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German Pages 258 Year 2021
Anne Kersten Kunst und Landwirtschaft
Image | Band 196
Anne Kersten, geb. 1973, lebt in Berlin und arbeitet als Kunstwissenschaftlerin, Kuratorin und Projektmanagerin. Sie promovierte an der Hochschule für Gestaltung Offenbach bei Juliane Rebentisch. Ein wesentlicher Schwerpunkt ihrer Arbeit und Forschung ist das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft.
Anne Kersten
Kunst und Landwirtschaft Realitätsbezüge in der Gegenwartskunst
Ursprünglich Dissertation an der Hochschule für Gestaltung Offenbach, 2019. Zu dem Promotionsprojekt gehört als praktischer Teil die Ausstellung »Hungry City. Landwirtschaft und Essen in der Kunst«, Kunstraum Kreuzberg, Berlin, 2012. Ihre Dokumentation ist Teil der vorliegenden Publikation. Die Promotion wurde unterstützt durch ein Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung. Gedruckt mit Unterstützung der Hochschule für Gestaltung Offenbach.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5748-7 PDF-ISBN 978-3-8394-5748-1 https://doi.org/10.14361/9783839457481 Buchreihen-ISSN: 2365-1806 Buchreihen-eISSN: 2702-9557 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Einleitung .......................................................................... 7 1. 1.1 1.2
Bilder der Landwirtschaft und Landwirtschaft als Bild – zwei Positionen der 1970er-Jahre zur Einführung .............................................. 17 Bilder der Landwirtschaft: Agrarlandschaften von Heinrich Riebesehl (1976-1979) ........................... 19 Landwirtschaft als Bild: Crossroads Community (The Farm) von Bonnie Ora Sherk (1974-1980) ............................................. 34
2. Landwirtschaft im Medium Kunst ............................................... 49 2.1 Von den Dingen der Welt zur Welt der Dinge: Machines, Łukasz Skąpski (2006)............................................... 53 2.2 Epistemologien des Archivs: Aus der Perspektive der Kartoffel auf Kenntnisse in der Pflanzenzucht von Åsa Sonjasdotter, 2012 ................................................... 69 2.3 Die Aneignung der Aneignung: Danzig, Havarna, Siauliai (2007) von Tue Greenfort ............................. 83 2.4 Bilder der Landwirtschaft als Bilder des Fremden: Ich bin gerne Bauer und möchte es auch gerne bleiben (seit 2000) von Antje Schiffers und Thomas Sprenger ..................................... 94 2.5 Eine mobile Bibliothek: die Bibliobox (2005 - 2016) von Wapke Feenstra/Myvillages .............................................. 109 2.6 Partizipation revisited: Von Milch und Menschen (2003) von Kristina Leko ............................. 122
3. 3.1
3.2 3.3
3.4 3.5 3.6
Kunst im Medium Landwirtschaft .......................................... 137 Urbane Landwirtschaft, Aktivismus, Gemeinschaft: Neighbourhood Fruit Forages, Fruitmaps (beide seit 2004) und Double Standard (2008) von Fallen Fruit .................................. 143 Eine »ästhetische Infrastruktur«?: Soil Kitchen (2011) von Futurefarmers ...... 159 Kunst und Landwirtschaft als ›Immersive Life Practice‹ – Guerilla Composting, Feed-Back Berlin (2012), Post-(R)evolutionary Exercises (2011) von Kultivator.............................175 Eine alternative Versuchsanordnung als ›Social Landart‹: Das Eichelschwein (2006) von Insa Winkler ................................... 189 Kunst als ›Para-Institution‹: A Shepherd’s School (seit 2004) von Fernando García-Dory .................... 201 Der ländliche Raum als ›Site‹: Internationaler Dorfladen und Neue Dorfwaren (seit 2007) von Myvillages (Kathrin Böhm, Wapke Feenstra, Antje Schiffers) ...............215
Zusammenfassung/Fazit ......................................................... 229 Literaturverzeichnis...............................................................241 Abbildungsnachweise ............................................................ 253
Einleitung
Ich bin gerne Bauer und möchte es auch gerne bleiben heißt ein Projekt des Künstlerpaars Antje Schiffers und Thomas Sprenger, das sie seit 2000 verfolgen. Dafür gehen sie mit Bauern in der ganzen Welt Tauschgeschäfte ein: ein Gemälde der Künstler vom Hof der Bauern für einen Film der Bauern über ihre Arbeit. Während die Gemälde bei den Bauern bleiben, haben sich die Filme der mehr als 30 Tauschgeschäfte zu einem Archiv aktueller Filme über Landwirtschaft formiert. So ungewöhnlich und disparat diese Beschäftigung der Kunst mit der Landwirtschaft anmutet, sie ist keineswegs ein Einzelfall. Immer mehr Künstler_innen und auch Kunstinstitutionen widmen sich dem Ländlichen und der Landwirtschaft als Inhalt. Positionen mit Landwirtschaftsbezug (darunter auch einige der hier behandelten Beispiele) sind aktuell wiederkehrend in Großausstellungen und Biennalen zu finden, von der dOCUMENTA 13 (2012) bis zur Manifesta 12 (2018), wo sie innerhalb eines größeren thematischen Zusammenhangs vorgestellt werden. Auch der Kunstmarkt macht nicht mehr Halt vor dem Thema: 2014 expandierte Hauser & Wirth als eine der größten Galerien der Welt ins Ländliche und eröffnete die Dependance Somerset in den Gebäuden einer ehemaligen Farm mit einer Ausstellung zu ländlicher Kultur.1 Zurück reicht diese neuere Entwicklung bis zur Jahrtausendwende. 2002 zeigte Okwui Enwezor auf der documenta 11, die besonders für ihre globale Perspektive bedeutend wurde, die senegalesische Künstlergruppe Huit Façettes. Deren aus den späten 1990er-Jahren stammende Arbeit gilt als eine der Schlüsselpositionen in der Beschäftigung der Kunst mit dem ländlichen
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The Land We Live In, The Land We Left Behind, kuratiert von Adam Sutherland, 20.01.–07.05 2018.
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Raum.2 Seit Ende der 1990er-Jahre und vermehrt seit 2000 haben sich auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern zahlreiche Kunstinstitutionen jenseits der Städte neu gegründet, die sich als Kunstvereine und Künstler_inneninitiativen der Kunstproduktion und -präsentation auf dem Land widmen.3 In Österreich hat sich das Thema in öffentlich geförderten und präsentierten Projekten etabliert, die das Land selber zum Austragungsort werden lassen, wie etwa im Festival der Regionen.4 Und auch in Deutschland brachte das Projekt Kunst fürs Dorf – Dörfer für die Kunst (2009-2013) ausgewählte Dorfgemeinschaften jeweils für sechs Monate mit Künstler_innen zusammen.5 Gleichzeitig, und auch das gehört zu der Entwicklung dazu, sind in Städten Kunstprojekte realisiert worden, die auf urbaner Landwirtschaft, das heißt landwirtschaftlichen Vorgehensweisen im städtischen Raum, basieren. In den künstlerischen und kuratorischen Projekten kommen unterschiedliche Aspekte, die Landwirtschaft vor dem Stereotyp »ländlich« definieren, zur Sprache: kulturgeografischer Art, also dahingehend, ob und wenn ja, wie Stadt und Land sich unterscheiden; sozialer Art, etwa in Bezug auf Fragen der Gemeinschaft und Kommunikation in kleineren Lebensstrukturen; wirtschaftlicher, ökologischer und ethischer Art in Bezug auf landwirtschaftliche Entwicklungen in Ackerbau und Viehzucht. Die künstlerischen und kuratorischen Beschäftigungen müssen im größeren Zusammenhang einer Aufmerksamkeit für das Land und das Ländliche generell betrachtet werden, in den Industrienationen insbesondere mit den Folgen der zunehmenden Globalisierung der späten 1990er-Jahre, die als Fortsetzung der in den 1970er-Jahren durchgesetzten Industrialisierung den ländlichen Raum und seine Ökonomien deutlich geformt hat. In den demografischen Entwicklungen der immer weiter wachsenden Städte und einer stetig schrumpfenden Landbevöl-
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Vgl. Myvillages (Hg.), The Rural, London 2019, S. 14. Dazu zählen verschiedene ländlich gelegene Kunstvereine rund um Berlin, wie der Kulturverein Alte Schule Baruth und Libken e. V., ebenso Grizedale Arts, eine Kunstinstitution mit Künstlerresidency, die in einem ländlichen Anwesen im Norden Englands beheimatet ist. Das Festival der Regionen ist eines der renommiertesten Kunstfestivals in Österreich. Bereits seit 1993 findet es biennal an wechselnden Orten und Regionen im Bundesland Oberösterreich statt. Das Projekt Kunst fürs Dorf – Dörfer für die Kunst fand auf Initiative der Deutschen Stiftung Kulturlandschaft des Deutschen Bauernverbands insgesamt dreimal in wechselnden Gebieten statt: 2009 in Mecklenburg-Vorpommern, 2011 in Niedersachsen und 2013 deutschlandweit.
Einleitung
kerung hat dieser Umstand seine wohl größte Sichtbarkeit erhalten. Dabei haben sich trotz der gegenläufigen Entwicklung die vermeintlichen Grenzen zwischen Stadt und Land kaum verhärtet, vielmehr liegt ihnen eine Angleichung zugrunde, die im Begriff der ›Rurbanität‹ gefasst werden kann. Diese zeigt deutlich die von Kapital geleitete Durchdringung des gesamten urbanen wie ruralen Raums, wobei die technologischen Fortschritte, die sich in den ländlichen Ökonomien etablieren, sogar bisweilen bedeutsamer sind als die der Städte.6 Die mit den Entwicklungen einhergehende zunehmende Entfernung der Menschen von den Prozessen der Herstellung von Nahrung lässt sich dabei auch als Ursache betrachten, aus der Distanz eine Sensibilität für ein Thema zu entwickeln und es kritisch zu betrachten.7 Aus einer solch distanzierten Position nähert sich auch die Kunst dem Thema Landwirtschaft. Wenn Landwirtschaft in den aktuellen Positionen in ihren historischen und gegenwärtigen politischen, territorialen und ökonomischen Zusammenhängen gezeigt wird, werden in den Kunstwerken immer auch die eigenen Bedingungen als Kunst verhandelt, wodurch die Differenz der Kunst stets präsent bleibt. Blickt man zurück in der Geschichte der Kunst, so hat Landwirtschaft als Sujet durchaus Tradition. Nicht erst in der Kunst der Moderne lässt sich eine Auseinandersetzung mit Landwirtschaft vor dem Hintergrund der Darstellung einer Arbeits- und Lebenskultur und ihrer Bedingungen ausmachen, die sich in etlichen weltberühmten Werken wiederfindet, die dem Realismus des 19. und realistischen Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts zugeordnet werden. Gustave Courbet (1819-1877) forderte mit dem Gemälde Steineklopfer (1849) die Kunstwelt mit der bis dahin undenkbaren, lebensgroßen Darstellung von Landarbeitern heraus. Genredarstellungen des französischen Malers Jean-François Millet (1814-1875), wie Die Ährenleserinnen (1857), lassen sich in ihrer romantisierenden Erscheinung als Kommentare zur fortschreitenden Industrialisierung lesen. Der amerikanische Maler Grant Wood (1891-1942) wollte mit seinen Gemälden mit landwirtschaftlichen Inhalten rund um das 6 7
Vgl. auch Stadtland. Der neue Rurbanismus, Arch+, Nr. 228, Frühjahr 2017, hier besonders Philipp Oswalt, »Die Moderne auf dem Acker«, S. 92-100. Der Autor Fahim Amir weist darauf hin, dass in der räumlichen Trennung von Menschen und Tieren in urbanen Strukturen nicht zwangsläufig eine negative Entwicklung zu sehen ist, sondern durch die Sensibilisierung der Menschen, die nicht mehr vertraut sind, etwa mit dem Töten von Tieren, überhaupt erst ein Verständnis von Tierrechten entstehen kann. Fahim Amir, Schwein und Zeit. Tiere, Politik, Revolte, Hamburg 2018, S. 30.
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Abb. 1 (links): Gustave Courbet, Die Steinklopfer, 1849, Öl auf Leinwand, 159 x 259 cm Abb. 2 (rechts): Jean-François Millet, Die Ährenleserinnen, 1857, Öl auf Leinwand, 83,4 x 110 cm
Porträt American Gothic (1930) einen regionalspezifischen Stil herausarbeiten, während Walker Evans’ (1903-1975) Fotografien für die Farm Security Administration (1935-1937) sozialdokumentarische Aufgaben erfüllen sollten. Mit den unterschiedlichen Perspektiven wurde Kunst hier als Repräsentationsmedium bemüht, was sich in der Folge noch einmal deutlich in den ideologisch aufgeladenen Landwirtschaftsdarstellungen zeigte, die im Nationalsozialismus und Sozialismus propagiert wurden. Vor dieser historischen Folie betrachtet, hebt sich nun das aktuelle Phänomen recht deutlich ab. Seit den 1960er-Jahren steht nämlich die Kunst, insbesondere vor dem Hintergrund eines modernistisch geprägten Begriffs einer Autonomie von Kunst, der Repräsentation kritisch gegenüber. Mit den 1970er-Jahren entwickelten sich künstlerische Ansätze, die Repräsentationen reflektierten, insbesondere in den abbildenden Verfahren der Fotografie und des Films. Unter diesen Vorzeichen sind auch die neuen abbildenden Werke mit Landwirtschaftsbezug zu betrachten. Die Herstellung von und der Umgang mit Bildern von Landwirtschaft ist hier immer geprägt vom Bruch mit der Repräsentation. So steht eben kaum die Repräsentation von etwa Bauern als marginalisierte oder heroisierte Arbeiter im Mittelpunkt wie noch in den historischen Werken, als vielmehr das Hinterfragen von Formen ihrer Repräsentation generell und durch dokumentarische Verfahren im Besonderen. Ganz offensichtlich wird dies dort, wo zum Beispiel fotografisches Archivmaterial verwendet und uns damit der Umgang mit Bildern der Landwirtschaft mit den Zusammenhängen ihrer Entstehung vorgeführt wird, wie wir an Åsa Sonjadotters Arbeit mit Fotografien aus dem Pflanzenzuchtarchiv
Einleitung
Abb. 3 (links): Grant Wood, American Gothic, 1930, Öl auf Hartfaserplatte, 76 × 63,3 cm Abb. 4 (rechts): Walker Evans, Bud Fields and His Family, Hale County, Alabama, ca. 1936-37, Silbergelatineabzug
der DDR sehen werden. Und selbst bei rein dokumentarisch erscheinenden Werken finden sich Hinweise, die auf das Verhältnis von Repräsentation und Repräsentiertem verweisen. Immer wird der Blick der Betrachtenden damit auf Fragen der Wirklichkeitswiedergabe durch Kunst verwiesen, die das Sujet begleiten, es in den Vorder- oder Hintergrund treten lassen. Nun zeichnen sich nur einige der hier behandelten Werke durch ihren abbildenden oder bildverarbeitenden Charakter aus, während andere sich von repräsentativen Darstellungsformen entfernt haben und als Public Art im realen Raum und/oder unter Beteiligung realer Personen als Partizipationskunst realisiert werden. Landwirtschaft wird hier nicht in ihrer Darstellung verhandelt, sondern als Methode angewendet und bietet sich in den Projekten auch als Erfahrungsraum an. Auch diese Arbeiten müssen im Zusammenhang mit den Erweiterungen künstlerischer Strategien seit den 1960er-Jahren, insbesondere im Umgang mit dem Raum, gesehen werden, wie Minimal Art, Land Art und Public Art. Künstler_innen wandten sich damit ganz grundlegend vom repräsentativen Charakter der Kunst ab, ohne jedoch zwangsläufig in Formalismus aufzugehen. Das in den 1990er-Jahren viel reflektierte künstlerische Mittel der Partizipation als Öffnung für die aktive Teilnahme an Kunstwerken hat den Blick insbesondere auf die Autonomie der Kunst gelenkt. Doch ähnlich wie bei den Arbeiten, die dokumentarische Möglichkeiten
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Kunst und Landwirtschaft
kritisch reflektieren, kann hier mit der Perspektive der Performancetheorie eine Reflexion für die Vermitteltheit der Werke ausgemacht werden. Damit rücken Aspekte in den Vordergrund, die in der Rezeption den Blick stets auch auf die Unterscheidung von Kunst und Leben lenken, selbst wenn diese Differenz formal aufgehoben scheint. Sichtbar werden diese Unterschiede etwa in der geteilten Rolle, die den Betrachtenden als auch gleichzeitig Teilnehmende in einem solchen Konzept zukommt oder in der Reflexion von bestehenden Infrastrukturen und Institutionen im Vergleich zu ihren künstlerischen Abbildern. Die zur Teilhabe geöffneten Werke verhandeln außerkünstlerische Themen vor den Bedingungen ihrer eigenen Beschaffenheit als Kunst, werfen damit aber auch ein Licht auf die Bedingungen der berührten außerkünstlerischen Themen. In Kategorisierungen wie Kunst und Ökologie, Kunst und Wissenschaft, Kunst und Arbeit und eben auch Kunst und Landwirtschaft drücken sich die vielfältigen und individuellen Bezüge und gleichzeitig die Abgrenzungen der Kunst zu den explizit benannten Bereichen der Wirklichkeit aus – Kunst und Wirklichkeit geraten in ein dialektisches Verhältnis. Eine solche Dialektik beschreibt auch den Realismus: Es entsteht ein Abbild der Wirklichkeit, das wiederum durch die realistische Darstellung rückwirkend Teil dieser Wirklichkeit wird. Was für die historischen Werke seine Gültigkeit hat, muss für die aktuellen Werke, die mit Abbildungen von Landwirtschaft arbeiten, eingeschränkt oder verändert gedacht werden. Liegen doch gerade durch den Umgang mit bereits kodierten Bildern als Umgang mit der Welt andere Parameter der Betrachtung vor, die sich von denen des »alten« Realismus unterscheiden. Anders verhält es sich bei den Werken, die sich nicht nur inhaltlich, sondern auch formal radikal zur Wirklichkeit hin öffnen, die sich von repräsentativen, das heißt vordergründig abbildenden und geschlossenen Formen abwenden, hin zu solchen, die der Wirklichkeit äußerlich besonders nah kommen. Da die Schnittstelle zwischen der Kunst und dem Leben hier in ihrer Negativität besonders hervorgehoben wird, entwickeln sie in ihrer Differenz zur Wirklichkeit, in ihrem Scheincharakter ihr Potenzial, das gerade durch den Einsatz als Kunst in der Wirklichkeit zur vollen Geltung kommt. Reflektieren lässt sich dieser Einsatz an den Projekten selbst, manchmal oder zusätzlich aber auch unterstützt durch die (dokumentarischen) Formate, die sie in Ausstellungen repräsentieren oder fortsetzen. Ob und wie solche Werke ebenfalls als realistische zu verstehen sind, soll abschließend erörtert werden. Den Kapiteln 2 und 3, die sich dem Thema anhand ausgewählter aktueller Beispiele widmen, ist unter dem Titel Bilder der Landwirtschaft und Land-
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wirtschaft als Bild: zwei Positionen der 1970er-Jahre zur Einführung ein einleitendes Kapitel vorangestellt, das anhand von zwei paradigmatischen Arbeiten aus den 1970er-Jahren – Heinrich Riebesehls Agrarlandschaften (1976-1979) und Bonnie Ora Sherks Crossroads Community (1974-1980) – den Weg in die aktuelle Betrachtung führt. Anhand dieser frühen Arbeiten soll aufgezeigt werden, wie die weiteren Entwicklungen hier bereits anklingen, die aktuellen Formen mitbestimmt wurden. In der Folge ist die Arbeit entlang der zwei Linien strukturiert: dem Umgang mit Darstellungen der Landwirtschaft einerseits und des Praktizierens von Landwirtschaft in der Kunst andererseits. Je sechs aktuelle Werkbeispiele werden dafür unter den Überschriften Landwirtschaft im Medium Kunst bzw. Kunst im Medium Landwirtschaft behandelt. Kapitel 2, Landwirtschaft im Medium Kunst, versammelt künstlerische Beispiele, die Landwirtschaft in deutlich künstlerischen Formaten verhandeln und oft in abbildender Tradition zu Fragen der Repräsentation stehen. Diese bewegen sich von solchen, die formal an dokumentarischen Übersetzungen der Welt in das Bild orientiert sind, hin zu solchen, bei denen die Reflexion von partizipativer Teilhabe bereits eine Strategie des folgenden, dritten Kapitels ankündigt. Anhand der einzelnen Werke werden paradigmatische Begriffe und Praktiken von Realitätsverbindungen beleuchtet, wie die Typologie, das Archiv, die Appropriation, die Ethnografie, die Institutionskritik und die Produktionskunst. Realität wird hier, und das ist für die Arbeiten dieses Kapitels charakteristisch, immer in ihrer bereits vermittelten Form und vor dem Hintergrund der Bedingungen des eigenen Feldes – der Kunst – untersucht. Kapitel 3, das nicht als chronologischer Anschluss an Kapitel 2 zu verstehen ist, sondern als zeitlich überschneidende Entwicklung, behandelt unter dem Titel Kunst im Medium Landwirtschaft Werkbeispiele, die sich von abbildenden Strategien hin zu praktizierenden bewegt haben. Dabei kommen insbesondere Arbeiten zur Besprechung, die sich heute kollaborativer, performativer und partizipativer Vorgehensweisen bedienen. Die Hinwendung der Kunst zum sie umgebenden Raum als institutionelle Abkehr in Tradition der Land-, Public- und Environmental-Art stellt hier einen wesentlichen Bezug dar. Im Bruch mit der Tradition der Darstellung von Landwirtschaft und ländlichem Raum transformieren sich dabei Inhalte zu künstlerischen Strategien und Produktionsweisen. Bei diesen Arbeiten, die sich formal ihren Platz in der Realität suchen, stellt sich immer auch die Frage, inwiefern sie sich selbst noch von der Realität unterscheiden. Eine Diskussion, die auch anhand von kollaborativen und partizipativen Werken seit den 1990er-Jahren
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divers geführt wird. Die hier versammelten Werke bieten sich an, um anhand einzelner Begriffe und Strategien wie Public Art, Soziale Plastik, Site-specificity, Partizipation, Infrastruktur und Aktivismus die Zuwendungen und Abgrenzungen der Kunst zur Welt darzustellen. So lässt sich auch in diesen der Wirklichkeit vordergründig ähnelnden Werken unter Berücksichtigung der Performancetheorie eine deutliche Distanz der Kunst zur Welt ausmachen, in der uns soziale Strukturen als Fragmente der Welt in ihrer Differenz als Kunst vorgeführt werden. Wie diese selbst sich als Kunst reflektieren, lässt sich unterstützend auch an ihren Präsentationen im Ausstellungsraum festmachen. Im Fazit werden die Kapitel 2 und 3 vor dem Hintergrund ihrer historischen Entwicklungen (Kapitel 1) noch einmal zusammen betrachtet. Dabei wird auch der Realismusbezug erneut aufgegriffen und hinsichtlich seines Potenzials, ein gemeinsames, auch politisches Verständnis für die unterschiedlich angelegten künstlerischen Arbeiten mit Landwirtschaftsbezug aufzurufen, überprüft. Diese Untersuchung basiert auf der Ausstellung Hungry City. Landwirtschaft und Essen in der zeitgenössischen Kunst (2012) im Kunstraum Kreuzberg, Berlin. Thematische Gruppenausstellungen werden in der Regel realisiert, wenn die Beschäftigung mit einem bestimmten Inhalt in der Kunst besonders gehäuft vorkommt, sie verfolgen jedoch meist auch die Frage nach den politischen Bedeutungen, die sich aus den gesellschaftsrelevanten Bezügen ergeben. Dieses Buch verfolgt entsprechend einerseits eine Vorstellung des künstlerischen Themenfeldes. Gleichzeitig ist es an einer differenzierten Betrachtung ausgewählter künstlerischer Positionen der Ausstellung über den Ausstellungszusammenhang hinaus interessiert. Geleitet ist dies von der Unterscheidung der den Arbeiten eigenen und sehr unterschiedlichen Zugängen zur außerkünstlerischen Wirklichkeit. Die Auswahl der Werkbeispiele erfolgte dabei zum einen nach möglichst unterschiedlichen Perspektiven innerhalb des Themas, wurde jedoch auch an die ersten strukturellen Erkenntnisse der Untersuchung angepasst. Über diesen Zugang verspricht diese Betrachtung auch Erkenntnisse zum politischen Potential der Kunst gewinnen zu können, die sich mit der Landwirtschaft einem in vielerlei Hinsicht gesellschaftlich aktuellem Thema nähert. Danken möchte ich für die diverse Unterstützung, die dieses Projekt an den verschiedenen Stellen seiner Herstellung erfahren hat: Juliane Rebentisch für die wegweisende Betreuung der Dissertation innerhalb des Promotionsprogramms der Hochschule für Gestaltung Offenbach, Judith Laister von der
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Universität Graz für die unterstützende Zweitbetreuung, Christian Janecke und Wolfgang Luy, ebenfalls HFG Offenbach, für die Aufnahme in das Programm und die Betreuung; der Heinrich Böll Stiftung, und hier ganz besonders Jutta Helm, für die finanzielle und ideelle Unterstützung durch ein Promotionsstipendium; Stéphane Bauer als Leiter des Kunstraum Kreuzberg sowie allen an der Ausstellung Hungry City beteiligten Künstler_innen für ihre Beiträge; Anne Bonfert für den konstruktiven und produktiven Austausch; Miriam Wiesel für das Lektorat; Berit Hummel, Friederike Schäfer, Franziska Solte, Anna Schäffler, Christina Landbrecht, Ellen Wagner, Anne Gräfe, Christine Heidemann und Julia Wallner, die auf die eine oder andere Weise Anteil genommen haben; Liliane Böttger für den Impuls aus der landwirtschaftlichen Praxis; Inge und Wolf Kersten für die Wegbereitung; und schließlich denen, die zum Glück immer da sind: Jan Sauerwald, Fritzi und Karl.
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1. Bilder der Landwirtschaft und Landwirtschaft als Bild – zwei Positionen der 1970er-Jahre zur Einführung
Die beiden hier zusammengebrachten Langzeitprojekte, die jeweils in den 1970er-Jahren entstanden sind, könnten formal kaum unterschiedlicher sein: Während es sich bei Agrarlandschaften um eine fotografische Serie in Schwarz-Weiß von dem deutschen Fotografen Heinrich Riebesehl (1938-2010) handelt, erscheint Crossroads Community (The Farm) der US-amerikanischen Performance-künstlerin Bonnie Ora Sherk (*1945) als ein Environmental-ArtProjekt. Dennoch geben beide Arbeiten einen historischen Einblick in das Thema Landwirtschaft und Kunst. Riebesehls Serie hält den Zeitpunkt bzw. -raum der historischen Veränderung von Landwirtschaft zu Agrarwirtschaft fest, das heißt von einer bäuerlich familiären Landwirtschaft zu einer industriellen Landwirtschaft mit erhöhtem maschinellen Einsatz und damit bedingten veränderten Arbeitsbedingungen. Eine Entwicklung, die sich in Deutschland so wie in anderen Industrienationen bis heute fortsetzt.1 In
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Die Entwicklung der Landwirtschaft seit 1945 in Deutschland (West) sowie anderen Industrienationen muss vor den Erfahrungen des Krieges betrachtet werden. Um eine zukünftige Ernährungssicherheit der Bevölkerung zu erreichen, wurde die Industrialisierung der Landwirtschaft gefördert. Der intensive Einsatz von mineralischem Dünger, Pestiziden und Wachstumsreglern waren die Folgen und führten mit dem ökonomischen Zwang zur Produktivitätssteigerung durch Spezialisierung und Rationalisierung. Durch die Loslösung von natürlichen Produktionsbegrenzungen kam es zu einer enormen Steigerung der Erträge. Kleinere landwirtschaftliche Betriebe konnten diese Entwicklungen nicht mitgehen, und es begann die Abwicklung vieler landwirtschaftlicher Betriebe, die bis heute anhält. In Ostdeutschland und -europa gingen die Entwicklungen einer Industrialisierung einher mit der Enteignung und Kollektivierung bäuerlicher Betriebe zu staatlichen Produktionsgenossenschaften nach dem Vorbild der
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Bonnie Ora Sherks Arbeit hingegen wird Landwirtschaft als gemeinschaftliche Tätigkeit im bildhaften Format des Bauernhofs in der Stadt (The Farm) praktiziert und ruft bereits neue Konzepte einer ökologischen Landwirtschaft auf, die sich als Teil der Umweltbewegung in den 1970er-Jahren als Gegenentwurf zur fortschreitenden Industrialisierung der Landwirtschaft entwickelten. Relevant für die im Folgenden vorgestellten Beispiele ist neben dem gemeinsamen Sujet die mediale Unterschiedlichkeit in der Annäherung. Während Riebesehl als Autorenfotograf die Landwirtschaft und den ländlichen Raum Norddeutschlands dokumentiert, schafft Sherk einen landwirtschaftlich konnotierten Raum des direkten Austauschs von Menschen, Tieren und Pflanzen, der sich, zumindest auf den ersten Blick, vom Modus der Repräsentation verabschiedet hat. Damit weisen die Positionen medial auf zwei unterschiedliche Perspektiven in Kunst und Landwirtschaft – den Umgang mit Bildern von der Landwirtschaft einerseits und die Anwendung von landwirtschaftlichen und ländlich konnotierten Methoden in der Kunst andererseits. Da sich diese Perspektiven auch auf die aktuellen Positionen um die es im Weiteren gehen wird übertragen lassen, sollen die Arbeiten von Sherk und Riebesehl auf ihre Funktion als Vorläufer hin betrachtet werden. Dabei folge ich der These, dass in beiden Arbeiten deutliche Spuren einer Reflexion der jeweiligen künstlerischen Annäherungen an die Wirklichkeit auszumachen sind, die sich in den aktuellen Arbeiten ausgeprägt fortsetzen.
Sowjetunion. Diese Strukturen ermöglichten nach dem Ende des Ostblocks aufgrund ihrer Dimensionen einen schnellen Anschluss an die Produktion für den Weltmarkt.
1. Bilder der Landwirtschaft und Landwirtschaft als Bild
1.1
Bilder der Landwirtschaft: Agrarlandschaften von Heinrich Riebesehl (1976-1979)
Heinrich Riebesehls Fotoserie Agrarlandschaften (1976-1979) lässt sich als eine Bestandsaufnahme norddeutscher agrarisch genutzter Landschaften bezeichnen. Vorgespurt durch die sozialdokumentarische Fotografie der 1930er-Jahre, steht Agrarlandschaften im Zusammenhang mit einem in den 1970er-Jahren ausgebildeten erweiterten Landschaftsverständnis einer sozialen Landschaft. Diese Entwicklung wurde nachhaltig durch die amerikanische Fotografie derselben Zeit geprägt und schlug sich auch in der deutschen Fotografieszene nieder. Als sogenannter Autorenfotograf schuf Riebesehl serielle Werke dokumentarischen Charakters, wenngleich er sich seinen Sujets durchaus subjektiv näherte. Durch die sozialdokumentarische Sichtweise auf die Landschaft stellt Riebesehl mit Agrarlandschaften ganz generell auch etablierte Landschaftsdarstellungen in der Kunst zur Disposition. Riebesehls Arbeit lässt sich daher, im Gegensatz zu den Interpretationen ihrer Zeit, bereits auf ihre Rezeptionsästhetik hin betrachten. In seinem realistischen Landschaftsbild findet sich bereits eine erste Ansprache an die Betrachter_innen, die im Zusammenspiel von Inhalt, Form und Bildausschnitt eine spezifische Wirkung entfaltet. Insbesondere das Serielle der dokumentarischen Praxis ermöglicht dabei eine neue Rezeption von Landschaft. Die im heutigen Sinne klassische Schwarz-Weiß-Serie, bestehend aus 79 Fotografien, erscheint als Prototyp einer seriellen und dokumentarischen Arbeitsweise ihrer Zeit.2 Die für aktuelle Maßstäbe eher klein zu nennenden Abzüge im Querformat (22,5 x 36 cm) sind Porträts von Landschaften, genauer von agrarisch geprägten norddeutschen Landschaften der 1970er-Jahre. Die Fotografien verschaffen einen Eindruck der charakteristischen Landschaft und ihrer vom Menschen geprägten Nutzung. Die landwirtschaftliche Infrastruktur zeigt sich in Form von Silos, Landstraßen, Höfen in Fachwerk und Stein nach Art der Regionen gebaut. Sie zeichnet sich indirekt in der Landschaft ab durch die Aufteilung in Flurstücke, sie begrenzende und durchziehende Zäune, Entwässerungsgräben und Alleen. Bei
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Die Anzahl der Fotografien wird an keiner Stelle verifiziert. Im Katalog sind 79 Fotografien abgedruckt, Martina Mettner spricht von ca. 80 Fotografien. Vgl. Martina Mettner, Die Autonomisierung der Fotografie, Marburg 1987, S. 23.
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Kunst und Landwirtschaft
Abb. 5: Heinrich Riebesehl, aus der Serie: Agrarlandschaften, Ostermunzel (Hannover), November 1978, Silbergelatineabzug, 22,5 x 36 cm
genauer Betrachtung bekommen wir über den allgemeinen kulturellen Eindruck und trotz der, zugunsten einer gesuchten Neutralität in der Darstellung, meist bei grauem Himmel entstandenen Aufnahmen vieles über die Landwirtschaft und ihre Bedingungen in Norddeutschland vermittelt. Zuallererst einmal bestimmen die Zeit und das Wetter die Bilder, und die Fotografien versammeln (unsortiert) die Tätigkeiten der Bauern in den verschiedenen Jahreszeiten. Wir sehen die Gemüse- und Getreidefelder im Jahresablauf: überschwemmt, in vollem Bewuchs, das Getreide vom Regen niedergedrückt, die Felder abgeerntet und beackert, die Wiesen beweidet von Kühen, Schafen und Schweinen. Die Dörfer sind leer und die Höfe ebenso. Die wenigen Menschen, die man sieht, arbeiten: Sie fahren die Trecker und Mähdrescher, hüten die Schafe und schichten die Rübenblätter. Die Verwendung von Schwarz-Weiß-Material kann einerseits als Versuch einer möglichst distanzierten und neutralen Wiedergabe, den dokumentarischen Charakter der Bilder unterstützend, interpretiert werden. Andererseits kennzeichnet sie die Fotografie damit dezidiert als künstlerischen Zugriff und hebt sie von der in den 1970er-Jahren zunehmend Verbreitung findenden Amateurfotografie
1. Bilder der Landwirtschaft und Landwirtschaft als Bild
in Farbe ab. Die Tiefenschärfe, die sich dank der verwendeten Großformatkamera durch das ganze Bild zieht, also vom Vordergrund bis zum Hintergrund reicht, schafft eine Ähnlichkeit zwischen fotografischer Aufnahme und menschlichem Blick.3 Nachdem man durch die Vielzahl der Fotografien einen guten Überblick über die Landschaften und das Erscheinungsbild der Landwirtschaft bekommen hat, bündeln manche Fotografien unsere Aufmerksamkeit durch die Hervorhebung einzelner Motive in dieser Landschaft. Solitäre Dinge werden in ihrer Skulpturalität hervorgehoben und dominieren das Bild, während die Landschaft dahinter verschwindet: ein Mähdrescher, ein mit Kartoffeln beladener Anhänger, ein Rundballen Stroh, eine Herde Schafe. Das Nicht-Besondere wird hier als Besonderes herausgestellt.
Abb. 6: Heinrich Riebsehl, aus der Serie: Agrarlandschaften, Lengede (Peine), November 1978, Silbergelatineabzug, 22,5 x 36 cm
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»Die Kamera sieht die Welt in Schärfezonen unterteilt, das menschliche Auge im Grunde auch. Aber es springt so schnell zwischen Vorder- und Hintergrund, dass wir glauben, alles in gleichbleibender Schärfe zu sehen. Diesem Eindruck entspricht Riebesehls Technik durch die Wahl der Tiefenschärfe. Auf seinen Fotografien sehen wir alles gleichmäßig scharf, vom vordersten Grashalm bis zur Baumgruppe am Horizont.« Peter Sager, »o. T.«, in: Agrarlandschaften, Ausst.-Kat. Sprengel Museum, Hannover 2002, S. 8.
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Kunst und Landwirtschaft
Diese einzelnen Fotografien stehen in Verbindung zu Riebesehls Serie Situationen und Objekte (1973-1977), in der die Entrücktheit der Gegenstände von ihrer Umgebung provoziert wurde, was die Werke in der Interpretation in die Nähe des Magischen Realismus gerückt hat.4 Im Unterschied zur Serie Situationen und Objekte bleiben die Objekte der Serie Agrarlandschaften jedoch »in ihrer natürlichen Umgebung lokalisierbar«.5 Sie werden damit zugleich als eine Besonderheit dieser Landschaft hervorgehoben, ohne sich inhaltlich von ihr zu distanzieren.6 Innerhalb der Arbeit schafft Riebesehl mit den Hervorhebungen eine abwechslungsreiche Lesemöglichkeit der Serie als Reihung, die in nahe und ferne Blicke unterscheidet und uns so im wahrsten Sinn beim Betrachten bewegt.
Riebesehls Agrarlandschaften als künstlerisches Festhalten von politischem Umbruch und Wandel Die Kunsthistorikerin und Riebesehl-Expertin Martina Mettner beschreibt Riebesehls Vorgehen als systematisches und sein Interesse als das einer umfassenden Dokumentation mit einem breiten Überblick über die auf den Feldern angebauten Pflanzen von Anbau bis Ernte: Auf der systematischen Ebene waren die charakteristischen Aspekte dieser Nutzlandschaft festzustellen und zu bearbeiten. In der Norddeutschen Tiefebene werden vor allem Roggen, Hafer, Kartoffeln und Futterpflanzen angebaut, am Rande des Mittelgebirges Weizen, Zuckerrüben und Gemüse. Von dem Anbau dieser Produkte wurden dann jeweils drei Etappen fotografiert – das abgeerntete, das bewachsene Feld und die Ernte –, die aber nicht alle in die endgültige Serie eingingen.7 Diese Perspektive auf Riebesehls Agrarlandschaften legt den Vergleich mit einem Schlüsselwerk der (deutschen) Fotografiegeschichte – August Sanders
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Vgl. dazu ebd. sowie Thomas Weski, »Kleine Sensationen«, in: Bahnlandschaften, Hannover 1997. Martina Mettner, Die Autonomisierung der Fotografie, Marburg 1987, S. 61. Man könnte diese Art von Hervorhebung einzelner industriell produzierter Dinge auch in Tradition der Neuen Sachlichkeit verstehen. Die Einflüsse dieser Art von Objektfotografie lassen sich in Kapitel 2.1. anhand der Arbeit Łukasz Skąpskis nachvollziehen. Martina Mettner, Die Autonomisierung der Fotografie, Marburg 1987, S. 61.
1. Bilder der Landwirtschaft und Landwirtschaft als Bild
Menschen des 20. Jahrhunderts – nahe.8 Sander versuchte in den 1920er-Jahren, ein Gesellschaftsporträt der Weimarer Zeit zu erschaffen, das sich die Dokumentation der Menschen seiner Zeit in sieben Gruppierungen mit einem Ordnungssystem zwischen Beruf, Lebensort, sozialem Stand u.a. vorgenommen hatte. Der Titel Der Bauer bezeichnete die erste, da ursprünglichste Gruppe. Das sehr genau durchdachte und stark realistisch anmutende Konzept setzte er auf sehr individuelle Weise um: Die Menschen wurden in typischer Umgebung und mit passenden Attributen inszeniert und wie in einem Fotostudio porträtiert. Trotz oder aufgrund seines gestaltenden Eingriffs ist ein Gesellschaftsporträt entstanden, das eine allgemeingültige Lesbarkeit zulässt, die bis heute relevant erscheint. Diese Art von dokumentarfotografischer Praxis ging, dies wird hier bereits deutlich, keineswegs davon aus, Wirklichkeit würde sich einzig durch die Momentaufnahme darstellen lassen. Vielmehr wurde eine dokumentarische Praxis in einem von individuellen Interessen geprägten Verständnis angewendet, das die Inszenierung nicht ausschloss.9 Das zu seiner Zeit vollkommen gegenwärtige und in seinen Bestrebungen durchaus streitbare Vorhaben von Sander entstand an einem neuralgischen Punkt der Veränderung: dem bevorstehenden politischen und gesellschaftlichen Wandel durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten. Für den Kunsthistoriker Heinz Liesbrock sind ebensolche Momente paradigmatisch für die Fotografie im 20. Jahrhundert. Er schreibt im Katalog zur großen Überblicksschau How you look at it – Fotografie des 20. Jahrhunderts (2000) im Sprengel Museum Hannover: Der Rhythmus, in dem sich die Ausbildung einer genuin fotografischen Sprache in unserem Jahrhundert vollzieht, steht deshalb in engem Konnex zu den Veränderungen der sozialen Welt und ihres geistesgeschichtlichen Hintergrunds. Dabei liegt die eigentliche Leistung der Fotografie nicht in einer direkten Abbildung konkreter Ereignisse und Daten, etwa der Kriege,
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Erstmals zusammengefasst in dem Fotografieband Antlitz der Zeit. Sechzig Aufnahmen deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts, München 1929. Martina Mettner weist im Rekurs auf Ulrich Keller darauf hin, dass Sander ursprünglich eine Mappe Bauer und Maschine vorgesehen hatte, diese aber aufgrund seiner Vorlieben für Pflug und Pferdefuhrwerk nicht verwirklicht hat. Sander verfolgte also, wie man daraus schlussfolgern kann, durchaus einen eigenen Plan bei der Darstellung seiner Epoche, bei der die zunehmende Industrialisierung noch keine Rolle spielen sollte. Martina Mettner, Die Autonomisierung der Fotografie, Marburg 1987, S. 73.
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Kunst und Landwirtschaft
politischer Führer, der Naturkatastrophen oder der Industriewunder, sondern in einer Analyse ihrer Auswirkungen. Es geht um eine Tiefendimension der Veränderung, die im herausgehobenen Nachrichtenereignis gar nicht erkennbar ist: um Wandlungen des sozialen Rhythmus, der Sprachformen und Zeichen, des »Zungenschlags« des Lebens.10 Auch Heinrich Riebesehls Agrarlandschaften beschreiben eine Zeit des gravierenden Wandels, der wenngleich wesentlich weniger dramatisch in seinen Auswirkungen, dennoch von großer Bedeutung war. Denn in den 1960erbis 1970er-Jahren erfuhr die Landwirtschaft in Westdeutschland eine Reform, mit der sie sich wesentlich verändern sollte: Der Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden ebenso wie die weitere Industrialisierung der Landwirtschaft durch vermehrten Maschineneinsatz vervielfachte den Ertrag. Weniger Arbeitsplätze, und größere zu bewirtschaftende Flächen veränderten die bis dahin noch kleinbäuerlich geprägte Landwirtschaft enorm. Die Bilder der Serie scheinen direkt in diesen Wandel hinein fotografiert zu sein. Sie dokumentieren die bereits veränderte Landwirtschaft, zeigen den Einsatz von großem, landwirtschaftlichem Gerät auf ausufernden Feldern. Gleichzeitig geben sie einen Rückblick in die bis dahin geltenden Zustände, in denen Schweine auf der Wiese umherlaufen, die Kohlernte überschaubar in einigen wenigen großen Holzkisten lagert und die Kartoffeln auf Holzanhängern transportiert werden. Vorausahnend erscheinen die Agrarlandschaften paradigmatisch entleert von Menschen. Der Zeitpunkt der Entstehung von Riebesehls Agrarlandschaften – im Übergang zweier Epochen landwirtschaftlicher Nutzung – schafft an manchen Stellen der Serie Betonungen, die das »Gestrige« gegenüber dem »Neuen« stärker hervorheben. Das findet sich ganz besonders in der Fotografie Schillerslage (Hannover), Oktober 1978. Vor kargen, abgeernteten Feldern ist zentral und prominent im Vordergrund der Aufnahme ein alter Treckeranhänger aus Holz zu sehen, voll beladen mit synthetischen Kartoffelsäcken, die mit kleinen und großen Kartoffeln gefüllt sind.11 Die Anmutung einer malerischen Si10
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Heinz Liesbrock, »Das schwierige Sichtbare. Perspektiven des Wirklichen in Fotografie und Malerei«, in: How you look at it, Ausst.-Kat. Sprengel Museum Hannover, Köln 2000, S. 55. Vgl. Martina Mettner, die in diesem Zusammenhang auf die Diskrepanz des alten Holzwagens und der bereits in Synthetiksäcken abgefüllten Kartoffeln verweist, die auf eine maschinelle Rodung/Lese schließen lassen. Vgl. Martina Mettner, Die Autonomisierung der Fotografie, Marburg 1987, S. 64.
