von den Heranwachsenden so als „eine Leidenschaft, die aus Mitgefühl kommt, sich wiederum für Mitgefühl starkmacht, die auf Veränderung drängt“176, entdeckt werden. Gelingt es, diese konstruktive Dimension in Bezug auf den Einsatz eigener Impulsivität einsichtig werden zu lassen, können heutige Schülerinnen und Schüler in ihrer emotionalen Entwicklung positiv gestärkt werden.
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174 175 176
Vgl. hierzu grundlegend NAURATH, Art. Emotionale Bildung, online abrufbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100187/ (Stand: 27.06.2020). Vgl. für eine Zusammenfassung STETTBERGER, Empathische Bibeldidaktik, S. 476–482 (hier auch Verweis auf weitergehende Literatur). NAURATH, Art. Emotionale Bildung, 3.2.4. (bzw. S. 8 in der PDF-Version), Link bereits oben ausgewiesen. HOFMEISTER, Leidenschaft aus Mitgefühl, S. 36. Vgl. ebd. Ebd.
264
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
Wichtig ist es dabei, dass entsprechende Lernarrangements geboten werden, die einerseits empathische Prozesse ermöglichen, zugleich aber auch die Reflexion über die eigenen und im Bibeltext begegnende Gefühle ermöglichen.177 Gelingt dies, können den Schülerinnen und Schülern vor allem auch das konstruktive, lebenstragende Potenzial des „Zorns“, aber auch seine destruktiven Gefahren bewusst werden, was im besten Fall den Umgang mit dem eigenen Zorn positiv beeinflusst.
1.4
Fazit: „Jesus und der Zorn Gottes“ – ein potenzieller Baustein zur Entwicklung von religiöser Kompetenz und bestenfalls darüber hinaus!
Die tiefergehende Analyse verdeutlicht, dass das Thema „Jesus und der Zorn Gottes“ als potenzieller Lerngegenstand nicht nur anknüpfungsfähig an das gegenwärtige Paradigma der Kompetenzorientierung ist, sondern vielmehr eine unerlässliche Chance eröffnet, die religiöse Kompetenz zu unterstützen. So ermöglicht es, die im biblischen Lernen angelegten Chancen zur Erweiterung der Sach- und Urteilskompetenz voll auszuschöpfen, es fundiert ethisches Lernen im Religionsunterricht in einem tieferen Sinnzusammenhang und eröffnet Chancen zu einem interreligiösen Lernen.178 Eine Beschäftigung mit dem vorliegenden Ausgangsthema ermöglicht es also nachfolgend im Sinne der gegenwärtig geforderten „Outputorientierung“ auch religionsdidaktisch begründbare Kompetenzerwartungen zu formulieren, die eine Grundlage für die spätere Evaluation liefern.179 Bei dieser Fokussierung auf das Mess-, Erwart- und damit auch Steuerbare wird jedoch zu oft vergessen, dass der Religionsunterricht nicht rein von funktionalen Vorstellungen geleitet werden sollte. So sehr die Integration der Kompetenzorientierung notwendig ist, um Lernen nachhaltig zu gestalten, so sehr verschwimmt mitunter durch die additive Auflistung einzelner Kompetenzerwartungen das im Religionsunterricht eigentlich wurzelnde Potenzial: Anders als andere Fächer soll er nämlich mit der christlichen Hoffnungs- und Heilsbot-
177
178
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H. Stettberger verweist in diesem Zusammenhang auf die Nutzung „von Bibel-ImproSpielen“ (STETTBERGER, Empathische Bibeldidaktik, S. 481–482). Zur weitergehenden Konkretisierung siehe auch die nachfolgenden Unterrichtsbeispiele für die Unter- und Mittelstufe. Um Redundanzen zu vermeiden, werden hier die Teilergebnisse nicht erneut wiederholt. Zur Konkretisierung sei auf die Zusammenfassungen am Ende der jeweiligen Teilkapitel verwiesen. Eine Formulierung entsprechender Kompetenzerwartungen erfolgt in einem der nachfolgenden Oberkapitel.
2. Konkretisierung I – Entwicklungspsychologische Voraussetzungen
265
schaft vertraut machen, die der menschlichen Existenz ebengerade über jedwede Funktionalität hinausgehend einen Sinn zuspricht und für diesen tieferen Sinnzusammenhang sensibilisiert. 180 Besonders eine unterrichtliche Auseinandersetzung mit „Jesus und dem Zorn Gottes“ kann bei der Anbahnung dieses Bewusstseins helfen. Nicht weil dieses Thema als „Drohbotschaft“ neben die Botschaft von einem „liebenden Gott“ tritt, sondern weil die Beschäftigung mit diesem Lerngegenstand verdeutlicht, dass diese Liebe Gottes aufrichtig und nicht gleichgültig ist. Sie hilft das Beziehungsangebot dieses Gottes als Angebot zur Existenzorientierung zu begreifen, als Gabe und Aufgabe, als Befähigung und daraus resultierende Verantwortung für die Welt und den Mitmenschen zugleich. So wird dann der Raum zum Dialog mit Jugendlichen anderer Religionen und zugleich zu einem zunehmend säkularen Umfeld eröffnet. Vor diesem Hintergrund gewinnt dann auch die christliche Gerichtsbotschaft ihr Profil, weil sie vor der Gefahr der falschen Lebensausrichtung mahnt, zugleich aber auch ihre Sinnhaftigkeit verbürgt. Ein solch lebenstragendes Sinnangebot in das Blickfeld heutiger Schülerinnen und Schüler zu rücken, muss somit auch eine zentrale Aufgabe eines zeitgemäßen Religionsunterrichts sein. In diesem Zusammenhang versteht sich von selbst, dass eine Lebensrelevanz nur dann erkannt werden kann, wenn dieser Bewusstwerdungsprozess auf eine indoktrinäre, katechetische Beeinflussung verzichtet und zugleich einen längerfristigen Erkenntnisprozess anbahnt, der religiöses Lernen durchgehend begleitet. Der Religionsunterricht muss also immer wieder Dialogangebote eröffnen, die eine Begegnung mit dieser Gottesvorstellung ermöglichen und zugleich Raum für den diesbezüglichen Diskurs geben. Die Erkennbarkeit einer Lebensbedeutsamkeit gelingt nur, wenn gleichzeitig die Erfahrungen, die Lebenswelt und entwicklungsspezifischen Zugänge der Schülerinnen und Schüler integraler Bestandteil der konkreten Didaktisierung sind. Wie dies im Einzelnen geschehen kann, wird in den nachfolgenden Kapiteln verdeutlicht.
2.
Konkretisierung I – Entwicklungspsychologische Voraussetzungen und lebensweltliche Impulse
„Konkretisierung“ meint hier zunächst eine angestrebte, analytische Vertiefung. Sachlogisch konsequent gilt es dabei in Fortführung des letzten Kapitels zu 180
Vgl. zu diesem Gedanken auch grundlegend, ergänzend und erweiternd: SEKRETARIAT DER Die bildende Kraft des Religionsunterrichts, S. 30– 34. DEUTSCHEN BISCHOFSKONFERENZ (Hrsg.),
266
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
konkretisieren, welche Kompetenzen nunmehr eigentlich in den jeweiligen Jahrgangsstufen gewonnen werden sollen und wie diese im Rahmen des jeweiligen Inhaltsbereiches kontextualisiert werden können. Kurzum: Es gilt konkrete Kompetenzerwartungen zu formulieren. Damit dies angemessen geschehen kann, müssen in einem ersten Schritt in diesem Kapitel jedoch entwicklungspsychologische, lebensgeschichtliche und lebensweltliche Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler in den Blick genommenen werden.
2.1
Anliegen des Kapitels
Im Rahmen des oben skizzierten Elementarisierungskonzeptes ist damit die subjektrelevante Ebene der elementaren Zugänge181 berührt, die jedoch zugleich mit der Frage nach den elementaren Erfahrungen enge Berührungspunkte aufweist182. Wenn diese Formulierung in der nachfolgenden Kapitelüberschrift bewusst nicht aufgegriffen wird, liegt dies darin begründet, dass eine Erhebung elementarer Zugangsweisen auf einer Metaebene, unabhängig von einer konkreten Lerngruppe, schlichtweg nicht möglich ist. Dementsprechend bescheidener soll von „entwicklungspsychologischen und lebensweltlichen Impulsen“ gesprochen werden, also von Aspekten, die es notwendigerweise zu berücksichtigen gilt, ohne dass damit bereits die elementaren Zugänge für die jeweils konkrete Lerngruppe erschöpfend ergründet wären. Dies soll hier zunächst in Bezug auf den Gesamtlerngegenstand „Jesus und der Zorn Gottes“ erfolgen. Sekundär könnten natürlich weitergehende Aspekte fokussiert werden, wie beispielsweise Zugänge zur Arbeit mit biblischen Texten, insbesondere Gleichniserzählungen. Da dies jedoch im Rahmen der vorliegenden Analyse zu weit führen würde, werden entsprechende Überlegungen dann in das Oberkapitel „Lernwege und Unterrichtsbeispiele“ eingebettet. Die Formulierung des Ausgangsthemas verweist zugleich auf die zentralen Bereiche, die im Rahmen dieses Teilkapitels primär in den Blick zu nehmen sind. Es gilt konkret mögliche Erfahrungen Jugendlicher und junger Erwachsener mit
181
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H. Mendl benennt als zentrale Fragestellung dieses Schritts: „ Auf welche Weise kann der Gegenstand für die konkreten Lerngruppen (Entwicklungs- und Lebensbezug!) eingeführt werden, sodass von Anfang an eine fruchtbare Auseinandersetzung mit ihm in Gang gesetzt wird?“ (MENDL, Religionsdidaktik kompakt, S. 232; Hervorhebung im Original). Dies
greift jedoch in dieser Verdichtung zu kurz. So gilt es bei diesem Schritt auch auf Grundlage entwicklungspsychologischer Erkenntnisse zu ermessen, welche Zugangsweisen von Lernenden denkbar sind und wie sie in ihrer weiteren Entwicklung gestärkt werden können. Vgl. auch SCHWEITZER/H AEN /KRIMMER, Elementarisierung 2.0, S. 13. Hier wird anerkannt, dass beide Elementarisierungsschritte „nicht ohne Weiteres trennscharf“ seien.
2. Konkretisierung I – Entwicklungspsychologische Voraussetzungen
267
dem Thema „Zorn“, prägende Jesusbilder und die Genese von Gottesvorstellungen vertiefend zu analysieren.
2.2
Zorn als menschliche Emotion
Die Rede vom „Zorn Gottes“ als komplexe theologische Beziehungsmetapher eröffnet in der Regel zunächst wenig konkrete Bezüge zur Lebenswelt heutiger Schülerinnen und Schüler. „Zorn“ als fundamentaler Bestandteil menschlicher Erlebens- und Erfahrungswirklichkeit, also als grundlegende menschliche Emotion, ist ihnen hingegen aus vielseitigen Situationen bekannt. So lässt sich dieser nämlich bereits im Säuglings- und Kleinkindalter nachweisen.183 Die Ursachen, warum Menschen Zorn empfinden, sind vielseitig, wie der Anthropologe und Psychologe Paul Ekman herausstellt: Frustration darüber, dass man an seinem Handeln gehindert wird, die Bedrohung durch fremdgewirkten physischen Schaden, die Konfrontation mit dem Zorn anderer oder die Erfahrungen von Enttäuschung und Zurückweisung in zwischenmenschlichen Beziehungen.184 So vielfältig die Ursachen des Erlebens von Zorn und Ärger sind, so vielfältig ist auch das „Spektrum an Zornempfindungen, von leichter Verärgerung bis hin zu rasender Wut“185. Unkontrollierter Zorn und unkontrollierbare Wut können sich dabei durchaus negativ auf die soziale Stellung des Menschen auswirken. Bereits für zürnende Kinder ist die Erfahrung grundlegend, dass sie an Anerkennung bei anderen Kindern einbüßen, sich also sozial isolieren, ein Grundzug, der auch die weitere soziale Existenz bis hin zum Erwachsenenalter bestimmt.186 Der Hirnforscher Giovanni Frazzetto verdeutlicht: „In allen ihren Formen hat Wut moralische Konsequenzen. Die Unfähigkeit, impulsive Reaktionen unter Kontrolle zu halten, ist ein Prüfstein für unseren Charakter;
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Einer der bekanntesten amerikanischen Psychologen, P. Ekman, verweist beispielsweise auf eine Methode, durch die Entwicklungspsychologen im Rahmen ihrer Forschungen bereits im Säuglings- und Kleinkindalter Zorn hervorrufen können: Das Fixieren der Arme, so dass das Kind nicht mehr in der Lage ist, diese zu bewegen (vgl. EKMAN, Gefühle lesen, S. 156; hier auch Verweis auf weiterführende Literatur). Vgl. ebd., S. 156–157. Ebd., S. 158 (hier in der Übersetzung von S. KUHLMANN-KRIEG). – In der von Ekman gewählten Terminologie ordnet er Wut ins Spektrum der Zornes-/Ärgerempfindungen ein. Grundsätzlich ist es sicherlich (insbesondere aus psychologischer Perspektive) diskussionswürdig, inwieweit die beiden reaktiven Emotionen Zorn und Wut weitergehend voneinander abgegrenzt werden müssen. In Bezug auf die vorliegende Arbeit soll es jedoch anschließend ausreichen, nachfolgend religionspädagogisch relevante Charakteristika des „Zornes“ abgrenzend zu verdeutlichen. Vgl. ebd., S. 169 (hier auch Verweise auf weitergehende Literatur).
268
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven sie kann als Willensschwäche ausgelegt werden. Wer seiner Wut nachgibt, muss damit rechnen, dass dies Folgen hat für seine Stellung im gesellschaftlichen Leben, dass seine Beziehungen zu anderen Menschen Schaden nehmen.“ 187
Insofern begegnet Kindern und Jugendlichen Wut als eine Emotion, die es in ihren destruktiven Impulsen zu kontrollieren gilt oder mit der zumindest ein konstruktiver Umgang gefunden werden muss.188 Inwieweit menschlicher Zorn jedoch grundsätzlich unterdrückt werden sollte, ist nicht einfach zu beantworten. Vielmehr gibt es aus psychologischer Sicht nämlich auch eine Form des Zorns, die mitunter sogar die Ebene des eigenen Leids, der eigenen unmittelbaren Betroffenheit übersteigt: das Zürnen als Kritik an Ungerechtigkeit.189 Zorn kann in entsprechenden Kontexten auch konstruktiv dazu antreiben, dieser Einhalt zu gebieten und etwas daran zu verändern,190 denn er will sowohl in seiner psychologischen wie auch gesellschaftlichen Dimension, „etwas klären, bereinigen, vorwärtsbringen“191. Für die unterrichtliche Beschäftigung mit dem Lerngegenstand „Jesus und der Zorn Gottes“ lässt sich also zunächst feststellen: Wenn Schülerinnen und Schüler hiermit konfrontiert werden, assoziieren sie mit dem Thema „Zorn“ zunächst wahrscheinlich ein vielseitiges und ambivalentes Spektrum eigener emotionaler Erfahrungen oder zwischenmenschlicher Situationen. Möglich ist, dass sie an verschiedenste Beispiele und Situationen aus dem Familien- oder Freundeskreis erinnert werden, bei denen sie sich geärgert haben, wütend oder aggressiv wurden. Zu denken ist aber auch daran, dass sie selbst, beispielsweise im 187
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FRAZZETTO, Der Gefühlscode, S. 18 (hier in der Übersetzung von K. BINDER/ B. LEINEWEBER). – Insgesamt gibt es aber auch Ansätze dem negativen gesellschaftlichen Ruf des „Zorns“ entgegenzuwirken und den Zorn als kraftvolle Emotion anzuerkennen. Diesbezüglich ist beispielsweise das Projekt Axl Kleins zu nennen, bei dem dieser verschiedene Porträtfotos von Prominenten im Zorn erstellte (vgl. hierzu ROHRWICK, Das andere Gesicht, S. 20–22). Entsprechend stellt die Psychologin N. Otterpohl heraus, dass die Emotionsregulation eine wichtige Fähigkeit ist, die Kinder und Jugendliche erwerben müssen (vgl. OTTERPOHL, Wenn Kinder die Wut packt, online abrufbar unter: https://de.in-mind.org/article/wennkinder-die-wut-packt-wie-kinder-lernen-mit-ihren-emotionen-umzugehen [Stand: 27.06.2020]). Dazu bemerkt der Psychologe U. Mees, der sich schwerpunktmäßig mit dem Gebiet der Emotionen beschäftigt hat: „Mit Empörung, Entrüstung, Zorn schließlich sind dem Ä. [= Ärger; C.W.] verwandte, moralisch motivierte Emotionen gemeint […], bei denen kein eigenes Leid vorliegen muss, sondern eine Normverletzung oder Ungerechtigkeit […] durch Verantwortliche (z. B. ‚die Regierung‘) kritisiert wird.“ (MEES, Art. Ärger, online abrufbar unter: https://m.portal.hogrefe.com/dorsch/aerger/ (Stand: 25.06.2020; Hervorhebung im Original). Diesen Aspekt benennt (u. a.) EKMAN, Gefühle lesen, S. 174. Weiterführend und vertiefend zu dieser Thematik siehe auch SCHÖNBERGER, Brodelnde Lava, S. 3–5. HOFMEISTER, Ein verpöntes Gefühl, S. 2. – Der vorliegende Zitatausschnitt stammt aus der Einleitung zum Publik-Forum Heft „Zorn. Feuer in der Seele“ (März 2018), in der die Ambivalenz des Zornes und auch die Frage, wie dieser positiver „Entwicklungsmotor“ sein kann, kurz, aber sehr differenziert ausgelotet wird.
2. Konkretisierung I – Entwicklungspsychologische Voraussetzungen
269
Zeichen enthemmter Internetkommunikation, Opfer von Hass und Zorn geworden sind. In diesen Zusammenhängen wird, neben entsprechenden Negativerfahrungen, aber außerdem die konstruktive Dimension von Zorn als ein innerer Unwille gegen Ungerechtigkeit und Unrecht durchaus auch zur Erfahrungswelt gehören. Hierüber kann ein zentraler lebensweltlicher Zugang eröffnet werden bzw. wird dieser schon durch die Schülerinnen und Schüler selbst eröffnet, was, wie bereits skizziert, Anknüpfungspunkte im Sinne emotionalen Lernens bildet (→D.1.3.4). Problematisch wäre es dabei, wenn mit dem Zorn einhergehende destruktive Momente, wie der Wunsch, andere Menschen zu verletzen oder ihnen zu schaden, aufgerufen und im schlimmsten Fall im Rahmen einer theologischen Ausdeutung als tragfähiges, oder gar gottgewolltes Verhalten bestätigt würden. Dadurch würde man dann zugleich der Genese virulenter Gottesvorstellungen Vorschub leisten. Als hierzu konträre Möglichkeit, einen Dialog zwischen den Lernenden und dem Lerngegenstand herzustellen, wurde bereits die Auseinandersetzung mit dem „zornigen Jesus“ benannt.
2.3
„Jesusbilder“ und damit verbundene Herausforderungen
Während es zu Beginn des Jahrtausends noch Ansätze gab, die Entwicklung der Christologie bei Kindern und Jugendlichen idealtypisch zu beschreiben, 192 verdeutlichen neuere empirische Forschungen auch hier die Vielschichtigkeit entsprechender Vorstellungen.193 Interessant für die Sekundarstufe I und II sind vor allem die Kennzeichen einer Christologie im mittleren Jugendalter, als deren maßgebliche „Tendenzen“ Gerhard Büttner und Veit-Jakobus Dieterich die „Subjektivierung“ sowie „Ethisierung der Christologie“ bei einem gleichzeitigen „Relevanzverlust“
192
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G. Büttner konstatierte beispielsweise eine „artifizialistische bzw. finalistische Sichtweise“ in den Klassen 1 bis 3, die sich im Zuge der Veränderung des Weltbildes in den Klassen 4 bis 7 weiterentwickele, hin zum „Vorherrschen einer subjektorientierten Christologie als individueller Erfahrung“ in den Klassen 8 und 9 (vgl. BÜTTNER/THIERFELDER, Die Christologie der Kinder und Jugendlichen, S. 13; hier auch wörtlich zitierte Formulierungen). Vgl. für eine Übersicht über empirische Befunde beispielsweise HÖGER, Art. Jesus Christus, bibeldidaktisch, Sekundarstufe, 1. (S. 1–4 in der PDF-Version), online abrufbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100044/ (Stand: 25.6.2020); weiterhin KRAFT/ROOSE, Von Jesus Christus reden im Religionsunterricht, S. 13–38 und BÜTTNER/DIETERICH, Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, S. 193–205.
270
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
benennen.194 Aufschlussreich in Bezug auf letzteren Aspekt sind dabei auch von Tobias Ziegler herausgearbeitete „Einbruchsstellen und Konfliktfelder im Glaubensund Jesusverständnis Jugendlicher“ 195, die Friedrich Spaeth vereinfachend wie folgt zusammenfasst: „1. Das Theodizee-Problem: Jesus hat zwar damals Leute vor Not, Krankheit und Tod gerettet, heute aber wird diese Erfahrung nicht mehr gemacht. 2. Jesu göttliche und menschliche Natur: Die göttliche Natur wird in erster Linie in den weltüberlegenen Machtattributen gesucht. Das mindert die beim irdischen Jesus gesuchte und in der Kindheit auch gefundene Nähe und Identifikationsmöglichkeit. 3. Jesus als ethisches Vorbild: Jesus wird als idealisierter Moralprediger gesehen, gesucht wird aber eine befreiende Ethik. 4. Jesus als Wunschbild und Erfindung: Supranaturale Züge machen ihn unwahrscheinlich. Die Nachrichten über ihn gehen in sagenhafte Zeiten zurück. Er trägt die Züge einer illusorischen Phantasiegestalt. 5. Jesus ohne beweisbare heutige Auswirkung: Wo und bei wem kann man sehen, dass der Glaube an Jesus tatsächlich etwas verändert? 6. Jesu Exklusivität als Erlöser: Da Gottes Erlösungswillen allen Menschen gilt, erscheint die Einschränkung auf Jesus als Erlöser willkürlich.“ 196
Auch wenn Zieglers diesbezügliche Überlegungen sicherlich heute um weitere Aspekte erweitert und ergänzt werden könnten, spiegeln sie doch zentrale Problembereiche wider, vor deren Hintergrund sich die Entwicklung der Christologie Jugendlicher vollzieht. Weiterführend für das Thema der vorliegenden Studie scheinen dabei vor allem die in Punkt 2 und 3 herausgestellten Problematiken zu sein.197 Aus diesem Befund ergeben sich für eine Thematisierung von „Jesus und dem Zorn Gottes“ verschiedene Impulse und Konsequenzen: Erstens sollte die im „Zorn Jesu“ implizite ethische Dimension durchaus stark gemacht, aber nicht absolut gesetzt oder überbetont werden. Ansonsten leistet man einer einseitigen Wahrnehmung der rein ethischen Bedeutung Jesu Christi als „Moralprediger“ Vorschub. Dies kann von Jugendlichen mit Blick auf ihre Erfahrungswelt als weltfremd oder im schlimmsten Fall auch als Überforderung empfunden werden. Tobias Ziegler merkt deswegen zutreffend an, dass „es religionspädagogisch geboten [ist], den Zuspruch vor den Anspruch Jesu zu stellen“198. Der „Zorn Jesu“ muss also im Kontext seines Wirkens als Ausdruck 194
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Ebd., S. 201 (hier auch wörtlich zitierte Formulierungen und weitergehende Erläuterungen). So die entsprechende Überschrift der diesbezüglichen Analyse bei ZIEGLER, Abschied von Jesus, dem Gottessohn?, S. 114–137. Zum Aufbau der stichprobenartigen Studie aus dem Jahr 1999 vgl. ebd., S. 110–111. SPAETH, »Am Ende ist er im Licht hochgestiegen.«, S. 157. Ziegler überschreibt die diesbezüglichen Kapitel wie folgt: „Die Erwartung an einen menschlich-nahen Jesus gegen die Frage seiner Göttlichkeit“ (ZIEGLER, Abschied von Jesus, dem Gottessohn?, S. 118) bzw. „Die Erwartung an eine befreiende und realistische Ethik Jesu gegen das Bild von Jesus als Moralprediger und weltfremdem Asketen“ (ebd., S. 123). Ebd., S. 125.
2. Konkretisierung I – Entwicklungspsychologische Voraussetzungen
271
der liebenden Zuwendung Gottes zu den Menschen, eines Heilsangebots, das neues Leben schenkt, aber deswegen auch zu neuem Leben befähigt, verständlich werden. In diesem Sinne kann er dann jedoch durchaus auch Impulse liefern, die eigene Lebens- und Wertorientierung zu hinterfragen.199 Zweitens gilt es den „Zorn Jesu“ als Widerhall des göttlichen Zorns zu verdeutlichen, der die Nähe Jesu zu und gemeinsame Identität mit Gott widerspiegelt. Zugleich ist es aber ebenso wichtig, ihn als Ausdruck seines authentischen Menschseins in einen Dialog mit den Jugendlichen zu bringen, um so bleibende Nähe zu ermöglichen.200 Gerade im „zornigen Jesus“ zeigt sich nämlich, wie bereits oben herausgestellt, eine zutiefst menschliche Leidenschaftlichkeit, durch die nicht nur allzu verharmlosende Jesusbilder durchbrochen, sondern zugleich auch identifikationsstiftende Potenziale gewonnen werden können. Insofern sollte die Thematisierung von „Jesus und dem Zorn Gottes“ zugleich auch als Beitrag zu Förderung einer komplementären Sichtweise auf das „Mensch- und Gottsein“ Jesu Christi genutzt werden.201
2.4
Zur Genese von Gottesvorstellungen
Eine unterrichtliche Beschäftigung mit „Jesus und dem Zorn Gottes“ ist gerade mit Blick auf die Genese von Gottesvorstellungen Jugendlicher und junger Erwachsener ein anspruchsvolles Unterfangen. So müssen sie diese, für sie wahr-
199
200
201
Ziegler merkt an, dass der für Jugendliche zentrale Wert des „Spaß-Haben[s]“ (ebd. S. 125) in Widerspruch zum Glauben an Jesus Christus treten kann (vgl. ebd., S. 125–126). Insgesamt verdeutlichen jedoch nahezu alle Jugendstudien weiterführend, dass die Werthaltungen der Jugendlichen nicht einheitlich beschrieben werden können. Grundsätzlich sollte die durchaus unterschiedliche Wertorientierung Jugendlicher, die mitunter eine Annäherung an die Botschaft Jesu erschwert oder erleichtert, stets berücksichtigt werden. Entsprechend muss der Unterricht die Möglichkeit bieten, eigene Werthaltungen offenzulegen und miteinander diskutieren zu können. Die insbesondere in den Evangelientexten vom „Zorn Jesu“ deutlich werdende vielseitige Parteinahme für die Schwachen und Leidenden kann so als eine Position in den Dialog mit der Lebenswelt von Schülerinnen und Schüler gebracht werden. Hierzu grundsätzlich zutreffend C. Höger: „Ausgehend von einer Subjektorientierung […], dem ersten normativen Vorzeichen jeglichen religionspädagogischen Handelns, sind die Heranwachsenden als Dialogpartner auf Augenhöhe ernst zu nehmen und darin zu unterstützen, ihre eigene Einstellung zu Jesus Christus kritisch zu reflektieren und zu entwickeln. Das bedeutet in jeder Klasse differenzierte Lernangebote zu schaffen, so dass die Heranwachsenden in christologischen Bildungsprozessen sowohl an ihrem individuellen Jesusglauben als auch ihren Jesusbegriffen arbeiten können.“ (HÖGER, Art. Jesus Christus, bibeldidaktisch, Sekundarstufe, 3.1. [S. 8 in der PDF-Version], Link bereits oben ausgewiesen). Auch Ziegler betont die Bedeutung eines Förderns des „Denkens in Komplementarität“ (ZIEGLER, Abschied von Jesus, dem Gottessohn?, S. 122).
272
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
scheinlich zunächst konkret-anthropomorphe Redeweise von Gott in ihrer metaphorisch-personalen Dimension begreifen und sinnhaft mit bereits vorhandenen Gotteskonzepten in Beziehung bringen. Letzteres verweist bereits auf den letzten zentralen Zusammenhang, den es zu berücksichtigen gilt: Die Entwicklung und fortschreitende Konstruktion der eigenen persönlichen Gottesvorstellung ist nichts, womit Kinder und Jugendliche im Rahmen der Auseinandersetzung mit einem konkreten Lerngegenstand beginnen. Vielmehr ist diese ein Prozess, der sie bereits auf ihrem Lebensweg begleitet und auch zukünftig begleiten wird. Gerade deswegen muss also nunmehr ebendiese Entwicklung des Gottesbildes bei Kindern und Jugendlichen weitergehend erhellt werden. Während diesbezüglich vor einigen Jahrzehnten verschiedene Theorien zur religiösen Entwicklung eine Hochkonjunktur verzeichnen konnten,202 wird – auch im Zeichen zunehmender Heterogenität der Lerngruppen – ihre Bedeutung zunehmend in Frage gestellt203. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass sich die in ihnen angenommenen Entwicklungsstufen mit einer weitaus komplexeren Realität konfrontiert sehen. Letzteres wird insbesondere mit Blick auf die Entwicklung der Gottesvorstellungen deutlich.204 Hierbei nahm man im Rahmen des klassischen Forschungsparadigmas vereinfachend gesagt an, dass sich das Gottesverständnis, ausgehend von anthropomorph geprägten Vorstellungen in der Kindheitsphase über einen möglichen Transformationsprozess im Jugendalter205, hin zu einer stärker symbolischen und damit zunehmend abstrakteren Gottesvorstellung entwickelt.206 Verschiedene empirische Studien sensibilisieren jedoch dafür, dass der Entwicklungsprozess von Gottesvorstellungen, wie auch der Rückgriff auf anthropomorphe wie auch abstrakte Gottesbilder, in Wirklichkeit weitaus komplexer 202
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Hier sei nur auf die Stufenmodelle von F. Oser/P. Gmünder und J. W. Fowler verwiesen, die aber inzwischen bereits von H. Streib zu einem Modell „religiöser Stile“ weiterentwickelt wurden. Für eine Übersicht siehe grundlegend BÜTTNER/DIETERICH, Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, S. 68–88. Hierzu bemerkt beispielsweise G. Büttner: „Doch wie stellt sich die Frage im Kontext größerer Heterogenität? Wenn – neben sozialem Herkommen, Alter, Geschlecht, intellektuellen Fähigkeiten, Religionszugehörigkeit, ethnischem Hintergrund, möglichen Behinderungen – die Stufe der kognitiven religiösen Entwicklung nur noch ein Differenzmarker von vielen ist, dann wird die Bedeutung dieses Aspektes wohl eher schwinden.“ (BÜTTNER, Art. Entwicklungspsychologie, 4. bzw. S. 6 in der PDF-Version, online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100083/ [Stand: 25.06.2020]; Hervorhebungen im Original). Vgl. für eine grundlegend Übersicht BÜTTNER/DIETERICH, Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, S. 156–171. F. Schweitzer charakterisiert die Entwicklung in dieser Phase als „Verinnerlichung, Verpersönlichung und Abstraktion des Gottesbildes“ (SCHWEITZER, Lebensgeschichte und Religion, S. 222 bzw. vertiefend S. 222–227). So BÜTTNER/DIETERICH, Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, S. 156–158 (besonders S. 157).
2. Konkretisierung I – Entwicklungspsychologische Voraussetzungen
273
ist. So konnte (sehr stark vereinfacht beschrieben) mit durchaus unterschiedlichen Akzentsetzungen herausgearbeitet werden, dass bereits kleine Kinder zu abstrakteren Gottesvorstellungen fähig sind, wohingegen auch Erwachsene je nach kognitivem Kontext weniger komplexe, anthropomorph geprägte Gottesbilder abrufen.207 Jörg Biewald schlussfolgert mit Blick auf daraus resultierende Erkenntnisse deswegen: „Jeder Mensch hat vielmehr anthropomorphe und symbolisch-abstrakte Gottesvorstellungen zur gleichen Zeit. Sie sind auf zwei Bewusstseinsebenen angesiedelt und dort jederzeit abrufbar. Der Zugriff auf anthropomorphe Konzepte erfolgt unreflektiert und unbewusst, der Zugriff auf symbolisch-abstrakte Konzepte reflektiert und bewusst.“208
In Bezug auf die Frage, was heutige Zugänge von Schülerinnen und Schülern zur Gottesfrage prägt und welche Gottesbilder sie wiederum prägen, deutet sich also eine große Vielschichtigkeit an. Letzteres bedeutet auch, dass entsprechende Vorstellungen nicht mehr durch klassische Modelle zur Beschreibung der „GottWelt-Beziehung“ erfasst werden können. Dies lässt sich beispielsweise mit Blick auf die noch im Stufenmodell von Fritz Oser und Paul Gmünder für die Jugendzeit angenommene „Perspektive des Deismus“209 nachweisen.210 Zwar scheint ein zentrales Kennzeichen des Pubertätsalters zu sein, dass Jugendliche ihr Weltbild modifizieren, indem sie mythologisch geprägte Schöpfungsvorstellungen verstärkt durch einen naturwissenschaftlich geprägten Ansatz des Wirklichkeitsverständnisses, also ein naturwissenschaftliches Weltbild ersetzen. 211 Anders als diesbezüglich zu erwarten, sind jedoch unter anderem die empirischen Ergebnisse von Hans-Georg Ziebertz mit Blick auf das Gottesbild jugendlicher 15- bis 17-jähriger Schülerinnen und Schüler: Insgesamt weisen die Gottesrepräsentationen, welche unter den Jugendlichen Zustimmung finden, also drei Züge auf: das Wort ‚Gott‘ bzw. ‚das Göttliche‘ ist ein Geheimnis und nicht definierbar […]; „Gott“ bzw. das „Göttliche“ ist anthropologisch-
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Vgl. für einen differenzierteren Überblick entsprechender Forschungsergebnisse BIEWALD, Zwischen zwei Göttern?, S. 92–104 bzw. S. 108–109; BÜTTNER/DIETERICH, Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, S. 159–162 sowie weiterführend 162–167. Zusammenfassend unterscheiden Büttner und Dieterich dabei vier Gotteskonzepte: „1. das konkret menschenähnliche (personale) sowie 2. das konkret nichtmenschliche (apersonale) bei Kindern; ferner 3. das abstrakt menschenähnliche (personale) sowie 4. das abstrakt nichtmenschliche (apersonale) bei Erwachsenen.“ (ebd. S. 167). Vgl. BIEWALD, Zwischen zwei Göttern?, S. 109. Vgl. weiterführend OSER/GMÜNDER, Der Mensch – Stufen seiner religiösen Entwicklung, S. 134–136; Zur Kritik siehe BÜTTNER/DIETERICH, Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, S. 168–170. Vgl. BÖHM/SCHNITZLER, Theologisieren mit Jugendlichen – im Pubertätsalter, S. 175 (hier auch Verweis auf eine Bezugsstudie).
274
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven immanent erfahrbar […]; und der Mensch und die göttliche Macht sind im Kosmos miteinander verbunden […]. 212
Bereits hier deutet sich an, dass die Gottesvorstellungen Jugendlicher trotz deistischer Grundzüge213 komplexer und mitunter zumindest scheinbar widersprüchlicher sind, als es die von Oser und Gmünder vorgeschlagene Stufenbeschreibung nahelegt.214 Weiterhin kommt nämlich Andreas Prokopf in einer qualitativ-empirischen Studie zu dem Schluss, dass auch deistisch und naturwissenschaftlich geprägte Gottesvorstellungen ebengerade nicht automatisch das Ausbleiben einer Kontaktaufnahme zur göttlichen Wirklichkeit bedingen. 215 Im Gegenteil werde in einzelnen Interviews deutlich, dass „in Krisen- und Konfliktsituationen […] einige Jugendliche eine Beziehungsaufnahme zur ‚Höheren Macht‘ durch Gebet [artikulieren], wobei Gebet weit gefasst werden kann“216. Letztere Beobachtung wird durch eine Umfrage von Christian Smith und Melinda L. Denton unter 3290 US-amerikanischen Jugendlichen zwischen 13 und 17 Jahren zum Thema Religion ergänzt. Im Rahmen dieser Studie konnten Smith und Denton bei Jugendlichen unterschiedlicher Konfessionen und Religionen einen ähnlichen Vorstellungskomplex nachweisen, den sie als „Moralistic Therapeutic Deism“ (dt. „Moralistisch-Therapeutischer Deismus“) charakterisierten. Ein Merkmal dieses sei es, dass die Jugendlichen eine Beteiligung Gottes an der eigenen Lebensführung zwar einerseits ablehnten, dies andererseits aber mit Blick darauf einschränkten, dass man ihn für die Lösung eines schwierigen
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ZIEBERTZ, Vorsehung – ein Aspekt in der Weltbildkonstruktion Jugendlicher?, S. 12 (auf rahmende Anführungsstriche wurde hier verzichtet, um die unterschiedliche Verwendung im Original beizubehalten). Ziebertz gewann diese Erkenntnisse durch eine Auswertung der Positionierung 15–17jähriger Jugendlicher zu 25 Aussagen über Gott. So resümiert Ziebertz die weitergehende Auswertung qualitativer Interviews: „Dagegen lassen sich viele der oben zitierten Kennzeichen einer deistisch inspirierten Religiosität antreffen: Kritik an religiöser Autorität, Kritik von Offenbarungsvorstellungen, ein ausgeprägtes universalistisches Religionsverständnis sowie die Implementierung kosmologisch-holistischer Elemente. Darüber hinaus durchzieht die Idee eines intervenierenden Gottes fast alle Interviews wie ein roter Faden. Die Vorstellung eines allmächtigen Gottes ist den Jugendlichen vertraut, aber für die meisten kognitiv nicht überzeugend. Eine Alternative zum Konzept der Allmacht ist den Jugendlichen allerdings auch nicht bekannt. Für sie ist es eine offene Frage, was von Gott übrigbliebe, wenn man ihm die Allmächtigkeit nähme. Insgesamt zeigen die referierten Interviewsequenzen, dass Jugendliche über Gottesbilder verfügen. Sie gehen davon aus, dass es ‚irgendetwas‘ gibt, das die Geschicke der Welt verursacht oder leitet. Sie bevorzugen dafür Begriffe wie Kraft, Energie und Macht. Gott und Mensch sind im großen Kosmos vereint, und zwischen Himmel und Erde gibt es Zonen der Berührung. Gott ist einerseits fern, aber zugleich in jedem Menschen anwesend. So ist auch der Mensch immer schon ein Teil von Gott.“ (ebd., S. 15). Mit BÜTTNER/DIETERICH, Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, S. 169. Vgl. PROKOPF, Religiosität Jugendlicher, S. 218 u. S. 214. Ebd., S. 218.
2. Konkretisierung I – Entwicklungspsychologische Voraussetzungen
275
Problems brauche.217 Hierin kann auch ein Ansatzpunkt gesehen werden, die Gottesvorstellungen von Jugendlichen in Deutschland vertiefend zu begreifen.218 Geht man insgesamt also in Bezug auf die Gottesvorstellungen heutiger Heranwachsender von einer Vielschichtigkeit, prinzipiellen Entwicklungsoffenheit und Integrationsfähigkeit verschiedener Elemente in das Gottesbild aus, lässt sich die Aufgabe des Religionsunterrichts wie folgt bestimmen: „Die Gottesfrage ist für die Religionspädagogik und den Religionsunterricht zentral […]. Sie ist ein Zentrum des christlichen Glaubens, aber auch aller (monotheistischen) Religionen. Daher ist sie im Religionsunterricht an prominenter Stelle durchgehend zu thematisieren. Insgesamt geht es dabei um die Begleitung der Suchbewegungen von Heranwachsenden in der Gottesfrage, um die Förderung ihrer Entwicklung und des Verständnisses für die Komplexität und Vielschichtigkeit der Gottesfrage sowie der Entwicklung von Gotteskonzepten.“ 219
Religionsunterricht kommt, wie Büttner und Dieterich nahelegen, nicht umhin, sensibel für die bereits vorhandenen Gottesvorstellungen der Schülerinnen und Schüler zu sein und dabei stets neue Impulse zu setzen, die zur Erweiterung oder Modifikation eigener Gotteskonzepte beitragen können. 220 Hierbei sollten gerade unterschiedliche Gottesvorstellungen, personale und abstrakte Zugänge zur Gottesfrage, als gleichwertig anerkannt und in einen Dialog mit den Gottesvorstellungen Jugendlicher sowie junger Erwachsener gebracht werden.221
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Vgl. SMITH/DENTON, Soul Searching, S. 163, insgesamt gehen sie von fünf Merkmalen für diese religiöse Orientierung aus: "1. A God exists who created and orders the world and watches over human life on earth. 2. God wants people to be good, nice, and fair to each other, as taught in the Bible and by most world religions 3. The central goal of life is to be happy and to feel good about onself. 4. God does not need to be particularly involved in one`s life except when God is needed to resolve a problem. 5. Good people go to heaven when they die." (ebd., S. 162–163). Vgl. SCHWEITZER, »Moralistisch-therapeutischer Deismus« auch in Deutschland?, S. 133– 134. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine kleinere Untersuchung von V. Kurth, bei der sie bereits durch die Dissertation von E.-M. Stögbauer erhobenes Datenmaterial mit Blick auf diese Akzentuierung der Gottesvorstellung neu auswertet (vgl. KURTH, Gott als Therapeut?, Kapitel 4, hier besonders S. 96–100). BÜTTNER/DIETERICH, Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, S. 170. Entsprechend ist es konsequent, dass zunehmend das „Theologisieren“ mit Jugendlichen an Stellenwert gewinnt. Siehe hierzu grundlegend DIETERICH, Veit-Jakobus (Hrsg.): Theologisieren mit Jugendlichen. Ein Programm für Schule und Kirche. Stuttgart 2012. Die Ergänzung greift die nachfolgend auch von Büttner und Dieterich (s. o.) stark gemachte Forderung J. Biewalds auf: „Religionspädagogisches Ziel kann nur der Anstoß eines Prozesses sein, in dem sich anthropomorphe Gottesvorstellungen vom verbreiteten Stigma des unreifen, zwar akzeptierten, aber oft belächelten Kinderglaubens lösen, aus dem Schatten des abstrakten Gottesbildes hervortreten und den ihnen zustehenden freien Platz neben den abstrakt-symbolischen GottesvorsteIlungen einnehmen. Mit anderen Worten: Das Ziel ist die Akzeptanz des doppelten Gottesbildes bei Kindern und Erwachsenen.“ (BIEWALD, Zwischen zwei Göttern?, S.110; Hervorhebung im Original).
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D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
Der vorliegende Lerngegenstand „Jesus und der Zorn Gottes“ muss also aus entwicklungspsychologischer Perspektive als ein Ansatzpunkt in diesem Prozess der Suchbewegungen heutiger Schülerinnen und Schüler begriffen werden. Seine Thematisierung steht so vor der Herausforderung, einerseits positive Anknüpfungspunkte für die Entwicklung eigener Gottesvorstellungen zu setzen, andererseits aber auch die Offenheit in der Gottesfrage als dynamisches Moment dieser Suchbewegungen aufrechtzuerhalten. Dies gelingt, wenn er stets auf die Entwicklung des Verständnisses eines personalen Gotteskonzepts, der Vorstellung eines Gottes, der in persönlicher, lebendiger und liebender Beziehung zu seiner Schöpfung steht, hin orientiert bleibt. Es gilt also spätestens in der Sekundarstufe I anthropomorphe Gottesvorstellungen dahingehend zu erweitern, dass man die in der Rede vom göttlichen „Zorn“ angelegte, beziehungsmetaphorische Tiefendimension auslotet.222 Dadurch kann dann aber zugleich ein Verständnis für die Unfassbarkeit Gottes, sein „Mehr-Sein“, entwickelt werden. Das so eröffnete Spannungsfeld gilt es dann bis in die Sekundarstufe II hinein weiter zu vertiefen und zunehmend in Dialog mit anderen Gottesvorstellungen, aber auch der Religionskritik zu bringen. Kritiker könnten diesbezüglich einwenden, dass eine Auseinandersetzung mit entsprechenden Vorstellungen fehlgeleitet sei, da man so eine Gottesvorstellung präge, die sich nicht mit der Lebenswelt Jugendlicher und ihren Zugängen zur Gottesfrage in Einklang bringen lasse. Hans-Georg Ziebertz stellt beispielsweise als ein zentrales Ergebnis seiner oben genannten Befragung heraus, dass „Vorstellungen, in denen Gott als Gott der Bibel, als Vater Jesu Christi und als personales Du zur Sprache kommt, [von den Jugendlichen; C.W.] auch nicht als überzeugende Verinhaltlichung der Gottesidee betrachtet [werden]“223. Sollte also die Vermittlung einer Gottesvorstellung, die für Jugendliche womöglich keine Überzeugungskraft besitzt, nicht gänzlich vermieden werden? Neben dem materialen Einwand, dass hierdurch der konfessionelle Religionsunterricht substanzlos würde, sind folgende Leitgedanken zu berücksichtigen: Erstens: Die Ablehnung biblischer Gottesvorstellungen ist nicht damit gleichzusetzen, dass auch ein personal konnotiertes Gottesbild tatsächlich gänzlich bedeutungslos für Jugendliche ist. Dies deutet sich, wie auch in den anderen erwähnten Studien, selbst in einem von Ziebertz abgedruckten Interview mit einer Heranwachsenden namens Janine an. Diese lehnt zwar das biblische Gottes-
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Da Jesus Assoziationen zum „Zorn Gottes“ vor allem durch die Gleichnisrede eröffnet, bieten sich diesbezüglich zielführende Möglichkeiten. P. Müller und seine Mitautoren verdeutlichen im Rahmen einer Gleichnisinterpretation, dass es bereits in der 3. Klasse möglich ist, „Ansätze zu metaphorischem Verstehen aufzunehmen und mittels konkreter Füllung zu entfalten“ (MÜLLER [u. a.], Die Gleichnisse Jesu, S. 108 bzw. S. 107–108). ZIEBERTZ, Vorsehung– ein Aspekt in der Weltbildkonstruktion Jugendlicher?, S. 14 und zum besseren Verständnis S.13; weiterhin ZIEBERTZ/RIEGEL, Letzte Sicherheiten, S. 69 u. 80.
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bild eines allmächtigen und damit das persönliche Leben determinierenden Gottes ab, spricht der Höheren Macht aber durchaus Empathie im Sinne persönlicher Zuwendung und Orientierung in schwierigen Lebenssituationen zu. 224 Die bereits oben dargelegte, größer angelegte 17. Shell-Jugendstudie deutet darüber hinaus an, dass fast ein Drittel der katholischen Jugendlichen noch den Glauben an einen persönlichen Gott bejaht und zudem bei vielen Jugendlichen Unsicherheit über die konkrete Gottesvorstellung herrscht.225 Zweitens: Gerade die oben skizzierte Vielschichtigkeit, mitunter vorkommende Widersprüchlichkeit und stetige Wandelbarkeit der Gottesvorstellungen heutiger Jugendlicher und junger Erwachsener bedarf verbindlicher Orientierungspunkte. Dies ist nicht dahingehend misszuverstehen, durch den Religionsunterricht festgezurrte dogmatische Lehrsätze als unumstößliche Glaubenswahrheiten zu vermitteln. Wohl aber eröffnet gerade das im Judentum wurzelnde, christliche Zeugnis das Verständnis für einen Gott, der (trotz all seiner Unbegreiflichkeit) seiner Schöpfung fortwährend in Liebe zugewandt ist. Es ermöglicht so einen sinnstiftenden Verständniszugang zur Gottesfrage und stellt ein in diesem Sinne verbindliches Dialogangebot für die Schülerinnen und Schüler dar. Auch wenn dieses von Schülerinnen und Schülern mitunter in ihrer aktuellen Lebensphase nicht nachvollzogen werden kann, ist das nicht gleichbedeutend damit, dass hierin im Zuge der weiteren Lebensphasen nicht eine lebensrelevante Orientierungsmöglichkeit liegen kann. Gerade die personale Gottesrede und damit einhergehende Gottesvorstellungen bilden ja eine förderliche Voraussetzung, um ein persönliches Verhältnis zu Gott zu entwickeln und ebendiese Beziehung aufrechtzuerhalten. 226 Drittens: Der Religionsunterricht ist ein zentraler „Ort“, an dem die Tragfähigkeit von persönlichen Gottesvorstellungen erwogen, aber auch die Offenheit für diesbezügliche Alternativen und eine innere Bereitschaft zur Bereicherung des eigenen Standpunkts gewonnen werden können227.
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Vgl. ZIEBERTZ, Vorsehung– ein Aspekt in der Weltbildkonstruktion Jugendlicher?, S. 14– 15. – Hier deutet sich wiederum das Muster eines „Moralistisch-Therapeutischen Deismus“ an. Vgl. hierzu die entsprechenden Verweise im Unterkapitel D.1.2.2.1 und für eine Übersicht über die genannten Ergebnisse GENSICKE, Die Wertorientierung der Jugend (2002–2015), S. 253 (Abbildung 6.12). Mit BIEWALD, Zwischen zwei Göttern?, S. 110 (hier auch Verweis auf weitere Autoren zu dieser Position). Vgl. hierzu auch die Gedanken bei F. Schweitzer: „Ihren auch für Jugendliche überzeugenden Sinn gewinnen jugendtheologische Angebote kaum schon durch eine kritische Infragestellungen von ihnen vertrauten Konventionen, sondern erst dann, wenn den Jugendlichen deutlich wird, was sie durch eine kritische Haltung sowie die Offenheit für Alternativen für sich selbst gewinnen.“ (SCHWEITZER, »Moralistisch-therapeutischer Deismus« auch in Deutschland?, S. 136).
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Wenn dabei die tatsächliche Gotteserfahrung nur bedingt ermöglicht werden kann, ergibt sich jedoch im besten Fall eine intensive Auseinandersetzung mit der Gottesfrage. Der Religionsunterricht ist somit eine der wenigen „Begegnungsstätten“ in der Schule, in der unter produktivem Einbezug zunehmender Heterogenität der Schülerschaft sinnstiftendes „Theologisieren“ möglich ist.228 Insofern sollte die vielseitige Möglichkeit zur Diskussion und Problematisierung einzelner Gottesvorstellungen, aber auch die Frage, inwiefern sie die eigene Perspektive erweitern können, stets integraler Bestandteil sein. Dies gilt insbesondere für die metaphorische Rede vom „Zorn Gottes“. So ist die Ablehnung deterministischer Gottesvorstellungen durch Jugendliche, wie das oben erwähnte Beispiel von Janine zeigt, vor dem Hintergrund eines aufgeklärten Weltbildes sinnvoll begründbar. Entsprechend kann die Zornesmetaphorik auch als belanglos kritisiert werden, wenn man sie als Widerspruch zur menschlichen Freiheit dahingehend fehldeutet, dass Gott dem Menschen Maßregeln erteilt, deren Nichtbefolgung er zornig-rächend sühnt. Gleichzeitig stellt sie aber die Vorstellung Jugendlicher von Gott als Dienstleister oder „Butler“229, der im Notfall helfen, sich sonst aber aus dem eigenen Leben möglichst heraushalten soll, fundamental in Frage. Gerade so können entsprechende Gottesvorstellungen Jugendlicher mit Blick auf die jüdisch-christliche Tradition daraufhin befragt werden, ob ein Gott, der wirklichen Anteil an unserem Leben haben soll, nur randständig sein kann bzw. er gleichgültig gegenüber dem sein kann, was sonst in unserem Leben geschieht. Die Auseinandersetzung mit „Jesus und dem Zorn Gottes“ ist so im Zeichen zunehmender heterogener Gotteskonzepte im besten Fall Gegenstand eines kritischen Dialogs, Mahnung zu Reflexion und Impulsgeber für die Weitung eigener Gottesvorstellungen. Damit einhergehendes Ziel muss es sein, einen Beitrag zu einer vielschichtigeren Wahrnehmung von Welt und Wirklichkeit zu leisten, in der Schöpfungsglaube und naturwissenschaftliches Denken als sich ergänzende sinnstiftende Zugänge begriffen werden.230 Insgesamt gilt es, um die Formulierung von Karl-Ernst Nipkow aufzugreifen, besonders auch sensibel in Bezug auf
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229
230
Vgl. hierzu DIETERICH, Theologisieren mit Jugendlichen – ein Programm, S. 43–50. K. Kammeyer verweist darauf, dass insbesondere Heterogenität ein „Motor für das Theologisieren“ sein kann (vgl. KAMMEYER, Theologisieren in heterogenen Lerngruppen, S. 205– 206; wörtlich zitierte Formulierung auf S. 205) . So K. M. Yust (hierauf verweisen BÜTTNER/DIETERICH, Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, S. 170). Als besondere Schwierigkeit des Pubertätsalters benennen U. Böhm und M. Schnitzler: „Die strukturgenetischen Untersuchungen zur Weltbildentwicklung zeigen wiederum das für die Pubertät so typische Spannungsfeld von ‚nicht mehr‘ und ‚noch nicht‘: Jugendliche in dieser Altersstufe verwenden ‚nicht mehr‘ das mythologische Weltbild ihrer Kindheit, aber sie sind kognitiv in einem Schwarz-Weiß-Denken verhaftet und können die Spannungen in den Weltzugängen ‚noch nicht‘ mit komplementären Vorstellungen eines Sowohl-als-Auch auflösen. Sie lehnen nun entweder den christlichen Glauben in Bausch und
3. Konkretisierung II – Kompetenzerwartungen
279
„Entscheidungsfelder bzw. Einbruchsstellen für den Verlust des Gottesglaubens“231 zu sein, wie es in Bezug auf den vorliegenden Lerngegenstand und die ihm impliziten Frage nach Gottes Gerechtigkeit vor allem die Theodizeeproblematik ist.232
3.
Konkretisierung II – Kompetenzerwartungen
Ein Blick auf die bisherige Dynamik innerhalb des didaktischen Diskurses der letzten Jahrzehnte zeigt die stetige Wandelbarkeit von Bildungszielen, Bildungsinhalten und Kompetenzerwartungen. Die Kompetenzerwartungen selbst unterliegen stetiger Veränderung, wie sich beispielsweise in der aktuellen Umstellung der Lehrpläne am Gymnasium zeigt. Gerade deswegen halte ich es im Sinne religiöser Bildung für unerlässlich, vorab die größeren Anliegen zu skizzieren, innerhalb derer das vorliegende Thema seine Bedeutung besitzt und Kompetenzen entwickelt werden können. Die dabei aufgegriffen Gegenstands- und Kompetenzbereiche sind mit Blick auf den christlichen Glauben und eine kompetente Teilhabe an Religion so zentral und grundlegend, dass sie in bestehende Lehrpläne integriert werden können.
3.1
Leitende Perspektiven und Orientierungsanker
Erstens: Schülerinnen und Schüler sollen erkennen und erläutern können, dass Jesus im Dialog mit der Tradition des Ersten Testaments Zeugnis von einem Gott
231
232
Bogen ab oder sie setzen sich vehement für ihre Glaubensüberzeugung ein und verschließen sich naturwissenschaftlichen Thesen.“ (SCHNITZLER/BÖHM, Theologisieren mit Jugendlichen – im Pubertätsalter, S. 176). NIPKOW, Erwachsenwerden ohne Gott?, S. 49 (Hervorhebung im Original). Nipkow verweist an der zitierten Stelle auf vier entsprechende Konfliktfelder, als deren zentralstes er nachfolgend das Theodizeeproblem ausmacht (vgl. ebd., S. 56). Auch wenn deren fundamentale Bedeutung für den Verlust des Gottesglaubens sich im Zeichen weitergehender empirischer Forschung nicht bestätigt hat (vgl. grundlegend BÜTTNER/DIETERICH, Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, S. 172–190, besonders die Unterkapitel 11.3–11.5) gilt es in der jeweiligen Lerngruppe sensibel dafür zu sein. Zusammenfassend schlussfolgern Büttner und Dieterich in Anlehnung an das Modell „religiöser Stile“ von H. Streib: „Die Gottesthematik wird in unserem durch das Christentum geprägten Kulturkreis häufig mit der Leidproblematik verbunden. Wie sich die Fragestellung für den Einzelnen darstellt, ist in starkem Maße geprägt von seinem religiösen Stil. Dabei ist anzunehmen, dass sich die Theodizee-Konzepte innerhalb jedes Stils und zwischen den Stilen im Laufe des Lebens weiterentwickeln. Aufgabe des Religionsunterrichts ist es, diese Veränderungsprozesse transparent zu machen und angemessen zu begleiten.“ (ebd., S. 190; im Original durch graue Unterlegung hervorgehoben).
280
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
ablegt, der engagiert Anteil am Schicksal seiner Schöpfung des Menschen nimmt. Für die Entwicklung einer angemessenen Vorstellung des christlichen Gottesverständnisses ist es notwendig, den inneren Zusammenhang zwischen dem Ersten und dem Zweiten Testament zu profilieren. Dies kann nur geschehen, wenn man die Vielseitigkeit biblischer Gottesrede in beiden Testamenten nicht unterschlägt, sondern in einen sinnhaften Dialog miteinander bringt. Nur wenn die Schülerinnen und Schüler immer wieder dazu angehalten werden, gemeinsame Bezugsmomente zwischen der Gottesrede im Ersten und Zweiten Testament zu erkennen, kann ihnen bewusst werden, dass hier von einem einzigen Gott, der wahrhaft Anteil an seiner Schöpfung nimmt, Zeugnis abgelegt wird. Gerade dies ist ein Schlüssel zum Verständnis der Botschaft Jesu von der heilvollen Herrschaft Gottes. Die Verweise auf den „Zorn Gottes“ im Wirken Jesu fußen auf der Gottesvorstellung des Ersten Testaments und konfrontieren mit der Vorstellung eines fordernden und deswegen ernsthaft liebenden Gottes, der in besonderer Solidarität mit den Armen und Geringsten steht. Nur durch ihre Berücksichtigung wird erkennbar, dass der heilvolle Beginn der Gottesherrschaft wahrhaft existenzorientierend und lebensverändernd sein will. Dies kann so in besonderer Weise dazu dienen, entsprechende Reflexionsprozesse zu eröffnen und sollte immer wieder in den Dialog mit den Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler gebracht werden. Die Beschäftigung mit „Jesus und dem Zorn Gottes“ ist unerlässlich, um ein differenziertes Verständnis mit Blick auf den Kernbestand des christlichen Glaubens zu entwickeln und diesen beurteilen zu können. Im Kern geht es also in der Unterstufe darum, dass die Schülerinnen und Schüler das Wirken Jesu (und auch seinen Zorn) zunehmend als Ausdruck eines engagierten Beziehungshandelns im Zeichen der Gottesherrschaft erläutern können. Dazu zählt auch, an Beispielen aufzeigen zu können, dass das Bild des Zornes im Rahmen dieser Gottesvorstellung zulässig ist, – nämlich dann, wenn es als Kritik an lebensfeindlichen Verhaltensweisen oder als Ausdruck der Betroffenheit auf das Zeugnis eines aufrichtig-liebenden Gottes hin orientiert bleibt. Im Laufe der Mittelstufe sollen die Schülerinnen und Schüler Verweise auf den „Zorn Gottes“ im Wirken Jesu zunehmend differenziert in seine Botschaft von der Herrschaft Gottes einordnen und mit anderen Bestandteilen dieser im Zusammenhang erläutern können. In diesem Zusammenhang ist es auch zentral, den „Zorn Jesu“ als Teil einer existenziellen Ansprache beschreiben zu können. Um der Tendenz einer negativen Abgrenzung des Ersten Testaments vom Zweiten Testament entgegenzuwirken, gilt es zudem, den inneren Zusammenhang biblischer Gottesoffenbarung bewusst zu machen. Hier ist für die Rede vom „Zorn Gottes“ die sie bestimmende Gerichts- bzw. Gerechtigkeitsdimension zu berücksichtigen.
3. Konkretisierung II – Kompetenzerwartungen
281
Christologisch soll Jesu zorniges Handeln bis in die Oberstufe hinein zunehmend als Ausdruck seines authentischen Menschseins und gleichzeitiger Gottesunmittelbarkeit gedeutet werden können, wozu auch die Beurteilung gehört, inwieweit Jesus für einen persönlich Leitbild sein und Orientierung geben kann (siehe unten).
Zweitens: Schülerinnen und Schüler sollen im Laufe ihres Religionsunterrichts die menschliche Sprache als Möglichkeit und Grenze der Annäherung an die Wirklichkeit Gottes kennen und verwenden lernen.
Wenn auch nach Karl Rahner Glauben bedeutet, die „Unbegreiflichkeit Gottes ein Leben lang auszuhalten“233, heißt das ebengerade nicht, eine sprachliche Annäherung an die göttliche Wirklichkeit von vorneherein zu unterlassen. Vielmehr bedeutet es, sich ihrer Begrenztheit in Bezug auf das Geheimnis Gottes bewusst zu sein. 234 So ist Gott im jüdisch-christlichen Verständnis der sich unverfügbar Offenbarende.235 Schülerinnen und Schüler sollen die religiöse Sprache als Medium erkennen und erlernen, durch das sich in die Verkündigung Jesu hinein Erfahrungen mit und Hoffnungen auf Gott artikulierbar sowie kommunizierbar machen lassen, ohne dass damit die Unverfügbarkeit Gottes in Frage gestellt wird. Die Beschäftigung mit der Rede vom „Zorn Gottes“ kann diesen Erkenntnisprozess begleiten, indem hierin eine Metaphorik erkannt werden kann, die insbesondere die Hoffnung auf das göttliche Gerechtigkeitswirken zum Ausdruck bringt, in ihrer Ambivalenz aber zugleich die Unzulänglichkeit menschlicher Sprache in der Annäherung an das Geheimnis Gottes verdeutlicht. Insgesamt gilt es im Sinne der Entwicklung religiöser Sprachfähigkeit ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass gerade die personale und zugleich metaphorisch-analoge Rede vom göttlichen Zorn in ihrer Aussagekraft begrenzt ist. Hierzu kann in der Unterstufe der Vergleich mit eigenen Zorneserfahrungen dienen. Die bereits so angelegte Entwicklung eigener Gottesvorstellungen und die Sensibilisierung für eine analoge Redeweise von Gott kann dann in der Mittelstufe weitergehend entfaltet werden. Gleichzeitig kann aber auch die Auseinandersetzung mit der bedrohlichen Seite des göttlichen Zorns, dessen Erfahrungen beispielsweise in den Psalmen oder bei den Propheten erkennbar wird, dazu befähigen, die Ambivalenz dieser Art der Gottesrede erläutern und ihre Tragfähigkeit beurteilen zu können. Damit geht nicht zuletzt einher, dass Schülerinnen und Schüler lebenstragende Verweise auf den „Zorn Gottes“ im Wirken Jesu von fundamentalistischen Instrumentalsierungen der Rede vom „göttlichen Zorn“ begründet abgrenzen können. Gerade hier zeigt sich, dass bei der 233
234
235
Dieses geflügelte Zitat wird Karl Rahner zugesprochen, leider konnte die konkrete Fundstelle nicht ausfindig gemacht werden. Vgl. hierzu vertiefend RAHNER, Erfahrungen eines katholischen Theologen, S. 106–107 bzw. die ausführlichen Überlegungen im Kapitel C.1 Vgl. hierzu auch NORDHOFEN, Corpora, S. 80.
282
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
Behandlung dieses Lernens Sach-. Urteils- und Handlungskompetenz aufeinander bezogen sind.
Drittens: Schülerinnen und Schüler sollen zunehmend mit der Vorstellung Gottes als „Gegenüber“ vertraut werden und die persönliche Bedeutung dieser Gottesvorstellung beurteilen können. Das bisher Gesagte ist im Sinne der Entwicklung religiöser Kompetenz sicherlich angemessen. Fragt man jedoch nach dem lebenstragenden Impuls dieser Erkenntnisse, geht es im Kern vielmehr auch darum, dass Lernende dazu angeregt und herausgefordert werden, sich auf die Vorstellung eines Gottes „in Beziehung“ einzulassen. So ist in der Auseinandersetzung mit der jüdisch-christlichen Tradition auch immer die existenzielle Anfrage impliziert, ob man diese Sinnperspektive eines zutiefst „persönlichen“ Gottes 236 und dem in Jesus offenbar gewordenen, heilvollen Beginn der Gottesherrschaft für sein Leben geltend machen kann und will. Diesbezüglich kann die Beschäftigung mit „Jesus und dem Zorn Gottes“ als Ausdruck eines engagierten, göttlichen Beziehungshandelns und damit wahrer, ernsthafter Anteilnahme dazu beitragen, sich in unterschiedlichen Lebensphasen mit der Frage nach dieser Beziehungshaftigkeit Gottes und den darin wurzelnden existenziellen Implikationen zu beschäftigen. Selbst wenn Schülerinnen und Schüler letztlich den Glauben an Gott verneinen oder sich für eine Vorstellung Gottes als abstrakte, überirdische Macht entscheiden, lernen sie so eine Alternative kennen, die ihren diesbezüglichen Denk- und Entscheidungsprozess unterstützt.
Viertens: Die Schülerinnen und Schüler sollen im Verlauf des schulischen Religionsunterrichts Gottesrede als möglichen Impulsgeber für das eigene Menschsein und Leben einschätzen und in ihrer diesbezüglichen Relevanz beurteilen können. Im Kern ist Gottesrede in der biblischen Offenbarung und damit auch in der jüdisch-christlichen Tradition niemals nur philosophische Spekulation. Sie will vielmehr Auskunft über die Beziehung Gottes zu den Menschen und (im Bewusstsein der Ambivalenzen des menschlichen Lebens) die menschliche Bestimmung geben. Wird den Schülerinnen und Schülern bewusst, dass die Bibel, auch fernab expliziter Weisungen und Verbote, lebensorientierende Impulse enthalten kann, können sie deren Bedeutsamkeit neu entdecken und erfahren. Die Auseinandersetzung mit „Jesus und dem Zorn Gottes“ kann diesen Prozess in besonderer Weise unterstützen, da sie hilft, Grenzen des Lebensfeindlichen zu markieren, destruktive Verhaltensweisen offenzulegen und insbesondere die Perspek-
236
Wie bereits im Rahmen der systematischen Reflexionen verdeutlicht, werden aktuell im Rahmen der Systematischen Theologie verschiedene Gotteskonzepte diskutiert.
3. Konkretisierung II – Kompetenzerwartungen
283
tive auf die lebenstragende Gottes- und Nächstenliebe zu weiten. Gerade bei diesem Thema wird deutlich, dass der Mensch frei und verantwortlich ist. Dies kann in unterschiedlichen Altersstufen immer wieder neue Einsichten eröffnen über Möglichkeiten des eigenen Handelns, des konstruktiven Umgangs mit der eigenen Leidenschaftlichkeit und eines verantwortungsbewussten Lebens. Dabei sollten die Schülerinnen und Schüler bereits in der Unterstufe in die Lage versetzt werden, insbesondere den im „Zorn Jesu“ zum Ausdruck gebrachten Maßstab der Barmherzigkeit als persönliches Orientierungsangebot zu bewerten. Gerade mit Blick darauf, dass sich die Schülerinnen und Schüler in der Mittelstufe mit der neuen Herausforderung des Erwachsenwerdens konfrontiert sehen, sollte aber grundsätzlich ausgelotet werden, inwieweit die Rede vom „Zorn Gottes“ wie auch der „Zorn Jesu“ Orientierung geben und bei der eigenen Identitätsbildung sowie verantwortungsbewussten Lebensgestaltung helfen können. Dabei ist, neben der Fundierung christlicher Ethik, vor allem die eschatologische Perspektive auf das göttliche Gericht und damit auch die Hoffnung auf die Sinnhaftigkeit moralischen Handelns ein Denkansatz, mit dem die Schülerinnen und Schülern bis hin in die Qualifikationsphase zunehmend vertraut gemacht werden sollten. Die vorliegenden Überlegungen bilden den zentralen Orientierungsrahmen, um einzelne, hier bereits skizzierte Kompetenzerwartungen weitergehend zu konkretisieren. Da angestrebt ist, dass die vorliegenden Überlegungen auch tatsächlich Eingang in die Unterrichtspraxis finden, wird darauf verzichtet, ein eigenständiges, von diesen aktuellen Vorgaben unabhängiges Curriculum zu dem Lerngegenstand „Jesus und der Zorn Gottes“ zu entwerfen. Vielmehr sollen die oben skizzierten leitenden Perspektiven Anwendung finden, um bestehende Kompetenzerwartungen zu profilieren und sie im Sinne des Globalzieles, der Ausbildung von religiöser Kompetenz, zu vernetzen. So soll zugleich einsichtig werden, dass eine Auseinandersetzung mit „Jesus und dem Zorn Gottes“ bereits heute integraler Bestandteil im Sinne bestehender Kompetenzvereinbarungen sein kann und sollte.
3.2
Inhaltsfelder und konkretisierte Kompetenzerwartungen für die Sekundarstufen I und II am Beispiel der Kernlehrpläne NRW für das Gymnasium
Im Nachfolgenden orientiere ich mich für die Sekundarstufe I an dem Kernlehrplan Katholische Religionslehre für das Gymnasium (G8), der – wie bereits im Kapitel D.1.2.2.2 deutlich geworden ist – Entsprechungen in den Lehrplänen aller
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
284
anderen Schulformen hat.237 Insofern ist trotz dieser Beschränkung sichergestellt, dass der vorliegende Lerngegenstand im katholischen Religionsunterricht verschiedener Schulformen in NRW und mit Blick auf die substanzielle Bedeutung der hier benannten Teilkompetenzen auch darüber hinaus gewinnbringend eingesetzt werden kann. Zugleich gilt es in Bezug auf das Gymnasium zu berücksichtigen, dass eine Verlängerung des achtjährig organisierten gymnasialen Bildungsganges (G8) um ein Jahr erfolgte, die Jahrgangsstufen 5 und 6 seit dem Schuljahr 2019/2020 also wieder nach einem „G9-Lehrplan“ unterrichtet werden. Nachfolgend werden einzelne Formulierung der Kompetenzerwartungen aus den Kernlehrplänen in Teilen wörtlich übernommen, vor dem Hintergrund der Vernetzung mit dem vorliegenden Thema aber sachbezogen modifiziert. Diese wörtlichen Textübernahmen werden, um die Lesbarkeit zu erleichtern, nicht in Anführungsstriche gesetzt, sondern kursiv hervorgehoben. Dabei werden keine Fußnoten gesetzt, sondern die Auffindbarkeit der jeweiligen Kompetenzerwartung des Lehrplans durch einen Verweis auf das Inhaltsfeld und die Seitenangabe am Ende sichergestellt. Handelt es sich um eine Erweiterung der bereits bestehenden Kompetenzerwartungen durch eigene Vorstellungen oder um eine Änderung, unterbleibt ein entsprechender Verweis und es wird nur das Inhaltsfeld angegeben.
3.2.1
Kompetenzerwartungen im Rahmen des achtjährig organisierten gymnasialen Bildungsgangs (Unter- und Mittelstufe)
Mit Blick auf seine inhaltliche Einordnung238 ist der vorliegende Lerngegenstand „Jesus und der Zorn Gottes“ zunächst primär den größeren Inhaltsfeldern 2 „Sprechen von und mit Gott“ (→ IF 2) und 4 „Jesus der Christus“ (→ IF 4) zuzuordnen. Da, wie bereits aufgezeigt, die Rede vom „Zorn Gottes“ zugleich bildhafter Ausdruck eines Beziehungsgeschehens und der Anteilnahme Gottes am Handeln des Menschen ist, tritt hierzu (nicht zuletzt mit Blick auf ethische Implikationen) vor allem auch das Inhaltsfeld 1 „Menschsein in Freiheit und Verantwortung“ (→ IF 1). Davon ausgehend eröffnen sich dann Anknüpfungsmöglichkeiten zu allen anderen Inhaltsfeldern des Kernlehrplans: so zunächst logischerweise zum Inhaltsfeld 3 „Bibel als ‚Ur-kunde‘ des Glaubens an Gott“ (→ IF 3), zugleich aber 237
238
Mit Blick auf diese Anknüpfungsfähigkeit ist es auch sinnvoll die Kompetenzerwartungen für die Jahrgangsstufen 5 und 6 zu profilieren. Vgl. hierzu MSW NRW (Hrsg.), Kernlehrplan für das Gymnasium – Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen. Katholische Religionslehre [G8], S. 15–16. Nachfolgend wird in den Fußnoten (ohne den Zusatz ebd.) nur auf die entsprechenden Seitenzahlen im Lehrplan verwiesen.
3. Konkretisierung II – Kompetenzerwartungen
285
durch die Bezugnahme auf die das Handeln der Kirche normierende Verkündigung Jesu zu Inhaltsfeld 5 „Kirche als Nachfolgegemeinschaft“ (→ IF 5). Die dadurch eröffneten Perspektiven auf zentrale christliche Glaubensvorstellungen bilden zugleich die Grundlage für einen Dialog mit anderen religiösen Überzeugungen und damit zu Inhaltsfeld 6 „Weltreligionen und andere Wege der Sinn- und Heilssuche“ (→ IF 6). Auf die Erreichung entsprechender Kompetenzerwartungen kann dabei unterrichtspraktisch im Rahmen inhaltlich unterschiedlich akzentuierter Reihenthemen hingearbeitet werden. Primär empfiehlt sich in den Jahrgangsstufen 5/6 jedoch eine vorrangige Didaktisierung des vorliegenden Lerngegenstandes im Kontext der Auseinandersetzung mit der Botschaft und dem Wirken Jesu Christi, also Inhaltsfeld 4. So wird zunächst sichergestellt, dass die Rede vom „Zorn Gottes“ hermeneutisch im Rahmen der lebenstragenden „Reich-GottesVerkündigung“ Jesu verstanden und durch diese kontextualisiert wird. Diesbezüglich kann die Auseinandersetzung mit Jesus und seinem Handeln als Verständniskatalysator fungieren: Der „Zorn Jesu“ eröffnet nämlich bereits die Perspektive auf ein engagiertes Beziehungshandeln, das sich aus Sorge um das Heil seiner Mitmenschen gegen lebensfeindliche Verhaltensweisen stellt, aufrütteln und verändern will. Gerade dies kann bei nachfolgenden theologischen Deutungen der Gleichniserzählungen Jesu eine Sensibilität dafür schaffen, konstruktiv-lebenstragende Verständnisse der Zornesmetapher von destruktiven Deutungsangeboten abzugrenzen. Hierin liegt somit ein zentraler Schritt, die Schülerinnen und Schüler zu einer Denkbewegung anzuregen, bei der die (wie im letzten Kapitel als notwendig herausgearbeitete) beziehungsmetaphorische Tiefendimension und die daraus resultierenden Grenzen anthropomorph-personaler Rede von Gott ausgelotet werden.239 Die nachfolgend konkretisierten Kompetenzerwartungen orientieren sich dabei an den entsprechenden Vorgaben des Kernlehrplans. 240 Mitunter werden Kompetenzerwartungen des Lehrplans übernommen, die zwar nicht unmittelbar themenspezifisch sind, ohne deren Nennung jedoch nachfolgende Konkretisierungen nicht nachvollziehbar wären. Beginnend also mit Inhaltsfeld 4 erge-
239
240
Dadurch ergeben sich auch Bezugsmöglichkeiten zu der im Kernlehrplan Sek I hervorgehobenen Kompetenzerwartung, dass die Lernenden „biblische Psalmen als Ausdruck menschlicher Erfahrungen im Glauben an Gott [deuten]“ (S. 20). So ist gerade in den Psalmen die Anrufung des „Zornes Gottes“ als Hoffnung auf göttliche Gerechtigkeit im Zeichen der eigenen Ohnmachtserfahrung zentral. Da dies jedoch eine sehr komplexe Denkbewegung erfordert, erscheint mir der primäre Zugang über das Wirken Jesu zunächst zielführender, um dann auf die theologische Dimension dieser metaphorischen Redeweise hinzuleiten. Vgl. S. 16–22 für die Jahrgangsstufen 5/6 bzw. S. 23–29 für die Jahrgangsstufen 7–9. Die nachfolgende Darstellung erfolgt wie eingangs skizziert.
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
286
ben sich für die Jahrgangsstufen 5/6 die nachfolgenden, konkretisierten Kompetenzerwartungen: „Jesus und der Zorn Gottes“ – Konkretisierte Kompetenzerwartungen bis zum Ende der Erprobungsstufe (G8)
Die Schülerinnen und Schüler •
deuten den „Zorn Jesu“ im Kontext seiner Botschaft von der Gottesherrschaft als Ausdruck einer gerechten Empörung gegen das Lebensfeindliche und damit als engagierte Anteilnahme für das Heil der Menschen (IF 4);
•
beurteilen am Beispiel des „Zornes Jesu“ als Grenzmarker für das Lebensfeindliche, inwiefern Jesus Christus für Menschen heute Bedeutung haben und Orientierung sein kann (IF 4, S. 21);
•
erläutern an neutestamentlichen Beispielen, in denen das Grundmotiv der engagierten Liebe Gottes deutlich wird, wie Jesus von Gott spricht (IF 4, S. 21); deuten dabei die bildhafte Rede Jesu am Beispiel der Parabel vom
•
Hochzeitsmahl (besonders 14,16–23/24241) als möglichen Verweis auf einen beziehungssuchenden Gott, den die diesbezügliche menschliche Verweigerung zornig-betroffen macht und der zugleich unermüdlich für das Heil der Menschen eintritt (IF 4, S. 21); • • •
•
•
benennen mit Blick auf diese Gottesvorstellungen Merkmale, die die Zugehörigkeit Jesu zum Judentum verdeutlichen (IF 4, S. 21); erörtern dabei in Ansätzen Ursachen für Konflikte, die Worte und Taten Jesu bei den Menschen seiner Zeit auslösten (IF 4, S. 21); erläutern am Beispiel der ambivalent besetzten menschlichen „Zorneserfahrung“ in ersten Ansätzen Möglichkeiten und Schwierigkeiten, Gott sprachlich darzustellen (IF 2, S. 19); erläutern mit Blick auf die neutestamentliche Rede vom „Zorn Gottes“ und dem „Zorn Jesu“, wodurch das Gelingen menschlichen Lebens gefährdet oder gefördert wird (IF 1, S. 19); beurteilen auf dieser Grundlage menschliche Verhaltensweisen vor dem Hintergrund des Glaubens an Gott als den Freund des Lebens (IF 1, S. 19);
•
241
bewerten dabei besonders die Notwendigkeit von Barmherzigkeit für ihre persönliche Lebensgestaltung (IF 1).
Je nachdem, welcher exegetischen Position man folgt, ist es möglich, die Parabel bis Vers 23 oder Vers 24 zu fassen.
3. Konkretisierung II – Kompetenzerwartungen
287
Daran anschließend ergeben sich so für die Jahrgangsstufen 7 bis 9 die nachfolgenden Kompetenzerwartungen: „Jesus und der Zorn Gottes“ – Konkretisierte Kompetenzerwartungen bis zum Ende der Sekundarstufe I (G8):
Die Schülerinnen und Schüler • erläutern, unter anderem mit Blick auf die Rede vom „Zorn Gottes“ und von der „Liebe Gottes“, Gottesbilder des Alten und Neuen Testaments als Ausdruck unterschiedlicher Glaubenserfahrung und Weltdeutung (IF 2, S. 26); • deuten, unter Berücksichtigung der Rede vom „Zorn Gottes“ als Ausdruck des Einklagens göttlicher Gerechtigkeit, prophetische Texte des Alten Testamentes in ihrem politischen und historischen Kontext (IF 2, S. 26); • erläutern an Verweisen auf den „Zorn Gottes“ in der Verkündigung Jesu und weiteren ausgewählten Bibelstellen (z. B. bei Paulus) zentrale Merkmale des neutestamentlichen Sprechens von und mit Gott (IF 2, S. 26); • •
unterscheiden in Bezug auf die personale Rede vom „Zorn Gottes“ zwischen metaphorischer und begrifflicher Sprache (IF 3, S. 27); erläutern Jesu Wirken als Zeichen des angebrochenen Gottesreiches,
indem sie hierin enthaltene Verweise auf den „Zorn Gottes“ als Ausdruck einer engagierten „Liebe Gottes“ und seiner besonderen Solidarität mit den Armen242 deuten und differenziert in den Gesamtzusammenhang seiner Botschaft einordnen (IF 4, S. 27);
•
deuten Verweise auf den „Zorn Gottes“ im Wirken Jesu als Ausdruck seines authentischen Menschseins und zugleich als Ausdruck einzigartiger Gottesunmittelbarkeit (IF 2, IF 3);
•
beurteilen auf dieser Grundlage die persönliche Bedeutung, die Jesus für das eigene Leben haben kann;
•
identifizieren und erläutern, besonders in der Auseinandersetzung mit Mt 18,23–35, Erfahrungen von Endlichkeit, Schuld und Sünde sowie Möglichkeiten der Versöhnung und der Hoffnung auf Vollendung (IF 1, S. 25); unterscheiden, mit Blick auf die Rede vom „Zorn Gottes“ prägende
•
Frage nach dem verantwortlichen Umgang mit menschlicher Freiheit, lebensförderliche Sinnangebote von lebensfeindlichen (IF 1, S. 25);
242
Vgl. hierzu zentral KOSCH, Zärtlichkeit und Zorn – Der Gott Jesu, S. 52–53.
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
288 •
•
3.2.2
bewerten, mit Blick auf die lebensfeindliche Instrumentalisierung der Rede vom „göttlichen Zorn“ religiöse Vorurteile und fundamentalistische Positionen (IF 6, S. 29); beurteilen in diesem Zusammenhang die Aussageabsicht und Angemessenheit unterschiedlicher Gottesvorstellungen (IF 2, S. 26).
Kompetenzerwartungen im Rahmen des neunjährig organisierten gymnasialen Bildungsgangs (Unter- und Mittelstufe)
Der nunmehr seit dem Schuljahr 2019/20 geltende Kernlehrplan ermöglicht es dabei, unter Einbezug kleinerer Modifizierungen, die im vorangegangenen Kapitel skizzierten didaktischen Überlegungen zur Kompetenzentwicklung beizubehalten. So wurden die ersten sechs Inhaltsfelder (siehe oben) zwar thematisch erweitert, sie sind jedoch substanziell erhalten geblieben. 243 Weitergehende Vertiefungsmöglichkeiten entstehen vor allem dadurch, dass mit dem Inhaltsfeld 7 „Religion in einer pluralen Gesellschaft“ neue Dialogräume zwischen dem christlichen Glauben und der vielschichtigen Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler eröffnet werden können. Insgesamt ergeben sich so für die Sekundarstufe I im Rahmen des neunjährig organisierten gymnasialen Bildungsganges die nachfolgend den neuen Vorgaben angepassten Kompetenzerwartungen244: „Jesus und der Zorn Gottes“ – Konkretisierte Kompetenzerwartungen bis zum Ende der Erprobungsstufe (G9)
Die Schülerinnen und Schüler
243
244
Vgl. MSB NRW (Hrsg.), Kernlehrplan für die Sekundarstufe I. Gymnasium in NordrheinWestfalen. Katholische Religionslehre [G9], S. 16–17. Die Reihenfolge hat sich jedoch verändert: Das ursprüngliche Inhaltsfeld 3 „Bibel als ‚Ur-Kunde‘ des Glaubens“ ist jetzt Inhaltsfeld 5. Inhaltsfeld 3 ist nunmehr das ursprüngliche Inhaltsfeld 4 „Jesus, der Christus“, wohingegen Inhaltsfeld 4 jetzt den ekklesiologischen Schwerpunkt „Kirche als Nachfolgegemeinschaft“ bildet. Vgl. für die Erprobungsstufe S. 18–25 bzw. für die Mittelstufe S. 26–34 im oben benannten Kernlehrplan. Zur schnelleren Auffindbarkeit wird zudem auf die Kompetenznummerierung der nunmehr verfügbaren „Checkliste“ für die Kompetenzerwartungen verwiesen: QUA-LIS NRW, Checkliste – Kompetenzerwartungen am Ende der Jahrgangsstufe 6, online abrufbar unter: https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/front_content.php ?idcat=4942 (Stand: 27.06.2020).
3. Konkretisierung II – Kompetenzerwartungen
289
•
deuten den „Zorn Jesu“ im Kontext seiner Botschaft von der Gottesherrschaft als Ausdruck einer gerechten Empörung gegen das Lebensfeindliche und damit als engagierte Anteilnahme für das Heil der Menschen (IF 3)245;
•
erklären so vor dem gesellschaftlichen, religiösen und politischen Hintergrund seiner Zeit Jesu Zuwendung besonders zu den Armen und Ausgegrenzten als Ausdruck der Liebe Gottes zu den Menschen (IF 3, S. 22; K 17);
•
deuten die religiöse Sprache Jesu am Beispiel der Parabel vom Hochzeitsmahl (Lk 14,16–23/24) als möglichen Verweis auf einen beziehungssuchenden Gott, den die diesbezügliche menschliche Verweigerung zornig-betroffen macht und der zugleich unermüdlich für das Heil der Menschen eintritt (tendenziell IF 2, IF 3; tendenziell SK 7246);
•
erläutern auf dieser und weiteren Grundlagen (z. B. Mk 3,1–5) am Leben und Wirken Jesu das biblische Grundmotiv der Zuwendung und engagierten Liebe Gottes zu den Menschen (IF 5, S. 23; K 38); zeigen durch die Bewusstmachung hierin deutlich werdender Gottesvorstellungen die Zugehörigkeit Jesu zum Judentum auf (IF 3, S. 21; K
•
14); •
•
245
246 247
prüfen mit Blick auf lebenstragende und zerstörerische Deutungen der Rede vom „Zorn Gottes“ verschiedene Bilder und Symbole für
Gott im Hinblick auf ihre mögliche Bedeutung für den Glauben von Menschen (IF 2, S. 21; K 12); erläutern mit Blick auf die neutestamentliche Rede vom „Zorn Gottes“ und „Zorn Jesu“, wodurch das Gelingen menschlichen Lebens gefährdet oder gefördert wird 247 (IF 1);
•
bewerten dabei die Notwendigkeit von Barmherzigkeit für ihre persönliche Lebensgestaltung (IF 1);
•
erörtern auf dieser Grundlage in Ansätzen die Bedeutung der Hoffnungsbotschaft Jesu für Menschen heute (IF 3, S. 22; K 19);
Das Kapitel des Kernlehrplans sieht im Rahmen von Inhaltsfeld 3 den Schwerpunkt „Jesu Zuwendung zu den Menschen vor dem Hintergrund seiner Zeit“ (S. 21) vor. Mit Blick darauf scheint die in der Kompetenzerwartung vorgeschlagene, inhaltliche Akzentuierung umso notwendiger. Im Original „[…] deuten religiöse Sprache und Zeichen an Beispielen“ (S. 18). Übernahme aus den oben skizzierten Kompetenzerwartungen des Kernlehrplans für G8 (hier S. 19).
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
290 •
erörtern, ausgehend von den hieraus gewonnenen Impulsen, bezogen auf ihren Alltag Möglichkeiten eines Engagements für eine gerechtere und menschlichere Welt vor dem Hintergrund des christlichen Menschenbildes (IF 1, S. 20; K 4).
„Jesus und der Zorn Gottes“ – Konkretisierte Kompetenzerwartungen bis zum Ende der Sekundarstufe I (G9)
Die Schülerinnen und Schüler • zeigen, unter anderem durch die Interpretation verschiedener Beispiele biblischer Rede vom „Zorn Gottes“, auf, dass der Glaube an die Gegenwart Gottes das Spezifikum des jüdisch-christlichen Gottesverständnisses ist (IF 2, S. 29; K 13); • erläutern, insbesondere mit Blick auf Verweise auf den „Zorn Gottes“, den Anspruch von Prophetinnen bzw. Propheten, in ihrer Kritik für Gottes Gerechtigkeit einzustehen (IF 2, S. 29; K 16); • erläutern Jesu Wirken als Zeichen des angebrochenen Gottesreiches, indem sie seinen Zorn und Verweise auf den „Zorn Gottes“ als Ausdruck einer aufrichtigen sowie engagierten „Liebe Gottes“ und seiner besonderen Solidarität mit den Armen deuten (IF 4)248;
•
erläutern mit Blick auf die theologische Interpretation entsprechender Parabeln (z. B. Mt 18,23–34; Mt 22,1–14 par. Lk 14,16–24) Jesu Rede vom Reich Gottes als Verweis auf ein gegenwärtiges und eschatologisches Beziehungsgeschehen (IF 3, S. 30; in Anlehnung an K 19249);
•
deuten Verweise auf den „Zorn Gottes“ im Wirken Jesu als Ausdruck seines authentischen Menschseins und zugleich als Ausdruck einzigartiger Gottesunmittelbarkeit (IF 2, IF 3)250;
•
identifizieren und erläutern in der Auseinandersetzung mit Mt 18,23–35 Erfahrungen von Abhängigkeit bzw. Unfreiheit, Schuld und Scheitern sowie die Möglichkeit der Versöhnung und des Neuanfangs (IF 1, S. 28; K 3);
•
248 249
250
erläutern in diesem Zusammenhang in ersten Ansätzen Grundgedanken biblisch-christlicher Ethik, die auf ein Leben in Freiheit und Verantwortung zielt (IF 1, S. 28; K 2);
Übernahme aus den Kompetenzerwartungen des Kernlehrplans G8 (hier S. 27). Die Kompetenzerwartung ist im Lehrplan weiter gefasst: „Die Schülerinnen und Schüler erläutern an ausgewählten Gleichnissen, Wundererzählungen und Auszügen aus der Bergpredigt Jesu Rede vom Reich Gottes, […].“ Hier als Teilaspekt der vom Lehrplan geforderten Fähigkeit ausführen zu können, „dass die Trinität grundlegend für das christliche Gottesverständnis ist“ (S. 29).
3. Konkretisierung II – Kompetenzerwartungen • •
•
•
•
291
erörtern am Beispiel des „zornigen Jesus“ die Relevanz von Leitbildern für die Entwicklung der eigenen Identität (IF 1, S. 29; K 8); reflektieren die Bedeutung der im „Zorn Jesu“ und „Zorn Gottes“ geforderten Neuorientierung aus gelebter Barmherzigkeit im Prozess eigener ethischer Urteilsfindung (tendenziell IF 1, S. 27; UK 2251); beschreiben mit Blick auf die ambivalenten Interpretationsmöglichkeiten und Verwendungskontexte der Rede vom „Zorn Gottes“ mögliche Schwierigkeiten im Umgang mit biblischen Texten in heutiger Zeit (IF 5, S. 32; K 41); unterscheiden religiösen Fundamentalismus von religiös verbrämtem Extremismus und identifizieren am Beispiel der Instrumentalisierung der Rede vom „göttlichen Zorn“ entsprechende Erscheinungsformen in der Gegenwart (IF 7; S. 34; K 63); beurteilen in diesem Zusammenhang mögliche Auswirkungen religiös-fundamentalistischer und religiös verbrämter extremistischer Strömungen auf das individuelle und gesellschaftliche Leben (IF 7, S. 34; K 67).
3.2.3
Kompetenzerwartungen für die Sekundarstufe II
Die bereits die Sekundarstufe I bestimmenden Inhaltsfelder werden, trotz einzelner Neuakzentuierungen, im Rahmen der Sekundarstufe II größtenteils fortgeführt, wodurch sich ähnliche Thematisierungsmöglichkeiten des vorliegenden Lerngegenstandes ergeben.252 So ist dies besonders im Rahmen von Inhaltsfeld 2 „Christliche Antworten auf die Gottesfrage“ (→ IF 2) wie auch in dem für die Qualifikationsphase zentralen Inhaltsfeld 3 „Das Zeugnis vom Zuspruch und Anspruch Jesu Christi“ (→ IF 3) möglich. Darüber hinaus bestehen auch hier Bezugsmöglichkeiten zum anthropologisch fundierten Inhaltsfeld 1 „Der Mensch in christlicher Perspektive“ (→ IF 1), zum nunmehr die ethische Dimension eigens fokussierenden Inhaltsfeld 5 „Verantwortliches Handeln aus christlicher Motivation“ (→ IF 5) wie auch dem ekklesiologisch akzentuierten Inhaltsfeld 4 „Kirche in ihrem Anspruch und Auftrag“ (→ IF 4). Neue Chancen zur Erweiterung der Sachkompetenz eröffnen sich vor allem dadurch, dass mit dem Inhaltsfeld 6 „Die christliche Hoffnung auf Vollendung“ (→ IF 6) der eschatologischen Dimension der christlichen Verkündigung ein höherer Stellenwert zugespro-
251
252
Unter den allgemeinen Kompetenzerwartungen wird hier auf die „Bedeutung grundlegender christlicher Positionen und Werte“ (S. 27) verwiesen. Vgl. MSW NRW (Hrsg.), Kernlehrplan für die Sekundarstufe II. Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Katholische Religionslehre, S. 18–19. Nachfolgend wird nur auf die entsprechenden Seitenzahlen (ohne den Zusatz ebd.) verwiesen.
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
292
chen wird, innerhalb dessen auch die Rede vom „Zorn Gottes“ vertiefend behandelt werden kann. Gerade in der Qualifikationsphase, der sowohl das christologische als auch das eben benannte eschatologische Inhaltsfeld zugeordnet wird, ist es also möglich, den vorliegenden Lerngegenstand „Jesus und der Zorn Gottes“ in verschiedenen Halbjahren wiederholt aufzugreifen, unter verschiedenen Akzentsetzungen zu fokussieren und so einen inhaltlichen Rahmen zu bilden. Daraus ergeben sich für den Grundkurs Katholische Religionslehre 253 die nachfolgenden Kompetenzerwartungen254 (kursive Hervorhebungen kennzeichnen wörtliche Textübernahmen): „Jesus und der Zorn Gottes“ – Kompetenzerwartungen bis zum Abschluss der Qualifikationsphase
Die Schülerinnen und Schüler • entfalten zentrale Aussagen des jüdisch-christlichen Gottesverständnisses mit Blick auf die Rede vom „Zorn Gottes“ als Verweis auf die persönliche Anteilnahme Gottes am Schicksal seiner Schöpfung (IF 2, S. 27255);
•
erläutern das von Jesus gelebte und gelehrte Gottesverständnis als Verweis auf eine aufrichtige und engagierte Liebe Gottes, die zum neuen Leben befähigt, aber auch zum verantwortlichen Gebrauch der eigenen Freiheit mahnt (IF 2, S. 28; zugleich in der hier vorgeschlagenen Akzentuierung auch IF 3, 1 u. 5);
•
erläutern Verweise auf den „Zorn Gottes“ im Wirken Jesu im Hinblick auf eine Solidarität Gottes mit den „ungerecht Leidenden“ 256 (IF 3);
•
erörtern diese theologische Position zur Theodizeefrage (IF 2, S. 28); erläutern mit Blick auf Verweise auf den „Zorn Gottes“ die Schwierigkeit einer angemessenen Rede von Gott (IF 2, S. 27) und bewerten daran und an weiteren Beispielen Möglichkeiten und Grenzen des Sprechens vom Transzendenten (IF 2; UK 1, S. 25);
•
253
254 255
256
Da an staatlichen Schulen nur Grundkurse Religion eingerichtet werden, wird hierauf der Fokus gelegt. Die Kompetenzerwartungen sind aber so formuliert, dass sie auch ermöglichen, das jeweils höhere inhaltliche Niveau im Leistungskurs zu integrieren. Vgl. für den Grundkurs S. 24–31 bzw. für den Leistungskurs S. 31–40. Der Lehrplan konkretisiert dies mit Blick auf die Aspekte „Gott als Befreier, als der ganz Andere, als der Unverfügbare, als Bundespartner“ (S. 27; im Original eingeklammert). METZ, Theodizee-empfindliche Gottesrede, S. 82; vgl. weiterführend auch KOSCH, Zärtlichkeit und Zorn – Der Gott Jesu, S. 52–53.
3. Konkretisierung II – Kompetenzerwartungen •
293
erläutern, u. a. mit Blick auf Mt 18,23–35, den Zuspruch und Anspruch der Reich-Gottes-Botschaft Jesu257 unter dem Gesichtspunkt der Aufforderung zu einer existenziellen Neuorientierung in Barmherzigkeit und Vergebungsbereitschaft (IF 3);
•
•
•
•
•
stellen mit Blick auf Verweise auf den „Zorn Gottes“ im Wirken Jesu den Zusammenhang von Tat und Wort in der Verkündigung Jesu an ausgewählten biblischen Beispielen dar (IF 3; S. 28); erläutern am Beispiel des „Zornes Jesu“ als Ausdruck seines ganzen Menschseins und zugleich Widerhalls des göttlichen Zorns das Bekenntnis zum Mensch gewordenen Gott (IF 3, S. 28); beurteilen in diesem Zusammenhang unterschiedliche Deutungen des Todes Jesu im Hinblick auf das zugrundeliegende Gottes- und Menschenbild (IF 3, S. 29); erläutern mit Blick auf den hierin zum Ausdruck gebrachten Glauben an den Anbruch der Herrschaft Gottes als Gabe und Aufgabe die mögliche Bedeutung christlicher Glaubensaussagen für die persönliche Suche nach Heil und Vollendung (IF 1, S. 27); analysieren, mit Blick auf Verweise auf den „Zorn Gottes“ im Ersten Testament, in der Verkündigung Jesu und weiteren frühchristlichen Texten, theologische Deutungen258 der Bilder von Gericht und Voll-
•
endung im Hinblick auf das zugrunde liegende Gottes- und Menschenbild (IF 6, S. 31); erörtern hieran wie auch an weiteren eschatologischen Bildern das Problem einer Darstellung des Undarstellbaren (IF 6, S. 31).
Im Vergleich zur Sekundarstufe I ist mit Blick auf die Kompetenzentwicklung vor allem eine größere methodische und sachliche Komplexität anzustreben, beispielsweise, indem man bei der Parabelanalyse verschiedene exegetische Methoden anwendet oder Auslegungsansätze kennenlernt und ihre Tragfähigkeit erörtert. Auch die Frage nach der Angemessenheit anthropomorpher bzw. im Kern personaler Gottesrede sollte so in einen komplexeren Diskurs über verschiedene Gotteskonzepte und Modelle der Beschreibung der „Gott-Welt-Bezie-
257
258
Die diesbezügliche Kompetenzerwartung des Lehrplans wurde modifiziert. Hier wird ursprünglich die Fähigkeit erwartet, den „Zuspruch und Anspruch der Reich-Gottes-Botschaft Jesu vor dem Hintergrund des sozialen, politischen und religiösen Kontextes [zu erläutern]“ (S. 28). Im Lehrplan wird konkreter von „traditionellen und zeitgenössischen theologische(n) Deutungen“ (S. 31) gesprochen. Die diesbezügliche Auseinandersetzung mit entsprechenden biblischen Bezugstexten ist jedoch im Sinne der eigenen theologischen Urteilsbildung unabdingbar.