1. Bilder der Landwirtschaft und Landwirtschaft als Bild
Abb. 7: Heinrich Riebsehl, Agrarlandschaften, Schillerslage (Hannover), Oktober 1978, Silbergelatineabzug, 22,5 x 36 cm
tuation verstärkt sich durch einen herabgefallenen, offenen Sack, der seitlich links vor dem Wagen liegt und aus dem die Kartoffeln wie drapiert herausdrängen, während einige kleinere verstreut herumliegen. Eine Szenerie, die sich in vollkommener Schärfe vor dem nebligen Horizont abhebt. Auf kaum einem anderen Bild der Serie verkehrt sich das Rurale derart in etwas verspielt Romantisches wie hier, dabei stark an die Stimmungen in Jean-François Millets Gemälden des Landlebens erinnernd, die ebendiese Diskrepanz enthalten.12 Einzig die im Hintergrund zweigeteilte Landschaft, links das abgeerntete Feld, rechts das Stoppelfeld, aus der die Landwirtschaft als prägende Nutzung sichtbar wird, bricht die malerische Szenerie und bringt die Wirklichkeit wieder ins Spiel. In diesem Bild zeigt sich deutlich die Referenz an das romantische Landschaftsbild, auf das Riebesehl hier rekurriert.
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Obwohl Jean-François Millet (1814-1875) als Maler des Realismus verstanden wird, sind seine Anleihen an die Romantik doch kaum zu übersehen, man denke etwa an Die Ährenleserinnen (1857) oder auch den Sämann (1855). Vgl. auch Boris Röhrl, Realismus in der bildenden Kunst, Berlin 2013, S. 12.
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Kunst und Landwirtschaft
Der ›Dokumentarische Stil‹ von Walker Evans als Vorbild für die Autorenfotografen Der Begriff Autorenfotograf wird in den 1970er-Jahren von Klaus Honnef im Katalog zur Ausstellung In Deutschland13 geprägt, an der auch Heinrich Riebesehl mit seinen Agrarlandschaften beteiligt war.14 Honnef bezeichnet mit ihm all jene Fotograf_innen, die zwar mit subjektivem Blick auf die Wirklichkeit schauen, jedoch bei gleichzeitiger Neutralität in der Abbildung eine eigene Setzung von Wirklichkeit, insbesondere gesellschaftlicher Realitäten, machen. Ein wichtiges Vorbild für diese Art der Fotografie war der USamerikanische Fotograf Walker Evans, den Riebesehl, wie viele andere Künstler_innen seiner Zeit, offen bewunderte.15 Evans’ wohl berühmteste Fotografien, später zusammen mit einem Text von James Agee veröffentlicht unter dem Titel Let us now praise famous men, entstanden als Auftragsarbeit einer staatlichen Behörde, der F.S.A. (Farm Security Administration),16 wurden erstmalig in den 1930er-Jahren in der Zeitschrift Time veröffentlicht. Die gesamte Lage der USA dieser Zeit war von der Great Depression, der Weltwirtschaftskrise, geprägt, und besonders die Landbevölkerung war ökonomisch stark in Bedrängnis geraten. Um sich einen Überblick zu verschaffen, schickte die F.S.A. Fotograf_innen in die ländlichen Regionen, um das Leben der Menschen dort zu dokumentieren. Die Bilder sollten Aufschluss über die Situation geben und dazu beitragen, Hilfsprogramme zu entwickeln. Gleichzeitig sollten sie auch für ein Verständnis dieser Hilfsprogramme bei den Städter_innen werben, die vollkommen von den ländlichen Gebieten separiert waren. Es entstanden die bis heute vor allem von Walker Evans und Dorothea Lange berühmten
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In Deutschland. Aspekte gegenwärtiger Dokumentarfotografie, 23.06.–29.07.1979, Rheinisches Landesmuseum Bonn. Klaus Honnef selbst sieht die Autorenfotografie als explizite Hinwendung zu Fragen der Wirklichkeitskonstruktion durch Fotografie und beschreibt den Wirklichkeitsbezug der Autorenfotografen als Wirklichkeitserzeugung im Sinne André Bazins, »was die Fotografie der physischen Wirklichkeit tatsächlich hinzufügt«. Klaus Honnef, »Es kommt der Autorenfotograf«, in: In Deutschland. Aspekte gegenwärtiger Dokumentarfotografie, Ausst.-Kat. Rheinisches Landesmuseum, Bonn 1979, S. 14. Thomas Weski, »Kleine Sensationen«, in: Heinrich Riebesehl, Bahnlandschaften, Hannover 1997, S. 5. Die Farm Security Administration war die Nachfolgeorganisation verschiedener vorangegangener Hilfsprojekte speziell für Landwirte während der Weltwirtschaftskrise und innerhalb des New Deal unter US-Präsident Roosevelt in den 1930er-Jahren.
1. Bilder der Landwirtschaft und Landwirtschaft als Bild
Porträts von Bauernfamilien und migrantischen Landarbeiter_innen und ihrem von Armut und Arbeit geprägten Leben.17 Im Zusammenhang mit diesen Fotografien wurde 1930 erstmals der Begriff des Dokumentarischen, genauer der Dokumentarfotografie geprägt.18 Evans hingegen betonte bereits mit der Bezeichnung seines Vorgehens als ›Dokumentarischem Stil‹ weniger die mit der Dokumentarfotografie in Verbindung gebrachte möglichst neutrale Wirklichkeitswiedergabe, sondern erkannte vielmehr die eigene Involviertheit in die Fotografie als den wesentlichen künstlerischen Zugang zum Werk. In Anlehnung an den französischen realistischen Schriftsteller Gustave Flaubert beschreibt er seine Arbeit als ein Zurücktreten des Autors hinter die Objektivität des Sichtbaren: Heute weiß ich, dass Flauberts Ästhetik genau die meine ist. Flauberts Methode habe ich mir zwar eher unbewusst zu Eigen gemacht, sie aber, jedenfalls in zweierlei Hinsicht genutzt: sowohl seinen Realismus oder Naturalismus als auch seine Objektivität der Darstellung. Dass der Autor nicht in Erscheinung tritt. Die Nicht-Subjektivität. Die Kamera und der Autor verbinden sich zu einer anonymen Individualität: Das Geheimnis der Fotografie besteht darin, dass die Kamera den Charakter und die Persönlichkeit des Fotografen annimmt […].19
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Zahlreiche Publikationen haben sich mit dem Fotoprojekt der F.S.A. sowie der speziellen Rolle Walker Evans' darin beschäftigt. Für eine kurze Beschreibung, die aber auch kritische Analyse ist, vgl. Karin Rebbert, »Fotografischer Auftragsdokumentarismus der Farm Security Administration«, in: Karin Gludovatz, Auf den Spuren des Realen. Kunst und Dokumentarismus, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien 2003, S. 127-154. Diese begriffliche Ausbildung, die entgegen einer längst etablierten Praxis etwa bei Jakob Riis seit Mitte des 19. Jahrhunderts erst in den 1930er-Jahren stattfand, beschreibt Renate Wöhrer anhand der Fotografien der F.S.A. und der Film Unit um John Grierson. Vgl. Renate Wöhrer, »More than mere records. Sozialdokumentarische Bildpraktiken an der Schnittstelle von Kunst und sozialpolitischer Kampagne«, in: dies. (Hg.), Wie Bilder Dokumente wurden. Zur Genealogie Dokumentarischer Darstellungspraxen, Berlin 2015, S. 315-335. Vgl. Heinz Liesbrock, »Das schwierige Sichtbare. Perspektiven des Wirklichen in Fotografie und Malerei«, in: How you look at it, Ausst.-Kat. Sprengel Museum, Hannover 2000, S. 56/57.
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Das neue Landschaftsbild der New Topographics Evans’ Herangehensweise war auch für viele amerikanische Künstler_innen aufgrund seines früh erlangten Status als fotografierender Künstler ein wichtiges Vorbild.20 Eine 1971 im Museum of Modern Art New York (MoMA) stattgefundene Walker-Evans-Retrospektive, die insbesondere seine 1935/36 im Zusammenhang mit der F.S.A. entstandenen Aufnahmen, jedoch ohne einen expliziten Verweis auf ihren Entstehungszusammenhang, hervorhob, beeinflusste nicht nur die entstehende Fotoszene maßgeblich, sondern auch die Künstler_innen der berühmten Ausstellung The New Topographics, die 1975 im George Eastman House (GEH) in Rochester, N. Y., ausgerichtet wurde.21 Die Ausstellung versammelte vornehmlich amerikanische Fotograf_innen (sowie Bernd und Hilla Becher aus Deutschland), die in den 1960er- Jahren begonnen hatten, Landschaft als urbanen und peripheren, vor allem aber vom Menschen gestalteten Raum zu zeigen. Merkmal der Fotografien war neben dem thematischen Zugang der formale, der sich vor allem in der ausgeprägten Neutralität der Bilder ausdrückte.22 Zugrunde lag der Auswahl eine Ausweitung der Betrachtung von Landschaft auch auf den sozialen
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Walker Evans wurde die erste Fotografieausstellung im MoMA zuteil (1938). Hier wurde mit seinem Werk der Begriff der Dokumentarfotografie populär gemacht. Vgl. auch Fußnote 25. Brit Salvesen, »New Topographics«, in: The New Topographics. Texte und Rezeption, hg. von der Landesgalerie am Oberösterreichischen Landesmuseum Linz und der Photographischen Sammlung der SK-Stiftung Köln, Linz 2011, S. 19-22. Lewis Baltz, ein Künstler der Ausstellung, beschreibt hier besonders treffend, worum es bei den dokumentarischen Annäherungen an Themen und ihrer Wiedergabe geht: »Die Art und Weise, wie Dokumentarfotografien mit unseren Ansichten von Realität zusammenwirken, ist etwas paradox. Um als Dokumente überhaupt funktionieren zu können, müssen die Photographien uns zuerst davon überzeugen, dass sie ihren Gegenstand genau und objektiv beschreiben; ihre erste Aufgabe ist es, dem Betrachter zu verdeutlichen, dass sie wirklich Dokumente sind und der Photograph seine Fähigkeiten insbesondere zur Beobachtung und zur Beschreibung eingesetzt hat, während er seine Vorstellungen und Vorurteile außen vorließ. Das ideale photographische Dokument würde ohne Autorschaft oder Kunst erscheinen. Aber natürlich sind Photographien, trotz ihrer Plausibilität, Abstraktionen: Ihre Information ist selektiv und unvollständig.« William Jenkins, »Einleitung aus dem Katalog New Topographics von 1975«, in: New Topographics. Texte und Rezeption, hg. von der Landesgalerie am Oberösterreichischen Landesmuseum Linz und der Photographischen Sammlung der SK-Stiftung Köln, Linz 2011, S. 11.
1. Bilder der Landwirtschaft und Landwirtschaft als Bild
Raum, der sich insbesondere in der Fotografie niedergeschlagen hatte.23 Die Kühle und Distanziertheit der Fotografien bei gleichzeitigem Interesse an der »man-altered landscape« (menschgemachte Landschaft), so der Untertitel der Ausstellung New Topographics, hat die Arbeit Riebesehls, insbesondere die Serien Bahnlandschaften und Agrarlandschaften, auch in diese Nähe gerückt.24 Obwohl sich zu dieser Zeit sowohl in den USA als auch in Deutschland eine Umweltbewegung formierte und man meinen könnte, die Entwicklungen in der Fotografie spiegelten dies, nimmt keiner der Ausstellungskünstler explizit darauf Bezug.25 Die Besonderheit des erweiterten Landschaftsbildes wurde hier vor allem auf seinen Charakter als (sozial-)dokumentarische Fotografie – und dort interessanterweise weniger auf das Sujet als auf das künstlerische Vorgehen hin – betrachtet. So konstatiert der Kurator der Ausstellung New Topographics am Ende seiner Einführung im Ausstellungskatalog: »Wenn ›New Topographics‹ ein zentrales Ziel hat, so ist es – zumindest im Moment – einfach aufzuzeigen, welche Bedeutung es hat, eine dokumentarische Photographie zu machen.«26
Riebesehls Blick auf Landschaft als Blicke in die Landschaft Rekapituliert man die vorangegangenen Ausführungen zum ›Dokumentarischen Stil‹ von Walker Evans, die daraus entwickelten Maximen der deutschen Autorenfotografen sowie die Neuausrichtung des Begriffs der 23
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Weitere Ausstellungen, versehen mit Schlagworten wie ›Social Landscape‹ und ›Manmade Landscape‹ im GEH und im MoMA hatten bereits in den 1960er-Jahren stattgefunden und diese Ausrichtung vorgespurt. Einen guten Überblick über die in diesem Zusammenhang wichtigen Ausstellungen in den USA findet sich in der Einleitung zu Julia Galandi-Pascuals Arbeit über die Ausstellung The New Topographics. Julia GalandiPacual, »Einleitung«, in: Konstruktion amerikanischer Landschaft, Freiburg 2010, S. 13-25. Vgl. auch Inka Schube, »Eine nüchterne Art von Zuneigung«, Interview, die taz, 3.11.2010, anlässlich Riebesehls Tod, www.taz.de, Zugriff 21.07.2017. Wie etwa bei anderen fotografischen Arbeiten, die eine äußerst kritische Sicht auf die fortschreitenden Erschließungen des Raums, bspw. durch Autobahnkreuze und Wohnsiedlungen, zeigten, wie z.B. Martin Manz, Reinhard Matz (Hg.), Unsere Landschaften, Köln 1980. William Jenkins, »Einleitung aus dem Katalog New Topographics von 1975«, in: New Topographics. Texte und Rezeption, hg. von der Landesgalerie am Oberösterreichischen Landesmuseum Linz und der Photographischen Sammlung der SK-Stiftung Köln, Linz 2011, S. 13.
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Landschaft durch die New Topographics-Künstler_innen, so lässt sich das Werk von Riebesehl als ein sozialdokumentarisches verstehen, das die Rolle des Fotografen bereits mitreflektiert. Bei aller vorgegebenen Neutralität wird auch in Agrarlandschaften die persönliche Haltung des Fotografen deutlich, und dies nicht nur, weil er hier die Landschaft seines Lebensortes festhält. Auch präsentiert er uns, im Sinne Evans’, nicht die norddeutsche Agrarlandschaft, sondern verschafft uns einen zwischen seiner und einer (allgemeingültigen) Agrarlandschaft oszillierenden Überblick. Alle Anteile an der Produktion der Bilder bekommen eine Sichtbarkeit: ein persönliches Sujet zu wählen, dies durch eine systematische Annäherung und seine Arbeit mit der Kamera zu neutralisieren, um zu einer verallgemeinernden Aussage zu kommen. Entsprechend ergänzen topografisch genaue Titel die Bilder. Dieses neue Landschaftsbild versucht sich in einer realistischen Annäherung, deren Serialität auch an eine wissenschaftliche Untersuchung erinnert. Dies unterstreicht neben der fotografischen Herangehensweise auch die Offenlegung der die Landschaft bestimmenden Praxis der Landwirtschaft. Agrarlandschaften erhebt in seiner Verfasstheit den Anspruch, die norddeutschen Landschaften zum Zeitpunkt der Aufnahmen zu repräsentieren. An Riebesehls Arbeit lassen sich jedoch weitere Besonderheiten hervorheben, die über produktionsästhetische auch auf rezeptionsästhetische Fragen abzielen. Beim ›Dokumentarischen Stil‹ bleibt neben der Haltung des Fotografen unberücksichtigt, wie die Fotografien wahrgenommen oder besser wie sie gelesen werden.27 Die kühl und distanziert anmutenden Fotografien von Riebesehl, die das Sujet prototypisch umfassend und neutral als Serie oder besser als Sammlung wiedergeben, lassen es jedoch auch zu, dass sie nicht allein die Bilder des Fotografen bleiben, sondern zu Bildern der Betrachter_innen werden. Keine allzu persönlichen Begebenheiten (etwa menschliche Begegnungen) lenken davon ab, sie in ihrer Anonymität als eigene Blicke
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Auf das Manko der Evans’schen Definition des Dokumentarischen verweist auch die Kunstwissenschaftlerin Karen Fromm: »Schon […] Evans' Formulierung des ›dokumentarischen Stils‹ […] greift letztlich zu kurz, weil sie sich vorrangig auf die Figur des Fotografen beschränkt und nicht darüber hinaus das Bild selbst mit einbezieht, dessen Lesbarkeiten ebenso wie die Prozesse der Bedeutungskonstitution, in die es eingebunden ist, vielfältig und vielschichtig sind und daher immer über die jeweiligen Intentionen seines Autors hinausreichen.« Karen Fromm, Das Bild als Zeuge. Inszenierungen des Dokumentarischen in der künstlerischen Fotografie seit 1980, Berlin 2013, S. 7-11.
1. Bilder der Landwirtschaft und Landwirtschaft als Bild
zu adoptieren.28 Das wird insbesondere dadurch unterstützt, dass sie, wie eingangs angesprochen, in der Perspektive der Aufnahme, ihrer Tiefenschärfe, der nah und fern wechselnden Blicke in die Weiten der Landschaft und auf die nahe gerückten Objekte, an das menschliche Sehen erinnern. Dies entsteht nach Peter Sager dadurch, dass Riebesehl für Agrarlandschaften die technischen Einstellungen sowie den Standpunkt des Fotografen ähnlich dem menschlichen Blick in die Weite arrangiere und einstelle.29 Zwar sind nicht wirklich alle Ansichten von einem derart festen Standpunkt (technisch wie körperlich) aus gemacht, wie Sager es beschreibt, jedoch erklärt er treffend Riebesehls Versuch einer Annäherung an die Landschaft durch die Kamera als dem menschlichen Sehen ähnlich. Angeregt durch die verschiedenen Perspektiven auf die Landschaft, erneuert sich nicht nur das Bild von Landschaft als Kultur- bzw. Agrarlandschaft, sondern eröffnet sich eine rezeptionsästhetische Bedeutung des neuen Landschaftsbildes, das immer von der jeweiligen Perspektive der Betrachtenden aus definiert wird. Die Involviertheit in die Produktion von Landschaft sowie die Involviertheit in die Wahrnehmung dieser im Bild stehen hier nebeneinander. Deutlich wird dies über einen Rückgriff auf Joachim Ritter, mit dem der Landschaftsgeograf Werner Bätzing in seinen Ausführungen Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft (1963) auf den sich geänderten Bildkanon verweist. Hier ist es der Blick auf die Alpen, der sich in der Postmoderne von einem einzelnen zu einer Vielzahl möglicher Bilder aufsplittert: War die Moderne dadurch geprägt, dass alle Klassen und Schichten noch das gleiche Bild der Alpen als schöner Landschaft besaßen, so zerfällt diese Gemeinsamkeit in der Postmoderne: Die Alpen sehen für einen Mountainbiker anders aus als für einen Paraglider, Riverrafter oder free-wheeler, von Jägern, Förstern, Bauern, Naturschützern, Wasserwirtschaftlern, Transitreisenden und anderen Nutzern ganz abgesehen. Deshalb meine These: In der
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Martina Mettner beschreibt einen durch die Menschenleere entstehenden »höheren Grad an Allgemeingültigkeit«. Martina Mettner, Die Autonomisierung der Fotografie, Marburg 1987, S. 67. »Riebesehls Weitwinkelobjektiv entspricht annähernd dem Erlebniswinkel des menschlichen Auges. Auch die Wahl des Kamerastandpunkts geht vom normalen Seherlebnis aus. Nahezu alle Aufnahmen entstanden aus Augenhöhe. Keine Vogel-, keine Froschperspektiven. Es ist die normale Sicht des Spaziergängers.« Peter Sager, »o. T.«, in: Agrarlandschaften, Hannover 2002, S. 8.
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Abb. 8: Heinrich Riebesehl, aus der Serie: Agrarlandschaften (1976-1979), Silbergelatineabzüge, Ausstellungsansicht Kunstraum Kreuzberg, 2012
Phase der Postmoderne zerfällt seit etwa 1980 das einheitliche Alpenbild der Moderne in tausend einzelne Alpenbilder spezialisierter Nutzer- und Interessentengruppen, und der Kampf wird in Öffentlichkeit und Politik heftig darum geführt, welche Gruppe ihr Alpenbild für andere Gruppen zur Norm machen kann.30 Riebesehls Porträt von Landschaft, so kann man zusammenfassend festhalten, versucht sich an einer Neufassung des Sujets des Landschaftsbildes. Die Differenz entsteht durch seinen Fokus auf die Agrarwirtschaft, mit der er ganz explizit auf Landschaft als Konstrukt verweist, sowohl als menschgemachte in der Realität als auch als in der Kunst abgebildete. Indem er die
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Werner Bätzing, Postmoderne Ästhetisierung von Natur versus »Schöne Landschaft« als Ganzheitserfahrung – Von der Kompensation der »Einheit der Natur« zur Inszenierung von Natur als »Erlebnis«, XXII. Internationaler Hegel-Kongreß: Hegels Ästhetik: Die Kunst der Politik – die Politik der Kunst, 26.–29.08.1998 in Utrecht, www.geographie.nat.uni-erlangen.de, Zugriff 21.07.2017.
1. Bilder der Landwirtschaft und Landwirtschaft als Bild
landwirtschaftliche Praxis als formgebende herausarbeitet, die Arbeit in dieser Landschaft und ihre Produkte hervorhebt, unterstreicht er ihren Charakter als Kulturlandschaft. Mit der Vielzahl der Bilder gehorcht er schließlich dem Sujet keineswegs mehr in alter Tradition. Agrarlandschaften beschreibt einen Bruch mit der Tradition des ikonografischen Landschaftsbildes.31 Einerseits sind mit den Landschaften die in den verschiedenen Regionen aufgenommenen Landschaften gemeint, andererseits könnte man den Plural auch auf eine Negierung der einen idealen Landschaft verstehen, der hier die realen Landschaften entgegengestellt werden. Damit löst sich das eine erhabene Bild von Landschaft in 79 dokumentarische Bilder auf, die sich dem unterschiedlich geprägten Blick der Betrachtenden anbieten. Und so klingt hier bereits leise an, was die Fotografietheoretikerin Abigail Solomon-Godeau 1991 für kritische fotografische Positionen ihrer Zeit ausgemacht hat: Indem sie die Grenzen des konventionellen Verständnisses der dokumentarischen Form erweitern und die Textualität der fotografischen Bildsprache thematisieren, versuchen diese Arbeiten, in einem doppelten Sinne kritisch zu wirken: nach außen hin, indem sie sich mit der sozialen und politischen Realität auseinandersetzen, und im Inneren, indem sie ihr kritisches Verfahren gleichermaßen auf sich selbst anwenden.32 Während bei Riebesehl die land(wirt)schaftliche Dokumentation noch im Fokus steht und sich eine Reflexion der Repräsentationstrategien nur andeutet, werden wir sehen, wie sich die Künstler_innen der 2000er-Jahre Bildern der Landwirtschaft explizit vor dem Hintergrund ihrer Produktions- und Rezeptionsbedingungen nähern. Bestandsaufnahmen entstehen hier dann allenfalls als Nebenprodukte. Doch zunächst soll im folgenden Kapitel eine andere Arbeit der gleichen Zeit für eine weitere Perspektive auf den Umgang mit Landwirtschaft in der Kunst vorgestellt werden.
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In der Fotografie in Anlehnung an die Romantik etwa von Ansel Adams verfolgt. Abigail Solomon-Godeau, »Wer spricht so?«, in: Herta Wolf (Hg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt a.M. 2003, S. 74.
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Kunst und Landwirtschaft
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Landwirtschaft als Bild: Crossroads Community (The Farm) von Bonnie Ora Sherk (1974-1980)
Crossroads Community (The Farm) wurde 1974 von der Künstlerin Bonnie Ora Sherk (*1945) und dem Musiker Jack Wickert (*1937) initiiert und von Sherk bis 1980, wie sie es selbst beschreibt, als »an alternative to alternative art spaces« geleitet. Crossroads Community (The Farm) entstand auf einer Brachfläche unter einem Autobahnkreuz in San Francisco auf einem fünf Hektar großen Gelände. Sherk und Wickert verwandelten das Gelände und die darauf befindlichen Gebäude unter Mithilfe vieler Unterstützer_innen in einen lebendigen Ort, auf dem es neben landwirtschaftlich genutzten Flächen Räume für Theater, Kunst und Bildung gab. In dem nachbarschaftlich ausgerichteten Gemeinschaftsprojekt engagierten sich Künstler_innen der verschiedenen Sparten.33 Auch Tiere waren ein wichtiger Bestandteil der Gemeinschaft, die als ebenbürtige Künstler_innen im The Raw Egg Animal Theater oder zusammen mit den Menschen im Human-Animal-Theater zu sehen waren. Sechs Jahre existierte Crossroads Community (The Farm) als Kunstprojekt, bevor andere Akteur_innen den Ort übernahmen.34 Nach jahrelangen Auseinandersetzungen ist das Gelände heute ein öffentlicher Park. Für die Performance-Künstlerin Sherk war Crossroads Community (The Farm) eine konsequente Entwicklung ihrer künstlerischen Praxis.35 Sie beschreibt das Projekt als verschiedene Dinge zugleich: als »painting and 33
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So fanden auch einige explizit politisch arbeitende Theaterkünstler_innen ihre Probenräume im Projekt. Ihre Inszenierungen folgten utopischen Ideen einer anderen möglichen Welt. So betrat man die »Free City« der San Francisco Mime Troup, indem man durch einen großen, gelben Rahmen stieg, eine Welt, die aus Umsonst-Läden, Umsonst-Essen, Gemeinschaftswohnen, Umsonst-Druckerei und -Klinik bestand. Zu dem revolutionären Verständnis dieser und anderer Theatergruppen rund um das Projekt The Farm vgl. auch Jana Blankenship, »The Farm by the Freeway«, in: Elissa Auther, Adam Lerner (Hg.), West of Center: Art and the Counterculture Experiment in America, 19651977, Ausst.-Kat. Museum of Contemporary Art Denver, Minnesota 2012, S. 47, und Will Bradley, »Introduction«, in: Will Bradley, Charles Esche (Hg.), Art and Social Change. A Critical Reader, London 2007, S. 18. In unterschiedlichen Nutzungen existierte Crossroads Community (The Farm) bis 1987, vgl. dazu Jana Blankenship, »The Farm by the Freeway«, in: Elissa Auther, Adam Lerner (Hg.), West of Center: Art and the Counterculture Experiment in America, 1965-1977, Ausst.Kat. Museum of Contemporary Art Denver, Minnesota 2012. Sherk selbst verweist auf die Tatsache (als Fügung), dass sie bei ihrer Performance Sitting Still (1970) bereits das Gelände im Blick hatte, auf dem später Crossroads Community
1. Bilder der Landwirtschaft und Landwirtschaft als Bild
theater piece«, als »a play, a sculpture and a sociological model«.36 Dass die Kunst hier im wahrsten Sinne inhaltlich und formal neues Terrain betrat, unterstreicht diese Beschreibungen mehr als deutlich. Die für die Arbeit in den 1970er-Jahren etablierte Bezeichnung Environmental Art37 legt ein Verständnis des Begriffs ›Environment‹ in zweifacher Hinsicht nahe. Einmal beschreibt es den konkreten räumlichen und sozialen Bezug dieser Kunst zu ihrem Umfeld. Zum anderen rückt es die Arbeit auch in den Kontext der wachsenden Umweltbewegung in den USA der 1970er-Jahre. Mit dem Verlassen der Institutionen und der Einschreibung in den öffentlichen Raum sowie der Möglichkeit der Teilhabe werden in dem Projekt Aspekte sichtbar, die auch die aktuellen Werke betreffen, die heute unter den Begriffen Social Practice und Partizipative Kunst gehandelt werden.38 Der Titel der Arbeit macht deutlich, wie der Bauernhof selbst zu einem Prinzip wird und als Metapher funktioniert, die verschiedene Zuschreibungen des ländlichen Lebens als Attribute aufruft und das Paradox als städtisches Kunstprojekt betont. Die Version der Arbeit für den Ausstellungsraum in Form einer Installation unterstreicht diese Wirkung des Projekts. Aus diesem Grund wird in der folgenden Beschreibung (sowie auch bei den in Kapitel 3 beschriebenen Arbeiten) immer wieder der Bezug zwischen dem Projekt, das 1974-1980 in San Francisco unter dem Autobahnkreuz realisiert wurde, und den Materialien, die es im Ausstellungsraum dokumentieren oder ergänzen, hergestellt.
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(The Farm) umgesetzt wurde. Siehe auch ebd., S. 44. Jedoch meint die Konsequenz hier auch Sherks Interesse an urbanem Raum, Performance und Landschaftsarchitektur. Bonnie Ora Sherk, »Position Paper: Crossroads Community (The Farm), Extract from a presentation at the First International Symposium of the Center for Critical Enquiry, San Francisco Art Institute, November 1977«, in: Will Bradley, Charles Esche (Hg.), Art and Social Change. A Critical Reader, London 2007, S. 227. Die Worte finden sich auch auf dem in die Installation integrierten Poster Crossroads Community (the farm) is an alternative to alternative art spaces. Nachdem sie in den 1980er- und zu Beginn der 1990er-Jahre wenig Beachtung erfuhr, ist die Arbeit im Kompendium von Brian Wallis, Jeffrey Kastner (Hg.), Land and Environmental Art, London 1998, gelistet, welches die Nähe der Environmental Art zur Land Art hervorhebt. Dass die Arbeit inhaltlich und formal aktuell ist, bestätigt auch Sherks Teilnahme an der Venedig Biennale 2017, wo unter dem Titel Evolution of Life Frames: Past, Present, Future die beiden Projekte Crossroads Community (The Farm), (1976-1980) und A Living Library (A.L.L.), (seit 1981), im Pavilion of the Earth vorgestellt wurden.
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Kunst und Landwirtschaft
Abb. 9: Bonnie Ora Sherk, Proposal for Crossroads Community (The Farm), 1974, Zeichnung/Collage, 120 x 80 cm
1. Bilder der Landwirtschaft und Landwirtschaft als Bild
Proposal for Crossroads Community (The Farm), 1974, Drawing/Collage Dem gesamten Projekt zugrunde – und als Artefakt zugleich wesentlicher Bestandteil der Installation – liegt ein Entwurf von Sherk, Proposal for Crossroads Community (The Farm), der mit der Ausgestaltung des fokussierten Geländes und der Nutzung der Räume das gesamte Vorhaben skizziert. Die an eine Karte erinnernde Zeichnung/Collage gibt eine Vielzahl von sehr konkreten Hinweisen auf den Ursprung des Vorhabens. Sie diente 1974, den Beginn des Projekts markierend, zunächst der Vorstellung und Durchsetzung der Idee bei den städtischen Behörden, indem sie einen Ausblick auf die mögliche Zukunft des Terrains als Ort der Kunst, der Umweltbildung und des Gemeinschaftslebens vermitteln sollte: This drawing was rolled up by the artist and presented to city and state officials to show opportunities for connecting land fragments and transforming diverse open space land parcels including Army street Freeway Interchange, into urban farm, replete with a multi-universe of arts, environmental education, and community gatherings.39 Die von Sherk entworfene Karte im Hochformat in den Maßen 120 x 86 cm ist angelehnt an einen landschaftsarchitektonischen Entwurf mit stilisierten Gebäudezeichnungen und in Letraset-Buchstaben gesetzten Orts-beschreibungen. Die Karte lässt sich als Mischung aus Zeichnung und Collage bezeichnen, da offensichtlich verschiedene Materialien miteinander in Verbindung gebracht wurden.40 Man sieht darauf Flächen als Wiese und als Garten farbig markiert, auf denen Abbildungen von Tieren und Gemüse zu sehen sind. Die Gemüse auf dem Gartenfeld – aus Zeitungen ausgeschnittene Bildchen von Kohl, Zucchini und Artischocken – erscheinen im Verhältnis zur Größe der Karte überdimensioniert. Über das gesamte Gelände verteilt finden sich weitere Bilder von Pflanzen, Tieren und Menschen, wobei Letztere die im Verhältnis kleinsten Lebewesen sind. Es kommt zu Begegnungen von Menschen mit überdimensionalen Kohlköpfen, von großen Hunden mit kleinen Menschen und Stiefmütterchen mit Staudensellerie, die Bäume hängen voll mit übergroßen Äpfeln. Des Weiteren finden sich darauf verschiedene Gebäude mit den Bezeichnungen: die Schule, die Scheune, das Theater, die Küche, das Café, Räume für das ›Mahlen und Haltbar-Machen‹, für Spiel und Tanz, für 39 40
Arte Viva Arte, Ausst.-Kat. 57. Venedig Biennale, Venedig 2017, S. 241. Aufgrund einer ausgestellten digitalen Kopie lässt sich dies nicht genau ausmachen.
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Handwerk und Drucken. Das ganze Szenario ist umsäumt von den Straßen Utah Street, San Bruno Avenue, Potrero Avenue, James Lick Freeway und dem Army Street Circle, die dort als räumliche Begrenzung der Crossroads Community (The Farm) eingezeichnet sind. Jana Blankenship verdeutlicht in ihrer Beschreibung von Sherks Vision insbesondere das nicht-hierarchische Zusammenkommen aller erwähnten Lebensformen: The collage is layered with numerous humorous vignettes that play with scale – a pig eats an enormous lettuce; diminutive adults in the garden are posed against a giant head of garlic, a bunch of carrots, and an eggplant; children at the neighboring Buena Vista School play with a huge dog; and trees hang heavy with oversized fruits – illustrating Sherk’s vision of nonhierarchical environment where all life forms are integral participants.41 Die Karte verweist so auf die Art der gewünschten Begegnungen der Community, auf das Miteinander von Menschen, Tieren und Pflanzen. Dabei zeigt sich das Szenario mit gemeinschaftlichem Arbeiten und Leben einerseits als Utopie gegen das städtische Leben, ist jedoch gleichzeitig in dieses eingebettet, wie Blankenship zusammenfasst: Sherk imagines The Farm as a gesture of possibility, where the city and country come together to create an unorthodox yet productive site where all work together to find – in sociologist Herbert Marcuse’s words – ›a life of reduced labor, of creative labor, of enjoyment‹.42
Crossroads Community (The Farm), 1974-1980, Installation Wie sich die utopischen Ideen von Sherk dann tatsächlich auf dem Gelände niederschlugen, zeigt die Installation der Arbeit, in die die Karte als ein Bestandteil eingebettet ist. Sie setzt sich aus insgesamt 52 Teilen zusammen, vornehmlich in Holzrahmen gefassten Fotografien sowie wenigen anderen Materialien, die in Petersburger Hängung an der Wand befestigt sind. Die
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Jana Blankenship, »The Farm by the Freeway«, in: Elissa Auther, Adam Lerner (Hg.), West of Center: Art and the Counterculture Experiment in America, 1965-1977, Ausst.-Kat. Museum of Contemporary Art Denver, Minnesota 2012, S. 45. Ebd.
1. Bilder der Landwirtschaft und Landwirtschaft als Bild
Abb. 10: Bonnie Ora Sherk, Crossroads Community (The Farm), 1974-1980, Fotografien, Collagen, Objekte, Video, Ausstellungsansicht Kunstraum Kreuzberg 2012
Fotografien dokumentieren das Leben auf dem Gelände und geben Einblick in die Aktivitäten und Akteur_innen: Sie zeigen Kinder beim Rasenmähen, Szenen von Theateraufführungen, Menschen in der Küche und Ausblicke aus der Küche auf das imposante Autobahnkreuz. Eine aus zwei Fotografien bestehende Collage zeigt das Gelände vor und nach der Entwicklung von Crossroads Community (The Farm) einmal als städtische Brache und einmal als grüne Oase in der Stadt. Ein Poster zeigt Bilder des Projekts, Statements von Sherk und verschiedener Beteiligter auf die Frage: What is The Farm to you? Auf zwei Fotografien der obersten Reihe der Installation sitzen ein Hahn und eine Tomate als ausgeschnittene Bilder. Ergänzt wird die Installation zusätzlich durch einen Film. Dieser stellt, nach einem eindrucksvollen Anfang, der vor allem die Einbettung des Projekts in das dominierende Autobahnkreuz zeigt, verschiedene Bereiche des Projekts und seiner Besucher_innen oder Nutzer_innen vor.43 Die Installa43
In den verschiedenen Präsentationen wird dieser Film entweder auf einem Monitor auf einem Strohballen neben der Wandinstallation gezeigt (Berlin, 2012) oder integriert in die Wandinstallation auf einem eingelassenen Bildschirm (Venedig, 2017).
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Abb. 11: Bonnie Ora Sherk, Crossroads Community (The Farm), 1974-1980, Detail
tion funktioniert als Dokumentation des Projekts und erscheint dabei ganz selbstverständlich als eigenständiges Kunstwerk, das für den Ausstellungsraum geschaffen ist. Dabei liegt ihr ein Projekt zugrunde, das die Kunstinstitution mit dem Bespielen des Stadtraums ganz bewusst verlassen hatte.
Crossroads Community (The Farm) als Environmental Art Was in der Zeichnung/Collage lediglich durch die klare räumliche Begrenzung des Projekts sichtbar wird, offenbart sich in den Fotografien und im Film umso deutlicher: Crossroads Community (The Farm) war in einem Setting von höchster Urbanität lokalisiert. Die Kuratorin und Autorin Linda Weintraub beschreibt eindrücklich, wie stark der Ort, insbesondere durch den Lärm der Autos auf den Straßen und Autobahnen, urban geprägt war: The location Sherk choose to establish The Farm was not a tranquil, rural setting but a six-and-a-half acre tract of cement adjacent to abandoned warehouses that was barren except for heaps of debris. It was situated in the midst of clamorous, exhaust-spewing cars, buses and trucks speeding along
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the elaborate maze of the Army Street-freeway interchange in the heart of San Francisco. The landscapes in this region had become macadam-scapes leveled and paved to accommodate the velocity of motorized vehicles and the foundations of urban structures.44 Die Utopie in Crossroads Community (The Farm), in Einklang mit Pflanzen und Tieren zu leben, formuliert sich gerade im Kontrast zwischen der Farm zu den sie umgebenden Autobahnen. Diesen unbelebten Ort mit einer Community zu verbinden und ihm als Format eine Farm zuzusprechen, wird konterkariert durch den Freeway als Transitort, der in seiner Funktion traditionell alle Qualitäten als Raum opfert. Wobei der Freeway unter anderem für die Reibungsfläche des Projekts sorgt. Lucy Lippard schreibt zum Erscheinen der Autobahn in Sherks Arbeit: »Because the Farm is an environmental and social artwork, it has unexpected twists, like the way it nonchalantly incorporates the incredible technical and sculptural monolith called the freeway.«45 Jedoch wird die Autobahn hier weniger in das Kunstwerk inkorporiert, als dass sie dem Projekt als Rahmung dient. Das Projekt funktioniert gerade durch die Gegensätzlichkeit von The Farm zur Crossroad. Mit der weiteren Aussage Lippards »the site was once a farm« gerät jedoch der schier unvorstellbare Wandel in den Blick, den der Ort in den letzten Jahrhunderten genommen hat.46 Und mit seiner Rückverwandlung in eine landwirtschaftliche Infrastruktur wird auf die Bedürfnisse verwiesen, die der städtische Raum nicht erfüllen kann, von der Nahrungsmittelproduktion bis zur Nachbarschaftlichkeit. Die Art des Vorgehens, das heißt, ein Stück urbanes Land in Besitz zu nehmen, gegen seinen Charakter als städtischen Grund in landwirtschaftliche Fläche zu verwandeln und, auch in Auseinandersetzung mit Stadtverwaltung und Stadtplanung, als öffentlichen Raum der Teilhabe zu definieren, der für die Anliegerschaft und beteiligte Künstler_innen erlebbar wird, lässt eine aktivistisch geprägte Haltung aufscheinen. In der Etablierung eines Ortes des Zusammenlebens von Menschen, Pflanzen und Tieren inmitten eines urbanen Settings wird so auch ein Bewusstsein für Umwelt- und Ökologiefragen deutlich, das sich in den 1970er-Jahren in den USA etablierte. Bereits 1962 war Rachel Carsons Buch 44 45 46
Weintraub, Linda, To Life! Eco Art in pursuit of a sustainable planet, Berkeley, Los Angeles, London 2012, S. 106. Lucy R. Lippard, »Gardens, some Metaphors for a Public Art«, in: Artforum, November 1981. Ebd.
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Silent Spring erschienen, das ein eindrücklich stilles Szenario der Welt zeichnete, in dem die Vögel aufgrund des Einsatzes von Pestiziden verstummt sind. Es hatte wesentlichen Einfluss auf die Bildung einer Umweltbewegung sowie einer öko-feministischen Bewegung in den USA.47 Crossroads Community (The Farm) erscheint vor diesem Hintergrund als politisch aktivierender Ort, der nicht nur Gemeinschaft ermöglicht, sondern auch für bestimmte Themen sensibilisiert. Der Kurator und Publizist Will Bradley sieht Sherks Arbeit so denn auch in einer Linie mit künstlerischen Positionen, die sich seit dem 19. Jahrhundert mit großen sozialen Bewegungen verbunden haben: So wie Gustave Courbet der Pariser Kommune nahestand, verstanden sich auch Künstler_innen der 1970er-Jahre als Teil der Protestbewegungen ihrer Zeit, wie hier der Ökologie-Bewegung.48 Auch Linda Weintraub sieht Crossroads Community (The Farm) im Kontext der politischen Situation im San Francisco der 1970er-Jahre, jedoch weniger als radikale Forderung nach Veränderung, wie sie von vielen Protagonist_innen etwa der Theaterszene vorgebracht wurde, sondern vielmehr als subversives Einschleusen radikaler Ideen in ein Kulturprojekt.49 Sherk selbst erklärt zu Crossroads Community (The Farm) in einem Vortrag auf dem First International Symposium of the Center for Critical Enquiry 1977 im San Francisco Art Institute:
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Das Buch Silent Spring (1962) der Biologin Rachel Carson gilt als Auslöser für die Entwicklung einer weltweiten Umweltbewegung. Die Autorin wies als Erste auf das Artensterben durch den Einsatz von Pestiziden hin. In dem von Bradley und Esche herausgegebenen Sammelband werden verschiedene künstlerische Positionen vorgestellt, die deutlich mit politischen Bewegungen in Verbindung zu sehen sind. Vgl. auch Will Bradley, Charles Esche (Hg.), Art and Social Change. A Critical Reader, London 2007. »The social experimentation conducted at The Farm was integral to the idealism that roiled through San Francisco in the ›70s. It was as sweeping a rejection of the repressive institutions as the San Francisco Mime Troup’s ›guerrilla theater‹, the Artists Liberation Front’s demands for artists‹ rights, the San Francisco Diggers‹ defiance of market practices, and the Black Panther Party for Self Defense’s uprisings. However, The Farm did not contribute the extremist strategies that turned San Francisco into a hotbed of radicalism. Instead, it pursued its progressive agenda according to mainstream requirements, gently insinuating its radical utopianism into the established cultural framework.« Linda Weintraub, »Bonnie Ora Sherk/Urban Oasis«, in: TO LIFE! ECO ART IN PURSUIT OF A SUSTAINABLE PLANET, Berkeley, Los Angeles, London 2012, S. 105.
1. Bilder der Landwirtschaft und Landwirtschaft als Bild
As an artist, I have tried to expand the concept of art to include, and even be, Life, and to make visible connections among different aesthetics and systems of knowledge. The most recent and devotional vehicle for this coming together is a multicultural, agricultural collaborative art work called Crossroads Community, or more simply, The Farm. […] The Farm is a social art work. I think of it as a life-scale environmental performance sculpture with a layering of meaning, metaphors, and actual situations. I see it as art, as well as incorporating the divergent fields of all the arts and literature, education, community service, public health, the environment, city planning, local politics, and real estate. […] The farm is avant-garde and perhaps speaks to the future of art. It is like a frame – a life theater, and that always gets us into trouble when we are talking about art.50 In ihrer Aussage verdeutlicht sich das Interesse der Künstlerin am Ausloten der Verbindung von Kunst und Leben, welches sie in der Verbindung von bildender Kunst, Theater und Literatur mit den Bereichen der Bildung, der Stadtplanung, der Lokalpolitik und des Grundeigentums sieht. Dabei bleibt das Leben, dass sie in die Kunst integriert, immer als Kunst definiert, es erscheint als Aufführung durch die Rahmung, die Sherk als »Life Frame«51 bezeichnet.