294
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
hung“ eingebettet sein. Zudem sollte der stärkere Fokus auf der eschatologischen Perspektive dazu genutzt werden, um entsprechende Gerichtsbilder und -visionen auf ihre Angemessenheit und Funktion hin zu befragen. Diesbezüglich sollten vor allem auch systematisch-theologische Positionen bezüglich der Frage einbezogen werden, inwiefern die Gerichtsvorstellung noch heute lebenstragende Impulse enthält. Im Sinne des Spiralcurriculums und einer gestuften Kompetenzentwicklung muss berücksichtigt werden, dass ein unabdingbarer Kernbestand die religiöse Bildung fundiert, der dann im Zuge der Sekundarstufe I und II stetig ausgebaut und erweitert wird. Im Kern geht es so um die eingangs skizzierten Denk- und Entwicklungsprozesse, zu denen das vorliegende Thema anregen soll, um so einen nachhaltigen Beitrag zur Entwicklung von religiöser Kompetenz zu leisten. Dafür ist nunmehr die konkrete Gestaltung des Unterrichts in den Blick zu nehmen.
4.
Konkretisierung III – Lernwege und Unterrichtsentwürfe
Das vorliegende Kapitel konkretisiert die bereits erfolgten Schritte der Elementarisierung mit Blick auf die angestrebten elementaren Lernformen hin zur Skizzierung von konkreten Unterrichtsbeispielen. Da diese nur exemplarisch erfolgen kann, soll zuvor deutlich gemacht werden, welches grundsätzliche bibeldidaktische Arrangement für die Ermöglichung vielseitiger Lernprozesse zielführend ist. Wenn insgesamt von „Lernwegen“ gesprochen wird, ist dabei vor allem die Frage Hans Mendls maßgebend: „Mit welchen didaktischen Arrangements
kann ein permanenter dialogischer Lernprozess zwischen den Schülerinnen und Schülern und dem Gegenstand inszeniert und wachgehalten werden?“259
4.1
Sinnstiftende Lehr- und Lernprozesse ermöglichen! – Ein Plädoyer für die Orientierung an der interaktionalen Bibelauslegung
Die Frage nach den geeigneten Formen des Lehrens und Lernens soll hier zunächst grundsätzlich in den Blick genommen werden, muss dann aber in der Didaktisierung eines spezifischen Themas wiederum konkretisiert werden. Von
259
MENDL, Religionsdidaktik kompakt, S. 233 (Hervorhebung im Original).
4. Konkretisierung III – Lernwege und Unterrichtsentwürfe
295
der Logik des Sachgegenstandes her ist damit zunächst die Frage nach dem bibeldidaktischen Zugriff zu klären. Insgesamt ist es dabei weniger entscheidend, welchen bibeldidaktischen Ansatz man selbst favorisiert. Vielmehr geht es, den Grundüberlegungen zeitgemäßer Bibeldidaktik folgend, darum, a) wodurch wieder eine intensive Begegnung zwischen Schülerinnen sowie Schülern und der biblischen Offenbarung angeregt werden kann, b) bei der sowohl die jeweiligen biblischen Texte mit ihren Sinndimensionen angemessen zur Geltung gebracht werden, c) als auch die Lernenden sich mit ihrer Lebenswelt einbringen können und lebensrelevante Impulse entdecken können.260 Eine Auslegungsmethode, die diesem Anspruch gerecht werden und dabei zugleich eine für die flexible Unterrichtsgestaltung notwendige methodische Offenheit wahren kann, ist die interaktionale Bibelauslegung. Um dies nachzuvollziehen, sollen deswegen zunächst Kennzeichen dieses Zugangs zu biblischen Texten skizziert werden. 261
4.1.1
Zum Profil der interaktionalen Bibelauslegung
Eine erste Annäherung an das Profil der interaktionalen Bibelauslegung ist zunächst über den charakterisierenden Begriff der „Interaktion“ möglich. Interaktion findet nach Horst Klaus Berg bei dieser Form der Bibelarbeit in verschiedener Weise statt: zunächst als Begegnung des einzelnen Lesers und der einzelnen Leserin wie auch einer gesamten Gruppe mit dem biblischen Text, gleichzeitig aber auch im Rahmen des Handlungsprozesses zwischen den Gruppenmitgliedern.262 Gerade die für den Auslegungsprozess konstitutive „ gemeinsame Suche nach der Wahrheit“263 ist nach Sigrid Berg als ein entscheidendes Kriterium der interaktionalen Bibelauslegung anzusehen.264 Der Bibeltext ist in diesem Verständnis somit nicht länger ein Untersuchungsobjekt, aus dem eine unumstößliche, objektive Deutung herausgearbeitet werden soll. Vielmehr tritt er dem Leser und der Leserin, wie Sigrid Berg es nennt, als ein „Gesprächspartner“ entgegen, dessen persönliche und lebensbedeutsame Wahrheiten im Dialog erfahrbar 260
261
262
263 264
Vgl. hierzu auch SCHAMBECK, Art. Bibeldidaktik, Grundfragen, Einleitungsteil/1. (S. 1–2 in der PDF-Version); Artikel online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stich wort/100038/ (Stand: 27.06.2020). Das nachfolgende Kapitel ist eine gekürzte Version der Ausführungen in meiner Zweiten Staatsexamensarbeit: Vgl. WUTTKE, Wirksamkeit und Grenzen der interaktionalen Bibelauslegung, S. 8–9. Die Gedanken und Ausführungen werden hier erneut wiedergegeben, um sie nachfolgend mit Blick auf das kompetenzorientierte Lernen weiterzuentwickeln. So S. und H. K. Berg: Vgl. L EHNEN, Interview mit Sigrid und Horst Klaus Berg, S. 355; weiterhin vgl. KROPAČ, Biblisches Lernen, S. 423. S. BERG, Kreative Bibelarbeit in Gruppen, S. 11 (Hervorhebung im Original). Vgl. zu weiteren Kriterien ebd., S. 10–12.
296
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
werden sollen.265 Neben der Möglichkeit, dass sich Gruppenmitglieder mit ihren Erfahrungen dem Text annähern, geht es somit gleichzeitig darum, bereits im Bibeltext vorfindliche Erfahrungen zu erschließen.266 Hierin deutet sich sicherlich eine gewisse Nähe zum religionsdidaktischen Prinzip der Korrelation an. Julia Lehnen weist jedoch diesbezüglich auf eine zurückhaltendere Zielsetzung der interaktionalen Bibelauslegung hin: „Es geht nicht mehr um die Pole Tradition und Situation, sondern um Text und Subjekt.“267 So ist dieses Konzept der Bibelarbeit vor allem durch eine „korrelative Bescheidenheit“268 geprägt: Ziel ist es, durch einen spannungsreichen Dialog zwischen beiden oben genannten Größen, vor allem Korrelationsprozesse zu ermöglichen, ohne dass diese zwangsweise hergestellt werden. 269 Damit der biblische Text hierbei auch als „fremde Stimme“270, die einem neue Einsichten ermöglicht, erfahren werden kann, sehen fast alle Vertreter der interaktionalen Auslegung eine analytische Texterschließung zur Distanzierung als unerlässlich an.271 Gleichzeitig bleibt die Bibelarbeit jedoch nicht auf einen rein analytisch-verstandesmäßigen Zugang beschränkt, sondern sie soll vielmehr durch eine ganzheitlich-kreative Auseinandersetzung gekennzeichnet sein.272 Der Sinn liegt darin, dass durch diese Inanspruchnahme des ganzen Menschen eine intensivere und tiefere Begegnung mit dem biblischen Text ermöglicht werden soll. 273 Bei der Frage, wie die interaktionale Bibelauslegung konkret umgesetzt werden soll, sehen fast alle Vertreter die Aufteilung der Bibelarbeit in einzelne Schritte vor. Relativ häufig wird diese dann in drei konkrete Phasen unterteilt. 274 Am Anfang steht zumeist ein Zugehen auf den Text bzw. eine erste Annäherung an diesen. Hierauf folgt eine Phase der distanzierenden Erarbeitung und Erschließung des Textes, um abschließend eine vertiefende Aneignung bzw. Verinnerlichung zu ermöglichen.275 Sigrid Berg charakterisiert diese Phasenfolge
265
266 267 268
269 270 271
272 273 274
275
Vgl. ebd., S. 11 (hier auch wörtlich zitierter Begriff); vertiefend siehe auch H. K. BERG, Ein Wort wie Feuer, S. 175–178/S. 186. Vgl. H. K. BERG, Ein Wort wie Feuer, S. 412–413. LEHNEN, Interaktionale Bibelauslegung im Religionsunterricht, S. 16. Formulierung übernommen von HILGER, Korrelationen entdecken und deuten, S. 349. Er verweist hier weiterführen auf R. Englert. Vgl. zu diesem Verständnis von Korrelation auch vertiefend ebd., S. 347–350. LEHNEN, Interaktionale Bibelauslegung im Religionsunterricht, S. 299. Vgl. ebd., S. 167–169 bzw. zusammenfassend S. 299. Auch die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf die Ergebnisse der Studie von J. Lehnen bzw. die von ihr systematisierten Kennzeichen der interaktionalen Bibelauslegung. Vgl. hierzu ebd., S. 299–300 bzw. zusammenfassend S. 313. Vgl. auch HECHT, Bibel erfahren, S. 11–12. Vgl. insgesamt LEHNEN , Interaktionale Bibelauslegung im Religionsunterricht, S. 164–167 bzw. zusammenfassend S. 298–299. Ebd., S. 164–167; weiterhin: KROPAČ, Biblisches Lernen, S. 431–432.
4. Konkretisierung III – Lernwege und Unterrichtsentwürfe
297
durch den Dreischritt von „Nähe – Distanz – Nähe“276 Hierbei ist man in Bezug auf die methodische Gestaltung der einzelnen Phasen bewusst nicht festgelegt, bzw. es besteht die Möglichkeit, vielseitige methodische Zugänge zu integrieren.277
4.1.2
Interaktionale Bibelauslegung und kompetenzorientiertes Lernen – Potenziale und Akzentuierungen
Dieses Plädoyer für eine grundsätzliche Orientierung am Lerngang der interaktionalen Bibelauslegung ist nicht dahingehend misszuverstehen, dass der Lerngegenstand „Jesus und der Zorn Gottes“ im Unterricht so alleine angemessen erschlossen werden kann oder wird. Dieses bibeldidaktische Konzept besitzt jedoch aufgrund seiner dialogischen Anlage und methodischen Offenheit das Potenzial, grundlegende Anliegen eines kompetenzorientierten Unterrichts und zeitgemäßer Bibeldidaktik zu integrieren.278 Dementsprechend gilt es herauszuarbeiten, inwiefern es im Sinne des vorliegenden Themas und eines kompetenzorientierten Lernens genutzt werden kann oder modifiziert werden muss. Die Anlage der interaktionalen Bibelauslegung ermöglicht es zunächst relevante „Anforderungssituationen“ 279 zu berücksichtigen bzw. entsprechende „Lernanlässe“280 zu schaffen, um so von Beginn an einen lebensbezogenen Dialog zwischen den Lernenden und dem Text anzubahnen. Dies entspricht auch dem Sachgegenstand bzw. den analysierten Bibeltexten, insbesondere den Parabeln, da sie existenzielle menschliche Erfahrungen aufgreifen und erzählerisch verdichten.281 Der Anspruch, Schülerinnen und Schüler als aktive Konstrukteure und Subjekte des Lernprozesses ernst zu nehmen282, wird dabei auf verschiedenen Ebe276
277 278
279
280
281
282
S. BERG, Kreative Bibelarbeit in Gruppen, S. 13; weiterhin H. K. BERG, Ein Wort wie Feuer, S. 178. Für methodische Beispiele siehe KROPAČ, Biblisches Lernen, S. 431–432. Auch U. Kropač orientiert sich bei der Phasierung biblischer Lernprozesse am Gang der interaktionalen Bibelauslegung (vgl. KROPAČ, Biblisches Lernen, S. 431–432). Ebenso weist die „Bibeltheologische Didaktik“ M. Schambecks große Schnittmengen und Verbindungsmöglichkeiten auf (vgl. zu diesem Konzept SCHAMBECK, Bibeltheologische Didaktik, S. 461– 468). Vgl. hierzu grundlegend OBST, Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen im Religionsunterricht, S. 178–196. Siehe weiterführend auch das Kapitel D.1.2.2.1. „Im Schema der hier vorgestellten Lernsequenz wird von Lernanlässen gesprochen, um deutlich zu machen, dass damit das Lernen der Schülerinnen und Schüler auf den Weg gebracht werden soll.“ (MICHALKE-LEICHT, Auf das Lernen kommt es an, S. 50). Vgl. den Aspekt des Schuldens/Schuldigwerdens und der Hoffnung auf Vergebung in Mt 18,23–35, wie auch das Bild des Mahls/Feierns als Ausdruck von Hoffnung auf versöhnte Gemeinschaft (besonders in Lk 14,16–23). Ebenso aber auch die durch Jesus aufgeworfene Frage nach dem Umgang mit den Mitmenschen und Schwächsten. Vgl. hierzu u. a. MICHALKE-LEICHT, Auf das Lernen kommt es an, S. 48–49.
298
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
nen gewährleistet. Zentral ist in diesem Zusammenhang, dass das vorliegende Konzept der Bibelauslegung darauf verzichtet, eine bereits vorab feststehende Deutung zu erheben oder nur rezeptiv nachzuvollziehen. Gerade der hierin implizierte Anspruch der eigenen Sinnstiftung korrespondiert mit der grundsätzlichen Forderung Mirjam Schambecks, „Schülerinnen und Schüler zu befähigen, eine eigene, verantwortete und begründete Position in Bezug auf biblische Texte einzunehmen“283. Dies kommt zugleich dem Charakter der für das Thema relevanten Evangelientexte entgegen, die eben unsere heutigen, allzu sehr von Harmoniebestreben geleiteten Vorstellungen durchbrechen und auf unterschiedliche Weise versuchen, eine aktive Reaktion der Rezipientenschaft einzufordern.284 Der intendierte, dialogische Auslegungsprozess ist von seiner Grundanlage her auf kooperative Lernformen angelegt und durch seine Phasierung offen für gemeinsame, individuelle, eigenverantwortlich wie auch instruktiv gestaltete Arbeitsprozesse. Dadurch wird es im Sinne des kompetenzorientierten Lernens und mit Blick auf eine jeweilige Lerngruppe ermöglicht, „die unterschiedlichen Lehr- und Lernformen in ein gut ausbalanciertes Verhältnis zu bringen“285. Die diesbezüglich leitende Perspektive der angestrebten Kompetenzentwicklung markiert zugleich den entscheidenden Punkt, an dem der Ansatz der interaktionalen Bibelauslegung geweitet werden muss. So gilt es über die einzelne Unterrichtssequenz oder Auslegung hinausgehend zu klären, welche längerfristigen Sach-, Methoden-, Urteils- und Handlungskompetenzen gefördert werden. In diesem Zusammenhang kommt, wie Vertreter eines kompetenzorientierten Religionsunterrichts zutreffend betonen, der Aufgabenkultur und Aufgabenkonzeption eine zentrale Bedeutung zu.286 Zugleich gilt es vor allem auf einer Metaebene den Lernprozess selbst und die persönliche Lernentwicklung
283 284
285
286
SCHAMBECK, Bibeltheologische Didaktik, S. 468. Zu denken ist hier an die entsprechenden Parabeln, deren Deutung noch heute mit Blick auf theologische Implikationen kontrovers diskutiert werden. Gleiches gilt auch für die vielseitigen Verweise auf das göttliche Gericht, die irritieren und zur Reflexion über die eigene Lebensausrichtung anregen. So (in Bezug auf die Gestaltung kompetenzorientierter Lernwege) MÖLLER, Kompetenzorientierte Unterrichtsplanung, S. 66. W. Michalke-Leicht betont zu Recht die grundsätzlich hohe Bedeutung der individuellen Gestaltung von Lernprozessen im kompetenzorientierten Religionsunterricht (MICHALKE-LEICHT, Auf das Lernen kommt es an, S. 53). Berücksichtigt werden muss jedoch, dass eine diesbezügliche Kompetenz erst entwickelt werden muss. Vgl. zu diesbezüglichen Kriterien maßgeblich FEINDT /WITTMANN, Aufgabenwerkstatt RU, S. 28–29; L ENHARD, Kompetenzorientiert lehren und lernen – ein Praxisbeispiel, S. 123–124. Die hier aufgezeigten Kriterien umfassen Aspekte der Lebensrelevanz und Problemorientierung, Schüleraktivierung, Offenheit für die Anwendung eigener Lern- und Lösestrategien, Binnendifferenzierung, Produktorientierung, Kompetenzentwicklung, Metareflexion etc.
4. Konkretisierung III – Lernwege und Unterrichtsentwürfe
299
zum Gegenstand der Reflexion zu machen.287 Nicht zuletzt ist der Bereich der vielseitigen, transparenten Leistungs- und Ergebnisüberprüfung und der diesbezüglichen Lernerfolgsrückmeldung zentral.288 Vor diesem Hintergrund muss die interaktionale Bibelauslegung auch als Chance be- und ergriffen werden, zu einer möglichst vielseitigen Erstellung von Lernprodukten anzuregen und damit die Basis an Evaluationsmöglichkeiten zu weiten 289. Hierzu bieten gerade die unterschiedlichen, mal stärker kognitiv, mal stärker kreativ angelegten Phasen vielseitige Möglichkeiten. Gelingt dies, kann sie insgesamt einen Dialog zwischen dem Lerngegenstand „Jesus und der Zorn Gottes“ und den Schülerinnen und Schülern positiv begleiten, der den Anforderungen kompetenzorientierten Lernens gerecht wird und darüber hinaus zur persönlichen Sinnfindung beiträgt.
4.2
Unterrichtsentwürfe für die Sekundarstufen I und II
Die nachfolgenden Unterrichtsentwürfe orientieren sich von ihrem Aufbau her somit an dem Erschließungsgang der interaktionalen Bibelauslegung bzw. der unter anderem von Ulrich Kropač prägnant benannten Schrittfolge „Entdecken: Auf den Text zugehen“, „Erarbeiten: Vom Text ausgehen“ und „Aneignen: Über den Text hinausgehen“.290 Jeweils vorangestellt werden Überlegungen zu unterrichtlichen Kontextualisierungsmöglichkeiten, Verständniszugängen, damit einhergehenden Lernanlässen und Möglichkeiten zur Kompetenzerweiterung. Im Anhang findet sich zudem auch immer ein Verlaufsplan mit einer Übersicht über den Ablauf der Unterrichtseinheit und den zentralen Materialien. Es versteht sich von selbst, dass die hier erarbeiteten Sequenzen nur exemplarischen Charakter besitzen. Bewusst wird nachfolgend ein Fokus auf die analysierten Parabeln gelegt. Sie eignen sich nämlich in ihrer bildlich-metaphorischen Offenheit besonders dazu, Denkbewegungen über die Möglichkeiten und Angemessenheit einzelner Gottesvorstellungen, insbesondere der ambivalenten Rede vom „Zorn Gottes“, anzuregen. Ergänzend werden in den einzelnen Kapiteln auch didaktische Perspektiven darauf eröffnet, wie andere Facetten des vorliegenden Lerngegenstandes (z. B. die Gerichtsbotschaft Jesu) vernetzt werden können. 287
288 289
290
Vgl. hierzu OBST, Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen im Religionsunterricht, S. 248–253. Als zentrales Beispiel wird die Portfolioarbeit genannt. Vgl. hierzu ebd., S. 253–264; ebenso MICHALKE-LEICHT, Auf das Lernen kommt es an, S. 55. Die zunehmende Bedeutung dieses Aspekts wird auch herausgestellt bei SAJAK/FEINDT, Räume zur selbsttätigen Aneignung schaffen, S. 175, online abrufbar unter: https://www.theo-web.de/zeitschrift/ausgabe-2012-01/10.pdf (Stand: 27.06.2020). KROPAČ, Biblisches Lernen, S. 431–432. Nachfolgend werden die auch bei anderen Autoren vorkommenden Formulierungen „Auf den Text zugehen“, „Vom Text ausgehen“ und „Über den Text hinausgehen“ genutzt.
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
300
Gegebenenfalls mögen die nachfolgend vorgestellten Unterrichtssequenzen zu umfangreich und zeitintensiv erscheinen. Auch wenn die hier skizzierten Phasen der Bibelarbeit logisch aufeinander aufbauen, können die jeweiligen Ideen zur Didaktisierung im Sinne einer „Ideenbörse“ auch einzeln genutzt werden. Die Kapitelüberschriften zu den Unterrichtsbeispielen kennzeichnen dabei jeweils den thematischen Schwerpunkt, unter dem „Jesus und der Zorn Gottes“ jeweils in den Blick genommen werden soll.
4.2.1
„Jesus und der Zorn Gottes“ als Thema in der Unterstufe – erste Annäherungen
Dem Unterricht in der Unterstufe kommt der Thematisierung von „Jesus und dem Zorn“ die besondere Bedeutung zu, eine Art hermeneutischer „Türöffner“ für den zukünftigen Umgang mit diesem Lerngegenstand zu sein. Dementsprechend sollte man sich Zeit hierfür nehmen. Diesbezüglich werden nachfolgend zwei Unterrichtsbeispiele im Umfang von jeweils 3 bis vier Stunden vorgestellt.
4.2.1.1 Möglichkeiten der inhaltlichen Kontextualisierung, Zugänge und Lernanlässe Während sich die Möglichkeiten der Kontextualisierung im Laufe des Unterrichtsgangs der Sekundarstufe I und II zunehmend weiten, erscheint mir in der Unterstufe zunächst eine vorrangige Thematisierung mit einem Schwerpunkt in Inhaltsfeld 3, „Jesus, der Christus“, unerlässlich, bei dem vor allem „Jesu Zuwendung zu den Menschen vor dem Hintergrund seiner Zeit“291 im Zentrum steht. Nur so können die Schülerinnen und Schüler nämlich erkennen, dass die Verweise auf den „Zorn Gottes“ im Wirken Jesu Teil seiner Hoffnungsbotschaft von der Gottesherrschaft sind. Inhaltlich ist folgende Vorgehensweise denkbar: Nachdem die Lebensumwelt Jesu in Grundzügen erarbeitet wurde,292 empfiehlt es sich in der Planung eines entsprechenden Unterrichtsvorhabens zunächst praktisch und lebensbezogen anzusetzen. Dies gelingt, wenn man die „Reich-Gottes-Botschaft“ Jesu pri291
292
MSB NRW (Hrsg.), Kernlehrplan für die Sekundarstufe I. Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Katholische Religionslehre [G9], S. 21. Aufgrund der Rückkehr zu G9 orientiert sich der nachfolgende Ausweis der Inhaltsfelder (und später auch Kompetenzerwartungen) am diesbezüglichen neuen Kernlehrplan. Konkret sollten in der Unterstufe zur besseren Einordnung der biblischen Texte religiöse, soziale und politische Gruppen zur Zeit Jesu behandelt werden. Dabei könnten besonders auch noch verschiedene Formen sozialer Deklassierung (z. B. aufgrund von Krankheit etc.) thematisiert werden. Interessant, jedoch für die Unterstufe meines Erachtens zu komplex, könnte ein vorangehender Vergleich zwischen Jesus und Johannes dem Täufer sein.
4. Konkretisierung III – Lernwege und Unterrichtsentwürfe
301
mär über sein Handeln, seine Zuwendung zu den Armen sowie Ausgeschlossenen und sein leidenschaftliches Eintreten für das Leben erschließt. Dadurch können die Schülerinnen und Schülern zunächst erkennen, dass Jesu besondere Zuwendung den „ungerecht Leidenden“293 gilt, denen er in ihrer Lebenswirklichkeit die Erfahrung neuer, heilvoller Gemeinschaft eröffnet. Es gilt so ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass Jesu Zorn als „Leidenschaft aus Mitgefühl“ 294 auch zu einer Veränderung des persönlichen Handelns anregen will. Eine konkrete Stelle, die sich hierfür anbietet, ist die Heilung am Sabbat (vgl. Mk 3,1–6), auf die sich nachfolgend das erste Unterrichtsbeispiel bezieht. Zugleich sollte insbesondere die Gastmahlpraxis Jesu behandelt werden, da sie den Schülerinnen und Schüler lebensnah veranschaulichen kann, wodurch sich die lebensverändernde Kraft der Herrschaft Gottes realisiert und realisieren wird. Vor dem oben skizzierten Verständnishintergrund ist auch eine Auseinandersetzung mit der Gleichnisrede Jesu sinnvoll. Ein zu berücksichtigendes Problem kann in diesem Zusammenhang sicherlich der unterschiedliche individuelle Entwicklungsstand der Schülerinnen und Schüler sein, der sich auch darauf auswirkt, inwiefern sie die metaphorische Bildebene dieser Erzählungen entschlüsseln können.295 Insofern gilt es, behutsam ein entsprechendes Verständnis anzubahnen.296 Sinnvoll kann es zunächst sein, die Parabel vom „verlorenen Sohn“ (Lk 15,11–32) zu behandeln. Diese ermöglicht nicht nur den Blick auf die fundamentale Bereitschaft Gottes, in seiner Barmherzigkeit versöhnende Annahme zu schenken, sondern lässt zugleich auch mit dem Bild des Festes als Ausdruck lebenstragender Gemeinschaft vertraut werden.297 So wird dann für die Schülerinnen und Schüler ein Verständniszugang eröffnet, durch den eine produktive Arbeit mit der Parabel Lk 14,16–24 möglich ist. Hierauf bezieht sich nachfolgend das zweite Unterrichtsbeispiel. Ein Anlass, um den Dialog zwischen Lernenden und den vorliegenden biblischen Texten anzubahnen, ist dabei sicherlich das persönliche Erleben von Zorn, sei es aus Mitgefühl oder sei es aus Enttäuschung über Zurückweisung. Neben der reinen Inhaltsebene sollte dabei auch immer die Chance zur emotionalen Bildung der Schülerinnen und Schüler genutzt werden. So bietet ja gerade
293 294 295
296
297
METZ, Theodizee-empfindliche Gottesrede, S. 82. HOFMEISTER, Leidenschaft aus Mitgefühl, S. 36. Für eine Übersicht und Auswertung empirischer Ergebnisse siehe SCHWEITZER/H AEN /KRIMMER, Elementarisierung 2.0, S. 99–103. Vielseitige Anregungen hierzu finden sich beispielsweise in der von P. GRASSER erarbeiteten Unterrichtsreihe zum Thema „Gleichnisse“, Heft 7/2009 der Reihe „:in Religion“. Interessant ist vor allem der Ansatz bei P. Müller (u. a.), die Deutung der vorliegenden Gleichniserzählung „aus der Polarität ihrer zentralen Symbole ‚Hunger – Not x Freude – Fest‘ heraus zu entwickeln“ (MÜLLER [u. a.], Die Gleichnisse Jesu, S. 153 und zur weiteren Konkretion S. 150–155).
302
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
die Auseinandersetzung mit Zorn als ambivalenter, aber auch zutiefst menschlicher Erfahrung die Voraussetzung, emotionale Lernprozesse anzuregen.
4.2.1.2 Möglichkeiten der Kompetenzentwicklung Die vorliegende Zusammenstellung soll verdeutlichen, welche Kompetenzentwicklungen im Rahmen der beiden Unterrichtsequenzen möglich sind. Dafür dienen die konkretisierten Kompetenzerwartungen des G9-Lehrplans als Grundlage.298 Anders als die formulierten Kompetenzerwartungen manchmal suggerieren, handelt es sich um komplexere und längerfristige Entwicklungsprozesse.
Die Schülerinnen und Schüler • deuten exemplarisch biblische Texte unter Berücksichtigung des jeweiligen lebensweltlichen Hintergrunds (MK 3, S. 19); •
•
deuten den „Zorn Jesu“ im Kontext seiner „Reich-Gottes-Botschaft“ als Ausdruck einer gerechten Empörung gegen das Lebensfeindliche und damit als engagierte Anteilnahme für das Heil der Menschen, indem sie sich erfahrungsbezogen mit der Heilung am Sabbat (Mk 3,1–6) auseinandersetzen (IF 3); erklären an diesem Beispiel vor dem gesellschaftlichen, religiösen und poli-
tischen Hintergrund seiner Zeit Jesu Zuwendung besonders zu den Armen und Ausgegrenzten als Ausdruck der Liebe Gottes zu den Menschen (IF 3, S. • •
•
• •
298
22; K 17); bewerten dabei die Notwendigkeit von Barmherzigkeit für ihre persönliche Lebensgestaltung (IF 1), indem sie ausgehend von Mk 3,5ab eine aktualisierende Neuerzählung verfassen; deuten die religiöse Sprache Jesu am Beispiel der Parabel vom Hochzeitsmahl (Lk 14,16–23/24) als möglichen Verweis auf einen beziehungssuchenden Gott, den die diesbezügliche menschliche Verweigerung zornig-betroffen macht und der zugleich unermüdlich für das Heil der Menschen eintritt (tendenziell IF 2, IF 3; tendenziell SK 7); erschließen und deuten in diesem Zusammenhang angeleitet religiös relevante künstlerische Darstellungen (MK 4; S. 19), indem sie eine diesbezügliche Illustration aus dem Codex Aureus Epternacensins in Form einer verzögerten Bildbetrachtung analysieren; prüfen dabei in ersten Ansätzen verschiedene Bilder und Symbole für Gott im Hinblick auf ihre mögliche Bedeutung für den Glauben von Menschen (IF 2, S. 21; K 12); erläutern so exemplarisch am Leben und Wirken Jesu das biblische Grundmotiv der Zuwendung und engagierten Liebe Gottes zu den Menschen (IF 5, S. 23; K 38); Siehe hierzu das entsprechende Kapitel D.3.2.2. Wörtliche Textübernahmen aus dem Lehrplan werden nachfolgend durch kursive Hervorhebungen gekennzeichnet.
4. Konkretisierung III – Lernwege und Unterrichtsentwürfe •
303
erörtern auf dieser Grundlage in Ansätzen die Bedeutung der Hoffnungsbotschaft Jesu für Menschen heute (IF 3, S. 22; K 19).
4.2.1.3 Unterrichtsbeispiel 1: „Wann würde Jesus heute zornig werden?“ –Die Heilung am Sabbat (Mk 3,1–6) Nachfolgend werden die zentralen Schritte der Unterrichtssequenz aufgezeigt und die maßgeblichen didaktischen wie auch methodischen Entscheidungen erläutert. Zur besseren Nachvollziehbarkeit sei auch auf den Verlaufsplan im Anhang verwiesen (→ U 1.1)299. Die einzelnen Phasen der Schrittfolge der interaktionalen Bibelauslegung werden hier und nachfolgend durch etwas größere Abstände gekennzeichnet. Eine vorbereitende Annäherung an den vorliegenden Text kann, wie bereits oben herausgestellt, über das Empfinden von Zorn als Teil der Erfahrungswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler erfolgen. Hilfreich dafür ist, dass diese zunächst selbst kurze Rollenspiele zu Situationen entwickeln, in denen sie zornig geworden sind. Ergänzend bietet es sich an, dass der Lehrer/die Lehrerin zwei Karten für kurze Rollenspiele hineingibt (→ U 1.1, M 1). Im Vergleich der Spielszenen soll den Schülerinnen und Schülern deutlich werden, dass es Zorn gibt, der positiv und aus Mitgefühl motiviert ist, aber auch solchen, der zerstörerisches Potenzial entfaltet. Die verschiedenen Ausprägungen von Zorn können in Form eines Tafelbildes (Situation, Ursachen, Auswirkungen, Beurteilung) gesichert werden. Dies eröffnet einen Ansatzpunkt, nunmehr zum Bibeltext300 überzuleiten, um dem hierin enthaltenen Zorn Jesu nachzuspüren. Nach dem Lesen bietet sich ein kurzes „Brainstorming“ dahingehend an, dass jeder eine kurze Assoziation zum Auftreten Jesu in der Geschichte äußert („Jesus …“). Hierbei sollten dann auch wieder Bezüge zu den eignen Erfahrungen mit Zorn hergestellt werden. Zur Erfassung der Textstruktur ist die Anwendung des „POZEK-Schlüssels“ zielführend, bei dem der Textinhalt in Einzelarbeit anhand der Untersuchungsaspekte „Personen“, „Orte“, „Zeiten“, „Ereignisse“ und „Kernaussagen“ neu strukturiert wird.301 Vom bisherigen Unterrichtsverlauf ist davon auszugehen, dass die Schülerinnen und Schüler über die zeitgenössische Umwelt bzw. das 299
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Auch nachfolgende Verweise werden in den Darstellungsteil integriert, um eine schnelle Auffindbarkeit im Anhang sicherzustellen. U 1 meint dabei zunächst Unterrichtsbeispiel 1 (= Unterstufe), 2 (= Mittelstufe) oder 3 (= Oberstufe). Bei mehreren Beispielen im Rahmen einer Stufe wird dann entsprechend weitergehend differenziert (z. B. U 1.1). Als Textgrundlage ist neben der Einheitsübersetzung vor allem auch an die Übersetzung der „Gute Nachricht Bibel“ möglich, die durch ihre Sprache das Verständnis erleichtert. Vgl. TROUE, 44 plus 4 Methoden für die Bibelarbeit, S. 30 bzw. für Variationsmöglichkeiten S. 31. Für eine konkrete Anwendung auf die vorliegende Erzählung siehe A. SCHWEIZER, Mk 3,1–6, online abrufbar unter: http://www.allesumdiekinderkirche.de/textsuche/ mk3_1ff.pdf (Stand: 27.06.2020).
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D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
zeitgenössisches Umfeld Jesu (konkret: die Pharisäer, die soziale Stellung von Kranken, die Bedeutung der Synagoge/des Sabbats) bereits grundlegende Kenntnisse besitzen. Eine entsprechende Erarbeitung dieser zentralen Aspekte kann jedoch ggf. daran anschließen. Wichtig ist es in einem weiteren Schritt, die Erkenntnis anzubahnen, dass bei dem vorliegenden Konflikt die Frage nach einem dem Willen Gottes entsprechenden Handeln sowohl das Verhalten Jesu als auch das der Pharisäer bestimmt. Um dies bewusst werden zu lassen, sind verschiedene Varianten denkbar. Ein stärker kognitiv orientierter Zugang kann darin liegen, arbeitsteilig eine Liste mit Fragen an die jeweiligen biblischen Personen zu entwickeln, 302 die im Anschluss dann in Gruppenarbeit bearbeitet werden. Hilfreich ist es aber, erfahrungsbezogener anzusetzen und die jeweils bestimmende „Innenwelt einer biblischen Person zur Sprache [zu] bringen“303. Dafür kann eine perspektivische Neuerzählung des Geschehens erfolgen,304 so aus Sicht des Mannes mit der verdorrten Hand, eines Pharisäers und eines nicht direkt beteiligten Zuschauers. An dieser Stelle ist es beispielsweise mit Blick auf die Binnendifferenzierung sinnvoll, dass die Schülerinnen und Schüler kurz reflektieren, in welcher Rolle sie sich mit Blick auf ihr Hintergrundwissen am sichersten fühlen, und danach auswählen. Ziel ist es dabei auch, die Ursachen für den „Zorn Jesu“ bzw. seinen Standpunkt als Anklage gegen die seiner Meinung nach gottlose Mitleidlosigkeit aus verschiedenen Blickwinkeln neu erkennbar werden zu lassen. Zugleich soll aber auch die Heilswende im Leben des kranken Mannes neu aufscheinen. 305 Ein abschließendes Tafelbild sollte dies in Form einer prägnanten Formulierung der Botschaft des Textes verdichten. Alternativ ist es möglich, die ersten beiden Phasen der Bibelarbeit in Form eines Bibliologs306 zusammenzuführen, für dessen Gestaltung in der vorliegenden Szene ein Beispiel vorgestellt wird (→ U 1.1, M 2). Die dritte Phase der Bibelarbeit sollte vor allem einen Dialog über die heutige Bedeutung des Textes ermöglichen. Methodisch ist dazu eine Aktualisierung 302
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Die Methode wird anschaulich erläutert bei TROUE, 44 plus 4 Methoden für die Bibelarbeit, S. 35. HECHT, Bibel erfahren, S. 29. Vgl. hierzu NIEHL/THÖMMES, 212 Methoden für den Religionsunterricht, S. 134; HECHT, Bibel erfahren, S. 29–31. Die positive Heilswende, die Jesus im Leben des Mannes bewirkt, kann im Anschluss ggf. durch ein Gebet aus Sicht der Familie des Geheilten vertiefend einsichtig werden. Diese Idee und methodische Aufbereitung findet sich bei KERN, Heilung am Sabbat, S. 5; online abrufbar unter: https://www.auer-verlag.de/media/ntx/klippert/sample/09224DA7_ Musterseite.pdf (Stand: 25.06.2020). Siehe zur kurzen Einführung in die Thematik POHL-PATALONG, Art. Bibliolog, online abrufbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100139/ (Stand: 27.06. 2020) sowie grundlegend POHL-PATALONG, Uta: Bibliolog. Impulse für Gottesdienst, Gemeinde und Schule. Band 3: Handlungsfeld Religionsunterricht. Stuttgart 2019.
4. Konkretisierung III – Lernwege und Unterrichtsentwürfe
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sinnvoll.307 Möglich wäre es, die Aufgabenstellung sehr offen zu formulieren, z. B.: „Stell dir vor, die Geschichte hätte nicht damals in einer Synagoge, sondern heute in unserer Schule stattgefunden. Erzähle sie neu.“. Meine persönliche Erfahrung ist es jedoch, dass jüngere Schülerinnen und Schüler eine stärkere Strukturierung brauchen. Sinnvoll ist es deswegen, eine Impulsaussage des Textes zu zentrieren, so Mk 3,5ab. Ein entsprechender Arbeitsauftrag könnte lauten: „Stell dir vor, Jesus würde in unsere Schule kommen. Was würde ihn zornig machen? Was würde er tun und was fordern? Welche Rolle würdest du persönlich, würden deine Clique oder deine Mitschülerinnen und Mitschüler in der Geschichte spielen? Verfasse eine Neuerzählung.“ Dementsprechend sollte ein jeweils anschließendes, gemeinsames Gespräch über die Bedeutung des Bibeltextes folgende Fragen aufgreifen: „Was würde Jesus heute zornig machen und warum?“; „Was würde er von uns erwarten?“; „Was könnten wir tun?“. Wichtig ist es, in diesem Zusammenhang auch das Jesus leitende Gottesverständnis anzusprechen und zu verdeutlichen. Eine Kluft zum biblischen Text und der Gegenwart könnte mit Blick auf Handlungsmöglichkeiten dahingehend deutlich werden, dass Jesus als „Wundertäter“ unmittelbar Menschen hilft, indem er sie heilt, was uns heute unmöglich ist. Dies kann als konstruktiver Impuls zur Frage, wie wir heute insbesondere Menschen mit Behinderung unterstützen können, überleiten. Als gegenwartsrelevante Weiterführung bietet sich dazu eine Vertiefung im Rahmen des Themas Inklusion an Schulen bzw. anhand konkreter Beispiele von gemeinsamem inklusiven Lernen sowie gegenseitiger Unterstützung an.
4.2.1.4 Unterrichtsbeispiel 2: „Ein Gott, der sich nach Gemeinschaft sehnt?“ – Die Parabel vom Gastmahl (Lk 14,16–24) Wie bereits eingangs aufgeworfen, ist die Auseinandersetzung mit der vorliegenden Parabel in der Unterstufe ein anspruchsvolles Unterfangen, das einer didaktisch behutsamen Vorgehensweise bedarf (→ vgl. zum geplanten Unterrichtsgang U 1.2).308 Insgesamt denke ich jedoch, dass insbesondere auch ihr Einbezug hilfreich und notwendig ist, um bereits von Beginn an einen Dialog über das Gottesverständnis Jesu anzubahnen 309. In diesem Zusammenhang ist vor allem der weiterführende Ansatz der dialogischen Exegese Franz Wendel Niehls hilfreich. Zentral für diesen bibeldidaktischen Zugriff ist, die Ebene des biblischen Textes und seine Wirkungsgeschichte aufeinander zu beziehen, um so 307
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Beispiele und Variationen zu dieser Methode finden sich beispielsweise bei TROUE, 44 plus 4 Methoden für die Bibelarbeit, S. 47. Ein erster Entwurf zur Didaktisierung der Parabel wurde im Oberseminar von Herrn Prof. Dr. Zwick besprochen. An dieser Stelle möchte ich mich für die zahlreichen Anregungen bedanken. Zu diesbezüglichen Kernpunkten siehe das Gesamtergebnis der exegetischen Analyse B.3.3.1.2.6.
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in einem vielschichtigen Interaktionsprozess mit den Rezipienten und Rezipientinnen neue Sinnangebote offenzulegen.310 Dies kann auch bei der vorliegenden Parabel helfen. Für eine Annäherung an den Bibeltext ist jedoch zunächst entscheidend, dass die vorliegende Gleichniserzählung eine den Schülerinnen und Schülern vertraute Erfahrung enthält: Fassungslosigkeit, Trauer und Zorn als Erfahrung von Zurückweisung, wie sie erzählerisch in der ersten Reaktion des Hausherrn widerhallt. Damit verbunden ist die existenziell bedeutsame Frage, wie man mit solchen Situationen angemessen umgeht. Diese, aber auch der konkrete Erzählkontext, ein anstehendes großes Fest, oder um es modern zu formulieren eine „Party“, sind nicht fern von der Lebenswelt der Lernenden. Dadurch sind zugleich die zentralen Ansatzpunkte markiert, eine Begegnung mit dem vorliegenden Text zu ermöglichen.311 Ein erster Schritt kann zunächst darin liegen, dass die Schülerinnen und Schüler eigene Geburtstagseinladungen erstellen, alternativ in Form von Karten, WhatsApp-Nachrichten oder kleinen Videos. Wichtig ist es bei der anschließenden gemeinsamen Besprechung vor allem mit der Geburtstagsfeier verbundene Erwartungen anzusprechen und an der Tafel festzuhalten. Darauf aufbauend sollen die Schülerinnen und Schüler in Form einer Rollenspielkarte mit dem Szenario der aufeinander folgenden Absage aller Gäste konfrontiert werden, um sich in den anschließenden Spielszenen ihre möglichen Reaktionen auf eine solche Situation bewusst zu machen (→ U 1.2, M 1). Auch diese gilt es an der Tafel zu ergänzen, wobei vor allem die zwei grundlegenden Reaktionsmöglichkeiten, das „Sich-Verschließen“, und die positive Bewältigung der Situation angesprochen werden sollten. Da es hier um sehr persönliche Erfahrung gehen kann, ist es alternativ auch möglich, über eine fiktive Geburtstagseinladung die Problemstellung anzubahnen.312 Der erfahrungsbezogene Einstieg nimmt so im Grundprinzip das in der Parabel verdichtete Erlebnis vorweg, so dass entsprechend zu ihr übergeleitet werden kann. Ein erster Schritt besteht dann im gemeinsamen Lesen von Lk 14,16– 23313. Die in der vorliegenden Gleichniserzählung enthaltene Bildwelt ermöglicht vielschichtige Ansatzpunkte der Erarbeitung. Auch wenn es naheliegt, soll jedoch in meinem Vorschlag nicht das „Abendessen als sozialer Event“314 Schwer-
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Vgl. NIEHL, Dialogische Exegese, S. 232–233 bzw. weiterführend bis S. 236. Für ein Beispiel siehe KRÜGER/MERKLE, Vom Himmel auf Erden, S. 13, didaktische Überlegungen auf S. 14. Vgl. ebd. Da Lk 14,24 bereits die weitergehende Deutung der Gleichniserzählung enthält, ist es zunächst sinnvoll, den reinen Bildteil zu fokussieren. Dies könnte dadurch geschehen, dass man Vers 24 mitabdruckt, aber grau unterlegt. BUSCH, Die Geschichte vom großen Abendmahl nach Lukas, S. 48.
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punkt sein315, sondern vielmehr die im Handeln des Hausherrn verdichtete Hineinnahme der Ärmsten in seine heilvolle, gottgewirkte Gemeinschaft. Voraussetzung dafür ist, dass der Textinhalt und sein erzählerisches Engagement angemessen erfasst werden. Ein erster Schritt hierzu ist eine Textgliederung, bei der der Text in einzelne Abschnitte unterteilt wird, für die jeweils eine Überschrift gefunden werden muss. Auch ist das Erstellen einer Bildfolge in Form von Zeichnungen zu den einzelnen Abschnitten denkbar.316 Um in die Tiefenstrukturen dieser von vielerlei Interaktionen geprägten Erzählung vorzudringen, ist es hilfreich, dass die Schülerinnen und Schüler versuchen, dem Verhalten und den Motiven der einzelnen Erzählfiguren nachzugehen. Hierfür bietet sich eine Variation der Methode „Der heiße Stuhl“ an, bei dem sich einzelne Schülerinnen und Schüler in eine der Personen hineinversetzen und durch die Klasse interviewt werden (→ U 1.2, M 2).317 Gerade mit Blick auf den Hausherrn kann so seine Enttäuschung darüber deutlich werden, dass die Erstgeladenen seine Einladung einfach ausschlagen. Behutsam sollte, in Rückbindung an die verschiedenen Formen und Folgen zornigen Verhaltens, bereits die Frage mit den Schülerinnen und Schülern besprochen werden, wie dessen Zorn und die nachfolgende Reaktion einzuschätzen sind. – Wichtig ist, dass die Schülerinnen und Schüler hierbei erkennen, dass für eine rein destruktive Zornesreaktion eine wütende Absage des Festes ausgereicht hätte, es ihm aber (trotz tiefer Enttäuschung) um die unbedingte Ausrichtung des Festes geht. Gleichzeitig können sie sehen, dass die Gruppe der Erstgeladenen die Bedeutung des Festes nicht angemessen einzuschätzen weiß, wohingegen für die nachfolgend geladenen Deklassierten eine heilvolle Veränderung ihrer Lebenssituation eintritt. Dementsprechend sollte anschließend gemeinsam mit der Lerngruppe in einem kurzen Satz zusammengefasst werden, was die Erzählung in Bezug auf die jeweiligen Personen/Gruppen verdeutlicht („In der Erzählung erfahren wir über den Hausherrn, dass …“). Im Anschluss hieran ist es möglich, bereits erste gemeinsame Deutungen des Textes zu vollziehen, deren vorläufiger Charakter jedoch, beispielsweise durch
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Vgl. hierzu den Entwurf bei ebd., S. 48–55. – Meines Erachtens verkürzt Busch jedoch die Analyse der vorliegenden Gleichniserzählung zu sehr auf diesen Teilaspekt. Zu dieser Methode und ihren Varianten siehe TROUE, 44 plus 4 Methoden für die Bibelarbeit, S. 29. Dieser Ansatz hätte den Vorteil, dass die Schülerinnen und Schüler bei der anschließenden Bildbetrachtung den Unterschied zwischen reiner Darstellung und kreativer Interpretation besser erkennen könnten. Vgl. ebd., S. 36. Möglich ist es, dass die Schülerinnen und Schüler in arbeitsteiliger Gruppenarbeit jeweils die Rolle der Interviewpartner bzw. die der Interviewenden vorbereiten. Ziel der jeweiligen Gruppen ist es, den biblischen Text differenziert dahingehend auszuwerten, welche indirekten Hinweise er dafür liefert, warum die entsprechenden Personen so handeln und wie sie die jeweilige Situation erleben.
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D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
die Anlage des Tafelbildes318, erkennbar werden muss. In Rückbindung zum Einstieg ist diesbezüglich mitanzusprechen, inwiefern der Umgang des Hausherrn mit der Situation eine sinnvolle Möglichkeit oder Alternative eröffnet, die mit Zurückweisung verbundenen Gefühle zu bewältigen. In der dritten Phase kann, wie bereits oben angesprochen, die Wirkungsgeschichte des Textes helfen, neue Sinnperspektiven zu erschließen. Dafür bietet sich eine Betrachtung des bereits in der exegetischen Analyse kurz analysierten Bildstreifens aus dem Codex Aureus Epternacensis an (→ U 1.2, M 3a). Entscheidend sind dabei die durch den Maler eröffneten neuen Verständniszugänge zu der vorliegenden Erzählung. So deutet er bereits an, dass in der Parabel auf das Heilswirken Gottes verwiesen wird. Auch wenn es primär die Armen sind, die an dem himmlischen Festmahl Anteil haben, wird in der vorliegenden Interpretation in einzigartiger Weise der inklusive und universale Heilswille Gottes verdeutlicht. So ist dieser Weg auch für die Erstgeladenen nicht verschlossen, es liegt an ihnen, ob sie ihre Blickrichtung ändern und sich auf diesen Weg begeben. 319 Das Bild hilft also, sich anschaulich der theologischen Sinndimension der Parabel anzunähern. Methodisch eignet sich dazu aufgrund seiner dreiteiligen Gliederung besonders eine „verzögerte Bildbetrachtung“, die vor allem zu einer verlangsamten Rezeption und damit differenzierten Beobachtung der einzelnen Bildelemente beiträgt.320 Entscheidend ist, dass die Lehrkraft bei der Entschlüsselung zentraler Bildelemente und ihrem Verweischarakter auf Gott bzw. die himmlische Wirklichkeit behutsam vorgeht (→ U 1.2, M 3b). Gelingt es, diese Deutungsebene zu eröffnen, kann dann auch die Frage, inwiefern Zorn zu diesem Gott passt, aufgebracht werden.321 In Rückbindung an das Bild gilt es zu verdeut-
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Die jeweiligen Deutungen können an einer Seite der Tafel links, unter der Überschrift: „Jesus will uns mit dieser Gleichniserzählung…“, aufgehängt werden. Auf der rechten Tafelseite können dann weitere, nachfolgend gewonnene Deutungen und daraus erschlossene Sinnangebote ergänzt werden. Vgl. zur Gesamtdeutung auch C OLLARD-LOMMEL, Das Gleichnis vom großen Gastmahl (Lk 14,13–24), S. 73/75. Vgl. hierzu auch Niehl/Thömmes, 212 Methoden für den Religionsunterricht, S. 21. Die Methode der Bildbetrachtung wird auch von Vertretern der interaktionalen Bibelarbeit als sinnvoller Schritt zu einer ganzheitlichen Auseinandersetzung anerkannt (vgl. z. B. S. BERG, Kreative Bibelarbeit in Gruppen, S. 28–29). Die Schwerpunktsetzungen zeigen: Im Kern geht es in der vorliegenden Sequenz nicht darum, eine Auseinandersetzung mit der Frage nach dem „Zorn Gottes“ ins Zentrum der Auslegung zu stellen, so dass diese am Ende als dominierend erscheint. Die Aufgabe des Lehrers und der Lehrerin besteht vielmehr darin, gerade dann, wenn die Bildebene zur theologischen Deutung hin überschritten wird, durch entsprechende sensible Frageimpulse Denkbewegungen der Schülerinnen und Schüler anzuregen, inwieweit auch die Beziehungsmetapher des Zornes hilfreich sein kann, um Gottes liebende Zuwendung zu den Menschen zu begreifen.