Crossroads Community (The Farm) als performatives Kunstwerk Wenn Sherk sich damit befasst, was Kunst ist, was Kunst sein kann, wer oder was ein_e Künstler_in ist, dann immer mit dem Interesse, auch den Kunstbegriff an sich deutlich zu erweitern. So sagt sie selbst: »I’m trying to expand the notion of what art is … take the rabbit, burrowing tunnels. She’s an incredible
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Bonnie Sherk, Position Paper: Crossroads Community (The Farm), Extract from a presentation at the First International Symposium of the Center for Critical Enquiry, San Francisco Art Institute, November 1977, in: Will Bradley, Charles Esche (Hg.), Art and Social Change. A Critical Reader, London 2007, S. 227. Diese Worte Sherks finden sich auch auf dem in die Installation integrierten Poster Crossroads Community (the farm) is an alternative to alternative art spaces. Sherk bezeichnet die Life Frames als Methodologie. Vgl. auch https://alivinglibrary.org. Ihre retrospektive Installation auf der Venedig Biennale 2017 sowie verschiedene Vorträge über ihre Arbeit tragen den Titel »Evolution of Life Frames: past, present, future«.
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architect.«52 Wenn sie ihre Arbeit als ›Social Art Work‹ bezeichnet, dann erinnert das auf den ersten Blick an den erweiterten Kunstbegriff von Beuys. In der Sozialen Plastik kann jeder Mensch (und auch jedes Tier) zum_zur Künstler_in werden und sich an der Gestaltung der Welt bewusst beteiligen.53 Ruft man sich jedoch Beuys‹ partizipatorische Werke vor Augen, so lassen diese die Grenze zwischen Kunst und Leben vielmehr verschwimmen, während bei Sherk gerade diese Grenze ins Licht gesetzt wird, und zwar durch das ›framing‹, das die lebensbereicherte Situation doch als Kunst definiert. Die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte spricht in ihrer Ästhetik des Performativen (2004) von Laborsituationen, die die Kunst bei allem anderen Anschein doch von der Wirklichkeit trennt: Die Aufführung ist in dieser Hinsicht, prononciert gesprochen, sowohl als das Leben selbst als auch als sein Modell zu begreifen – als das Leben selbst, insofern sie die Lebenszeit der an ihr Beteiligten, von Akteuren und Zuschauern, real verbraucht und ihnen Gelegenheit gibt, sich ständig neu hervorzubringen; als ein Modell des Lebens, insofern sie diese Prozesse in besonderer Intensität und Auffälligkeit vollzieht, so dass die Aufmerksamkeit der an ihr Beteiligten sich auf sie richtet und sie so ihrer gewahr werden. Es ist unser Leben, das in der Aufführung in Erscheinung tritt, gegenwärtig wird und vergeht.54 Die dabei entstehende soziale Situation unterscheidet sich nur in ihrer Spezifik von einer solchen in der Realität: Vor allem Rollenwechsel und Gemeinschaftsbildung legen offen, dass es sich bei Aufführungen immer auch um eine soziale Situation handelt, um eine Form von Geselligkeit. Was sich in einer Aufführung zwischen Akteuren und Zuschauern ereignet, vollzieht sich immer als ein spezifischer sozialer Prozess, konstituiert eine spezifische soziale Wirklichkeit.55
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Jana Blankenship, »The Farm by the Freeway«, in: Elissa Auther, Adam Lerner (Hg.), West of Center: Art and the Counterculture Experiment in America, 1965-1977, Ausst.-Kat. Museum of Contemporary Art Denver, Minnesota 2012, S. 47. In Kapitel 3.4. wird anhand der Arbeit von Insa Winkler noch einmal näher auf das Kunstkonzept von Beuys und seine Bedeutung für aktuelle partizipative Kunstprojekte eingegangen. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004, S. 359. Ebd., S. 297.
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In der Grenzüberschreitung zwischen Kunst und Nicht-Kunst gerät ebendiese Grenze in den Blick und wird zum Gegenstand der Reflexion. Damit berührt sie ein Verständnis der Autonomie der künstlerischen Werke: Es ist in den Aufführungen das Ästhetische, das sich seine jeweiligen ›Gegensätze‹, das andere – das Soziale, Politische, Ethische – auf ganz wunderbare, um nicht zu sagen magische Weise anzuverwandeln weiß. Das Ästhetische verschmilzt mit dem Nicht-Ästhetischen, die Grenze zwischen beiden wird überschritten. Die Autonomie der Kunst wird so Gegenstand der Selbstreflexion von Aufführungen, auch und gerade wenn diese den Gegensatz zwischen Kunst und Wirklichkeit, zwischen dem Ästhetischen und dem Nicht-Ästhetischen immer wieder kollabieren lassen. Denn es ist gerade das Einstürzen dieser Gegensätze, ihr Verschmelzen, das sich als eine von den Aufführungen vollzogene Reflexion auf die Autonomie der Kunst verstehen lässt, welche zugleich diese Autonomie radikal in Frage stellt.56 Die Ermutigung, die von solchen Kunstwerken ausgeht, liegt in dem Versuch, als Mensch »zu sich selbst und der Welt in ein neues, nicht vom Entwederoder, sondern vom Sowohl-als-auch bestimmtes Verhältnis zu treten – sich im Leben aufzuführen wie in den Aufführungen der Kunst«.57 Sherk selbst spricht von unterschiedlichen Ebenen, wenn sie Crossroads Community (The Farm) ausgestattet »with a layering of meaning, metaphors, and actual situations« beschreibt. Das Zusammenkommen als Gemeinschaft ist hier nicht nur in seinem Gemeinschaftlich-Sein relevant, sondern auch als Metapher, die entsteht. Wenngleich es um die aktive Gestaltung des Ortes geht, um seine reale Existenz und Erlebbarkeit und das Miteinander der Lebewesen, so zeichnet sich mit dem gestalteten Ort auch eine Wahrnehmungsmöglichkeit jenseits der eigenen Involviertheit in dieses spezifische Projekt ab. Als ehemalige Mitstreiterin beschreibt Joan Holden 1976, wie Crossroads Community (The Farm) auf sie von außen betrachtet wirkt: Whenever I pass I think, »They did it,« and this inspires me also to attempt the impossible. Whenever I look down the hill and see it sprawling there in the middle of a concrete wasteland, wrapped up in a roaring freeway, I think that, despite the mindless and relentless expansion of money, technology
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Ebd., S. 300. Ebd., S. 362.
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and power that there still is a human spirit and it still has a chance to prevail.58 Holden beschreibt hier, was das Projekt für sie repräsentiert. Darin wird deutlich, dass es nicht nur als Erlebnis funktioniert, sondern gleichzeitig auf die Möglichkeiten und Notwendigkeiten, die eine Veränderung der Welt mit sich bringt, verweist. Die Gemeinschaft illustriert die gesellschaftlichen Möglichkeiten, etwas Neues zu etablieren, der städtische Bauernhof dient als Metapher einer möglichen einzuschlagenden Richtung.
Crossroads Community (The Farm) als Non-Farm Die von Sherk vorgenommene Grenzüberschreitung wirft auch Fragen nach den Institutionen der Kunst auf, wenn sie ihr Projekt im städtischen Raum (und ohne institutionelle Anbindung) ansiedelt. Insbesondere die Land Art, die in Verwandtschaft zur Environmental Art steht, wurde aufgrund ihres spektakulären Verlassens der Institutionen stark auf ihre Institutionskritik hin betrachtet, was heute relativiert wird. So vermutet Philip Ursprung, dass es wohl mehr die Expansion des gesamten Kunstbetriebs war, die die Künstlerinnen und Künstler motivierte, in die »Natur« zu gehen, wenn er von einem »Zeichen einer nie dagewesenen Ausdehnung und Machtentfaltung der künstlerischen Institutionen« spricht.59 In dieselbe Richtung gehen Philipp Kaiser und Miwon Kwon, wenn sie schreiben: »It is notable that Land Art emerged precisely at a moment of greater professionalisation of the artistic field, which coincided with a significant expansion of the art market and the influence of media and public culture in general.«60 Michael Heizers viel zitierte Aussage: »The museums and collections are stuffed, the floors are sagging, but the real space exists«61 liest sich dann nicht mehr nur im Hinblick
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Zitat von Joan Holden auf dem Poster »Crossroads Community (The Farm) … an alternative to alternative art spaces«, 1979. Bestandteil der Installation Crossroads Community (The Farm), Abb. 15. Philip Ursprung, Grenzen der Kunst. Allan Kaprow und das Happening. Robert Smithson und die Land Art, München 2003, S. 22. Philipp Kaiser, Miwon Kwon, »Ends of the earth and back«, in: Philipp Kaiser, Miwon Kwon (Hg.), Ends of the Earth. Land Art to 1974, Ausst.-Kat. Museum of Contemporary Art Los Angeles, Haus der Kunst München, Los Angeles, München 2012, S. 22. Michael Heizer, »The Art of Michael Heizer«, Artforum, Dezember 1969.
1. Bilder der Landwirtschaft und Landwirtschaft als Bild
auf die räumliche Erweiterung, sondern auf die ganz offensichtlich positive Hinwendung zum realen Ort. Gerade die Bearbeitung dieses realen Ortes, des realen Materials, kann als das Konstituierende der sogenannten ›Earthworks‹ betrachtet werden. Die Ausweitung in den Raum hat neben der Entgrenzung des institutionellen Kunstraums auf der einen Seite eine Entgrenzung der Trennung von Kunst und Natur auf der anderen Seite produziert, die sich in Robert Smithsons Begrifflichkeiten der »Site« und der »Non-Site« wiederfinden, die kurz gesagt die Differenz zwischen dem Ort und seiner Repräsentation im Kunstwerk beschreiben.62 Im Zusammenspiel von Kunst und Natur ergibt sich ein dialektisches Spannungsfeld,63 in dem der Mensch als Betrachter wesentlicher Teil ist.64 In Smithsons Verständnis lässt sich diese Dialektik besonders gut an Orten erzeugen, in denen sich Natur bereits deutlich vom Menschen bearbeitet zeigt, und damit nicht nur jenseits der Städte, sondern auch in ihnen selbst. Entsprechend bezeichnet er den Architekten des Central Park in New York, Frederick Law Olmsted, als den ersten »earthwork artist« (Erdarbeits-Künstler).65 Vor diesem Hintergrund eröffnen die von Fragen der Repräsentation geleiteten Theorien Robert Smithsons, zum Zusammenspiel von ortsgebundenen und ortsungebundenen Anteilen, auch ein Verständnis für Bonnie Ora Sherks Projekt in San Francisco in den 1970er-Jahren. Wenn Linda Weintraub in ihrem Text beschreibt, was Crossroads Community (The Farm), verglichen mit normalen Institutionen, die sich der Verbindung von Menschen und Tieren widmen, nicht ist, kommt sie zu dem Schluss, Crossroads Community (The Farm) sei kein Zoo, kein Park, kein Bauernhof, keine Schule und keine Organisation.66 Fasst man Weintraubs Beobachtungen zusammen, lässt sich The Farm
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Vgl. auch Robert Smithson, »Eine provisorische Theorie der Nicht-Orte«, in: Eva Schmidt und Kai Vöckler (Hg.), Robert Smithson. Gesammelte Schriften, Köln 2000, S. 106. Vgl. auch Robert Smithson, »Spiral Jetty«, ebd., S. 176-184. Vgl. auch Juliane Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst, Hamburg 2012, S. 208ff. Über die Wahl der Orte für seine Kunstprojekte sagt Smithson: »Nach meiner Erfahrung sind die besten Orte für ›earthworks‹ (Erdkunst) solche, die von Eingriffen der Industrie, der rücksichtslosen Ausbreitung der Städte oder den zerstörerischen Kräften der Natur selbst geprägt sind. So liegt beispielsweise Spiral Jetty in einem toten See und Broken Circle und Spiral Hill in einer aufgelassenen Sandgrube.« Robert Smithson, »Frederick Law Olmsted und die dialektische Landschaft«, in: Eva Schmidt und Kai Vöckler, Robert Smithson. Gesammelte Schriften, Köln 2000, S. 198. Linda Weintraub, »Urban Oasis«, in: Weintraub, Linda, To Life! Eco Art in pursuit of a sustainable planet, Berkeley, Los Angeles, London 2012, S.f.
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auch als Non-Farm bezeichnen.67 Damit wäre in der Begrifflichkeit von Robert Smithson Crossroads Community (The Farm) selbst ein Ort der Repräsentation, der seine historischen, gegenwärtigen wie zukünftigen Möglichkeiten aufzeigt, die sich auch in der Installation für den Ausstellungsraum niederschlagen. Anhand von Sherks Projekt wird sichtbar, wie in einem EnvironmentalArt-Projekt durch partizipatorisch-performative Zugänge nicht nur zur Teilnahme aufgerufen wird, sondern darüber hinaus die gezeichnete Situation eine bildhafte (im Sinne einer gerahmten Situation) und repräsentative Form bekommt, die in der Installation des Projekts wieder aufscheint. Crossroads Community (The Farm) beinhaltet damit bereits eine Reflexionsebene, die auch den räumlich und formal entgrenzten Praxen von Künstler_innen der 2000erJahre eigen ist, die in Kapitel 3 unter dem Titel Kunst im Medium Landwirtschaft vorgestellt werden. Doch zunächst wird mit den in Kapitel 2, Landwirtschaft im Medium Kunst, vorgestellten Arbeiten der Anschluss an Riebesehls Auseinandersetzung mit Bildern der Landwirtschaft gesucht.
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Vgl. dazu auch Doris Bergers Ausführungen zu dem Projekt Not a Cornfield der Künstlerin Lauren Bon, einem Maisfeld nahe Downtown Los Angeles. Doris Berger, »Not a Farmer«, in: Images of Farming, Heijningen 2011, S. 15.
2. Landwirtschaft im Medium Kunst
Die Werke von Riebesehl und Sherk wurden im vorangestellten Kapitel 1 exemplarisch für zwei unterschiedliche Ansätze einer Verbindung von Kunst und Landwirtschaft vorgestellt. In diesem Kapitel werden nun künstlerische Arbeiten in den Blick genommen, die Landwirtschaft im Medium Kunst verhandeln. Das heißt, Landwirtschaft wird in unterschiedlichen künstlerischen Formen und Formaten vorgestellt, wobei ihre Darstellung in Bildern den Schwerpunkt ausmacht. Dabei geht es in den aktuellen Werken meist nicht um die Erzeugung möglichst authentischer Bilder von Landwirtschaft und Landleben, wie sie noch Riebesehl verfolgte, sondern vielmehr werden die verschiedenen Bilder, die (sich) vom Land gemacht werden und wurden, ebenso wie die Bilder die (sich) nicht gemacht werden und wurden, explizit unter die Lupe genommen. In der Betrachtung des vermeintlich Vertrauten, Bekannten und Heimatlichen in den Darstellungen von Land und Landwirtschaft eröffnen sich so auch Perspektiven auf das Andere, das Fremde und das Unsichtbare. Im Unterschied zu den »alten« Realismen, für die bereits der Versuch der Herstellung eines realistischen Bildes eine oppositionelle Haltung bedeutete, steht hier die Frage nach den Möglichkeiten und Beschränktheiten einer Darstellbarkeit durch Kunst im Raum. Eine wichtige Zäsur im Hinblick auf einen solchen, man kann sagen, selbstreflexiv gewordenen Dokumentarismus in der Kunst war die documenta 11 von 2002. Die im Schatten der politischen Umbrüche nach 1989 im wahrsten Sinne geöffnete Welt begegnete den Rezipient_innen hier in vielfältigen Werken meist dokumentarischen Charakters. Der Umgang mit den Abbildern der Wirklichkeit zeigte sich als insofern neue Perspektive, als dass die Frage nach Wirklichkeit, Fiktion und dem Objekt-Subjekt-Verhältnis
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in den Arbeiten offengelegt wurde.1 Das Dokumentarische mit seinen Bedingungen und Möglichkeiten rückt auch bei den im Folgenden vorgestellten Werken, die alle nach 2002 entstanden sind, in den Mittelpunkt einer formalen und medialen Untersuchung. Neben Fotografie und Film finden sich insgesamt dokumentarische Vorgehensweisen, Materialien und Inhalte, die über die Kunst hinaus weitere Bezüge aufrufen, beispielsweise zur Ethnologie, zur Literatur und zu den Naturwissenschaften – in Form von Interviews, Texten, archivarischen Anordnungen und Alltagsgegenständen. Sie alle zählt die Literaturwissenschaftlerin Susanne Knaller zu »[d]okumentarischen Verfahren in der Kunst […], die mit Texten, Bildern und Objekten unterschiedlicher semiotischer Strukturen und Gattungen arbeiten: Spur, Indiz, Index, Aufzeichnung, Kopie, Urkunde, Chronik«. Zur Wirkung dieser erklärt sie: »Das Dokument dient der Archivierung, Klassifizierung, Zeugenschaft, Authentifizierung, Beweisführung, Exemplifizierung, Didaktisierung, Information, Referenzialisierung.«2 Mit diesen Zuschreibungen an das Dokument ist auch das Spektrum beschrieben, das in den Darstellungen von Landwirtschaft heute angesprochen wird. Weniger scheint es den hier verhandelten Arbeiten jedoch um dokumentarische Bilder zu gehen, die die eine oder andere genannte Funktion schlicht erfüllen, vielmehr werden die Funktionen der Bilder von Landwirtschaft selbstreflexiv befragt. Damit thematisieren die Werke Fragen der Repräsentation, etwa in der Ethnografie, der Wissenschaftsgeschichte oder der Kunstgeschichte (Sozialistischer Realismus), und eröffnen Perspektiven auf Machtverhältnisse zwischen Subjekt, Objekt, Bildproduzent_innen, Betrachter_innen, Institutionen und Systemen. Immer, wenngleich mitunter beiläufig, finden Reflexionen des eigenen Feldes statt.
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Was die Kunsthistorikerin Katja Hoffmann, die sich eingehend mit der elften Ausgabe der documenta beschäftigt hat, als eindeutige Abkehr von den ehemals modernistischen Ansichten betrachtet, unter denen etwa die ersten drei documenta-Ausgaben erschienen. In der Folge der von Okwui Enwezor ausgerichteten documenta 11 entstand so eine ausgeprägte Debatte um das Dokumentarische in Film und Fotografie und seiner Präsentation sowie dem Umgang mit Massenmedien und Amateurbildern. Katja Hoffmann, Ausstellungen als Wissensordnungen. Zur Transformation des Kunstbegriffs auf der Documenta 11, Bielefeld 2013. Susanne Knaller, »Realismus und Dokumentarismus. Überlegungen zu einer aktuellen Realismustheorie«, in: Dirck Linck, Michael Lüthy, Brigitte Obermayr, Martin Vöhler (Hg.), Realismus in den Künsten der Gegenwart, Berlin 2010, S. 177.
2. Landwirtschaft im Medium Kunst
Das Dokumentarische in der Kunst seit den 1960er-Jahren hat sich so heute vor allem zu einem Spiel mit den an das Dokumentarische bestehenden Erwartungen und Vorstellungen entwickelt, in deren Offenlegung auch die Möglichkeit seiner Verwendung liegt. Dazu schreibt der Kunstwissenschaftler Tom Holert: Der Griff zu den Rhetoriken, Haltungen, Epistemologien und Ansprüchen des Dokumentarischen […] ohne einen entsprechenden ›metadokumentarischen‹ Diskurs, der diesen Griff wiederum thematisiert beziehungsweise problematisiert, [ist] nicht [mehr] vorstellbar.3 Mit Blick auf die besondere Beziehung zur Wirklichkeit sieht er einen aktuellen Umgang mit dem Dokumentarischen heute vielmehr als eine kritisch reflektierte Anwendung. Zum einen sei das Projekt des Dokumentarismus: … angetrieben von der Ambition, der ›Wahrheit‹ näher zu sein als andere visuelle Gattungen […]. Zum anderen qualifiziert sich eine avancierte dokumentarische Praxis heute gerade dadurch, dass sie ihre Epistephilie energisch einklammert, infrage zieht, kritisch untersucht.4 Trotz dieses treffend attestierten reflexiven Umgangs, der auch auf die hier vorgestellten zutrifft, werden diese durchaus konkret: Künstler_innen der 2000er-Jahre sind interessiert an aktuellen Themen und Darstellungen, wie hier von Landwirtschaft und ihrer Entwicklung zu einer global agierenden Agrarwirtschaft. Die Repräsentation von Landwirtschaft in der Kunst bietet als Annäherung an ein lebensrelevantes Thema eine kritische Auseinandersetzung, die zwischen seiner Verhandlung im Kunstsystem und im politischen System changiert. Anhand der sechs folgenden Beispiele werden verschiedene Perspektiven beleuchtet, die auch den Umgang mit Landwirtschaft als Kunst bestimmen. So zeigt Łukasz Skąpskis Arbeit Machines (2006) fotografische und filmische Dokumentationen von in Eigenbau entstandenen Landmaschinen als typologische Serie, um sie auch im Kontext landwirtschaftlicher und künstlerischer Oppositionsgeschichte des sozialistischen Polen zu vergegenwärtigen (Kapitel 2.1.). Kulturhistorische Dokumente der Landwirtschaft
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Tom Holert, »Die Erscheinung des Dokumentarischen«, in: Auf den Spuren des Realen. Kunst und Dokumentarismus, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien 2003, S. 43-64, hier S. 51. Ebd., S. 53.
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der DDR werden von Åsa Sonjasdotter in Aus der Perspektive der Kartoffel auf Kenntnisse in der Pflanzenzucht (2012) einer Revision unterzogen und unter neue epistemologische Vorzeichen eines aktualisierten Naturverständnisses gestellt (Kapitel 2.2.). Strategien der Aneignung bei der Arbeit Danzig, Havarna, Siauliai (2007) von Tue Greenfort auf Bilder aus dem Internet werden als kunsthistorisch deutlich kritisch einzuordnende Vorgehensweise eingesetzt, um auf den politischen Hintergrund aktueller Formen von Landwirtschaft zu verweisen (Kapitel 2.3.). Bilder von Landwirtschaft in Ich bin gerne Bauer und möchte es auch gerne bleiben (seit 2000) von Antje Schiffers und Thomas Sprenger werden in ihrer Beschränktheit für die Möglichkeit ihrer Wiedergabe von Welt aus ethnografischer und post-kolonialer Perspektive dekonstruiert (Kapitel 2.4.). Auf den geografischen ländlichen Raum als möglichen, aber marginalisierten Ort für künstlerische Projekte verweist die Bibliobox (seit 2005) der Künstlerinnengruppe Myvillages, welche Publikationen von Kunstprojekten mit Land(wirt)schaftsbezug versammelt, die auf die institutionellen Hintergründe ihres Vorkommens verweisen (Kapitel 2.5.). Und zuletzt reflektiert die Installation Von Milch und Menschen (2003) von Kristina Leko die aufgerufenen Differenzen von Kunst und Landwirtschaft durch eine ethische Praxis partizipativer Kunst im Rückgriff auf avantgardistische Vorstellungen und Praktiken einer Verbindung von Kunst und Leben (Kapitel 2.6.).
2. Landwirtschaft im Medium Kunst
2.1
Von den Dingen der Welt zur Welt der Dinge: Machines, Łukasz Skąpski (2006)
Der polnische Künstler Łukasz Skąpski (*1958) interessiert sich für Dinge, die Menschen entweder in Ermangelung von Angeboten oder aufgrund eines fehlenden Zugangs für ihre individuellen Bedürfnisse selber herstellen. Mit dem Fokus auf diese Do-It-Yourself-Kultur (DIY-Kultur) beschäftigt er sich in seinen Werken seit 2000 unter anderem mit selbstgebauten Hausbooten in den Niederlanden, besonderen Erfindungen für das herausfordernde Leben in New York, individualisierten Wohnzimmern im ländlichen Polen und nicht zuletzt selbstgebauten Traktoren polnischer Bauern, um die es hier vornehmlich gehen soll.5 Die in Eigenregie entstandenen Objekte und ihre Produzent_innen dokumentiert er in Film und Fotografie, meist im Format typologischer Serien. Das heißt, die klassifizierten Dinge werden nach einem Schema abgebildet, das sowohl das jeweilige Artefakt durch eine Vielzahl von Beispielen markiert, mit der schematischen Aufzählung aber auch Vergleiche ermöglicht. Dieses Vorgehen rückt das Werk in die Nähe von Positionen der Konzeptkunst der 1960er- und 1970er-Jahre, die sich teils auf dokumentarische Strömungen der 1920er-Jahre, wie der Fotografie der ›Neuen Sachlichkeit‹, bezogen haben. Diese Verbindung ruft auch Skąpskis Arbeit Machines auf. Einerseits nutzt der Künstler die dokumentarischen Mittel Film und Fotografie, um ein gesellschaftlich eher unbekanntes Phänomen zu beschreiben. Andererseits eröffnet die Arbeit in ihren verschiedenen Perspektiven auch die Möglichkeit, die Wiedergabe von Realität in politischen, aber auch kunstgeschichtlichen Setzungen zu reflektieren. Die Arbeiten zum Projekt Machines gehen zurück auf eine Reise, die Skąpski bereits 1982 gemacht hat und bei der er in einem Dorf im südlichen Polen in der Region Podhale nahe Zakopane einen selbstgebauten Traktor entdeckte. 2005 begann er, die, wie sich herausstellte, verbreitete Methode des Eigenbaus von Traktoren in diesem Landstrich mit Fotografie und Film zu dokumentieren. Skąpski erklärt das Phänomen des Eigenbaus damit, dass viele polnische Bauern mit ihren kleinen landwirtschaftlichen Betrieben nicht in den kollektiven Großbetrieben des sozialistischen Systems aufgehen wollten. Sie behielten ihren Besitz, hatten jedoch in der Folge keinen Zugriff auf
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Einen Überblick über die Projekte erhält man auf der Internetseite des Künstlers: skapski.art.pl.
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Abb. 12: Łukasz Skąpski, Machines, 2006, C-Print, Maße variabel
Landmaschinen, da deren Erwerb den Großbetrieben vorbehalten war. In Eigenarbeit wurden diese daher aus Teilen unterschiedlichster Fahrzeuge und Geräte zusammengebaut. Jedes Fahrzeug ein Unikat, das unter dem Begriff ›Sam-Tractor‹ aber offiziell behördlich registriert wurde.6 Diese Traktoren, ihre Besitzer_innen und Produzent_innen zeigt Skąpski in der Arbeit Machines. Das gesamte Projekt besteht aus ca. 150 Farbfotografien sowie drei Videofilmen. Nicht alle Teile der Arbeit müssen zwangsläufig zusammen ausgestellt werden, mal sind in Ausstellungen zwischen einem und drei Filme zu sehen,
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Vgl. Ausführungen Skąpskis zum Projekt Machines, ebd.
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einmal mit und einmal ohne die Fotografien, in mindestens einer Präsentation war auch eine der Maschinen selbst ausgestellt.7
Abb. 13: Łukasz Skąpski, Machines, 2006, C-Print, Maße variabel, Ausschnitt
Beim fotografischen Teil der Arbeit ist Skąpski streng um Vergleichbarkeit bei der Dokumentation bemüht. Die Fotografien (in variablen Maßen von 15 x 15 cm bis 30 x 30 cm) zeigen die Maschinen formatfüllend leicht von rechts oder links, sodass sowohl das Fahrzeug als auch die Bäuerin oder der Bauer im klassischen Viertel-Porträt auf der Maschine sitzend zu sehen sind.
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Als Ausnahme ist die Ausstellung Das Dorf, Kunsthaus Langenthal/CH, 2010 zu nennen, wo neben den Fotografien auch eine Originalmaschine zu sehen war.
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Im Hintergrund deuten sich Ländereien, Häuser und Scheunen der landwirtschaftlichen Betriebe an und geben einen oberflächlichen Eindruck von der Gegend und den Verhältnissen der Landwirte. In Ausstellungen werden die Fotografien als Tableau angeordnet gezeigt oder seltener als Diashow vorgeführt. Mit 150 fotografierten ›Sam-Traktoren‹ erscheinen die Maschinen als ein durchaus bedeutendes Phänomen. In den Filmen kommen die Bäuerinnen und Bauern, die meist auch die Erfinder_innen und Produzent_innen der Maschinen sind, zu Wort. Im Video Machines – Part 1: Drivers beschreiben sie in kurzen Sätzen, meist vor oder neben ihrem selbstgebauten Traktor stehend, seit wann sie das Gefährt besitzen, welche Maschinenteile verwendet wurden und welche Arbeitsleistung es hat. Man erfährt zum Beispiel, dass häufig die verbauten Motoren zu stark sind, das heißt eigentlich zu schnell für die Arbeit von Traktoren, die eher langsam und beschwerlich ist. Immer wieder ist von großer Zufriedenheit zu hören, wenn die Bauern über Lebensdauer und Arbeitsleistung der Fahrzeuge berichten. Im Video Machines – Part II: Constructors and Raconteurs werden die bisher eher zurückhaltenden Bäuerinnen und Bauern zu redseligen Erzähler_innen der Geschichten rund um ihre Arbeitsfahrzeuge. Weniger die Daten der Maschinen, wie im ersten Teil des Projekts, werden hier erläutert, als vielmehr ihre Handhabbarkeit. Auch dabei wird die persönliche Zufriedenheit im Arbeitsalltag mit den Maschinen betont. Im dritten Video, Machines – Part 3: Ride, sieht man den Künstler selbst bei einer Probefahrt auf einem ›Sam-Tractor‹.8 Sein Engagement liest sich als spielerische Teilhabe, aber auch als persönliche Involviertheit in das Projekt.
Die typologische Serie als konzeptuelle Strategie Für Machines hat Skąpski, wie auch für etliche andere seiner Arbeiten, das Format der typologischen Serie gewählt. Das heißt, die Traktoren, um die
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Dominik Kuryłek spricht von einem »regional costume«, das Skąpski trägt, womit er das für Bauern obligatorische Tragen eines Base-caps meint. Dominik Kuryłek, Those Magnificent Men in Their Chugging Machines. On the Work of Łukasz Skąpski, skapski.art.pl, Zugriff 27.07.2017.
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es hier geht, werden in einer Vielzahl auf vergleichende Weise vorgestellt.9 Man könnte mit Blick auf die gesamte Arbeit sagen, dass insbesondere die Fotografien dazu dienen, bei den Betrachter_innen das Phänomen als solches einzuführen, es zu manifestieren, es interessant zu machen. Das unterstützt beim Projekt Machines auch das Video Machines – Part 1: Drivers, hier folgen die Bäuerinnen und Bauern im Gespräch offenbar einem standardisierten Fragenkatalog, während die Aufnahmen in den zwei weiteren Filmen weniger systematisch gemacht sind. Kunstgeschichtliche Verbindungen drängen sich aufgrund der vergleichenden Anordnungen, insbesondere zum Werk von Bernd und Hilla Becher, auf.10 Dieser Vergleich wird auch von Skąpski selbst in seiner Dissertation von 2006 »Seria i typologia jako metoda w sztuce« (Serie und Typologisierung als Methode in der Kunst) gezogen. Bernd und Hilla Becher begannen als Künstlerpaar ab den 1960er-Jahren Industriearchitektur zu dokumentieren, was sie vornehmlich in Deutschland und den USA taten. Ihre umfangreichen Sammlungen und Typologisierungen von Wassertürmen, Fördertürmen oder Arbeiterhäusern entlang des Themas Industriearchitektur sind zu Ikonen der dokumentarischen Fotografie geworden, die heute in zahlreichen Museumssammlungen vertreten sind.11 Besonders die sogenannten Abwicklungen der Bechers, fotografische Anordnungen, die je sechs, neun, zwölf oder mehr Bilder einer architektonischen Kategorie versammeln, legen den Vergleich mit Skąpskis zum Tableau angeordneten Machines nahe. Beides sind Sammlungen derselben Spezies, desselben Typs. Beide Werke bewahren, was zu verschwinden droht – einmal die Industriearchitektur Deutschlands und der USA aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und einmal die Selfmade-Traktoren der unabhängigen Bauern in Südpolen, entstanden seit den 1960er-Jahren. Auch die Stimmen der Künstler_innen zu ihrem Werk ähneln sich, wenn sie über ihre bewahrenden Intentionen sprechen: Skąpski spricht von einem Unsterblichmachen der Machines, wenn er erklärt: »I simply wan-
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Eine ähnliche Serie hat Skąpski von dreirädrigen Arbeitsmaschinen unter dem Titel Machines – Podkarpacie (2007) erstellt. Auch andere Werke der 1960er- und 1970er-Jahre, wie das von Ed Ruscha und Hans Peter Feldmann, ließen sich hier nennen, jedoch scheint Bernd und Hilla Bechers Werk vor allem durch den Bezug zur Arbeitskultur besonders nah zu sein. Einer der frühen Kataloge trug den Begriff der Typologie im Titel, der sich fortan als Bezeichnung durchsetzte: Bernhard und Hilla Becher, Anonyme Skulpturen: eine Typologie technischer Bauten, Düsseldorf 1970.
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ted to immortalize those unbelievable machines in photographs«12 während es bei den Bechers heißt: »Man muss sich beeilen, alles verschwindet …«.13
Abb. 14: Bernd und Hilla Becher, Getreidesilos, 1978-2000, Sibergelatineabzug
Das Werk der Bechers wird häufig im Zusammenhang mit der Neuen Sachlichkeit der 1920er-Jahre diskutiert, was im Rekurs auch im Zusammenhang mit Skąpskis Arbeit interessant ist.14 Der Blick des Künstlerpaars zeigt 12 13 14
Łukasz Skąpski, Seria i typologia jako metoda w sztuce, PhD dissertation, Academy of Fine Arts in Poznan, 2005, skapski.art.pl, Zugriff 27.07.2017. Der Film Man muss sich beeilen, alles verschwindet …: die Fotografen Bernd und Hilla Becher, Regie: Marianne Kapfer, 2006, ist nach diesem Zitat benannt. Den Begriff der Neuen Sachlichkeit, den G. F. Hartlaub, der Direktor der Mannheimer Kunsthalle, ursprünglich für eine Malerei- Ausstellung prägte, entwickelte sich zu ei-
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sich beeinflusst vom Interesse des Neuen Sehens, das die dinglichen Ausformungen, die Produkte und Architekturen seiner Zeit in den Fokus rückte.15 Die von dem Architekten Erich Mendelsohn bezeichnete, »aus nackter Zweckform (entstandene) abstrakte Schönheit«, die er vor allem in den industriellen Großbauten der Landwirtschaft, etwa den amerikanischen Getreidesilos, sah, führte zu einer Begeisterung, die jegliche hinter den Architekturen stehende gesellschaftliche Entwicklungen in den Hintergrund drängte oder ignorierte.16 So auch die Fotografien Albert Renger-Patzschs oder Peter Keetmans, die das Formschöne in den industriellen Produktionen und ihren hervorgebrachten Waren als Paradigma der Fotografie der Neuen Sachlichkeit etablierten und deren Objekte sie losgelöst von ihren Entstehungshintergründen abbildeten. Walter Benjamin äußerte sich gegenüber dem bahnbrechenden Buch von Albert Renger-Patzsch Die Welt ist schön (1928) äußerst negativ und verwies auf die Realitätsferne solcher Art von Fotografie. In der Kleinen Geschichte der Photographie schreibt er 1931 über die Arbeit Albert Renger-Patzschs: [In ihr] entlarvt sich die Haltung einer Fotografie, die jede Konservenbüchse ins All montieren, aber nicht einen der menschlichen Zusammenhänge fassen kann, in denen sie auftritt, und die damit noch in ihren traumverlorensten Sujets mehr ein Vorläufer von deren Verkäuflichkeit als von deren Erkenntnis ist.17 Und weiter zitiert er Bertolt Brecht, der bezüglich der Fotografie eines Industriegebäudes des Architekten Peter Behrens 1931 schreibt:
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nem Begriff einer Tatsachen bezogenen Fotografie, die sich vornehmlich den Gegenständen und Dingen widmete. Sie ist auch dem Neuen Bauen, der Neuen Typologie, dem Neuen Sehen verbunden. Schlagworte, die dazu dienten, das Ziel des Aufbaus einer neuen Welt nach dem Krieg zu definieren. Vgl. auch Herbert Molderings, »Albert Renger-Patzsch — Reflexionen und Reminiszenzen«, in: Die Moderne der Fotografie, Hamburg 2008, S. 411, sowie Herbert Molderings, »Fotografie der Weimarer Republik«, ebd., S. 200. Die Faszination an Industriearchitektur hatte die industriellen Großbauten der Landwirtschaft, interessanterweise auch die Getreidesilos in den USA, in den 1920er-Jahren zu beliebten Objekten der Neuen Sachlichkeit und Vorbildern des Neuen Bauens gemacht. Vgl. auch Herbert Molderings, »Amerikanismus und Neue Sachlichkeit in der deutschen Fotografie der zwanziger Jahre«, in: Die Moderne der Fotografie, Hamburg 2008, S. 71-89. Ebd., S. 88. Walter Benjamin, »Kleine Geschichte der Photographie«, in: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 1963, S. 62.
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Die Lage wird dadurch kompliziert, dass weniger denn je eine einfache Wiedergabe der Realität etwas über die Realität aussagt. Eine Fotografie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also tatsächlich »etwas aufzubauen«, etwas »Künstliches«, etwas »Gestelltes«.18 Brecht verweist hier auf die Schwierigkeit der Fotografie, ihrem Ruf gerecht zu werden, Realität – das heißt für ihn »menschliche Beziehungen« – wiedergeben oder vermitteln zu können. Nur in einer Ergänzung des »Künstlichen« und »Gestellten« sieht er diese Möglichkeit, die Benjamin wiederum in der Schrift, im schriftlichen Zusatz sieht.19 Diese Kritik Benjamins und Brechts erinnert stark an einen Text des Kunsthistorikers Benjamin Buchloh, etliche Jahrzehnte später verfasst.20 Er bespricht dort, im Verhältnis zum Werk von Allan Sekula, fotografische Konzeptkunst der 1960er- und 1970er-Jahre, insbesondere von Bernd und Hilla Becher, Dan Graham und Edward Ruscha. Ruschas Künstlerbücher von Tankstellen (Twentysix Gasoline Stations, 1963) und Parkplätzen (Thirty-four Parking Lots, 1967) wurden allgemein mit ihren distanzierten Sammlungen alltagswichtiger, jedoch ästhetisch peripherer Orte als Vorreiter einer Neusichtung der Welt im Sinne der New Topographics verstanden.21 Buchloh hingegen betrachtet sie eher als formal-ästhetische Untersuchungen, die sich dementsprechend explizit beliebigen und banalen Orten ihrer Zeit zuwenden. Eine soziale Funktion der Kunst, ein gesellschaftliches Interesse lasse sich an diesen die Welt dokumentierenden Bildern kaum aus-
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Ebd., S. 62f. Vgl. ebd., S. 64. Benjamin H. D. Buchloh, »Allan Sekula: Fotografie zwischen Diskurs und Dokument«, in: Semannsgarn. Allan Sekula, Düsseldorf 2002. William Jenkins, der Kurator der Ausstellung The New Topographics (1975), bringt dafür an: »Die Bilder waren frei von künstlerischem Schnickschnack und auf ihre wesentliche topographische Natur reduziert. Sie vermittelten eine beträchtliche Vielfalt an visuellen Informationen, vermieden aber vollständige Aspekte von Schönheit, Emotion und Stellungnahme. Unbeachtet des Inhalts wurde der Anschein von Neutralität strikt eingehalten. […] seine Bedeutung als Vorreiter des aktuellen Projekts ist offensichtlich.« William Jenkins, »Einleitung aus dem Katalog New Topographics von 1975«, in: The New Topographics. Texte und Rezeption, Ausst.-Kat. Landesgalerie Linz und Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, 2010/11, S. 9/10.
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machen.22 Buchloh beschreibt, warum die akribischen Aufnahmen von Industriearchitektur der Bechers, aber auch etwa Dan Grahams Fotografien von Vorstadthäusern mit ihrem, wie er es bezeichnet »Ready-Made-Bezug«, kaum soziale Realität darstellen können.23 Nach ihm erscheint sie: […] hier eben immer als völlig partikular, als vereinzelt und anomisch, und als solche kann sie auch nicht in narrativer oder totalisierender Struktur dargestellt werden […]. Damit bleiben diese Praktiken unvermeidbar gegenüber einer kritischen sozial-ökonomischen und einer politischen Reflexion verschlossen, wie sie ebenso für den Wahrheitsanspruch eines Aufklärungsprojekts wie dem der Dokumentarfotografie unzugänglich bleiben.24 Damit spricht er den genannten typologischen Praktiken nicht nur soziale und politische Reflexionsmöglichkeit ab, sondern ganz generell ihre an die dokumentarische Erscheinung geknüpften vermeintlichen aufklärerischen Möglichkeiten. Er macht deutlich, dass der soziale Hintergrund dieser Monumente der Moderne sich auf diesem Wege nicht erschließen lässt. Sein Einwand erhebt sich […] insbesondere gegen die Überzeugung, dass, um Einlaß [sic!] in die ästhetischen Ordnungen unserer Nachkriegskunst und den Kanon moderner Visualität zu finden, eine fotografisch-künstlerische Arbeit zwar die monumentalen Konstrukte, die zentralen Orte und Praktiken industrieller Arbeit dokumentieren könnte, dies aber nur um den Preis einer völligen Ausklammerung der Subjekte dieser Produktion aus der historischen Darstellung selbst [möglich sei].25 Buchloh beschreibt, dass es mit der Abbildung von Dingen der Welt nicht auch automatisch um die dahinterstehende Arbeitskultur und damit um Darstellungen mit sozialhistorischem Hintergrund geht (im Übrigen nichts, was von den Bechers ausgesprochen anvisiert worden wäre). Im Gegenteil: Ganz 22
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Buchloh erwähnt in diesem Zusammenhang die Arbeit Twenty Nine Arrests, eine die Eingriffe von Polizisten während einer Demonstration dokumentierende Zusammenstellung von Fred Lonidier aus den frühen 1970er-Jahren als eine Parodie auf die als unpolitisch angesehenen Setzungen Ed Ruschas. Benjamin H. D. Buchloh, »Allan Sekula: Fotografie zwischen Diskurs und Dokument«, in: Semannsgarn. Allan Sekula, Düsseldorf 2002, S. 197. Ebd. Ebd. Ebd., S. 195.
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richtig stellt er fest, dass die formale Wirkung bei den genannten Werken immer im Vordergrund bleibt. So bietet diese Art der fotografischen Annäherung vielmehr Anlass, ganz grundsätzlich über die Möglichkeiten von Fotografie und ihrer Wirklichkeitsbestimmungen zu reflektieren, als dies in Bezug auf den ganz konkreten Inhalt zu tun. Denn wenngleich etwa die Fotografien der Bechers vorgeben, durch eine wissenschaftlich anmutende Fotografie eine empirische Untersuchung zu leisten (und dies in gewisser Weise auch tun), so handelt es sich doch um ein vollkommen subjektiv zusammengestelltes Archiv.26 Diese Form des (scheinbaren) Wissens verweist hier ausschließlich auf Fragen der Ästhetik.27
Die typologische Sammlung als Versammlung Vor dieser Folie einer gemeinsamen Kritik der Konzeptkunst und der Neuen Sachlichkeit betrachtet, die sich vereint gegen die soziale Leere des Formalismus ausspricht, ist es nun erstaunlich, dass Skąpski die Machines als typologische Sammlung präsentiert, da er doch ganz offensichtlich auf die Darstellung eines gesellschaftlichen Phänomens abzielt. Dies gelingt ihm jedoch, indem er die von Brecht vermissten »menschlichen Beziehungen« aufzeigt, die einen deutlichen gesellschaftlichen Zusammenhang herstellen. So werden die Machines nämlich nicht, wie bei den Bechers die Architektur, begrenzt auf ihre Konstrukte gezeigt. Diese dominieren zwar den Titel, dienen aber in erster Linie dazu, durch die Produziertheit der Dinge auf den Hintergrund ihrer Herstellung zu verweisen: auf die Subjekte hinter den Objekten und damit auch auf die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, die die Entstehung der ›Sam-Traktoren‹ bedingt haben. Gezeigt werden
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SZum Beispiel geht es bei dem immensen Katalog industrieller Strukturen von Bernd und Hilla Becher nicht um die Strukturen selbst, obwohl dieser Katalog als ein höchst wertvolles dokumentarisches Archiv fungieren könnte – vielmehr geht es um Fragen der Ästhetik.« Gerry Badger, »Die Kunst die sich verbirgt. Anmerkungen zum stillen Wesen der Fotografie«, in: How you look at it, Ausst.-Kat., Sprengel Museum, Hannover 2000, S. 76. Das wird ganz besonders in den ›Vergleichenden Gegenüberstellungen‹ deutlich, fotografischen Tableaux, die Bauten ganz unterschiedlicher Funktion in Frontalansicht zeigen. Durch die Einebnung der unterschiedlichen Größenverhältnisse in der Fotografie werden die Bauten gänzlich auf ihre Formsprache reduziert.