4. Konkretisierung III – Lernwege und Unterrichtsentwürfe
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lichen, dass dieser göttliche Zorn dann mehr ist als eine Trotzreaktion und stattdessen ehrliche Betroffenheit über die Abweisung seines Heilsangebotes bzw. die Sehnsucht nach gelingender Beziehung ausdrückt. Damit einhergehend sollte die Erkenntnis angebahnt werden, dass auch der (nunmehr zu thematisierende) Abschluss der Parabel in Lk 14,24 nicht auf eine destruktive Verbannung der Erstgeladenen, sondern vielmehr auf ihren Selbstausschluss verweist. 322 Die so einsichtig gewordenen Aspekte sollten dann mit Blick auf die Gesamtdeutung im Tafelbild ergänzt werden. Wichtig ist es, bei den vielseitig eröffneten Sinndimensionen eine persönliche Deutung der Parabel durch die Schülerinnen und Schüler anzuregen. Ein kreativer und an die vorangegangene Arbeitsphase anknüpfender Ansatz kann dabei darin liegen, dass sie selbst als Künstler tätig werden und die für sie persönlich zentrale Botschaft der Parabel in Form eines Bildes visualisieren. 323 In diesem Zusammenhang muss den Lernenden deutlich gemacht werden, dass es nicht einfach um ein Neuzeichnen des Bibeltextes geht, sondern um eine kreative Art der Deutung, die sich auch von der konkreten Ebene des im Text erzählten Geschehens lösen kann.324 Dazu ergänzend bietet es sich an, dass die Schülerinnen und Schüler einen kurzen Kommentar zu ihrem Bild verfassen. Auf dieser Grundlage ist es anschließend möglich, die einzelnen Bilder in Form eines „Museums-“ bzw. „Galleriegangs“ zu würdigen. Anknüpfungsmöglichkeiten liegen dann darin, der Frage nachzuspüren, wo die Gemeinschaft mit Gott heute gegenwärtig wird. Ein aktuelles Beispiel kann auch das jährliche von Frank Zander zu Weihnachten veranstaltete Gänseessen für Obdachlose sein, über dessen Würdigung ein Gespräch für weitere wichtige mögliche Hilfen angeleitet werden kann.
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Vertieft werden kann dieser Gedanke auch durch die Weitererzählung der Geschichte mit Blick darauf, dass einzelne der Erstgeladenen erneut an die Tür des Hausherrn klopfen und ihn um eine Teilnahme am Fest bitten. So könnte ganz im Sinne der oberen Bildbotschaft die Vergebungsbereitschaft, die den Zorn überwiegt, neu in den Blick genommen werden. Hier möchte ich H. M. Lange besonders für seine Anregung danken, die oben benannte Illustration im Sinne seiner Gegenwartsbedeutung von den Schülerinnen und Schülern neu zeichnen zu lassen. Auf die didaktische Bedeutung der Erstellung eigener Bilder im Zuge der Auseinandersetzung mit Gleichnissen verweist auch P. MÜLLER, Art. Gleichnisse, bibeldidaktisch, 3.1 (S. 10 in der PDF-Version), online abrufbar unter: https://www.bibel wissenschaft.de/stichwort/100143/ (Stand: 25.6.2020). Für weitere Beispiele und Möglichkeiten, biblische Texte in ein anderes Medium zu transformieren, siehe zudem TROUE, 44 plus 4 Methoden für die Bibelarbeit, S. 62. Der Arbeitsauftrag könnte lauten: „Stell dir vor, du bist ein Künstler wie der Zeichner des damaligen Bildes. Dieser hat durch seine Darstellung versucht, seinen Zeitgenossen die Hoffnungsbotschaft der Erzählung deutlich zu machen. Wie würdest du das Bild heute zeichnen, damit die Menschen diese erkennen?“.
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
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4.2.1.5 Möglichkeiten zur Begleitung von Lernprozessen und Kompetenzevaluation Die vielseitigen Vorschläge, Lernen im kompetenzorientierten Unterricht zu begleiten, können natürlich auch unabhängig von dem vorliegenden Thema zum Einsatz kommen. Dazu zählt die persönliche Auseinandersetzung mit dem Lernprozess am Ende einer Sequenz in Form eines Auswertungsbogens. Dieser kann Fragen dazu enthalten, welche neuen Erkenntnisse gewonnen wurden, was einem besonders wichtig war und welche neuen Fähigkeiten man erworben hat.325 Hilfreich ist es zudem, dass die Schülerinnen und Schüler Methoden der Erschließung biblischer Texte gesondert in einer Art Methodenheft sammeln, damit sie in späteren Phasen eigenverantwortlichen Lernens davon Gebrauch machen können. Zentral ist mit Blick auf das Thema „Jesus und der Zorn Gottes“ jedoch, ob die formulierten Kompetenzerwartungen auch erreicht wurden. Dazu bietet zunächst die Auswertung der individuellen Lernprodukte eine Möglichkeit. So kann die Aktualisierung der Impulsaussage von Mk 3,5ab Aufschluss darüber geben, inwiefern die Lernenden jeweils dazu in der Lage sind, den im diesbezüglichen Zorn Jesu deutlich werdenden Appell zur Barmherzigkeit zu erkennen, ihn an konkreten Beispielen auf ihre Lebenswelt zu übertragen und sich auch persönlich davon angesprochen zu fühlen.326 Möglich ist es auch, im Anschluss an die Parabelanalyse einen vernetzenden Arbeitsauftrag zu stellen, bei dem die Schülerinnen und Schüler in Form eines fiktiven Gesprächs reflektieren müssen, inwiefern das Bild des zornigen Hausherren zum Gottesverständnis Jesu passt (→ U. 1.2, M 4). So kann vor allem geprüft werden, inwiefern die Einzelsequenzen mit Blick auf das von Jesus vermittelte Gottesverständnis integriert werden konnten und zu einem Aufbau von Sachkompetenz beigetragen haben.
4.2.2
„Jesus und der Zorn Gottes“ als Impulsgeber? Anregungen für die Mittelstufe
In meiner eigenen Unterrichtspraxis habe ich oftmals die Erfahrung gemacht, dass in der Mittelstufe Bibelarbeit als langweilig empfunden wird. Insgesamt nimmt dabei bei manchen Schülerinnen und Schülern die Aufmerksamkeit ab,
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Vgl. hierzu das Beispiel bei LENHARD, Kompetenzorientiert lehren und lernen – ein Praxisbeispiel, S. 145. Ähnlich kann auch der Auftrag, die heutige Hoffnungsbotschaft der Parabel Lk 14,16–23 durch das Zeichen eines Bildes einsichtig werden zu lassen, Aufschluss darüber geben, wie weit sich die Schülerinnen und Schüler vom Bibeltext lösen und dessen tiefere Bedeutung abstrahieren können.
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wobei jedoch Themen, die ihr Leben betreffen, oder die sie als unterhaltsam erleben, weiterhin interessant sind.327 Weitere Herausforderungen in der Mittelstufe sind sicherlich die großen Alters- und auch Entwicklungsunterschiede in den einzelnen Jahrgangsstufen. Deswegen muss jeweils von der Lehrkraft geprüft werden, welches Thema und welchen Ansatz er oder sie für die jeweilige Lerngruppe als zu bewältigen erachtet. Die hier gemachten Vorschläge richten sich verstärkt an die Jahrgangstufen 8 und 9. Selbstverständlich können die jeweiligen Stunden dabei auch modifiziert und den jeweiligen Lernvoraussetzungen angepasst werden.
4.2.2.1 Möglichkeiten der inhaltlichen Kontextualisierung, Zugänge und Lernanlässe Die Frage, wie und in welchen Kontexten Lernen an und mit biblischen Texten als lebensbedeutsam erlebt werden kann, stellt sich bei Jugendlichen in besonderem Maße.328 Hinzu tritt, wie bereits herausgestellt, dass insbesondere auch Jesusvorstellungen in eine Krise geraten können.329 Der Lerngegenstand „Jesus und der Zorn Gottes“ hat das grundsätzliche Potenzial, die Schülerinnen und Schüler zu irritieren und kann so als Katalysator für neue Denkanstöße wirken. Gerade der Zorn zeigt einen menschlichen und damit authentischen Jesus, was Identifikation stiften kann. 330 So kann der „zornige Gottessohn“, neben wichtigen christologischen Impulsen, vielleicht sogar Anregungen in der eigenen Suche nach Orientierung geben.331 Thematisch erscheint eine enge Vernetzung von dem christologischen Inhaltsfeld 3 (bzw. Inhaltsfeld 4) und Inhaltsfeld 1 „Menschsein in Freiheit und Verantwortung“ notwendig. Gerade so können die biblischen Texte von den Schülerinnen und Schülern als ein Angebot, die eigene Existenzorientierung zu
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So resümiert auch B. Kollmann ausgehend von seiner Auswertung verschiedenster Studien der letzten Jahrzehnte (vgl. KOLLMANN, Neutestamentliche Schlüsseltexte für den Religionsunterricht, S. 22). Kollmann bemerkt in diesem Sinne: „Zudem hat die Bibeldidaktik die in vielen Schülerinterviews als Relevanzdefizit sichtbar werdende Fähigkeit zu fördern, das Potenzial biblischer Erzählungen als Orientierungshilfen und Hoffnungsstrahlen für das eigene Leben wahrzunehmen.“ (ebd., S. 23). Vgl. weiterführend ZIEGLER, Abschied von Jesus, dem Gottessohn?, S. 114–137. Ein interessantes Beispiel hierzu aus einer 6. Klasse findet sich bei KARWEICK/ALKIER, »So habe ich Jesus ja noch nie erlebt!«, S. 162–166. Diesbezüglich resümieren Karweick und Alkier: „Fast befreiend wirkt die Darstellung des aggressiven Jesus auf die meisten Kinder. Na, er hat ja doch etwas mit unserem Leben zu tun …“ (ebd., S. 164). Auch in Unterrichtsmaterialien wird für die Mittelstufe die Bedeutung von Jesus als „Vorbild“ für heutige Jugendliche wiederentdeckt. So in der von B. SENGWITZ und T. SENGWITZ erarbeiteten Unterrichtsreihe „Lernen an Vorbildern“ der Zeitschrift „:in Religion“, Heft 9/2009.
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hinterfragen, wahrgenommen werden. Insofern bietet es sich an, die Auseinandersetzung mit dem „zornigen Jesus“ als kleinere Sequenz im Rahmen eines thematischen Schwerpunktes in Inhaltsfeld 1 anzuleiten.332 Konkrete Erarbeitungsmöglichkeiten sollen nachfolgend an zwei Beispielen, der „Ermutigung zum Bekenntnis in Verfolgungen“333 (hier besonders Mt 10,34–39) und der „Tempelreinigung“ skizziert werden. Wenn die biblische Rede vom „Zorn Jesu“ und „Zorn Gottes“ als Bestandteil einer lebenstragenden Heilsbotschaft erkennbar wird, sollte das Themenfeld mit Blick auf das zukünftige Inhaltsfeld 7 „Religion in einer pluralen Gesellschaft“ geweitet werden, bei dem „religiöser Fundamentalismus“ einen inhaltlichen Schwerpunkt bildet.334 Insofern gilt es auch diese Dimension zu berücksichtigen. Abschließend wird somit ein kurzer Ausblick eröffnet, wie dieses Thema im Kontext des christlichen religiösen Fundamentalismus aufgearbeitet werden kann. Die Stunden umfassen jeweils einen Zeitraum von ungefähr zwei Unterrichtsstunden.
4.2.2.2 Möglichkeiten der Kompetenzentwicklung Das Problem der wörtlichen Orientierung an Kompetenzerwartungen wird besonders in der Mittelstufe des Gymnasiums in NRW deutlich, in der zukünftig zwei verschiedene Kernlehrpläne parallel unterrichtet werden. Deswegen sollen diese hier freier formuliert werden, wobei auf eine entsprechende Berücksichtigung der Lehrplanvorgaben geachtet wird. Die Kompetenzerwartungen werden hier zusammenhängend aufgelistet, die Stundenbeispiele können jedoch unabhängig voneinander in einzelne Themen integriert werden. Da Möglichkeiten, Lernprozesse zu unterstützen und zu begleiten, bereits für die Unterstufe differenziert aufgezeigt wurden, beschränken sich die Angaben hier auf kurze Hinweise im Rahmen der Teilkapitel: Die Schülerinnen und Schüler • erläutern die existenzielle Bedeutung, Jesus nachzufolgen, indem sie Mt 10,34–39 mit Hilfe eines exegetischen Kommentars erschließen;
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Der neue Kernlehrplan sieht hier beispielsweise die folgenden inhaltlichen Schwerpunktsetzungen vor: „Leben aus dem Glauben: Leitbilder in Geschichte oder Gegenwart“; „Menschsein in der Spannung von Gelingen, Scheitern und Neuanfang“; „Grundgedanken biblisch-christlicher Ethik im Prozess ethischer Urteilsfindung“ (MSB NRW [Hrsg.], Kernlehrplan für die Sekundarstufe I. Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Katholische Religionslehre [G9], S. 28; die im Original vorfindliche Abgrenzung durch Spiegelstriche wurde nicht übernommen). So der treffende Titel in der ELBERFELDER BIBEL. Vgl. MSB NRW (Hrsg.), Kernlehrplan für die Sekundarstufe I. Gymnasium in NordrheinWestfalen. Katholische Religionslehre [G9], S. 34.
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deuten den Zorn Jesu als Verweis auf sein authentisches Menschsein und seine Gottesunmittelbarkeit, indem sie die Perikopen der Tempelreinigung im Dialog mit ihrer Wirkungsgeschichte erschließen; erörtern an diesen Beispielen die Relevanz von Jesus als Leitbild, indem sie sich mit Stellungnahmen anderer Jugendlicher zu dieser Frage auseinandersetzen; identifizieren Erscheinungsformen von religiösem Fundamentalismus, indem sie die lebensfeindliche Instrumentalisierung der Rede vom „Zorn Gottes“ analysieren; grenzen eine lebenstragende Verwendung der Rede vom „Zorn Gottes“ im Ersten und Zweiten Testament von diesen fundamentalistischen Vorstellungen ab, indem sie das hierin deutlich werdende Gottes- und Menschenbild mit biblischen Beispielen vergleichen; erörtern auf dieser Grundlage, ob aufgeklärte Christen heute noch vom „Zorn Gottes“ sprechen sollten.
4.2.2.3 Unterrichtsbeispiel 1: Die Botschaft Jesu als existenzielle Ansprache begreifen (Mt 10,34–39) Die Perikope Mt 10,16–39 ist trotz ihres mahnenden Charakters nicht Ausdruck eines unkontrollierten Wutausbruchs des matthäischen Jesus. Die ungewohnten Worte erinnern jedoch isoliert und unkontextualisiert betrachtet mitunter mehr an die gegenwärtige Agenda eifernder Hassprediger335 als an eine Botschaft des zur Feindesliebe mahnenden Jesus. Gerade in dieser Stelle, wie auch in Lk 12,49–53336, liegt ein großes Potenzial die Schülerinnen und Schüler in ihren bisherigen Jesusvorstellungen zu irritieren und dadurch ihr weitergehendes Interesse zu wecken. Eine Möglichkeit hierzu liegt darin, die Aussage Mt 10,34a–c in Form eines Ratespiels in eine Reihe von weiteren Zitaten bekannter Personen, Filmfiguren und Bibelstellen zu integrieren. Die Aufgabe der Schülerinnen und Schüler liegt dann darin, die entsprechenden Zitate zuzuordnen (→ U 2.1, M 1). Aus meiner eigenen Unterrichtserfahrung spricht sich in diesem Zusammenhang aus-
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„Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ (Mt 10,34 im Wortlaut der revidierten EÜ 2016). Der Auftakt des lukanischen Jesus ist mit den Worten „Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen!“ (Lk 12,49 im Wortlaut der revidierten EÜ 2016) noch aufrüttelnder. Für das vorliegende Unterrichtsanliegen würde ich jedoch die Perikope bei Matthäus bevorzugen, weil hier der Gedanke der Nachfolge noch akzentuierter herausgestellt wird. Zielt eine Unterrichtsreihe hingegen auf den Aspekt der Umkehr und des Gerichts ab, kann vor allem Lk 12,54–56 weiterführende Impulse liefern.
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nahmslos die ganze Lerngruppe dagegen aus, die oben benannte Aussage in irgendeiner Form mit Jesus in Berührung zu bringen. Ausgehend von dem so erzeugten Widerspruch bzw. der so erzeugten Fragehaltung ist eine Reflexion über das persönliche Jesusbild, aber auch Probleme, die dieses aufwirft, sinnvoll. Darauf aufbauend kann dann eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Bibeltext erfolgen. Aufgrund der Komplexität der Gesamtperikope empfiehlt es sich, nur Mt 10,34–39 mit einer entsprechenden kontextualisierenden Einleitung als Grundlage zu nehmen. Zur Texterfassung bietet es sich an, die Schlüsselbegriffe aus dem Text herauszuarbeiten und anhand derer den Textinhalt wiederzugeben.337 Zur weiteren Klärung wird im Anschluss ein kurzer (ggf. dem jeweiligen Entwicklungsstand der Lerngruppe weitergehend angepasster) Kommentar Walter Klaibers (→ U 2.1, M 2) erarbeitet. Je nach Leistungsstärke der Lerngruppe muss dieser jedoch weitergehend aufbereitet werden, z. B. dadurch, dass man ihn vorab gliedert oder seinen Inhalt in Form eines fiktiven Interviews neu schreibt. Im Rahmen dieses Erarbeitungsschritts soll deutlich werden, dass Jesus hier die drastischen Anforderungen an seine Nachfolge und mögliche Konsequenzen bis hin zu zwischenmenschlichen Verwerfungen und im Äußersten sogar dem Martyrium zur Sprache bringt. Die Entscheidung, in die Nachfolge Jesu zu treten, wird von Klaiber so in ihrem fundamental existenziellen Charakter einsichtig gemacht. Zugleich klingt bei ihm bereits an, dass der einzelne Mensch individuell klären muss, was Nachfolge Jesu in seinem Leben bedeutet. Die letzte Phase er Bibelarbeit sollte deswegen einen Denkprozess darüber anregen, inwiefern hierin eine persönliche Ansprache Jesu für das eigene Leben liegt. Dies kann in der Form geschehen, dass man einen Brief an Jesus schreibt, in dem man die eigene Meinung und die eigenen Gefühle offenlegt. 338 Wichtig ist es, an dieser Stelle wie einen Rückbezug zum Einstieg herzustellen und die Frage aufzuwerfen, inwiefern das persönliche Jesusbild davon beeinflusst wird. Zur Erweiterung der Perspektive sollte deutlich werden, dass die Frage, was Jesus nachzufolgen bedeutet, individuell ganz unterschiedlich beantwortet wurde und werden kann. Interessanter ist es dafür auf konkrete Beispiele gelebten „Christseins“ im Laufe der Geschichte zu schauen (z. B. Bonhoeffer, Mutter Teresa). Nicht zuletzt kann daran anschließend auch der Blick auf Möglichkeiten des christlichen und anderweitigen gesellschaftlichen Engagements in der Gegenwart geweitet werden.339 337
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Dafür kann das Blatt in zwei Spalten aufgeteilt werden. In der linken steht der Bibeltext, in der rechten sind nur Linien für die Schlüsselbegriffe abgedruckt (vgl. TROUE, 44 plus 4 Methoden für die Bibelarbeit, S. 30). Vgl. auch TROUE, 44 plus 4 Methoden der Bibelarbeit, S. 42. Diese Methode kann zur Textbegegnung eingesetzt werden, aufgrund der Komplexität der vorliegenden Stelle aber auch in die letzte Phase integriert werden. Eine Übersicht über Organisationen, in denen Jugendliche mitwirken können, findet sich bei B. SENGWITZ/T. SENGWITZ, Lernen an Vorbildern, S. 26 (m10).
4. Konkretisierung III – Lernwege und Unterrichtsentwürfe
315
4.2.2.4 Unterrichtsbeispiel 2: „Jesus neu begegnen!“ – Die Tempelreinigung Einen weiteren Zugang zur Auseinandersetzung mit dem „zornigen Jesus“ kann die sogenannte „Tempelreinigung“ eröffnen, die in allen kanonischen Evangelien erzählerisch entfaltet wird, so in Mt 21,12–14; Mk 11,15–19; Lk 19,45–48 und Joh 2,13–16. Sie ist, gerade in der johanneischen Fassung, sicherlich eine der Erzählungen, die gängige Jesusvorstellungen der Schülerinnen und Schüler nachhaltig zu irritieren vermag, zugleich aber auch Jesus menschlicher und damit für sie nahbarer macht.340 Nicht zuletzt wird sie deswegen auch heute noch von einzelnen Exegeten zu den zentralen Texten für den Religionsunterricht gezählt.341 Der hier erzählerisch entfaltete Zusammenhang der engagierten Tempelkritik Jesu hat zunächst wenig Bezug zur Lebenswelt heutiger Jugendlicher, das darin angesprochene Moment des Auflehnens und Protestierens jedoch durchaus. Darin liegt zugleich der Schlüssel, eine lebensrelevante Annäherung an den Bibeltext zu ermöglichen. Dieser kann konkret über aktuelle Beispiele von Jugendprotest erfolgen. Anschaulich wird Protest beispielsweise in den aktuellen „Fridays for Future“-Demonstrationen, in denen (neben lautstarken Meinungsbekundungen) auch immer wieder symbolische Aktionsformen gewählt werden.342 Auf dieser Grundlage kann ein Einstieg in die Thematik erfolgen. Ein erster Schritt sollte dann darin bestehen, verschiedene Arten des Protestierens und ihre Funktion zu besprechen. Im Anschluss daran kann eine Begegnung mit dem Bibeltext darüber angeregt werden, dass man die Stelle Joh 2,15343 unkommentiert an die Wand projiziert. Hierzu können sich die Schülerinnen und Schüler dann frei äußern. Da der Name Jesu in der vorliegenden Stelle nicht genannt wird, besteht ein weitergehendes Assoziationsspektrum, zudem können Bezüge zum Thema „Protest“ hergestellt werden. Für eine angemessene Erarbeitung sind dann weitere Hintergrundinformationen notwendig. Im Rahmen der Auseinandersetzung in der Mittelstufe ist da340
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Vgl. hierzu das bereits erwähnte Beispiel aus einer 6. Klasse bei KARWEICK/ALKIER, »So habe ich Jesus ja noch nie erlebt!«, S. 162–166. So zuletzt von KOLLMANN, Neutestamentliche Schlüsseltexte für den Religionsunterricht, S. 217–220. Als Beispiel ist das das Bilden einer Menschenkette um den Bundestag zu nennen, bei der die Teilnehmer und Teilnehmerinnen ein rotes Stoffband als Symbol für den Klimanotstand in der Hand hielten: https://www.welt.de/politik/deutschland/ article196061839/Fridays-for-Future-Klima-Aktivisten-bilden-Menschenkette-um-denBundestag.html#cs-Fridays-For-Future-in-Berlin.jpg (Stand: 27.06.2020). „Er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle aus dem Tempel hinaus samt den Schafen und Rindern; das Geld der Wechsler schüttete er aus, ihre Tische stieß er um.“ (Joh 2,15 im Wortlaut der revidierten EÜ 2016)
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D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
bei eine detaillierte Erarbeitung der Entstehungsgeschichte und Architektonik des herodianischen Tempels344 zu komplex, wohl sollte aber die Bedeutung des „Vorhofes der Heiden“ als Handlungsort, wie auch die theologische und wirtschaftliche Funktion des Tempels in einem kurzen Lehrervortrag verdeutlicht werden.345 Die Schülerinnen und Schüler sollen dann arbeitsteilig den Motiven Jesu in Form eines synoptischen bzw. kanonischen Vergleichs nachspüren.346 Ziel des Vergleichs ist es, die in allen Evangelientexten deutlich werdende Kritik Jesu zu erkennen, dass die Funktion des Tempels als Ort der Gottesverehrung und -begegnung durch das kommerzielle Treiben verstellt wird – ein Problem, das sich letztlich auch menschenfeindlich auswirkt. Deswegen weist die matthäische Variante der Erzählung bereits darauf hin, worin der Kern dieser Gottesbegegnung im Zeichen der Gottesherrschaft liegen kann, nämlich in der ganzheitlichen Heilung von Menschen und gelebter Barmherzigkeit (vgl. Mt 21,14).347 Die Schülerinnen und Schüler werden insgesamt bemerken, dass die Evangelien das Handeln Jesu nicht als blinde Raserei, sondern als wohlüberlegte Aktion darstellen.348 In der dritten Phase der Bibelarbeit sollte vor allem auch die Gegenwartsbedeutung dieses Handelns Jesu einsichtig werden. Grundsätzlich bietet sich in diesem Zusammenhang der Rückgriff auf Aktualisierungen an, wie dem Aufgriff des Motivs der „Tempelreinigung“ im Film „Jesus von Montreal“. 349 Im Anliegen, das Handeln Jesu als Ausdruck seiner Menschlich- und Göttlichkeit zu deuten, ist jedoch ein Rückgriff auf seine Wirkungsgeschichte in der bildenden Kunst
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Vgl. hierzu die Materialien bei RÖMER/STUTE, Jesus und der Tempel, S. 2–10 im Heft „Religion betrifft uns“ 3/2014. Für Basisinformationen siehe KOLLMANN, Neutestamentliche Schlüsseltexte für den Religionsunterricht, S. 217–219. Vgl. RÖMER/STUTE, Jesus und der Tempel, S. 14 (M 4.3) bzw. im Anschluss KOLLMANN, Neutestamentliche Schlüsseltexte für den Religionsunterricht, S. 220. – Beide Ansätze sehen den synoptischen Vergleich im Rahmen der Sekundarstufe II vor. Ich denke jedoch, dass bereits in der Mittelstufe grundlegende Beobachtungen, insbesondere zu den Motiven Jesu, gemacht werden können. Mögliche Fragen sind: „Wie handelt Jesus beim Betreten des Tempels?“; „Inwiefern werden seine Gefühle direkt benannt oder können indirekt erschlossen werden?“; „Wie begründet Jesus selbst sein Handeln?“; „Inwiefern zeigt Jesus durch sein Handeln Alternativen auf?“. Vgl. KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 99. Für die Sekundarstufe II bietet es sich als Vertiefung an, das Handeln Jesu unter dem Gesichtspunkt einer prophetischen Zeichenhandlung zu betrachten (vgl. hierzu RÖMER/STUTE, Jesus und der Tempel, S. 15/M 4,5). Die Idee und ein entsprechendes Arbeitsblatt für die Sek II findet sich bei RÖMER/STUTE, Jesus und der Tempel, S. 20 (M 5.2). In der entsprechenden Szene zerstört der Jesusdarsteller Daniel ein Filmset und greift die Castingcrew an, nachdem sich seine Freundin für eine Bierwerbung öffentlich entkleiden sollte: Vgl. ARCAND (Regisseur), Jésus de Montréal (Jesus von Montreal), 01:07:26–01:10:00.
4. Konkretisierung III – Lernwege und Unterrichtsentwürfe
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hilfreich, z. B. auf das Gemälde von Francesco Boneri bzw. Cecco del Caravaggio350. Die Stärke dieser Interpretation des Geschehens ist, dass Boneri sowohl das energische Auftreten Jesu dynamisch erfasst, als auch ihn zugleich mit dem Nimbus in die Sphäre des Göttlichen rückt. Darüber kann ein Gespräch angeleitet werden, worin eine mögliche Faszination dieses Jesusbildes lag und liegen kann. Die im Handeln Jesu angesprochenen Grunderfahrungen von Wut und Befreiung können zusätzlich in Form einer Schreibmeditation vertieft werden (→ U 2.2, M 1). Die Schreibmeditation soll dann eine stärkere Identifikation mit Jesus ermöglichen und zu einer erfahrungsbezogenen Reflexion über sein Handeln anregen. Der Protest Jesu in Form der Tempelreinigung sollte abschließend, im Sinne einer Rückbindung an den Einstieg, als Katalysator für die Frage fungieren, ob und auf welche Weise Christen sowie Christinnen heute protestieren sollten. Mit Blick auf die vorliegende Sequenz, aber auch auf das vorangegangene Unterrichtsbeispiel, sollte im Sinne der Kompetenzevaluation eine vertiefende Reflexionsphase ansetzen. Möglich ist dies in der Form, dass die Schülerinnen und Schüler zu Jesusvorstellungen anderer Jugendlicher Stellung nehmen (→ U 2.2, M 2).351 Die Auswahl der Zitate ermöglicht dabei eine Bearbeitung nach persönlicher Interessenslage, zugleich wird ein Denkprozess über die eigenen Jesusbilder angeregt, der dann durch ein abschließendes Statement verdichtet wird. Hierin liegt eine Grundlage für die Lehrkraft, die individuelle Kompetenzentwicklung einzuschätzen.
4.2.2.5 Unterrichtsbeispiel 3: „Gott will den Tod des Sünders!?“ – Grenzen der Rede vom göttlichen Zorn aufzeigen, lebenstragende Impulse stärken Das vorliegende Thema lässt sich besonders zielführend im Rahmen von Inhaltsfeld 7 („Religion in einer pluralen Gesellschaft“) kontextualisieren, da es die fundamentalistische oder zumindest fanatische Verwendung der Rede vom göttlichen Zorn in den Blick nimmt. Wichtig ist es dafür, dass Grundlagenkenntnisse in Bezug auf die prophetische Rede von Gott und das darin zum Tragen kommende Motiv des göttlichen Zornes vorhanden sind. Zudem sollte die Fähigkeit entwickelt worden sein, die „Reich-Gottes-Botschaft“ Jesu und insbesondere zentrale Aspekte der Gleichnisrede zu erläutern. An diese Aspekte kann dann das vorliegende Thema anschließen. Bereits hierin zeigt sich, dass die vorliegende 350
351
Für das Gemälde und weitere Hintergrundinformationen siehe WENDERHOLM, Cecco, Die Austreibung der Wechsler aus dem Tempel, online abrufbar unter: web.fuberlin.de/giove/collect/cecco.htm (Stand: 27.06.2020). Die Idee findet sich, wenn auch nicht so ausgearbeitet, auch bei B. SENGWITZ/T. SENGWITZ, Lernen an Vorbildern, S. 18 (m5/?E).
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D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
Auseinandersetzung anspruchsvoll ist und wahrscheinlich erst zum Ende der Sekundarstufe I geleistet werden kann. In meiner eigenen Unterrichtspraxis habe ich diesbezüglich die Erfahrung gemacht, dass religiöser Fanatismus von den Schülerinnen und Schülern hauptsächlich pauschal mit dem Islam in Verbindung gebracht wird. Umso wichtiger erscheint es, ihnen bewusst zu machen, dass hiervon ebenso christliche Gruppen betroffen sein können. Deren lebensfeindliche Agenda dokumentiert sich interessanterweise oftmals im Zusammenhang mit der Rede vom „göttlichen Zorn“. Ein aktueller Unterrichtseinstieg kann eventuell mit Blick auf die aktuelle Corona-Pandemie gefunden werden. Die diesbezügliche, oftmals in Katastrophenfällen zu Tage tretende christlich-fundamentalistische Antwort auf die Ursachen folgt zumeist nämlich einem relativ einfachen Erklärungsansatz, der sich auch schon im Zusammenhang mit dem Wirbelsturm Katrina beobachten ließ: Gott richtet und vernichtet die Sünder. Zugleich wird dies oftmals als Vorgang der Reinigung interpretiert.352 Über diese oder ähnliche Deutungen kann ein erster Gesprächsanlass das hierin deutlich werdende Gottesbild und seine biblischen Grundlagen zum Gegenstand haben. Die Schülerinnen und Schüler werden eventuell selbst Bibelstellen ansprechen, die in eine entsprechende Richtung weisen. Das Problem der fundamentalistischen Begründungsansätze liegt jedoch darin, dass sie die Bibel einseitig rezipieren, indem sie das Gottes- und Menschenbild in ihrem Sinne reduzieren. Ein erster Schritt sollte deswegen zunächst darin liegen, dass die Schülerinnen und Schüler, dieses Muster herausarbeiten. So gehen entsprechende Erklärungsansätze zumindest implizit davon aus, dass Gott die Sünder hasst und ihnen deswegen die Katastrophe als gerechte Strafe widerfahren lässt. Die Rede vom „Zorn Gottes“ wird in diesen Zusammenhängen lebensfeindlich instrumentalisiert, was problematische individuelle Auswirkungen haben kann. Als Grundlage der diesbezüglichen Erarbeitung kann ein SPIEGEL-Artikel über die Rezeption des Wirbelsturms Katrina durch amerikanische Fundamentalisten und ein Bericht über die persönlichen Erfahrungen eines Mannes genutzt werden (→ U 2.3, M 1). Um aufzuzeigen, dass das darin wurzelnde Gottes- und Menschenbild das biblische Gotteszeugnis reduziert, sollen im Anschluss arbeitsteilig zwei Bibeltexte analysiert werden. Zum einen das Buch Jona (besonders die Kapitel 3 und 4) und die Perikope von „Jesus und der Ehebrecherin“ (Joh 8,1–11). Beide Texte ermöglichen es zunächst, das Gottesbild dahingehend zu weiten, dass Gott ebengerade nicht die Vernichtung der Sünder anstrebt. So muss Jona lernen, dass Barmherzigkeit und Mitleid die Haltung Gottes zu Ninive bestimmen (vgl. besonders Jona 3,10 und 4,11). Der Umgang Jesu mit der Ehebrecherin weitet diese 352
Vgl. SCHWABE, "Gott gießt seinen Zorn über Amerika"; online abrufbar unter: http://www.spiegel.de/panorama/juengstes-gericht-gott-giesst-seinen-zorn-ueberamerika-a-373425.html (Stand: 27.06.2020).
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Perspektive mit Blick auf die aufrichtend-liebende Annahme der Sünderin (vgl. Joh 8,10a) und die Dekonstruktion des Musters von Gerechten und Verurteilten (vgl. Joh 8,7). Sinnvoll ist es, auch die wahrscheinlich zu diesem Zeitpunkt bereits bekannte Parabel vom „verlorenen Sohn“ (Lk 5,11–32) einzubeziehen, da zumindest in ihrer theologischen Dimension hier die ungeheure Vergebungsbereitschaft und der Wunsch nach versöhnender Gemeinschaft ins Bild gefasst werden. Gerade in diesen Erkenntnissen liegt ein Schlüssel, das oben benannte Denkmuster von Fundamentalisten anschließend gemeinsam kritisch zu beurteilen. Möglich ist es in diesem Zusammenhang, dass die Schülerinnen und Schüler mit Blick auf die Thematik von Homosexualität und Sünde die Haltung der katholischen Kirche kritisch hinterfragen. Wichtig ist es auch hier, in Unterscheidung zu fundamentalistischen Hass- und Rachefantasien aufzuzeigen, dass auch in katholischer Sicht die Liebe den zentralen Zugang zum Verständnis Gottes und seines Wirkens bildet. In einer zweiten Phase der Erarbeitung sollte eine Reflexion darüber angeregt werden, ob es auch eine positive Verwendung der Rede vom „Zorn Gottes“ gibt/geben kann (→ U 2.3, M 2). Ansatzpunkt kann dabei die Frage sein, was eine aufrichtige Liebe kennzeichnet und inwieweit diese Beziehungsmetapher als Kritik an Ungerechtigkeit hilft, die besondere Zuwendung Gottes zu den Armen auszudrücken. Für beide Zugänge können kurze Zitate von Theologen (Wilfried Härle und Daniel Kosch) als Impulse genutzt werden. Zur Vertiefung des Gedankens von Wilfried Härle (→ U. 2.3, M 2a) ist es denkbar, dass die Schülerinnen und Schüler zunächst mit Blick auf ihre Alltagswelt dafür sensibilisiert werden, dass Liebe eben auch bedeutet, Schaden von anderen Menschen abzuwenden und sie in bestimmten Fällen zur Umkehr zu bewegen. Dieser Gedanke kann dann beispielsweise dahingehend vertieft werden, dass man eine biblische Geschichte unter diesem Gesichtspunkt neu erzählt (z. B. die Jonaerzählung als Geschichte der Sorge und Liebe Gottes um die Niniviten). Eine diesbezügliche Gefahr ist sicherlich, dass Spannungen und Ambivalenzen des jeweiligen Gottesbildes geglättet werden. Deswegen muss auch hier die Frage ansetzen, ob der Sinn des jeweiligen Bibeltextes nicht verfälscht wird. In Bezug auf den Gedanken Daniel Koschs (→ U 2.3, M 2b) ist ein weiterer Ansatzpunkt, dass die Schülerinnen und Schüler zunächst versuchen, seine Position aktiv nachzuvollziehen, indem sie prüfen, inwieweit dieser Gedanke in der Parabel Mt 18,23–34 angelegt ist. Gerade dies müsste dann in einem gemeinsamen Unterrichtsgespräch weiter vertieft werden. 353 Ein weiterführender Schritt 353
Die Aussage Koschs wird gerade mit Blick auf das abschließende Handeln des Königs in Mt 18,34 Widerspruch erzeugen. Hier können dann vom Lehrer einzelne Gesprächsimpulse gegeben werden. So, dass das Handeln des Königs auch auf eine Verhaltensänderung abzielen kann oder ein Verweis auf das Gerichtshandeln Gottes sein kann. Dann muss zugleich deutlich werden, dass dieses Schreckensbild das Verhalten in der Gegenwart verändern will.
320
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
wäre es dann, dass die Schülerinnen und Schüler bereits erworbene Kenntnisse in Bezug auf die Botschaft Jesu reaktivieren, um dazu Stellung zu beziehen, ob Kosch grundsätzlich einen wichtigen Aspekt des diesbezüglichen Gottesverständnisses Jesu erfasst. Weitere Bezüge eröffnen sich zum Alten Testament, beispielsweise mit Blick auf den Propheten Amos. Die so gewonnenen Einsichten sollten abschließend in einer Diskussion dahin gehend verdichtet werden, ob man als aufgeklärter Christ überhaupt noch vom „Zorn Gottes“ sprechen kann. Dafür bietet sich das Placemat-Verfahren an, da hierdurch sowohl die individuelle Positionierung als auch der gemeinsame Austausch ermöglicht wird. Zugleich kann der Lehrer individuell nachvollziehen, inwieweit eine reflektierte Urteilsbildung gelingt. Ziel des daran anschließenden Unterrichtsgesprächs ist es, weitergehend herauszuarbeiten, dass vor allem das leitende Gottesverständnis entscheidend ist, mit dem die Metaphorik des „Zornes Gottes“ aufgegriffen wird: Legt man durch ihre Verwendung Zeugnis von einem Gott ab, dessen Zorn als Teil seiner aufrichtigen Liebe begriffen wird, oder zeigt es einen lebensfeindlichen Gott der Rache? Dient dieses Beziehungsbild dazu, den Menschen in seinem Leben positiv zu unterstützen und ihn an seine Verantwortung für seine Mitmenschen zu erinnern, oder lähmt und zerstört es ihn? Hat auch die Vorstellung von einem letzten Gericht ihre Berechtigung im Rahmen dieser Gottesvorstellung? Gerade so können nicht nur zentrale Inhalte der vorangegangenen Unterrichtsreihe wiederholt und reflektiert werden, sondern die Schülerinnen und Schüler werden in einem ersten Schritt dazu befähigt, mündig an gegenwärtigen Kontroversen zum Thema von Religion und Gewalt (durchaus auch mit Angehörigen der anderen monotheistischen Religionen) teilzuhaben.
4.2.3
„Jesus und der Zorn Gottes“ als Thema in der Qualifikationsphase – Ansatzpunkte einer vertiefenden Auseinandersetzung am Beispiel von Mt 18,23–35
Thematisch ist eine Auseinandersetzung mit dem vorliegenden Lerngegenstand „Jesus und der Zorn Gottes“ auch im Rahmen der Einführungsphase möglich, wie jedoch in den formulierten Kompetenzerwartungen deutlich gemacht wurde, ergeben sich tiefergehende Chancen der Vernetzung und Vertiefung in der Qualifikationsphase. Dies wird hier exemplarisch für die Erschließung der Parabel Mt 18,23–35 aufgezeigt. Die Erarbeitungsdauer ist davon abhängig, wie ausführlich man die jeweiligen Phasen gestaltet. Für den hier vorgestellten Unterrichtsgang sollten jedoch 9 Schulstunden eingeplant werden.
4. Konkretisierung III – Lernwege und Unterrichtsentwürfe
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4.2.3.1 Möglichkeiten der inhaltlichen Kontextualisierung, Zugänge und Lernanlässe Die Thematisierung der Parabel Mt 18,23–35 bietet sich primär im christologisch akzentuierten Inhaltsfeld 3 „Das Zeugnis vom Zuspruch und Anspruch Jesu Christi“ an, bei dem die „Reich-Gottes-Verkündigung Jesu in Tat und Wort“ als inhaltliche Schwerpunktsetzung vorgesehen wird.354 Voraussetzung des gewinnbringenden Einsatzes ist dabei, dass zunächst Grundzüge der diesbezüglichen Verkündigung Jesu bekannt sind. Die dazu notwendige Auseinandersetzung mit den Gleichnissen Jesu bildet den unmittelbaren Ausgangskontext zur Erschließung der für die vorliegende Thematik relevanten biblischen Texte. Um Missverständnissen vorzubeugen, sollte diesbezüglich bereits ein Bewusstsein über die Funktion und den metaphorischen sowie analogen Charakter der jesuanischen Gleichnisrede angebahnt worden sein.355 Zudem sollten formal einzelne Gleichnisgattungen und mit Blick auf die Bildfeldtradition besonders Parabeln in ihrer Deutungsoffenheit für die Gottesherrschaft behandelt worden sein.356 Bereits hierin deutet sich das Inhaltsfeld 2 „Christliche Antworten auf die Gottesfrage“ als zweiter zentraler Bereich der kontextuellen Einbettung an. So kann die Auseinandersetzung mit dem „von Jesus gelebte[n] und gelehrte[n] Gottesverständnis“357 bzw. der für diese Interpretation offenen Gleichniserzählung Mt 18,23–35 natürlich auch im Rahmen eines theologisch akzentuierten Unterrichtsvorhabens erfolgen.358 Im Sinne einer vertiefenden Auseinandersetzung mit dem im Judentum wurzelnden christlichen Gottesverständnis sollten diesbezüglich zuvor dann bereits verschiedene Arten der Gottesrede im Alten Testament und damit verbundene Gottesbilder thematisiert worden sein, um die Gottesrede Jesu in diese Tradition einordnen zu können. Wichtig ist es vor allem, dass die Schülerinnen und Schüler (beispielsweise durch eine vorangehende Auseinandersetzung mit der Exoduserzählung) mit dem hier vorfindlichen Zeugnis eines Gottes vertraut werden, der sich offenbart und doch unverfügbar bleibt, sich seinem erwählten Volk zuwendet und im Sinne seiner Herrschaft konsequent und leidenschaftlich handelt. Nur so wird die Metaphorik der vor-
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Vgl. MSW NRW (Hrsg.), Kernlehrplan für die Sekundarstufe II. Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Katholische Religionslehre, S. 28 (hier auch wörtliche Zitate). Weitergehende Unterrichtsmaterialien für eine entsprechende theoretische Grundlegung finden sich in dem „Religion betrifft uns“-Heft 6/2008 zum Thema „Gleichnisse Jesu“ (vgl. SOHNS, Gleichnisse Jesu, S. 4–9). Zu denken ist dabei besonders an die Erzählung vom „verlorenen Sohn“ (Lk 15,11–32). MSW NRW (Hrsg.), Kernlehrplan für die Sekundarstufe II. Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Katholische Religionslehre, S. 28. Der Lehrplan sieht inhaltlich hier nur sehr allgemein den Schwerpunkt „Biblisches Reden von Gott“ (S. 27) vor.
322
D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
liegenden Parabel nämlich durchlässig für eine vertiefende theologische Reflexion. – Diese kann im Fortgang des Unterrichtsvorhabens sogar ggf. in einer Diskussion verschiedener Gotteskonzepte und der zentralen Frage münden, wie ein personales Gottesverständnis (einschließlich der metaphorischen Rede vom „Zorn Gottes“) mit unserem heutigen Weltbild vereinbart werden kann. Nicht zuletzt verweist Mt 18,23–35 im Rahmen einer theologischen Interpretation dabei auch auf das Gerechtigkeitshandeln Gottes und letztlich auf die Perspektive des eschatologischen Gerichts. „Die christliche Hoffnung auf Vollendung“, wie konkret Inhaltsfeld 6 überschrieben ist, ist also thematisch anknüpfungsfähig (siehe unten). Die sich in Mt 18,23–35 widerspiegelnde Erfahrung von Schuld und Scheitern verdeutlicht zugleich, dass es im Kern auch immer um die Frage nach Grundlagen und Maßstäben des gelingenden Menschseins geht. In dieser Akzentuierung ist das Inhaltsfeld 1 „Der Mensch in christlicher Perspektive“ immer mit berührt.359 In dieser Perspektive liegt zugleich der zentrale Ansatzpunkt, einen Dialog mit der Lebenswelt heutiger Schülerinnen und Schüler anzubahnen. Geht man also von den Lernenden aus, bieten sich unterschiedliche Möglichkeiten. Da Jugendliche und zunehmend junge Erwachsene gerade mit Blick auf ihre Glaubensbiographie vielseitige Erfahrungen gemacht haben, kann es beispielsweise relevant sein, über die eigenen Gottesvorstellungen und ihre Entwicklung ein Gespräch anzuregen. Ebenso ist insbesondere die in Mt 18,23–35 verdichtete Frage nach der eigenen Vergebungsbereitschaft und dem Umgang mit Schuld existenziell bedeutsam, worin das zweite zentrale Dialogangebot liegt.
4.2.3.2 Möglichkeiten der Kompetenzentwicklung Da somit offen ist, wie die vorliegende Sequenz weitergeführt wird, werden nachfolgend nur die im konkreten Unterrichtszusammenhang geschulten Kompetenzen360 und die dafür maßgeblichen Handlungsschritte benannt.
Die Schülerinnen und Schüler • erläutern durch die Analyse von Mt 18,23–35 das von Jesus gelebte und gelehrte Gottesverständnis, indem sie zeitgenössische Deutungshorizonte er•
359 360
arbeiten und verschiedene exegetische Positionen miteinander vergleichen (IF 2, S. 28); erläutern mit Blick auf Mt 18,23–35 die Schwierigkeit einer angemessenen Rede von Gott (IF 2, S. 27) und bewerten daran und an weiteren Beispielen Möglichkeiten und Grenzen des Sprechens vom Transzendenten (IF 2; UK 1, S. 25); Vgl. ebd., S. 26–27. Vgl. ebd., S. 24–31. Konkrete Übernahmen der Lehrplanformulierungen werden kursiv hervorgehoben.
4. Konkretisierung III – Lernwege und Unterrichtsentwürfe • •
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bewerten Ansätze und Formen theologischer und ethischer Argumentation, indem Sie verschiedene exegetische Positionen zur Deutung der vorliegenden Parabel vergleichen und persönlich gewichten (UK 4, S. 25); erläutern Zuspruch und Anspruch der Reich-Gottes-Botschaft Jesu361 als Aufruf zur existenziellen Neuorientierung in Barmherzigkeit und Vergebungsbereitschaft, indem sie diese Sinndimension aus der vorliegenden Parabel herausarbeiten; erläutern und bewerten die mögliche Bedeutung christlicher Glaubensaussagen für die persönliche Suche nach Heil und Vollendung, indem sie in Form kreativer Auseinandersetzung die Frage nach der Gegenwartsbedeutung von Mt 18,23–35 reflektieren (IF 1, S. 27); verleihen ausgewählten thematischen Aspekten von Mt 18,23–35 kriterienorientiert und reflektiert Ausdruck, indem sie ausgehend von den zentralen Sinndimensionen der Parabel eigene Kurzfilme erstellen (HK 6, S. 26).