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so denn nicht die Maschinen allein, sondern zusammen mit ihren Fahrer_innen respektive Produzent_innen. Die Aufnahmen werden hier zu Porträts der Produzent_innen. Dazu tragen maßgeblich auch die Videos bei, die die Fotografien um die Perspektiven und die Aussagen der Bäuerinnen und Bauern erweitern. Bei Verwendung der gleichen dokumentarischen Vorgehensweise wie die Bechers verschiebt Skąpski den Fokus vom Sujet auf die dafür verantwortlichen Subjekte und ihre Verbindung zu den ›Sam-Traktoren‹. Dafür nutzt er auch den versammelnden Aspekt der typologischen Serie. Während die Gruppierungen der Bechers vor allem zur Vergleichbarkeit anregen, erzeugt die Gruppierung der in Realität singulär agierenden Bäuerinnen und Bauern einen gesellschaftlichen Zusammenhang.28 Im typologischen Zusammenschluss erscheinen die Menschen hinter den Maschinen in ihrer formalen Verbindung zueinander als eine solidarische Gemeinschaft. Skąpski präsentiert die Bäuerinnen und Bauern als eine Gruppe, die durch ein den staatlichen Vorstellungen nicht entsprechendes Vorgehen ihre oppositionelle Haltung zum System ausdrückt.29 In seiner Dissertation beschreibt er in der Differenzierung seines Werks zu dem der Bechers sein Interesse an ebendiesem gegengesellschaftlichen Aspekt. Dafür richtet er den Blick auf die jeweiligen ökonomischen Systeme als Voraussetzung für die Entstehung der Objekte und Prägung der Subjekte, die er fotografiert. Dazu erklärt er: The Bechers‹ work is saturated perhaps not with affirmation but with a kind of fascination with the passing world of old buildings and industrial installations that constitute a relic of the period of the expansion of capitalism, which was the foundation of contemporary corporate system. My interest in
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Christian Janecke verweist auf die Übergänge von visueller Soziologie und dem von ihm als ›Sammeln‹ bezeichneten seriellen Arbeiten mit Fotografie, die er als »Feldforschung auf ästhetischem Terrain« ausmacht. Christian Janecke, »Soziologische Kunst. Transformation und Sublimierung sozialen und politischen Engagements«, in: Hans Zitko, Kunst und Gesellschaft. Beiträge zu einem komplexen Verhältnis, Heidelberg 2000, S. 69-108, S. 91-93. Einschränkend muss hier gesagt werden, dass es etwa in der DDR auch Fotografien gab, die aufgrund ihrer Verbildlichung von etwas »Typischem« mit den Grundsätzen der sozialistischen Ästhetik übereinstimmten und so auch als künstlerische Fotografien anerkannt waren, worauf Agneta Jilek bezüglich der auch soziologisch interessanten Familienportraits des Künstlers Christian Borchert hinweist, vgl. www.zeithistorische-forschungen.de.
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the individual production of Polish farmers, however, was stimulated by its, as I believe, anti-corporate character.30 Skąpski argumentiert hier nicht formal, sondern inhaltlich – einerseits Sujets zu dokumentieren, die Teil eines bestehenden ökonomischen Systems sind, dessen auf vergangenen Fortschritt ausgerichtete Relikte sie darstellen und dessen Geschichte sie damit auch fortschreiben (Industriearchitektur), und andererseits solchen, die als Gegenreaktion zu einer politisch-ökonomischen Situation und aus rein individuellen Bedürfnissen heraus entstanden sind (›Sam-Traktoren‹) und sich doch in ihrer Gesamtheit auch als gesellschaftspolitische Gegenbewegung betrachten lassen. Skąpski sieht in der Position der Bechers inhaltlich betrachtet eine dem politischen System entspringende Darstellung, welche sich zum Zeitpunkt ihrer Aufnahmen lediglich im Wandel befindet. Bei den polnischen Bäuerinnen und Bauern hingegen hebt er vor allem den Widerstand gegen das System hervor, den starken Willen zur Individualität und zur Freiheit, den er, bevor er durch die Öffnung zum Kapitalismus verloren geht, in seinem Projekt festhalten will. Wenn die Bäuerinnen und Bauern äußerst zufrieden von ihrer selbst gewählten Arbeits- und Lebenssituation als Kleinbauern berichten, die sich in ihren Erzählungen über die ›Sam-Traktoren‹ spiegeln, dann erinnert das an die durchweg glücklich und zufrieden dargestellte Landarbeiterschaft im Sozialistischen Realismus. Und das, obwohl die Bäuerinnen und Bauern mit ihren Maschinen als Gegenentwurf einer sozialistisch organisierten Landwirtschaft erscheinen, da sie mit ihren individualisierten Lebensentwürfen der verstaatlichten, kollektiven Landwirtschaft entgegenstehen. Der landwirtschaftlichen Darstellungen eines vor allem aus dem Sozialistischen Realismus geprägten Bildes, das die Entstehungszeit der ›Sam-Traktoren‹ beherrschte, stellt Skąpski mit der typologisch geprägten Sammlung eine korrigierende Setzung entgegen. Dafür schafft er einen Zugang zum Dokumentarischen, in dem verschiedene Perspektiven auf die Funktionen und Einsätze des Dokumentarischen beleuchtet werden. Im Rekurs auf Foucaults Archäologie des Wissens beschreibt die Videokünstlerin Hito Steyerl zwei Möglichkeiten – die historische und die archäologische –, um mit einem Dokument zu verfahren.31 Die historische Methode überprüft das Dokument auf seinen Wahrheitsgehalt und verweist
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Łukasz Skąpski, Seria i typologia jako metoda w sztuce, PhD dissertation, Academy of Fine Arts in Poznan, 2005. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981.
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auf den vergangenen Moment, dessen Spur es transportiert. Die archäologische Methode wiederum untersucht nicht das Dokument selbst, sondern versteht es als Teil einer Ordnung, in der es organisiert ist: Geschichte versus Archäologie. Die erste Methode nimmt das Dokument als negativen Abdruck eines für immer verlorenen Ereignisses wahr, während die zweite das Dokument als Baustein positiver Wissensarchitekturen begreift.32 Skąpski platziert das Sujet aus der Welt in der Kunstwelt im Modus beider von Steyerl dokumentierten Verfahren. Einerseits wird deutlich, dass es sich in den Fotografien und Filmen um das Festhalten eines (bald) vergangenen Sujets handelt, das bedingt durch die politischen Veränderungen des Landes verschwinden wird. Andererseits verweist Skąpski mit den Dokumenten auch auf die Verfasstheit ihrer Systeme: das Politische und das Kunsthistorische.
›Sam-Traktor‹-Bauern und ›Soc(ialist)-Art‹ Künstler Letzteres geschieht nicht nur durch die kunsthistorischen Bezüge, die er durch das typologische Format und den objektbezogenen Inhalt herstellt, sondern auch, indem er sich als Künstler in die Arbeit einschreibt. Im dritten Film des Projekts, Machines – Part 3: Ride, sieht man ihn selbst einen der ›Sam-Traktoren‹ fahren. Im ausstellungsbegleitenden Text zu Skąpskis Präsentation der Arbeit 2006 in der Potocka Galerie, Krakau, verweist der Kunsthistoriker Dominik Kuryłek mit Blick auf den Film Machines – Part 3: Ride auf die Ähnlichkeit der oppositionellen Kunstszene im Polen der 1970er-Jahre, die sogenannte ›Soc(ialist)-Art‹, die sich in Abkehr zu den an die Moderne anknüpfenden künstlerischen Strömungen der 1950er-Jahre entwickelte, mit den oppositionellen Bauern in Südpolen: The comparative analysis conducted between the artistic milieu of the 1970s and the environment of innovators from Podhale brings astonishing conclusions, as the two groups end up being extremely similar. The activity of the mechanics, opposing the official industrial production, is a contribution to alternative history and Polish private production. […] The »soc-mechanics« would deconstruct the mechanisms appropriated by those powers, not un-
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Hito Steyerl, »Paläste der Erinnerung. Dokumente und Monumente – Politik des Archivs«, in: Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld, Wien 2008, S. 25.
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like the »soc-artists«. While artists attempted to redefine public discourse, the mechanics would dispute the state-owned motor industry.33 Damit beschreibt Kuryłek Skąpskis Arbeit als kritische Annäherung an die Konformität des sozialistischen Systems, das keine individuellen Entwicklungen vorsah – weder für Künstler_innen, die die Diskurse der Kunst neu beleben wollten, noch für Bäuerinnen und Bauern, die ihr eigenes Land bestellen wollten. In Machines sieht er zudem dezidiert eine Kritik am Projekt Moderne ausgedrückt: However practical, the construction of machines is at the same time the expression of the original need for individual creation. In this sense, the Machines provide criticism of the modernist project that failed to account for individual needs. In the Poland of the 1970s, this project found its expression in the mass production of machines to be inhabited – residential concrete jungles built of prefabricated blocks, as a rule designed as sleeping quarters for workers employed in the state’s heavy industry.34 Nach Kuryłek richtet sich Skąpskis Kritik damit über die in der Geschichte und dem kollektiven Bewusstsein ausgeblendeten Menschen und ihrer individuellen Wünsche und Nöte innerhalb der modernen Systeme auch auf den eingeschränkten Kanon einer sozialistischen Moderne. So stehen die Fotografien der Machines auch als Dokumente eines Phänomens sozialistischen Lebens, dessen Fehlen in der Geschichtsschreibung Polens der Künstler hier moniert. Darüber hinaus rückt in Ride, durch seine eigene Rolle als Künstler, der sich an das Steuer eines der ›Sam-Traktoren‹ setzt, auch die Unsichtbarkeit oppositioneller künstlerischer Bewegungen in der Darstellung der polnischen Kunst nach 1950 in den Blick.
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»The author’s exegesis presenting the work on The Machines enters the stream of historical discourse related to art that is currently most popular. It brings to mind productions of Poland in the 1970s, a period when unorthodox artistic pursuits going beyond the strict canon were absent from official descriptions of a variety of artes (ancient Greek for ›skills‹) as hardly spectacular, obscure or simply politically incorrect.«,vergl. Dominik Kuryłek, Those Magnificent Men in Their Chugging Machines. On the Work of Łukasz Skąpski, skapski.art.pl, Zugriff 20.06.2017. Wenn Kuryłek von »vorgefertigten Blöcken« (prefabricated blocks) spricht, so meint er Häuserblocks, die als einfache Unterkünfte für Arbeiter in Polen in den 1970er-Jahren standardisiert gebaut wurden. Für das Projekt Grey Cube hat Skąpski 70 solcher Häuser, ähnlich den ›Sam-Traktoren‹, als Serie dokumentiert. Ebd.
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Mit der gemeinsamen Sichtbarmachung dieser Phänomene lässt uns Skąpski als Betrachter_innen vor allem die Bedingungen ihrer Unsichtbarkeit reflektieren. Dabei nutzt er die typologische Sammlung und filmische Verfahren in ihrem Einsatz als dokumentierende und archivierende Methoden, die auch in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen angewendet werden. Insofern ist Machines eine ›Dokumentalität‹ inhärent, die Hito Steyerl wie folgt beschreibt: Dokumentalität beschreibt […] die Durchdringung dokumentarischer Bildregimes mit übergeordneten politischen, sozialen und epistemologischen Formationen und Verfahren der Wahrheitsproduktion. Sie beschreibt die Komplizenschaft mit herrschenden Formen einer Politik der Wahrheit ebenso, wie sie eine kritische Haltung gegenüber diesen Formen beschreiben kann, und funktioniert somit als gouvernementales Scharnier zwischen Macht und Subjektisierung.35 Steyerls Perspektive ergänzend, weist die Kunstwissenschaftlerin Karen Fromm auf die offengelegte Konstruiertheit angewandter dokumentarischer Strategien heute: Über die notwendige Verstrickung dokumentarischer Formen in Strategien der Macht konfrontieren sie zwangsläufig mit den Abgrenzungen und Überlagerungen von Kunst, Theorie und Politik. Denkbar wird eine Form künstlerischer Dokumentalität, bei der sich das Dokumentarische und ein SichErkennen-Geben als mediale Konstruktion von Wirklichkeit nicht ausschließen.36 Skąpski macht in seinen typologischen Sammlungen diese Dokumentalität sichtbar. Er wirft mit Machines nicht die Frage einer möglichen Repräsentation durch Bilder auf, sondern verweist vielmehr darauf, dass Repräsentationen bedingt durch ihre Systeme zu begreifen sind. Dort entscheidet sich, welche Repräsentationen legitimiert werden und so auch Eingang in eine Geschichtserzählung finden. Seine Typologisierung, die er anhand der Machines vornimmt, dient damit der Ergänzung oder gar Revision von polnischer (Kunst-)geschichte, die er von ideologischen Interessen beeinflusst zeigt: Indem er mit der Geschichte der Machines und ihrer oppositionell agierenden 35 36
Ebd., S. 93. Karen Fromm, Das Bild als Zeuge. Inszenierungen des Dokumentarischen in der künstlerischen Fotografie seit 1980, Berlin 2013, S. 27.
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Produzent_innen eine Kehrseite der Landwirtschaft im Sozialismus visualisiert, verweist Skąpskis Arbeit auch auf die Marginalisierung von nicht-systemkonformen Bewegungen in der Kunst. Über die formale Anleihe an die Konzepte der 1960er- und 1970er-Jahre bietet das Thema Landwirtschaft hier in seiner dokumentarischen Rhetorik den Anlass für eine Befragung der möglichen Bedingungen und Hintergründe, vor denen landwirtschaftliche ebenso wie künstlerische Phänomene Eingang in eine kanonische Erzählung erhalten.
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2.2
Epistemologien des Archivs: Aus der Perspektive der Kartoffel auf Kenntnisse in der Pflanzenzucht von Åsa Sonjasdotter, 2012
Im Gegensatz zu künstlerischen Werken, in denen formal Anleihen an das Dokumentarische und das Archivarische gemacht werden, wird im nun vorgestellten Werk tatsächliches Archivmaterial verwendet. Aus der Perspektive der Kartoffel auf Kenntnisse in der Pflanzenzucht der schwedischen Künstlerin Åsa Sonjasdotter (*1966) ist eine raumgreifende Installation, die sich einreiht in eine Vielzahl von Projekten, die sich von ganz unterschiedlichen Blickwinkeln aus mit der Kartoffel beschäftigen.37 Angeregt durch den Besuch einer landwirtschaftlichen Kooperative in Indien und deren konsequenter ökologischer Arbeit auch gegen die Vorgaben der Landwirtschaftsbehörde, verfolgt Åsa Sonjasdotter seit 2004 Fragen von »Widerstand und Wissen« am Beispiel der Kartoffel unter dem Projektnamen A Potato Perspective.38 Regionalspezifische Verbreitung und Nutzung der Kartoffel bietet den Anlass für die Betrachtung der jeweiligen politischen Hintergründe verschiedener Fallbeispiele, ob zur Französischen Revolution, in der Geschichte der USA oder, wie beim vorliegenden Beispiel, im Sozialismus der DDR.39 Die Arbeit Aus der Perspektive der Kartoffel auf Kenntnisse in der Pflanzenzucht (2012) nähert sich einem existierenden Archiv. Es handelt sich um das einzige Pflanzenzuchtarchiv der DDR, das in Groß Lüsewitz (MecklenburgVorpommern), dem ehemaligen Forschungsstandort, vom dortigen Kulturverein ehrenamtlich verwaltet wird. Groß Lüsewitz war der wohl wichtigste Ort für die Entwicklung und Erforschung von Zuchtpflanzen für die Landwirtschaft der DDR und gleichzeitig, als Ort der Erforschung des Lebens auf dem Land unter sozialistischer Regierung, ein sozialistisches Vorzeigedorf. Bis heute ist Groß Lüsewitz ein wichtiger Standort für die Entwicklung landwirtschaftlicher Nutzpflanzen in Deutschland.40 Als Vorzeigedorf der 37 38 39 40
Das Projekt wird seit 2013 zusammen mit Elske Rosenfeld unter dem Titel Adretta – on Memory as Practice, Potato Breeding, and a Socialist Model Village in the GDR weiterverfolgt. Siehe Einführung in das Projekt unter www.potatoperspective.org, Zugriff 19.12.2017. Unter www.potatoperspective.org sind viele der hier erwähnten Arbeiten mit Bildern vorgestellt. Ansässig sind heute das Julius-Kühn-Institut, Institut für Züchtungsforschung an landwirtschaftlichen Kulturen, sowie das Unternehmen Norika, die beide hervorgegangen sind aus dem ehemaligen Pflanzenzuchtinstitut. Siehe auch Einführung zur ausstellungsbegleitenden Broschüre Aus der Perspektive der Kartoffel auf Kenntnisse in der
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DDR wurden in Groß Lüsewitz alle verschiedenen Arbeitsbereiche – von der Forschung bis zur Kinderbetreuung – von Fotograf_innen dokumentiert.41 Diese Fotografien, genauer die Kontaktabzüge dieser Fotografien, rein zweckmäßig und platzsparend auf gelbliche Archivbögen aus Karton geklebt und in Aktenordnern versammelt, bilden ein Archivmaterial, das sowohl inhaltlich als auch äußerlich durch große Heterogenität auffällt.42 So variieren die Formate der Kontaktabzüge selbst stark. Entsprechend gibt es Archivbögen, auf denen nur ein einzelnes Bild zu sehen ist, und solche, bei denen sich die vielen aufgeklebten Kontaktabzüge sogar überlappen. Darüber hinaus finden sich Bögen, auf denen die Kontaktabzugreihen im Quer- und Hochformat in die gleiche Richtung geklebt sind, und solche, wo einzelne Reihen verkehrt herum zu den restlichen Bildern des Blattes zu sehen sind. Vermutlich chronologisch sortiert, zeigen sie Einzel- und Gruppenporträts von Menschen bei der Arbeit neben Aufnahmen von Politiker_innen beim Besuch und bei Sitzungen, wissenschaftliche Aufnahmen von Pflanzen und Pflanzenteilen im Labor und im Gewächshaus neben Aufnahmen von Maschinen im Lager und auf dem Feld. Für die Arbeit Aus der Perspektive der Kartoffel auf Kenntnisse in der Pflanzenzucht und ihre Präsentation in der Ausstellung Hungry City (Kunstraum Kreuzberg, 2012) hat Sonjasdotter eine Auswahl von ca. 90 Archivbögen getroffen. Diese sind auf Vitrinentischen angeordnet, die in drei Reihen den Raum füllen. Sie geben, mit einem ein- und einem ausleitenden Text versehen, den Besucher_innen eine Leserichtung vor, die sie von links nach rechts und von der Innenseite zur Außenseite des Raums führt.
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Pflanzenzucht und die besonderen Umstände, unter denen die Kartoffelsorte Adretta entstand, 2012. Einen Überblick über die Arbeit von Werksfotografen in den Betrieben der DDR sowie über Fragen des Erhalts der daraus hervorgegangenen Archive gibt der Text von Petra Clemens, »Betriebsgeschehen im VEB Forster Tuchfabriken – in Fotos und beim Fotografieren«, in: Karin Hartewig, Alf Lüdtke (Hg.), Die DDR im Bild. Zum Gebrauch der Fotografie im anderen deutschen Staat, Göttingen 2004, S. 169-186. Interessant dazu auch »Der Bauer mit der Kamera«, ein Vortrag zu den Amateurfilmstudios der LPG Linum, 2008. Dass es erhalten ist, verdankt sich des Einsatzes eines ehemaligen Mitarbeiters des Pflanzenzuchtinstituts, der es vor der Zerstörung gerettet und dem Kulturverein übertragen hat. Vgl. ausstellungsbegleitende Broschüre Aus der Perspektive der Kartoffel auf Kenntnisse in der Pflanzenzucht und die besonderen Umstände, unter denen die Kartoffelsorte Adretta entstand, 2012.
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Abb. 15: Åsa Sonjasdotter, Aus der Perspektive der Kartoffel auf Kenntnisse in der Pflanzenzucht, 2012, Archivseite mit S/WKontaktfotografien
Der einleitende Text erläutert die Entstehung des Pflanzenzuchtarchivs. Die Gründung 1948, bereits ein Jahr vor der Staatsgründung der DDR, zeigt die herausragende Bedeutung des Instituts für die geplante Industrialisierung der Landwirtschaft nach dem Vorbild der Sowjetunion. Auch die Schwierigkeiten, die mit der Neuausrichtung der Landwirtschaft einhergingen, werden verdeutlicht: Die bis dahin existierenden Kartoffelsorten eigneten sich
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Abb. 16: Åsa Sonjasdotter, Aus der Perspektive der Kartoffel auf Kenntnisse in der Pflanzenzucht, 2012, Vitrinentische, Archivseiten mit S/W-Kontaktfotografien, Ausstellungsansicht Kunstraum Kreuzberg, 2012
nicht für die maschinelle Verarbeitung. Es kam zu einem Engpass in der Kartoffelernte und in der Folge zu einer drohenden Hungersnot, da die Kartoffel ein Hauptnahrungsmittel der Bevölkerung war. Daraufhin widmete sich das Institut für Pflanzenzucht unter der Neuausrichtung als Institut für Kartoffelforschung der Entwicklung einer Kartoffel für die neue sozialistische Landwirtschaft. 1975 wurde die Sorte Adretta zugelassen, die dank ihrer runden und großen Form ein gutes Verhalten bei der neu etablierten maschinellen Verarbeitung aufweist. Der abschließende Text am Ende des letzten Tischs beschreibt das Ende des Instituts für Kartoffelzucht mit dem Ende der DDR und der Wiedervereinigung Deutschlands 1990. Aus dem Institut sind drei neue Institute hervorgegangen sowie das Privatunternehmen Norika, gegründet von ehemaligen Mitarbeiter_innen des Instituts für Kartoffelzucht. Norika konnte die Lizenzen für verschiedene Kartoffelsorten sichern, unter anderem für die Sorte
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Adretta. Bis heute ist die Adretta in vielen Ländern Osteuropas verbreitet.43 Insbesondere ihre Resistenz gegen Schädlinge und ihre Genügsamkeit bei der Aufzucht, damals in Ermangelung chemischer Dünge- und Pflanzenschutzmittel notwendig, hält sie heute auch im kleinbäuerlichen Bereich verbreitet.44
Das Archiv als Ordnung historischer Dokumente Zwischen den beiden Texten der Installation entfaltet sich anhand der Auswahl an Archivbögen die Geschichte in bildlicher Form. Man sieht Aufnahmen von der Züchtung der Adretta, von Kartoffelpflanzen im Gewächshaus und von der Ernte auf dem Feld. Man sieht Bilder von Sitzungen in Konferenzräumen, von Köchinnen in der Kantine, von Frauen, die staubsaugen, und von Kindern in der Kindertagesstätte. Es ist kaum möglich und auch nicht nötig, jeden Bildbogen im Detail zu beschreiben, die Geschichte der Adretta vermittelt sich durch den Gesamteindruck. Dafür ist nicht nur der Inhalt der einzelnen Bilder verantwortlich, sondern vor allem die in den Bildern dokumentierten und dadurch mit ihnen ausgestellten Bedingungen ihrer Entstehung, Bearbeitung und schließlich Aufbewahrung. So lässt sich erkennen, in welchem Zusammenhang gesellschaftlicher und politischer Ideen sie damals hergestellt wurden. Die Ideologie des Sozialismus spricht geradezu aus den Bildern: In ihrer Rhetorik verweisen sie auf die Zeit des Kalten Krieges, die DDR als System und die besondere Rolle, die Landwirtschaft hier politisch und ideologisch einnahm. Darüber hinaus wird der Darstellung einer gelingenden sozialistischen Gesellschaft mit durchweg positiven Fotografien an jeder Stelle Rechenschaft getragen. Es ist offensichtlich, dass sie als Bilder der Repräsentation hergestellt wurden, wenngleich es sich nur in wenigen Fällen um die freigegebenen Bilder handelt, die zu ihrer Zeit über das Vorbild-Dorf
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Vgl. auch Interview von Åsa Sonjasdotter mit ehemaligen Mitarbeitern des Pflanzenzuchtarchivs, in der ausstellungsbegleitenden Broschüre Aus der Perspektive der Kartoffel auf Kenntnisse in der Pflanzenzucht und die besonderen Umstände, unter denen die Kartoffelsorte Adretta entstand, 2012. Vgl. auch Åsa Sonjasdotter, Dialog zwischen Menschen und Pflanzen, in: Axel Schmidt und Miriam Wiesel (Hg.), Himmel und Erde. Künstlerische Feldarbeit unter Obstbäumen, Ausst.Kat. Kunst- und Kulturverein Alte Schule Baruth, 2017, S. 106-113, hier S. 110-112.
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Groß Lüsewitz in der DDR publik wurden.45 Im Archiv und als Kontaktabzüge erscheinen die Fotografien in ihrer unveröffentlichten Existenz. Ihrem Zweck wurden sie, wenn überhaupt, nur als deren Duplikate und als explizit ausgewählte Motive zugeführt. In den Vitrinen ausgestellt, offenbart das Material hingegen das ganze Spektrum von Bedingungen, unter denen die Entwicklung der Kartoffel Adretta stattgefunden hat: die politische Situation, private Biografien, die wissenschaftliche Arbeit, industrialisierte Landwirtschaft und aktuelle Forschungsansätze.46
Ordnungssysteme als Wissenssysteme Diese Beobachtungen bilden den Rahmen für den Diskurs, den Sonjasdotter anstößt: eine Auseinandersetzung mit dem Verständnis von Wissen und seinen Bedingungen generell und dem Archiv als Wissenssystem im Speziellen. Und zwar vor einer gegenwärtigen und zukünftigen Bedeutung. Das hat bereits Hal Foster erkannt, der im künstlerischen Umgang mit Archivmaterialien einen Wunsch nach der Befragung des historischen Materials für seine Bedeutung in der Gegenwart sieht, »… a will to relate – to probe a misplaced past, to collate its different signs … to ascertain what might remain for the present«.47 Auch Sonjasdotter geht es mit der Präsentation der Archivmaterialien um eine Befragung ihrer Relevanz für eine aktuelle landwirtschaftliche Praxis. Ihr Interesse folgt dafür den Zusammenhängen von Wissenssystemen und Erkenntnisgewinn. Darauf deutet auch der frühere Titel der hier betrachteten Arbeit hin: Systems of Simultaneity (Systeme der Gleichzeitigkeit).48 Ein
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Bekannt ist eine regelmäßige Veröffentlichung auf den Landwirtschaftsseiten in der vor Ort üblichen Tageszeitung, zu vermuten sind Veröffentlichungen im Rahmen wissenschaftlicher Forschung und des wissenschaftlichen Austauschs. Dazu passt, was Hito Steyerl mit Verweis auf die Herkunftsbedeutung des Wortes Archiv nach Derrida schreibt: »[…] Das Archiv rettet nicht unbedingt einzelne Stimmen oder Ereignisse, die auf immer vergessen sein können. Aber der Kontext dieser Ereignisse sowie die Ordnung, die sozusagen ihr Vergessen organisierte, sind im Archiv meist gespeichert«. Hito Steyerl, Die Farbe der Wahrheit, Wien 2008, S. 27. Hal Foster, »The archival impulse«, in: October, Vol. 110, 2004, S. 3-22, hier S. 21. Es handelt sich dabei, wohl kaum zufällig, um ein Zitat aus Michel Foucaults Vorwort in Die Ordnung der Dinge. Darin fragt er, was wäre, »wenn die Geschichte des nicht-formalen Wissens selbst ein System hätte?«, Michel Foucault, »Vorwort«, in: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1993, S. 26.
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solches System der Gleichzeitigkeit entdeckt Sonjasdotter in den Archivmaterialien, genauer in der besonderen Art der Bildanordnung auf den Archivbögen. Dort finden sich Bilder von politischen Sitzungen neben Bildern von der Feldarbeit, der Arbeit in den Lagerstätten und den Labortätigkeiten ebenso wie der Versorgung aller Beteiligter mit Essen in der Kantine, der Reinigung der Orte und der Betreuung der Kinder. Man könnte die Blätter mit den Kontaktabzügen auch als Collagen bezeichnen, auf denen Bilder unterschiedlicher Themen rein chronologisch zusammengestellt worden sind. Und doch stehen diese Bilder aus ganz verschiedenen Bereichen des Lebens in Groß Lüsewitz alle irgendwie mit der Entwicklung der Kartoffel Adretta in Verbindung. Auf eindrückliche Weise wird so deutlich, dass es sich bei der Züchtung von Pflanzen um einen vielschichtigen Prozess handelt, in den ganz verschiedene Arbeitsbereiche und Akteur_innen eingebunden sind. Diese Besonderheit der Archivbögen, die alle diese Bereiche ganz unterschiedlicher Inhalte scheinbar hierarchiefrei nebeneinander zeigen, wird hier in den Vordergrund gespielt. Die pragmatische Ordnung der Materialien wird von Sonjasdotter als eine Setzung gezeigt, in der ebendiese Heterogenität der Bildinhalte und das Verhältnis der Bilder zueinander bedeutend werden. Kaum zufällig bildet sich ein System ab, das sich deckt mit einer Beschreibung Sonjasdotters für den Vorgang von Züchtung: […] Züchtung findet immer in einem spezifischen landwirtschaftlichen System statt, das wiederum von seinem gesellschaftlichen und natürlichen Umfeld, Anforderungen und Wünschen geformt ist. Züchtung ist insofern immer eine gesellschaftlich definierte Aktivität. Aber sie ist auch eine artenübergreifende Zusammenarbeit von Pflanzen und Menschen, Mikroorganismen, Boden usw.49 Die von der Künstlerin als »artenübergreifende Zusammenarbeit« bezeichnete Aktivität drückt sich genau in der Zusammenstellung der Bilder aus, die Menschen neben Maschinen neben Pflanzen zeigen. Im Zusammenspiel von zwei Wissenssystemen, die sich daraus ergeben – dem der Pflanze inhärenten Wissen und dem ihrer Anbaumethode –, sieht sie das notwendige Verständnis für Züchtung. Sie schreibt:
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Åsa Sonjasdotter, Dialog zwischen Menschen und Pflanzen, in: Axel Schmidt und Miriam Wiesel (Hg.), Himmel und Erde. Künstlerische Feldarbeit unter Obstbäumen, Ausst.-Kat. Kunst- und Kulturverein Alte Schule Baruth, 2017, S. 106-113, hier S. 106.
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Das Ergebnis von Züchtung ist ein Wissen, das in der Pflanze in Form einer neuen Sorte und vom Menschen als Anbaumethode archiviert wird. Es ist ein Wissen, das in der Zusammenarbeit von Menschen und Pflanzen gleichermaßen aufrechterhalten, das heißt, kultiviert werden muss, um wirksam bleiben zu können.50 Sonjasdotter beschreibt die Arbeit Aus der Perspektive der Kartoffel auf Kenntnisse in der Pflanzenzucht als eine Beschäftigung mit zwei Archiven, einmal dem Pflanzenzuchtarchiv und einmal mit der Kartoffel Adretta selbst als Archiv. Sie verweist damit auf das der Kartoffel inhärente Wissen des Züchtungsvorgangs, als Archiv eines Dialogs zwischen Mensch und Pflanze, der zurückreicht in die Zeit, als Landwirtschaft begann. Entsprechend konstatiert sie auf der Homepage des Projekts: »Adretta is an archive of a breeding process, a continuous human-plant-dialogue, dating back to pre-historic times when agriculture began.«51 Das heißt, das der Kartoffel innewohnende Wissen hat sich im Zusammenspiel mit dem Menschen entwickelt und kann auch nur im Zusammenspiel aktiviert werden. Dabei hat die Form der Fortpflanzung durch eine Knolle und nicht etwa durch Samen eine besondere Bedeutung: Im Hinblick auf die Kartoffel ist dieses Wissen besonders fragil, weil es in der Knolle der Pflanze archiviert ist und nicht, wie bei den meisten Pflanzen, im Samen. Verglichen mit Knollen sind Samen in ihrer Funktion als Archiv weitaus stabiler. Samen können Jahre oder gar Jahrhunderte im Ruhestand verbringen, während sich Knollen nur von einer Saison zur nächsten lagern lassen (oder bei gleichbleibend kühlen Bedingungen, die sie in einen Ruhestand versetzen, maximal ein paar Jahre). Daher muss der Dialog zwischen Mensch und Kartoffel, der sich durch seine große Diversität auszeichnet, ununterbrochen Saison für Saison gepflegt werden, um aufrechterhalten zu werden.52
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Ebd., S. 107. www.potatoperspective.org, Zugriff 24.01.2017. Åsa Sonjasdotter, Dialog zwischen Menschen und Pflanzen, in: Axel Schmidt und Miriam Wiesel (Hg.), Himmel und Erde. Künstlerische Feldarbeit unter Obstbäumen, Ausst.-Kat. Kunst- und Kulturverein Alte Schule Baruth, 2017, S. 106-113, hier S. 107.
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Landwirtschaft als politischer Aktivismus Im Gegensatz zu vielen anderen Arbeiten von Sonjasdotter, in denen sie sich auch mit der Kartoffel auseinandersetzt, kommt Aus der Perspektive der Kartoffel auf Kenntnisse in der Pflanzenzucht ganz ohne den Einsatz echter Kartoffeln aus. Im Ausstellungsraum kommen bei anderen Arbeiten derselben Werkreihe Präsentationsformen wie Marktkisten und Kartoffeltüten ins Spiel, sind die Besucher_innen aufgefordert, Kartoffeln, ob für den Anbau oder den Konsum, mitzunehmen, und werden so Teil des von der Künstlerin ausgemachten Systems. Für Projekte im Außenraum widmet sich Sonjasdotter selbst Zucht und Anbau von Kartoffeln. So realisiert die Künstlerin beispielsweise seit 2010 das Projekt The Order of Potatoes im Nachbarschaftsgarten Prinzessinnengarten in Berlin. Dafür pflanzt sie in Kunststoffsäcken spezielle Sorten an, die aus der privaten Zucht von Bäuerinnen und Bauern stammen und damit meist keinem Patentrecht unterliegen. Schilder an den Kartoffelpflanzen klären auf über wichtige Stationen der Geschichte der Kartoffelzucht in Europa anhand einiger paradigmatischer Sorten. Am Ende der Saison sind Interessierte zu Ernte und Verköstigung eingeladen. Der Blick auf andere, nicht in Institutionen der Kunst gezeigte Projekte unterstreicht das Interesse Sonjasdotters an der Sichtbarmachung von Machtverhältnissen. Wird das Thema Nahrung in der Stadt verhandelt, so werden damit immer auch Fragen von städtischem Raum angesprochen, im Speziellen von Machtverhältnissen in diesem Raum, etwa von privat und öffentlich. In dieser Hinsicht gleichen sich Anliegen der Arbeiten aus den 1970er- und 1980er-Jahren und aktuelle. Man denke an die aufsehenerregende Arbeit der amerikanischen Land-Art-Künstlerin Agnes Denes, Wheatfield – a confrontation (1984), die mit einem riesigen Weizenfeld vor dem World Trade Center in New York auf das Missverhältnis von Bodenspekulation, Welternährung und Nahrungsmittelspekulation aufmerksam machte.53 Und so findet auch der Prinzessinnengarten als geduldetes Nachbarschaftsprojekt in Berlin, das Spekulationsraum in Innenstadtlage besetzt, durch Sonjasdotter Unterstützung, die in der Resistenz der von ihr angebauten Kartoffelsorten liegt. Resistenz meint hier das Wissen, das den Kartoffeln inhärent ist, die
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Dass das 1984 realisierte Projekt und seine Thematik von aktueller Relevanz ist, verdeutlicht auch seine Wiederauflage zur Expo 2015 in Mailand.
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als Privatzucht entstanden sind, im Gegensatz zu Sorten der kommerziellen Zucht, die an Patentrechte, meist großer Konzerne, gebunden sind.54 Dem Kurator Giacomo Bazzani folgend, entfaltet das epistemologische System, dem man als Betrachter_in von Sonjasdotters Arbeiten im Kunstraum begegnet, hier seine aktivistische Kraft. Er erklärt: In the artist-activist practices, the potatoes become a bottom-up activism device, that did not claim and oppose the naturalness of nature to the political corruption, but rather a kind of proto-natural device apt to produce political organization and collective action: The potatoes are not only influenced by the current power, but they are also able to mobilize collective political action.55 Die Aktivitäten des Pflanzens, Pflegens und Essens verwandeln das Wissen um die Kartoffel in eine gemeinschaftsbildende Handlung. Das Lebendige der Kartoffel, das es möglich macht, sie (fort) zu pflanzen, sie zu züchten, charakterisiert sie als Trägerin von Wissen und Handeln gleichermaßen. Am konkreten Beispiel der Adretta wird deutlich, dass eine Kartoffel das System und damit die historischen Bedingungen ihrer Entstehung überleben kann. Auch nach dem Ende der DDR transportiert sie die Geschichte ihrer Züchtung weiter, so wie auch viele andere Sorten sich noch heute danach befragen lassen, unter welchen Bedingungen sie entstanden sind.
Menschliche und nicht-menschliche Wesen als Akteur_innen Nach Bazzani, der Sonjasdotters Praxis als »non-modern social practice« bezeichnet, übernimmt Sonjasdotter historisch-anthropologische Methoden, um durch die ausgelagerte Perspektive der Kartoffel die politische Geschichte
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Dass sich Sonjasdotter gegen die Wege der Pflanzenzucht wendet, die innerhalb »einer kapitalistischen Logik« entstehen, verdeutlich auch dieses Zitat zu Aus der Perspektive der Kartoffel auf Kenntnisse in der Pflanzenzucht: »The Two Archives […] as forms of dormant knowledge that are latent or active sources of resistance and dissent. Such knowledge pits itself against a capitalist logic, a way of inscribing human and human-to-non-human relations, that is today proving ever more clearly dysfunctional«, www.potatoperspective.org, Zugriff 24.01.2017. Giacomo Bazzani, »An eco-aesthetic for economization? Non-modern social practices of art and ecology«, in: Seismopolite. Journal of Art and Politics, Zugriff 27.01.2017.
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Abb. 17: Åsa Sonjasdotter, The Order of Potatoes, 2010, Prinzessinnengarten Berlin, Pflanzsäcke, Erde, Kartoffelpflanzen, Schilder
der Moderne neu zu lesen: »Sonjasdotter adopts historical and anthropological methods to re-read the political history of modernity through the role played by a non-human: the potatoes.«56 Er bezieht sich damit auf die ganze Werkreihe A Potato Perspective on …, bei der immer die Kartoffel den Ausgangspunkt bildet, um anhand ihrer Perspektive, ihres Blicks, die Geschehnisse, in die sie involviert ist, zu betrachten. Menschen werden 56
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damit auf ihre Positionen als Mitakteure verwiesen und nehmen nicht mehr die Rolle der bestimmenden Akteur_innen ein. Aus der Perspektive eines nicht-menschlichen Wesens betrachtet, wird damit eine vorherrschende anthropozentrisch ausgerichtete Sichtweise auf die Welt deutlich infrage gestellt. Sonjasdotters Arbeiten referieren insofern auch auf Bruno Latour, der im Sinne einer »politischen Ökologie«57 vorschlägt, die Trennung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen aufzuheben. Die Verschmelzung von Menschen und nicht-menschlichen Wesen gleicht nach Latour »Gemengen von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft«, die in der Zukunft deutlich zunehmen werden.58 Vor dem Hintergrund dramatischer ökologischer Entwicklungen plädiert er dafür, so ein neues, realeres Verständnis für die Welt zu entwickeln. Ein solches neues System findet sich auch in der Anordnung der Kontaktabzüge auf den Archivbögen dargestellt: mit den gleichwertig nebeneinander stehenden, ganz unterschiedlichen Bildinhalten verliert sich die Subjekt-Objekt-Trennung der Bilder, die Kombinationen auf den Archivbögen erscheinen, mit Latour gesprochen, als »unbereinigte«59 Situationen. Als »Reinigung« bezeichnet er die der Moderne entsprechende Teilung von »zwei vollkommen getrennte[n] ontologischen Zonen, die der Menschen einerseits, die der nicht-menschlichen Wesen andererseits«.60 Diese gilt es jedoch mit den sich parallel durch »Übersetzung« entwickelten »vollkommen neue[n] Mischungen zwischen Wesen: Hybriden, Mischwesen zwischen Natur und Kultur«61 zusammenzudenken. Um der aktuellen Situation gerecht werden zu können, müssen diese beiden »Ensembles« zusammengedacht werden. Dafür müssen jedoch auch nicht-menschliche Wesen als soziale Akteur_innen gedacht bzw. wahrgenommen werden.62 Sie sind damit den anderen in einem »HybridNetzwerk« zusammenkommenden Akteur_innen, ob Menschen, Dingen, Maschinen etc., gleich. Als ein_e solche_r Akteur_in (Hybrid oder auch Quasi-Objekt), also als aktive_r Teilnehmer_in im Sinne Latours, lässt sich die Kartoffel in Sonjasdotters Projekt verstehen, in der sich das unauflösliche Ineinander von Natur und
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Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt a.M. 2002, S. 247f. Ebd., S. 244. Ebd., S. 247f. Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen, Frankfurt a.M. 2008, S. 19. Ebd. Bruno Latour, Das Parlament der Dinge, Frankfurt a.M. 2012, S. 109f.
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Kultur zeigt. Für ein notwendig verändertes Verständnis der Welt, von Latour in Anlehnung an James Lovelock als »Gaia« (in der griechischen Mythologie die personifizierte Erde) bezeichnet, und um ökologischen Problemen heute adäquat begegnen zu können, sieht Latour es als unumgänglich, die »Mischverhältnisse« im Sinne einer »politischen Ökologie« anzuerkennen.63 Solche Netzwerk-Systeme sichtbar zu machen stellt den Versuch einer neuen Annäherung an die gravierenden ökologischen Probleme der Gegenwart dar.64
Für eine neue Landwirtschaft Anhand des fotografischen Archiv-Materials wird in Sonjasdotters Arbeit Aus der Perspektive der Kartoffel auf Kenntnisse in der Pflanzenzucht deutlich, dass die Wirklichkeit fotografischer Bilder immer auch die ihrer eigenen Bedingungen ist. Herstellungsbedingungen, Produktionszweck, Ausführung und Systematisierung sind Teil einer oder eben auch einer anderen Realität, die uns Sonjasdotter hier zeigt. Die mitunter befremdlich erscheinende Idee einer Auflösung der anthropozentrischen Betrachtung der Welt, wie bei Sonjasdotter anhand der Kartoffel unternommen, stellt nicht nur die Rolle des Menschen in dem Gefüge deutlich infrage. Durch den angebotenen Perspektivwechsel kann mit den Bildern über die Landwirtschaft in der DDR ein neues Verständnis von Landwirtschaft generell entstehen. Die Verbindungen, die Menschen, 63
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»Es geht, wie gesagt, nicht um eine Renaturalisierung — das Klima ist nicht Teil der Natur. Es ist Teil von Gaia. Und Gaia ist nicht die Natur, sondern ein System von Organismen, die alle möglichen Dinge tun. Ich finde, wir sollten nicht von Überwindung der Dualismen sprechen, wir sollten das nicht einmal denken. Das ist immer noch 20. Jahrhundert! Wenn man unsere Epoche als Anthropozän definiert, dann geht es um die Erkenntnis, dass wir in Mischverhältnisse eingebunden sind, die in alle möglichen Richtungen gehen.« Bruno Latour im Gespräch mit Ulrich Beck, F.A.Z., 15.05.2014, Zugriff 02.02.2017. Das zeigen auch andere Projekte, etwa aus der Stadtplanung, wie zum Beispiel das Projekt Staging Cities der argentinischen Architektengruppe M7red, welches den Versuch unternimmt, Lösungen für einen stark kontaminierten Ort in der Stadt Buenos Aires zu finden, dem Riachuelo-Flussbecken. In einer Diskussion von Akteur_innen aus Ökologie, Stadtplanung, Recht und Abfallentsorgung wurde zunächst der Fluss in seinem mit seiner Umwelt verwobenen Charakter beschrieben. Als so definierter Hybrid im Sinne Latours werden ihm ein juristischer Status und zu schützende Rechte zuerkannt.
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Pflanzen und Maschinen dabei eingehen, lassen sich weiter in größeren ökologischen Zusammenhängen denken, von denen die Landwirtschaft sicherlich ein wesentlicher Teil ist. Mit dem Zugriff auf ein Archiv und eine Ausstellungspräsentation, die an Praxen des Ausstellens wissenschaftlicher Materialien angelehnt ist, werden durch die Installation Fragen der Wissensvermittlung aufgeworfen. Mit der Verschiebung auf eine andere Perspektive als der menschlichen, die der Kartoffel, aus der der Sachverhalt präsentiert wird, stellt die Bilderzählung die Bedingungen, unter denen Wissenssysteme entstehen, und ihre inhärenten Machtverhältnisse zur Disposition. Vor den Herausforderungen der Pflanzenzucht in einer globalen Agrarwirtschaft stellt Sonjasdotter die Frage nach einer nötigen neuen Perspektive auf das Zusammenleben von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen. Dabei verweist sie auf das den Materialien eigene Ordnungssystem, das weniger einer modernistisch geprägten Ordnung und Idee folgt: Nicht die Trennung von Kultur und Natur, von Subjekt und Objekt wird hier bestätigt, sondern ihre notwendige Verstrickung für die Bestimmung eines neuen Verhältnisses des Menschen zur Natur.
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Die Aneignung der Aneignung: Danzig, Havarna, Siauliai (2007) von Tue Greenfort
Auch der Künstler Tue Greenfort (*1973) umkreist in seinem gesamten Werk Fragen der Ökologie und berührt damit immer wieder auch Themen der Landwirtschaft. In der hier besprochenen Arbeit Danzig, Havarna, Siauliai (2007) zeigt Greenfort aktuelle Bilder von Landwirtschaft anhand von Verpachtungsangeboten landwirtschaftlicher Flächen in Osteuropa, die er aus dem Internet bezieht. Die Arbeit besteht aus drei unterschiedlich großen Digitaldrucken auf Fotopapier. Darauf sind jeweils 8, 14 bzw. 22 Fotografien im Format 13 x 18 cm angereiht. Zu sehen sind auf den Abbildungen landwirtschaftliche Maschinen wie Traktoren und Mähdrescher, landwirtschaftliche Nutzflächen mit Raps- und Weizenpflanzen sowie landwirtschaftliche Gebäude wie Maschinenhallen und Silos. Jeder Fotoblock ist durch einen Datensatz ergänzt, aus dem hervorgeht, wo sich die Betriebe befinden (nämlich, wie der Titel auch festhält, in Danzig, Polen; Havarna, Rumänien; und Siauliai, Litauen), wie groß die Flächen sind, was dort angebaut wird, welche Maschinen und Gebäude Teil des Angebots sind und welcher Preis aufgerufen wird. Es erschließt sich recht schnell, dass es sich hier um Amateuraufnahmen handelt (unterstützt durch das klassische Amateurformat 13 x 18 cm der Fotografien), die zum Zweck des Verkaufs bzw. der Verpachtung hergestellt wurden. Nicht ersichtlich ist, von wem die Fotografien aufgenommen wurden, ob von den Landwirten selbst oder von einer Organisation. Seit dem Fall der Mauer und der damit verbundenen schrittweisen EUOst-Erweiterung ist es spätestens seit den 2000er-Jahren, vor allem für Landwirte aus Industrienationen, lukrativ geworden, Flächen in günstigeren Ländern bewirtschaften zu lassen, um im stetig wachsenden Agrarsektor mithalten zu können. Bei diesen Landverpachtungen stehen Befürworter_innen, die die Erschließung von landwirtschaftlichen Flächen für die Ernährungssicherheit als notwendig erachten, Gegner_innen dieser Entwicklung gegenüber, die in dem Vorgehen eine Form des Neokolonialismus sehen, der einerseits die kleinen Landwirte, mehr jedoch die Ernährungssicherheit der jeweiligen Länder bedroht.65 65
Unter dem dafür auch verwendeten Begriff ›Landgrabbing‹ versteht man vor allem, wenn Agrarkonzerne oder sogar Regierungen Land in anderen, oft wesentlich ärmeren Ländern im großen Stil kaufen oder pachten, wie z.B. das Scheichtum Katar in Kenia
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Abb. 18: Tue Greenfort, Danzig, Hvarna, Siauliai, 2007, Digitaldruck auf Fotopapier, Ausschnitt (Siauliai), 69,4 x 94 cm
Greenforts gesamte Praxis weist immer wieder Referenzen zu vielfältigen Werken und Strategien der Konzeptkunst auf, die er zitiert, appropriiert und kontextualisiert. Die genannten Bezüge spiegeln sich auch in den vielfältigen Formaten, die die Werke einnehmen: Es gibt fotografische und skulpturale Werke, aber auch solche ephemerer Erscheinung. Die Arbeiten können für den Außen- oder Innenraum gemacht sein oder bleiben als Intervention unsichtbar, etwa im Betriebssystem einer Kunstinstitution. Auffällig ist, dass einige deutlich von Strategien der Konzeptkunst beeinflusst sind, mit denen das Thema Landwirtschaft auch immer wieder Eingang erhält. Dafür werden Realitätsbezüge ganz direkt als Übertragungen entweder eines Objekts oder eines technischen Verfahrens aus dem außerkünstlerischen Bereich der Landwirtschaft als Teil von Kunst verwendet. So werden bei der Arbeit Pestizidspur I und II (2008) die Schneisen der ausgebrachten Pestizide in den Feldern
oder die Republik China im Kongo. Vgl. dazu Dietmar Bartz, Heike Holdinghausen, »Grabbing: Die große Landgier«, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Bodenatlas: Daten und Fakten über Acker, Land und Erde, Berlin 2015.
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nicht nur filmisch dokumentiert, sondern die Wege der Programme des GPSGerätes auch in grafische Zeichnungen übertragen. Und im Projekt Diffuse Einträge (2007), im Rahmen der Skulptur Projekte Münster realisiert, kommt ein alter Güllewagen zum Einsatz, der eine Fontäne aufbereiteten Wassers zur (vermeintlichen) Wasserverbesserung in den Aasee spritzt, da dieser aufgrund von Belastungen aus der Landwirtschaft kontaminiert ist. In anderen Arbeiten wiederum zitiert Greenfort offensiv Künstler_innen und Werke der 1970er-Jahre mit explizitem Interesse an Ökologie, z.B. Hans Haackes Kondensationswürfel (1963-1965). Bei Greenfort wird er zum Bon Aqua Kondensationswürfel (2005), schlicht, indem er das Prinzip von Haackes Würfel mit aktueller Bedeutung belegt, die im verwendeten Wasser liegt, das von einem der weltweit größten Konzerne der Welt abgefüllt wird.66 Im Worldly House (2012) schließlich, einer Arbeit von Greenfort für die dOCUMENTA 13, versammelte er unter dem Titel An Archive inspired by Donna Haraway’s Writings on Multispecies‹ Co-Evolution in einem alten Schwanenhaus in den Parkauen in Kassel unzählige Arbeiten von Kolleg_innen, die sich seit den 1960er-Jahren dem Verhältnis von Mensch und Tier widmen.
Abb. 19 (links): Hans Haacke, Condensation Cube, 1963-196, Plexiglas, destilliertes Wasser, Wärme, 30,5 x 30,5 x 30,5 cm Abb. 20 (rechts): Tue Greenfort, BONAQUA Kondensationswürfel (after Hans Haacke), 2005, Plexiglas, Bonaqua Wasser, 25 x 25 x 25 cm
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Bonaqua ist ein Produkt des Coca-Cola-Konzerns. Es handelt sich dabei um ein mit Kohlensäure versetztes Leitungswasser. Dass Konzerne Profit mit Wasser, gar mit Leitungswasser machen, ist ein Kritikpunkt für Umweltschützer.
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Die verschiedenen Anleihen bei Arbeiten der vergangenen Jahrzehnte, von der Übernahme eines Konzeptes bis zur Versammlung unzähliger thematisch verwandter Projekte anderer Künstler_innen, lässt sich aktuell wohl am ehesten mit dem Begriff ›Referenzialismus‹ fassen.67 Dieser beschreibt eine erweiterte und aktuell diskutierte Form eines In-Beziehung-Setzens, die das eigene Werk durch andere künstlerische Arbeiten kontextualisiert. Die hier vorgestellte Arbeit Danzig, Havarna, Siauliai weist mit der Übernahme von bereits existierenden Bildern aus dem Internet ebenfalls eine in der Kunst bekannte Strategie auf: die des Aneignens fremder Bilder. Dabei handelt es sich um aktuelle massenmediale Bilder, was den entscheidenden Unterschied zur Befragung von Archivbildern im vorangegangenen Text ausmacht. Mit der Aneignung von künstlerischen Strategien und Formaten der 1970er-Jahre im Sinne des diagnostizierten ›Referenzialismus‹ lassen sich in Greenforts Arbeit Bezüge zur Appropriation Art und zu ausgewählten Beispielen der ›PicturesGeneration‹ herstellen. Diese sollen im Folgenden genauer betrachtet werden.
Strategien der Aneignung Durch die Aneignung von landwirtschaftlichen Bildern unbekannter Autorschaft aus dem Internet, die sich im Kunstwerk unter dem Namen des Künstlers und ausgedruckt auf Fotopapier befinden, drängen sich verschiedene Fragen an Autorschaft und Repräsentation auf. Bereits in den 1970er-Jahren bedienten sich Künstler_innen fremden Bildmaterials und bearbeiteten dieses mit dem Interesse an einer Reflexion von Repräsentationsstrategien. Unter dem Titel Pictures fand 1977 die von dem gleichnamigen Text begleitete Gruppenausstellung, kuratiert von dem Kunsthistoriker und -kritiker Douglas Crimp, im Artists Space in New York statt.68 Für die 67
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Unter dem Begriff ›ArtistsArtists‹ hat sich die Zeitschrift Texte zur Kunst dem Referenzialismus in der aktuellen Kunst gewidmet. Auf die Uneinheitlichkeit und inhaltliche Breite der unter dem Begriff zusammengefassten Referenzen verweist André Rottmann in seinem Text »Reflexive Bezugssysteme. Annäherungen an den ›Referenzialismus‹ in der Gegenwartskunst«, in: Texte zur Kunst, September 2008, Heft 71, S. 79-94, besonders S. 83f. Unter dem Titel Pictures versammelte die Gruppenausstellung in New York Werke der Künstler_innen Troy Brauntuch, Jack Goldstein, Sherrie Levine, Robert Longo und Philip Smith. Später wurden auch andere Künstler_innen wie Richard Prince, Louise Lawler, Barbara Kruger und Cindy Sherman zur sogenannten ›Pictures-Generation‹ gezählt.
2. Landwirtschaft im Medium Kunst
Werke, die dort versammelt waren, setzte sich in den 1980er-Jahren auf ein stark erweitertes Konvolut künstlerischer Arbeiten bezogen der Begriff Appropriation Art durch. Dieser bezog sich explizit auf Kunst, die sich durch Aneignungen von Bildern aus verschiedensten Zusammenhängen – häufig Dokumente der Kunst oder der Medien – auszeichnete. Im Unterschied zum übergreifenden Begriff Appropriation Art findet sich in der Bezeichnung ›Pictures-Generation‹ die feine Nuancierung der Mehrdeutigkeit von Bild und Vorstellung, womit nicht nur real existierende Bilder angesprochen waren, sondern auch solche der Vorstellung.69 In der überbordenden Vielfalt der Werke der Appropriation Art ging einiges der von Crimp ausgemachten Kritik der Künstler_innen verloren – nicht zuletzt durch eine ausufernde Praxis des Zitierens und Sampelns unter dem Diktat der Postmoderne in den 1970er- und 1980er-Jahren.70 In einem späteren Text mit dem Titel »Das Aneignen der Aneignung«71 verweist Crimp deshalb auf zwei Arten von Aneignung. Er verdeutlicht darin, wann es sich bei den Vorgehensweisen um eine kritische Praxis handelt und wann das Aneignen vielmehr als ein generelles Phänomen seiner Zeit zu verstehen ist. Was er anhand zweier architektonischer Vorgehensweisen beschreibt, unterscheidet sich für ihn in den daraus resultierenden Produkten. Die sieht er einerseits als neuen Stil, der das Alte zwar negierend, jedoch im gleichen Kanon verortet versteht, und andererseits als einen durch das Material kritisch hinterfragenden Stil.72 Mit Crimps gedanklicher Übertragung der Vorgehensweisen aus der Architektur auf die Fotografien von Robert Mapplethorpe und Sherrie
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Vgl. auch Juliane Rebentisch zur Doppelbedeutung des Wortes picture/to picture, in: Theorien der Gegenwartskunst, Hamburg 2013, S. 152. Die ausufernde Anwendung von Aneignungsstrategien in den 1980er-Jahren und eine damit einhergehende politische Verharmlosung beschreibt Verena Krieger in »Der Blick der Postmoderne durch die Moderne auf sich selbst. Zur Originalitätskritik von Rosalind Krauss«, in: dies. (Hg.), Kunstgeschichte & Gegenwartskunst. Vom Nutzen & Nachteil von Zeitgenossenschaft, Köln 2008, S. 143-161. Douglas Crimp, »Das Aneignen der Aneignung«, in: Über die Ruinen des Museums, Dresden, Basel 1996, S. 141-151. Die Unterschiede zeigen sich für ihn einerseits in der Adaption einer vormodernen Haltung und der Ausbildung eines neuen Stils bei Michael Graves (dessen Wasserkessel für Alessi als eines der wohl bekanntesten Designobjekte der Postmoderne gilt) und andererseits in einer modernen Haltung »aus postmodernistischer Perspektive kritisiert« bei Frank Gehry (dessen Architektur[stil] als einer der bekanntesten der 1980erJahre bezeichnet werden kann). Ebd., S. 142f.
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Levine, zweier als paradigmatisch für die Postmoderne angesehener Positionen, wird deutlich, was auch für Greenforts Arbeit Relevanz hat: Aneignung muss verstanden werden als ein unverhohlener Diebstahl, der jedoch ganz offensichtlich nicht dem Zweck dient, daraus einen neuen Stil zu entwickeln: »[Ihre] Aneignungen haben nur einen funktionellen Wert für die spezifischen historischen Diskurse, in die sie gestellt werden«,73 etwa wenn bereits existierende Fotografien, hier die Aktfotografien von Robert Mapplethorpe, abfotografiert werden. Denn im Gegensatz zu Mapplethorpe, der sich mit seinem Stil in die Kunst- bzw. Fotografiegeschichte einordnet, legen davon hergestellte Fotografien deren Vorgehensweisen und Prozesse offen: Im Hinblick darauf reflektiert Levines Aneignung des Stils durch Weston, über die Aneignung von Westons Stil durch Mapplethorpe; über die Aneignung von sowohl Weston als auch Mapplethorpe, sogar von Fotografie im allgemeinen, durch die Institutionen der hohen Kunst: und schließlich über die Fotografie als ein Werkzeug der Aneignung.74 So wird, nach Crimp, mit dieser Art der Aneignung, auf die »gegenwärtigen Bedingungen der Kunst« verwiesen.75 Dies lässt sich für den hier bearbeiteten Kontext besonders treffend an Levines Serie After Walker Evans (1981) aufzeigen. Für diese hat Levine 22 Fotografien aus Walker Evans’ wohl berühmtester dokumentarfotografischer Serie über Landarbeit in den USA zu Zeiten der Depression (siehe Abbildung 4), und damit eine der bekanntesten künstlerischen Arbeiten über Landwirtschaft überhaupt, aus dem Katalog abfotografiert. Im staatlichen Auftrag entstanden, waren die Fotografien von Evans erstmals zusammen mit einem Text des Autors James Agee im Buch Let us now praise famous men veröffentlicht worden.76 Im Sinne des englischen take (=nehmen) als synonym für das Machen einer Fotografie hat sich Levine die Bilder wortwörtlich genommen. Levines Kopien lassen sich kaum von den Originalen unterscheiden, sind jedoch im Gegensatz zur ursprünglichen Serie Evans’ mit Titeln versehen (After Walker Evans) und unterliegen, ebenfalls
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Ebd., S. 144. Ebd., S. 144f. Ebd., S. 151. Vgl. auch Douglas Fogle, »The Last Picture Show«, in: The Last Picture Show: Artists using Photography, 1960-1982, Ausst.-Kat. Walker Art Center, UCLA Hammer Museum, New York 2003, S. 17f.
2. Landwirtschaft im Medium Kunst
entgegen der Arbeiten Evans’, nun einem Copyright.77 Sie befinden sich somit weit entfernt vom berichtenden Inhalt einer sozialdokumentarischen Serie, als welche Evans’ Bilder entstanden waren, sondern verweisen auf sämtliche von Crimp festgestellte Rahmenbedingungen für die Fotografien, die hier neben fotografischen und fotografiehistorischen Fragen solche der Autorschaft und des Rechts, aber auch des Kunstsystems generell, etwa der Geschlechterverhältnisse, aufkommen lassen. Der auch für Crimp bedeutende Kunsthistoriker Craig Owens hat in Bezug auf Kunstwerke der Appropriation Art eine Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Inhalt zum Rahmen der Arbeiten auf Rezeptionsebene ausgemacht, »[…] away from the work and its producer and onto its frame«.78 In dieser bildlichen Analyse wird die Verschiebung der Aufmerksamkeit der Rezipient_innen vom Inhalt und den Autoren der Arbeit zu den sozialen, politischen, ökonomischen Bedingungen ihrer Entstehung, und dazu gehören auch die des eigenen Feldes, äußerst treffend beschrieben. Schauen wir uns vor diesem Hintergrund Greenforts Arbeit an, so wird deutlich, dass auch die von ihm verwendeten Bilder durch den Medientransfer aus dem Internet, wo sie dem Angebot, dem Verkauf dienen, von ihrem eigentlichen Auftrag isoliert sind. Mit dem Ort und dem Medium der Präsentation sowie den Betrachter_innen verschiebt sich der vordergründige Zweck der Bilder und offenbart ein Referenzsystem, das die Zusammenhänge ihres Entstehens aufblättert. Das heißt, wenn Greenfort die Bilder überführt, so rücken durch die Distanz zu ihrem Ursprungskontext ihre visuellen Bedingungen in den Fokus. Die Fotos, die aus ihrer ursprünglichen Bestimmung nun einem ganz anderen Publikum zugänglich gemacht werden, präsentieren dann Bilder von Landwirtschaft, die auch die Umstände dieser Landwirtschaft hervorheben. Aus der Kontextverschiebung von der realen Funktionalität in den Kunstkontext ergibt sich so ein ganzes Netzwerk an Referenzen, die sich aus der freigelegten visuellen Rhetorik ablesen lassen. Hier werden jedoch weniger künstlerische und kunstinstitutionelle Bedingungen
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Ursprünglich als Teil eines großen fotografischen Konvoluts entstanden, waren die einzelnen Bilder vorerst nicht mit Titeln versehen. Vgl. Renate Wöhrer, »Die Kunst des Dokumentierens«, in: Daniela Hahn (Hg.), Beyond Evidence. Das Dokument in den Künsten, Paderborn 2016, S. 45-57, hier S. 49. Craig Owens, »From work to frame, or, Is there life after the death of the author?«, in: Beyond Recognition. Representation, Power, and Culture, hg. von Scott Bryson, Barbara Kruger, Lynne Tillmann und Jane Weinstock, Los Angeles 1992, S. 126.
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sichtbar, als vielmehr gesellschaftspolitische, kulturgeografische und ökonomische. Diesen Zusammenhang trägt auch das Internet als Distributionsort der Bilder in die Arbeit.
Picturing Landwirtschaft Die Bilder sind jedoch gleichzeitig auch in ihrem direkten Inhalt zu begreifen und stehen damit für ein aktualisiertes Landwirtschaftsbild. Sie zeigen, dass Landwirtschaft oder Agrarwirtschaft heute kaum mehr in Form von familiär betriebenen Höfen existiert. Diese Erscheinung, das zeigen die Fotografien aus dem Internet eindrücklich, hat Landwirtschaft heute allenfalls in unseren Vorstellungen. Hier lässt sich noch einmal der Begriff ›picture‹ heranziehen, der in seiner Verbform auch bedeutet, sich eine Vorstellung zu machen. Der Unterschied zwischen den Bildern der Vorstellung und den von Greenfort gezeigten Bildern von Landwirtschaft wird vor allem sichtbar an dem, was nicht zu sehen ist: ein Bauernhaus, Menschen, Tiere und ihre Lebensräume. Damit wird ein nach wie vor verbreitetes (jedoch längst überholtes) Bild von Landwirtschaft als Topos, der ehemals von Lokalität, Regionalität und familiärem Leben geprägt war, von Greenfort in seiner neuen Form als vollkommen in einem globalen Kontext verankert gezeigt. Hier zeigt sich, wie bestimmte Repräsentationsformen den Status des Inhalts offenbaren und sich Realität durch Bilder der Repräsentation bestimmt. Crimp schreibt dazu: Representation is not born in the imagination; it is a function of the imagination. It is by way of representation the reality comes to us. Pictures of things do not signify those things, but, like ideograms, signify only what is suggested by those things. And therefore those pictures are juxtaposed in relationships that are determined not by the logic of things but by the logic of representation.79 Auch die Allegorien der Bilder, die Craig Owens für die appropriierenden Werke ausmacht, verschieben die Bezüge vom Inhalt auf den Rahmen.80 Damit stellen sich Fragen der Autor_innenschaft dann hier nicht in Bezug auf
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Douglas Crimp, Pictures, X-tra 8:1 (Herbst 2005), S. 17-30, hier S. 29. Craig Owens, »The Allegorical Impulse: Toward a Theory of Postmodernism«, in: Brian Wallis (Hg.), Art after Modernism: Rethinking Representation, New York 1984, S. 203-235, besonders S. 205f.
2. Landwirtschaft im Medium Kunst
Kunst, auf Urheber_innenschaft oder Copyright, wie bei Levines Serie After Walker Evans, sondern vielmehr in Bezug auf die realen Autor_innen der gezeigten Bilder. So lässt sich hier darüber reflektieren, wer die Autor_innen dieser Bilder sind, ob es Menschen aus den jeweiligen Ländern, besitzende Landwirte vor Ort oder größere Agrarunternehmen sind, die im eigenen Interesse Pächter suchen. Die Anonymität der Bildproduzent_innen verstärkt die Bedeutung der Betrachter_innen und damit Interpretierenden. Erfahrbar werden die Bilder so denn nicht konsistent, sondern je nachdem, welchen Reflexionshintergrund die Betrachter_innen mitbringen. Dabei gilt aber für das hier besprochene Werk, dass es bei Greenfort keiner besonderen Kunstverständigkeit bedarf. Verkaufsfotografien stellen – im Gegensatz zu Verweisen kunstgeschichtlicher Art (etwa die Haacke-Referenz, die jedoch durch Greenfort im Titel ausgewiesen ist) – eine populäre Art von Kommunikation dar, die heute wohl fast jeder Mensch identifizieren kann. Greenfort bezieht sich also nicht auf in den Kanon der Kunstgeschichte eingegangene Bilder, sondern spielt mit einem Kanon von Bildern der Landwirtschaft. Er trifft dabei besonders gut den Umstand, dass es bei der Landwirtschaft auf besondere Weise zu einer Abweichung der Vorstellungen von realen Darstellungen kommt, da es sich um ein emotional wie imaginär stark aufgeladenes Sujet handelt. Damit fokussiert seine Arbeit das Leben der Bilder zwischen Realität und Imagination, ihre Verselbstständigung außerhalb eines Abgleichs mit der Realität. Schon in den 1970er- und 1980er-Jahren gab es künstlerische Werke, die sich mit einem gesellschaftsrelevanten Bilderkanon auseinandersetzten und den Zusammenhang zwischen Repräsentation und Imagination herausstellten.81 Greenforts Landwirtschaftsbilder aus dem Netz machen eines besonders deutlich: Es geht nicht um eine Kritik der Repräsentation, sondern um die Präsentation von Bildern, deren hintergründige Kontexte in der Darstellung mitschwingen.
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Greenforts Arbeit lässt sich hier vielleicht am ehesten in die Nähe von Positionen wie jener von Cindy Sherman stellen, deren Untitled Filmstills (1977-1980) die Betrachter_innen diffus an Filmszenen erinnern, oder Richard Princes‹ Freilegungen der Attribute Freiheit und Männlichkeit anhand der Cowboys aus der Zigarettenwerbung in der Serie Untitled (Cowboy) (seit 1980) verbinden.
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Aneignung als ›Referenzialismus‹ Wenn Greenfort selbstverständlich und vielfältig auf unterschiedliche künstlerische Strategien und Formate zugreift, lässt sich dieses Vorgehen im Sinne eines ›Referenzialismus‹, wie eingangs beschrieben, verstehen. Zumal Greenfort in vielen seiner Projekte die Arbeiten anderer nicht nur zitiert, sondern sie als kuratierender Künstler auswählt und zeigt. Dabei bringt er seine eigene Arbeit auf die eine oder andere Weise in einen Zusammenhang mit anderen. Das hat einerseits den Charakter einer Hommage an verschiedene für ihn relevante »Künstler Künstler«,82 andererseits wird die Verbindung auch benutzt, um die eigene Kunst durch die Referenzen der anderen Kunst zu belegen und zu kontextualisieren. In solchen von Künstler_innen kuratierten Formaten sind die ausgestellten oder zitierten Künstler_innen, wie Fiona McGovern konstatiert, »nicht Mittel zum Zweck, sondern ein der eigenen künstlerischen Position gleichberechtigtes Gegenüber«.83 Auch die Praxis von Künstler_innen, die Kunst anderer auszustellen, lässt sich ihrer Meinung nach als eine gegenwärtige Praxis von Aneignung verstehen. Dabei entsteht ein »diskursive[s] Anschauungsfeld, das die jeweilige Konstellation von Objekten ausgehend von der eigenen künstlerischen Praxis eröffnet und das ein entsprechend verknüpftes Sehen erfordert«.84 Aneignung wird von Künstler_innen heute in allen Formen und in deutlich weiterem Kontext als in den 1970er- und 1980er-Jahren angewendet, wenngleich die jeweilige Strategie auf ihr historisches Vorbild zurückverweist. Damit werden die Werke ergänzt durch die anhand anderer Werke bereits etablierten Diskurse, wie wir auch an der Arbeit Skąpskis und deren Verhältnis zur Arbeit von Bernd und Hilla Becher gesehen haben. Der Zugriff Greenforts auf die Internet-Verkaufsbilder von landwirtschaftlichen Betrieben in Osteuropa vor dem Hintergrund seines Gesamtwerks ist mit der Aneignung einer künstlerischen Strategie eine (nicht ausgewiesene) Referenz an die Appropriation Artists. Sie nutzt die Möglichkeiten eines visuellen Verständnisses von Bildern in Bezug auf aktuelle, visuelle Erscheinungsformen.
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Texte zur Kunst, »Artists‹ Artists«, Heft 71, September 2008. Fiona McGovern, »Referenz und Appropriation in der künstlerischen Ausstellungspraxis«, in: Frédéric Döhl, Renate Wöhrer (Hg.), Zitieren. Appropriieren. Sampeln. Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten, Bielefeld 2014, S. 113-136, hier S. 129. Ebd.
2. Landwirtschaft im Medium Kunst
Wenn Greenfort sich massenmedial entstandene Bilder aneignet und auch in anderen Werken künstlerische Strategien der 1970er-Jahre übernimmt, so bedient er sich daran mit deutlichem Interesse an einer den Vorgehensweisen innewohnenden Kritik. Jedoch reflektiert er nicht auf das System Kunst, auf Ausstellungsbedingungen und Geschlechterverhältnisse, sondern adaptiert die Vorgehensweise für gesellschaftliche Prozesse. Bei Greenforts Konstrukt geraten hier insbesondere die nicht deckungsgleichen Realitäten einerseits von Bildern aus der Vorstellung bzw. aus einem allgemein etablierten Bildkonsens, niedergeschlagen etwa in Darstellungen von Landwirtschaft in der Werbung und in Kinderliteratur, und andererseits realer Bilder von Landwirtschaft in den Fokus. Das von Greenfort gezeichnete Bild von Landwirtschaft zeigt das Gegenteil einer verklärten Vorstellung von Landwirtschaft: Landwirtschaft reduziert auf ihre ökonomischen Bedingungen als globalisierte Agrarwirtschaft. Anhand von Greenforts Arbeit wird deutlich, dass, wenn es keine Bilder von Landwirtschaft mehr gibt, die außerhalb eines verwertbaren Kontexts stehen, dieser Verwertungskontext die Repräsentationsform aktueller Landwirtschaft ist. Zu sehen ist dann eine Form von Landwirtschaft, mit der sicherlich die wenigsten Menschen vertraut sind und deren Bilder auch nicht bekannt oder kaum verbreitet sind: die der globalen Agrarwirtschaft. In deren Existenz gibt Greenfort einen Einblick, wenn er nur einen kleinen Bereich davon aufgreift, der sich aktuell in Osteuropa abspielt. Die unprätentiöse und auf den ersten Blick zurückhaltende Arbeit entpuppt sich so als eine mehrdimensionale Darstellung von Landwirtschaft heute, die sich sowohl in einem kritischen Diskurs über Ökonomie und Ökologie als auch als Reflexion des Repräsentationsdiskurses im Kunstfeld verstehen lässt.
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Bilder der Landwirtschaft als Bilder des Fremden: Ich bin gerne Bauer und möchte es auch gerne bleiben (seit 2000) von Antje Schiffers und Thomas Sprenger
Die Arbeit Ich bin gerne Bauer und möchte es auch gerne bleiben basiert auf einem Tauschgeschäft zwischen Künstler_innen und Landwirt_innen: ein Gemälde vom Hof gegen ein Videoporträt der Bäuerinnen und Bauern von ihrer Arbeit. Für die Tauschgeschäfte reisen die Künstlerin Antje Schiffers (*1967) und ihr Projektpartner Thomas Sprenger (*1965) nach vorheriger Kontaktaufnahme zu ausgewählten Bauernfamilien und verbringen dort ein bis zwei Wochen. In dieser Zeit werden die Tauschprodukte hergestellt: Die Künstlerin malt ein Gemälde vom Hof, während die Bauern ihre Arbeit selber filmisch dokumentieren. Während die Filme in den Besitz der Künstler_innen übergehen, bleiben die Gemälde bei den Bauernfamilien. Bis heute haben über 30 solcher Tauschgeschäfte in europäischen und einigen außereuropäischen Ländern stattgefunden. Aktuell wird in jedem Jahr etwa ein Tauschgeschäft durchgeführt, häufig sind Einladungen zu Ausstellungen der Anlass dafür. Gezeigt wird das Projekt Ich bin gerne Bauer und möchte es auch gerne bleiben in seinen unterschiedlichen Zuständen und Dimensionen, mal in seiner Gesamtheit, mal als Ausschnitt. Dabei werden die Videos und Gemälde mit weiteren Dokumenten wie Zeichnungen und Texte in größeren Installationen zusammengebracht. Zu Beginn noch nicht als großes und längerfristiges Projekt ausgerichtet, entstanden die ersten Tauschgeschäfte im Wolfsburger Umland, der Heimat von Antje Schiffers, und wurden in Videos und Gemälden in der Gruppenausstellung Unhomely home gezeigt (Kunstverein Wolfsburg, 2000). Bei der Einzelausstellung Großes Bauerntheater (Wiener Secession, 2007) wurden die neuesten Tauschgeschäfte mit drei österreichischen Bauern in kulissenartiger Ausstellungsarchitektur präsentiert. Die Ausstellung Ich bin gerne Bauer und möchte es auch gerne bleiben (Städtische Galerie Nordhorn, 2009) war als Überblicksschau für die vorangegangene intensive zweijährige Arbeit im Rahmen des Projekts Arbeit in Zukunft der Kulturstiftung des Bundes angelegt. In weiteren Ausstellungen in Deutschland und der Schweiz wurden auch einzelne Filme gezeigt, manchmal ausgewählt von einer lokalen Jury. Zur Ausstellung Hungry City (2012) existierten bereits 25 Tauschgeschäfte, die Beiträge hatten sich zu einer Sammlung geformt. Hier standen den Besucher_innen erstmals alle Bauernfilme zur freien Auswahl an zwei Tischen mit Monitoren und DVD-Playern zur Verfügung, die an der dem Eingang ge-
2. Landwirtschaft im Medium Kunst
Abb. 21: Antje Schiffers und Thomas Sprenger, Ich bin gerne Bauer und möchte es auch gerne bleiben, seit 2008, Ausstellungsansicht Kunstraum Kreuzberg, 2012, 7 Gemälde Öl auf Holz, Texte, Wandzeichnung, Videoarchiv (24 Filme, 540:00 Min.)
genüberliegenden Fensterseite des Raums platziert waren. In einer Nische wurde in einer kleinen kinoähnlichen Situation ein ausgewählter Bauernfilm mit laufendem Ton projiziert. Für die weitere Anordnung der Bestandteile der Arbeit wurden die räumlichen Gegebenheiten genutzt. Auf den Wänden rechts und links der Tische befand sich eine Auswahl von insgesamt sieben Gemälden. Diese waren ergänzt um Papierblätter im DIN-A3-Format mit Texten der Künstlerin zu den verschiedenen Aufenthalten bei den Bäuerinnen und Bauern, die in literarischer, an Tagebucheintragungen erinnernder Erzählform einzelne Erlebnisse wiedergeben. Das Archiv der Filme, die (teils bei den Bauernfamilien ausgeliehenen) Gemälde und die beschreibenden Texte wurden ergänzt durch ein Wandgemälde, das rückwärtig an einer halben Trennwand aufgetragen war. Zugrunde lag auch hier eine Fotografie von einem der Arbeitsaufenthalte, die durch die Vergrößerung per Overheadprojektor in eine stark vereinfachte, stilisierte Darstellung in Schwarz auf die weiße Wand übertragen wurde. Damit kamen verschiedene Arten von Beschreibungen von Landwirtschaft, die sich mehr oder weniger um dasselbe Sujet dre-
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hen, in der Installation zusammen. Sie unterscheiden sich einerseits medial (Film, Gemälde, Wandgemälde, Text). Und andererseits als einmal durch die Künstlerin und einmal durch die Bauern hergestellte Dokumente, die aus ihr jeweiligen Perspektive auf das Sujet blicken. Hier zeigt sich das ethnografische Interesse, mit dem sich Schiffers/Sprenger den Bäuerinnen und Bauern nähern. Denn nur vordergründig geht es bei ihrer Arbeit um die Herstellung eines möglichst diversen Katalogs ländlicher Praxen. Auch wenn hier, eher nebenbei, ein Archiv entsteht, das Filme über die landwirtschaftliche Produktion zu Beginn des 21. Jahrhunderts versammelt.85 Das Projekt öffnet sich vielmehr im Hinblick auf die Frage, wie und ob eine Vermittlung von Wirklichkeit durch Kunst möglich ist, unter welchen Bedingungen sich Wirklichkeit in Dokumenten formiert und um wessen Wirklichkeit es sich jeweils handelt. Denn bei den hier versammelten Wirklichkeitsannäherungen verhält es sich gerade nicht wie beim sogenannten ›Dokumentarischen Stil‹, etwa bei Riebesehl, der vorgibt, ein empirisches Dokument zu erzeugen, welches bei genauer Betrachtung jedoch keines ist (aber dennoch zumindest partiell als solches akzeptiert wird). Im Gegenteil: Es werden explizit subjektive Eindrücke und Wahrnehmungen aufgezeichnet, die Wirklichkeit ganz ohne eine scheinbar wissenschaftliche oder zumindest distanzierte Annäherung dokumentieren. Dabei wird, mit der Beauftragung der Bauern, ihre Arbeit selbst zu filmen, auch die Bedeutung der Subjekt-Objekt-Konstellation des Dokumentierens sichtbar gemacht. Es zeigt sich, dass es keine neutralen Übersetzungen gibt, sondern dass jeder Übersetzung eine subjektive Wahrnehmung oder Subjektorientiertheit unterliegt. Antje Schiffers schreibt selbst über die von ihr formulierten Fragen in ihrer Kunst: Mein Interesse ist in weiten Teilen identisch mit dem des Ethnografen. Dabei teile ich mit ihm nicht nur die Neugier auf das ›Andere‹ und ›Fremde‹, sondern auch methodologische und erkenntnistheoretische Fragestellungen: Ist etwas, das mir fremd ist, für mich überhaupt erfahrbar? Welche Methoden kann ich anwenden, um mich anderen Wirklichkeiten zu nähern? Welche Rolle nehme ich ein, wenn ich versuche, das Erfahrene darzustellen und
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Auch wenn der archivarische Inhalt ebenso wie bei der Arbeit von Bernd und Hilla Becher nur nebensächlicher Art für die künstlerische Bedeutung des Werks ist, so ist ihm sehr wohl auch ein eigener Wert inne. Vgl. Fußnote 25, Kapitel 2.1., S. 10.
2. Landwirtschaft im Medium Kunst
zu repräsentieren? Inwieweit ist es möglich, Erkenntnisse, Bilder und Vorstellungen von einer Kultur in die andere oder von einer gesellschaftlichen Gruppierung in die andere zu übersetzen?86 Der ländliche Raum, die Landwirtschaft und ihre Protagonist_innen werden zum Objekt einer ethnografischen Annäherung, die sich im Kunstraum vermittelt. Der Kunst- und Kulturwissenschaftler Sönke Gau formuliert zur Arbeit Schiffers’ dementsprechend, sie führe »direkt zu der zentralen Fragestellung von Sichtbarkeit und Repräsentation kultureller Differenz zwischen Selbst- und Fremddarstellung«.87 Um dies zu verdeutlichen, werden im Folgenden einzelne Teile der Arbeit noch einmal näher betrachtet und ihre Wirkung in der gemeinsamen Form der Installation bestimmt. Dabei ergänzen auch Details aus der Produktion sowie weitere, durch die Künstler eher beiläufig gesetzte Rahmungen oder Verweise, etwa auf der Internetseite oder auf den Rückseiten von Katalogen, die Untersuchung. Mit Judith Laisters Verbindung der ›Writing-Cultures-Debatte‹ der Ethnologie und der ›Picturing-Cultures-Debatte‹ schließt sich eine Betrachtung der Arbeit von Schiffers/Sprenger vor dem Hintergrund postkolonialer Theorie an.
Dem Fremden begegnen Bedeutsam werden solche subjektiv geprägten Darstellungen dann, wenn sie nicht vom Eigenen, sondern vom Anderen oder gar vom Fremden berichten. Um dieses Andere in den Fokus zu nehmen, arrangieren Schiffers/Sprenger Begegnungen, die meist auf Reisen stattfinden.88 Wenn sie sich in ihren Projekten anderen Kulturen oder allgemeiner gesprochen dem Fremden zuwenden, so tun sie das immer aus ihrer eigenen Position heraus. Das Fremde definiert sich im Unterschied zur Profession der Künstler, zu ihrer Herkunft, ihrem Lebensort oder ihrem sozialen und beruflichen Hintergrund. Für die Begegnungen schlüpft Schiffers in verschiedene Berufsbilder fiktiver und realer Art, oft aus dem Bereich der Kunst, die sie selbst sucht oder die ihr, in Ermangelung existierender Bezeichnungen für ihre Tätigkeiten, zugewiesen 86 87 88
Ebd., S. 32-37. Ebd., S. 15-37. Vgl. auch Sönke Gau, »Ausweitung der Kommunikation. Über ethnografische Ansätze in der Arbeit von Antje Schiffers und die paradoxale Struktur des Authentischen«, in: Antje Schiffers, Ausst.-Kat. Secession, Wien 2007, S. 15-37, hier S. 15f.
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werden. So verbringt sie ein Jahr als Blumenmalerin in Mexiko (da wo ich war, 1997-1999), ist als Wandermalerin in Italien und dem Kaukasus unterwegs (Wie ich über Palermo nach Siena fuhr, 2000; Bin in der Steppe, 2002), als Werksmalerin in der Fabrik angestellt (Hauptsache man hat Arbeit, 2003) oder als Botschafterin für deutsche Kunst und Kultur in Osteuropa auf Reisen (Unsere Frau in Minsk, 2004; Im Staatsauftrag, 2005). Dabei steht einerseits die Frage im Raum, wie es möglich ist, andere Kulturen vor dem eigenen, eingeschränkten Hintergrund wahrzunehmen, und andererseits, wie es möglich ist, diese wieder an ein Publikum zu vermitteln. Daran geknüpft ist immer auch die Frage nach der eigenen Rolle, die in diesem Zusammenspiel eingenommen wird. Das Interesse am Fremden lässt sich in der Arbeit von Schiffers/Sprenger auch auf die Wahl des Sujets Landwirtschaft übertragen. Diese ist im Zusammenhang mit der Kunst in gleich zweifacher Hinsicht als fremd zu bezeichnen. Einerseits als ein Bereich, der der Kunst in seinem Charakter als angewandte, reale Beschäftigung fremd ist. Und andererseits als ein Bereich, der einer mittlerweile stark urban geprägten Gesellschaft und ganz besonders einer vornehmlich städtischen Kunstszene nahezu unbekannt ist. Nun knüpft sich an alle von Schiffers/Sprenger auch im Zusammenhang mit anderen Projekten besuchten Kulturkreise von Mitteleuropa aus betrachtet eine gewisse Exotik: ein abgeschiedenes Dorf in Mexiko, Osteuropa, der Kaukasus und nun der ländliche Raum. Schiffers/Sprenger zeigen Landwirtschaft und ländliche Kultur als etwas ganz Eigenes und, entgegen aktueller kulturgeografischer Erkenntnisse, als in sich abgeschlossenen Bereich.89 Das Fremde zeigt sich hier in seiner exotisch marginalisierten Form dem Feld der Kunst diametral gegenüberstehend. Die Orte und Menschen stehen in ihrer Marginalisiertheit auf besondere Weise für Authentizität. In den Differenzen zwischen Objekt und Subjekt und den daraus resultierenden Beobachtungen und Übersetzungen werden die Blickregime sichtbar gemacht.90 89
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Kulturgeografisch geht man aktuell von einer Einebnung der Unterschiede zwischen dem Leben auf dem Land und dem in der Stadt aus. Vgl. z.B. ARCH+ 228, Stadtland – Der neue Rurbanismus, April 2017. Im künstlerischen Einsatz kann man darin, historisch betrachtet, auch eine politische Haltung sehen, wie etwa der Abkehr von bürgerlichen Sujets bei Jean-François Millet und Gustave Courbet. Vgl. auch Maika Pollack, »Das Bild des Arbeiters. Darstellung des Ländlichen im Realismus und im Theater«, in: David Levine,Bauerntheater, Berlin 2007, S. 33-47, besonders S. 36ff.
2. Landwirtschaft im Medium Kunst
Abb. 22: Antje Schiffers und Thomas Sprenger, Ich bin gerne Bauer und möchte es auch gerne bleiben, seit 2008, Hinojosa del Valle, Extremadura Spanien, Öl auf Holz, 42 x 70 cm
Die Installation als ethnografisches Konstrukt Zunächst soll ein Blick auf die beim Tausch direkt entstehenden Produkte, die Gemälde und Videos geworfen werden, stellen sie doch den Mittelpunkt der präsentierten Arbeit dar. Die Motive der Gemälde, die später bei den Bauern verbleiben, werden nach Absprache mit den Bauernfamilien ausgewählt und reichen von klassischen Hofansichten bis zu Detailausschnitten. Bezeichnet sind sie mit nüchternen Formulierungen des Dargestellten, so z.B.: Auf der Wiese, vor dem Wald oder Haus und Garten oder auch In der Maschinenhalle. Neben recht klassischen Gesamtansichten der Höfe gibt es, das verraten auch die Titel der Gemälde, sehr unkonventionelle bzw. nichtrepräsentative Gemälde von Ställen und Maschinenhallen, von den Rückseiten der Höfe sozusagen, die neben der Tauschware entstehen. Die Größe der Gemälde ist unterschiedlich, ca. 40 x 70 cm, und damit nicht größer als für eine Staffelei geeignet. Sie entstehen meist en plein air, gemalt wird mit Öl auf Holz, den Blick auf das Objekt gerichtet. Verschiedene Abbildungen, etwa auf der Internetseite des Projekts, kolportieren, wo sich Schiffers mit der Staffelei bei der Arbeit be-
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findet. Ganz explizit wird hier die Übertragung einer realen Situation in ein gemaltes Bild betont, in der die Künstlerin die Rolle der Übersetzerin einnimmt. Dieses Prinzip der naturalistischen Malerei entstand im 19. Jahrhundert (mit dem Aufkommen der transportablen Farben in Tuben) und wurde verstärkt von den neuen Landschaftsmalern in Barbizon, zu denen der bereits erwähnte Jean-François Millet als einer der bedeutendsten Maler des bäuerlichen Lebens gehörte, angewendet. Die französischen Maler prägten damit auch ein Landschaftsbild, welches, bedingt durch die Entstehungsweise vor Ort, eher kleinformatig war und sich inhaltlich von der idealen Landschaft zugunsten einer naturalistischen abgewendet hatte.