4.2.3.3 Phasen und Schritte der Texterschließung Da die nachfolgenden Schritte der Bibelauslegung ausführlicher dargelegt werden als zuvor, ist eine Unterteilung in Einzelkapitel sinnvoll. Als Textgrundlage wird hier zunächst Mt 18,23–34 vorgeschlagen.362 Es ist sinnvoll, bis zum Vergleich der exegetischen Positionen, Vers 35 noch nicht einzubeziehen, da ansonsten die theologische Deutung bereits präjudiziert wird. Zur besseren Nachvollziehbarkeit sei, wie bereits zuvor, auf die Übersicht über den Gesamtverlauf im Anhang verwiesen (→ U 3, Verlaufsplan). Die konkrete thematische Fragestellung zur Sequenz hängt sicherlich auch davon ab, welche Aspekte die Schülerinnen und Schüler selbst ins Zentrum rücken. Denkbar mit Blick auf die Verkündigung Jesu ist beispielsweise die Fragestellung: „‚Hat das noch etwas mit dem Gott Jesu zu tun?‘ – Die Parabel Mt 18,23–35“.
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Die diesbezügliche Kompetenzerwartung des Lehrplans wurde modifiziert. Hier wird ursprünglich die Fähigkeit erwartet, den „Zuspruch und Anspruch der Reich-Gottes-Botschaft Jesu vor dem Hintergrund des sozialen, politischen und religiösen Kontextes [zu erläutern]“ (S. 28). In der Oberstufe gewinnt natürlich zugleich die Frage an Relevanz, welche Übersetzung man für den biblischen Text heranzieht. Tragfähig ist sicherlich die revidierte Einheitsübersetzung 2016, denkbar ist auch beispielsweise die Heranziehung der sprachlich und stilistisch innovativen Übersetzung Fridolin Stiers. Ein Rückgriff auf die Übersetzung des Münchener Neuen Testaments ist auch möglich, insofern die Lerngruppe hiermit bereits vertraut ist. Die große Nähe zum Ursprungstext könnte jedoch mit Blick auf die ungewohnte Sprache und Syntax eine erste, persönliche Annäherung erschweren.
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4.2.3.3.1 Vorbereitung und Ansatzpunkte der Textbegegnung Möchte man die vorliegende Parabel als Dialogangebot über persönliche Gottesvorstellungen begreifen, ist es sinnvoll, dies vor der Textbegegnung anzubahnen. Einen Ansatzpunkt bietet der Animationsfilm MISTERTAO von Bruno Bozzetto aus dem Jahr 1988.363 Die eigentliche Sinnspitze dieses nur dreiminütigen Kurzfilms fasst Elisabeth Bartsch wie folgt zusammen: „‚Mistertao‘ ist ein Lehrstück über die Existenz des Menschen, das legen auch die Totalaufnahmen, die den einen, typischen Menschen bei seiner Wanderung zeigen, nahe. Soziale Beziehungen kommen nicht zur Sprache. Der Lebensweg ist zwar steil, wird aber ohne allzu große Mühe […] absolviert. Ist der Gipfel des Lebensweges erreicht, der Weg zu Ende, kann man getrost seinen Proviant verzehren, sein Instrument noch einmal hervorholen und es dann wegwerfen, diese Melodie wird nicht mehr gespielt. Der Übergang in die nächste Seinsstufe ist linear, der Raum nicht näher definiert. Die folgende Begegnung mit der Gestalt im blauen Gewand ist offensichtlich eine Auseinandersetzung mit einem bestimmten, verflachten christlichen Gottesbild (Choräle). Der hier dargestellte Gott eröffnet keine neuen Lebensräume, lässt den Menschen nicht voranschreiten, ermöglicht keine Bewegung, sondern will ihn festhalten und für sich vereinnahmen. Er steht im Gegensatz zum Gottesbild der Bibel und ist ein Zerrbild Gottes, ein Götze. Die leicht ironisierende Art der Darstellung ist selbst schon eine kritische Auseinandersetzung mit dieser kindlichen Gottesvorstellung. Dass der Mensch darin seine Erfüllung nicht finden kann und weiter schreitet, ist plausibel. Offen bleibt, ob es ein Ziel gibt. Die Machart des Films und auch der Titel ‚Mistertao‘ scheinen das eher zu verneinen.“ 364
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BOZZETTO, Bruno (Regie und Animation): MISTERTAO. Bruno Bozzetto Film, Italien 1988. Den Inhalt des vorliegenden Kurzfilms fasst E. Bartsch treffend wie folgt zusammen: „Das Bild eines gemalten Berges erscheint in der Totalen. Ein Ausschnitt zeigt eine Figur, beladen mit einem Rucksack, die begleitet von beschwingter Musik den Berg hinaufsteigt und vor einem Vogel fröhlich den Hut zieht. Schüsse, die wohl dem Vogel gelten, lassen sie aufmerken. Auf dem Gipfel angekommen, hält das Männchen ein Picknick und spielt eine fröhliche Melodie auf seiner Mundharmonika. In der Totalen erscheint kurz der riesige Berg, auf dem der Wanderer sitzt. Der hat nun sein Stück beendet und wirft seine Mundharmonika weg. Selbstverständlich und frei von jeglicher Dramatik setzt er nun seinen Weg nach oben fort, ohne allerdings Boden unter den Füßen zu haben. Auf einer Wolke wird die Gestalt eines alten Mannes in blauem Gewand sichtbar, – der ‚liebe Gott‘, – und der Protagonist schreitet fröhlich aufwärts. Der ‚liebe Gott‘ breitet die Arme aus, die Musik erinnert an Choräle. Statt sich nun in die Arme des ihn Erwartenden fallen zu lassen, zieht der Wanderer freundlich den Hut und beginnt liebenswürdig-distanziert ein Gespräch. Der angedeutete Dialog führt dazu, dass er seinen Weg fortsetzt, über den ‚lieben Gott‘ hinweg und dieser erstaunt, wütend und schließlich ratlos auf die Knie sinkt und dem Vorwärtsschreitenden nachschaut. Der geht weiter durch das blaue All aus dem Bild heraus.“ (BARTSCH, Arbeitshilfen Mistertao, Kap.: Inhalt und Gestaltung, online abrufbar unter: http://www.materialserver.filmwerk.de/arbeitshilfen/mistertao_ah.pdf [Stand: 25.06.2020]). Ebd., Kapitel: Interpretation.
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In MISTERTAO wird also ausdrücklich die Frage nach dem Gottesbild aufgeworfen und allzu kindlich-naive Gottesvorstellungen werden, aufgrund ihrer Folgen- und damit Bedeutungslosigkeit für das persönliche Leben, problematisiert. Auch wenn man dies nicht verallgemeinern kann, werden einigen Schülerinnen und Schülern entsprechende Erfahrungen in der Entwicklung ihres eigenen Gottesbildes vertraut sein. Vielleicht greifen sie sogar mitunter unbewusst auf entsprechende Gotteskonzepte zurück.365 In jedem Fall bietet der Film eine Möglichkeit, über die Gottesvorstellungen ins Gespräch zu kommen. Ein Ausgangspunkt ist es, abzuwägen, wie sie selbst in ihrer momentanen Situation einen Film über ihre Gottesvorstellungen gedreht hätten. Im Vergleich zum Kurzfilm bildet die Parabel Mt 18,23–35 einen Kontrast. Theologisch gedeutet zeigt sich hier die Vorstellung eines Gottes, der verbindlich ist und den Menschen mit Blick auf seine Lebensorientierung in die Verantwortung nimmt. Er tut dies, so kann man unter Einbezug der weiteren Botschaft Jesu herausstellen, weil er sich in der Beziehung zum Menschen ernsthaft-liebend zeigt. Gerade dies ist ein zentrales Sinnangebot, über das ein anschließender Dialog mit dem Bibeltext angebahnt werden kann. Die Textbegegnung kann aber auch unmittelbarer über die Frage nach der persönlichen Vergebungsbereitschaft eröffnet werden. Dafür kann die Lehrkraft beispielsweise einzelne Situationen, in denen Vergeben sowie Verzeihen gefordert ist, vorstellen und die Schülerinnen und Schüler in Form verschiedenfarbiger Karten zu einer Positionierung herausfordern.366 Im anschließenden Unterrichtsgespräch werden so sicherlich unterschiedliche Haltungen mit Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen des Verzeihens deutlich. Der davon ausgehende Einbezug des Bibeltextes greift diese Frage auf, konfrontiert jedoch mit einer radikalen Entwicklung, was irritieren kann. Die eigentliche Textbegegnung muss dann im Anschluss ermöglichen, dieser Irritation Ausdruck zu verleihen. Denkbar ist es deswegen, einen „spontan-assoziativen Dialog“ mit dem Text anzuregen.367 Bei diesem Schritt können ggf. auch 365
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Vgl. mit Blick auf eine diesbezügliche religiöse Orientierung Jugendlicher die herausgestellten Ergebnisse zum Vorstellungskomplex des „Moralisch-Therapeutischen Deismus“ in Kapitel D.2.4. Diesbezüglich sollte die Mehrdeutigkeit von „schuldig sein“ in den Blick geraten. So können sich erste Aussagen ja durchaus auf den Aspekt von Geldschulden beziehen, z. B. „Ein Freund schuldet Dir 100 Euro und zahlt es Dir nicht zurück …“, dann aber auch die Dimension von moralischer Schuld zunehmend in den Blick nehmen. Die Positionierung kann durch drei verschiedenfarbige Karten erfolgen, z. B. rot = kann ich nicht erlassen/verzeihen, gelb = kann ich unter Umständen erlassen/verzeihen, grün = kann ich ohne Probleme erlassen/verzeihen. Zu dieser Methode bemerkt F. Troue: „In EA bearbeiten die Sch [sic!] ihr AB, auf dem der Text mittig mit großem Zeilenabstand platziert ist. Um den Text bleibt ein großer Randbereich frei. Nun treten die Sch mit dem Text in einen Dialog, indem sie auf dem Textrahmen und zwischen den Zeilen Gedanken, Gefühle, persönliche Erfahrungen und Erlebnisse notieren oder malen, die ihnen während des Lesens gekommen sind. Abschließend
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D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
Gefühle, beispielsweise aus der vorangegangenen Auseinandersetzung zum Ausdruck gebracht werden. Entsprechende Assoziationen können zudem in Form von einzelnen, verschiedenfarbigen Karteikarten gesammelt und dann als Plakat visualisiert werden, um so im Laufe der weiteren Bearbeitung wieder aufgegriffen zu werden.
4.2.3.3.2 Schritte der Texterarbeitung Grundlage einer Texterschließung ist bis in die Oberstufe hinein, dass sein Inhalt und seine Struktur differenziert erfasst werden. Vorrangig sollte dann aber die Urteilsbildung den Schwerpunkt der Beschäftigung mit dem biblischen Text bilden.368 Neben der klassischen Textgliederung kann es in Bezug auf die vorliegende Gleichniserzählung hilfreich sein, neuere exegetische Ansätze, wie die „Analyse im Filmblick“ einzubeziehen. 369 So können die Schülerinnen und Schüler durch die Herausarbeitung kleinster Segmente und Montagen die parallele Struktur der beiden Szenen zwischen dem jeweiligen Gläubiger und Schuldner erkennen. Zudem gerät die Rolle der Erzählfiguren, besonders die des Königs, in der Gesamtdramaturgie der vorliegenden Erzählung vertiefend in den Blick, wenn man beispielsweise die Frage nach dem Standort des Erzählers (bzw. Kameramanns) einbezieht. Dadurch werden neben der Struktur des Textes bereits erste deutungsrelevante Erkenntnisse gewonnen. Gerade der Unterricht in der Qualifikationsphase ermöglicht es im Anschluss, auch komplexere Zusammenhänge für eine vertiefende Interpretation zu erfassen. Ein erster, tiefergehender inhaltlicher Analyseschritt besteht darin, dass die Schülerinnen und Schüler Hinter-
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tauschen sich die Sch in PA über ihre Ergebnisse aus.“ (TROUE, 44 plus 4 Methoden für die Bibelarbeit, S. 37). Vgl. auch MAISCH-ZIMMERMANN, Zugänge zur Bibel, S. 701–702. Vgl. zu diesem Ansatz auch die Zusammenfassung bei FISCHER, Wege in die Bibel, S. 78–80. Dieser maßgeblich von R. Zwick entwickelte Analyseansatz muss, falls die Lerngruppe noch nicht mit ihm vertraut ist, nicht in aller Komplexität erfolgen. G. Fischer verweist zu Recht darauf, dass bereits der Zugang, den biblischen Text als ein „Drehbuch zu einem Film zu betrachten“, neue Perspektiven eröffnen kann (vgl. ebd., S. 79–80; wörtliches Zitat auf S. 79). Mit Blick auf die vorliegende Gleichniserzählung können dabei Fragen hilfreich sein wie: „Wo ändert sich die räumliche Perspektive und damit verbunden eine mögliche Kameraeinstellung?“; „An welchen Stellen werden einzelne Erzählfiguren fokussiert?“; Wo finden Orts- und Personenwechsel statt?“; „Lässt sich ein dramaturgischer Höhepunkt erkennen?“ „Welche grundlegenden Schnitte lassen sich davon ausgehend ausmachen?“. Meistens kommen die Schülerinnen und Schüler von selbst sogar noch auf weitergehende Ideen. So schlugen sie im Rahmen der Erprobung dieser Methode vor, ins Drehbuch Hinweise zur „Rollenbeschreibung der Charaktere“, „musikalischen Untermalung und Kulisse“, der Integration eines Leitmotivs und Verwendung weitergehender Symbolik aufzunehmen.
4. Konkretisierung III – Lernwege und Unterrichtsentwürfe
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grundinformationen zum sozialgeschichtlichen Kontext der Parabel und mögliche metaphorische Bezüge auswerten (→U 3, M 1). Als Sozialform bietet sich dafür eine arbeitsteilige Partnerarbeit an. Auch wenn die Schülerinnen und Schüler ggf. einen solchen Zugang zum biblischen Text erstmalig kennenlernen, sollten sie dabei zunächst selbstständig vorausgehende Untersuchungsfragen entwickeln370 und das Material davon ausgehend zielgerichtet erarbeiten. Dieser vorgelagerte Schritt erscheint vor allem deshalb lohnenswert, da die Lernenden so über die konkrete Einzelerarbeitung hinausgehend zunehmend für mögliche Vieldeutigkeit der Bildwelt in Parabeln und im Sinne des historischen Arbeitens für die Notwendigkeit eines Perspektivenwechsels bzw. Einbeziehung des zeitgenössischen Maßstabs sensibilisiert werden. Anzustreben ist diesbezüglich, dass die Bildwelt der Parabel auf Grundlage weiterer biblischer Texte entschlüsselt wird. Da dies jedoch eventuell zu komplex sein kann, ist es auch hier möglich, z. B. auf Grundlage des entsprechenden Kapitels in der exegetischen Analyse, einen Informationstext zu verfassen, der die wichtigsten metaphorischen Bezüge erläutert. Die Untersuchung des sozialgeschichtlichen Kontextes und des semantischen Gehalts der Bildwelt hat für die konkrete Parabel bzw. den bisher vorliegenden Textauszug Mt 18,23–34 insgesamt die Funktion, den Schülerinnen und Schülern die Mehrdimensionalität der Erzählung bewusst zu machen. Hierdurch können sie einerseits erkennen, wie diese auf alltägliche und für das Schicksal des Einzelnen bedrohliche Erfahrungen der damaligen Lebenswelt Bezug nimmt, zugleich aber in ihrer Übertreibung den Raum für eine mehrsinnige, auch theologische Interpretation weitet.371 Die bereits so gewonnenen Sachkenntnisse können in ersten Deutungsansätzen verdichtet werden, zugleich aber in einen weitergehenden Schritt der Interpretation einfließen. Im Unterricht der Sekundarstufe II können vor allem auch kontroverse exegetische Positionen und Deutungen eines biblischen Textes eine Problemstellung bilden, die zur Urteilsbildung herausfordern.372 Gerade die vorliegende Parabel ist mit ihren bis in die Gegenwart andauernden kontroversen Auslegungen bzw. der Streitfrage, ob sie auf Gott verweist, dazu prädestiniert, einzelne Forschungsmeinungen einzubeziehen (→ U 3, M 2): Während Luise Schottroff und Manfred Köhnlein eine Gleichsetzung des Königs in der Parabel mit Gott vehe-
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Dies kann, je nach der Erfahrung der Lerngruppe mit entsprechenden Analyseschritten, zunächst in sehr einfacher Form dadurch geschehen, dass die Schülerinnen und Schüler Fragen zum historischen Hintergrund und der Bildwelt formulieren, z. B.: „Wie erging es Sklaven im Römischen Reich?“ oder „Wen konnte das Bild des Königs im damaligen Kontext meinen?“ etc. Vgl. hierzu auch die Ergebnisse der exegetischen Analyse. Vgl. MAISCH-ZIMMERMANN, Zugänge zur Bibel, S. 701
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D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
ment ablehnen373, sprechen sich Walter Klaiber und Daniel Kosch für eine theologische Interpretation aus374. Es ist sicherlich von der jeweiligen Lerngruppe abhängig, welche Positionen man aus der oben vorgestellten Auswahl einbezieht. Wichtig ist es jedoch, zumindest ein kontroverses Beurteilungsspektrum aufzuzeigen, innerhalb dessen eine eigene Positionierung möglich wird und ein eigener Verständniszugang ausgebildet werden kann. Für eine spätere Überprüfung der Ergebnisse ist denkbar, einen der Texte in einer späteren Klausur zu verwenden. Als Überleitung zu dieser Phase kann zunächst das Vorlesen des Abschlusses der Parabel in Mt 18,35 dienen, da hierdurch bereits eine Gleichsetzung des Königs mit Gott nahegelegt wird, was sicherlich zu ersten Stellungnahmen in der Lerngruppe führen wird. Bei der nachfolgenden Erschließung der exegetischen Positionen bietet sich eine kooperative Arbeitsform an, die z. B. in Form eines Gruppenpuzzles gestaltet werden kann. Zur Unterstützung des Vergleichs dient eine Sicherungstabelle, in die der jeweilige Experte seine Ergebnisse einträgt und die im Rahmen der zweiten Phase der Stammgruppenarbeit dann vervollständigt wird.375 Der bereits so angelegte Austausch sollte dann in eine gemeinschaftliche Diskussion im Plenum münden.376 Da eine erneute Zusammenfassung der Einzelpositionen zu große Redundanzen aufweisen würde, bietet sich eine integrierende Leitfrage an, z. B.: „Die Parabel Mt 18,23–35 – Kontrastbild zu der oder Verweis auf die heilvolle Herrschaft Gottes?“ oder provokanter: „Hat diese Parabel noch etwas mit Gott zu tun?“. In diesem Zusammenhang können dann in 373
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L. Schottroff interpretiert die vorliegende Parabel als „antithetisches Gottesgleichnis“, das den klaren Unterschied zwischen dieser Welt und der heilvollen Herrschaft Gottes kennzeichnen möchte (vgl. SCHOTTROFF, Die Gleichnisse Jesu, S. 264–266; wörtliches Zitat auf S. 265). M. Köhnlein geht darüber hinaus davon aus, dass Vers 35 ursprünglich sogar gegenteilig gelautet haben könnte, nämlich: „Ganz anders wird mein himmlischer Vater an euch tun, wenn ihr einander von Herzen vergebt, ein jeder seinem Bruder.“ (KÖHNLEIN, Gleichnisse Jesu – Visionen einer besseren Welt, S. 105). W. Klaiber sieht eine Sinnspitze vor allem in dem Gnadenerweis Gottes und der daraus resultierenden Mahnung, aus der Vergebung Gottes heraus zu leben und diese in sein eigenes Leben zu integrieren (vgl. KLAIBER, Das Matthäusevangelium II, S. 53–55). D. Kosch begreift den in der Gleichniserzählung aufscheinenden göttlichen Zorn im Zusammenhang mit der weiteren jesuanischen Botschaft als „die Kehrseite seiner [= Gottes; C.W.] Solidarität mit den Armen“ (KOSCH, Zärtlichkeit und Zorn – Der Gott Jesu, S. 53). Als Vergleichsfragen für die jeweiligen Texte sind dabei vorgesehen: „Passt die Parabel sinnvoll in die Verkündigung Jesu?“; „Könnte der König für Gott stehen?“; „Enthält die Parabel Denkanstöße zur Botschaft Jesu von der Gottesherrschaft?“; „Was will die Parabel bei den Zuhörern bewirken?“; „Lässt sich eine eindeutige Aussageabsicht der Parabel feststellen?“. Alternativ ist es möglich, dass zuvor in arbeitsteiliger Gruppenarbeit die jeweiligen exegetischen Positionen vorbereitet werden, jede Gruppe einen Sprecher bestimmt und davon ausgehend eine Talkshow zur Deutung der vorliegenden Gleichniserzählung erfolgt, bei der die Schülerinnen und Schüler diese vertreten.
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Form eines Tafelbildes auch Teilaspekte der exegetischen Positionen gesichert werden. Zugleich sollte aber darauf geachtet werden, die Diskussion zu weiten, indem die Schülerinnen und Schüler bereits gewonnene Erkenntnisse über die „Reich-Gottes-Botschaft“ Jesu reaktivieren und zur Urteilsbildung heranziehen. Im Sinne einer vertiefendenden Annäherung an das von „Jesus gelehrte und gelebte Gottesverständnis“ 377 kann die Lehrkraft dann durch Impulse zu einer tiefergehenden Reflexion anregen, indem er/sie beispielsweise die Frage zur Diskussion stellt: „‚Der Gott Jesu – liebend und zornig?“. Dadurch wird die vorliegende Sequenz eingebettet in den größeren Zusammenhang der Entwicklung theologischer Sachkompetenz. Wichtig ist es jedoch, dass auch bei diesem Schritt keine Engführung der Interpretation der vorliegenden Parabel erfolgt.378 So sollte abschließend noch eine persönliche Stellungnahme zum Bibeltext angeregt werden. Methodisch bietet sich hierfür beispielsweise das Placemat-Verfahren an, bei dem die Schülerinnen und Schüler zunächst auf Individualfeldern ihre Deutung eintragen, diese dann im Uhrzeigersinn herumgegeben und kommentiert werden, um davon ausgehend ein gemeinsames Gruppenergebnis zu entwickeln bzw. unterschiedliche Deutungsansätze zu sammeln. Mit Blick auf die von Ruben Zimmermann zu Recht postulierte „verbindliche Offenheit der Auslegung“379, sollten die Einzeldeutungen anschließend im Plenum besprochen und ihre Angemessenheit diskutiert werden. Eine zentrale Aussage der vorliegenden Parabel liegt darin, dass im Zeichen des Beginns der heilvollen Herrschaft Gottes eine existenzielle Neuorientierung in Barmherzigkeit und Vergebungsbereitschaft gegenüber dem Mitmenschen gefordert wird. Auch wenn man die Erzählung dabei wie Luise Schottroff und Manfred Köhnlein als „antithetisches Gottesgleichnis“380 begreift, stimmen jedoch alle Interpretati377
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MSW NRW (Hrsg.), Kernlehrplan für die Sekundarstufe II. Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Katholische Religionslehre, S. 28. Gerade die kontroversen exegetischen Auslegungen von Mt 18,23–35 zeigen, dass vielschichtige Deutungen möglich sind, deren verbindende Sinndimensionen herausgearbeitet werden müssen. Zu Recht bemerkt F.W. Niehl im Kontext der Entfaltung seines dialogischen Exegeseansatzes: „Eine abschließende und unstrittige Deutung des Bibeltextes wird dabei nicht angestrebt. In ihrer grundsätzlichen Mehrdeutigkeit sperren sich biblische Erzählungen gegen eine adäquate Abbildung in einer Auslegung. Stattdessen erschließt die dialogische Exegese eine Reihe von Möglichkeiten, mit dem Text ins Gespräch zu kommen. Der damit inszenierte Diskurs bleibt grundsätzlich offen. Sein Ziel ist ein umkreisendes Verstehen, das den Text durchsichtig macht, ohne ihn auf eine ‚Bedeutung‘ zu reduzieren.“ (NIEHL, Dialogische Exegese, S. 235–236). – Diese Position darf jedoch nicht als ein Auslegungsrelativismus missverstanden werden. So gibt es, wie nachfolgend aufgezeigt wird, eindeutige und verbindliche Sinndimensionen der vorliegenden Gleichniserzählung, die den Deutungsspielraum eingrenzen. ZIMMERMANN, Das neue „Kompendium der Gleichnisse Jesu“, S. 97. SCHOTTROFF, Die Gleichnisse Jesu, S. 265.
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D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
onsansätze in einem zentralen Punkt überein: Im Hintergrund von Mt 18,23–35 steht ein Verständnis Gottes, der in seiner unermesslichen Gnade noch so große menschliche Schuld vergibt. Im Kern geht es also darum, die heilvolle Herrschaft Gottes als befreienden Gnadenerweis Gottes zu begreifen, der zu neuer Vergebungsbereitschaft gegenüber dem Menschen befähigt und herausfordert. So eröffnet die Parabel also direkt oder indirekt die Perspektive auf eine aufrichtige und ernste Liebe Gottes, worin eine zentrale Sinndimension gesehen werden kann.
4.2.3.3.3 Perspektiven der weitergehenden Aneignung Die mit der abschließenden Phase oftmals intendierte „Gestaltwerdung/Verinnerlichung“381 ist im Rahmen heterogener schulischer Lerngruppen sicherlich begrenzter möglich als in Bibelkreisen, die sich zumeist schon mit dieser Absicht versammeln. Um deutlicher zu machen, dass die Parabel mit dem gnadenlosen Knecht auf ein grundlegend destruktives Verhalten aufmerksam macht, kann beispielsweise eine Schreibmeditation angeregt werden (→ U 3, M 3). Letztere kann auch dabei helfen, sich von der konkreten Bildwelt zu lösen und der existenziellen Bedeutung der Parabel auf den Grund zu gehen. Gerade in der Oberstufe sollte dann die Chance genutzt werden, dass sich die Schülerinnen und Schüler kreativ und eigenständig in der Auseinandersetzung mit dem Bibeltext entfalten können. Gleichwohl ist es auch hier wichtig, dass ein sinnstiftender Bezug zu diesem erhalten bleibt. Die oben skizzierten Sinndimensionen markieren somit zugleich auch eine Grenze dessen, was an kreativer Aktualisierung, Verfremdung382 und letztlicher Ausdeutung des biblischen Stoffes zulässig ist. In Bezug auf die Gesamtkonzeption der vorliegenden Unterrichtsequenz erscheint vor allem eine Transformation der vorliegenden Parabel in das Medium „Kurzfilm“ zielführend.383 Zutreffend bemerkt Reinhold Zwick diesbezüglich: „Angesichts der heute im Zeichen der Digitaltechnik vorhandenen Möglichkeiten, leicht und kostengünstig eigene Filme zu drehen, und angesichts der hohen IT-Kompetenz vieler Jugendlicher, die sie befähigt, fast spielerisch mit Filmbearbeitungs-, Schnitt- und Nachvertonungsprogrammen umzugehen, so dass sich ein selbstgedrehter Film dann auch ,sehen lassen‘ kann, birgt die Erarbeitung eigener Bibelver-
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S. BERG, Kreative Bibelarbeit in Gruppen, S. 15. Gerade Verfremdungen können damit arbeiten, die Aussagen biblischer Texte radikal ins Gegenteil zu verdrehen, um Widerstände zu wecken. Entscheidend ist dabei, dass die Verfremdung sich nicht in dieser Provokation erschöpft, sondern sie die Pointe des biblischen Textes neu ins Bewusstsein rufen will (vgl. auch HECHT, Bibel erfahren, S. 74–75). Zur Methode siehe auch NIEHL/THÖMMES, 212 Methoden für den Religionsunterricht, S. 129. Leider wird dieser Ansatz hier nur schemenhaft skizziert.
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filmungen […] ein ungeheures Potenzial. Solche Filmversuche in Form von Kurzspielfilmen oder Trickfilmen […] werden sich in aller Regel um eine Aktualisierung der ausgewählten biblischen Erzählung bemühen. Auch dann bedarf es aber zur Erarbeitung eines Drehbuchs, das die Pointe des Textes nicht verfehlen will, einer sorgfältigen Analyse der biblischen Vorlage, die auf deren Dramaturgie, ihr szenisches Potenzial und ihre narrative Logik lauscht und womöglich bereits die biblische Erzählung als ‚Szenario‘, als Kurzdrehbuch zu einem virtuellen Film, zu lesen versucht.“384
Während die von Zwick zu Recht angemahnte, notwendige Vorbereitung bereits durch die vorangestellten Arbeitsschritte angeleitet wurde, könnten die Schülerinnen und Schüler darauf aufbauend eigene Kurzfilme produzieren. Diesbezüglich soll es aber ebengerade nicht um die (ggf. noch aktualisierte) Nacherzählung des biblischen Textes gehen. Reizvoll ist es vielmehr, dass die Lernenden, analog zu den vielfältigen Weisen, in denen biblische Stoffe heute aufgegriffen werden385, offenere Umsetzungsweisen wählen. Im Sinne der Zieltransparenz sollten deswegen die Kriterien deutlich gemacht werden (→U 3, M 4). Anliegen dieser Phase ist es, die sinnstiftenden Tiefendimensionen der Parabel neu erfahrbar werden zu lassen. Neben der Erstellung eines kurzen Skripts/Drehbuches ist vor allem auch das Verfassen eines theoretischen Kommentars zielführend, bei dem filmische Inszenierungstechniken und Schwerpunktsetzungen in Bezug auf die theologische Aussageabsicht einsichtig gemacht werden. Die Qualität der Ergebnisse hängt in diesem Zusammenhang mit davon ab, inwiefern dieser methodische Zugriff bereits in der Sekundarstufe I vorbereitet und eingeübt wurde. In jedem Fall fordert dieser Zugriff aber zu einer erfahrungsbezogenen Auseinandersetzung heraus und kann so einen gemeinsamen Dialog über die Lebensbedeutung der Parabel anregen. Entsprechende neue Sinndimensionen sollten deswegen auch im Rahmen der Gesamtdeutung ergänzt werden. Sinnvoll für die Begleitung des gesamten Lernprozesses ist es, abschließend einen kurzen Evaluationsbogen hineinzugeben (→ U 3, M 5). Dadurch können die Schülerinnen und Schüler abschließend ihre Erkenntnisse, aber auch neue methodische Zugänge zur Bibel reflektieren.
4.2.3.4 Ansatzpunkte der Weiterarbeit im Kontext christlicher Eschatologie Eine Spannung innerhalb der Unterrichtsgestaltung ist sicherlich, dass die Gerichtsperspektive nicht Überhand gewinnt, und so die Freuden- und Heilsbotschaft Jesu in den Hintergrund rückt. Dazu ist es wichtig, ein Bewusstsein dafür 384
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ZWICK, Bibel im Film, S. 632 (hier bereits die Verwendung einfacher Anführungsstriche). Eine diesbezüglich ausführliche theoretische Grundlegung und Skizzierung unterrichtspraktischer Möglichkeiten bietet die 2020 erschienene Studie „Parabel und Kurzfilm“ von H. M. Lange. Vgl. auch ZWICK, Bibel im Film, S. 628–632.
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anzubahnen, dass die von Jesus verkündete Herrschaft Gottes den Menschen von innen heraus verwandelt und ihm neue Lebensmöglichkeiten eröffnet. Nur so kann nämlich verstanden werden, dass die Gerichtsansagen nicht einfach ein gottgefälliges Verhalten erzwingen wollen.386 In der Fortführung des Unterrichts besteht dann die Möglichkeit, Inhaltsfeld 3 und Inhaltsfeld 6 konstruktiv miteinander zu vernetzen, indem man weitergehend die Gerichtsbotschaft Jesu behandelt. Möglich wäre es in diesem Zusammenhang, die Endzeitrede(n) Jesu, und mit Blick auf einen Verweis auf das göttliche Zorngericht, besonders Lk 21,23387, in den Blick zu nehmen. Von der inneren Logik her empfiehlt es sich im Unterrichtszusammenhang jedoch vor allem auch, Mt 18,23–35 mit der bildhaften Rede vom Weltgericht in Mt 25,31– 46 in Beziehung zu setzen. Konkret kann eine Annäherung über traditionelle „Inszenierungen“ des Jüngsten Gerichts in der bildenden Kunst oder Musik erfolgen, wie sie sich beispielsweise (ohne dass hier jeweils ausschließlich Mt 25,31–46 aufgegriffen wird) in zahlreichen Werken des Mittelalters zeigt. 388 In Abgrenzung zu diesen sehr konkreten thematischen Zugängen könnte in der Oberstufe dann eine größere Sensibilität für die Metaphorik der hier vorliegenden Sprache durch eine aspektorientierte Analyse der Bildfeldtradition (z. B. der Rede vom Menschensohn im Ersten Testament) gewonnen werden. Zentral ist, die Gerichtsbilder nicht als Drohung eines fernen Unheils, sondern als Anfragen an die aktuelle Lebensorientierung zu begreifen. Ein Ansatz kann sein, dass die Schülerinnen und Schüler die Passage Mt 25,34–46 verfremden, indem sie die hier geäußerten Maßstäbe radikal ins Gegenteil verkehren.389 Gerade durch die so bewirkte Irritation kann ihnen neu einsichtig werden, dass Mt 25,35–36 Maßstäbe benennt, die unserem Anspruch an eine humane Gesellschaft und unserem Gerechtigkeitsempfinden zutiefst vertraut sind. So kann die Hoffnungsperspektive auf ein eschatologisches Gericht, in dem diese Maßstäbe trotz einer mitunter anderen Weltwirklichkeit als wahr und richtig anerkannt werden, neue Lebensbedeutsamkeit gewinnen.
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Beispielsweise durch eine Thematisierung des Gleichnisses vom Schatz im Acker. Vgl. hierzu auch die weiterführenden Gedanken bei KOSCH, Zärtlichkeit und Zorn – Der Gott Jesu, S. 55–56. Hier könnten dann von Lukas verwendete Motive mit Bezugstexten des Alten Testaments verglichen werden, um anschließend mit Blick auf den Entstehungskontext des Evangeliums herauszuarbeiten, wie dadurch die Gegenwart gedeutet wird. Eine eindrucksvolle „Darstellung“ des Weltgerichts ist beispielsweise das um 1435 entstandene Werk Stefan Lochners. Für eine Abbildung und Beschreibung siehe NAGEL, Das "Weltgericht" en détail ... (2), online abrufbar unter: https://museenkoeln.de/portal/ bild-der-woche.aspx?bdw=2002_48 (Stand: 27.06.2020). Ebenso ist an den mittelalterlichen Hymnus „Dies irae“ zu denken. Zur Methode siehe H ECHT, Bibel erfahren, S. 74–76 (hier auf S. 75–76 auch ein interessantes Beispiel der „satanischen Seligpreisungen“).
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Grundsätzlich sollten stets aber auch systematisch-theologische Überlegungen einbezogen werden, wie Gottes Gericht heute verstanden werden kann.390 Bei einer Akzentuierung des Unterrichtsvorhabens mit Blick auf die christliche Eschatologie kann sogar eine anschließende Weiterführung der Thematik bis hin zur Offenbarung des Johannes ein vertiefendes Verständnis über die Funktion entsprechender Schreckensvisionen, die ebengerade nur vor dem Hintergrund der universalen Heilszusage Gottes als Hoffnungsbilder verstehbar werden, fördern.391
4.3
Erste Eindrücke aus der Unterrichtspraxis
Die Kapitelüberschrift ist bewusst zurückhaltend gewählt. So versteht sich die vorliegende Studie als Anregung für die Implementierung und nachhaltige Integration des Lerngegenstandes „Jesus und der Zorn Gottes“ in den Religionsunterricht. Es geht also um die Anbahnung eines längerfristigen Prozesses, dessen Wirksamkeit erst nach einer gewissen Dauer evaluiert werden kann. Insofern möchte ich zunächst nur erste Eindrücke wiedergeben, die ich bei der Durchführung eines Teils der oben skizzierten Unterrichtssequenz zur interaktionalen Bibelauslegung von Mt 18,23–35 in einem Grundkurs der Q1 im Rahmen meiner Arbeit am Gymnasium Lindlar gemacht habe. 392 Thematisch war sie dabei in die Auseinandersetzung mit der „Reich-Gottes-Verkündigung“ Jesu eingebettet. Positiv hervorzuheben ist, dass bereits die Auswahl der Parabel auf großes Interesse der Lernenden und mit Blick auf ihr von manchen als brutal sowie herzlos wahrgenommenes Ende von Beginn an auf vielseitige Diskussionen stieß. So artikulierten die Schülerinnen und Schüler im Anschluss an die erste Textbegegnung Fragen, Thesen und Kritik. Letztere richtete sich erwartbar gegen das Handeln des Königs, das dahingehend hinterfragt wurde, ob es gerecht sei. Mit Blick auf das für manche typisch menschliche Verhalten des „unbarmherzigen Knechts“ wurde jedoch ebenso nüchtern festgestellt: „Jeder ist sich selbst am nächsten.“ Ein Schüler warf sogar ausdrücklich die Frage auf, ob hier nicht „der barmherzige Gott“ kritisiert werde. Insgesamt zeigt sich also, dass gerade die vorliegende Parabel zu theologischen wie auch anthropologischen Überlegungen einlädt.
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Materialien hierzu finden sich in der von H.-M. MINGENBACH und L. RICKEN erarbeiteten Unterrichtsreihe „Zugänge zur neuen Eschatologie. Vom Kommen Gottes“ (= „Religion betrifft uns“, Heft 3/2013). Interessant ist vor allem das Modul 2. Hilfreiche diesbezügliche Materialien finden sich in der von A. KALL erarbeiteten Unterrichtsreihe zum Thema „Apokalyptik. Hoffnungsbotschaft in bedrängter Zeit“ (= Religion betrifft uns, Heft 5/2009). Leider war es mir nur möglich, die ersten beiden Phasen im Rahmen der Elternzeitvertretung eines Kollegen durchzuführen.
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Die nachfolgende „Analyse im Filmblick“ sensibilisierte dabei nicht nur für den szenischen Aufbau der Parabel, sondern rückte, wahrscheinlich durch die neu gewonnene Anschaulichkeit der erzählerischen Inszenierung, zunehmend auch die Frage ins Zentrum, ob hier etwas über die Herrschaft Gottes bzw. wie die Schülerinnen und Schüler es formulierten „das Himmelreich“ ausgesagt werden soll. Im darauffolgenden Erarbeitungsprozess zeigte sich, dass die vorliegende Gleichniserzählung höchst komplex ist, da sich in ihr sowohl Momente der Beschreibung heilloser irdischer Zustände als auch Verweise auf das heilvolle Wirken Gottes finden. Insofern blieben auch weitere, vorläufige Deutungen offen. Die Diskussion verdichtete sich in der Lerngruppe besonders mit Blick auf Mt 18,34. Insofern griff der anschließende Vergleich exegetischer Positionen bereits von den Schülerinnen und Schülern angestellte Denkbewegungen auf, konnte diese jedoch gerade mit Blick auf die Botschaft Jesu von der heilvollen Herrschaft Gottes vertiefen. Um alle Schülerinnen und Schüler zu einer diesbezüglichen Auseinandersetzung zu bewegen, wurde eine Abschlussreflexion von jedem in einer Einzelarbeit bzw. nachfolgenden Hausarbeit schriftlich durchgeführt. Dabei sollten die Schülerinnen und Schüler erörtern, ob sich die Parabel mit der Botschaft Jesu von der „Liebe Gottes“ bzw. der heilvollen Herrschaft Gottes vereinbaren lässt, und davon ausgehend ihre persönlichen Deutungen entwickeln. Während bei letzteren fast durchgängig die Bedeutung der Vergebungsbereitschaft im Umgang mit den Mitmenschen fokussiert wird, zeigen sich die größten Unterschiede bei der Frage nach der Vereinbarkeit dieser Erzählung mit dem Gottesverständnis Jesu. Wie zu erwarten, ist in diesem Zusammenhang vor allem Vers 34 als möglicher Verweis auf einen zornigen-richtenden Gott Gegenstand der persönlichen Erörterung. Ein Schüler lehnt beispielsweise die, hier seiner Meinung nach deutlich werdende Vorstellung eines Gottes ab, der seinem Zorn freien Lauf lässt, Menschen physischen Schaden zufügt und sich an ihrem Leid erfreut. Einen Ausweg findet ein anderer Schüler darin, dass er sich vom Bild der Folter als konkreten Verweis auf das „Himmelreich“ und das Handeln Gottes löst und vielmehr die Eindringlichkeit der in der Parabel angemahnten Forderungen nach Vergebungsbereitschaft herausstellt: „Vielmehr zeigt er [= Jesus; C.W.] uns mit diesem Gleichnis, wie wir das Himmelreich erreichen können. Durch Vergebung und Fürsorge zwischen den Menschen sorgt [man; C.W.] dafür, dass das Himmelreich auf Erden entsteht. Jesus möchte, dass wir vergeben und gütig sind, indem er uns zeigt, was passiert, wenn wir es nicht sind. Man wird nicht gefoltert werden, aber wenn wir nicht vergeben, können wir auch nicht auf die Vergebung von Gott hoffen.“ 393
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Kommas wurden für den besseren Lesefluss ergänzt.
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Andere Schülerinnen und Schüler können auch das Bild des zornigen Königs weitestgehend mit der Botschaft Jesu von einem liebenden Gott vereinbaren, indem sie hierin beispielsweise Verweise auf die Gerechtigkeit Gottes sehen, bei der er sich mit den Schwächeren solidarisiert und zur Nächstenliebe sowie Vergebungsbereitschaft zwischen den Menschen verpflichtet. Gerade im Hinblick darauf zeigen sich jedoch in manchen Schüleräußerungen nicht unproblematische Denkansätze, die entsprechenden Reaktion Gottes rein als Strafe im Falle eines Ausbleibens des geforderten Verhaltens zu interpretieren. 394 Ganz anders ist hingegen der Ansatz einer Schülerin, die nicht nur dieses Muster durchbricht, sondern vielmehr eine existenzielle Tiefendimension der vorliegenden Parabel verdeutlicht: „Wir Menschen sind auf die Vergebung Gottes angewiesen, da wir alle vor Gott schuldig sind. Und Gott vergibt uns diese große Schuld – wie der König im Gleichnis dem Knecht seine großen Schulden erlässt. Durch die Güte, Barmherzigkeit und Liebe, die Gott uns entgegenbringt, ermöglicht er uns selbst, einen kleinen Teil seiner Barmherzigkeit und Liebe in uns zu tragen und unseren Mitmenschen entgegenzubringen, indem wir ihnen z. B. die vergleichsweise kleinen Dinge, die wir Menschen einander schuldig sind, verzeihen. Wenn wir das nicht begreifen und nicht bereit sind zu vergeben – wie der Knecht im Gleichnis […] – werden wir keinen inneren Frieden finden können. Denn wir werden immer an die Schuld des anderen denken müssen und können nicht damit abschließen. Diese unverziehene Schuld kann uns je nach Schwere jahrzehntelang begleiten und uns Lebensfreude und Lebendigkeit nehmen. Die Folterszene am Ende des Gleichnisses könnte so für den inneren Unfrieden stehen, von dem man gequält wird, wenn man nicht bereit ist, seinen Mitmenschen zu verzeihen. Insofern lässt sich die Gleichniserzählung auch mit der Botschaft Jesu von der ‚Liebe Gottes‘ vereinbaren, da Gott – ähnlich wie der König am Anfang – uns Menschen all unsere Schulden vergibt und uns die Vergebung bzw. Vergebungsbereitschaft ermöglicht. Aber jeder Mensch entscheidet selbst, was er daraus macht.“
Dieser tiefenpsychologische Deutungsansatz395 kann, im Dialog mit den anderen Interpretationsansätzen, auch dabei helfen, der Frage nach der Angemessenheit der Rede vom „Zorn Gottes“ weiter nachzuspüren. So hilft er, das plakative Muster von Gebot und Gehorsam zu durchbrechen und diesen vielmehr als Hinweis darauf wahrzunehmen, dass Gott die zerstörerische Selbstentfremdung des Menschen nicht akzeptieren will und kann.
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Wichtig ist es deswegen, in der Gesamtanlage der Reihe, aber auch mit Blick auf die vorliegende Parabel, die neuen Lebensmöglichkeiten, die die Herrschaft Gottes eröffnet, als Zentrum der Botschaft Jesu zu fokussieren. In der vorliegenden Lerngruppe wurde die Schreibmediation nicht durchgeführt, so dass es sich um einen eigenständigen Deutungsansatz der Schülerin handelt.
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D. Hauptteil II – Didaktische Perspektiven
Insgesamt zeigt also bereits dieser kurze Einblick in die Unterrichtspraxis, dass der Lerngegenstand „Jesus und der Zorn Gottes“ einen komplexen, aber vielschichtigen Dialog über die christliche Gottesbotschaft wie auch die eigenen Gottesvorstellungen anregen kann. Gerade Parabeln wie Mt 18,23–35 besitzen also ein tieferes Potenzial, entsprechende Lehr- und Lernprozesse anzuregen.
5.
Ungenutzte Potenziale als Chance ergreifen! – Zusammenführung
Zum Abschluss des didaktischen Hauptteils werden noch einmal kurz die zentralen Erkenntnisse zusammengeführt.396 Der Lerngegenstand „Jesus und der Zorn Gottes“ kann, so lässt sich abschließend resümieren, einen grundlegenden Beitrag zur religiösen Bildung leisten. Angemessen „elementarisiert“ vermag er neu für den christlichen Glauben an einen Gott, der engagiert die Beziehung zu den Menschen sucht und zum Heil dieser handelt, zu sensibilisieren. So kommt in der Rede vom „Zorn Gottes“ wie auch im „Zorn Jesu“ und insbesondere seinen Gerichtsworten die Angst zum Ausdruck, dass der Mensch sich in seiner Existenzorientierung verfehlen kann. Entsprechende Bibelstellen wollen aufrütteln und ein Bewusstsein wecken, sich auf die bereits begonnene Herrschaft Gottes ein- und von dieser verwandeln zu lassen. Sie sind so zugleich eingebettet in die unermessliche Hoffnungsbotschaft Jesu von der liebenden Zuwendung Gottes. Ein Religionsunterricht, der also die Schülerinnen und Schüler im Sinne des christlichen Glaubens ernst nimmt, der ihnen Impulse für die Lebensorientierung geben möchte, kann und darf dieses Thema nicht aus Gründen der scheinbaren Gefälligkeit ausklammern. Er kann und darf dies nicht, weil die hierin aufgeworfenen Fragen nicht primär eine sachliche Relevanz als vielmehr eine Bedeutung für die Schülerinnen und Schüler selbst besitzen. So zeigt sich, dass der vorliegende Lerngegenstand über konkrete „Anforderungssituationen“ 397 und lebensbezogene Lernanlässe in einen Dialog mit heutigen Schülerinnen und Schülern treten kann (vgl. 1.2 und exemplarisch konkretisiert 4.2). Durch seine theologische, aber auch zugleich existenzielle Bedeutung ermöglicht er in zentralen Inhaltsbereichen der Kernlehrpläne den Aufbau von religiöser Kompetenz, insbesondere im Bereich der Sach- und Urteilskompetenz. Zentral ist dabei die Frage nach dem christlichen Gottesverständnis, Grenzen 396
397
Alle nachfolgenden Verweise beziehen sich auf die Kapitel und Unterkapitel dieses Hauptteils D. Sie werden nachfolgend nur mit der jeweiligen Kapitelnummer ausgewiesen. OBST, Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen im Religionsunterricht, S. 178–196.
5. Zusammenführung
337
und Möglichkeiten diese Beziehungsmetapher angemessen zu verwenden und ein differenziertes Bild von der Botschaft Jesu auszubilden. Begreift man darüber hinaus die Rede vom „Zorn Gottes“ wie auch den „Zorn Jesu“ als mahnende Anfrage an die persönliche wie auch christliche Existenzorientierung, ergeben sich weitergehende Chancen, Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten abzuwägen. So ermöglicht dieser Lerngegenstand bereits jetzt, zentrale Kompetenzerwartungen der Kernlehrpläne tiefergehend zu profilieren (vgl. 3). Eine eigenständige Sinnhaftigkeit im Rahmen religiöser Bildung zeigt sich darüber hinaus darin, dass dieser Lerngegenstand zu einem guten Religionsunterricht mit Blick auf zentrale religionsdidaktische Prinzipien beiträgt (vgl. 1.4). Diesbezüglich konnte seine Bedeutung im Sinne eines theologisch und bildungstheoretisch begründeten biblischen Lernens, seine Relevanz für die tiefere Fundierung christlicher Ethik und damit als wichtiger Impulsgeber ethischen Lernens wie auch die in ihm wurzelnden Chancen für interreligiöses Lernen herausgestellt werden. Interessante Ansatzpunkte ergeben sich dabei vor allem auch mit Blick auf die in den letzten Jahren immer stärker werdende Forderung, die Potenziale des Religionsunterrichts im Sinne emotionaler Bildung bzw. emotionalen Lernens auszuschöpfen. Wie an den Unterrichtsbeispielen des letzten Kapitels aufgezeigt, eignet sich das Thema „Jesus und der Zorn Gottes“ im Sinne seiner existenziellen Dimension, die metaphorisch auf ein Beziehungsgeschehen verweist, besonders für den Einsatz erfahrungsbezogener Methoden (wie assoziative Annäherungen an die Bibeltexte, Rollenspiele, Bibliologs, Schreibmeditationen etc.). Da Zorn zugleich einen zutiefst menschlichen Affekt darstellt, kann er darüber hinaus dabei helfen, den Umgang mit dieser ureigenen Emotion, ihre destruktiven Gefahren wie auch konstruktiven Potenziale, zu überdenken und weitergehend zu erlernen. So trägt der vorliegenden Lerngegenstand auch mit dazu bei, ganzheitliche Lernprozesse zu initiieren (vgl. 4.1 u. 4.2). In der Zusammenschau lässt sich also mit Blick auf die Kapitelüberschrift festhalten, dass die Potenziale des Themas „Jesus und der Zorn Gottes“ erkannt und im Sinne des Religionsunterrichts genutzt werden sollten. Wie bereits die ersten Eindrücke aus der Unterrichtspraxis zeigen, fordert es zu Kontroversen heraus, bietet aber die Chance, mit Schülerinnen und Schülern in einen ernsthaften Dialog über den unverfügbaren und sich offenbarenden Gott einzutreten (vgl. 4.3).