Abb. 23 und 24: Antje Schiffers und Thomas Sprenger, Ich bin gerne Bauer und möchte es auch gerne bleiben, seit 2008, die Künstlerin als Plein-Air Malerin
Zwei weitere historische Verweise im Werk von Schiffers/Sprenger sollen hier Erwähnung finden, die die künstlerische Arbeit in den Kontext einer jahrhundertealten Tradition stellen. Einmal zur Kunst vor dem 19. Jahrhundert als feudal-aristokratische und kirchlich beauftragte Kunst, in der die Auftraggeber ebenso die Inhalte der Gemälde bestimmten wie hier nun die Bauern.91 Und andererseits zur gesellschaftsorientierten Auftragskunst eines
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»Die Bauern können sich durch die Beauftragung der Gemälde zumindest gedanklich in die lange Tradition feudal-aristokratischer und kirchlicher Auftragskunst einreihen und erfahren gleichzeitig noch die emotionale Wertsteigerung, die sich darin ausdrückt, dass das Bild nicht nur ein für sie gefertigtes Original ist, sondern auch noch exakt das repräsentiert, was sie sich gewünscht hatten, also gewissermaßen den Tatbestand eines doppelten Originals erfüllt«, Stefan Berg, »Die Doppelagentin«, in: Auf dem Boulevard Réaumur-Sébastopol, Ausst.-Kat. Kunstverein Hannover, 2005, S. 61f.
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ideologisch geprägten Systems im Sozialistischen Realismus, was Antje Schiffers gezielt aufruft, wenn sie im Kontext eines anderen Projekts auf der Suche nach dem Motiv für ein Wandbild keineswegs abwertend schreibt, sie fühle sich »wie eine sozialistische Kombinatskünstlerin«.92 Mit diesen Bezügen wird auf Dimensionen der Geschichte der Kunst verwiesen, mit denen Schiffers/Sprenger Fragen nach der Autonomie der Kunst aufrufen.
Abb. 25 und 26: Antje Schiffers und Thomas Sprenger, Ich bin gerne Bauer und möchte es auch gerne bleiben, seit 2008, Hinojosa del Valle, Extremadura Spanien, Video (24:00 Min.), Filmstills
Anhand kleiner Verschiebungen in der herkömmlichen Subjekt-ObjektKonstellation stellen sie zugleich die tradierte Definition von Kunst zur Disposition. Und zwar, indem zeitgleich zur Herstellung des Gemäldes die Bauernfamilien dazu aufgefordert sind, einen Film über ihre Arbeit herzustellen. Dass diese Filme in Zukunft als Teil des Kunstprojekts gezeigt werden, ist den Bauernfamilien bekannt. Mit Unterstützung von Thomas Sprenger werden die Aufnahmen weiterverarbeitet und zu ca. zehnminütigen Filmen geschnitten, die mit Untertiteln und Musik (nach Wahl der Bauern) eine Zusammenfassung der Arbeit auf dem Hof geben. Je nach Spezialisierung der Betriebe sind die Filme dominiert von Darstellungen der Produktionsprozesse von Fleisch, Milch, Getreide etc., oder die verschiedenen Tätigkeiten, die über den Tag hinweg verrichtet werden, kommen in ihrer Abfolge vor. Immer wieder sind auch Aufnahmen vom gedeckten Essenstisch der Familie und den gemeinsamen Mahlzeiten zu sehen. Mit der Übertragung der Aufzeichnung an die Bauernfamilien verweigern die Künstler_innen vordergründig den Blick 92
Ebd., S. 47.
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von außen auf die Situation und damit eine bevormundende Setzung. In dieser Vermeidungsstrategie verbirgt sich jedoch ein Aufmerksamkeitspotenzial. Man kann diese Selbstermächtigung als eine Erfüllung der Forderungen nach mehr Mitsprache der Marginalisierten (welche die Bäuerinnen und Bauern aufgrund ihrer Außenseiterposition zur Kunst eindeutig einnehmen) lesen. Der Blick der Bauernfamilien auf die eigene Situation ließe sich so als die bessere, da authentischere Wirklichkeitsdarstellung verstehen. Jedoch wird hier über die Selbstermächtigung deutlich, was weniger die von Craig Owens festgestellte Gefahr einer Bestätigung oder Verfestigung der marginalisierten Positionen betrifft, als vielmehr, dass sich auch die Bauernfamilien in ihren Filmen der Wirkung von Bildern bewusst sind und die Herstellung ihrer Filme von diesem Wissen geprägt ist.93 Sie verfolgen dabei jedoch keineswegs einen neutraleren Zugang, der es vermag, uns einen ganz unverstellten Einblick in ihre Lebensrealität zu geben. Im Gegenteil sind sie bei der Produktion recht genau in der Umsetzung ihrer Vorstellung von dem zu produzierenden Film. Darauf verweist Schiffers, wenn sie beschreibt, dass manche vergessenen Szenen auf Wunsch der Bauern noch einmal nachgespielt wurden – die Kühe also noch einmal aus dem Stall getrieben wurden, um in der Dramaturgie des Films auch korrekt zu bleiben.94 Der Blick der Bauern zeigt sich in seiner Subjektivität von der zu erwartenden Öffentlichkeit deutlich geprägt. Einmal mehr wird hier deutlich, dass es keinen objektiven Blick geben kann, sondern dieser immer schon kontaminiert durch das Subjekt ist. Diese Ausrichtung auf Fragen der Autonomie und der Autorschaft, aufgerufen durch die Produkte im Tauschgeschäft, würde jedoch kaum derart zum Tragen kommen, wären die Aufzeichnungen nicht eingebettet in eine Installation und kombiniert mit weiteren Dokumenten zu sehen. So finden sich in der Installation im Zusammenspiel mit den Gemälden auch die Texte, die ebenfalls aus den persönlichen Begegnungen von Antje Schiffers mit ihren Tauschpartnern und den daran geknüpften Situationen resultieren. Als Texte sind sie ebenfalls Übersetzungen von Wahrnehmung, auf deren narrativer Ebene eine fiktionale Ausrichtung mitschwingt. So lautet ein Text beispielsweise:
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Owens sieht keinen Mangel an Repräsentation, sondern in den Formen der Repräsentation die Gefahr, dass sich die Unsichtbarkeit der Marginalisierten vielmehr verstärkt. Vgl. auch Juliane Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst, Hamburg 2013, S. 160. Vgl. Antje Schiffers, Thomas Sprenger (Hg.), »Einführung«, in: Ich bin gerne Bauer und möchte es auch gerne bleiben, Ausst.-Kat. Städtische Galerie Nordhorn, Berlin 2009, S. 7.
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In Österreich haben wir einen langen und heißen Sommer verbracht. Die Hitze hat früh angefangen und bis zum letzten Tag nicht nachgelassen. Schon um halb neun am Morgen war es heiß auf schattenlosen Wiesen oder unter dem Blechdach der Maschinenhalle in Großmugl. Die Dorfjugend hat im Feuerwehrteich gebadet. Das Baden in Feuerwehrteichen war verboten, aber die Feuerwehr hat den Badenden am Beckenrand Eis verkauft.95 In ihrer erzählerischen und humorvollen Art geben diese kurzen Texte Einblicke in spezifische Situationen. Die persönliche Wahrnehmung wird uns hier in ihrer ganzen Irrationalität angeboten, die sich (auch inhaltlich) in der literarischen Form niederschlägt. Der shift vom Bild zum Text schafft damit auf besondere Weise Aufmerksamkeit für die Frage nach realistischer Wirklichkeitsdarstellung. Empirische Resultate aus der ›teilnehmenden Beobachtung‹, einem Vorgehen aus der Ethnologie, zeigen sich hier in all ihrer Anzweifelbarkeit. Mit der Betonung der subjektiven Wahrnehmung, die sich in der narrativen Erzählform des Textes niederschlägt, wird der Blick der Betrachter_innen besonders geschärft für die Übersetzungen von Wahrnehmungen in Dokumente jedweder Art und ihre Fragilität als Realitätsbeschreibungen. Zuletzt heben die Wandgemälde, die als vierte Komponente die Ausstellung ergänzen, die Installation in eine besondere Präsentationsform. Die stilisierten und extrem vergrößerten Schwarz-Weiß-Darstellungen zeigen Situationen, die ebenfalls aus dem Repertoire der künstlerischen Begegnung mit den ländlichen Orten entstehen. Einerseits sind sie als weiterer Baustein der Installation zu betrachten, andererseits nehmen sie die Rolle einer räumlichen Verbindung ein. Sie schaffen einen Hintergrund, vor dem die bis hierhin beschriebenen Dokumente inszeniert werden, und geben der Installation zugleich als verbindendes Element einen Inszenierungscharakter. In der Einzelausstellung in der Wiener Secession (2007) mit dem paradigmatischen Titel Großes Bauern-Theater wurden von fotografischen Vorlagen erstellte Hintergründe eigens von einer Kulissenmalerin hergestellt, vor denen die »Stücke« der Bauernfamilien, die Gemälde und die Filme zu sehen waren.96 In 95 96
Ebd., S. 20. Hier ergibt sich eine interessante Parallele zum ProjektBauerntheater des Künstlers David Levine. Mit der Vorlage eines Textes von Heiner Müller, »Die Umsiedlerin«, entstand hier ein Theaterstück, bei dem ein Schauspieler einen Monat lang einen Acker in Brandenburg mit Kartoffeln bestellte. David Levine, Bauerntheater, Mai 2007, Joachimsthal. Dokumentiert im Katalog David Levine, Bauerntheater, Berlin 2007.
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Ergänzung der fotografischen Vorlagen durch ein Filmstill aus einem populären Spielfilm mit ländlichem Thema wurde die Präsentation deutlich ins Fiktionale erweitert.97 Wenngleich die Vorgehensweise in der hier besprochenen Präsentation in Berlin im Vergleich zum Großen Bauern-Theater in Wien sehr viel zurückhaltender ausfällt, so gibt auch hier das Wandgemälde einen Hinweis auf die Inszeniertheit der Kunst und ihrer Wirklichkeiten. Die beschriebene Art der installativen Anordnung – hier der von den Bauern ausgeliehenen Gemälde, der Videos, der Wandgemälde und der auf Papier gedruckten Texte – ist eine wiederkehrende Form in verschiedenen Varianten der Präsentation des Projekts. Die Installation eröffnet einen Raum des Vergleichs, in dem die verschiedenen Dokumente in ihren Wirklichkeitsansprüchen und Repräsentationsformen gerade durch die Kombination und Nebeneinanderstellung unterschiedlicher Autorschaft und Erscheinungsform hervortreten. Die Präsentation wird so zu einem Ort, an dem die Differenzen von Wirklichkeitsbeschreibungen durch Bilder und Texte sichtbar und damit verhandelbar werden. Damit kommt den Betrachter_innen die Rolle zu, die unterschiedlichen Artefakte miteinander zu verbinden und zueinander ins Verhältnis zu setzen. Denn erst in der gebündelten Reflexion der verschiedenen Dokumente und ihrer Setzungen entfalten sie ihre Wirkung. Die Betrachter_innen sind damit in der Installation die zentrale Komponente des installativen Systems, für die und durch die sich die Dokumente in ihrer Unterschiedlichkeit öffnen. »Who speaks? Who writes? When and where? With or to whom? Under what institutional and historical constraints?« sind Fragen des Ethnologen James Clifford, die die Kulturanthropologin und Kunsthistorikerin Judith Laister im Rückblick auf die ›Writing-Culture-Debatte‹ auch für Kunstwerke in Anschlag bringt. Clifford bezeichnet die im Zusammenhang mit der Krise der ethnografischen Repräsentation gestellten Fragen als »Leitfaden kulturanthropologischer Selbstreflexion« an das Dokument und seine Entstehung.98 In der sogenannten ›Writing-Culture-Debatte‹ wurde die Verbindung
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Aus dem Film Der Sternsteinhof (1976) von Hans W. Geissendörfer. Siehe Werkliste, Ausst.-Kat. Antje Schiffers, Secession, Wien 2007, S. 91. Judith Laister, »Andere Bilder. Im Dienste ethnographischer Repräsentationskritik«, in: Beate Binder, Dagmar Neuland-Kitzerow, Karoline Noack (Hg.), Kunst und Ethnographie. Zum Verhältnis von visueller Kultur und ethnographischem Arbeiten, Berlin 2008, S. 20-30, hier S. 21.
2. Landwirtschaft im Medium Kunst
von ethnologischen Beobachtungen und ihrer Formulierung als Text hinterfragt. Der »Meta-Anthropologe« Clifford verweist hier auf die Vermischung von »Fakten und Fiktionen«, die verschriftlichte Beobachtungen automatisch herstellen.99 Und darauf, dass sich in die Beschreibung der Fakten immer schon persönliche Haltungen der Aufzeichnenden mischen, die ablesbar bleiben.100 Er geht davon aus, dass eine unvermeidbare und sogar notwendig subjektive Übersetzung dann gelingt, wenn die Bedingungen, unter denen sich diese formiert, offengelegt werden. Laister verweist auf die Debatte auch vor dem Hintergrund eines erstarkten ethnologischen Interesses in der Kunst, das bereits in den 1990er-Jahren vom Kunstkritiker Hal Foster in seinem viel beachteten Text »The artist as ethnographer« beobachtet wurde.101 Die Arbeit von Schiffers/Sprenger in diesem Zusammenhang zu sehen heißt, die in diesem Kontext umstrittene Rolle der Produzent_innen genau zu beleuchten.102 Denn, so auch die Kritik Fosters an den von ihm beschriebenen ethnografisch arbeitenden Künstler_innen, ohne eine Reflexion der eigenen Verwicklung und der des eigenen Feldes würde eine Annäherung an das Andere nur die bestehenden Stereotype von Selbst und Anderem zitieren.103
Vom Nutzen und Wert der Kunst Mit den verschiedenen Rollen, die vor allem durch Schiffers eingenommen werden und die die Frage nach Kunst im Verhältnis zur sonstigen Arbeit anreißen, dreht sich das Werk auch um die Frage nach der Wertigkeit von Kunst,
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Volker Gottowik, »James Clifford. Ethnographie als allegorische Beschreibung des Fremden«, in: Stephan Moebius, Dirk Quadflieg (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2006, S. 178-186, hier S. 178f. 100 Vgl. hierzu Judith Laister, »Andere Bilder. Im Dienste ethnographischer Repräsentationskritik«, in: Beate Binder, Dagmar Neuland-Kitzerow, Karoline Noack (Hg.), Kunst und Ethnographie. Zum Verhältnis von visueller Kultur und ethnographischem Arbeiten, Berlin 2008, S. 20-30, hier besonders S. 21f. 101 Hal Foster, »The artist as ethnographer«, in: The return of the real, New York 1996, S. 171203. 102 Vgl. dazu auch Doris Berger, »Künstler/innenalltag – eine diplomatische Angelegenheit«, in: bin in der steppe, Ausst.-Kat. Kunstverein Wolfsburg, 2004, S. 70-77, hier besonders S. 71f. 103 Vgl. auch Juliane Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst, Hamburg, 2013, S. 186f.
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ihrem gesellschaftlichen Nutzen sowie ihrem Stellenwert allgemein.104 Und hier erfüllt sich die von Foster notwendigerweise verlangte Reflexion der eigenen Position auch im Produktionsprozess.105 So hat sich Antje Schiffers immer wieder in die Rolle einer Arbeitenden unter vielen begeben, nur im Beruf der Künstlerin, den sie damit in seiner gesamtgesellschaftlichen Bedeutung zur Disposition stellt. Damit hat sie nicht nur den Stellenwert von Kunst gegenüber anderen Tätigkeiten, sondern immer auch die Frage nach möglichen und notwendigen Leistungen von Kunst behandelt.106 Sie handelt dafür immer im (öffentlichen) Auftrag, angelehnt an die jeweiligen Förderer und Institutionen, die sie einladen, oder, um in Schiffers vorgegebenem Verständnis zu bleiben, die sie beschäftigen. Mit ihrem Beruf Künstlerin ist sie dann nicht nur ›Werksmalerin‹ oder ›Botschafterin‹, sondern befindet sich zum Beispiel auch auf Dienstreise (Wie ich Geschäfte mache, 2002). Mit dieser spielerischen Anteilnahme am Rest der Arbeitswelt unterstreicht sie gleichzeitig die Andersartigkeit der Kunst. Die Wertigkeit der Ware Kunst, die die Künstlerin anbietet, ergibt sich daraus, dass sie entweder bezahlt wird oder gegen andere Dinge zu tauschen ist. Die Leistungen aus der Kunst sind neben den Gemälden und Zeichnungen auch Geschichten, die sich in Vorträgen und Präsentationen von ihren Projekten wiederfinden. Der Nutzen ihrer Kunst und von Kunst generell wird im Verhältnis zum Fremden, zum Anderen immer wieder ausgelotet. So auch in den Tauschgeschäften mit den Bauern, in denen Gemälde und Videofilme als Tauschwaren dienen, deren jeweilige Wertigkeit Schiffers hinterfragt, wenn sie betont, dass sie immer 104 Vgl. auch Stefan Berg, »Die Doppelagentin«, in: Auf dem Boulevard Réaumur-Sébastopol, Ausst.-Kat. Kunstverein Hannover, 2005, S. 61. 105 »Wie der Benjamin’sche Autor als Produzent hat sich über 70 Jahre später auch der engagierte Kunstschaffende bzw. Forschende im Bourdieu’schen Sinne zuerst die Frage nach seiner eigenen Positionierung im Produktionsprozess zu stellen.« Judith Laister, »Andere Bilder. Im Dienste ethnographischer Repräsentationskritik«, in: Beate Binder, Dagmar Neuland-Kitzerow, Karoline Noack (Hg.), Kunst und Ethnographie. Zum Verhältnis von visueller Kultur und ethnographischem Arbeiten, Berlin 2008, S. 20-30, hier S. 28. 106 Interessant in diesem Zusammenhang auch die Verbindung, die die Kunsthistorikerin Maika Pollack zwischen dem Theaterstück Bauerntheater von David Levine und der Arbeit Site von Robert Morris zieht. In der Reflexion von künstlerischer Arbeit im Verhältnis mit anderer Arbeit sieht sie Mittel »[…] um den Gegensatz der binären Begriffe von Kunst und Arbeit zur Disposition zu stellen, der traditionell die Kunst von der Politik und die Künstler vom politischen Protest distanziert«. Maika Pollack, »Das Bild des Arbeiters. Darstellung des Ländlichen im Realismus und im Theater«, in: David Levine, Bauerntheater, Berlin 2007, S. 33-47, besonders S. 43f.
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auch noch diverse andere Geschenke erhalten hätten während ihrer Aufträge, was wohl bedeuten muss, dass das Tauschgeschäft zumindest für eine Seite noch nicht ausgeglichen war. Oder sie beschreibt, dass sie manchmal überlegt, ob es die Kategorie »angemessen gut« für Bilder gibt.107 Die Frage nach der Wertigkeit wird durch die Gleichsetzung der Produktionswerte und der Tauschwaren zur Folie für die Frage nach dem Verhältnis von künstlerischer und »wirklicher« Arbeit und verhandelt damit den Stellenwert und die Möglichkeiten von Kunst in der Gesellschaft. Diese Einordnung ist vor dem Hintergrund eines Interesses an der Bedeutung und den Möglichkeiten eines künstlerisch/ethnologischen Transfers notwendig, um nicht Kunst und Realität auf naive und unfruchtbare Weise zu vermischen. Denn ähnlich der aus ethnologischen Felduntersuchungen hervorgehenden ethnografischen Medien der Aufzeichnung und Vermittlung sind auch die künstlerischen Dokumente einer Subjektivität und Subjektorientiertheit unterlegen, die hier jedoch als Teil des Kunstwerks offengelegt werden. In dieser Hinsicht ähneln sich zwar nicht die künstlerischen Produkte von Künstler_innen mit ethnografischen Interessen und solchen der ›Pictures-Generation‹, jedoch unterliegen sie einem gemeinsamen Verständnis vom Bild, das bildwissenschaftlich im Sinne einer ›Picturing-Culture-Debatte‹ geprägt ist.108 Wobei der Blick der Betrachtenden in der Arbeit von Schiffers/Sprenger nicht nur auf die Verfasstheit von Bildern in einer medialen Welt gelenkt wird, sondern die Wirkung von Bildern hier in ihrem ganz speziellen Anliegen in den Blick gerät: der Repräsentation zum Zweck der kulturellen Vermittlung. Daher kann die Rolle von Schiffers/Sprenger im disparaten Verhältnis von Kunst und Landwirtschaft auch als die von Kulturvermittlern beschrieben werden, wenngleich nicht im pädagogischen, sondern im ethnologischen Sinn einer Vermittlung, die eher der Aufklärung dienen soll als der Belehrung. 107 Antje Schiffers, Thomas Sprenger (Hg.), Ich bin gerne Bauer und möchte es auch gerne bleiben, Ausst.-Kat., Städtische Galerie Nordhorn, Berlin 2009, S. 7. 108 So verweist Judith Laister in ihrem Text denn auch auf zwei theoretische Richtungen, die sich aus der ›Krise der Repräsentation‹ ergeben und die sich in zwei Debatten niederschlagen: einerseits die erwähnte ›Writing-Culture-Debatte‹, die sich vor allem auf Fragen der Übersetzung von Wahrnehmung bezieht, und zum anderen der auf die von ihr als ›Picturing-Culture-Debatte‹ bezeichnete bildwissenschaftliche Diskurs von Pictorial und Iconic Turn. Judith Laister, »Andere Bilder. Im Dienste ethnographischer Repräsentationskritik«, in: Beate Binder, Dagmar Neuland-Kitzerow, Karoline Noack (Hg.), Kunst und Ethnographie. Zum Verhältnis von visueller Kultur und ethnographischem Arbeiten, Berlin 2008, S. 20-30, hier S. 24f.
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In der Begegnung mit dem Anderen, im aktuellen postkolonialen Verständnis anderer Kulturen, aber auch der Wiedergabe von Fragmenten der Welt in künstlerischen Formen zeigen die Künstler damit Wirklichkeitsproduktion nicht nur in ihrer Komplexität, sondern auch in ihrer Problematik. So birgt die Frage nach einer Vermittlung von Kultur hier auch die für beide Seiten relevante Problematik einer Übersetzung von Wahrnehmung in erfahrbare Darstellung von Wirklichkeit, die sich als das grundlegende Problem von Repräsentation bezeichnen lässt. Dabei wird deutlich, dass es keine neutralen Wiedergaben von erlebter Wirklichkeit geben kann: Wirklichkeit zeigt sich hier in ihrem fragilen Charakter, der sich in den unterschiedlichen wahren und gleichzeitig anzweifelbaren Dokumenten offenbart. Ebenso verhält es sich mit den Dokumenten, die Schiffers/Sprenger zusammenbringen. Um die Grenzen zwischen Selbst und Anderem nicht zu zementieren, schaffen die Künstler_innen mit der dokumentarischen Vielfalt eine Erfahrungsmöglichkeit des Kunstwerks, die zum Spiegel unserer Blicktraditionen wird. Wenn Gau schreibt, »Antje Schiffers’ künstlerische Praxis zeichnet sich dadurch aus, dass sie diese identitätspolitische Dialektik nicht vorgibt aufzulösen, sondern zum zentralen Thema ihrer Arbeiten macht«, dann unterstreicht er, dass die Künstler nicht an Versöhnung, sondern an Aufklärung interessiert sind.109 Das Kunstwerk folgt keinem Auftrag eines sich womöglich hintergründig im Titel der Arbeit Ich bin gerne Bauer und möchte es auch gerne bleiben anklingenden Bedarfs von Veränderung im Sinne einer Arbeit an den konkreten politischen Möglichkeiten, sondern schafft einen Verweis auf die Verstrickungen, die sich mit dem Blick aus der darstellenden Tradition der Kunst auf ein ihr derart fernes Thema ergeben. Wenn das Projekt aber dennoch Konsequenzen für Kurator_innen und Institutionen hat, die die Kunst bei den Bäuerinnen und Bauern oft nur unter ungewöhnlichen Bedingungen ausleihen können, erweitern sich die Erfahrungsmöglichkeiten auch auf den institutionellen Rahmen.110
109 Vgl. Sönke Gau, »Ausweitung der Kommunikation. Über ethnografische Ansätze in der Arbeit von Antje Schiffers und die paradoxale Struktur des Authentischen«, in Ausst.Kat. Antje Schiffers, Secession, Wien 2007, S. 15-37, hier S. 20. 110 So stellt es mitunter eine große Herausforderung dar, die Gemälde bei den Bauern auszuleihen. Sie selber haben wenig Zeit und keine Expertise für das Verpacken der Bilder. Lieferanten, wie etwa Fedex, holen meist nicht aus ländlichen Regionen ab bzw. sind auch in einzelnen Ländern, wie etwa in Rumänien, nicht vertreten.
2. Landwirtschaft im Medium Kunst
2.5
Eine mobile Bibliothek: die Bibliobox (2005 - 2016) von Wapke Feenstra/Myvillages
Die Bibliobox lässt sich als eine mobile, thematisch sortierte Kunstbibliothek beschreiben, die in Dokumentationen und Originalen Kunstprojekte mit Bezug zum ländlichen Raum und zur Landwirtschaft versammelt. Mit der Bibliobox bringt Wapke Feenstra für die Künstlerinnengruppe Myvillages Kunst über das Land auf das Land, wo sie sich damit an interessierte Institutionen und Personen wenden. Anhand der Publikationen und Kunstwerke in der Bibliobox werden so Gespräche über Kunst und Land initiiert. Dabei blättert sich das Verhältnis von Kunst und Land(-wirtschaft) vor seinen gesellschaftlichen und politischen Hintergründen auf, die vornehmlich in ihrer institutionellen Repräsentation betrachtet werden. Aus diesem Zusammenhang ergeben sich einige weitreichende Fragen, die sich auf das gesamte Feld der Kunstproduktion und insbesondere den Einsatz von Kunst mit gesellschaftsrelevanten Themen und die daran geknüpften Erfolgserwartungen beziehen. Warum wird heute Kunst über das Land und auf dem Land produziert? Wer sind die Auftrag-, wer die Geldgeber_innen? Wer die Rezipierenden? Warum gibt es in manchen Ländern mehr Kunst über das Land als in anderen? Warum werden bestimmte Programme für Kunst im ländlichen Raum entwickelt, und welche kulturpolitischen Interessen drücken sich darin aus? Die nähere Betrachtung wird zeigen, wie die Künstlerinnengruppe Myvillages mit der Bibliobox anhand des Verhältnisses der Kunst zum Land Fragen der Institution thematisiert und so, mit dem mobilen und partizipativen Kunstwerk, Institutionskritik betreibt.
Die Künstlerinnengruppe Myvillages 2003 begannen die Künstlerinnen Kathrin Böhm (*1969), Antje Schiffers (*1967) und Wapke Feenstra (*1959) als Myvillages (bis 2013 als myvillages.org) zusammenzuarbeiten. Ausgangspunkt ihrer Arbeit ist die Gemeinsamkeit einer Herkunft vom Land und das bleibende Interesse an diesem, unabhängig von ihren heutigen urbanen Lebensorten wie Rotterdam, Berlin und London. Das Arbeiten in verschiedenen gemeinschaftlichen Zusammenhängen stellt ein wesentliches Anliegen der Künstlerinnen dar, die jeweils
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Kunst und Landwirtschaft
auch in anderen Kollaborationen aktiv sind.111 In der Arbeit als Gruppe und in der Vernetzung mit anderen Künstler_innengruppen lässt sich bereits die Ablehnung eines marktkonformen Solokünstler_innentums ausmachen, das den Vorgaben eines deutlich urban geprägten Kunstmarktes entspricht. Die kollaborative Praxis als Künstlerinnengruppe bietet darüber hinaus die Möglichkeit, ein außergewöhnliches Thema gleich an drei Standorten, den Kunst- und Kulturszenen der jeweiligen Lebensorte, im Diskurs etablieren zu können. Als Myvillages behandeln sie – mit stetig wachsendem Interesse der Kunstwelt – in langfristigen oder fortlaufenden Projekten Themen des Landlebens und speziell der Landwirtschaft.112 Dabei spielt besonders die Repräsentation von Landwirtschaft eine wiederkehrende Rolle. Bilder der Landwirtschaft war entsprechend auch der Titel eines Symposiums, das die Künstlerinnengruppe 2010 in Zusammenarbeit mit der Städtischen Galerie Nordhorn veranstaltete. Im Pressetext dazu hieß es: Über wenige Themen existieren so viele Vorstellungen und Bilder wie über den Bauern und die Landwirtschaft. Das Symposium widmet sich der Produktion dieser Bilder in den Feldern von Kultur und Mythenbildung, von Öffentlichkeit und Wissenschaften, von kulturellem Erbe und bildender Kunst.113 Anhand aktueller und historischer Bezüge wurde hier die Darstellung von Landwirtschaft hinterfragt, insbesondere auf die Frage hin, welches Verlangen, welche Wünsche sich hinter den die Landwirtschaft zitierenden Bildern, sei es im Kinderbuch, im Film oder in der Kunst, verbergen.114 Die beschriebe-
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Antje Schiffers arbeitet als Künstlerduo zusammen mit Thomas Sprenger; Kathrin Böhm im Kollektiv Public Works sowie immer wieder auch in anderen, größeren, internationalen Netzwerken. Bei den Projekten Vorratskammer, International Village Shop und aktuell International Village Show – alle Dörfer an einem Ort handelt es sich jeweils um Projekte, die jeweils über einen längeren Zeitraum oder sogar als fortlaufendes Projekt geführt wurden und werden. Vgl. www.myvillages.org, Zugriff 22.02.2018. Ebd. Das Symposium endete mit einem Workshop, bei dem die Teilnehmer_innen aufgefordert waren, ihr Bild eines Bauernhofes zu malen. Besonders deutlich wird hier, was auch anhand bereits besprochener Arbeiten sichtbar wurde: Landwirtschaft ist ein Thema, von dem beinahe jeder aufgrund von Erlebnissen oder Erzählungen eine bestimmte Vorstellung hat, das an bestimmte Repräsentationsformen gebunden ist. Ebd.
2. Landwirtschaft im Medium Kunst
nen Themen betrachten Myvillages stets auch im Wechselverhältnis von ruralen und urbanen Realitäten: »Our interest is the rural as a space for and of cultural production and the continuously evolving relationship between urban and rural practices, geographies and realities.«115
Abb. 27: Wapke Feenstra/Myvillages, Bibliobox, 2005 - 2016, Karton, Bücher, Filme, Objekte
Die Bibliobox wurde 2005 als eines der ersten gemeinsamen Werke von Myvillages vorgestellt. Sie besteht aus einer Holzkiste in moderaten, (auch per Post) verschickbaren Maßen, befüllt mit Dokumentationen von Kunstprojekten, die auf dem Land stattgefunden haben, und solchen, die Themen des Landes behandeln. Neben diesen Dokumentationen meist in Form von Katalogen und Künstler_innenpublikationen finden sich auch künstlerische Filme und einige wenige andere kleine Kunstwerke. Zum Beispiel die Arbeit Eau de Polder (Birthe Leemeijer, 2002-2005), ein Parfüm, das den Geruch der in den Niederlanden verbreiteten Entwässerungssysteme auf dem Land imitiert und durch seine olfaktorische Wirkung den bezeichneten niederländischen Landschaftsraum in das Gedächtnis ruft. Die Bibliobox kann sich schi115
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Kunst und Landwirtschaft
cken lassen, wer sie für eine Veranstaltung oder eine Ausstellung benutzen möchte, besonders angesprochen sind Institutionen im ländlichen Raum oder solche, die diesen verhandeln. Die umfangreiche Liste der Ziele zeigt dementsprechend: Die Box reist weniger in Städte, als vielmehr in ländlich gelegene Orte, wenngleich dies keine Bedingung ist. Sie war bereits in Australien, England, Schweden, Tschechien, Irland, Deutschland und den Niederlanden eingeladen. Die Mobilität der Box ist für ihren weltweiten Einsatz Voraussetzung. Gleichzeitig erinnert sie in ihrer mobilen Form auch an aktuelle Entwicklungen der Daseinsvorsorge in strukturschwachen ländlichen Gegenden. Aufgrund des demografischen Wandels und des Rückgangs der Bevölkerung auf dem Land werden bestimmte Infrastrukturen der Daseinsvorsorge nicht mehr aufrechterhalten, sondern durch temporäre und mobile Dienste ersetzt – sei es der Bus, der nur nach Bedarf fährt und per Telefon geordert werden kann, der fahrbare Einkaufsladen, der zweimal die Woche vorbeikommt, oder die mobile Arztstation.116 So kommt auch die Bibliobox als Bibliothek mit spezieller, thematischer Ausrichtung nur nach Bedarf an die Orte des Interesses – so es dieses gibt. Neben persönlichen Kontakten findet sie vor allem über die Internetseite www.bibliobox.com Verbreitung. Dort kann man Genaues über den Inhalt, ihre bisherigen Aufenthaltsorte und Einsätze sowie über die Modalitäten der Verschickung erfahren. Die Box lässt sich umbauen zu einem Display, auf dem ihre Inhalte ausgestellt und angeschaut werden können (ein transportabler DVD-Player ermöglicht die Ansicht der Filme). Nicht der gesamte Inhalt findet auf dem Display Platz, die jeweiligen Aussteller_innen müssen eine Auswahl der für sie interessanten Projekte treffen oder den Inhalt der Box großflächiger auslegen. Die Bibliobox ist durch die Sammlung von Publikationen und Kunstwerken auch eine Dokumentation der Vernetzung der Künstler_innen mit anderen Künstler_innen, die sich mit ähnlichen Themen beschäftigen. Mit vielen in der Box repräsentierten Künstler_innen sind Myvillages persönlich bekannt bzw. viele der in der Box vertretenen Künstler_innen kennen sich. Diese Vernetzung mit anderen bzw. die Verbindungen der anderen erschließen sich
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Zu diesem Zweck werden auch Kunstprojekte auf dem Land initiiert, wie z.B. das Residenzprogramm Kunst fürs Dorf, Dörfer für die Kunst (2008-2013). Weitere Projekte und Initiativen, die auch das Thema Daseinsvorsorge berühren, versammelt die Publikation Kerstin Faber und Philipp Oswalt (Hg.), Raumpioniere in ländlichen Regionen, Leipzig 2013.
2. Landwirtschaft im Medium Kunst
jedoch für die Benutzer_innen nur bei genauer Lektüre einiger Publikationen von Gruppenausstellungen, die die gemeinsame Teilnahme mit Kolleg_innen dokumentieren. Die Sammlung von dokumentierten Kunstprojekten zeigt sich damit aber auch als ein Abbild des kulturpolitischen Engagements von Myvillages im Bereich Kunst und Landwirtschaft. Die Box bildet eine Netzwerkstruktur von Künstler_innen ab, die sich mit der Mobilität der Box auf die Institutions- und Betrachter_innenebene ausweitet. Die Bibliobox kann Anlass für Gespräche über die gesellschaftliche Situation auf dem Land sein, wie beispielsweise im Zusammenhang mit der Ausstellung Village People (Kunstverein Wolfsburg, 2008). Dort wurden, initiiert durch die Vermittlung des Kunstvereins und in Zusammenarbeit mit Vertreter_innen von zwei Dorfvereinen, aus der Beschäftigung mit den Inhalten der Box für die beteiligten Dörfer relevante Themen entwickelt. Diese bildeten den Rahmen für abendliche Veranstaltungen, in denen diese Themen dann anhand der Materialien aus der Box diskutiert wurden.117 In diesem Sinne bringt die Box Dokumentationen von Kunst über das Land auf das Land, um die eigene Situation zu reflektieren. Die Künstler_innen interessiert daran vor allem, Kunst einem normalerweise eher kunstfernen Publikum zu vermitteln: In a rural context, the box offers a broader view of people living in similar situations in other rural areas. It presents an opportunity for people to share experiences from art periphery to art periphery. The box informs on the diversity of village life and art. It invites people to make their own contribution to contemporary art. Inhabitants of rural areas are being inundated with floods of images when the countryside tries to develop new functions, but are rarely considered a potential audience for contemporary art. The Bibliobox can change this outlook.118 In der Idee, zwischen verschiedenen ruralen Orten, »von Kunst-Peripherie zu Kunst-Peripherie« zu vermitteln, schwingt auch der Gedanke der Netzwerkbildung mit. Über die Bewegung der Box an die verschiedenen Orte welt117
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Zu zwei Veranstaltungen in Kulturvereinen von zwei Dörfern im Rahmen der Ausstellung Village People heißt es: »Anhand dieser [der Bibliobox] folgten wir in den jeweiligen Vereinsräumen den Themenschwerpunkten Sehnsucht|Dorf und Wandel|Dorf. Dabei bieten die Filme und Bücher der Bibliobox Anlass, die Situation des eigenen Ortes im Gespräch zu reflektieren und damit das Thema der Ausstellung aus dem Kunstverein ins Dorf zu tragen.« Vgl. kunstverein-wolfsburg.de/lokaleliaison, Zugriff 22.02.2018. www.myvillages.org, Zugriff 13.11.2015.
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weit wird deutlich, wie viele Institutionen sich jenseits der urbanen Zentren mit Kunst beschäftigen. Eine durchaus beachtliche Liste findet sich auf der oben erwähnten Internetseite. Sichtbar wird so ein Netzwerk von Institutionen (auch auf dem Land), die Kunst zeigen und fördern, sich mit ländlichen Themen beschäftigen bzw. sich, so wie der Dorfverein in Wendschott und der Kulturverein in Hehlingen, auch über ihre sonstigen Aktivitäten hinaus für Kunst (und Land) interessieren. Kunstinstitutionen und Kunstinteressierte im ländlichen Raum zeigen sich damit als international bis global vernetzbares System, ähnlich dem urbanen Rest der (Kunst-)Welt.119
Abb. 28: Wapke Feenstra/Myvillages, Bibliobox, 2005 - 2016, Karton, Bücher, Filme, Objekte, Ausstellungsansicht Kunstraum Kreuzberg, 2012
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Tatsächlich lässt sich an die Vorstellung eines vernetzen Landes auch der bis 2013 getragene Name der Gruppe als myvillages.org verstehen. Auch Barbara Steiner sieht im Verhandeln der Frage nach Nähe und Ferne (Closeness and Distance) oder anders gesagt, nach lokaler und globaler Kommunikation, eines der wesentlich von Myvillages verhandelten Themen. Vgl. Barbara Steiner, »Closeness and Distance«, in: Jubiläumschrift Myvillages, 2013.
2. Landwirtschaft im Medium Kunst
Die Bibliobox als repräsentatives Archiv? Eher selten ist die Bibliobox als Display über den gesamten Zeitraum einer Ausstellung und mit ihrem gesamten Inhalt zu sehen oder zu benutzen, wie in der schon mehrfach angesprochenen Ausstellung Hungry City. Ihrer vermittelnden Funktion im Ländlichen entbunden, lässt sich hier anhand der Box besonders gut die Frage beleuchten, wie es sich mit der Verbindung von Kunst und ländlichem Raum verhält. In welchem Verhältnis steht die Vielzahl der Projekte zu einem Interesse an Kunst auf dem Land? Für diese Frage lohnt es sich, die Formen der Repräsentation, die die Bibliobox einnimmt bzw. beinhaltet, auch über den Kontext ihres vermittelnden Wirkens im ländlichen Raum hinweg in den Blick zu nehmen. Die Künstlerinnen selbst verstehen die Bibliobox als »reisendes Archiv«, was deutlich macht, dass die thematische Zusammenstellung und der institutionelle Charakter wichtige Faktoren sind.120 Jedoch einzig der thematische Schwerpunkt, die inhaltliche Ausrichtung der Box, ruft das Archivarische als Anleihe auf. Denn der Inhalt dieses Archivs, vornehmlich bestehend aus Ausstellungskatalogen sowie anderen Formen von Projektdokumentationen, gibt zwar einen Überblick über stattgefundene Projekte und Ausstellungen sowie relevante Künstler_innen zum Thema Land, ist jedoch keineswegs auf Vollständigkeit angelegt. In der Vielfalt der Projekte, die sich gar in einer Bibliothek zusammenfassen lassen, wird vielmehr die Bedeutung des Themas transportiert. Die Künstlerinnen arbeiten an der Einschreibung eines Themas in den Diskurs und machen dafür eine Bewegung in der Kunst sichtbar. Mit dem Format der Bibliothek werden so auch archivarische Bezüge aufgerufen, wenngleich diese auf verschiedene Inhalte zurückgehen. Eine Bibliothek lässt sich als Sammlung und Quelle kultureller Artefakte verstehen. Ein Archiv jedoch besteht aus den wie auch immer gearteten Materialien einer Institution. »Was das Archiv von der Bibliothek abhebt, ist die Herkunft aus der Geschäfts- und Verwaltungssphäre (und nicht des kulturellen Diskurses)«, schreibt der Medientheoretiker Wolfgang Ernst.121 Was beide eint, ist ihr institutioneller Charakter. So lässt sich die Bibliobox als Institution bezeichnen, die in sich die Behauptung transportiert, es handle sich bei der gesammelten
120 Vgl. Einführung in die Bibliobox, www.bibliobox.com, Zugriff 13.11.2015. 121 Wolfgang Ernst, »Das Archiv als Gedächtnisort«, in: Knut Ebeling, Stephan Günzel (Hg.), Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin 2009, S. 177-200, hier S. 178.
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Thematik um eine relevante, die als Sammlung Aufschluss über ein eingeschränktes Feld gibt. Jedoch vermittelt sich dieses nicht nur auf informative Weise, sondern in dem erweiterten Verständnis, das sich aus dem Zusammenhang der Herstellung der vereinten Dokumente, ihrer Aufbewahrung und ihrer Nutzung ergibt. Die in der Bibliobox versammelten Materialien sind nämlich ebenfalls nicht durch die Künstlerinnen selbst hergestellt, sondern es finden sich die Dokumentationen von Projekten sehr verschiedener Künstler_innen darin. Dass es sich beim Inhalt der Bibliobox vornehmlich um Dokumentationen in Form von Katalogen bzw. Filmen handelt, spielt dabei eine wesentliche Rolle. Die Publikationen und Dokumentationen transportieren sehr viel mehr als nur den Inhalt der künstlerischen Projekte selbst. Denn durch sie werden vor allem die institutionellen Bedingungen einer ländlich ausgerichteten Kunst beleuchtet. In den Publikationen werden nämlich alle für die Produktion und Präsentation dieser Kunstwerke bedeutenden Umstände und Akteur_innen sichtbar. Es sind somit nicht nur die künstlerischen Produktionen selbst, die eine Sichtbarkeit erfahren, sondern auch die Möglichkeiten, unter denen sie hergestellt werden konnten.
Beispiel Vorratskammer Dass sich das Interesse von Myvillages auch bei anderen Projekten auf solche hintergründigen Bedingungen und Möglichkeiten bezieht, zeigt ein Seitenblick auf die Arbeit Vorratskammer, von Myvillages realisiert im Rahmen des Festivals Über Lebens Kunst (Haus der Kulturen der Welt, 2011). Die Idee des Projektes war die Versorgung des Festivals mit Essen und Trinken, mit der selbst auferlegten Bedingung, dafür ausschließlich Produkte aus der Region zu verwenden. Durch das ungewöhnliche Vorhaben, alle benötigten Nahrungsmittel für ein Festival in Berlin und dem Berliner Umland herzustellen, wurden verschiedene Fragen aufgeworfen und behandelt: einerseits nach dem Verhältnis von Vorkommen und Konsum von Lebensmitteln wie Kaffee und Zucker unter den klimatischen und räumlichen Bedingungen einer Großstadt Mitteleuropas, außerdem nach existierenden Hersteller_innen und Produzent_innen in der städtischen Region, und schließlich auch solche zum Entstehen und Bewahren von Wissen um die Herstellung von Nahrung vom Anbau bis zur Verarbeitung. Vorratskammer war somit einerseits eine reale Anhäufung von Essen, das im Laufe von vier Tagen verzehrt worden ist,
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bot zugleich eine Plattform für die Vernetzung der städtischen LebensmittelProduzent_innen und fungierte darüber hinaus auch als eine Zusammenstellung von Wissen um die Herstellung von Essen.122 Denn sichtbar wurde nicht nur, wer was geliefert oder produziert hatte, sondern auch, dass es eines besonderen professionellen und/oder traditionellen Wissens bedarf oder aber professioneller Räumlichkeiten, um die kulinarischen Beiträge herzustellen.123 Besonders im Katalog zum Projekt finden sich entsprechend ausschließlich Fotografien, die die Produktion der Lebensmittel – ob in der heimischen Küche oder der lebensmittelverarbeitenden Industrie – zeigen.124 Die hintergründigen Herstellungsverfahren zeigen sich so als Hauptinteresse der Künstler_innen. Und so geraten auch die Materialien in der Bibliobox in den Fokus, die mit den dokumentierten künstlerischen Produkten vor allem die Bedingungen ihrer Produktion zeigen, die im Format des Ausstellungskatalogs, der Projektdokumentation, sichtbar werden. Diese verweisen in ihrem Format vor allem auf die Kunstinstitutionen selbst.