E.
Ergebnis und Ausblick
Am Ende der vorliegenden Studie sollen noch einmal zentrale Einsichten zusammengeführt werden.1 Kernanliegen war es, den Untersuchungsgegenstand „Jesus und der Zorn Gottes“ exegetisch in seinen inneren Zusammenhängen zu profilieren und davon ausgehend didaktische Perspektiven zu entwickeln. Die leitende Annahme war, dass es möglich und notwendig ist, Verweise auf den „Zorn Gottes“ in der Wort- und Tatverkündigung Jesu zu erheben, da sie einen integralen Bestandteil seiner Botschaft von der Gottesherrschaft bilden. Hierin wurde dann zugleich der zentrale Beitrag zur Entwicklung religiöser Bildung vermutet. Abschließend kann dies als bestätigt angesehen werden, wobei diesbezüglich der Erkenntnisgang noch einmal kurz dargelegt werden soll. In einem ersten Schritt der exegetischen Analyse wurde (wenn auch nur schlaglichtartig) aufgezeigt, dass die spannungsvolle und vielschichtige Rede vom „Zorn Gottes“ bereits das Erste Testament kennzeichnet. Ohne dass sich die Verwendung dieses Motivs einfach harmonisieren oder unter einem Gesichtspunkt fassen lässt, zeugt diese Redeweise von einem Gott, der seiner Schöpfung und Israel in einer engagierten Beziehung zugewandt ist. Als hierfür konstitutiv wurde die Vorstellung der aus dem Bundesschluss erwachsenen Herrschaft Gottes und dem damit einhergehenden göttlichen Gerichts- und damit Gerechtigkeitshandeln herausgestellt. – Eben diese Dimension der Rede vom „Zorn Gottes“ griff Johannes der Täufer in seinem mahnenden Appell zur Umkehr an das zeitgenössische Israel wieder auf. Deswegen wurde die Beziehung zwischen Jesus und Johannes dem Täufer, die als historisches Faktum angenommen werden kann, in einem ersten Schritt vertiefend analysiert, um der Bedeutung der johanneischen Botschaft vom „Zorn Gottes“ in der Verkündigung Jesu nachzuspüren. In diesem Zusammenhang liegt es aus heutiger Sicht zunächst nahe, die Unterschiede zwischen Jesus und Johannes geltend zu machen. Als solche sind beispielsweise zu nennen: Die zentrale Erkenntnis Jesu, dass sich bereits im hier und jetzt die heilvolle Aufrichtung der Gottesherrschaft vollzieht und unmittelbar durch ihn realisiert wird; Jesu radikale Zuwendung zu den Menschen, mit der er diese Hoffnungsbotschaft in die Welt, insbesondere zu den Armen und Leidenden trug; die lebensstrotzenden Bilder, mit denen Jesus versuchte, das Wachsen und Gedeihen des Gottesreiches anschaulich zu machen und dieses in
1
Als Orientierung hierzu dienen die zentralen Ausgangsthesen (vgl. A.2), die hier jedoch nicht erneut referiert werden. Die hier gemachten Ausführungen können und wollen nicht die zahlreichen Einzelerkenntnisse erneut abbilden, dazu dienen die jeweiligen Zusammenfassungen am Ende der einzelnen Analyseschritte, die zwingend zu einem vertiefenden Verständnis einbezogen werden sollten.
340
E. Ergebnis und Ausblick
Form seiner Gastmähler erfahrbar werden ließ; und nicht zuletzt seine Verkündigung eines „Gott[es] der Freude“2, der auch das Leben derer, die sich auf ihn einlassen, hiermit erfüllt und sie verwandelt.3 Jesus zeigte, so lässt sich uneingeschränkt festhalten, ein exklusives Profil seiner Heilsbotschaft und doch wird deutlich, dass er sich nicht vollständig von der Vorstellungswelt des Täufers löste. Vielmehr griff er dessen mahnende Umkehrforderung auf (vgl. exemplarisch Lk 13,1–5) und die Gerichtsverkündigung blieb, wie zahlreiche exegetische Studien nachweisen konnten, grundlegender Bestandteil seiner Botschaft. Auch wenn Jesus, wie die Quellenlage nahelegt, womöglich nicht explizit vom „Zorn Gottes“ gesprochen hat, scheint zumindest die hiermit angesprochene Gerichtsdimension als Teil göttlichen Heilshandelns und des Heilswerdungsprozesses4 weiterhin sein Denken geprägt zu haben. Für die Analyse lag hierin der Ansatzpunkt, entsprechende Verweise im Wirken Jesu weitergehend zu untersuchen und zu ergründen. Die historische Rückfrage blieb dabei zentral, zugleich aber auch die Anerkenntnis, dass Jesus primär nur im nachösterlichen Zeugnis der Evangelien zugänglich wird. Deswegen wurde von der exegetischen Methodik her bewusst ein synchroner Zugriff auf entsprechende Evangelientexte gewählt, nicht zuletzt um die spätere didaktische Vermittelbarkeit der Erkenntnisse zu ermöglichen. Im Zentrum standen dabei zunächst die Parabeln Mt 18,23–35 und Mt 22,1–14 par. Lk 14,16–24. In Abgrenzung zu einer Tendenz in der exegetischen Forschung, diese Gleichniszerzählungen mehr oder weniger als Kontrastbilder zur heilvollen Herrschaft Gottes zu begreifen, wurde aufgrund der metaphorischen Bezüge eine theologische Deutung stark gemacht. Insbesondere dieser Ansatz ermöglichte es, ein tiefergehendes Verständnis des diesbezüglichen Profils der Verkündigung Jesu zu gewinnen. Liest man Mt 18,23–35 nämlich in eschatologischer Perspektive als möglichen Verweis auf den „Zorn Gottes“ und sein Gerichtshandeln, entsteht ebengerade keine Einschränkung der jesuanischen Hoffnungsbotschaft. Vielmehr akzentuiert die Parabel diese mit Blick auf die Gerechtigkeit Gottes, auf dessen ernsthafte Anteilnahme an der Lebensausrichtung des Menschen wie auch auf die letztlich verbürgte Sinnhaftigkeit der eigenen Existenzorientierung (vgl. hierzu besonders auch Mt 22,1–14). Deswegen wurde die Deutung vertreten, die Parabeln als bildhafte Annäherung an einen persönlichen, den Menschen zugewandten Gott zu begreifen, der gerade deswegen in letzter Konsequenz für die Aufrichtung seiner heilvollen Herrschaft einsteht. Trotz ihrer drastischen Zuspitzungen (vgl. besonders Mt 18,34 und 22,13) handeln auch sie im Kern von Gottes uneingeschränkter Anteilnahme am Schicksal des Menschen als inneres Antriebsmoment, seinem Streben
2 3 4
KOSCH, Zärtlichkeit und Zorn – Der Gott Jesu, S. 54. Vgl. vertiefend und weiterführend ebd., S. 54–58. Vgl. zu diesem Zusammenhang grundlegend WOLTER, „Gericht“ und „Heil“, S. 40–45.
E. Ergebnis und Ausblick
341
nach Gemeinschaft und vorausgehender Barmherzigkeit. So mahnt die Gerichtsperspektive zwar zur Umkehr mit Blick auf die eschatologischen Folgen, zugleich scheint besonders in Mt 18,23–27 die gnadenhaft geschenkte Chance auf, sich innerlich von der unmittelbar erfahrbar werdenden Barmherzigkeit Gottes berühren und von ihr in der Beziehung zum Mitmenschen verwandeln zu lassen. Die Rede von der „Liebe Gottes“, so kann resümiert werden, erfährt durch die Perspektive des „Zorns“ somit eine Vervollständigung, da nunmehr auch Gottes Haltung zum „Nein“ des Menschen gegenüber dieser gnadenhaften Heilsoption, seine tiefe diesbezügliche Entrüstung und Betroffenheit aussagbar wird, ohne dass dadurch sein „Ja“ zur heilswirkenden Gemeinschaft mit den Menschen grundsätzlich in Frage gestellt wird (vgl. hierzu die Analyse von Lk 14,16–24). Es wurde erkennbar, dass der „Zorn“ einerseits zwar auf die Souveränität Gottes hinweist, anderseits auch in besonderer Weise die Nähe Gottes zu seinen Geschöpfen und dem erwählten Volk Israel deutlich werden lässt. Um diese Perspektive zu erweitern, wurden bewusst auch Hinweise auf den „Zorn Jesu“ in den synoptischen Evangelien in ihren theologischen Implikationen analysiert. Nicht die Abwägung der Historizität von Einzelerzählung(en) war dabei entscheidend, sondern vielmehr die Offenlegung zentraler Konturen des hierin aufscheinenden Wirkens Jesu. So lässt sich festhalten: Gerade im „zornigen Jesus“ wird seine Gottesunmittelbarkeit wie auch sein authentisches Menschsein deutlich. Im Zorn markiert Jesus den Machtbereich Gottes und stellt sich unmittelbar gegen die widergöttlichen Mächte wie auch Strukturen, die der heilvollen Herrschaft Gottes entgegenstehen. Wenn sich Teilhabe an der Gottesherrschaft durch die Orientierung auf ihn und seine Botschaft hin entscheidet, dann eben auch das Schicksal im bereits beginnenden Gericht (vgl. drastisch Lk 12,49).5 Der „zornige Jesus“ handelt aber aus unmittelbarer Sorge um Israel bzw. seine Zeitgenossen, deren Bewusstsein er im Sinne der heilvollen Herrschaft Gottes öffnen möchte. So zeigt sich konkret, was es im hier und jetzt heißt, ihm nachzufolgen und die von Gott geschenkte Heilsoption in sein Leben zu integrieren. Es wird deutlich, dass es gefordert und nötig ist, sich im Sinne der Gottesund Nächstenliebe, insbesondere in Barmherzigkeit gegenüber den Armen sowie Geringsten, zu wandeln. Auch diesbezüglich verdeutlicht das Gericht die Letztkonsequenzen, wenn dies unterbleibt (vgl. Mt 25,31–46), entscheidend ist jedoch vielmehr, dass die diese Welt verwandelnde Herrschaft Gottes die Zwänge der „alten Welt“ löst und das Leben aus einer gnadengewirkten Existenz neu ermöglicht. In der exegetischen Analyse wurde in dem bisher Gesagten die zentrale Dimension des Themas „Jesus und der Zorn Gottes“ erkannt, nicht aber darin, dass Jesus seinen Tod in irgendeiner Weise als Akt zur Besänftigung eines zornigen Gottes interpretiert hätte. 5
Vgl. hierzu auch grundlegend REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, S. 301–302 u. S. 311.
342
E. Ergebnis und Ausblick
Die hier eröffnete Perspektive bringt, so lässt sich resümieren, die eigentliche Tiefendimension der Heilsbotschaft Jesu zum Ausdruck, da sie die Herrschaft Gottes als bedingungsloses aber auch zugleich heraus-forderndes Geschenk erkennbar werden lässt. In den so verstandenen Verweisen auf den „Zorn Gottes“ in der Wort- und Tatverkündigung Jesu zeigt sich ebengerade kein destruktives Gottes- und Menschenbild. Vielmehr verdeutlicht sein mahnender Charakter, dass es auch auf den freien und zugleich verantwortlichen Willensentschluss ankommt, wenn die Gottesherrschaft in diese Welt tritt. Es gilt diese Chance zu sehen und sich aus den lebenszerstörerischen Zusammenhängen zu lösen. Das Wirken Jesu verweist so auf einen Gott, der den Menschen zutraut, die eigene Existenz zu transzendieren, der Maßstäbe setzt und zugleich im Gericht (weil er der menschlichen Sünde ebengerade nicht teilnahmslos gegenübersteht6) selbst die Aufrichtung seiner heilvollen Herrschaft verbürgt. So verstanden wird hierin Zeugnis abgelegt von einer verlässlichen und aufrichtigen „Liebe Gottes“. Ausgehend von dem so gewonnenen hermeneutischen Bezugsrahmen wurde in der Reflexion kritischer Anfragen aufgezeigt, dass diese Art der Gottesrede ebengerade keinen Rückfall in ein naives oder gar archaisches Gottesbild darstellt. Zwar bedient sie sich einer Emotion aus der menschlichen Erfahrungswirklichkeit, weiß aber (wie bereits das Medium der Gleichnisrede verdeutlicht) um deren Begrenztheit in der Annäherung an die göttliche Wirklichkeit. Im Sinne einer Beziehungsmetapher macht die Perspektive auf den „Zorn Gottes“ hingegen konstruktiv aussagbar, dass Gott vom Handeln des Menschen wirklich betroffen ist und persönlich-engagiert zu dessen Heil handelt. Sie ist darüber hinaus anknüpfungsfähig an den aktuellen theologischen Diskurs und kann auch im Sinne aktueller Gotteskonzepte, so beispielsweise mit Blick auf den Panentheismus, weitergedacht werden. Gerade die Verweise auf das endgültige göttliche Gerechtigkeitshandeln vermögen zumindest auch für heutige Menschen die Hoffnung darauf zu eröffnen, dass moralisches Handeln trotz einer anderen Weltwirklichkeit im Kern vernünftig ist. So geht es bei Motiven des „Zornes Gottes“ ebengerade um den Menschen und seine Existenz – ja letztlich auch um die Erfahrung der menschlichen Selbstentfremdung, wenn man sich von seinem tragenden Lebensgrund löst. Vor dem Hintergrund der so gewonnenen Erkenntnisse wurde in einem zweiten großen Analyseschritt die Didaktisierung des vorliegenden Themas für die Sekundarstufen I und II angegangen. Als grundlegender Ansatz wurde das Konzept der Elementarisierung zur Strukturierung des Hauptkapitels genutzt. Analytisch war vor allem der Perspektivenwechsel mit Blick auf die Schülerinnen und Schüler als „Subjekte des Lernens“ die entscheidende Voraussetzung, um die Bedeutung des vorliegenden Themas im Sinne religiöser Bildung und kompetenzorientierten Lernens zu ergründen. Als maßgeblicher Bezugspunkt 6
Vgl. hierzu auch weiterführend VOLKMANN, Der Zorn Gottes, S. 266–267.
E. Ergebnis und Ausblick
343
wurde dabei deutlich, dass Religion und die Gottesfrage für heutige Jugendliche zwar nicht belanglos sind, aber durchaus eine vielschichtige Herausforderung darstellen können. Dies verdichtet sich in relevanten Einzelaspekten, so z. B. in dem Bedürfnis nach der Klärung existenzieller Sinnfragen, in der Verunsicherung und dem Relevanzverlust mit Blick auf den eigenen Gottesglauben und in der selektiven Rezeption zentraler Aspekte der christlichen Theologie. Im Sinne einer kompetenten Teilhabe an der christlichen Religion, konnten auf dieser Grundlage die großen Bereiche skizziert werden, in denen das Thema „Jesus und der Zorn Gottes“ unter Berücksichtigung zentraler religionsdidaktischer Prinzipien zur persönlichen Entwicklung der Lernenden beitragen kann. Als solche sind die Fähigkeiten zu nennen, das im Judentum wurzelnde christliche Gottesverständnis vertiefend erläutern und beurteilen zu können, hieran exemplarisch Probleme, Grenzen und lebenstragende Möglichkeiten des Redens von Gott aufzeigen und abwägen zu können, wie auch das sich hierin spiegelnde Gotteszeugnis als Orientierungsangebot beurteilen zu können. Hierin ist zugleich ein entscheidender Schritt zu sehen, in einen Dialog mit Menschen der eigenen und anderer Religionen treten zu können. Was abschließend nur noch einmal grob angedeutet werden kann, wurde in weiteren Schritten der Elementarisierung bis hin zu einzelnen Kompetenzerwartungen als Anknüpfungsmöglichkeit an bereits bestehende Lehrpläne in NRW konkretisiert. Abschließend lässt sich so sagen: „Jesus und der Zorn Gottes“ kann Thema eines kompetenzorientierten Unterrichts sein, weil es im oben skizzierten Sinne ein kompetenzorientiertes Lernen ermöglicht. Die aufgezeigten Lernwege und exemplarischen Unterrichtsbeispiele waren dann der entscheidende Schritt, Möglichkeiten zu skizzieren, wie das Untersuchungsthema „Jesus und der Zorn Gottes“ tatsächlich in den Dialog mit heutigen Schülerinnen und Schülern treten kann. Mit Blick auf die praktische Gestaltung, wurde vorgeschlagen, Ansätze der interaktionalen Bibelarbeit mit Anforderungen des kompetenzorientierten Religionsunterrichts zu verbinden. Wichtig erscheint abschließend vor allem, dass man die Chance eröffnet, sich den jeweiligen Texten erfahrungsbezogen, ausgehend von lebensbedeutsamen Lernanlässen, anzunähern. Es gilt auf vielseitige Weise ihre tieferen Sinndimensionen offenzulegen und die eigenständige Sinnstiftung zu ermöglichen. Den Kern des so eröffneten, auf den Diskurs angelegten Dialogs bildet stets die Frage, ob man existenziell bereit ist, sich durch einen Gott, der besonders auch im „Zorn“ eine leidenschaftliche Nähe zum Menschen offenbart, ansprechen und herausfordern zu lassen. Über die konkrete Bibelarbeit hinausgehend sollte dabei, nicht nur mit Blick auf die Grundlagen eines kompetenzorientierten Unterrichts, eine Vernetzung der neu gewonnenen Einsichten mit bereits bestehenden Erkenntnissen über die Botschaft und das Gottesverständnis Jesu angeregt werden. Nur so kann nämlich sichergestellt werden, dass auch Verweise auf den „Zorn Gottes“ auf diese lebensaufrichtende Heilsbotschaft bezogen bleiben.
344
E. Ergebnis und Ausblick
Die vorliegende Studie stellt einen Versuch dar, exegetisch neue Perspektiven auf das Thema „Jesus und der Zorn Gottes“ zu eröffnen. In diesem Zusammenhang sollte nicht die Rede von der „Liebe Gottes“ als Verständniszugang ersetzt, sondern ein tieferes Verständnis der zäsurhaften Heilsbotschaft Jesu von der beginnenden und zur Vollendung dringenden Gottesherrschaft gewonnen werden. Mit Blick auf das vorliegende Thema wurde deswegen eine konkrete Profilierungsmöglichkeit aufgezeigt, die aber um ihre Begrenztheit weiß. Wie Daniel Kosch zutreffend betont, ist jedes Bild von Jesus auch immer eine Konstruktion und perspektivisch.7 Insofern ist die vorliegende Studie auch ein Diskussionsangebot an die exegetische Forschung. Im Kleinen können hier getroffene Einzelentscheidungen und Deutungen (insbesondere der Parabeln) Gegenstand der Auseinandersetzung sein, im Großen wird aber immer die zentrale Frage nach dem Kern der Heilsbotschaft Jesu den weiteren Diskurs bestimmen. Hier ist dann zu entscheiden, ob die in der Studie eröffnete Perspektive als tragfähig anerkannt und fortgeführt wird. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass in der vorliegenden Untersuchung Exegese und didaktische Vermittlung eng aufeinander bezogen bleiben. Das Thema „Jesus und der Zorn Gottes“ wurde mit Blick darauf ergründet, wie im Religionsunterricht die existenzielle und lebensorientierende Bedeutsamkeit der Heilsbotschaft Jesu neu aufscheinen kann. Ob dies gelingt, muss vor allem die weitere Schulpraxis zeigen. Für Lehrerinnen und Lehrer, die hier gewonnene Erkenntnisse aufgreifen möchten, wurden deswegen konkrete Anknüpfungspunkte an bestehende Lehrplanvorgaben und praktische Beispiele aufgezeigt. Hier gilt es in Zukunft vor allem zu erproben und zu evaluieren, ob eine Differenzierung bestehender Vorstellungen von der Botschaft Jesu erreicht wird und wie sich dies auf Gottesvorstellungen der Schülerinnen und Schüler auswirkt. Nichts wäre schlimmer, als wenn hierdurch fährlässig wieder virulente Vorstellungen eines rachsüchtigen und grausamen Gottes mitbedingt würden. Insgesamt weiß die Studie auch in ihrer didaktischen Ausrichtung jedoch um die größeren Herausforderungen, die den weiteren Diskurs bestimmen müssen. Es muss im Zeichen des zunehmenden Relevanzverlustes von Religion grundsätzlich darum gehen, tragfähige Ansätze dafür zu entwickeln, wie die Gottesfrage für Schülerinnen und Schüler wieder existenziell relevant werden kann. Ausgangspunkt sollte dafür auch zukünftig eine empirische Grundlagenforschung sein, bei der es weniger darum geht, vermeintlich repräsentative Zahlen über die Gottesvorstellungen zu gewinnen. Gefordert ist vielmehr, der individuellen Genese von Gotteskonzepten nachzuspüren. Konkret gilt es dabei zu klären, was an der christlichen Gottesidee als tragfähig und was als problematisch angesehen wird, ja was Jugendliche heute überhaupt mit einem christlichen Gottesverständnis verbinden. Nur so können zukünftige Wege gefunden werden, den Dialog mit der christlichen Tradition offenzuhalten. 7
Vgl. KOSCH, Zärtlichkeit und Zorn – Der Gott Jesu, S. 35–36.
E. Ergebnis und Ausblick
345
„Jesus und der Zorn Gottes“ als Lerngegenstand kann im besten Fall zumindest mit dazu beitragen, eingefahrene Vorstellungen von Jesus, seiner Verkündigung und Gott aufzubrechen und durch Irritation neue Denkbewegungen und eine Klärung der eigenen Vorstellungen anzuleiten. Erste Eindrücke aus dem Religionsunterricht der Oberstufe deuten zumindest darauf hin, dass diesbezüglich eine vielschichtige Reflexion möglich wird.
F.
Quellen- und Literaturverzeichnis
Den einzelnen Unterkapiteln sind jeweils weitergehende bibliographische Hinweise vorangestellt. Auf die Zitation im Darstellungsteil wird nachfolgend mit dem Symbol „→“ (= zitiert als) hingewiesen. Die Auflage wird in der Regel hochgestellt beim Erscheinungsjahr genannt, bei grundlegenden Neubearbeitungen weitergehend spezifiziert.
1.
Quellen
Quellen sind aufgrund des Untersuchungsanliegens der Arbeit primär die biblischen Bezugstexte (bzw. entsprechende Textausgaben und Übersetzungen) wie auch Zeugnisse aus ihrer zeitgenössischen Umwelt und Wirkungsgeschichte. Weiterhin werden hier auch Werke von Autoren aus vorangegangenen Epochen aufgenommen. Aktuelle Lehramtliche Stellungnahmen, Bischofsworte, Lehrpläne etc. werden als Sekundärliteratur behandelt.
1.1
Schriftliche Quellen
1.1.1
Textausgaben und Übersetzungen der Bibel
Die Abkürzung biblischer Bücher im Darstellungsteil richtet sich nach dem „Ökumenischen Verzeichnis der biblischen Eigennamen nach den Loccumer Richtlinien“. Als Textgrundlage des Neuen Testaments wird die 28. Auflage des „Novum Testamentum Graece“1 verwendet. Werden, neben der eigenen Übersetzung, weitere Bibelübersetzung herangezogen, wird dies durch Fußnoten kenntlich gemacht. BECK, Eleonore/MILLER, Gabriele/SITARZ, Eugen (Hrsg.): Das Neue Testament. Übersetzt von FRIDOLIN STIER. München 72012. DEUTSCHE BISCHOFSKONFERENZ u. a. (Hrsg.): Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe. Vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe. Stuttgart 2016.
1
Diese wie auch weitere Textausgaben (z. B. der Septuaginta oder Biblia Hebraica Stuttgartensia) sind online abrufbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/onlinebibeln/ueber-die-online-bibeln/ (Stand: 21.06.2020).
348
F. Quellen- und Literaturverzeichnis
HAINZ, Josef/SCHMIDL, Martin/SUNCKEL, Josef (Hrsg.): Münchener Neues Testament. Studienübersetzung. Düsseldorf 72004 (ND der 5., durchgesehenen und neu bearbeiteten Auflage, Düsseldorf 1998). → MNT. HAHNHART, Robert (Hrsg.): Septuaginta. Id est Vetus Testamentum graece iuxta LXX interpretes edidit Alfred RAHLFS. Editio altera. Stuttgart 2006. INSTITUT FÜR N EUTESTAMENTLICHE TEXTFORSCHUNG (Münster/Westfalen) unter der Leitung von Holger Strutwolf (Hrsg.): Novum Testamentum Graece („Nestle-Aland“). Stuttgart 282012. KRAUS, Wolfgang/KARRER, Martin (Hrsg.): Septuaginta deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung. Stuttgart 22010. R. BROCKHAUS VERLAG WUPPERTAL/CHRISTLICHE VERLAGSGESELLSCHAFT DILLENBURG (Hrsg.): Elberfelder Bibel (= TS. Nr. 23). Wuppertal 2007.
1.1.2
Weitere schriftliche Quellen
Der Midrasch Schemot Rabba. Das ist die haggadische Auslegung des 2. Buches Moses. Zum ersten Male ins Deutsche übertragen von Lic. Dr. Aug. WÜNSCHE. Mit Noten und Verbesserungen von Rabbiner Dr. J. FÜRST und D. O. STRASCHUN. Leipzig 1882. FLAVIUS JOSEPHUS: Jüdische Altertümer. Vollständige Ausgabe. Übersetzt und mit Einleitung und Anmerkung versehen von Dr. Heinrich CLEMENTZ. Mit Paragraphenzählung nach Flavii Josephi Opera recognovit Benedictus Niese (Editio minor), Berlin 1888–1895. Neu gesetzte korrigierte und überarbeitete Ausgabe für marixverlag GmbH nach der Ausgabe Halle an der Saale, 1899. Wiesbaden 2012 (eBook). → FLAVIUS JOSEPHUS, Jüdische Altertümer, Buch/Kapitel- bzw. Paragraphenangabe (ggf. CLEMENTZ, Seitenangabe). HOFFMANN, Paul/HEIL, Christoph (Hrsg.): Die Spruchquelle Q. Studienausgabe. Griechisch und Deutsch. Darmstadt 2 2007. → HOFFMANN /HEIL (Hrsg.), Die Spruchquelle Q, Seitenangabe. JOHANNES CHRYSOSTOMUS: Kommentar zum Evangelium des hl. Matthäus. Aus dem Griechischen übersetzt von Dr. P. Johannes Chrysostomus BAUR (= Des heiligen Kirchenlehrers Johannes Chrysostomus ausgewählte Schriften. Bd. 1; BKV, Bd. 23). Kempten/München 1915; zugleich online abrufbar unter: https://bkv.unifr.ch/works/71/versions/84/divisions/ 46803 (Stand: 21.06.2020). → JOHANNES CHRYSOSTOMUS, Kommentar zum Evangelium des Heiligen Matthäus, Stellenangabe. KANT, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. Mit einer Einleitung, Sachanmerkungen und einer Bibliographie von Heiner F. Klemme herausgegeben von Horst D. BRANDT und Heiner F. KLEMME (= Philosophische Bibliothek 506). Hamburg 2003. → KANT, Kritik der praktischen Vernunft, Seitenangabe (Absatzangabe). KHOURY, Adel (Übersetzung und Kommentar): Der Koran. Arabisch–Deutsch. Gütersloh 2004. → Angabe der Koransure im Darstellungstext. PHILO VON ALEXANDRIA: Ueber die Einzelgesetze. Buch I–IV, übersetzt von Isaak HEINEMANN; in: Philo von Alexandria: Die Werke in deutscher Übersetzung. Herausgegeben von Leopold COHEN u. a. Bd. 2. Berlin 21962 S. 3–312. TOLSTOI, Leo: Auf Feuer habe acht! Übersetzung ins Deutsche von Arthur Luther; in: TOLSTOI, Leo: Wo die Liebe ist, da ist auch Gott. Erzählungen. Gießen 52015 (im Original erschienen 1885), S. 30–60.
F. Quellen- und Literaturverzeichnis
349
→ TOLSTOI, Auf Feuer habe acht!, Seitenangabe.
1.2
Bildquellen
Bildquellen, auf die im Darstellungsteil lediglich verwiesen wird, werden hier nur kurz mit weitergehenden Angaben aufgeführt. Alle Bilder sind zudem online auf verschiedenen Seiten einsehbar. BONDONE, Giotto di: Die Vertreibung der Händler aus dem Tempel (um 1304–1306). Freskomalerei, ca. 185 x 200 cm. Padua: Arenakapelle (Cappella degli Scrovegni), linke Wand. BONERI, Francesco (genannt Cecco del Caravaggio): Die Vertreibung der Händler aus dem Tempel (um 1610–1615). Öl auf Leinwand, 129,5 x 174 cm. Berlin: Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Gemäldegalerie, Kat. Nr. 447. „IGELHAAR-MEISTER“: Illustration zu Lk 14,16–24 aus dem Codex Aureus Epternacensis (entstanden in der 1. Hälfte des 11. Jahrhunderts). Buchmalerei auf Pergament, ca. 44 × 31 cm. Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum, Inv.-Nr. Hs 156142, folio 77v.; abgedruckt in: Codex Aureus Epternacensis. Bilder erschließen die Bibel. Kommentare von Denise Collard-Lommel. Echternach 2003, S. 72. LOCHNER, Stefan: Weltgericht (um 1434). Öl auf Eichenholz, 124 x 172 cm. Köln: Wallraff Richartz-Museum, Inv.-Nr. wrm 66. Rijn, REMBRANDT Harmenszoon van: Christus vertreibt die Geldwechsler aus dem Tempel (1626). Öl auf Holz, 43 x 33 cm. Moskau: Puschkin-Museum der bildenden Künste.
1.3
Filme
ARCAND, Denys (Regisseur): Jésus de Montréal (Jesus von Montreal). Kanada (Québec) 1989 (unter anderem als DVD erschienen bei: Matthias-Film GmbH 2004). BOZZETTO, Bruno (Regie und Animation): MISTERTAO. Bruno Bozzetto Film, Italien 1988; zugleich online abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=665zIrjX1Ao (Stand: 21.06.2020).
2.
Hilfsmittel (Wörterbücher, Konkordanzen)
Im Darstellungstext verwendete Einzelartikel aus den nachfolgend genannten Wörterbüchern werden als Sekundärliteratur einzeln aufgeführt. Das jeweilige Gesamtlexikon wird dann nur gekürzt nach folgendem Schema bibliographiert: Kürzel des Wörterbuchs – Band-Nr. (AuflageErscheinungsjahr), Spaltenangabe. BALZ, Horst/SCHNEIDER, Gerhard (Hrsg.): Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament. 3. Bände. Stuttgart/Berlin/Köln 21992.
350
F. Quellen- und Literaturverzeichnis
BAUER, Walter: Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur. 6., völlig neu bearbeitete Auflage, herausgegeben von Kurt ALAND und Barbara ALAND („Bauer-Aland“). Berlin/New York 1988. HAINZ, Josef/SCHMIDL, Martin/SUNCKEL, Josef (Hrsg.): Konkordanz zum Münchener Neuen Testament. Düsseldorf 1999. KASSÜHLKE, Rudolf: Kleines Wörterbuch zum Neuen Testament. Griechisch – Deutsch. Stuttgart 3 2001. (Nach der Vorlage: A Concise Greek-English Dictionary of the New Testament. Prepared by Barclay M. Newman, Jr.) KHOURY, Adel Theodor (Hrsg.): Themenkonkordanz Koran. Gütersloh 2009. KITTEL, Gerhard/FRIEDRICH, Gerhard (Hrsg.): Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Begründet vorn Gerhard Kittel. 10 Bände. Stuttgart 1933–1979. SMOLLER, Alfred: Handkonkordanz zum griechischen Neuen Testament. Nach dem Text des Nestle-Aland Novum Testamentum Graece (28. Auflage) und des Greek New Testament (5. Auflage) überarbeitet von Beate von TSCHISCHWITZ im Institut für Neutestamentliche Textforschung Münster/Westfalen. Stuttgart 92014.
3.
Gedruckte Sekundärliteratur
Sekundärliteratur wird im Darstellungsteil nur mit dem Nachnamen des Autors und der Titelangabe ausgewiesen. Der Titel wird in der Regel vollständig, in Einzelfällen (z. B. bei sehr langen Titeln) in seinen wesentlichen Anfangsbestandteilen genannt. Die nachfolgenden Abkürzungen richten sich nach: Schwertner, Siegfried M.: IATG3 – Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Berlin/Boston 32014. Bei mehreren Werken eines Autors/einer Autorin wird bei der ersten Nennung der gesamte Name aufgeführt, anschließend auf diesen mit „Ders./Dies.“ verwiesen. Die Werke werden chronologisch aufgelistet. Bei Werken mit anderen Verfassenden wird der Name des Autors/der Autorin erneut genannt. ABBOUD, Miled: Monotheismen zwischen Gewalt und Frieden. Eine Auseinandersetzung mit aktuellen religionskritischen Thesen (= Pontes. Philosophisch-theologische Brückenschläge 58). Berlin u. a. 2013. (Zugleich: Dissertation an der Katholisch-Theologischen Fakultät der WWU Münster, 2012.) → ABBOUD, Monotheismen zwischen Gewalt und Frieden, Seitenangabe. ALTMEYER, Stefan: Bibeldidaktik und religiöse Sprachbildung; in: ZIMMERMANN, Mirjam/ZIMMERMANN, Ruben (Hrsg.): Handbuch Bibeldidaktik (= UTB 3996). Tübingen 2 2018, S. 482–488. → ALTMEYER, Bibeldidaktik und religiöse Sprachbildung, Seitenangabe. ASSMANN, Jan: Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa. München/Wien 2000.
F. Quellen- und Literaturverzeichnis
351
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BECKER, Jürgen: Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth (= BSt 63). Neukirchen-Vluyn 1972. → BECKER, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth, Seitenangabe. Ders.: Paulus. Der Apostel der Völker. Tübingen 1989. → BECKER, Paulus, Seitenangabe. Ders.: Jesus von Nazaret (= de Gruyter Lehrbuch). Berlin/New York 1996. → BECKER, Jesus von Nazaret, Seitenangabe. BEINERT , Wolfgang: Theologische Erkenntnislehre; in: Ders. (Hrsg.): Glaubenszugänge. Lehrbuch der Katholischen Dogmatik in drei Bänden. Bd.1. Paderborn u. a. 1995, S. 45–197. → BEINERT, Theologische Erkenntnislehre, Seitenangabe.
BEINTKER, Michael: Mit Gott reden – von Gott reden. Das Personsein des dreieinigen Gottes. Einführung; in: BEINTKER, Michael/HEIMBUCHER, Martin (Hrsg.): Mit Gott reden – von Gott reden. Das Personsein des dreieinigen Gottes (= Evangelische Impulse 3). NeukirchenVluyn 2011, S. 11–21. → BEINTKER, Mit Gott reden – von Gott reden, Seitenangabe. BEN-CHORIN, Schalom: Paulus. Der Völkerapostel in jüdischer Sicht (= Schalom Ben-Chorin Werke 5). Göttingen 2006. → BEN-CHORIN, Paulus, Seitenangabe. BERG, Horst Klaus: Ein Wort wie Feuer. Wege lebendiger Bibelauslegung. München 1991. → H. K. BERG, Ein Wort wie Feuer, Seitenangabe. BERG, Sigrid: Kreative Bibelarbeit in Gruppen. 16 Vorschläge. München/Stuttgart 1991. → S. BERG, Kreative Bibelarbeit in Gruppen, Seitenangabe.
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BIEWALD, Jörg: Zwischen zwei Göttern? – Das doppelte Gottesbild bei Kindern und Erwachsenen; in: BUCHER, Anton A. u. a. (Hrsg.): »Sehen kann man ihn ja, aber anfassen …?«. Zugänge zur Christologie von Kindern (= JaBuKi 7). Stuttgart 2008, S. 91–110. → BIEWALD, Zwischen zwei Göttern?, Seitenangabe.
BÖHM, Uwe/SCHNITZLER, Manfred: Theologisieren mit Jugendlichen – im Pubertätsalter; in: DIETRICH, Veit-Jakobus (Hrsg.): Theologisieren mit Jugendlichen. Ein Programm für Schule und Kirche. Stuttgart 2012, S. 171–190. → BÖHM/SCHNITZLER, Theologisieren mit Jugendlichen – im Pubertätstalter, Seitenangabe. BÖSEN, Willibald: Der letzte Tag des Jesus von Nazaret. Was wirklich geschah. Freiburg i. Br. 1994. → BÖSEN, Der letzte Tag des Jesus von Nazaret, Seitenangabe. BÖTTRICH, Christfried: Petrus. Fischer, Fels und Funktionär (= Biblische Gestalten 2). Leipzig 2001. → BÖTTRICH, Petrus, Seitenangabe.
BOVON, François: Das Evangelium nach Lukas. 2. Teilband: Lk 9,51–14,35 (= EKK III/2). Neukirchen-Vluyn 1996. → BOVON, Das Evangelium nach Lukas II, Seitenangabe. BRANDENBURGER, Egon: Gerichtskonzeptionen im Urchristentum und ihre Voraussetzungen. Eine Problemstudie; in: Ders.: Studien zur Geschichte und Theologie des Urchristentums (= SBAB 15). Stuttgart 1993, S. 289–338. → BRANDENBURGER, Gerichtskonzeptionen im Urchristentum und ihre Voraussetzungen, Seitenangabe. BUCHER, Anton A.: Ein zu lieber Gott? Oder: Ist die Tilgung des ‚Bösen‘ aus der Bibeldidaktik nur ‚gut‘?; in: ELSENBAST, Volker/LACHMANN, Rainer/SCHELANDER, Robert (Hrsg.): Die Bibel als Buch der Bildung. Festschrift für Gottfried Adam zum 65. Geburtstag (= Forum Theologie und Pädagogik 12). Wien 2004, S.173–185. → BUCHER, Ein zu lieber Gott?, Seitenangabe. BUSCH, Peter: Die Geschichte vom großen Abendmahl nach Lukas. Abendessen als sozialer Event; in: entwurf 49 (3/2018), S. 48–55. → BUSCH, Die Geschichte vom großen Abendmahl nach Lukas, Seitenangabe. BÜTTNER, Gerhard/DIETERICH, Veit-Jakobus: Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik (= UTB 3851). Göttingen 2013.
2
Zeitschriften werden in der Regel wie folgt zitiert: Name bzw. Kürzel der Zeitschrift – Jahrgang (ggf. Heftnummer/Jahr), Seitenangabe.
F. Quellen- und Literaturverzeichnis
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→ BÜTTNER/DIETERICH, Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, Seitenangabe. BÜTTNER, Gerhard/THIERFELDER, Jörg: Die Christologie der Kinder und Jugendlichen – Ein Überblick; in: Dies. (Hrsg.): Trug Jesus Sandalen? Kinder und Jugendliche sehen Jesus Christus. Göttingen 2001, S. 7–26. → BÜTTNER/THIERFELDER, Die Christologie der Kinder und Jugendlichen, Seitenangabe. CALMBACH, Marc u. a.: Wie ticken Jugendliche 2016? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland. Wiesbaden 2016; zugleich online abrufbar unter: https://link.springer.com/book/10.1007%2F978-3-658-12533-2 (Stand: 21.06.2020). → CALMBACH (u. a.), Wie ticken Jugendliche 2016?, Seitenangabe. CARTER, Warren: Resisting and Imitating the Empire. Imperial Paradigms in Two Matthean Parables; in: Interp. 56 (3/2002), S. 260–272. → CARTER, Resisting and Imitating the Empire, Seitenangabe. COLLARD-L OMMEL, Denise: Das Gleichnis vom großen Gastmahl (Lk 14,13–24); in: Codex Aureus Epternacensins. Bilder erschließen die Bibel. Kommentare von Denise Collard-Lommel. Echternach 2003, S. 73/75. → COLLARD-LOMMEL, Das Gleichnis vom großen Gastmahl (Lk 14,13–24), Seitenangabe.
CRÜSEMANN, Frank: “… wie wir vergeben unseren Schuldigern”. Schulden und Schuld in der biblischen Tradition; in: CRÜSEMANN, Marlene/SCHOTTROFF, Willy (Hrsg.): Schuld und Schulden. Biblische Traditionen in gegenwärtigen Konflikten (= Kaiser-Taschenbücher 121). München 1992, S. 90–103. → CRÜSEMANN, “… wie wir vergeben unseren Schuldigern”, Seitenangabe.
DIETERICH, Veit-Jakobus: Theologisieren mit Jugendlichen – Ein Programm, in: Ders. (Hrsg.): Theologisieren mit Jugendlichen. Ein Programm für Schule und Kirche. Stuttgart 2012, S. 31–50. → DIETERICH, Theologisieren mit Jugendlichen – Ein Programm, Seitenangabe. DIETRICH, Walter/LINK, Christian: Die dunklen Seiten Gottes. Band 1: Willkür und Gewalt. Neukirchen-Vluyn 52009. → DIETRICH/LINK, Die dunklen Seiten Gottes I, Seitenangabe. DIETZ, Walter R.: Biblische und systematisch-theologische Aspekte zur Rede von Gottes Zorn und Erbarmen; in: KRUCK, Günter/STICHER, Claudia (Hrsg.): „Deine Bilder stehn vor dir wie Namen“. Zur Rede von Zorn und Erbarmen Gottes in der Heiligen Schrift. Mainz 2005, S. 31–54. → DIETZ, Biblische und systematisch-theologische Aspekte, Seitenangabe. DIETZFELBINGER, Christian: Das Gleichnis von der erlassenen Schuld. Eine theologische Untersuchung von Matthäus 18,23–35; in: EvTh 32 (1972), S. 437–451. → DIETZFELBINGER, Das Gleichnis von der erlassenen Schuld, Seitenangabe. DINKLER, Erich: Petrusbekenntnis und Satanswort. Das Problem der Messianität Jesu; in: Ders. (Hrsg.): Zeit und Geschichte. Dankesgabe an Rudolf Bultmann zum 80. Geburtstag. Tübingen 1964, S. 127–153. → DINKLER, Petrusbekenntnis und Satanswort, Seitenangabe. DORMEYER, Detlev: Das Lukasevangelium. Neu übersetzt und kommentiert. Stuttgart 2011. → DORMEYER, Das Lukasevangelium, Seitenangabe. EBNER, Martin: Jesus von Nazaret in seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Zugänge (= SBS 196). Stuttgart 22004.
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ERLEMANN, Kurt/NICKEL-BACON , Irmgard/LOOSE, Annika: Gleichnisse – Fabeln – Parabeln. Exegetische, literaturtheoretische und religionspädagogische Zugänge (= UTB 4134). Tübingen 2014. → ERLEMANN /NICKEL-BACON/L OOSE, Gleichnisse – Fabeln – Parabeln, Seitenangabe. ERNST, Josef: Das Evangelium nach Lukas (= RNT). Regensburg 1977. → ERNST, Das Evangelium nach Lukas, Seitenangabe. Ders.: Das Evangelium nach Markus (= RNT). Regensburg 1981. → ERNST, Das Evangelium nach Markus, Seitenangabe. Ders.: Johannes der Täufer – der Lehrer Jesu? (= Biblische Bücher 2). Freiburg i. Br./Basel/Wien 1994. → ERNST, Johannes der Täufer – der Lehrer Jesu?, Seitenangabe.
3
Die Übersetzer werden im Darstellungsteil nur angegeben, wenn wörtlich zitiert wird.
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4
Nachfolgend wird das vorliegende Lexikon wie folgt ausgewiesen: LThK – Band-Nr. (Sonderausgabe 2009), Spaltenangabe.
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GÖCKE, Benedikt Paul: Jenseits des Theismus. Panentheismus als Denkform der Postmoderne; in: NITSCHE, Bernhard/STOSCH, Klaus von/TATARI, Muna (Hrsg.): Gott – jenseits von Monismus und Theismus? (= Beiträge zur Komparativen Theologie 23). Paderborn 2017, S. 113– 135.
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HOPPE, Rudolf: Das Gastmahlgleichnis Jesu (Mt 22,1–10/Lk 14,16–24) und seine vorevangelische Traditionsgeschichte; in: HOPPE, Rudolf/BUSSE, Ulrich (Hrsg.): Von Jesus zum Christus. Christologische Studien. Festgabe für Paul Hoffmann zum 65. Geburtstag (= BZNW 93). Berlin/New York 1998, S. 277–293. → HOPPE, Das Gastmahlgleichnis Jesu (Mt 22,1–10/Lk 14,16–24), Seitenangabe. Ders.: Jesus von Nazaret. Zwischen Macht und Ohnmacht. Stuttgart 2012. (Neufassung des Titels: Jesus. Von der Krippe an den Galgen. Stuttgart 1996.) → HOPPE, Jesus von Nazaret, Seitenangabe. Ders.: Gottes Einladung zum Festmahl und die Prioritäten der Eingeladenen (Lk 14,[15]16–24). Das Gleichnis im Kontext von Lk 14,1–34; in: H EIL, Christoph/HOPPE, Rudolf (Hrsg.): Menschenbilder – Gottesbilder. Die Gleichnisse Jesu verstehen. In Zusammenarbeit mit dem Collegium Biblicum München. Ostfildern 2016, S. 89–106. → HOPPE, Gottes Einladung zum Festmahl, Seitenangabe.
5
Nachfolgend wird das vorliegende Lexikon wie folgt ausgewiesen: RGG – Band-Nr. (AuflageJahr), Spaltenangabe.
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Alle „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“ (wie auch Dokumente der deutschen Bischofskonferenz) sind online abrufbar unter: https://www.dbk-shop.de/ (Stand: 17.05.2021). Nach diesen deutschen Übersetzungen wird im Darstellungsteil zitiert.
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4.
Internetdokumente
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F. Quellen- und Literaturverzeichnis
4.1
375
Internetdokumente mit Verfasserangabe
BARTSCH, Elisabeth: Arbeitshilfen Mistertao; online abrufbar unter: http://www.material server.filmwerk.de/arbeitshilfen/mistertao_ah.pdf (Stand: 25.06.2020). BAUMANN, Ulrike: Art. Elementarisierung; in: ZIMMERMANN, Mirjam/LINDNER, Heike (Hrsg.): Das Wissenschaftlich-Religionspädagogische Lexikon im Internet (www.wirelex.de). Januar 2015; online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100014/ (Stand: 25.6.2020). BECK, Martin: Art. Tag Jahwes (AT); in: ALKIER, Stefan/BAUKS, Michaela/KOENEn, Klaus (Hrsg.). Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de). Februar 2018; online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/32258/ (Stand: 25.06.2020). BECKER, Thomas: Heiliger Zorn; veröffentlicht in: „Welt Online“ am 09.03.2014; online abrufbar unter: https://www.welt.de/print/wams/nrw/article125588193/Heiliger-Zorn.html (Stand: 25.06.2020). BENDEMANN, Reinhard von: Art. Zorn Gottes (NT); in: WiBiLex (www.wibilex.de). Mai 2010; online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/59453/ (Stand: 17.7.2018). BENEDIKT XVI.: ANGELUS. Petersplatz am Sonntag, den 27. Januar 2008; online abrufbar unter: http://www.vatican.va/content/benedict-xvi/de/angelus/2008/documents/hf_benxvi_ang_20080127.html (Stand: 25.06.2020). BÖTTRICH, Christfried: Art. Johannes der Täufer; in: WiBiLex (www.wibilex.de). Oktober 2013; online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/51874/ (Stand: 25.06.2020). Dies.: Art. Apokalyptik (NT); in: WiBiLex (www.wibilex.de). April 2014; online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/49908/ (Stand 25.6.2020). BÜTTNER, Gerhard: Art. Entwicklungspsychologie; in: WiReLex (www.wirelex.de). Januar 2015; online abrufbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100083/ (Stand: 25.06.2020). DUDENREDAKTION (Hrsg.): Art. Zorn, der; online abrufbar unter: https://www.duden.de/ rechtschreibung/Zorn (Stand: 25.06.2020). ERLEMANN, Kurt: Art. Gleichnisse (NT); in: WiBiLex (www.wibilex.de). Mai 2009; online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/48932/ (Stand: 17.7.2018). FREY-ANTHES, Henrike: Art. Krankheit und Heilung (AT); in: WiBiLex (www.wibilex.de). August 2007; online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/24036/ (Stand: 25.06.2020). HEIL, Stefan: Art. Korrelationen; in: WiReLex (www.wirelex.de). Januar 2015; online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100015/ (Stand: 25.06.2020). HÖGER, Christian: Art. Jesus Christus, bibeldidaktisch, Sekundarstufe; in: WiReLex (www.wirelex.de). Januar 2015, online abrufbar unter: https://www.bibelwissen schaft.de/stichwort/100044/ (Stand: 25.06.2020).
376
F. Quellen- und Literaturverzeichnis
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F. Quellen- und Literaturverzeichnis
377
POHL-PATALONG, Uta: Art. Bibliolog; in: WiReLex (www.wirelex.de). Februar 2016; online abrufbar: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100139/ (Stand: 27.06.2020). QUALITÄTS- UND UNTERSTÜTZUNGSAGENTUR – LANDESINSTITUT FÜR SCHULE (QUA-LIS NRW): Checkliste – Kompetenzerwartungen am Ende der Jahrgangsstufe 6; online abrufbar unter: https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/front_content.php?idcat =4942 (Stand: 27.06.2020). SAJAK, Clauß Peter/Feindt, Andreas: Räume zur selbsttätigen Aneignung schaffen. Zur Signatur kompetenzorientierter Unterrichtsgestaltung im Religionsunterricht; in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 11 (1/2012), S. 164–178; online abrufbar unter: https://www.theo-web.de/zeitschrift/ausgabe-2012-01/10.pdf (Stand: 27.06.2020). SCHAMBECK, Mirjam: Art. Bibeldidaktik, Grundfragen; in: WiReLex (www.wirelex.de). Januar 2015; http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100038/ (Stand: 27.06.2020). SCHWABE, Alexander: "Gott gießt seinen Zorn über Amerika"; veröffentlicht in: DER SPIEGEL (online) am 07.09.2005; online abrufbar unter: http://www.spiegel.de/panorama/ juengstes-gericht-gott-giesst-seinen-zorn-ueber-amerika-a-373425.html (Stand: 27.06. 2020). SCHWEIZER, Alexander: Mk 3,1–6. Jesus durchkreuzt die Erwartungen der Pharisäer. Eine Heilung am Sabbat; online abrufbar unter: http://www.allesumdiekinderkirche.de/text suche/mk3_1ff.pdf (Stand: 27.06.2020). SÖDING, Thomas: Der Skandal des Kreuzes. Deutungen des Todes Jesu. Neutestamentliche Master-Vorlesung im Sommersemester 2012; online abrufbar unter: http://www.kath.ruhruni-bochum.de/imperia/md/content/nt/nt/aktuellevorle sungen/vorlesungsskriptedownload/vlskriptess2012/skript_tod_jesu_ss_2012_rub.pdf (Stand: 27.06.2020). Ders.: Feuer und Schwert. Gottes Gericht in der Verkündigung Jesu; online abrufbar unter: http://www.kath.ruhr-uni-bochum.de/imperia/md/content/nt/feuer_und_schwert.pdf (Stand: 27.6.2020). [Ursprünglich veröffentlicht in: Der Religionsunterricht an höheren Schulen 43 (2000), S. 213–224 (im Internetdokument jedoch mit anderer Seitenzählung.] THEIS, Joachim: Einstellungen zur Bibel, von Jugendlichen; in: WiReLex (www.wirelex.de). Februar 2017; online abrufbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/ 100267/ (Stand: 27.06.2020). TUI STIFTUNG (Hrsg.): JUNGES EUROPA 2018. So denken Menschen zwischen 16 und 26 Jahren; online abrufbar unter: https://www.tui-stiftung.de/wp-content/uploads/2018/05/ TUI_Stiftung-Umfrage-2018_GESAMT_ONLINEversion_180430.pdf (Stand: 27.06.2020). WÄLCHLI, Stefan: Art. Zorn (AT); in: WiBiLex (www.wibilex.de). März 2014; online abrufbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/35502/ (Stand: 27.06.2020). WENDERHOLM, Iris: Cecco, Die Austreibung der Wechsler aus dem Tempel; online abrufbar unter: http://web.fu-berlin.de/giove/collect/cecco.htm (Stand: 27.06.2020). WILLEMS, Joachim: Art. Interreligiöse Kompetenz; in: WiReLex (www.wirelex.de). Januar 2015; online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100070/ (Stand: 27.06.2020).
378
F. Quellen- und Literaturverzeichnis
ZELLER, Dieter: Art. Messiasgeheimnis; in: WiBiLex (www.wibilex.de). Januar 2011; online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/51998/ (Stand: 17.7.2018). ZENTRUM FÜR SCHULQUALITÄT UND LEHRERBILDUNG (Redaktion): Modelle religiöser Kompetenz; online abrufbar unter: https://lehrerfortbildung-bw.de/u_gewi/religion-rk/gym/ bp2004/fb1/1_theorie/ueber/2_ueber/1_modelle/ (Stand: 27.06.2020).
4.2
Verweislinks
FILMZITAT BILBO BEUTLIN (in Übersetzung): http://www.filmstarts.de/nachrichten/18490337.html?page=4 (Stand: 26.06.2020). Bild einer aktuellen PROTESTAKTION im Rahmen einer „FRIDAYS F OR FUTURE"-DEMONSTRATIONEN : https://www.welt.de/politik/deutschland/article196061839/Fridays-for-Future-KlimaAktivisten-bilden-Menschenkette-um-den-Bundestag.html#cs-Fridays-For-Future-inBerlin.jpg (Stand: 27.06.2020). RSNG-KONGRESS 2017 – PanENtheismus: Gott und Welt in Beziehung: http://www.forum-grenzfragen.de/panentheismus-gott-und-welt-in-beziehung (Stand: 27.06.2020). 17. SHELL JUGENDSTUDIE (Aufbau der Studie): https://www.shell.de/ueber-uns/die-shell-jugendstudie/ueber-die-shell-jugendstudie2015.html (Stand: 27.06.2020).
5.
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: „IGELHAAR-MEISTER“: Illustration zum Gleichnis vom Gastmahl (Lk 14,16–24) aus dem Codex Aureus Epternacensis (entstanden in der 1. Hälfte des 11. Jahrhunderts). Buchmalerei auf Pergament, ca. 44 × 31 cm. Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum, Inv.Nr. Hs 156142, folio 77v. © Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg (Fotostelle). Abbildung 2: Begründungsfiguren biblischen Lernens von U. KROPAČ, zusammengefasst durch H. MENDL; in: MENDL, Hans: Religionsdidaktik kompakt. Für Studium, Prüfung und Beruf. München 72018, S. 85.
G.
Anhang
380
G. Anhang
Unterrichtsbeispiele für die Unterstufe: Verlaufspläne und Materialien
1.1
„Wann würde Jesus heute zornig werden?“ –Die Heilung am Sabbat (Mk 3,1–6)
Phase*
1.
Unterrichtsinhalte/Unterrichtsgeschehen (unter Berücksichtigung des methodisch-medialen Arrangements)
Didaktisch-methodischer Kurzkommentar
•
•
Die Rollenspiele sollen eine erfahrungsbezogene Annäherung über das Erleben von Zorn anregen.
•
Dabei ist eine erste zentrale Erkenntnis, dass es positive, aber auch negative Motive für und Auswirkungen von Zorn gibt.
•
Die ersten Assoziationen sollen die gemeinsame Aufmerksamkeit auf das Verhalten Jesu lenken und dazu anregen, seinen Zorn genauer wahrzunehmen.
I: „Auf den Text zugehen“
•
• •
• •
•
1
Informierender Einstieg durch die Lehrkraft Die Schülerinnen und Schüler entwickeln kurze Spielszenen zu Situationen, in denen sie zornig geworden sind (ggf. ergänzend U. 1.1, M 1). Vorspielen der Szenen Gemeinsame Sammlung und Auswertung der Situationen in Form eines Unterrichtsgesprächs/Tafelanschriebs zum Aspekt „Zornig werden …“ (Situationen, Ursachen, Auswirkungen, Beurteilung) Überleitung zum Bibeltext Mk 3,1–6 Gemeinsames Lesen und erste Assoziationen zum Verhalten Jesu in Form eines „Brainstormings“. 1 Vergleich des Verhaltens Jesu mit den eigenen Erfahrungen.
Eine grundlegend andere Erarbeitungsvariante stellt der Bibliolog dar (→ U. 1.1, M 2). Davon ausgehend könnte dann auch eine abschließende Sammlung der Motive der biblischen Personen stattfinden.
II: „Vom Text ausgehen“
G. Anhang •
Erarbeitung des Textinhalts mit Hilfe des „POZEK-Schlüssels“
•
•
ggf. weitergehende, sozialgeschichtliche Erschießung der erzählten Welt
•
•
Erarbeitung der Motive der biblischen Personen: Alternative 1 (kognitiv): Erstellen einer Liste mit Fragen an die Erzählfiguren, die anschließend recherchiert werden. Alternative 2 (erfahrungsbezogen): perspektivische Neuerzählung Sammlung der Motive der einzelnen Personen in Form eines Unterrichtsgesprächs/Tafelanschriebs, dabei insbesondere die Einordnung des Handelns Jesu.
•
•
• •
III: „Über den Text hinausgehen“
381
•
Sicherung in Form eines Tafelbildes
•
Aktualisierung der Aussage von Mk 3,5ab durch die Erstellung einer fiktiven Erzählung zum Thema „Was wäre, wenn Jesus in unsere Schule kommen würde.“
•
•
Der „POZEK-Schlüssel“ eignet sich besonders, die vorliegende Erzählwelt zu erschließen. Daran kann eine vertiefende Erarbeitung hierfür relevanter Informationen über das zeitgenössische Umfeld Jesu ansetzen.
Zentraler Schritt der Erarbeitung ist, die Motive und Erfahrungen der Erzählfiguren offenzulegen, damit deutlich wird, dass die Frage nach einem dem Willen Gottes entsprechenden Handeln Ursache des Konflikts ist. Dabei gilt es besonders bewusst zu machen, dass der Zorn Jesu aus Mitgefühl sowie Barmherzigkeit motiviert ist und zu einem entsprechenden Verhalten aufrufen möchte.
Die Aktualisierung soll die Schülerinnen und Schüler dafür sensibilisieren, in welchen Situationen in ihrem schulischen Umfeld mehr Mitgefühl gefordert ist und inwiefern sie persönlich davon betroffen sind.
382
G. Anhang •
Gemeinsame Besprechung und Sammlung mit Blick darauf, in welchen Situationen Jesus heute zornig werden würde und was dies für unser Handeln bedeutet.
•
•
•
Weiterführung
•
•
Gleichzeitig soll in der anschließenden Besprechung das Jesus leitende Gottesverständnis erkannt und verdeutlicht werden. Zentral ist dabei das Gespräch über das weitere Handeln Jesu, durch das die Perspektive der Schülerinnen und Schüler auf die Frage: „Was können wir tun?“ hin geweitet werden soll. Eine mögliche Diskrepanz kann mit Blick auf das Handeln Jesu und heutigen Handlungsmöglichkeiten bestehen. Diese sollte zur produktiven Weiterführung genutzt werden.
Erarbeitung von Beispielen und Möglichkeiten gegenseitiger Unterstützung im Zeichen inklusiven Lernens.
*Die griffige Benennung der Phasen findet sich unter anderem bei U. Kropač (Biblisches Lernen, S. 431–432). Nachfolgend wird nur noch durch Nummerierung auf die Phasen verwiesen.
G. Anhang
383
U 1. 1. – M 1: Rollenkarten Tim und seine Mitschüler/innen •
Beteiligte Personen: Tim, Marcel und Lea, Lena
•
Ausgangssituation: Tim wird schon seit längerer Zeit von seinen Mitschülern, Marcel und Lea, geärgert. Sie verstecken beispielsweise seinen Rucksack und schreiben ihm fiese Dinge ins Heft. Da Tim Angst vor ihnen hat, lässt er sich dies gefallen. Lena ist Tims Freundin, die schon länger das Verhalten von Marcel und Lea stört.
• o o
Handlungsentwicklung: Tim und Lena sitzen nebeneinander und unterhalten sich. Heute ist es wieder besonders schlimm. Lea wirft beim Hineingehen in die Klasse Tims Mäppchen herunter. Als Tim die Stifte aufheben will, kommt Marcel vorbei und tritt die Stifte weg. Lea setzt noch einen drauf, und tritt Tim direkt auf die Hand. Lena beobachtet die Situation. Bei jeder weiteren „Aktion“ von Marcel und Lea wird sie immer wütender. Als Lea dann noch Tim angreift, hat sie genug. Voller Zorn schubst sie Lea weg und fordert beide auf, endlich aufzuhören…
o o o o
Manuels Neid auf Max •
Ausgangssituation: Manuel ist neidisch auf Max, weil dieser beliebt bei seinen Mitschülern ist und immer gute Noten hat.
• o
Handlungsverlauf: Max bekommt wie Manuel eine Klausur zurück. Während Manuel eine schlechte Note hat, hat Max eine 1. Manuels Wut steigt hoch, als er die Freude von Max sieht. Unvermittelt stürmt er auf Max los, schubst ihn zu Boden und zerreißt dessen Klausurheft.
o o
384
G. Anhang
U 1.1 – M 2: Bibliolog zu Mk 3,1–6 (Textgrundlage EÜ 2016) 1. •
• 2. •
•
Hinführung: Wir reisen zurück in die Zeit Jesu. Es ist Sabbat, der siebte Wochentag. Ein Tag, der den Juden wichtig und heilig ist. Hier soll man, wie in den Zehn Geboten steht, Ruhe halten, wie es Gott selbst am siebten Schöpfungstag getan hat. Der Sabbat soll allen Menschen Freiheit bringen, wie auch Gott sein Volk aus Ägypten befreit hat. Im Sabbat zeigt sich also, worauf es in der Beziehung zu Gott ankommt. Durchschreiten des Textes Wir begeben uns nun an diesem heiligen Sabbat in eine Synagoge, dem jüdischen Gotteshaus. Hier sind bereits viele Menschen angekommen: Gesetzestreue Pharisäer, andere gläubige Juden und ein Mann mit einer verdorrten, einer leblosen Hand. Wir nennen ihn einmal Benjamin. Benjamin beobachtet seine Umwelt, doch auf einmal verändert sich die Atmosphäre in der Synagoge – bei manchen, insbesondere den Pharisäern, wird sie eindeutig feindseliger. „Als er [=Jesus] wieder in die Synagoge ging, war dort ein Mann mit einer verdorrten Hand. Und sie gaben Acht, ob Jesus ihn am Sabbat heilen werde; sie suchten nämlich einen Grund zur Anklage gegen ihn.“ (V. 1–2)
•
Ihr seid jetzt Benjamin. Schon viel habt ihr von diesem Jesus gehört, der sich angeblich mit Ausgestoßenen abgibt, und sich ihnen zuwendet, sie heilt. Was geht euch durch den Kopf? [Befragung einzelner Schülerinnen und Schüler]
•
Danke Benjamin. Nun geschieht es aber, Jesus spricht zu Benjamin: „Da sagte er zu dem Mann mit der verdorrten Hand: Steh auf und stell dich in die Mitte! Und zu den anderen sagte er: Was ist am Sabbat erlaubt – Gutes zu tun oder Böses, ein Leben zu retten oder es zu vernichten? Sie [= die Pharisäer] aber schwiegen. Und er sah sie der Reihe nach an, voll Zorn und Trauer über ihr verstocktes Herz … (V. 3–5a)
•
Ihr seid ein frommer Jude, der die Synagoge besucht. Interessiert beobachtet ihr den sich hier anbahnenden Konflikt. Erst denkt ihr, dass sich einfach einzelne Personen streiten. Wie unangemessen an diesem Ort. Doch Moment! – Hier scheint es nicht um irgendetwas Belangloses zu gehen, sondern um etwas viel Grundsätzlicheres, um den Sabbat …. Ihr seid jetzt dieser Synagogenbesucher. [Befragung einzelner Schülerinnen und Schüler]
G. Anhang •
385
Nun tritt der Streit in den Hintergrund, da etwas wirklich „Wunderbares“ geschieht: … und [Jesus] sagte zu dem Mann: Streck deine Hand aus! Er streckte sie aus und seine Hand wurde wiederhergestellt. (V. 5b–6).
•
Wir sind ja immer noch in der Synagoge, dem Haus der Versammlung, in dem gebetet, Gottes Wort gehört und über Gottes Willen diskutiert wird. Du bist ein Haus der gemeinschaftlichen Gottesbegegnung und Gottesnähe. Wie denkst Du über das, was sich in deinem Inneren ereignet hat? [Befragung einzelner Schülerinnen und Schüler]
•
Wir beenden jetzt unsere Reise. Für Benjamin hat sich viel verändert, aber auch für Jesus sollte dieses Ereignis nicht folgenlos bleiben: „Da gingen die Pharisäer hinaus und fassten zusammen mit den Anhängern des Herodes den Beschluss, Jesus umzubringen
386
G. Anhang
„Ein Gott, der sich nach Gemeinschaft sehnt?“ – Die Parabel vom Gastmahl (Lk 14,16–24)
1.2 Phase
Unterrichtsinhalte/Unterrichtsgeschehen (unter Berücksichtigung des methodischen Arrangements)
Didaktisch-methodischer Kurzkommentar
I
•
Die Schülerinnen und Schüler werden aufgefordert, fiktive Einladungen zu ihrem nächsten Geburtstag zu erstellen. Vorstellung der Einladungen und Sammlung von Erwartungen, die mit der Feier verbunden werden, in Form eines Tafelanschriebs Auseinandersetzung mit der unerwarteten Entwicklung, dass alle Freunde absagen, in Form von fiktiven Spielszenen (→ U1.2, M 1)1 Besprechung und Sammlung von Gefühlen und Reaktionen (entsprechende Ergänzung des Tafelbildes) von dieser Thematik Überleitung zum Bibeltext (Lk 14,16–23, EÜ) und gemeinsames Lesen
•
Die Annäherung soll hier erfahrungsbezogen und lebensbedeutsam über die Frage nach dem Umgang mit Zurückweisung und daraus resultierendem Zorn eröffnet werden.
•
Die dadurch eröffneten Parallelen zum Handlungsverlauf der Parabel sollen eine entsprechend lebensrelevante Begegnung mit dem Text ermöglichen.
•
Das Verhalten des Hausherren kann dabei mit den eigenen Reaktionen verglichen und eingeschätzt werden.
Erschließung des Textinhalts und der Textstruktur, z. B. durch Erstellung einer Textgliederung (auch als Bildfolge denkbar).
•
Ziel ist die Herausarbeitung des Handlungsverlaufes und der Handlungsträger für eine weitergehende Analyse. Bei der Erstellung einer Bildfolge könnte im Fortgang der Unterschied zwischen einer Darstellung und kreativen Interpretation besser verdeutlicht werden.
•
•
•
•
II
1
•
•
Alternativ ist auch die Anbahnung der Problemstellung über eine fiktive Einladung möglich.
G. Anhang •
•
•
•
III
•
•
387 Befragung der Personen aus dem Bibeltext („Der heiße Stuhl“ → vorbereitend U 1.2, M 2) anschließende Zusammenführung der Erkenntnisse über die Rolle der Personen in einem kurzen Satz (z. B.: „In der Erzählung erfahren wir über den Hausherrn, dass … etc.)
•
Ziel ist die vertiefende Bewusstmachung der Motive für die Erzählfiguren.
Entwicklung einer ersten Deutung, die anschließend an der linken Tafelhälfte gesammelt wird (weitergehende Impulse der nachfolgenden Analyseschritte werden links ergänzt) damit einhergehende Abwägung der Frage, inwiefern der Hausherr Perspektiven liefert angemessen mit der Situation umzugehen
•
Ziel ist die erste Zusammenführung der Einzelerkenntnisse zu einer Deutung; zugleich aber auch die Verdeutlichung des vorläufigen Charakters durch das visuelle Arrangement des Tafelbildes.
Verzögerte Bildbetrachtung und Bildinterpretation anhand von Bildausschnitten einer Illustration aus dem Codex Aureus Epternacensis (→ U 1.2, M 3)
•
Die Methode dient zu einer Verlangsamung der Wahrnehmung; Inhaltlich soll die theologische Sinndimension von Lk 14,16–23 deutlich werden. Damit geht dann die Reflexion einher, inwiefern der „Zorn“ in dieses Gottesbild passt und wie das Ende der Parabel in Lk 14,24 gedeutet werden kann.
Sammlung der Gesamtdeutung und Ergänzen der rechten Seite des Tafelbildes
• •
388
G. Anhang •
• •
Vernetzung
•
Erstellung eines eigenen Bildes (einschließlich Kommentars), das die Hoffnungsbotschaft der Erzählung für die Gegenwart verdeutlichen soll. Vorstellung der Ergebnisse in Form eines Museumsgangs Weiterführung mit Blick auf die Frage, wo die Gemeinschaft mit Gott erlebbar wird (z. B. mit Blick auf gegenwärtige Beispiele). Die Schülerinnen und Schüler bearbeiten (z. B. als Hausaufgabe) die Anfrage eines Zeitgenossen, ob das Bild des zornigen Hausherrn sich mit dem Gottesverständnis Jesu vereinbaren lässt (→ U 1.2, M 4).
•
• •
•
•
Die kreativ-gestalterische Aufgabe soll dazu dienen, dass die Schülerinnen und Schüler eine eigene Deutung der Parabel entwickeln, im gemeinsamen Austausch aber auch andere Deutungen kennen lernen. Das Thema wird mit Blick auf die Frage nach seiner Gegenwartsrelevanz geweitet. Ziel ist es, einen Denkprozess darüber anzuregen, inwiefern der „Zorn“ angemessen in das Gottesverständnis Jesu integriert werden kann. Dabei sollen im Sinne des Aufbaus von Sachkompetenz diesbezüglich gewonnene Erkenntnisse reaktiviert werden.
G. Anhang
389
U 1. 2 – M 1: Rollenkarte zur Absage der Freunde Stellt Euch vor, Eure „Geburtstagsparty“ steht unmittelbar bevor. Nun ereignet sich Folgendes: • • • •
Eure Mutter kommt ins Zimmer und sagt euch, dass einer eurer Freunde abgesagt hat. Kurze Zeit später kommt sie erneut, um die Absage noch eines Freundes bekannt zu geben. Das wiederholt sich nun. Nachdem wieder etwas Zeit vergangen ist, teilt sie euch mit, dass nun auch alle anderen Freunde nicht kommen werden.
Spielt die Szene nach und überlegt euch vor allem, welche Gründe die Freunde jeweils anführen könnten und wie ihr euch in der Situation fühlen würdet. U 1. 2 – M 2: Analyseblatt zur Vorbereitung der Interviews Erzählfigur _____________________________________________ •
die Lebenssituation der Person:
•
Wünsche und Hoffnungen der Person:
•
Motive der Person für einzelne Handlungen:
•
Gefühle der Person und Hinweise auf ihre Ursachen:
•
Ereignisse, die die Person betreffen:
•
Entscheidungen der Person und Hinweise auf ihre Ursachen:
•
die Wahrnehmung der Person durch andere Erzählfiguren:
390
G. Anhang
U 1.2 – M 3: Illustration und Hinweise für die verzögerte Bildbetrachtung a)
Illustration aus dem Codex Aureus Epternacensis
„Igelhaar-Meister“: Illustration zum Gleichnis vom Gastmahl (Lk 14,16–24) aus dem Codex Aureus Epternacensis (entstanden in der 1. Hälfte des 11. Jahrhunderts). Buchmalerei auf Pergament, ca. 44 × 31 cm. Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum, Inv.-Nr. Hs 156142, folio 77v. [© Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg (Fotostelle).]
G. Anhang b)
391
Hinweise zur verzögerten Bildbetrachtung
• • •
„Worauf geachtet werden sollte …“ Vorgehensweise: Zergliederung des Bildes in Bildausschnitte, z. B. gemäß seiner Grundunterteilung in Bildstreifen oder anhand einzelner Bestandteile entlang der Ereignisentwicklung Beschreibung zunächst nur eines Bildausschnitts, am Ende Wahrnehmung des Bildes im Gesamtzusammenhang Auf die Gesamtbeschreibung folgen der Vergleich mit dem Bibeltext und die Deutung.
Aspekte der Beschreibung:
•
Beschreibung anhand zentraler Elemente, dazu zählen: Personengruppen und ihre Identifikationsmerkmale; Interaktionen (hier auf die Hände und Handbewegungen achten); Bewegungsrichtungen; Veränderungen der Farbgebung (besonders der Wellen, des Hintergrundes)
•
Keine chronologische Darstellung der einzelnen Szenen wird angestrebt, sondern die Verbindung von Grundbewegungen (Abwärtsbewegung der Erstgeladenen entlang der Absagen – Aufwärtsbewegungen der Bettelarmen hin zum Festsaal). Das Festmahl wird anders als im Bibeltext bildlich dargestellt. Der Zorn des Gastgebers wird im Bild nicht aufgegriffen, stattdessen seine liebende Zuwendung zu den Bettelarmen; Anklänge an ein überweltliches, himmlisches Geschehen werden im Bild verdichtet (Wellenbewegung nach oben, blauer Hintergrund des oberen Bildteils).
• • •
Aspekte des Vergleichs zum biblischen Text und der Deutung:
➢ Wie erleben die Armen und Kranken diese Situation? ➢ Zentraler Impuls in Richtung der theologischen Sinndimension: Der Illustrator bezeichnet den Gastgeber, wie es am Anfang der Parabel heißt, als „Homo quidam“/„Irgendein Mensch“. Ist dieser Gastgeber für ihn nur irgendjemand? Auf wen könnte dieser Mann hindeuten? Warum nennt der Maler den Mann nicht einfach „Gott“?
392
G. Anhang ➢ Weiterführung: Eine Deutung des Bildes ist, dass die farbigen Wellen die grenzenlose Liebe Gottes ausdrücken sollen. Sie ist so groß, dass er jeden Menschen zu sich holen möchte.1 Wie passt das zur Aussage in der Erzählung, dass der Hausherr zornig wurde? ➢ Wir haben uns einen Vers noch nicht angeschaut, bei dem nicht klar ist, ob er zu der Erzählung gehört (Verweis auf Lk 14,24). Welche Antwort würde der Maler des Bildes geben, warum das so ist? ➢ Ist es nur im „Himmel“ möglich, dass die Armen und Ausgegrenzten diese Erfahrung machen?
1
Vgl. Collard-Lommel, Das Gleichnis vom großen Gastmahl (Lk 14,13–24), S. 75.
G. Anhang
393
U 1.2 – M 4: Vernetzender Reflexionsauftrag Stell dir vor, du bist ein Jünger oder eine Jüngerin Jesu. Ganz nachdenklich kommt Matthias*, ein Mitjünger, auf dich zu. Du fragst ihn natürlich, was los ist. Darauf antwortet er dir: „Ich habe gerade eine Gleichniserzählung von Jesus über ein großes Gastmahl gehört, bei dem die ersten Gäste abgesagt haben und dann Arme sowie Kranke als Ersatzgäste geladen wurden. Oft haben diese Geschichten etwas mit Gott zu tun. Diesmal bereitet mir aber eine Stelle Kopfzerbrechen. Hier heißt es nämlich auch, dass der Gastgeber zornig wurde. „Zorn“, das passt doch gar nicht zum liebenden Gott, den Jesus uns verkünden will. Oder doch?1“ Überleg, was du Matthias antworten würdest. Bezieh dabei deine Kenntnisse über die vorliegende Erzählung und auch weitere Beispiele, bei denen du etwas über Jesus Verständnis von Gott erfahren hast, ein. *Der Name kann frei gewählt werden.
1
Die grau unterlegte Passage kann im Sinne einer kompetenzorientierten Aufgabengestaltung auch rausgelassen werden.
394
G. Anhang
2.
Unterrichtsbeispiele für die Mittelstufe: Verlaufspläne und Materialien
2.1
Die Botschaft Jesu als existenzielle Ansprache begreifen (Mt 10,34–39)
Phase
Unterrichtsinhalte/Unterrichtsgeschehen (unter Berücksichtigung des methodischen Arrangements)
Didaktisch-methodischer Kurzkommentar
I
•
•
Unterrichtseinstieg: Ratespiel der Schülerinnen und Schüler, welche Aussagen von Jesus stammen könnten (→ U 2.1, M 1)
•
• • II
•
Besprechung und davon ausgehende Reflexion persönlicher Jesusbilder Sammlung und Auswertung dieser Erarbeitung des Textinhaltes Mt 10,34–39 in Partnerarbeit durch die Herausarbeitung von Schlüsselwörtern
•
•
Das Ratespiel soll das Interesse der Schülerinnen und Schüler wecken, zugleich konfrontiert es mit einer zentralen Aussage des Bibeltextes. Dabei überrascht und irritiert die Aussage Jesu zunächst, da sie das gängige Bild eines friedlichen Jesus durchbricht. Auf dieser Grundlage kann eine gemeinsame Reflexion über eigene Jesusbilder und ihre Bedeutung angeregt werden. Der Textinhalt wird in seinem Kernbestand anhand von Schlüsselwörtern erschlossen.
G. Anhang •
•
III
1
395 vertiefende Interpretation durch Erarbeitung des Kommentars von Walter Klaiber (→ U 2.1, M 2)1 Besprechung und Sicherung
•
•
•
Schreiben eines Briefes an Jesus in Einzelarbeit
•
•
Rückbindung an den Einstieg
•
•
Recherche über Beispiele der Nachfolge Jesu und Möglichkeiten christlichen Engagements in der Gegenwart
•
Der anschließende Kommentar von W. Klaiber soll helfen, die komplexe Textaussage besser zu verstehen. Zentral ist dabei die Erkenntnis, dass die Nachfolge Jesu eine existenzielle Entscheidung ist, zugleich aber auch individuell konkretisiert werden muss. Das Schreiben des Briefes soll zu einer persönlichen Positionierung herausfordern.
Dabei ist eine Rückbindung an die eingangs gesammelten Jesusbilder sinnvoll, um zu reflektieren, inwiefern sich diese verändert haben. Die Weiterführung soll den Blick dahingehend weiten, was Nachfolge Jesu im Einzelfall bedeutet hat und bedeuten kann.
Die Art der Textaufbereitung (z. B. durch weitere Strukturierungshilfen, Arbeitsaufträge, Neubearbeitung) und Sozialform müssen individuell mit Blick auf die Lerngruppe entschieden werden.
396
G. Anhang
M 2. 1 – M 1: Aussagen fürs Ratespiel1
„Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.“ (Mahatma Gandhi)
„An den Kindern deines Volkes sollst du dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der HERR.“ (Lev 19,18; EÜ 2016)
„Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“ (Mt 5,39; EÜ 2016)
„Eines Tages werde ich mich erinnern, an alles, was geschehen ist: das Gute, das Böse, an jene, die überlebt haben, und die es nicht geschafft haben.“2 (Bilbo Beutlin; Der Hobbit: Die Schlacht der fünf Heere (2014)
„Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen – man weiß nie, was man kriegt.“
(Forrest Gump)
„Denkt nicht, dass ich gekommen sei, Frieden auf die Erde zu bringen; ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert." (Mt 10,34)
„Hasta la vista, Baby!“
Terminator 2; Tag der Abrechnung (1991)
1
2
Als Schülermaterial müssen die Zuordnung und die entsprechenden Links entfernt werden. Da die meisten Filmzitate inzwischen Allgemeingut sind, wird auf den konkreten Ausweis einer Fundstelle verzichtet. http://www.filmstarts.de/nachrichten/18490337.html?page=4 (Stand: 1.07.2020).
G. Anhang
397
U 2.1 – M 2: Kommentar Walter Klaibers zu Mt 10,34–39 Der Theologe Walter Klaiber deutet die Stelle wie folgt:
[…] Jesus ruft seine Leute nicht zum Heiligen Krieg auf. Aber an ihm scheiden sich die Geister, und das ist eine unvermeidliche Konsequenz seiner Sendung. Die harte und wohl ursprüngliche Rede vom Schwert macht klar: Wo diese Scheidung geschieht, gibt es nicht nur Streitgespräche in den Synagogen oder auf dem Basar; da kann es auch um Tod und Leben gehen. Dass es in der Entscheidungssituation zu Trennungen kommt, die mitten durch die engste Familie gehen, unterstreicht ein weiteres Wort [vgl. Mt 10,35–36]. […] Doch darf die Aussage: Ich bin gekommen … zu entzweien nicht missverstanden werden. Es ist nicht das Ziel der Sendung Jesu, einen solchen Riss mitten durch die Familien zu verursachen. Aber es gehört zu seiner Aufgabe, Menschen in die Entscheidung zu stellen, ob sie sich für das kommende Gottesreich öffnen. Daran können Familien zerbrechen und Hausgenossen, also Menschen, die miteinander unter einem Dach leben, zu Feinden werden. Es gibt Situationen, in denen die Botschaft Jesu bis heute solche dramatischen Folgen hat. Menschen werden also in die Entscheidung gestellt, ob ihnen die Familienbande wichtiger sind als Jesus nachzufolgen. […] In seiner weiteren Interpretation kommt Klaiber zu dem Schluss, dass Mt 10,38 schon auf die Kreuzigung Jesu Bezug nimmt. Hier bemerkt er:
Wie Jesus sein Leben einsetzte, so sollen auch seine Jünger bereit sein, ihr Leben nicht zu schonen, sondern es für die Sache Jesu einzusetzen. Dabei müssen sie nicht den Weg Jesu [bis hin zum Tod am Kreuz] nachahmen. Wer Jesus nachfolgt, soll sein (bzw. ihr) eigenes Kreuz auf sich nehmen, also die Konsequenzen tragen, die sich für das eigene Leben in der Nachfolge ergeben. Das kann freilich auch bedeuten, um der Sache Jesu willen Leiden auf sich zu nehmen bis hin zur Bereitschaft zum Martyrium. Sonst kann man nicht zu Jesus gehören (wörtlich: ist meiner nicht wert). Hier übernommen aus: Klaiber, Walter: Das Matthäusevangelium. Teilband 1: Mt 1,1 – 16, 20 (= Die Botschaft des Neuen Testaments). Neukirchen-Vluyn 2015, S. 214–215 bzw. S. 216. Hervorhebungen im Original, der Text wurde aus didaktischen Gründen stark gekürzt. [Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags]
398
2.2
G. Anhang
„Jesus neu begegnen!“ – Die Tempelreinigung
Phase
Unterrichtsinhalte/Unterrichtsgeschehen (unter Berücksichtigung des methodischen Arrangements)
Didaktisch-methodischer Kurzkommentar
I
•
•
•
II
Unterrichtseinstieg durch Beispiele aktueller Jugendproteste (z. B. durch Bilder von „Fridays for Future“- Demos) Sammlung unterschiedlicher Möglichkeiten und Formen von Protest
•
•
davon ausgehend projizieren der Bibelstelle Joh 2,15 als stummer Impuls
•
•
Die Lehrkraft informiert die Schülerinnen und Schüler kurz über die sozialgeschichtlich relevanten Hintergründe.
•
•
Die Schülerinnen und Schüler erarbeiten in Form eines Gruppenpuzzles Hintergründe und Ausprägung des Handelns Jesu in Form eines Vergleichs der vier Evangelientexte. Die Ergebnisse werden besprochen.
•
•
•
Der hier gewählte Einstieg knüpft an die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler an. Er lädt vor allem zu Reflexion darüber ein, welche Arten von und Gründe für Protest es gibt. Darüber lässt sich ein Dialog mit dem Bibeltext eröffnen. Das Auflegen der Textstelle, in der Jesus nicht namentlich genannt wird, soll das Interesse wecken und zugleich Fragen aufwerfen, z. B.: „Wird hier protestiert? Wogegen richtet sich der Protest?“ etc. Im einleitenden Vortrag sollten vor allem der Handlungsort und der entsprechende Tempelbetrieb kurz erläutert werden. Der Vergleich soll helfen, die Kritik Jesu und seine neuen Perspektiven auf die Funktion des Tempels in Ansätzen zu erkennen. Zugleich wird das jeweilige Profil der Evangelientexte erkennbar.
G. Anhang III
•
399 Bildbetrachtung der Darstellung der „Tempelreinigung“ in der Kunst (z. B. bei Francesco Boneri).
•
•
•
Die Schülerinnen und Schüler verfassen, angeleitet durch die Lehrkraft, eine Schreibmeditation (→ U 2.2, M 1).
•
•
In Rückbezug zum Einstieg wird die Frage aufgebracht, ob und in welcher Form Christen sowie Christinnen heute demonstrieren sollten. Die Schülerinnen und Schüler nehmen Stellung zu einzelnen Zitaten Jugendlicher, in denen diese ihr Jesusbild problematisieren (→ U 2.2, M 2).
•
Transfer
•
•
Der Vergleich mit einem jeweiligen Kunstwerk soll vor allem verdeutlichen, dass es möglich war, den Zorn Jesu und seine Göttlichkeit aufeinander zu beziehen. Darüber kann ein Gespräch angeleitet werden, worin eine mögliche Faszination dieses Jesusbildes lag und liegen kann. Die Schreibmeditation soll dann eine stärkere Identifikation mit Jesus ermöglichen und zu einer erfahrungsbezogenen Reflexion über sein Handeln anregen. Der Protest Jesu in Form der Tempelreinigung kann als Katalysator für die Frage nach gegenwärtigem christlichen Handeln fungieren. In den Schülerergebnissen wird erkennbar, inwieweit die Unterrichtsstunden dazu beigetragen haben, ihre Vorstellungen von Jesus zu verändern. Darin liegt eine Möglichkeit zur Kompetenzevaluation.
400
G. Anhang
U 2.2 – M 1: Text zur Schreibmeditation Wir haben heute Jesus im Tempel kennengelernt, dem Ort, der für ihn Gottesverehrung und Gottesbegegnung ermöglichen sollte. Stattdessen erlebte er diesen als „Räuberhöhle“. Jesus wusste, dass der Beginn der Herrschaft Gottes auch den Tempel nicht unberührt lassen würde. Er wollte diese Zustände nicht akzeptieren – er protestierte. Hier tritt uns ein zornig-entschlossener Jesus entgegen, der Gegebenes nicht einfach hinnimmt, sondern es im wahrsten Sinne des Wortes „umstürzt“. Kennst Du auch solche Situationen wie Jesus, die deinen Protest hervorrufen, – in denen Du für dich und für andere Menschen gewisse Dinge beseitigen möchtest? Was würde „Umstürzen“ in diesem Zusammenhang bedeuten? Schreibe hierzu ein paar zentrale Gedanken auf. U 2.2 – M 2: Stellungnahmen von Jugendlichen zu Jesus „Jesus bedeutet für mich nicht so viel. Ich weiß zwar, dass es Gott gibt, aber mit Jesus kann ich nicht so viel anfangen. [...] Ich glaube, er ist mir zu perfekt. So fehlerlos kann doch niemand sein. Er ist doch zum Mensch geworden. Ein Mensch ohne Makel ist aber unmenschlich.“ 1 (Christine, 17 J.) „Ich fand den Religionsunterricht in der Grundschule noch witzig. Altes Testament, Gott lässt mal wieder den Rauch rein, Schlachten und Geschichten, das war interessant. Dann kam Jesus, und plötzlich war alles wie im BlumenSonne-Lutscherland. Keine Gewalt, Nächstenliebe, wenn dir einer die Jacke klaut, gib ihm die Hose auch noch - Ja, ja, ganz Klasse.“2 (Sven, 17 J.) Arbeitsaufträge: 1. Mit welchem der beiden Jugendlichen würdest Du gerne ins Gespräch kommen? Wähle eine Person aus. 2. Was würdest Du ihm sagen? Notiere zentrale Aspekte. 3. Die Aussagen sind im Rahmen von Schülerinterviews zur Frage nach den persönlichen Vorstellungen von Jesus entstanden. Was hättest Du geantwortet?
1
2
Zitiert nach Ziegler, Abschied von Jesus, dem Gottessohn?, S. 120 (im Original grau unterlegt). Zitiert nach ebd., S. 124.
G. Anhang
2.3
Einstieg
Phase
„Gott will den Tod des Sünders!?“ – Grenzen der Rede vom göttlichen Zorn aufzeigen, lebenstragende Impulse stärken Unterrichtsinhalte/Unterrichtsgeschehen (unter Berücksichtigung des methodischen Arrangements) • Einstieg durch den Rückbezug auf ein aktuelles Beispiel, bei dem Katastrophen als Ausdruck des göttlichen Zorns gedeutet werden. • Gemeinsame Überlegungen, inwieweit diese Positionen sich auf die Bibel berufen können
Didaktisch-methodischer Kurzkommentar
•
•
• Erarbeitung I und Zwischenreflexion
401
•
Analyse des in fundamentalistischen Aussagen deutlich werdenden Gottes- und Menschenbildes sowie Auswirkungen dieser Vorstellungen (→ M 2.3, M 1) Besprechung und Verdeutlichung der zentralen Grundmuster vertiefende Erarbeitung der biblischen Gotteszeugnisse auf Grundlage des Buches Jona (besonders Kapitel 3 und 4), der Perikope von der Ehebrecherin (vgl. Joh 8,1–11) und der Parabel vom verlorenen Sohn (Lk 15,11– 32)
•
•
•
Der Einstieg stellt den Gegenwartsbezug zu einem aktuellen Thema her und konfrontiert mit einer problematischen Rede vom „Zorn Gottes“. Die Frage nach den biblischen Grundlagen dient zur weitergehenden Problematisierung, da es Anhaltspunkte in der Bibel gibt, die diese Interpretationsmuster zu bestätigen scheinen. In einem ersten Schritt sollen zunächst Grundzüge fundamentalistischer Instrumentalisierungen der Rede vom göttlichen Zorn und die lebensfeindlichen Auswirkungen dieses virulenten Gottesbildes deutlich werden. Im Gegensatz dazu soll die Analyse der entsprechenden Bezugstexte verdeutlichen, dass Sünde im Sinne Gottes zwar Umkehr erfordert, dabei jedoch vorrangig die aufrichtende Barmherzigkeit und liebende Zuwendung seine Haltung bestimmt. Nicht zuletzt, weil die vermeintliche Aufteilung in Gerechte wie auch Sünder nicht trägt und vielmehr die Sehnsucht nach versöhnter Gemeinschaft Gottes vergebungsbereites Handeln bestimmt.
402
G. Anhang •
Beurteilung des fundamentalistischen Denkansatzes auf dieser Grundlage
•
•
ggf. Vertiefung der Haltung der katholischen Kirche zur Homosexualität
•
Verschiedene Möglichkeiten der Erarbeitung (→ U 2.3, M 21): o Alternative 1: Reflexion unter dem Gesichtspunkt „Zorn“ als Verweis auf eine ernste und aufrichtige Liebe Gottes; o Alternative 2: „Zorn“ als Ausdruck von Gottes Solidarität mit den Armen
•
•
•
Abschlussdiskussion
Erarbeitung II
•
• •
Die Erkenntnisse aus der Sequenz sollen abschließend unter der Fragestellung: „Sollte man als aufgeklärter Christ heute noch vom Zorn Gottes sprechen?“ verdichtet werden. Methodisch bietet sich dazu zunächst das Placemat-Verfahren an. Auf dieser Grundlage kann eine gemeinsame Abschlussdiskussion erfolgen.
•
•
•
• •
1
Auf Grundlage dieser Beispiele wird es dann möglich, fundamentalistische Positionen kritisch zu beurteilen. Durch die Lerngruppe kann ggf. die Frage nach der Haltung der katholischen Kirche zur Homosexualität aufgeworfen werden. Die zweite Phase der Erarbeitung dient dazu, zu bestimmen, ob eine positive Rede vom „Zorn Gottes“ möglich ist. Dabei ist eine sensible Vernetzung mit den bisher im Unterricht erarbeiten Zusammenhängen notwendig. Wichtig ist es auch, dass Spannungen des Gottesbildes zur Sprache gebracht werden. Die abschließende Positionierung soll dazu beitragen, die religiöse Sprachkompetenz in Bezug auf das vorliegende Thema zu erweitern. Dabei dient das Placemat-Verfahren zunächst dazu, eine individuelle Urteilsbildung anzuregen und im Sinne der Kompetenzevaluation transparent zu machen, zugleich aber einen Austausch zur Erweiterung der eigenen Sichtweise zu ermöglichen. Wichtig ist es dabei, vor allem eine Erkenntnis anzubahnen, dass diese Redeweise nur in ihren lebenstragenden Impulsen geltend gemacht werden kann.
Siehe hierzu die weitergehenden Ausführungen im Darstellungsteil.
G. Anhang
403
U 2.3 – M 1: Der Zorn Gottes als Thema radikaler christlicher Gruppen Fallbeispiel 1: Der Hurrikan „Katrina“
Der Hurrikan „Katrina“ im Jahr 2005 mit 1836 Toten war eine der schwersten Naturkatastrophen in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Der Spiegel-Reporter Alexander Schwabe fasst damalige Reaktionen christlich-fundamentalistischer Kreise zusammen:
[…] Politiker im amerikanischen Bible-belt1 haben sich von den Botschaftern des Zorns bereits anstecken lassen. Oliver Thomas, Vorsitzender des Stadtrats von New Orleans, der den ganzen Horror in der Südstaatenmetropole selbst miterlebt und die Angst schürenden Vergleiche mit Sodom und Gomorrha ständig in den Ohren hatte, sagt: „Vielleicht will Gott uns damit reinigen.“ Er wird dabei kaum an die Stadtwerke von New Orleans gedacht haben. Es geht um die Reinigung des „verdorbenen, giftigen, stinkenden Sündenpfuhls, der Kotgrube“ New Orleans, wie es die radikale Westboro Baptist Church sieht. Auf ihrer Website godhatesamerica.com dankt sie Gott für Hurrikan „Katrina“. „Es ist eine Sünde, sich nicht daran zu erfreuen, wenn Gott seinen Zorn und seine Rache über Amerika ausgießt“, heißt es. New Orleans gilt der Hassorganisation gegen Homosexuelle - die als die allerverdammenswertesten Sünder gelten, moralisch verwerflicher noch als Mörder - als „Symbol Amerikas“. […] Schwabe, Alexander: "Gott gießt seinen Zorn über Amerika"; veröffentlicht in: DER SPIEGEL (online) am 07.09.2005; online abrufbar unter: http://www.spiegel.de/panorama/juengstesgericht-gott-giesst-seinen-zorn-ueber-amerika-a-373425.html (Stand: 27.06.2020).
Fallbeispiel 2: Die Erlebnisse von „Markus“
Der Journalist Thomas Becker fasst den Erlebnisbericht eines jungen Mannes zusammen:
Er kann sich noch genau an jenen Tag vor mehr als zehn Jahren erinnern, als er aus der katholischen Kirche austrat. Das Gefühl, endlich frei zu sein, übermannte ihn. Als er nach dem Behördengang im Auto saß, genoss er den Blick auf die friedlich daliegende Winterlandschaft im Hunsrück. Dann aber stieg die Angst wieder in ihm auf. Wenn er jetzt von der Straße abkommen sollte, wäre das nicht die gerechte Strafe Gottes? Der Mann, der hier Markus heißen soll, möchte seinen richtigen Namen nicht nennen. Er ist 47 Jahre alt und brannte einst für seinen Glauben. Über die Jahre hat er eine ekklesiogene Neurose ausgebildet – eine Neurose2, die aus religiösen Vorstellungen und kirchlicher Sozialisation herrührt. Psychologen verwenden den Begriff für Menschen, die durch ihren Glauben starke Schuldgefühle, Zwänge oder Frigidität entwickelt haben. 1
2
Eine Region in den USA, die kulturell besonders durch einen (zumeist evangelikalen) Protestantismus geprägt ist. Eine psychische Erkrankung, die z. B. durch problematische Erlebnisse ausgelöst wurde.
404
G. Anhang
Bei Markus kamen später auch Depressionen hinzu. Die Ursachen mögen vielschichtig sein. Aber fest steht: Sein Glaube hat ihm nicht gerade geholfen, das Leben zu meistern. Im Gegenteil. „Ich bin seelisch missbraucht worden“, sagt Markus. Seine Hände zittern, während er seine Geschichte erzählt, als spüre er den Zorn Gottes noch immer im Nacken. Oder zumindest derjenigen, die meinen, ihn zu verkünden. Um mit Menschen zu sprechen, denen ähnliches widerfahren ist, besucht Markus heute die Selbsthilfegruppe „Artikel vier“ in Köln. […] Denn noch immer spürt er die Spätfolgen seiner religiösen Erziehung: Im Hunsrück wuchs er auf, ein Einzelkind, die Eltern streng religiös. Als Jugendlicher schloss sich Markus der „Charismatischen Erneuerung“ an, einer Randgruppe innerhalb der katholischen Kirche. Dort freundete er sich mit einem Mann an, der ihm zum engen Vertrauten und Vorbild wurde. Mit ihm sprach er über die eigenen homosexuellen Neigungen – ein Tabuthema. „Alles, was mit Sexualität vor der Ehe zu tun hat, galt in der Gruppe als verwerflich“, sagt Markus. „Homosexuell zu sein, wird und wurde als noch dreimal schlimmer angesehen, als eine Sünde gegen Gott.“ […] Becker, Thomas: Heiliger Zorn; veröffentlicht in: „Welt Online“ am 09.03.2014; online abrufbar unter: https://www.welt.de/print/wams/nrw/article125588193/Heiliger-Zorn.html (Stand: 25.06.2020).
Arbeitsaufträge: Gebt euch den Inhalt eurer jeweiligen Texte gegenseitig wieder und erstellt eine Mind-Map zum Thema „Der ‚Zorn Gottes‘ als Thema radikaler christlicher Gruppen“. In dieser sollte enthalten sein: • die Funktion und Bedeutung, die dem „Zorn Gottes“ dabei zugesprochen wird; • das dabei zugrunde liegende Gottes- und Menschenbild, • die Folgen, die diese Vorstellungen vom „Zorn Gottes“ für den einzelnen Menschen haben können.