Der Ausstellungskatalog als Repräsentationsmedium/ Die Bibliobox als Katalog der Kataloge Erst in den 2000er-Jahren ist der Ausstellungskatalog auch über sein reproduzierendes Dasein hinaus als Form in den Blick gerückt, wenngleich es bereits schon früher Beschäftigungen mit seiner Rolle im Kunstsystem gab.125 Auch beim Projekt Vorratskammer wurde in der Umsetzung die notwendige Vernetzung mit den Prozent_innen zu einem für die Arbeit wesentlichen Faktor. So liest sich die Liste der Produkte und ihrer Produzent_innen wie das Who-is-Who der urbanen Landwirtschaft und Lebensmittelverarbeitung in Berlin, die nicht zuletzt beim Festival in der einen oder anderen Konstellation zusammenkamen. Vgl. auch www.vorratskammer.myvillages.org/anlegen, Zugriff 25.11.2017. 123 In der Ankündigung auf der Internetseite des Haus der Kulturen der Welt heißt es dazu: »Die Künstlerinnen teilen mit Euch ihren Lebensmittel- und Wissensvorrat. Wie wurde der Käse hergestellt und der Schnaps gebrannt? Wie schmecken biologisch aufgezogene Sattelschweine? Vier Tage lang wird gekocht, erzählt und gegessen«, www.hkw.de/de/programm/projekte/veranstaltung/p_60217.php, Zugriff 01.12.2017. 124 Vgl. auch Myvillages, Vorratskammer/Pantry, Berlin 2012. 125 So z.B. in Wolfgang Ullrich, »Vom Diener zum Teil des Kunstwerks. Über die Wandlung der Buchform Ausstellungskatalog«, in: Kunstzeitung, Nr. 110, Oktober 2005; Sowie in Dagmar Bose, Michael Glasmeier, Agnes Prus (Hg.), Der Ausstellungskatalog. Beiträge zur Geschichte und Theorie, Köln 2004. 122
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Der Kunstwissenschaftler Michael Glasmeier weist auf die verbindende Rolle von Theorie und Praxis des Ausstellungskatalogs hin, wenn er konstatiert: »Im Ausstellungskatalog kommt Kunst und Kunstwissenschaft zusammen.«126 Albert Coers, der seine kunstwissenschaftliche Dissertation dem Ausstellungskatalog widmete, beschreibt vor allem seine repräsentative Wirkung als vielfältig: Die Bedeutung von Katalogen ist kaum zu überschätzen, auch jenseits ihres Quellenwerts: Künstler und ihr Werk sind in ihnen über das Ereignis einer Ausstellung hinaus präsent. Zusammen mit dem Ausstellungsverzeichnis sind sie Ergebnis und zugleich Gradmesser von Produktivität und Bekanntheit, ähnlich der Publikationsliste eines Wissenschaftlers. Ausstellungskataloge bedeuten, auch für Institutionen, den manifesten Nachweis von Aktivität, bieten Gelegenheit von Geschichtsschreibung und Profilierung. Sie signalisieren, über ein Netzwerk an Förderern, Autoren und Gestaltern zu verfügen, mehr noch als eine weniger aufwendige Webseite.127 Deutlich wird hier, dass Kunstkataloge Künstler_innen und Institutionen gleichermaßen dienen.128 Das heißt, sie repräsentieren sie auch gleichermaßen. Wenngleich – nach Seiten gerechnet – die Präsentation des Werks oder der Werke der Künstler_innen im Vordergrund zu stehen scheint, so ergänzen doch sowohl programmatische Einführungen von Direktor_innen, Förderern und Kurator_innen als auch kunstwissenschaftliche Beiträge diese. Meist liegt auch die Herausgeberschaft bei den Institutionen, was die Kataloge, vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, auf die Seite ihrer Ergebnisse schlägt.
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Michael Glasmeier, »Einleitung«, in: Dagmar Bose, Michael Glasmeier, Agnes Prus (Hg.), Der Ausstellungskatalog. Beiträge zur Geschichte und Theorie, Köln 2004, S. 7. Albert Coers, Kunstkatalog – Katalogkunst. Der Ausstellungskatalog als künstlerisches Medium am Beispiel von Thomas Demand, Tobias Rehberger und Olafur Eliasson, Berlin, München, Boston 2015, S. 1. Wenn Maurizio Cattelan ein Abbild seiner selbst als Miniatur (Mini-me, 1999) an den Platz des Buchstaben C in einem alphabetisch sortierten Kunstbuchregal setzt, dann spricht er die (für ihn unglücklichen und vornehmlich in retrospektiven) Kunstkatalogen angelegten, das Werk kontextualisierenden kunstsystemischen Repräsentationen an. Vgl. Michael Glasmeier, »Transformationen des Ausstellungskatalogs«, in: Dagmar Bose, Michael Glasmeier, Agnes Prus (Hg.), Der Ausstellungskatalog. Beiträge zur Geschichte und Theorie, Köln 2004, S. 193-204, besonders S. 193f.
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In ihrer Dokumentationen versammelnden Form ist die Bibliobox mit Heinrich Wölfflin auch als ein Katalog der Kataloge zu Landwirtschaftsprojekten zu bezeichnen.129 Die Box in ihren sowohl vereinenden als darüber hinaus auch präsentierenden Möglichkeiten, als Container und Display gleichermaßen, bekommt somit einen eigenen institutionellen Charakter. In diesem Zusammenhang liegt der Vergleich mit einer anderen, sehr berühmten Box bzw. Schachtel nahe: La-Boîte-en-valise (Die Schachtel im Koffer, 1935-1942) von Marcel Duchamp. Mitte der 1930er-Jahre entschließt sich Duchamp, eine Schachtel herzustellen, die in Reproduktion alle wesentlichen bis dahin entstandenen Werke seines Oeuvres versammelt. In den verschiedenen Versionen enthält sie bis zu 80 Reproduktionen. Diese sind teils in sehr aufwendigen und, im Gegensatz zu den originalen Readymades, handwerklichen Techniken hergestellt bzw. reproduziert. Die Box ist mit ausziehbaren Seitenteilen gleichzeitig auch Display. Die Mobilität der ›Kofferschachtel‹ wird einerseits als Möglichkeit der Präsentation des (Gesamt-)Werks Duchamps beschrieben, das zu diesem Zeitpunkt in Europa kaum im Original bekannt war. Zugleich wird die Zusammenstellung in transportabler Form auch mit den politisch unsicheren Zuständen zu Kriegsbeginn 1938 erklärt.130 Spätestens mit der Teilnahme an Harald Szeemanns documenta 1972 gerät die Arbeit »als transportables (Privat-)Museum« mit ihrem Institutionsbezug in den Fokus.131 So stellt der Künstler hier nicht zuletzt sein eigenes Museum, ausgestattet mit einer Retrospektive seines Werks, her, in welchem er »selber die Bedingungen der Präsentation bestimmt«.132 Im Besitz von jemand anderem – in ihrer großen Anzahl und in zahlreichen Auflagen waren die Schachteln immer als Verkaufsobjekte gedacht –, lassen sich die Miniatur-Kunstwerke in eine je eigene Zusammenstellung bzw. Ausstellung bringen. »Das Gefühl von Erwartung und Ereignishaftigkeit, das uns auch beim Öffnen einer Kiste beschleicht«, welches das Auspacken zweifelsohne begleitet, ist der erste Impuls, an den sich in der Folge ein systematisches 129
Vgl. auch Heinrich Wölfflin, »Über Galeriekataloge«, in: Dagmar Bosse, Michael Glasmeier, Agnes Prus (Hg.), Der Ausstellungskatalog. Beiträge zur Geschichte und Theorie, Köln 2004, S. 25-32. 130 Sowohl für die bisherigen als auch für ergänzende Informationen zu La-Boîte-en-Valise gibt Eva Schmidt einen guten Kurzüberblick. »Marcel Duchamp: La-Boîte-en-Valise (Die Schachtel im Koffer) 1941/1968«, in: Das Kunstwerk des Monats, Westfälisches Landesmuseum, Münster 1990. 131 Ebd. 132 Ebd.
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Auspacken anschließt, das in einer subjektiven Auswahl mündet, in der man selber zum Kurator der Sammlung wird.133
Abb. 29: Marcel Duchamp, La Boîte-en-Valise, 1938 – 1941 (1958), Karton, Textil, Glas, Holz, Kunstleder, Keramik, 38 x 40 x 8 cm
Während sich der Koffer Duchamps um seine eigene Arbeit und ihre Repräsentation dreht und schlussendlich in der wiederkehrenden Frage der Autorschaft von Kunst (Readymade versus handwerkliches Modell) mündet, lässt sich an der Bibliobox eine kritische Haltung gegenüber den Institutionen der Kunst ausmachen. Das wird bereits im Zusammenschluss zur Künstlerinnengruppe sichtbar und einmal mehr unterstrichen durch die vielfältigen Kollaborationen, die von ihnen eingegangen werden. Und es sind eben gerade nicht die Kunstwerke der Künstler_innen selbst, die sich in der Bibliobox versammeln, sondern vornehmlich Kunstwerke anderer Künstler_innen in Formen der Repräsentation. Und die Box ist auch nicht privaten Besitzer_innen
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Ingrid Schaffner, »Deep Storage«, in: Deep Storage. Arsenale der Erinnerung, Ausst.-Kat. Haus der Kunst, München 1997, S. 23.
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vorbehalten, sondern öffnet sich einer größeren und selbstbestimmten Gruppe von Menschen. Hier rücken nun vor allem die Dokumentationen in Katalogform vor dem Hintergrund der (institutionellen) Grundlagen für die künstlerischen Produktionen in den Blick. Als Kataloge repräsentieren sie nicht nur die Kunstprojekte, sondern auch die Bedingungen, unter denen diese stattgefunden haben. Das heißt, nicht nur die Künstler_innen und Kunstprojekte werden beleuchtet, sondern vielmehr die initiierende Institution und deren Mitarbeiter_innen, die finanzielle Förderung sowie weitere Akteur_innen, die an der Zusammenstellung des Katalogs mitgewirkt haben, wie Kunstwissenschaftler_innen und Grafiker_innen. Und so zeigen Myvillages mit den in der Bibliobox versammelten Dokumentationen die Bedingungen einer Kunst, die sich mit Landwirtschaft und dem ländlichen Raum beschäftigt, in Produktion, Präsentation und Rezeption. Damit leisten die Künstlerinnen auch einen Beitrag zu einem aktuellen Verständnis der institutionellen Bedingungen von Kunst in Bezug zum ländlichen Raum im Besonderen, aber auch ganz genereller Natur. Fragen wie: Wo wird Kunst heute gezeigt? Was sind die Themen von Kunst? Wer fördert Kunst? Und wer sind die Kunstinteressierten? lassen einen kritischen Blick auf das System entstehen. Seit 2013 sind die Reisen der Bibliobox weniger geworden, andere und neue Projekte von Myvillages sind entstanden. Die Bibliobox war eine treibende Kraft für die Belebung des erblühenden Diskurses und der Aktivitäten zu Kunst und Land Anfang dieses Jahrtausends. Mit der Repräsentation repräsentativer Medien, den Ausstellungs- und Projektkatalogen, zeigt Myvillages nicht nur, dass es eine Beschäftigung der Kunst mit dem Land gibt, sondern reflektiert diese vor dem Hintergrund des Kunstfeldes und seiner Institutionen. Die Bibliobox, die antritt, das Thema Land in Institutionen des Ländlichen zu verhandeln, beinhaltet mit der Aufbereitung eines marginalisierten Raums in der Kunst bereits eine Kritik am System Kunst und seinen Ausschlussmechanismen.
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Partizipation revisited: Von Milch und Menschen (2003) von Kristina Leko
Kristina Leko (*1966) ist bekannt für ihre partizipativen Projekte im öffentlichen Raum, die sich häufig in Kollaboration mit bestimmten Personengruppen ausformulieren. Die partizipativen Öffnungen richten sich aber nicht an etwaige Betrachter_innen oder Nutzer_innen, wie bei der Bibliobox, vielmehr verbleibt die Partizipation vornehmlich auf der Produktionsebene. Die Künstlerin interessiert sich für den Einsatz von partizipativen Strategien auch vor historischem Hintergrund. Dabei stellt sie mit Themen, die ihre Herkunft aus Kroatien als einem ehemaligen Mitgliedsstaat des Ostblocks betreffen, Verbindungen zu den Praktiken der Russischen Avantgarde und ihren Ideen für ein Zusammenkommen der Kunst mit dem Leben her. Unterstrichen wird dies durch ein von der Künstlerin entworfenes Manifest als Regelwerk ihrer eigenen Arbeit unter dem Titel Was soll ich tun?, das an Lenins Manifest zur Kultur im Kommunismus Was tun? angelehnt ist. In der Arbeit Von Milch und Menschen, die nicht im öffentlichen Raum, sondern im Ausstellungsraum gezeigt wurde, zeigt sich diese Reflexionsebene auf partizipative historische Einsätze besonders gut. 2003 war Kristina Leko zu einer Ausstellung in der ungarischen Institution ICA-Dunaújváros eingeladen. Zum Entstehen des dort realisierten Projekts schreibt sie: Ich fühlte, dass ich etwas tun musste, um zwischen den zwei Nachbarländern Kroatien und Ungarn einen historischen Bezug herzustellen und einen Vergleich ziehen zu können. Ich wollte, dass »meine« Ausstellung etwas mit der Vergangenheit und der Zukunft der beiden Länder zu tun hat und einen Bezug zu einem Thema herstellt, das beide betrifft, nämlich dem Übergang vom Kommunismus zum Kapitalismus.134 In der Folge war ihr Ausgangspunkt für das Projekt Von Milch und Menschen die EU-Osterweiterung – 2003 wurde Ungarn Mitglied der EU – und ihre Auswirkungen auf die Ökonomie, genauer auf die Arbeit in der Landwirt-
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Kristina Leko, »Von Milch und Menschen«, in: Kristina Leko, Ausst.-Kat. Secession, Wien 2006, S. 16.
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Abb. 30: Kristina Leko, Von Milch und Menschen, 2003, Filmstills, Video No. 8/10, in Zusammenarbeit mit der Familie Samardžija
schaft.135 Kristina Leko suchte in den beiden Ländern je fünf Bauernfamilien, die bereit waren, sich an ihrem Projekt zu beteiligen. Je einen Tag lang dokumentierte sie die Arbeit der Bäuerinnen und Bauern in der Milchproduktion filmisch und befragte sie zu ihrer Arbeit und zu allgemeinen agrarpoli-
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2003 stimmte Ungarn positiv über einen Beitritt des Landes zur EU bei, eine Entwicklung, die zu diesem Zeitpunkt auch für Kroatien diskutiert wurde und schließlich 2013 umgesetzt wurde.
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tischen Themen. Aus dem Material entstanden zum einen zehn verdichtete Filmcollagen über den Arbeitsalltag der Bauernfamilien. Zum anderen entwickelte sie einen Film mit Auszügen aus Gesprächen mit den Bäuerinnen und Bauern, in denen sie über deren Arbeitsbedingungen, Nöte und Hoffnungen sowohl rückblickend als auch mit einem Blick in die Zukunft sprechen. Zum Ausstellungsaufbau wurde ein Treffen aller Familien aus beiden Ländern organisiert, das dem Kennenlernen der Beteiligten und dem gemeinsamen Austausch diente. Gleichzeitig hatte Leko die Familien dazu aufgerufen, Gegenstände von den Höfen mitzubringen, die in Verbindung zu den von Leko angefertigten und den Bauern bekannten Filmen stehen. Diese im Ausstellungsraum zu arrangieren überließ sie den Bauernfamilien. Es entstanden zehn Anordnungen, in die sich die filmischen Porträts der Bauern, präsentiert auf Monitoren, einfügten. Ein Foto von der Ausstellung im ICADunaújváros 2003 zeigt, wie die einzelnen Filmcollagen der Bauern in eine Präsentation der mitgebrachten Gegenstände eingebettet sind. Jeder Monitor ist von etlichen Dingen umgeben, häufig nützlichen aus dem Haushalt, wie Besen, Töpfen, Schalen, Eimern und Gießkannen, aber auch dekorativen, wie Decken, Pflanzen und Bildern. Der Blick von außen auf die Arbeit der Bauern in Form der Videoporträts trifft hier auf die Gegenstände ihres realen Lebens. Während die Filme eine Wiedergabe von Wirklichkeit aus der Perspektive der Künstlerin sind, handelt es sich bei den Gegenständen schlicht um Dinge aus dem wirklichen Leben der Bauernfamilien. Herausgenommen aus ihrem Kontext, den Häusern und Höfen der Familien, werden sie hier zu Stellvertretern ihrer konkreten Besitzer_innen und zu Stellvertretern eines bäuerlichen Lebens und seiner Kultur generell. Sie bleiben in ihrer offensichtlichen Existenz aus einer anderen Welt als der der Kunst erkennbar. Die Objekte werden nicht selber zu Kunst, wie etwa Duchamps aus dem Alltag genommene und umkodierte Gegenstände, sondern verbleiben referenziell in ihrer Herkunft, mit der sie wiederum das Kunstwerk als ein weiteres Dokument der Wirklichkeit ergänzen. Sie tragen eine Realitätsebene in die Arbeit, die in ihrer Differenz zu den künstlerischen Dokumenten, auf die sie in der Installation treffen, stets erkennbar bleibt. Eine ähnliche Verbindung zeigte sich in einem weiteren Raum, in dem einerseits eine Projektion der Interviews zu sehen war und andererseits Informationen zu Förderungen und Unterstützungen im Agrarsektor auslagen, die vom Team der Kunsthalle und Studierenden der Agrarwissenschaften der Universität Gödolo recherchiert worden waren.
2. Landwirtschaft im Medium Kunst
Abb. 31: Kristina Leko, Von Milch und Menschen, 2003, Videos, Objekte, Ausstellungsansicht ICA-Dunaujvaros, 2003, Installation No. 1/10, in Zusammenarbeit mit der Familie Kolesarić
Seit seiner erstmaligen Präsentation 2003 in der ungarischen Kunstinstitution hat das Projekt verschiedene Weiterführungen gefunden136 und wurde in anderen, abgewandelten Formen gezeigt. Zehn Jahre später, dieses Mal kurz vor dem Beitritt Kroatiens in die EU, war das Projekt 2012 in der Ausstellung Hungry City wieder ausgestellt. Es beinhaltete, wenngleich reduziert, die gleichen Bestandteile. Diesmal als Installation in nur einem Raum präsentiert, waren an der einen Seite der Wand in ›Petersburger Hängung‹ die Filmcollagen auf fünf Bildschirmen, je zwei Familien auf einem Splitscreen, zu sehen. Unterbrochen bzw. ergänzt wurden sie von den wenigen verbliebenen bzw. dokumentierten Artefakten der Bauern: einem Schemel, einer Milchkanne, einem traditionellen Kostüm bestehend aus Hemd, Rock und Schürze, einem Bild vom Abendmahl sowie einer Fotografie von drei rosafarbenen Taufkleidern, die in der ersten Ausstellung im Original zu sehen 136
Etwa im Projekt Cream and Cheese (2003), mit dem sich die Künstlerin, sensibilisiert für das Thema, im selben Jahr ganz explizit der Situation der kroatischen Milchfrauen widmete.
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gewesen waren. Auf der gegenüberliegenden Wand waren Auszüge aus den Interviews auf zwei Tafeln zu lesen, auf einem weiteren, größeren Bildschirm die Interviews mit den Bauern zu sehen und zu hören. In dieser Präsentation der Arbeit ist die Art der Zusammenarbeit zwischen der Künstlerin und den Landwirten kaum mehr auszumachen. Einzig die wenigen in die Installation integrierten Gegenstände verweisen in ihrer Fremdheit auf den besonderen Austausch. Durch die Gegenüberstellung von ganz unterschiedlichen Formen von Repräsentation – Videos der Künstlerin über das Leben und die Arbeit der Bäuerinnen und Bauern sowie Alltagsgegenstände von den Bauernfamilien – gerät die Verbindung der Kunst mit dem Leben hier einmal mehr in den Blick. Die Betrachter_innen werden für die Differenz der verschiedenen Modi von Wirklichkeitsrepräsentationen sensibilisiert. Weniger wird die Aufmerksamkeit dabei auf das ganze Spektrum möglicher Vermittlungsverfahren, wie etwa bei Schiffers/Sprenger, gelenkt, als vielmehr auf die Verbindung von Künstlerinnenperspektive und Bauernwirklichkeit. Im Spannungsverhältnis der beiden Arten von Dokumenten entsteht dann über die Frage, was Repräsentation sei und wer repräsentiert werde (Schiffers/Sprenger) hinaus noch die Frage, was Kunst sei und was Leben, und wie die beiden Bereiche in einen produktiven Austausch treten können.
Partizipation als Mittler zwischen Kunst und Leben Auch wenn sich die Arbeit Lekos nicht in besonderer Weise als partizipatives Projekt zu erkennen gibt, sondern vor allem die verschiedenen Dokumente gezeigt werden, bleibt die Partizipation ein wichtiges Mittel im Austausch mit den Bäuerinnen und Bauern. In sogenannter partizipativer Kunst wird selten konkret unterschieden, an welcher Stelle sich die Kunst zur Teilhabe öffnet. Jedoch wurde besonders bei den Herleitungen aus den 1960er-Jahren, etwa dem Happening, vor allem die Offenheit gegenüber den Betrachter_innen und ihrer veränderten Position als Teil des Kunstwerks betont.137 In Lekos Werk jedoch ist nicht die Betrachter_innenrolle auf besondere Weise geöffnet, sondern die Produktionsebene. Stella Rollig formuliert zur Art der partizipativen Praxen im Kunstwerk: »Womit die KünstlerInnen unzufrieden sind, daraus folgt der Charakter der angebotenen Partizipation und das 137
So findet die Bezeichnung auch ihre Weiterführung als ›Relational Art‹ bei Nicolas Bourriaud.
2. Landwirtschaft im Medium Kunst
Abb. 32: Kristina Leko, Von Milch und Menschen, 2003, Videos, Objekte, Wandtext, Booklet, Ausstellungsansicht Kunstraum Kreuzberg, 2012
Ausmaß an Selbstbestimmung, das den Teilnehmenden ermöglicht wird.«138 Diese Unzufriedenheit und daraus resultierende Öffnung des Kunstwerks für die Teilnahme von Anderen lässt sich in Lekos Arbeit festmachen an einem Interesse an der Verbindung der Kunst mit gesellschaftsrelevanten Tätigkeiten, hier mit landwirtschaftlicher Produktion, und ihren Protagonist_innen. Partizipation bietet dabei die Möglichkeit der Integration von Menschen aus der landwirtschaftlichen Produktion, verbleibt aber selbst auf der Ebene der Produktion des Kunstwerks. Während Leko für die Zusammenarbeit mit den Nicht-Künstler_innen den Begriff ›Kollaboration‹ verwendet, schlägt der Autor Max Glauner für eine partizipative Praxis im Bereich der Werkästhetik den Begriff ›Kooperation‹ vor, den er näher erklärt als »aktive Mitarbeit am Zustandekommen des Kunstwerks. Aktionsrahmen und Ablauf sind weitge-
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Stella Rollig, »Zwischen Agitation und Animation. Aktivismus und Partizipation in der Kunst des 20. Jahrhunderts«, in: Stella Rollig, Eva Sturm (Hg.), Dürfen die das? Kunst als sozialer Raum?, Wien 2002, S. 135.
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hend durch den Künstler/Spielleiter vorgegeben.«139 Der Kunsthistoriker und -kritiker Grant Kester verzichtet auf solche feinen Differenzierungen und unterscheidet nicht zwischen kollaborativen und kooperativen Vorgehensweisen, wenn er Fragen aktueller partizipativer Praxen betrachtet. Als historische Herleitung ist für ihn, und das ist das Wesentliche, die Russische Avantgarde relevant.140 Diese historische Linie einer partizipativen Praxis, so könnte man sagen, ist es auch, die Kristina Leko interessiert. So gesehen, verwendet die Arbeit zwar partizipative Strategien, bietet diese jedoch im Modus der Repräsentation an. Lekos Arbeit lässt sich so auch als eine Reflexion auf Kunstproduktion unter Teilhabe von Nicht-Künstler_innen verstehen. Die historische Perspektive auf Partizipation zu Beginn des 20. Jahrhunderts verdeutlicht sich auch, wenn man das von Leko aufgestellte Manifest unter dem Titel Was soll ich tun? berücksichtigt. Darin bestimmt sie in zehn Punkten, wie die Zusammenarbeit zwischen Künstlerin und Nicht-Künstler_innen fruchtbar und ethisch korrekt funktionieren soll. Einerseits wird hier Lekos Interesse an der Partizipation vor dem Hintergrund ihrer historischen Vorgänger sichtbar. Andererseits verdeutlicht sich auch der selbstreflexive Umgang der Künstlerin mit dem Material, wenn Lekos eigene Arbeiten dabei als Möglichkeit dienen, die Vorstellungen und Bedingungen eines für sie richtigen Verhaltens in der Kunstproduktion, die sich partizipativer Strategien bedient, zu überprüfen.
Was soll ich tun? Zwölf Grundregeln einer Ethik für Künstler/innen 2006 erschien anlässlich einer Einzelausstellung von Kristina Leko in der Secession Wien ein Katalog, auf dessen Cover das Regelwerk Was soll ich tun? Zwölf Grundregeln einer Ethik für Künstler/innen abgedruckt war, das Leko im Rahmen ihrer Diplomarbeit entwickelt hatte.141 Ihre in zwölf Punkten aufgelistete Ethik der künstlerischen Produktion bezieht sich auf die Auswahl der Themen (mit öffentlichem Interesse), der Beteiligten (normalerweise aus 139
Max Glauner, »Get Involved! Partizipation als künstlerische Strategie, deren Modi Interaktion, Kooperation und Kollaboration und die Erfahrung eines »Mittendrin – und – draußen«, in: Kunstforum International Band 240, Get Involved! Partizipation als künstlerische Strategie, S. 48. 140 Grant Kester, The one and the many. Contemporary Collaborative Art in a Global Context, Durham, London 2011. 141 Kristina Leko, Cover Ausst.-Kat. Secession, Wien 2006.
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dem kulturellen Bereich Ausgeschlossene), die Finanzierung (öffentliche Gelder für öffentliche Kunst), den Umgang mit den Beteiligten sowie die Ziele des Kunstwerks (reale/konkrete Folgen). Sie kann folglich auf jedes von Leko produzierte Werk angewendet werden. Anhand der zwölf Regeln, die Leko aufgestellt hat, wird sowohl ihr grundsätzliches Anliegen einer Reflexion künstlerischen Arbeitens als auch ihr sozialer Anspruch an die/ihre künstlerische Arbeit deutlich. Das Regelwerk dient der Künstlerin dabei einerseits als Manifest für die Art von Kunst, die sie produzieren möchte, als auch als eine Möglichkeit, die realisierten Projekte mit den eigenen Zielen abzugleichen. Mit dem Anspruch an das Kunstwerk, formuliert in den zwölf Regeln, steht immer auch das mögliche Scheitern, die mögliche Nicht-Einlösung einer oder mehrerer Vorgaben im Raum, wodurch sich jede Arbeit als ein Projekt mit offenem Ausgang darstellt. Im Zusammenhang mit Lekos Manifest gerät nun das Thema EUOsterweiterung als ein postkommunistisches Motiv in der Arbeit Von Milch und Menschen vor dem Hintergrund der Herkunft der Künstlerin ins Visier. Entsprechend stellt auch Barbara Steiner in ihrem Katalogtext zu Lekos Secessions-Ausstellung zwischen Lenins Manifestschrift Was tun? und Kristina Lekos Was soll ich tun? Zwölf Grundregeln einer Ethik für Künstler/innen eine Verbindung her.142 Die persönlich konnotierte Aneignung des Titels des wichtigsten Werks Lenins, das die angeleitete Zusammenarbeit des Bildungsbürgertums mit der Arbeiterklasse fordert, stellt einen wichtigen Bezug für die Fragen dar, die die Künstlerin an die Kunst und insbesondere an ihre eigene Rolle darin formuliert. Exemplarisch wird dies an Lekos Regel 4 deutlich: »Mache Deine Arbeit/Aktivität/Ereignisse für alle zugänglich. Beziehe jene ein, die normalerweise ausgeschlossen sind. (Für kulturelle Demokratie. Ein unbegrenztes Gebrauchsrecht für öffentliche Veranstaltungsorte).«143 An dieser Regel lässt sich eine Anlehnung an das kulturpolitische Programm Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland ablesen, das nach 1950 prägend für alle Staaten des Ostblocks war.144 Ihre Arbeitsweise stellt den Austausch 142 Vgl. Barbara Steiner, Kristina Leko. »Beweis Nr. 4: Jeder Mensch ist eine Künstler/in«, in Kristina Leko, Ausst.-Kat. Secession, Wien 2006, S. 5. 143 Ebd. 144 Das Interesse, eine Verbindung zwischen Kunst und Leben herzustellen, wurde in Russland nach 1920 z.B. in den WChUTEMAS, den künstlerisch-technischen Werkstätten, verfolgt. Verbindungen zwischen Künstler_innen und Arbeiter_innen herzustellen setzte sich in verschiedenen Programmen auch nach 1950 im gesamten Ostblock fort. So entstanden in Großbetrieben der DDR und in Polen Film- und Fotoklubs, in denen
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von verschiedenen und miteinander selten in Kontakt stehenden Menschen in den Mittelpunkt. Regel 7 lautet: »Schaffe Kunstwerke in einem Umfeld, wo diese üblicherweise nicht entstehen. Zeige sie in einer Umgebung, die gewöhnlich solche Dinge nicht sieht.«145 Auch sieht sie es als wichtig an, die Stimmung und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppe zu stärken, wenn sie in Regel 6 festhält: Beschenke Menschen. Schaffe Kunstwerke, die einen persönlichen Bezug zu den Menschen haben, mit denen du zusammenarbeitest, und schenke ihnen dann diese an sie gerichteten Arbeiten. Bereite Happenings für ein Gefühl von Brüderlichkeit und Gleichberechtigung in der Gruppe, in der du arbeitest, vor. (Noch eine Definition des Kunstwerkes. Auch über kulturelle Demokratie).146 Die Ansätze der Russischen Avantgarde werden nicht nur von Grant Kester als die Vorläufer der partizipativen Kunst gesehen.147 Auch Stella Rollig hebt, mit Blick auf die Entwicklung der Partizipationskunst durch das 20. Jahrhundert und ausgehend von den Setzungen der 1920er-Jahre in Russland, den Begriff der ›Produktionskunst‹ hervor, »mit dem für eine gleichberechtigte Interaktion zwischen Künstlern und Industriearbeitern eingetreten wurde«.148 Sie verweist auf die Schwierigkeit bzw. Uneinlösbarkeit einer fiktiven Gleichheit zwischen Partizipierenden und Künstler_innen, die sich bis in die aktuelle Partizipationskunst fortsetzt: Das Problem, das gegen Ende der neunziger Jahre wieder evident wird, kann schon zu Beginn der linken Kunst nicht gelöst werden: Die Gleichheit von Künstlern und Nicht-Künstlern in von Künstlern erdachten und initiierten Projekten bleibt Fiktion. Selbst ProduktionskünstlerInnen wie Alexander Rodtschenko und Warwara Stepanowa, die im Gegensatz zu anderen
die Belegschaft sich künstlerisch ausbilden und betätigen konnte, wie z.B. auch in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Mit dem Bitterfelder Weg wurde in der DDR der Versuch unternommen, Künstler_innen in die Produktionen vor Ort einzugliedern. 145 Kristina Leko, Cover Ausst.-Kat. Secession, Wien 2006. 146 Ebd. 147 Vgl. Stella Rollig, Eva Sturm (Hg.), »Zwischen Agitation und Animation. Aktivismus und Partizipation in der Kunst des 20. Jahrhunderts«, in: Dürfen die das? Kunst als sozialer Raum?, Wien 2002. 148 Ebd., S. 132.
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Konstruktivisten die Malerei bewusst aufgeben, sehen sich schließlich als Lehrende und als Grafikdesigner, die für die statt mit der Bevölkerung arbeiten.149 Tatsächlich wissen wir heute um die vielfältigen Probleme, die diese mitunter versuchte Gleichstellung in aktuellen partizipatorischen Projekten produziert, vom Vorwurf der Ausbeutung und stigmatisierender Repräsentation bis zur unrechtmäßigen Vermarktung von sozialen Ideen und menschlichen Einsätzen haben sich Beschwerden an manche künstlerische Strategie der Teilhabe formuliert.150 Zum Teil ähnelt die Kritik an der Rolle der Marginalisierten in der Partizipationskunst durchaus berechtigten Einwänden gegenüber dokumentarischen Praxen der 1970er-Jahre.151 Doch auch wenn Regel 11 des Manifests besagt: »Achte den Geschmack und die ästhetischen Vorstellungen der Personen, mit denen du zusammenarbeitest. So entstandene Kunstwerke/Artefakte haben den gleichen Stellenwert wie die eines Künstlers/einer Künstlerin (Die Verneinung des Meisterwerks)«, so weiß die Künstlerin um die bestehenden Unterschiede zwischen ihr und den Beteiligten.152 Eine vermeintliche Gleichmachung von Künstlerin und Nicht-Künstler_innen bedient Leko so auch ganz dezidiert nicht, ihre Arbeiten unterliegen eindeutig ihrer Autorschaft unter Verweis auf die jeweiligen Zusammenarbeiten. Die Hierarchien eines solchen Projektes sind ihr bewusst, sowohl innerhalb des Werkprozesses als auch bezüglich der institutionellen Bedingungen. Das unterstreicht einmal mehr, dass Leko gar nicht daran interessiert ist, die Differenz zwischen Künstler_in und Partizipierenden aufzulösen. Tatsächlich muss die Integration der Nicht-Künstler_innen in Lekos Arbeit aber auch weniger stark als Öffnung der Kunst diskutiert werden, als vielmehr als Reflexion künstlerischen Produzierens und dessen möglichen Wirkens. In ihrer Regel 5 hält sie entsprechend fest: Beziehe die Menschen vor Ort so weit wie möglich in den kreativen Prozess ein. Übergib ihnen die Kontrolle/Verantwortung über die Form ihrer Reprä149 Ebd. 150 Vgl. Alice Creischer, Andreas Siekmann, »Reformmodelle«, in: Springer, Band III, Heft 2, Juli–Sept. 1997, S. 17-23. 151 Die damaligen Lösungen für die sozialen Bewegungen – »die Marginalisierten sich selbst repräsentieren, ihre Stimme artikulieren [zu] lassen, kurz: sie als politische Subjekte zur Erscheinung zu bringen«. Juliane Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst, Hamburg 2013, S. 160. 152 Kristina Leko, Cover Ausst.-Kat. Secession, Wien 2006.
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sentation. Lass sie entscheiden, wie sie aussehen möchten, was sie sagen. Erkläre so viel wie möglich über die Zusammenhänge, in/mit denen du arbeitest. Stelle nichts aus, womit die Menschen unzufrieden sind oder dem sie gleichgültig gegenüberstehen. Erarbeite/Verdiene dir das Recht, Bilder und Dokumente von Menschen zu zeigen, indem du sie beteiligst und persönliche Beziehungen zu ihnen unterhältst. (Für Demokratie und für kulturelle Demokratie. Auch für authentische Dokumente/Artefakte).153 Sehr deutlich wird hier, dass es vor allem die Frage der Repräsentation ist, die Leko bezüglich des partizipativen Einsatzes der Nicht-Künstler_innen beschäftigt. An diese Repräsentationen knüpft sie auch ihr eigenes Recht, Dokumentationen über die Menschen und ihre Arbeit herzustellen. Mit dieser reflexiven Verhandlung ist einmal mehr berücksichtigt, dass Leko in der Partizipation kein Mittel der Versöhnung sieht, sondern eine Möglichkeit, kulturelle Fragen als gesellschaftliche Fragen zu verhandeln – besonders im Hinblick auf die sozialen Unterschiede in der Repräsentation und Rezeption von Kunst. Lekos Interesse ruft so zwar Versuche der kommunistischen und sozialistischen Gesellschaften, Bürgertum und Proletariat zu verbinden, auf, wie es beispielsweise Benjamin anhand des Dichters Tretjakow und seines Einsatzes in der landwirtschaftlichen Kolchose beschreibt.154 Mit dem Verbleiben im Werkcharakter der Installation, die Juliane Rebentisch als dynami-
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Ebd. Äls 1928, in der Epoche der totalen Kollektivierung der Landwirtschaft, die Parole: ›Schriftsteller in die Kolchose!‹ ausgegeben wurde, fuhr Tretjakow nach der Kommune ›Kommunistischer Leuchtturm‹ und nahm dort während zweier längerer Aufenthalte folgende Arbeiten in Angriff: Einberufung von Massenmeetings; Sammlung von Geldern für die Anzahlung auf Traktoren; Überredung von Einzelbauern zum Eintritt in die Kolchose; Inspektion von Lesesälen; Schaffung von Wandzeitungen und Leitung der Kolchos-Zeitung; Berichterstattung an Moskauer Zeitungen; Einführung von Radio und Wanderkinos usw.«, Walter Benjamin, »Der Autor als Produzent«, in:Der Autor als Produzent. Aufsätze zur Literatur, Stuttgart 2012, S. 232.
2. Landwirtschaft im Medium Kunst
schen und damit öffentlichen wie demokratischen Raum der Erfahrung für die Betrachter_innen definiert, bietet sich so ein Rahmen zur Reflexion.155
Kontaktzone Kunst Judith Laister bringt im Zusammenhang einer anderen Arbeit Lekos das postkoloniale Modell der »Contact Zone« ins Spiel. 1997 von James Clifford für kulturelle Orte von der Sprachwissenschaftlerin Mary Louise Pratt adaptiert, »setzt er dem modernen Kunstraum singulärer Autorenschaft einen dialogischen Raum permanenten Verhandelns entgegen«.156157 Diesen beschreibt Laister wie folgt: Der Begriff »Contact Zone« wurde […] als Begegnungsraum definiert, in dem verschiedene Kulturen aufeinandertreffen und ihre jeweiligen Interessen in wechselseitiger, oft konfliktreicher Beziehung aushandeln (Pratt 1992). Kontaktzonen weisen zwar hochgradig asymmetrische Machtverhältnisse auf, trotzdem herrschen nicht Ohnmacht und Dominanz, sondern Interaktion und Austausch zwischen den verschiedenen Akteuren vor.158
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»In diesem Zusammenhang steht, dass installative Kunst ihrer ortsspezifischen Form nach einen verstärkten Anspruch auf Öffentlichkeit im gleichen Zug stellt, wie sie diese ihrem »interessierten« Gehalt nach verstärkt problematisiert. Der Anspruch installativer Kunst auf Öffentlichkeit ist zugleich ein Anspruch an eine demokratische Öffentlichkeit, in der die Idee, Kunst sei für alle, nicht mehr als bürgerliche Selbstverständigungsfloskel still gelegt wäre.« Juliane Rebentisch, Ästhetik der Installation, Frankfurt a.M. 2004, S. 288. »James Clifford (Clifford, 1997) adaptiert Pratts Modell der »Contact Zone« und beschreibt nicht nur Sprache, Kunst und Literatur und wissenschaftliche Diskurse als zentrale Zonen interkulturellen Austauschs, sondern weitet die Analyse auf Museen, Ausstellungen und alle Orte kultureller Aufführung und Darstellung aus. Er plädiert für ihre gezielte Ausweitung, da sie Möglichkeitsräume für ein Verhandeln von verschiedenen kulturellen Werten und Interessen darstellen. Vermittelt durch Bilder und Dinge entstehen wechselseitige, emanzipatorische Transformationsprozesse – und zwar nicht nur auf ästhetischer, sondern auch auf lokaler und politischer Ebene.« Judith Laister, »Was sucht die Künstlerin im Feld?«, in: Michael Simon, Thomas Hengartner, Timo Heimerdinger, Anne-Christin Lux (Hg.), Bilder. Bücher. Bytes, Münster, New York, München, Berlin 2009, S. 534-542, hier S. 538. Ebd., S. 537. Ebd.
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Kunst und Landwirtschaft
Mit diesem Blick aus anthropologischer Perspektive wird deutlich, was sich auch im Zusammenspiel zwischen Künstlerin und Bauernfamilien, übertragen in Formen der Repräsentation, der Videos und der Alltagsgegenstände zeigt. Es geht nicht darum, die Grenzen zwischen der Künstlerin und den Bauern, zwischen der Landwirtschaft und der Kunst aufzuheben, sondern diese in ihrem (möglichen) Austausch besonders sichtbar zu machen. So sehr Lekos Arbeit sich nämlich als Setzung gibt, so sehr bleibt die Arbeit, und das unterstreicht gerade der Regelkatalog, ein Versuch, oder besser eine Versuchsanordnung, die es gilt, anhand dieser Regeln zu überprüfen. Und während Leko einerseits durchaus zusammen mit ihrem Thesenwerk daran arbeitet, solche von ihr erwünschten demokratischen Kunstwerke herzustellen, stellt die gesamte Konzeption auch eine Möglichkeit der Reflexion dar, die sich bietet, um über die Grenzen nachzudenken, die sie mit ihren Vorgaben zwischen Kunst und Leben ins Wanken bringt und zur Verhandlung stellt. In diesem Sinne untermauert die Arbeit daher auch keine sozialistische Kulturauffassung, die, so Barbara Steiner: […] universalistisch bis totalitär und damit inkorporierend angelegt war und Widersprüche im Sinne eines Anspruchs einer allgemein verbindlichen Wahrheit (Doktrin) aufzulösen trachtete. Nach Lekos künstlerischem Verständnis sind eben diese Widersprüche, Friktionen und Kollisionen integraler Bestandteil von Gemeinschaftsprojekten und sollen nicht nivelliert werden.159 Lekos Anspruch ist dabei jedoch durchaus der einer Veränderung, den ihre Kunst hervorbringen soll: Mit meiner Kunst möchte ich konkrete soziale Veränderungen herbeiführen, egal wie klein deren Maßstab sein wird. Das meint allerdings nicht, dass Kunst Probleme, die von anderen Disziplinen in Angriff genommen werden sollten, lösen könnte. Kunst kann nicht stellvertretend für Bildungssystem, Stadtplanung oder andere soziale Disziplinen operieren. Gesellschaftliche Veränderungen finden nicht im Materiellen statt, sondern es handelt sich um einen Wandel in den Beziehungen und Wahrnehmungen. Und was ist
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Vgl. Barbara Steiner, Kristina Leko. »Beweis Nr. 4: Jeder Mensch ist eine Künstler/in«, in: Kristina Leko, Ausst.-Kat. Secession, Wien 2006, S. 6.
2. Landwirtschaft im Medium Kunst
realer als unsere Wahrnehmung? Und was beeinflusst unsere Handlungen mehr als unsere Wahrnehmung?160 Mit dem Aufrufen von Fragen der Autonomie der Kunst bezieht sie sich auf einen (kulturellen) Demokratiebegriff für die Kunst, den sie auch mehrfach in ihrem Regelwerk hervorhebt. Dieser fordert hier weniger ein Verlassen von etablierten künstlerischen Formen und ihrer Institutionen, sondern stellt vielmehr die Möglichkeiten der Kunst und ihrer Öffnung gegenüber gesellschaftsrelevanten Themen vor dem Hintergrund historischer Praxen zur Diskussion. In ihrem Manifest stellt sie Lenins Frage für die kollektive Gemeinschaft ihre individualisierte Künstlerinnenperson entgegen und fragt, wie aus dieser Perspektive eine soziale künstlerische Praxis aussehen könnte. Lekos künstlerische Arbeit zeigt sich hier einmal mehr als ein Werk, das sein politisches Engagement aus der Kunst heraus steuern will. Es geht nicht im Leben auf, sondern holt das Leben, hier die Lebenssituation der kroatischen und ungarischen Bauern vor dem Hintergrund ihrer sich ändernden ökonomischen Situation, in die Kunst. Dabei verfolgt die Künstlerin weniger die Verbesserung der Lage der Beteiligten – sie folgt keinem »Pragmatismus der Problemlösung«,161 für den sie die Institutionen der Kunst verlassen müsste –, im Gegenteil, die thematischen Verhandlungen finden ganz explizit in der Kunst und ihren Institutionen statt, das heißt, sie materialisieren sich in Form einer Installation, ausgestellt in einer Galerie. Die Installation ist das Kunstwerk und nicht eine Dokumentation des partizipativen Projekts, das andernorts stattgefunden hat, behandelt jedoch die Möglichkeiten einer Kunst, die sich in den Austausch mit den Lebensrealitäten von Bäuerinnen und Bauern begibt. Als Installation, die eine solche historische Praxis dezidiert im Kunstraum und anhand von dokumentarischen Medien reflektiert, bleibt diese Arbeit damit dem ersten Teil meiner Untersuchung verbunden, wenngleich sie mit ihrer Behandlung einer Funktion von Kunst auch Fragen zur Autonomie des Kunstwerks aufruft und damit bereits das folgende, dritte Kapitel dieser Untersuchung einleitet.