G. Anhang
405
U 2.3 – M 2: Beispiel – Möglichkeiten zur positiven Bestimmung der Rede vom Zorn Gottes a)
„Zorn und Liebe“
„Die Rede vom Zorn Gottes qualifiziert Gottes Liebe als ernsthafte, als
wirkliche Liebe.“1
(Wilfried Härle, Theologe) Arbeitsaufträge: 1. Passen Zorn und Liebe grundsätzlich zusammen? Diskutiert Beispiele. 2. Schreibt einen der behandelten Bibeltexte, der vom „Zorn Gottes“ handelt, als Aussage über die Liebe Gottes neu. 3. Diskutiert, ob die Aussage des Textes dadurch deutlicher wird, erhalten bleibt oder verfälscht wird.
b) „Zorn und Gerechtigkeit“
„Der Zorn des Gottes Jesu gegen Selbstgerechtigkeit, Hartherzigkeit und Reichtum ist nicht Ausdruck seiner Lieblosigkeit, sondern die Kehrseite seiner Solidarität mit den Armen.“2 (Daniel Kosch, Theologe) Arbeitsaufträge: 1. Gebt die Aussage Koschs in eigenen Worten wieder. 2. Kosch hat sich zuvor mit der Parabel in Mt 18,23–34 beschäftigt. Erklärt, warum dieser Text ihn auf diese Idee gebracht haben könnte. 3. Gibt es weitere Texte in den Evangelien, die Koschs Einschätzung zum Gottesbild Jesu bestätigen oder widerlegen?
1 2
W. Härle, Die Rede von der Liebe und vom Zorn Gottes, S. 352 (Hervorhebung im Original). Kosch, Zärtlichkeit und Zorn – Der Gott Jesu, S. 53 (Hervorhebung durch C.W.).
406
G. Anhang
3.
Unterrichtsbeispiel für die Oberstufe: Verlaufsplan und Materialien zur Parabelanalyse von Mt 18,23–35
„Hat das noch etwas mit dem Gott Jesu zu tun?“
Hinführung
Phase
Unterrichtsinhalte/Unterrichtsgeschehen (unter Berücksichtigung des methodischen Arrangements) • Hinführung zur Thematik über den Animationsfilm MISTERTAO • davon ausgehend Reflexion über die Entwicklung des eigenen Gottesbildes („Wie hätten wir den Film in unserer aktuellen Lebenssituation gedreht?“).
Didaktisch-methodischer Kurzkommentar • •
•
•
I
•
•
1
Textbegegnung in Bezug auf die persönliche Vergebungsbereitschaft durch Positionierung der Lernenden mit Blick auf einzelne Situationen1 Dialog und Reflexion über die jeweiligen Positionierungen
•
•
Ein möglicher Lernanlass kann die Entwicklung der eigenen Gottesvorstellung sein. Der vorliegende Kurzfilm greift ein naives Gottesbild auf und problematisiert dessen Belanglosigkeit für das Leben. Über diese Problemstellung kann ein lebensrelevanter Dialog über die eigenen Gottesvorstellungen und ihre Bedeutung angebahnt werden. Auch wenn dieser Schritt nicht unmittelbar vor der konkreten Bibelarbeit erfolgt, ermöglicht er es, die nachfolgende Bibelarbeit mit den hier aufgeworfenen Frage- und Problemstellungen zu vernetzen. Die Frage nach den Grenzen der eigenen Vergebungsbereitschaft bietet einen unmittelbareren Lebensbezug. Es sind unterschiedliche Positionierungen in der Lerngruppe zu erwarten, so dass darüber ein Gespräch angeregt werden kann.
Dabei sollte auch die Mehrdeutigkeit von „schuldig sein“ in den Blick geraten. So können sich erste Aussagen ja durchaus auf den Aspekt von Geldschulden beziehen, z. B. „Ein Freund schuldet Dir 100 Euro und zahlt es Dir nicht zurück …“, dann aber auch die Dimension von moralischer Schuld zunehmend in den Blick nehmen. Die Positionierung kann
G. Anhang •
•
II
•
•
• • •
•
407 anschließend Lesen der Parabel Mt 18,23–34 und Auseinandersetzung in Form eines „spontanassoziativen Dialogs“ Sammlung von Gefühlen zum Text (Zustimmung, Anfragen, Irritation) Erarbeitung der Textstruktur durch eine „Analyse im Filmblick“
Erarbeitung der zeitgenössischen Deutungshorizonte mit Blick auf sozialgeschichtliche Hintergründe und die Bildfeldtradition (→ U 3, M 1) Besprechung und Entwicklung vorläufiger Deutungen Vorlesen des Endes der Parabel in Vers 35 und erster Austausch darüber Erarbeitung und Vergleich exegetischer Positionen zur Textdeutung (→ U 3, M 2), z. B. in Form eines Gruppenpuzzles darauf aufbauende Diskussion in der Lerngruppe, z. B. unter der Fragestellung: „Die Parabel Mt 18,23–35 – Kontrastbild zur oder Verweis auf die heilvolle Herrschaft Gottes?“ oder provokanter: „Hat diese Parabel noch etwas mit Gott zu tun?“
•
Der Bibeltext greift diese Thematik auf, irritiert aber zugleich durch die drastische Zuspitzung, so dass ein erster Dialog eröffnet werden kann.
•
Die Methode dient dazu, sich die Leserlenkung bewusst zu machen. Zugleich können mit Blick auf die weitere Bearbeitung die Dramaturgie und die erzählerische Inszenierung deutlich werden. Ziel der mehrschrittigen Erarbeitung ist die Erschließung neuer Sinndimensionen der Parabel durch Einbeziehung des zeitgenössischen Maßstabs und die Bewusstmachung der „Mehrsinnigkeit“ des Textes mit Blick auf die Bildfeldtradition; die Förderung der Urteilskompetenz durch Bewusstmachung kontroverser Deutungsmöglichkeiten des biblischen Textes; die damit einhergehende Abwägung der Angemessenheit einer theologischen Deutung; die Schaffung eines Beurteilungsrahmens zur Ausbildung eines eigenen Deutungsansatzes; und die Vernetzung mit bereits gewonnen Erkenntnissen über das von Jesus verkündigte Gottesverständnis.
•
• o
o
o
o
•
durch drei verschiedenfarbige Karten erfolgen, z. B. rot = kann ich nicht erlassen/verzeihen, gelb = kann ich unter Umständen erlassen/verzeihen, grün = kann ich ohne Probleme erlassen/verzeihen.
408
G. Anhang •
persönliche Gesamtdeutung der Parabel, z. B. durch die Placemat-Methode Besprechung der Deutungen im Plenum und Sicherung zentraler Erkenntnisse
•
•
ggf. Schreibmeditation (→ U 3, M 3)
•
•
Erstellen von Kurzfilmen zur Herausstellung der persönlichen Bedeutung von Mt 18,23– 35 (→ U 3, M 4) Präsentation und Besprechung im Plenum, dabei auch Ergänzung bereits herausgestellter Sinndimensionen
•
•
III
•
•
• •
Hereingabe eines abschließenden Reflexionsbogens (→ U 3, M 5).
•
Angestrebt wird, dass die Schülerinnen und Schüler einerseits eine persönliche Gesamtdeutung der Parabel entwickeln, zugleich aber durch die Offenlegung der zentralen Sinndimensionen ein gemeinsamer, verbindlicher Deutungsrahmen gewonnen wird. Die Schreibmeditation kann helfen, der existenziellen Bedeutung der Erzählung nachzuspüren. Im Sinne der eigenständigen und kreativen Auseinandersetzung sollen die Schülerinnen und Schüler Kurzfilme produzieren. Dabei können sie vor allem auch mit Blick auf die Hinführung zum Text eine persönliche Sinndimension stark machen und neue Sinndimensionen entdecken. Zugleich wird durch die gestalterische Umsetzung die Handlungskompetenz erweitert. Um den Lernprozess zu begleiten und zu reflektieren, kann der nachfolgende Einschätzungsbogen genutzt werden.
G. Anhang
409
U3–M1 a)
Arbeitsauftrag zur Analyse zeitgenössischer Deutungshorizonte
Wie auch heute eröffneten zur Zeit Jesu einzelne Begriffe weitergehende Assoziationen zu der damaligen Lebenswelt oder sie waren sogar metaphorisch aufgeladen. Um diesen sozialgeschichtlichen Hintergründen und Deutungsmöglichkeiten der verwendeten Bilder nachzuspüren, bieten sich Texte aus dem Ersten Testament und aus der zeitgenössischen Umwelt Jesu an. Geht zunächst die vorliegende Parabel noch einmal durch und markiert verschiedenfarbig die Begriffe oder angesprochenen Zusammenhänge, zu deren Verständnis weitergehende Hintergrundinformationen notwendig sind. Formuliert auf dieser Grundlage konkrete Untersuchungsfragen. Erarbeitet anhand dieser Untersuchungsfragen nun arbeitsteilig die nachfolgenden Materialien. Prüft dabei auch, inwieweit diese weitergehende Informationen enthalten, die für die Analyse hilfreich sein können. Tipp: Falls ihr zu einem Aspekt weitergehende Informationen benötigt, hilft „Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet“ (WiBiLex): https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/ Stellt euch gegenseitig eure Arbeitsergebnisse vor und diskutiert, inwieweit dieser Analyseschritt euch neue Sinndimensionen des vorliegenden Textes erschlossen hat. Notiert diese.
410 b)
G. Anhang Informationen zu sozialgeschichtlichen Hintergründen
Die 10 000 Talente Die Schuldensumme ist für damalige Verhältnisse so groß, dass es sich dabei wahrscheinlich nicht um eine private Schuld im Sinne eines Darlehens gehandelt hat. Möglich ist, dass der erste Sklave in der damaligen Sklavenhierarchie höhergestellt war und den Auftrag hatte, für den König in einzelnen Herrschaftsgebieten Geld bzw. Steuern einzufordern. Die Schuldensumme würde dann auf diese königliche Forderung verweisen. Der königliche Schuldenerlass In der antiken Literatur gibt es Hinweise, dass Könige zu besonderen Anlässen sich gnädig gezeigt haben. Solche Erlasse fanden beispielsweise bei Thronbesteigungen oder als Belohnung von loyalen Dienern statt. Trotzdem findet sich keine direkte Parallele zu der vorliegenden Erzählung in der antiken Literatur. Deswegen kann auch davon ausgegangen werden, dass die Parabel hier vielmehr zu einer über die konkreten sozialen Verhältnisse hinausgehenden Sinnsuche anregen will. Rechtliche Verhältnisse In Rom gab es die Sklaverei und die Folter von Sklaven und Sklavinnen war durchaus üblich, so dass es sogar einen eigenen Berufsstand gab, der diese Arbeit für die Besitzer übernahm. Nach jüdischem Recht war Folter hingegen nicht gestattet. Dies heißt jedoch nicht, dass sie nicht auch zu bestimmten Zeiten praktiziert wurde. Ähnlich verhält es sich auch mit der Schuldhaft, die im antiken Orient weit verbreitet war. Insofern kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese auch im von seiner Umwelt beeinflussten Palästina Anwendung fand. Die Folter von Sklaven wurde im damaligen Verständnis nicht negativ bewertet, sondern war in der antiken Literatur sogar Gegenstand humorvoller Erzählungen. Sklaverei mit ihren gewalttätigen Praktiken scheint so in der damaligen griechisch-römischen Umwelt als normal empfunden worden zu sein. Insofern greift die vorliegende Parabel entsprechende Motive der damaligen Umwelt auf. Auch wenn die Behandlung des zweiten Sklaven negativ angesehen wird, geht es dabei nicht darum, grundlegende Sozialkritik zu äußeren. So greift der König selbst abschließend erneut auf das Instrument der Folter zurück. Der vorliegenden Text wurde verfasst auf Grundlage von: Roose, Hanna: Das Aufleben der Schuld und das Aufheben des Schuldenerlasses (Vom unbarmherzigen Knecht). Mt 18,23–35; in: Zimmermann, Ruben (Hrsg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu. Gütersloh 22015, S. 451– 453. Die dort vorfindlichen Informationen wurden aus didaktischen Gründen stark gekürzt und vereinfacht.
Philo von Alexandria, ein zur Zeit Jesu lebender jüdischer Philosoph, über das Vorgehen eines Steuereinnehmers
G. Anhang
411
„So hat jüngst ein bei uns zum Steuereinnehmer bestellter Mann, als Leute, die wohl aus Armut im Rückstand waren, aus Furcht vor den unerträglichen Strafen das Weite gesucht hatten, deren Frauen, Kinder, Eltern und alle übrigen Verwandten gewaltsam fortgeschleppt, sie geschlagen, misshandelt und schändliche Gewalttaten aller Art an ihnen verübt, damit sie entweder den Flüchtling verrieten oder dessen Rückstände bezahlten, wiewohl sie beides nicht vermochten, jenes (nicht), weil sie (seinen Aufenthalt) nicht wussten, dieses (nicht), da sie nicht minder arm waren als der Entflohene. (Der Steuereinnehmer) gab sie aber nicht eher frei, als bis er mit Folter- und Marterwerkzeugen ihre Körper gepeinigt und sie durch unerhörte Tötungsarten ums Leben gebracht hatte: Einen mit Sand gefüllten Korb befestigte er an Stricken, hing ihnen diese schwere Bürde auf den Nacken und stellte sie unter freiem Himmel auf offenem Markte hin, damit sie durch den furchtbaren Druck der auf sie gehäuften Strafen, durch Wind und Sonnenbrand, durch die Schande vor den Vorübergehenden und durch die aufgebürdeten Lasten zur Verzweiflung gebracht würden, die anderen aber, die deren Bestrafung mit ansehen mussten, im Voraus Schmerz empfänden. Manche von den letzteren, die mit der Seele schärfer schauten als mit dem (leiblichen) Auge und in der Person der anderen sich selbst misshandelt fühlten, haben zuvor durch das Schwert oder durch Gift oder durch den Strang ihrem Leben ein Ende bereitet, da der Tod ohne Folterqualen ihnen als ein großes Glück in ihrem Unglück erschien. Die aber, die nicht zuvor Hand an sich gelegt hatten, wurden der Reihe nach, wie bei Erbschaftsprozessen, herangeholt, zuerst die Nächstverwandten und nach ihnen die Verwandten zweiten und dritten Grades bis zu den entferntesten; und als von den Verwandten keiner mehr übrig war, da schritt das Unheil noch weiter zu den Nachbarn, gelegentlich auch in (ganze) Dörfer und Städte, die bald ihre Einwohner verloren und einbüßten, weil sie fortzogen und sich dahin zerstreuten, wo sie erwarteten unentdeckt zu bleiben. Aber es ist wohl nicht verwunderlich, wenn bei der Steuererhebung Barbarenseelen, die keine edle Bildung genossen haben, gehorsam den Geboten ihrer Herren, die jährlichen Abgaben einziehen, wenn sie nicht bloß aus dem Vermögen, sondern auch aus den Körpern sie herauspressen und dabei die einen für die anderen mit Gefahren bedrohen, die sie bis zur Lebensgefahr steigern.“ Philo von Alexandria: Ueber die Einzelgesetze. Buch III, übersetzt von Isaak Heinemann; in: Philo von Alexandria: Die Werke in deutscher Übersetzung. Herausgegeben von Leopold Cohen u. a. Bd. 2. Berlin 21962, S. 232–233. Die Übersetzung wurde hier moderat an die heutige Rechtschreibung angepasst.
412
G. Anhang
c) Bedeutungshorizonte der Bildwelt mit Blick auf das Alte Testament und die zeitgenössische Umwelt (Übersetzung nach EÜ 2016) „König“
Das Bild des „Königs“ wird in den Psalmen oftmals für Gott verwendet. So in den nachfolgenden Versen aus Psalm 29 und Psalm 96:
10 Der HERR thronte über der Flut, der HERR thronte als König in Ewigkeit. 11 Der HERR gebe Macht seinem Volk. Der HERR segne sein Volk mit Frieden. (Ps 29,10–11) Verkündet bei den Nationen: Der HERR ist König! / Fest ist der Erdkreis gegründet, er wird nicht wanken. Er richtet die Völker so, wie es recht ist. (Ps 96,10) „Knecht“
Das Bild des Knechts wird im Alten Testament häufig aufgegriffen, hier nachfolgend Beispiele aus dem 26. Kapitel des Buches Genesis, dem 4. Kapitel des Buches Exodus und Psalm 34:
In jener Nacht erschien ihm der HERR und sprach: Ich bin der Gott deines Vaters Abraham. Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir! Ich segne dich und mache deine Nachkommen zahlreich wegen meines Knechtes Abraham. (Gen 26,24) Doch Mose sagte zum HERRN: Aber bitte, Herr, ich bin keiner, der gut reden kann, weder gestern noch vorgestern, noch seitdem du mit deinem Knecht sprichst. Mein Mund und meine Zunge sind nämlich schwerfällig. (Ex 4,10) Der HERR erlöst das Leben seiner Knechte, niemals müssen büßen, die bei ihm sich bergen. (Ps 34,23) „Schuld“ / „Vergebung“
Im Buch Jesus Sirach wird im 28. Kapitel die grundsätzliche Frage nach dem Umgang mit Vergebung aufgebracht:
1 Wer sich rächt, erfährt Rache vom Herrn / seine Sünden behält er gewiss im Gedächtnis. 2 Vergib deinem Nächsten das Unrecht, / dann werden dir, wenn du bittest, deine Sünden vergeben!
G. Anhang
413
3 Ein Mensch verharrt gegen einen Menschen im Zorn, / beim Herrn aber sucht er Heilung? 4 Mit einem Menschen gleich ihm hat er kein Erbarmen, / aber wegen seiner Sünden bittet er um Verzeihung? 5 Er selbst – ein Wesen aus Fleisch, verharrt im Groll. / Wer wird seine Sünden vergeben? 6 Denk an das Ende, lass ab von der Feindschaft, / denk an Untergang und Tod und bleib den Geboten treu! 7 Denk an die Gebote und grolle dem Nächsten nicht, / denk an den Bund des Höchsten und übersieh die Fehler! (Sir 28,1–7) In der Schriftauslegung im rabbinischen Judentum heißt es mit Blick auf Gott zur Thematik von „Schuld“ und „Vergebung“:
„Es giebt kein Geschöpf, das Gott nicht schuldig wäre, er ist aber gnädig und barmherzig und erlässt alles Frühere, wie es heisst Ps. 79, 8: ‚Du gedenkst nicht unserer früherer Vergehungen.‘ Gleich einem, der sich von einem Geldverleiher lieh und es vergass. Nach einiger Zeit stellte sich derselbe bei ihm ein, und der Schuldner sprach zu ihm: Ich weiss, dass ich dir schuldig bin. Warum, entgegnete dieser, erwähnst du die erste Schuld (Forderung), sie ist bereits aus meinem Herzen getilgt. Ebenso der Herr der Welt, die Menschen sündigen vor ihm und er sieht, dass sie keine Busse thun, und er erlässt ihnen die alte Schuld, und wenn sie nun kommen und die frühere Schuld erwähnen, so spricht er zu ihnen: Denkt nicht mehr daran.“ [Der Midrasch Schemot Rabba. Das ist die haggadische Auslegung des 2. Buches Moses. Zum ersten Male ins Deutsche übertragen von Lic. Dr. Aug. Wünsche. Mit Noten und Verbesserungen von Rabbiner Dr. J. Fürst und D. O. Straschun. Leipzig 1882, S. 234.]
„Zorn Gottes“ / Strafe und Gericht
Der Prophet Jeremia spricht vom „Zorn Gottes“, um seine Zeitgenossen zur Umkehr zu bewegen, beispielsweise in Kapitel 18:
5 Da erging an mich das Wort des HERRN: 6 Kann ich nicht mit euch verfahren wie dieser Töpfer, Haus Israel? – Spruch des HERRN. Siehe, wie der Ton in der Hand des Töpfers, so seid ihr in meiner Hand, Haus Israel. 7 Bald drohe ich einem Volk oder einem Reich, es auszureißen, niederzureißen und zu vernichten. 8 Kehrt aber das Volk, dem ich gedroht habe, um von seinem bösen Tun, so reut mich das Unheil, das ich ihm zugedacht habe. 9 Bald sage ich einem Volk oder einem Reich zu, es aufzubauen und einzupflanzen.
414
G. Anhang
10 Tut es aber dann, was mir missfällt, und hört es nicht auf meine Stimme, so reut mich das Gute, das ich ihm zugesagt habe. (Jer 18,5–10) Ebenfalls wird auf den „Zorn Gottes“ in den Psalmen verwiesen, unter anderem wenn man Gottes Gerechtigkeitshandeln im Zeichen eigener Unterdrückung erfleht. Ein Beispiel hierfür ist Psalm 7:
7 HERR, steh auf in deinem Zorn, erheb dich gegen die Wut meiner Bedränger! Wach auf zu mir hin! Du hast zum Gericht gerufen. 8 Um dich stehe die Schar der Völker im Kreis, über sie kehre zu deinem Thron in der Höhe zurück! 9 Der HERR richtet die Völker. / Verschaffe mir Recht, HERR, nach meiner Gerechtigkeit, nach meiner Unschuld, die mich umgibt! 10 Die Bosheit der Frevler finde ein Ende, / doch dem Gerechten gib Bestand, der du Herzen und Nieren prüfst, gerechter Gott! 11 Mein Schutz ist Sache Gottes, er ist Retter derer, die redlichen Herzens sind. 12 Gott ist ein gerechter Richter, ein Gott, der an jedem Tag zürnt. (Ps 7,7–12) Im Neuen Testament greift die Offenbarung des Johannes (ca. 95 n. Chr.) in einzelnen Visionen das Motiv des Zornes und (bei ihm endzeitlich verstandenen) Gerichts auf. Diese Schrift ist durch die Erfahrung der Unterdrückung durch römische Kaiser und dem daraus resultierenden Aufruf an die Christen, standhaft zu bleiben, geprägt. Dabei ruft im 14. Kapitel ein Engel dazu auf, dem Gerichtsherrn der Welt und Schöpfergott Anerkennung zu zollen:
9 Ein anderer Engel, ein dritter, folgte ihnen und rief mit lauter Stimme: Wer das Tier und sein Standbild anbetet und wer das Kennzeichen auf seiner Stirn oder seiner Hand annimmt1, 10 der muss den Wein des Zornes Gottes trinken, der unverdünnt im Becher seines Zorns gemischt ist. 11 Und er wird mit Feuer und Schwefel gequält 2 vor den Augen der heiligen Engel und des Lammes3. (Off 14,9–10)
1 2 3
Verweist hier wahrscheinlich auf Rom bzw. die römischen Kaiser (konkret: Kaiser Nero). Auch frühere jüdische Quellen kennen die Vorstellung endzeitlicher „Höllenqualen“. Das Lamm ist hier ein Bild für Jesus Christus.
G. Anhang U 3 – M 2: Positionen der exegetischen Forschung zu Mt 18,23–35 a)
Vergleich exegetischer Positionen – Sicherungstabelle
Autor/in
Passt die Parabel sinnvoll in die Verkündigung Jesu?
Könnte der König für Gott stehen?
Enthält die Parabel Denkanstöße zum Verständnis der Botschaft Jesu von der Gottesherrschaft?
Was will die Parabel mit Blick auf den Zuhörer bewirken?
Lässt sich eine eindeutige Aussageabsicht der Parabel feststellen?
415
416 b)
G. Anhang Textbeispiel 1: Position Luise Schottroffs
Luise Schottroff (1934–2015) war eine evangelische Theologin und Professorin für Neues Testament. Sie deutet in ihrer Monographie „Die Gleichnisse Jesu“ auch die vorliegende Parabel:
Das Gleichnis und seine Anwendung werden missverstanden, wenn der König im Gleichnis mit Gott identifiziert wird […]. Zu Recht ist in der Auslegungstradition Mt 18,34 oft als befremdlich empfunden worden. Das Gleichnis wird erzählt, um den Gedanken von Mt 18,35.22 (6,14f.) zu vertiefen. Das Bild des Gleichniskönigs unterscheidet sich fundamental von dem Gottes. Gottes Vaterschaft führt die Menschheit in die umfassende Heilung. Der Gleichniskönig endet am Schluss dort, wo das Gleichnis begann: mit der Überbelastung eines Einzelnen – und der Bevölkerung – mit Abgaben, die mit Gewalt aus ihnen herausgepresst werden. Das »so« in der Gleichnisanwendung des griechischen Textes Mt 18,35 konzentriert den Blick auf die Notwendigkeit der Menschenvergebung und enthält zugleich die große Differenz: So ist Gott nicht wie dieser König. Er wird am Ende die Unbarmherzigen vom Heil ausschließen (s. z.B. Mt 25,41; 8,12), jetzt aber ist es Zeit zur Umkehr. […] Das Matthäusevangelium ist inhaltlich sehr nah verwandt mit den späteren rabbinischen Gedanken über die Notwendigkeit der Vergebung zwischen Menschen und ihrer Grundlage in Gottes Verheißung. Diese Verheißung wird sichtbar, wenn Gott Vater genannt wird. Ja, der Vater setzt auch Grenzen im eschatologischen Gericht – denen die Böses tun. Aber jetzt ist die Zeit der Umkehr und der Vergebung, die ein Zeichen ist für die Gegenwart des Gottes, der das Heil aller Menschen will. V. 35 will heilendes Handeln unter Menschen eröffnen. V. 34 dagegen skizziert ein aussichtsloses Festschreiben von Gewalt in dem System von Steuern, Schulden und Schuldenerlässen. Dass die Vergebung und der Schuldenerlass unter Menschen unbegrenzt sein müssen (77-mal 18,22), wird in 18,35 nicht wiederholt. Hier heißt es: Vergebt einander »von Herzen« – also umfassend. Im Matthausevangelium wie in der gesamten Jesustradition kommt eine Hoffnung zum Ausdruck, die eine neue Welt entstehen sieht, wo finanzielle Schulden und Schuld radikal vergeben werden. Darum geht es und um den Gott, dessen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit unendlich sind. Auch Mt 18,23–35 ist ein antithetisches Gottesgleichnis 1. Seine Grundlage ist einerseits die Gottesvorstellung des Ersten Testaments (Ps 103.32.51; Dtn 15,1ff.), andererseits die politische Erfahrung mit der Eintreibung von Abgaben für Herrscher. […] Unter dem Einfluss der Jahrhunderte alten Leseweise des »so« in 18,35 als Aufforderung zur allegorischen Gleichsetzung des Königs mit Gott ist es schwer, das 1
Meint hier ein Gleichnis, das durch den Bildteil Gegensätze der diesseitigen Welt im Vergleich zu Gottes heilvoller Herrschaft verdeutlichen will.
G. Anhang
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»so« neu zu lesen. Es beinhaltet eine Aufforderung zu vergleichen, wo Parallelen und wo Unterschiede zwischen Gleichnis und Anwendung sind. Parallel soll die Notwendigkeit zwischenmenschlicher Vergebung gesetzt werden. Dafür wird das Gleichnis erzählt. Zugleich veranlasst es die Hörenden, Gottes Anderssein zu bedenken. Es ist kein Zufall, dass in den Evangelien das Königtum Gottes nicht ausgemalt wird. Vom Königtum Gottes wird in Gleichnissen erzählt, die es möglich machen, von Gott zu reden – in der tiefen Differenz zur Erfahrung von Herrschaft und Gewalt. Explizit wird nicht von Gott gesprochen, auch nicht in Analogien. Von Gott zu sprechen[,] bleibt dem Herzen der Hörenden überlassen. […] Die eschatologische Deutung in 18,35 sagt: Gott wird euch im Gericht zur Rechenschaft ziehen, wenn ihr einander nicht vergeben habt. Jetzt aber ist die Zeit der Vergebung. Diese Vergebung ist nach Matthäus umfassend: Sie umfasst materielle Schulden und Hass zwischen Menschen. Das Matthäusevangelium drückt eine umfassende Vision von Gottes Vaterschaft aus, die Vision eines geheilten Volkes. Jetzt leidet das Volk an Krankheiten, Schulden, Gewalt und Hass. »Das geknickte Rohr« wird nicht zerbrochen werden (Mt 12,20). Auch weitere Gleichnisse des Matthäusevangeliums werden diese Vision zeigen. Textauszug unter Auslassung der Fußnoten übernommen aus: Schottroff, Luise: Die Gleichnisse Jesu. Gütersloh 32010, S. 264–266 (Hervorhebungen entsprechen dem Original); [Luise Schottroff, Die Gleichnisse Jesu © 2005, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.]
418 c)
G. Anhang Textbeispiel 2: Position Manfred Köhnleins
Manfred Köhnlein ist ein evangelischer Theologe. Bis 2001 lehrte er an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd Evangelische Theologie/Religionspädagogik. Er deutet in seiner Monographie „Die Gleichnisse Jesu – Visionen einer besseren Welt“ auch die vorliegende Parabel. Der Textauszug setzt hier bei seinen Überlegungen zu Vers 34 an:
Der Herrscher behandelt den Großknecht nun so, wie dieser den Kleinknecht behandelte: grausam, maßlos. Er lässt den unverschämten Großknecht nicht nur in den Kerker zurückbringen, sondern auch noch „peinigen“ (V. 34). Die Folterknechte werden sich als Repräsentanten der Stimme des Volkes verstanden und unmäßig zugeschlagen haben, als könnten sie damit die Auflage, die der Großknecht dem Kleinknecht angekündigt hatte, nun selbst erfüllen: „bis er alles bezahlt hätte, was er ihm schuldig war“. Das bedeutet bei der Riesensumme von fünfzig Millionen Denaren, dass die Folterer nicht nur einmal oder zweimal zuschlugen, sondern immer und immer wieder, jahrelang. Man mag diese Art von „Gerechtigkeit“ nach dem Grundsatz „Wie du mir, so ich dir!“ als angemessen empfinden; aber Versöhnung und Frieden brachte sie nicht. Deshalb ist anzunehmen, dass Jesus nun mit seinen Zuhörern darüber diskutierte. „So“ (V. 35) konnte das „Reich Gottes“, das er verkündigen wollte, gerade nicht aussehen. Jesu Erzählung war von Anfang an in allen ihren Szenen bewusst „schief“. Das merkten die Leute wohl auch. Eine solche Schuldensumme war unrealistisch! Ein so grenzenloses Erbarmen, wie es der Oberknecht erfuhr, löste keinen Lernprozess aus! Ein solches Würgen des Kleinknechts war absolut verwerflich! Und dass die Wahrheit bei den Oberen nur ans Licht kommt, wenn einige sich aufmachen und beschweren, war traurig – mehr nicht. Das Gleichnis „Vom Schalksknecht“ steht also antithetisch1 zum „Reich Gottes“. Vor allem der negative Schluss in der Fassung des Matthäusevangeliums: „So wird auch mein himmlischer Vater an euch tun, wenn ihr einander nicht von Herzen vergebt, ein jeder seinem Bruder“ (V. 35), könnte ursprünglich bei Jesus selbst positiv gelautet haben: „Ganz anders wird mein himmlischer Vater an euch tun, wenn ihr einander von Herzen vergebt, ein jeder seinem Bruder.“ Es wäre unlogisch, wenn Jesus vom „himmlischen Vater“ gesprochen hätte – den er doch seit seiner Taufe als „Abba“, als liebevollen Vater verstand –, um ihn dann mit dem unberechenbaren Despoten gleichzusetzen, der genauso unbegründet vergibt, wie er gnadenlos foltern lässt. Dass in diesem (von Matthäus?) verkehrten Schlussvers aber doch noch die Verkündigung Jesu steckt, lässt sich auch daran ersehen, dass auf das „Herz“ abgezielt wird (V. 35b). Das „Herz“ war für Jesus das Zentrum aller religiösen und ethischen Entscheidungen. So sagt er in der Bergpredigt: „Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott
1
Meint hier „im Gegensatz zum“.
G. Anhang
419
schauen“, und gegen des „Herzens Härte“ anzugehen, empfand er als seinen Auftrag. Mit dem einfühlsamen „Herzen“ dürfen wir einander vergeben. Wir sollten die materiellen „Schulden“ unserer Mitmenschen sehen, wie auch um ihre psychischen Schuldgefühle wissen wollen. Schließlich gibt es eine Gemeinsamkeit zwischen denen, die abgeglitten sind, und denen, die – Gott sei Dank – noch davor bewahrt blieben. Im Hinblick auf die Möglichkeit, sich zu versündigen und zu verfehlen, sind wir alle „Brüder“ (V. 35c). Die Nähe dieses Gleichnisses „Vom Schalksknecht“ zur fünften Bitte des Vaterunsers ist deutlich: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, oder prägnanter übersetzt: „Befreie uns von unseren Verschuldungen, nach dem Maß, mit dem wir unseren Mitmenschen ihre Schuld verzeihen.“ Insofern ist die Verantwortung für andere durchaus auch die Verantwortung für uns selbst. Textauszug unter Auslassung der Fußnoten übernommen aus: Köhnlein, Manfred: Gleichnisse Jesu – Visionen einer besseren Welt. Mit Zeichnungen von Jehuda Bacon. Stuttgart 2009, S. 104–106.
420 d)
G. Anhang Textbeispiel 3: Position Walter Klaibers
Walter Klaiber ist Bischof i. R. der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland. In seiner vielseitigen Tätigkeit war er unter anderem Dozent für Neues Testament und Griechisch am Theologischen Seminar der Evangelisch-methodistischen Kirche in Reutlingen. Er deutet in seinem Kommentar zum Matthäusevangelium auch die vorliegende Parabel. Der Textauszug setzt hier bei seinen Überlegungen zu Vers 35 an:
Mit einem knappen Satz wird [in Vers 35] erläutert, was Jesus mit dem Gleichnis sagen wollte […]. Dieser Schluss – und auch die Verse davor – hat viele Ausleger irritiert. Kann es sein, dass Jesus einen König, der so großmütig handelt, so hart reagieren lässt? Und vor allem: Kann es sein, dass er darin ein Beispiel für das Handeln Gottes gesehen hat? Widerruft Gott seine gnädige Vergebung so schnell und gründlich? Manche nehmen deshalb an, dass bei Jesus das Gleichnis mit V. 30 oder 33 endete, also einen offenen Ausgang hatte und es den Zuhörenden überließ, selbst zu entscheiden, wie wohl der König – und damit Gott – reagieren würde. Aber formal gibt es keine Gründe für eine solche Kürzung des Gleichnisses, und wenn wir inhaltliche Bedenken geltend machen, treffen wir eine Vorentscheidung darüber, was Jesus gesagt haben könnte und was nicht. Wichtig für die Deutung des Gleichnisses ist die Beobachtung, dass Jesus in seiner Erzählung sowohl im Positiven als auch im Negativen mit plakativen Mitteln arbeitet. Es sind keine alltäglichen Dinge, die er erzählt. Dass jemand so gewaltig hohe Schulden hat, ist ungewöhnlich, und noch ungewöhnlicher ist, dass sie ihm auf seine bloße inständige Bitte hin erlassen werden. Aber es ist nicht unmöglich, und darum eignet sich die Geschichte hervorragend dafür zu veranschaulichen, in welch tiefer Schuld wir Menschen Gott gegenüberstehen, aber auch, dass Gott gerade deswegen, weil wir keine Chance hätten, diese Schuld zu begleichen, sie uns in seiner großen Güte erlässt. Es ist auch – Gott sei Dank – nicht unbedingt der Normalfall, dass sich ein Mensch gegen andere so unbarmherzig verhält, wie der erste Schuldner im Gleichnis. Aber es kommt vor, und daher kann die Geschichte an diesem drastischen Beispiel zeigen, wie unmöglich es ist, wenn Menschen, denen Gott so viel vergibt, nicht bereit sind, ihren Mitmenschen zu vergeben. So ist auch die Schilderung der Reaktion des Königs auf dieses Verhalten eine plakative Veranschaulichung dafür, welche Konsequenzen es nach sich zieht, ohne dass die einzelnen Züge der Erzählung eins zu eins auf Gottes Handeln im Gericht übertragen werden dürften. Aber was hier mit den Farben der damaligen Zeit gemalt wird, unterstreicht: Wer durch sein unbarmherziges Verhalten anderen gegenüber Gottes Barmherzigkeit, die er oder sie selbst erfahren hat, mit Füßen tritt, kann nicht auf immer neue Barmherzigkeit hoffen, sondern läuft Gefahr, die empfangene Gnade zu verspielen. Für Matthäus ist der innere Zusammenhang von göttlicher Vergebung und menschlicher Bereitschaft zu vergeben sehr wichtig (vgl. besonders die 5. Bitte
G. Anhang
421
des Unser Vaters [6,12.14]). Möglicherweise war es daher der Evangelist, der die zusammenfassende Deutung in V. 35 mit ihrer Zuspitzung auf die Warnung vor Gottes Gericht formuliert hat. Das Gleichnis selbst ist reicher und muss nicht auf diese Botschaft beschränkt werden. Mit dem alle Erwartung übersteigenden Schuldenerlass beschreibt es das unermessliche Erbarmen Gottes und lädt ein, darüber zu staunen. Indem es die Zuhörenden an der Empörung der Kollegen der beiden Schuldner teilhaben lässt, motiviert es zu erkennen, wie selbstverständlich es wäre, als Menschen, denen vergeben wurde, auch anderen zu vergeben. Auch die harte Reaktion des Königs entspringt nicht einem sadistischen Gottesbild, sondern macht anschaulich, wie unmöglich und untragbar ein Verhalten ist, das die Güte Gottes missachtet und nicht lebt. […] Das Gleichnis hat in unserem Zusammenhang nur ein Ziel: Es soll deutlich machen: Anderen zu vergeben ist eigentlich selbstverständlich und nicht schwierig, wenn man sich bewusst macht, wie sehr wir von der Vergebung Gottes leben. Aber umgekehrt gilt eben auch: Von dieser Vergebung leben zu wollen, ohne sich von der Güte Gottes anstecken zu lassen, ist eine gefährliche Selbsttäuschung. Textauszug übernommen aus: Klaiber, Walter: Das Matthäusevangelium. Teilband 2: Mt 16,21 – 28,20 (= Die Botschaft des Neuen Testaments). Neukirchen-Vluyn 2015, S. 53–55. [Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags]
422 e)
G. Anhang Textbeispiel 4: Position Daniel Koschs
Daniel Kosch ist ein katholischer Theologe und seit 2011 ist er Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ). In einem Aufsatz mit dem Titel „Zärtlichkeit und Zorn – Der Gott Jesu“ setzt er sich auch mit der vorliegenden Parabel auseinander. Zunächst geht er darauf ein, dass der ursprüngliche Ansatz in der exegetischen Forschung, die zweite Hälfte der Gleichniserzählung mit Blick auf die ursprüngliche Verkündigung Jesu als nicht authentisch einzustufen, vermehrt in Frage gestellt wird. Davon ausgehend bemerkt er:
In den letzten Jahren gewinnt deshalb die Annahme zunehmend an Boden, das Gleichnis vom unbarmherzigen Schuldner gehe insgesamt auf Jesus zurück. Die Gerichtsdrohung [in Vers 34] ist nämlich nichts anderes als die Kehrseite der unermesslichen Vergebungsbereitschaft Gottes: Wer wie der erste Diener in einem so unerhörten Ausmaß Güte und Schuldenerlass erfahren hat, im Umgang mit seinen Schuldigern aber hart und unbarmherzig bleibt, verspielt nicht nur selbst die Chance seines Lebens, sondern macht auch den Mitmenschen das Leben zur Hölle. Jesu unerhört scharfe und drohende Warnung, die Vergebung Gottes nicht zu missbrauchen und seine Zuwendung nicht aufs Spiel zu setzen, schützt das Gleichnis davor, zur Botschaft von der „billigen Gnad“1 (D. Bonhoeffer) zu werden. Und diese Warnung ist Ausdruck der Solidarität Gottes mit allen, die ausgegrenzt, ausgebeutet oder auf ihre Schuld festgelegt werden. Das Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht ist eine eindrückliche Begründung dafür, warum Jesu Zuwendung zu den Sündern mit harter Polemik gegen selbstgerechte Frömmigkeit und seine Option für die Armen mit Kritik an den Reichen verbunden ist. Von diesem Gleichnis her gewinnen auch Worte an Tiefenschärfe wie: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt“ (Mk 10,25) oder: „Niemand kann zwei Herren dienen; denn entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird dem einen anhängen und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ (Q 16,13). Für die religiös, gesellschaftlich oder wirtschaftlich Besitzenden, die Reichen und Einflussreichen ist die Teilhabe an der Herrschaft Gottes nur zu haben, wenn sie bereit sind, ihre eigenen Herrschaftsansprüche aufzugeben und ihren Besitz mit den Armen zu teilen. Die niemanden ausschließende Güte Gottes begegnet ihnen nicht als Erlaubnis, alles so zu lassen, wie es ist, sondern als Forderung. Wer von der Zärtlichkeit Gottes spricht und diese im eigenen Leben zu erfahren hofft, kann selbst nicht hartherzig bleiben. Wer das Reich Gottes als großes Gastmahl versteht, zu dem unterschiedslos alle zugelassen sind und bei dem niemand hungrig draußen bleibt, darf sich nicht durch eigenes Besitzstreben mitschuldig machen an einer Gesellschaft, in der die Armen immer ärmer
1
Meint hier vereinfachend gesagt ein Verständnis von Gottes Gnade, das einen im Innersten unberührt lässt und nicht existenziell verändert.
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423
und die Reichen immer reicher werden. Der Zorn des Gottes Jesu gegen Selbstgerechtigkeit, Hartherzigkeit und Reichtum ist nicht Ausdruck seiner Lieblosigkeit, sondern die Kehrseite seiner Solidarität mit den Armen. Textauszug übernommen aus: Kosch, Daniel: Zärtlichkeit und Zorn – Der Gott Jesu; Artikel in: Annen, Franz (Hrsg.): Gottesbilder. Herausforderungen und Geheimnis. Neuausgabe (= Topos plus Taschenbücher 453). Freiburg (Schweiz) 2002, S. 33–61 (hier Seite 51–53). [Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH, Freiburg i. Breisgau.]
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G. Anhang
U 3 – M 3 Schreibmeditation als Impuls zur Offenlegung der tiefenpsychologischen Impulse Die vorliegende Erzählung wirkt wie eine einzige Überbetreibung: Unermessliche Schuldenberge, unermessliche Gnade und dann eine unermesslich harte Bestrafung. In unserer Lebenswelt scheint das hier Erzählte so weit weg zu sein, ja so unglaubwürdig. Auf den ersten Blick weiß man nicht, was man mit so einem scheinbaren „Märchen“, das von einer fremden Welt, von Königen und ihren Untergebenen, handelt, anfangen soll. „Die Zeitgenossen Jesu hatten es da doch sicher einfacher!“ – Dieser Satz ist richtig und zugleich falsch. Auch für sie, die ein einfaches und karges Leben in der Provinz, fernab der großen Metropolen und fernab königlicher Paläste, führten, war dies alles andere als eine alltägliche „Geschichte“. Anders als uns heute, war ihnen aber bewusst, dass Jesus diese „Geschichte“ gerade ihnen erzählte, weil er gerade ihnen etwas für ihr konkretes Leben zu sagen hatte. Die Jüngerinnen und Jünger Jesu waren bereit, sich persönlich ansprechen und „bewegen“ zu lassen, indem sie einen Blick „hinter die Kulissen“ wagten und versuchten, sich in diesen Erzählungen wiederzufinden. Nehmen wir diese Chance wahr und blicken hinter die Bild- und auf die sich hier eröffnende Erfahrungswelt. Wir sehen einen Menschen, der an seiner Schuld fast zerbricht, weil er selbst diese nicht mehr begleichen kann. Diese Last scheint ihn zu erdrücken, ein sorgenfreies Leben scheint mehr und mehr unmöglich zu werden. Und dann wird ihm völlig unerwartet und ohne sein Zutun Barmherzigkeit zuteil, ja fast wie ein neuer Atem, der ihm geschenkt wird. Solche Situationen gibt es, wenn auch vielleicht nicht in dieser Dramatik, auch in unseren Leben. Situationen, in denen wir bewusst oder unbewusst schuldig werden und der Vergebung bedürfen. Gott schenkt uns diese Vergebung, diese Chance zu neuem Leben, und zwar bedingungslos, das ist die zentrale Botschaft, die Jesus nicht müde wird, zu verkündigen. Wer ein neues Leben will, der muss aber auch selbst erkennen, dass er „neu“ leben muss. Dem ersten Knecht gelingt es nämlich nicht, die erfahrene Barmherzigkeit in sein Leben zu integrieren und so bleibt er letztlich am Ende in einem zerstörerischen Kreislauf der Schuldeneintreibung gefangen. Auch ohne dass der König erneut eingreift, hat er so sein Schicksal besiegelt. „So ein Trottel, wie kann man nur so handeln!“ – mag uns heute in den Sinn kommen, allzu plakativ scheint diese Schilderung, allzu naiv sein Handeln. Aber wenn wir ehrlich sind, gibt es auch in unserem Leben Situationen, in denen wir ebengerade nicht barmherzig sind, wenn wir es sein müssten. Situationen, in denen der Mangel an Vergebungsbereitschaft uns und anderen das Leben zur Hölle werden lässt. Gott will dies nicht, er schenkt uns in seiner fordernden Liebe
G. Anhang
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die Möglichkeit mehr zu sein und wird ein solches Verhalten, solch eine Ungerechtigkeit gegenüber unseren Mitmenschen letztlich auch nicht akzeptieren – auch dies ist ein Verständniszugang zu der vorliegenden Parabel. Begreifen wir diese also als Angebot zur Selbstreflexion. Denken wir darüber nach, was es bedeuten würde, aus Barmherzigkeit und Vergebungsbereitschaft heraus zu leben …
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G. Anhang
U 3 – M 4: Merkblatt zur Aktualisierung der Parabel im Medium Kurzfilm
Einen Kurzfilm zum Bibeltext gestalten … … Zielsetzung und wichtige Kriterien:
Ziel ist es, dass ihr einen Kurzfilm erstellt, durch den ihr die eurer Meinung nach zentrale Botschaft der behandelten Parabel neu einsichtig werden lasst. Dabei gilt es Folgendes zu beachten: • Es geht nicht darum, die vorliegende Parabel möglichst genau filmisch nachzuerzählen, Aktualisierungen und auch Verfremdungen der Vorlage sind möglich. • Es gilt vielmehr die Freiheit der filmischen Inszenierung sinnvoll mit den Sinnangeboten des biblischen Textes zu verbinden, damit der Zuschauer zu diesbezüglich neuen Einsichten angeregt wird. • Dafür ist vorab zu klären: - Welche Sinndimension, welche zentrale Botschaft der vorliegenden Parabel wollen wir durch unseren Film deutlich machen? - Warum ist diese für uns wichtig und zentral? - Ist sie durch die Erkenntnisse der exegetischen Erschließung abgesichert und vertretbar? - Inwiefern können wir das Medium Film gewinnbringend nutzen? • -
-
… Vorgehensweise:
Voraussetzung für euren Kurzfilm ist die Erstellung eines Drehbuchs. Dies sollte auf folgende Fragen eine Antwort geben: Was ist unser Inszenierungsansatz: Wollen wir den Inhalt der Erzählung aktualisieren oder auf andere Weise verfremden? Greifen wir ggf. nur ein zentrales Motiv auf, oder orientieren wir uns am Grundaufbau der Parabel? Wie wollen wir unseren Film vom Grundaufbau her gestalten? Welche konkreten Szenen planen wir ein, wo setzen wir markante Schnitte? Welche diesbezüglichen Sprünge und Überleitungen in Bezug auf die Zeit, den Handlungsort und die Personenkonstellation sind vorgesehen? Wie setzen wir Veränderungen der räumlichen Perspektive/Kameraeinstellungen im Sinne unserer Dramaturgie gezielt ein? Was enthalten wir dem Zuschauer vor, wo lassen wir bewusst Leerstellen?
•
Den Kurzfilm könnt ihr mithilfe eurer Handykamera drehen, eine anschließende Bearbeitung im Computerraum ist möglich.
•
Zusätzlich verfasst bitte einen theoretischen Kurzkommentar, in dem ihr die Zielsetzung eures Films und die daraus zentralen Entscheidungen der gewählten Inszenierung kurz erläutert.
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U 3 – M 5: Evaluationsbogen zum Lernprozess Persönliche Auswertung der Bibelauslegung zur Parabel Mt 18,23–35 Erkenntnisse • Das war für mich mit Blick auf die Botschaft Jesu von Gott/der Herrschaft Gottes bekannt, neu, nachdenkenswert, wichtig: _________________________________________________________________________ • Mein Verständnis von Jesus, seiner Botschaft und von Gott haben sich durch die Bibelarbeit … _________________________________________________________________________ • Darüber hinaus nehme ich als wichtige Erkenntnis aus der Bibelarbeit für mich mit: _________________________________________________________________________ Zugänge und Methoden: Der Zugang/die Methode … … hat mir beim Ver- … kann mir zukünftig ständnis des kon- bei der Erschließung kreten Bibeltextes biblischer Texte helgeholfen? (Aussage fen? (Aussage bebegründen!) gründen!) „Analyse im Filmblick“ Auswertung des zeitgenössischen Verständnishintergrundes (sozialgeschichtliche/metaphorische Bezüge) Erarbeitung und Vergleich exegetischer Positionen Kreative Auseinandersetzung mit der Parabel in Form eines Filmprojekts Perspektiven • Ich habe folgende Fähigkeiten erweitern können: ________________________________________________________________________ •
Ausgehend von dieser Parabel möchte ich mich gerne vertiefend mit folgenden Fragen/Aspekten etc. beschäftigen: ________________________________________________________________________