160 Kristina Leko, »Gesellschaftliche Veränderungen, Selbstermächtigung und Imagination«, Interview mit Barbara Steiner und Kathleen Liebold, in: Philipp Oswalt (Hg.), Schrumpfende Städte, Band 2: Handlungskonzepte, Ostfildern 2005, S. 501. 161 Kristian Kravagna, »Arbeit an der Gemeinschaft. Modelle partizipatorischer Praxis«, in: Marius Babias, Achim Könneke (Hg.), Die Kunst des Öffentlichen, Dresden 1998, S. 46.
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3. Kunst im Medium Landwirtschaft
Während im vorangegangenen Teil vor allem die Darstellung von Landwirtschaft im Fokus der künstlerischen Arbeiten steht, kommt Landwirtschaft bei den Arbeiten dieses folgenden Teils im weitesten Sinn als Methode und Format zum Einsatz. Die Kunst entgrenzt sich hier auf landwirtschaftlich konnotierte Praxen und Räume, indem sie diese anwendet und benutzt. Als institutionelle Abkehr in der Tradition der Land, Environmental und Public Art öffnet sich diese Kunst – wie auch Bonnie Ora Sherks Crossroads Community (The Farm) – in den umgebenden Raum und findet im öffentlichen städtischen und ländlichen Raum statt. Dabei reichen die aktuellen künstlerischen Maßnahmen von aktivistisch anmutenden Interventionen bis zur Etablierung von neuen Infrastrukturen, von städtischen Obsterntetouren bis zu einer Schäferschule. Sie fügen sich in bereits existierende Strukturen ein, bilden Alternativen zu diesen oder füllen Leerstellen. Mit ihren unterschiedlichen Schwerpunkten wurden und werden solche Positionen mit ihrer deutlich sozialen Ausrichtung seit den 1990er-Jahren u.a. als New Genre Public Art, Socially Engaged Art, Relationale Kunst und Social Practice bezeichnet. Die unterschiedlichen Begriffe verweisen dabei auf die verschiedenen Beziehungen, die in der Kunst jeweils hergestellt werden – mit dem öffentlichen Raum, als soziales Engagement oder zwischen Menschen. Mit der räumlichen Erweiterung und der Öffnung für ein teilnehmendes Publikum rücken dabei die intersubjektiven und sozialen Zusammenhänge besonders ins Zentrum. In den 1990er-Jahren wurde das Intersubjektive zum Schwerpunkt der Betrachtung einer als partizipative Praxis benannten künstlerischen Vorgehensweise. Als Referenz dieser Entwicklungen spielt die Relational Aesthetic, als Theorie von dem französischen Kunstwissenschaftler und Kurator Nicolas Bourriaud
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Kunst und Landwirtschaft
vorgestellt, eine herausragende Rolle.1 Er versucht darin, das Phänomen einer Kunst, die intersubjektive Verbindungen herstellt, zu fassen, indem er ihrer im Kunstraum entwickelten Modellhaftigkeit auch außerhalb der Kunst eine Wirksamkeit zuschreibt. Dabei spricht er wesentliche Kriterien an, die auch in der Nachfolge der partizipativen Kunst der 1990er-Jahre noch relevant sind, insbesondere die durch die geöffnete Werkform veränderte Rolle der Betrachtenden. Jedoch ist sein Verständnis der Herstellung einer Kunst, die modellhaft gemeinschaftliches Handeln produziert, in seinen Worten, »[…] to actually be ways of living and models of action within the existing real […]«,2 von verschiedener Seite zu Recht als verkürzend und sogar falsch vor allem im Hinblick auf die künstlerischen Beispiele kritisiert worden.3 Denn, so eine Kritik, lässt die Betrachtung Bourriauds völlig außer acht, dass die Projekte als Kunst in einem Feld stattfinden, das geprägt durch seine Eigenschaften, die wiederum das Kunstwerk mitbestimmen, diese in einem anderen Feld nicht nach dessen Parametern wirksam werden lässt. Dieser Problematik begegnen nun jüngere Betrachtungen einer engagierten Kunst, die mit Erika Fischer-Lichte, Hans-Thies Lehmann oder Shannon Jackson auf die Theater- und Performancetheorie zurückgreifen. Als Aufführungen verstanden, bleiben die Einsätze der Kunst hier, wenngleich ebenfalls wie bei Bourriaud als Einlösung einer sozial-politischen Funktion angelegt (und diesem manchmal sogar gerecht werdend), als Kunstwerke stets im Charakter eines »Als-Ob«.4 Die aktuellen Projekte lassen sich so als Formate verstehen, die die Ambivalenz von Wirklichkeit aufzeigen: Einerseits nehmen sie Verbindung mit der Wirklichkeit auf – durch die angesprochenen Themen, durch die formalen Bezüge und durch die Öffnung gegenüber der Teilnahme von Nicht-Künstler_innen –, erscheinen jedoch andererseits gleichzeitig
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Als Relational Aesthetics definiert Bourriaud: »[…] methods of social exchanges, interactivity with the viewer within the aesthetic experience being offered by him/her, and the various communication processes, in their tangible dimension as tools serving to link individuals and human groups together.« Nicolas Bourriaud, Relational Aesthetics, Dijon 1998/2002, S. 43. Ebd., S. 13. So etwa von Claire Bishop in »Antagonism and Relational Aesthetics«, in: October, New York 2004, und Juliane Rebentisch in Theorien der Gegenwartskunst, Hamburg 2013. Die Kulturwissenschaftlerin Sruti Bala spricht auch von Gesten des Partizipatorischen. Sie sieht darin u.a. institutionskritische Reflexionen. Vgl. auch Sruti Bala, The Gestures of Partizipatory Art, Manchester 2018.
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
von der Realität deutlich unterschieden als Kunst. Mit diesen Entgrenzungen gerät so vor allem die Schnittstelle zwischen Kunst und Nicht-Kunst in den Blick, die die Kulturwissenschaftlerin Anna-Lena Wenzel als größeren »Grenzraum« versteht.5 Unter dieser Betrachtung erscheint die soziale Interaktion weniger als Pointe der Kunstprojekte, sondern vielmehr als eine Reflexionsebene für soziale Prozesse in der Gesellschaft, aber eben auch als Raum, in dem die Institution Kunst immer wieder selbst gespiegelt wird. Dabei spielt auch die Reflexion von künstlerischer Autorschaft eine Rolle, die sich etwa in der Erweiterung des einen Künstler_innensubjekts zu größeren Künstler_innengruppen abzeichnet. Ebenso wie die Bezeichnung der Kunstwerke als Projekte, die den außer-künstlerischen Einsatz und die Offenheit des Werks deutlich betont. Verstanden werden diese aktuellen Projekte mit Landwirtschaftsbezug hier also in der Nachfolge der partizipativen Projekte der 1990er-Jahre, die mitunter tatsächlich den Anspruch des Engagierens in sozialen Belangen verfolgten6 , aber eben auch als Engagierte Kunst missverstanden wurden.7 Auch wenn die hier vorgestellten künstlerischen Positionen in ebendiesem disparaten Verständnis erscheinen, bei dem vor allem die Künstler_innen selbst oft auf der Suche nach der konkreten Wirksamkeit ihrer realitätsnahen Projekte sind, ist der Massstab der Betrachtung nicht ihr direkter sozialer Einfluss. Vielmehr soll das Verhältnis, das sie mit der Wirklichkeit vor ihren eigenen Bedingungen als Kunst eingehen, bestimmend sein. Formal als Reaktion auf und manchmal gar als Lösung(en) für bestimmte, als problematisch diagnostizierte Situationen angelegt, werden in den im Folgenden beobachteten ›Grenzräumen‹ mit der Gestaltung von einzelnen Produkten bis zu ganzen Lebensbereichen immer auch Fragen nach einer (möglichen) Funktionalität der Kunst teils auch vor historischem Hintergrund in den Blick genommen. Dabei soll auch ihre nachträgliche Präsentation im Ausstellungsraum Berücksichtigung finden. Für die Projekte, die vornehmlich im außerkünstlerischen Raum stattfinden, lässt sich nämlich ein doppelter Aufführungscha-
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Vgl. Anna-Lena Wenzel, Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst, Bielefeld 2011, S. 133ff. Wie die österreichische Künstler_innengruppe Reinigungsgesellschaft, die dezidiert Sozialprojekte initiiert. Wie Rikrit Tiravanijas Arbeit von Nicolas Bourriaud, der im Rahmen der Relationalen Ästhetik vor allem die durch die Projekte hervorgebrachte Gemeinschaftlichkeit betont.
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Kunst und Landwirtschaft
rakter konstatieren, der darin besteht, dass es für sie alle stets zusätzliche Formen der Präsentation im Ausstellungsraum gibt.8 Das Anliegen, die eigene künstlerische Arbeit auch institutionell zu präsentieren, ist bei den Künstler_innen sehr unterschiedlich ausgeprägt. Für manche stellt die Institution die Struktur dar, in der ein Projekt (hier vor allem die längerfristigen) in seiner Gesamtheit sichtbar werden kann (Myvillages), oder auch dazu dient, mit etwas Abstand und ohne die eigene Involviertheit »zu verstehen, was man gerade macht«9 (Amy Franceschini/Futurefarmers). Für andere ist sie ein mehr oder weniger wichtiger Raum, in dem die Arbeit in dokumentierter Form Verbreitung findet, aber auch ihre außerinstitutionelle Wirksamkeit überprüft wird (Fernando García-Dory), bei wieder anderen bilden die dokumentarischen Wiedergaben eigene und unabhängig funktionierende Werke (Fallen Fruit), eher selten dient die Institution ganz dezidiert als partizipative Plattform und Fortsetzung der außer-institutionellen Arbeit (Kultivator) oder als Ort des Versammelns von beteiligten Protagonisten (Fernando García-Dory). Auch gibt es Formate, bei denen die Projekte und ihre Präsentation, d.h. beide Aufführungen, zusammengedacht sind, der Zugang im Außen mit dem im Innen durch eine gemeinsame Struktur verbunden ist (Myvillages). Für die Land Art der 1960er- und 1970er-Jahre, die kaum anders als über ihre Dokumentationen bekannt ist, stellt, wie auch bei Bonnie Ora Sherks Arbeit Crossroads Community (The Farm) in Kapitel 1.2., die Dokumentation einen wesentlichen Teil ihrer Rezeption dar.10 Ebenso wie für die ephemere Performancekunst, die in Fotografie und Film aufgezeichnet wird.11 Diese Repräsentationen sind Teil des Kunstwerks und damit für die Rezeption 8
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Man kann mitunter sogar von einem dreifachen Aufführungscharakter sprechen, wenn man die Internetseiten der Künstler_innen mitberücksicht. Auf deren bedeutende Erscheinung verweist bereits Doris Berger, die in den Internetseiten besonders die Verbreitung und Diskussion der Inhalte auf internationaler Ebene hervorhebt. Vgl. Doris Berger, »Not a Farmer. Visualizing Agriculture in Contemporary Art«, in: Wapke Feenstra, Antje Schiffers, Images of Farming, Heijningen 2011, S. 15. Amy Franceschini im Interview mit Claire Doherty, https://www.youtube.com/watch?v =HUN41EAruYY, Zugriff 20.03.2017. Tom Holert beschreibt ausführlich die Formen und Probleme der medialen Repräsentation von Land Art in dem Aufsatz: »Land Art’s Multiple Sites«, in: Ends of the Earth. Land Art Art to 1974, Ausst.-Kat. Museum of Contemporary Art, Haus der Kunst, Los Angeles, München 2012, S. 97-117. Einen Überblick zum Thema gibt die Aufsatzsammlung: Barbara Clausen (Hg.), After the act. Die (Re)Präsentation der Performancekunst, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien 2005.
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
von Bedeutung.12 Die Ausstellungspräsentationen eignen sich so gesehen als Reflexionsflächen, um die außerinstitutionell hergestellten Beziehungen zu erfahren, selbst wenn sie das Authentizitätsversprechen konterkarieren, das die realitätsnahen Arbeiten auf den ersten Blick geben. Sie vermögen darüber Aufschluss zu geben, wie und in welchem Bezug zur Institution (oder eben auch nicht) die Projekte zu betrachten sind. In der Aufführung im Kunstraum werden so reflexive Erfahrungen gegenüber den innerhalb der ersten Aufführung gemachten, partizipativen Erfahrungen betont. Mit dem Soziologen Dirk Baecker gesprochen, ermöglicht die Aufführung im Kunstraum damit als Betrachtung 2. Ordnung eine Reflexion der unmittelbaren Erfahrungen und Reflexionen 1. Ordnung.13 Vor diesem Hintergrund erfolgt die Beschreibung der Arbeiten in den folgenden Kapiteln dialogisch zwischen den Ebenen der Durchführung des Projekts und seiner Präsentation. Nicht nur werden die Arbeitsweisen der Künstler_innen und Künstler_innengruppen unter Beleuchtung ihrer eingegangenen Verbindungen mit den anvisierten ländlichen und landwirtschaftlichen Lebensrealitäten betrachtet als auch die sich daraus ergebenden unterschiedlichen Rollen der Betrachtenden und des Publikums (das sich in »primäres« als direkt beteiligtes und »sekundäres« als das Projekt in seiner Gesamtheit bzw. im Ausstellungsraum rezipierendes Publikum teilt) berücksichtigt.14 So zeigt die Künstlergruppe Fallen Fruit mit den Arbeiten Neighbourhood Fruit Forages (seit 2004) und Double Standard (2008), in denen die Stadt als öffentlicher Raum für landwirtschaftliche und gemeinschaftliche Praxen genutzt wird,
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Der Performancetheoretiker Philip Auslander verweist mit dem Philosophen Lee B. Brown auf die Möglichkeit, »dass das bedeutende Verhältnis nicht zwischen dem Dokument und der Performance besteht, sondern zwischen dem Dokument und dem Publikum«. Auslander schreibt weiter: »Es ist gut möglich, dass unser Sinn für die Präsenz, Macht und Authentizität dieser Werke nicht von der Deutung des Dokuments als indexikalischem Zugangspunkt zu einem vergangenen Ereignis herrührt, sondern von der Wahrnehmung des Dokuments als Performance, die direkt das ästhetische Projekt oder die Sensibilität der Künstlerin oder des Künstlers reflektiert.« Philip Auslander, »Zur Performativität der Performancedokumentation«, in: Barbara Clausen (Hg.), After the act. Die (Re)Präsentation der Performancekunst, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien 2005, S. 32f. Vgl. auch Dirk Baecker, Wozu Theater?, Berlin 2013. Vgl. Elisabeth Fritz, Authentizität. Partizipation. Spektakel. Mediale Experimente mit »echten Menschen« in der zeitgenössischen Kunst, Köln 2014, S. 36.
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Kunst und Landwirtschaft
dieses Vorgehen im Ausstellungsraum reflektiert, indem hier der Gemeinschaftsbegriff der Projekte kritisch zur Disposition gestellt wird (Kapitel 3.1.). Und anders bleibt der Ort für Teilhabe und Selbstermächtigung – wie bei Soil Kitchen (2011) als Suppenküche mit Modellcharakter der Künstler_innengruppe Futurefarmers – als Kunstprojekt vornehmlich im Öffentlichen Raum bedeutend (Kapitel 3.2.). Stadt und Land werden durch die in der Lebenspraxis der Künstler_innen von Kultivator verankerte Kunst als verbundene Räume aufgerufen, der Ausstellungsraum bei der Arbeit Guerilla Composting, Feed-Back Berlin (2012) zur Partizipationsmöglichkeit für die Besucher_innen (Kapitel 3.3.). Als ein neues Modell von künstlerischer als landwirtschaftlicher Praxis fordert das Projekt Das Eichelschwein (2006) von Insa Winkler in Anlehnung an die Soziale Praxis und die Land Art Eingang in politische Entscheidungen (Kapitel 3.4.). In der Shepherd’s School (seit 2004) von Fernando García-Dory wird die Arbeit spanischer Schäfer im Workshop-Format erlebbar gemacht, was hier jedoch durch den Charakter als Kunst ein zu der Idee einer Socially Engaged Art fast gegenteiliges Verständnis der Arbeit provoziert. Schließlich verweisen die Neuen Dorfwaren (seit 2007) von Myvillages, angeboten im Internationalen Dorfladen (seit 2007), die unter Teilhabe von Expert_innen des ländlichen Raums hergestellt werden, in ihrer Ortsbezogenheit und Anwendbarkeit auf die Beziehungen der Kunst zum ländlichen Raum in Verlängerung einer institutionskritischen Tradition der Kunst (Kapitel 3.6.).
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
3.1
Urbane Landwirtschaft, Aktivismus, Gemeinschaft: Neighbourhood Fruit Forages, Fruitmaps (beide seit 2004) und Double Standard (2008) von Fallen Fruit
Die in Los Angeles beheimatete Künstlergruppe Fallen Fruit (David Burns, Austin Young, Matias Viegener)15 konzentriert sich seit 2004 in ihrer Arbeit auf die monothematische Auseinandersetzung mit Obst im urbanen Raum. Die Künstler selbst beschreiben Obst als eine Linse, durch die sie auf die Welt blicken: »Using fruit as our lens, we investigate urban space, ideas of neighborhood and new forms of located citizenship and community.«16 Ähnlich wie Åsa Sonjasdotter (vgl. Kapitel 2.2.) nutzt auch Fallen Fruit damit eine spezifische Perspektive, um größere gesellschaftliche Zusammenhänge zu thematisieren. Die Arbeit von Fallen Fruit bezieht sich mit den Möglichkeiten des freien und kostenlosen Zugriffs auf Obst in der Stadt, wie sie selbst beschreiben, auf Nachbarschaft und Gemeinschaft. Mit dem Zugriff auf urbane Landwirtschaft bietet sich der öffentliche Raum gleichermaßen als politisches Handlungsfeld und als Reflexionsfläche an. Der städtische Raum wird über seine inhärente Thematik der Raumverteilung und -nutzung zwischen öffentlich und privat zum Verhandlungsort um Besitz und Nicht-Besitz, das heißt auch um die Rechte der Bürger_innen am so bezeichneten öffentlichen Raum. Während die Einsätze von Fallen Fruit als partizipative Projekte des Empowerments im urbanen Raum stattfinden, nehmen die Künstler zugleich regelmäßig an Ausstellungen teil. Die dort gezeigten Präsentationen stehen zwar im Zusammenhang mit den Aktionen, funktionieren jedoch auch eigenständig und zeigen deutlich einen reflexiven Umgang mit dem partizipativen Anteil der Arbeit.
Neighbourhood Fruit Forages (seit 2004) Ausgangspunkt der Zusammenarbeit der Künstler für ihre 2004 begonnenen Projekte waren die auffälligen Mengen an ungeernteten Früchten, die ihnen
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2013 verließ Mathias Viegener die Gruppe, die seitdem nur noch aus David Burns und Austin Young besteht. Von den Künstlern sind keine Angaben zu ihren Geburtsdaten zu finden. Fallen Fruit, »Public Fruit Jam«, in: Living as Form. Socially engaged Art from 1991-2011, Ausst.-Kat. Creative Time, New York 2012, S. 150.
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Kunst und Landwirtschaft
Abb. 33: Fallen Fruit/David Allen Burns, Matias Viegener and Austin Young, Neighbourhood Fruit Forage/Nocturnal Fruit Forage, 2006, Silverlake, Los Angeles, Performance
allein in den Straßen zwischen ihren jeweiligen Wohnungen im Stadtteil Silver Lake auffielen. Bekleidet mit Schutzanzügen und Handschuhen machten sie sich auf, dieses Phänomen künstlerisch genauer unter die Lupe zu nehmen:
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
We began by mapping the public fruit in our neighborhood: just the triangle between our three houses. We appear in our first images wearing plastic suits and rubber gloves, as if we’d fallen to earth from another world, and began investigating what there was to eat. The conceit was to make ourselves look unnatural, wrapping ourselves instead of the fruit in plastic, which is how fruit increasingly appears to us in the world […]. We coined the term »public fruit« as it expressed the way in which a certain public or communal or shared quality was lacking in these streets.17 Mit der Bezeichnung ›public fruit‹ wollten die Künstler auf die Eigenart der Gegenden hinweisen, in denen sich einerseits auffällig viele Obstbäume fanden, die sich jedoch auch in besonderem Maß durch eine fehlende gemeinschaftliche Qualität auszeichneten. Weitere Erkundungen in Los Angeles zeigten, ›public fruit‹ gibt es überall: Feigen-, Bananen-, Orangen- und Apfelbäume fanden sich vornehmlich auf privaten Flächen, von denen sich die Bäume jedoch häufig in öffentliche Bereiche ausbreiten und über Bürgersteige und Straßen ragen. Bei weiteren Expeditionen in anderen Städten der Welt offenbarte sich den Künstlern das gleiche Phänomen, wenngleich die Obstsorten je nach Gegend variieren. Dieses Phänomen nahmen die Künstler zum Anlass, um anhand des Verhältnisses von Stadtbewohner_innen zum öffentlich verfügbaren Obst auch die räumlichen Besitzverhältnisse in der Stadt zu verhandeln. Schien doch die Zurückhaltung der Menschen vor allem von Verunsicherung oder vorauseilendem Gehorsam geprägt bezüglich der Nutzungsbefugnis von öffentlichem Raum: »[P]eople seem unwilling to transgress the seemingly strict laws of property, even at the grey zones of their boundaries.«18 Den Künstlern erschien die Situation als paradigmatisch für den Umgang mit dem Stadtraum, der zwar sichtbar von privaten Interessen geprägt ist, dessen öffentlicher Raum sich jedoch nicht von der Gemeinschaft der Bewohner_innen als der ihre anerkannt zeigte. Das »öffentliche Obst« bot ihnen Anlass, um Kunst- und Garteninteressierte in der Stadt in verschiedenen Formaten zusammenzubringen. 2004 fand auch der erste Neighbourhood Fruit Forage als ein von den Künstlern angeleiteter partizipativer Spaziergang durch die Nachbarschaft statt, auf dem mit einer Gruppe von Menschen öffentlich zugängliche Obstbäume 17
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Fallen Fruit, »Sweetness in Public Space«, in: Andrea Phillips, Fulya Erdemci (Hg.), Actors, Agents and Attendants. Social Housing – Housing the Social: Art, Property and Spatial Justice, Amsterdam, Berlin 2012, S. 226. Ebd., S. 226ff.
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Kunst und Landwirtschaft
gesucht und Früchte geerntet wurden. Die Neighbourhood Fruit Forages lassen sich als partizipative Performances bezeichnen, bei denen die Teilnehmenden selber aktiv werden können. Das Handeln der Einzelnen reflektiert sich hier als ein Handeln in der Gruppe und in Gemeinschaft. Sie funktionieren auch als Aufklärungs- und Vernetzungstreffen und dienen dazu, den Teilnehmer_innen eine Anleitung im ›urban fruit picking‹ zu geben und sie miteinander, aber auch mit anderen zusammenzubringen. Nicht selten wurde auf den Touren Kontakt mit den Besitzer_innen von Bäumen auf Privatgrundstücken gemacht, die die ›fruit picker‹ in ihre Gärten zum Ernten einluden.19
Abb. 34 und 35: Fallen Fruit/David Allen Burns, Matias Viegener and Austin Young, Fruit Maps, seit 2004, S/W-Digitaldruck auf Papier, Maße variabel
Fallen Fruit im Ausstellungsraum: Fruitmaps (seit 2004) und Double Standard (2008) Parallel zu den ersten Obstspaziergängen der Künstler entwickelte sich ein weiteres und bis heute verfolgtes Projekt: die Fruitmaps (seit 2004). Die Fruit19
Matias Viegener, »Fallen Fruit«, Cabinet Issue 23 Fruit, Herbst 2006.
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
maps sind digital produzierte Karten, die einen begehbaren Ausschnitt einer Stadt zeigen. Darauf eingezeichnet sind die frei zugänglichen Obstbäume in den Straßenzügen, farbig ausgewiesen in den verschiedenen Sorten.20 Die ersten Fruitmaps entstanden für verschiedene Stadtteile von Los Angeles und im Folgenden auch für viele andere Nachbarschaften in internationalen Städten wie Kopenhagen, Guadalajara, Malmö oder Madrid. Aktuell finden sich 27 Beispiele auf der Internetseite der Künstler, sie sind kostenlos abrufbar und können nach Bedarf ausgedruckt werden. In Ausstellungen werden sie in beliebiger Auswahl ausgedruckt auf Papier und als Block gehängt gezeigt. In der Ausstellung Hungry City wurde 2012 eine Auswahl von 16 Fruitmaps zusammen mit dem Video Double Standard (30 min) gezeigt. Im Video sieht man die Dokumentation einer der beschriebenen Touren von Fallen Fruit mit Interessierten durch eine Nachbarschaft in Los Angeles auf der Suche nach ›public fruit‹. Man hört und sieht, wie die Menschen Obstbäume entdecken, Obst pflücken, über unbekannte Sorten und Früchte sprechen. Unterlegt oder eher überlegt in Schriftblöcken auf schwarzem Grund ist der Film mit den Kommentaren, die von Betrachter_innen bei YouTube dazu gepostet wurden. Dabei handelt es sich vornehmlich um sexistische, homophobe und insgesamt diskreditierende Kommentare. Aus ihnen wird deutlich, dass die Haltung der Menschen zu dem künstlerischen Projekt auch ganz anders als gutheißend sein kann: In den Kommentaren wird mehr als einmal betont, man würde unter Umständen den Privatbesitz auch mit Waffen gegen das ›fruitpicking‹ verteidigen.
Urbane Landwirtschaft als künstlerischer Aktivismus Die ursprüngliche Idee für das Projekt wurde von den Künstlern mit dem Wunsch nach expliziten Lösungen für drängende soziale und politische Fragen erdacht: Our project, Fallen Fruit, began in response to a call for submissions in the summer of 2004 from the Journal of Aesthetics & Protest for work addressing
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Es handelt sich dabei um ein Format, das auch in aktivistischen Zusammenhängen verbreitet ist. Für Deutschland existiert die digitale Karte mundraub.org, auf der in einem partizipativen Verfahren, öffentlich zugängliche Nutzbäume und -sträucher zusammengetragen sind.
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Kunst und Landwirtschaft
Abb. 36: Fallen Fruit/David Allen Burns, Matias Viegener and Austin Young, Double Standard, 2008, HD-Video (30 Min.)
urgent social and political questions, not in the form of critique or negation, but by proposing generative solutions.21 Fallen Fruit sehen es als ihren Auftrag, die Welt nicht nur zu beschreiben, sondern auch aktiv zu verändern. Wie sie selbst schreiben, »as with many activist-oriented projects whose purpose is to spur change, it soon became apparent that mapping or describing the world one would like to see is no substitute for actually making it happen«.22 Aus diesem Wunsch nach Verwirklichung und nach Aktion ergaben sich die verschiedenen Formate, die dem Anspruch der Künstler oder vielmehr ihrer Frage nach einer Kultur des gemeinsamen Teilens: »Is it possible to imagine cities with a culture of participatory sharing in which public space is utilized to literally serve the public?« folgten.23 Gemeinschaft und Teilhabe werden von Fallen Fruit als Grundvoraussetzung hervorgehoben, um ein verändertes Bewusstsein für den Lebensraum Stadt und die eigenen Möglichkeiten und Ansprüche zu schaffen. Auch 21 22 23
Matias Viegener, »Fallen Fruit«, Cabinet Issue 23 Fruit, Herbst 2006. Ebd. Fallen Fruit, »Sweetness in Public Space«, in: Andrea Phillips, Fulya Erdemci (Hg.), Actors, Agents and Attendants. Social Housing – Housing the Social: Art, Property and Spatial Justice, Amsterdam, Berlin 2012, S. 228.
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
andere Projekte der Künstler dienen dazu, Gemeinschaften zu bilden oder bereits bestehende Gemeinschaften zu aktivieren.24 Landwirtschaft als Zugang bot sich für die Künstler auch aufgrund historischer Begebenheiten an. Matias Viegener von Fallen Fruit verweist in der Zeitschrift Cabinet auf die Historie der Community Gardens als bis in vormoderne Zeiten zurückreichend, in denen in Systemen der Commons, das heißt der Gemeingüter, gedacht wurde.25 So waren historisch betrachtet mit den Allmenden (die deutsche Bezeichnung für Commons) die Ländereien einer Gemeinde bezeichnet, deren landwirtschaftliche Nutzung jenen vorbehalten war, die kein Eigentum hatten. Wesentlich an der Allmende ist, dass es sich nicht um einen Ort handelt, an dem Einzelne schlicht in Eigeninteresse partizipieren können. Allmende-Wirtschaft setzt ein Verständnis von Gemeinschaft voraus. Diese bestimmt die Regeln für den Gemeinplatz und sorgt für Gerechtigkeit. Das erstarkte Interesse an Gemeingütern, Allmende oder Commons der letzten Jahre bezieht sich, mit der Aktivistin Silke Helfrich gesprochen, auf eine »neue Politik jenseits von Staat und Markt« und lässt sich als Reaktion auf die Aneignung und Vermarktung von Gemeingütern verstehen, die sich innerhalb aktueller Globalisierungsprozesse auf unvorstellbare Bereiche ausgeweitet haben: auf den Boden, das Wasser, die Meere, den Luftraum etc. Im neuen Interesse am Gemeingut, in der »Wiederkehr der Allmende« wird jedoch auch eine Entwicklung gesehen, die nach einem etwaigen »Peak of Globalisation«, der die Versorgungsketten zerreißen lässt, bereits erste Formen von Handlungsmöglichkeiten danach bereitstellt.26 Vor diesem Hintergrund zeigt sich die Arbeit von Fallen Fruit deutlich als politisch interessiert und engagiert. Mit dem vom Soziologen und Kunsthistoriker Jens Kastner aufgestellten System zum Verhältnis von Kunst und Aktivismus, das er in vier möglichen Typen beschreibt, lassen sich die Projekte von Fallen Fruit als ›Aktivistische Kunst‹ bezeichnen.27 Nach Kastner 24
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Neben den Neighbourhood Fruit Forages zum Beispiel das Projekt Jam-Session, ein partizipatives Projekt zum gemeinschaftlichen Marmeladekochen oder auch das aktuellste Projekt The Endless Orchard, ein von Anliegern und Interessierten entstandenes Obstbaumgelände in Downtown Los Angeles, das sich jedoch als Idee auch an anderen Orten fortsetzen kann, wie 2018 im Rahmen der Teilnahme von Fallen Fruit an der Manifesta 12 in Palermo. Vgl. auch Matias Viegener, »Fallen Fruit«, in: Cabinet, Issue 23 Fruit, Herbst 2006. Silke Helfrich, Commons: Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, Bielefeld 2012. Neben ›Aktivistischer Kunst‹ sieht er die Bereiche des ›Aktivismus in der Kunst‹, ›Aktivismus als Kunst‹ und ›Künstlerischer Aktivismus‹. Vgl. auch Jens Kastner, »Kunstpro-
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handelt es sich dabei um »künstlerische Produktionen […], die direkt in aktivistische Kontexte eingebunden sind«.28 Kastners Definition berücksichtigt explizit und in Bezug auf Pierre Bourdieu das künstlerische Feld, aus dem heraus sich der Aktivismus entwickelt und in welchem er Gültigkeit hat. Aktivistische Kunst unterscheidet sich nach Kastner von Aktivismus darin, dass es ihr »gelingt, nicht nur Aktivismus, sondern auch legitime Kunst (also nicht nur ›Kunst‹ von Aktivist/innen) zu sein, also am legitimen Ausstellungsbetrieb teilzunehmen«.29 Das künstlerische Feld fungiert zwar als Bezugssystem, die Kunst strebt jedoch zugleich nach Ausweitung bzw. Grenzüberschreitung. Er erklärt: »Im künstlerischen Feld positioniert, zielen sie [die künstlerischen Strategien für sozialen Wandel, Anm. A. K.] auf die Ausweitung der Feldeffekte. Sie sind Einsätze innerhalb des Feldes und zugleich Prozesse und Positionierungen zu dessen Ausweitung.«30 Er beschreibt damit die Bedeutung als eine für das eigene Feld, für die Kunst. Der Aktivismus kommt hier nicht nur zum Tragen bezüglich der eingenommenen inhaltlichen Position, sondern auch bezüglich der Frage nach der Rolle von Kunst in ihrem Verhältnis zur außerkünstlerischen Wirklichkeit. In diesem Sinne werden in den Projekten der Künstler von Fallen Fruit zwar Anleitungen zu Handlungen und Versammlungen gegeben, diese bieten jedoch auch den Boden, um deren Bedeutungen in der Kunst zu reflektieren. Dieses Potenzial wird vor allem in den Projekten sichtbar, die nicht selbst partizipativ sind, sondern, indem sie zur Partizipation bzw. zur Nutzung aufrufen, diese vielmehr verhandeln. Dabei erscheinen die Fruitmaps, ob in der Ausstellung oder auf der Internetseite der Künstlergruppe, als anwendbares Hilfsmittel für eigene, nicht von den Künstlern organisierte Streifzüge. Ihr Charakter als Handlungswerkzeuge beinhaltet bei genauer Betrachtung auch das Bild eines anderen Umgangs und Verständnisses von städtischem Raum als öffentlichem Raum der Teilhabe. So entsprechen die Karten und die Standorte nicht exakt kartografischen Vorgaben, absichtlich haben die Künstler die Orte nicht mit Geocodes versehen, das heißt, sie nicht per GPS abrufbar gemacht.31 Die Kulturwissen-
28 29 30 31
duktion und soziale Bewegung«, in: Christian Steuerwald, Frank Schröder, Perspektiven der Kunstsoziologie. Praxis, System, Werk, Wiesbaden 2013, S. 138ff. Ebd., S. 141. Ebd., S. 142. Ebd., S. 143. Fallen Fruit, »Sweetness in Public Space«, in: Andrea Phillips, Fulya Erdemci (Hg.), Actors, Agents and Attendants. Social Housing – Housing the Social: Art, Property and Spatial Justice, Amsterdam, Berlin 2012, S. 226.
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
schaftlerin Astrid Wege bezeichnet künstlerische Anliegen im Umgang mit kartografischem Material entsprechend als eine Gegenbewegung zu den immer komplexer werdenden Möglichkeiten einer scheinbar hundertprozentigen Erfassung städtischer Realität: Es ist dieses leicht störbare, ständig neu zu definierende Verhältnis zwischen medial und technologisch erzeugten, immer detaillierteren und umfassenderen Kartografien realer und virtueller Räume und ihren verschiedenen, teils ›unangemessenen‹ Nutzungen und Deutungen, das zu reflektieren ein Anliegen der erwähnten künstlerischen Vorgehensweisen ist.32 Betrachtet man die Fruitmaps vor aktuellen geografischen (und auch hobbygeografischen) digitalen Möglichkeiten und Methoden, so erscheinen sie nicht nur inhaltlich, sondern auch formal wie aus der Zeit gefallene Karten. Vor dem Hintergrund einer verbreiteten Fortbewegung mit dem Auto insbesondere in amerikanischen Städten lassen sich die kartografierten Ausschnitte der Fruitmaps, die nur wenige Straßenzüge beschreiben, als winzig bezeichnen; ihr Informationsgehalt vor den digitalen Möglichkeiten als anachronistisch. Sie stehen damit im kompletten Gegensatz zu den verbreiteten Fortbewegungsmethoden, aber auch zu den verbreiteten Inhalten, die durch Kartografie heute abgerufen werden. Der Künstler und Mitinitiator der Hamburger Galerie für Landschaftskunst, Till Krause, weist jedoch daraufhin, dass es bei guten (künstlerischen) Karten vornehmlich um die Differenzen zum abzubildenden Gegenstand geht, die es zu fassen gilt: Für eine gute Karte ist es – entgegen allgemeiner Auffassung – nicht wesentlich, wie dicht und genau sie an ihren Gegenstand herankommt, sondern wie sie Differenzen zu ihm fasst. Denn die Karte ist eine Darstellungsform der Übersetzung und der Transformation, nicht der 1:1 Annäherung. Lesen von Karten ist nur scheinbar ein Lesen von Erfassungen und Kategorisierungen. Beobachtet man diesen Lesevorgang genauer, wird deutlich, dass es sich weit mehr um ein Lesen von Lücken und Differenzen handelt. Was zum
32
Astrid Wege, »Bewegungen durch nicht befestigtes Gelände«, in: Nina Möntmann, Yilmaz Dziewior, Galerie für Landschaftskunst (Hg.), Mapping a city, Ausst.-Kat. Kunstverein Hamburg, Berlin 2004, S. 130-145, hier S. 137.
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Beispiel bezeichnet und behauptet die Karte? Was nehme ich dagegen wahr? Was weiß ich? Was sehe ich? Was fehlt? Was ist falsch? Was ist richtig?33 In diesem Sinne zeigen die Fruitmaps in ihrer räumlichen Begrenztheit und als Miniaturausschnitte die Möglichkeit auf, sich anders als sonst auf Erkundungstour zu begeben: nämlich nicht motorisiert und mit einem deutlichen Interesse an der Begegnung mit dem städtischen Raum. Sie dienen nicht ausschließlich dem Finden und Ernten der Bäume, sondern geben vielmehr Anlass, sich bei der Suche nach den Obstbäumen im aufgezeichneten Stadtraum zu bewegen. Die Suche nach den Obstbäumen, so die Künstler von Fallen Fruit, soll dazu anregen, die Natur des öffentlichen Raums und die Möglichkeiten darin zu überdenken: If you follow the map you’d understand that on a certain block you might find a lemon, a peach, and a fig tree in a geometric relation, but not exactly where. The maps thus encourage you to look not just at the trees, but the neighborhood. They ask you to think about the nature of public space, and to consider the possibility that we could use it very differently.34 In ihrer Ausschnitthaftigkeit und gepaart mit den markierten Obstbäumen erscheinen tatsächlich sogar Stadtteile von strikt gerasterten Anlagen plötzlich ungewöhnlich abwechslungsreich und unterschiedlich. Die Künstler entdecken in ihnen gar Formen von »fantastical and mythological shapes, such as animals«.35 Wenn sich in den Formationen der Bäume auch historische Begebenheiten wie ehemalige Straßenverläufe abzeichnen, die die aktuellen Straßenverläufe durchkreuzen, zeigt sich, dass die Fruitmaps keine rein funktionalen Aufzeichnungen sind. In der Überlagerung zweier Markierungssysteme, dem Straßennetz und dem städtischen Obstbaumbestand, zeigen sich auch Strukturen verschiedener Zeiten. Sichtbar werden so die verschiedenen Ansprüche und Vorstellungen an den städtischen Raum sowie die unterschiedlichen Akteure, die diesen städtischen »Übergangsraum« temporär prägen, wie die Künstler betonen: 33
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Till Krause, »Zwischenbericht zur Hamburg Kartierung und Anmerkungen zur Kartografie«, in: Nina Möntmann, Yilmaz Dziewior, Galerie für Landschaftskunst (Hg.), Mapping a city, Ausst.-Kat. Kunstverein Hamburg, Berlin 2004, S. 172-189, hier S. 181ff. Fallen Fruit, »Sweetness in Public Space«, in: Andrea Phillips, Fulya Erdemci (Hg.), Actors, Agents and Attendants. Social Housing – Housing the Social: Art, Property and Spatial Justice, Amsterdam, Berlin 2012, S. 228. Ebd.
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
In this sense we can interpret not only the ecology, but also the layers of history of the place, but also a sense of its transience, an awareness of our endless reshaping of the landscape to suit our evolving needs. The city is a transitional site, a place of many places and many agents.36 Die Tatsache, dass der städtische Raum immer durch Bedürfnisse geformt wird, dient hier als Ausgangspunkt für die mögliche Umgestaltung im Sinne aktueller, vor allem aber aktualisierter gemeinnütziger Bedürfnisse. In der Überschreitung ihrer rein nützlichen Funktion verweist die Karte so auf andere Zustände der Stadt – weniger die gegenwärtigen, sondern vielmehr die zukünftigen, möglichen Zustände formulieren sich. Aktuelle Infrastrukturen bilden nach Fallen Fruit auch soziale Strukturen ab: »The map is a tool to make clear what’s there and imagine what might be there, and this possibility exceeds the horticultural and opens onto the social.«37 Das deckt sich mit dem Verständnis der Kunstwissenschaftlerin Nina Möntmann, die in durch ›Mapping‹ entstandenen Karten eine spezifische Offenheit hinsichtlich des angesprochenen sozialen Raums ausgedrückt sieht: [Die] Karten […] sind zwangsläufig losgelöst von einer vermeintlich genauen Wiedergabe des physischen Raums und produzieren Begriffe eines sozialen Raums, der an den Rändern offen ist – für subjektive und subversive Aneignungen, die gesellschaftliche Realitäten widerspiegeln und neue schaffen können.38 So betrachtet ist auch den Fruitmaps ein aktivistisches Potenzial eingeschrieben, ohne dass sie in der Stadt tatsächlich zum Einsatz kommen müssen. Die Karte bietet damit bereits in ihrer Form angelegt – ob abrufbar auf der Internetseite oder ausgestellt im Kunstraum – Reflexionsmöglichkeiten auf das angesprochene Thema eines im wahrsten Sinne öffentlichen Stadtraums. Teil dieser Reflexion ist auch ein an die mögliche Nutzung der Karte geknüpfter Wandel der Betrachtenden zu Handelnden. Während dieser hier wie beschrieben anhand der Karten als Dokumente aufgerufen wird, vollzieht er sich in den anderen partizipativen Projekten der Künstlergruppe tatsächlich. Die beiden Einsätze der Kunst – mit den Neighbourhood Fruit Forages einerseits 36 37 38
Ebd. Ebd. Nina Möntmann, »Mapping. A Response to a Discours«, in: Nina Möntmann, Yilmaz Dziewior, Galerie für Landschaftskunst (Hg.), Mapping a city, Ausst.-Kat. Kunstverein Hamburg, Berlin 2004, S. 14-22, hier 22.
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in der Realität der Stadt und den Fruitmaps andererseits in der Ausstellung – entsteht in den Arbeiten ein Spannungsverhältnis, das Fragen nach der Betrachter_innenrolle und ihrer durch die Kunst vorgegebenen Aktivität oder Passivität aufwirft. So werden bei den Neighbourhood Fruit Forages aus Teilnehmenden gleichermaßen Statist_innen und Rezipient_innen. Ein nicht in die Projekte involviertes ›sekundäres‹ Publikum ist hier allenfalls marginal vorhanden.39 Als eine größere Gruppe, ausgestattet mit Obstpflückern und Eimern, noch dazu unmotorisiert, sind die Aktionen jedoch durchaus mit Aufmerksamkeitspotenzial ausgestattet, wenngleich sie sich nicht explizit an ein Kunstpublikum richten. Die Teilnehmenden der Neighbourhood Fruit Forages erscheinen als eine Gruppe Interessierter, die einer gemeinsamen Sache folgt. Ganz ähnlich der Beobachtungen, die die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte zu den an Rituale angelegten Performances der 1970er-Jahre macht. Sie schreibt dazu: Jene Gemeinschaft, die durch diese gemeinsam vollzogenen Handlungen geschaffen wurde, ist nun selbst nicht als eine ›Fiktion‹ zu begreifen, sondern entstand als eine soziale Wirklichkeit – eine soziale Wirklichkeit allerdings, die, anders als andere soziale Gemeinschaften, nur für kurze Zeit Existenz hatte.40 Fischer-Lichte verweist damit auf die konkrete, wenngleich zeitlich begrenzte Wirklichkeitsverbindung, die sich durch Performances, unabhängig von ihren Inhalten, ergibt. Für die Teilnehmenden, die zugleich Zuschauende sind, entsteht hier ein Moment sozialer Wirklichkeit, »auch wenn nicht involvierte Zuschauer sie als eine fiktive, als eine rein ästhetische Gemeinschaft betrachten und begreifen mögen«.41
39
40 41
Tatsächlich besteht der Großteil der Rezipient_innen der Arbeit trotz der verschiedenen Formen von Zusammenarbeit im Community-Bereich aus einem solchen ›sekundären Publikum‹, einem kunstinteressierten Publikum, das die Arbeiten von Fallen Fruit durch Institutionen der Kunst wahrnimmt. Neben anderen Ausstellungsbeteiligungen waren Fallen Fruit 2010/11 ein Jahr lang Gastkuratoren am LACMA (Los Angeles County Museum for the Arts), 2018 beteiligten sie sich an der Manifesta 12 in Palermo. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004, S. 90. Ebd., S. 91.
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
Der Ausstellungsraum als Reflexionsort Dass jedoch auch eine derart gestaltete Gemeinschaft, wie in den Neighbourhood Fruit Forages, kaum Anlass zur Teilhabe für ebensolche nicht involvierte Zuschauer_innen ist, das haben auch Fallen Fruit erfahren, als sie ein Video mit einem Obstspaziergang bei YouTube online stellten, woraus die Videoarbeit Double Standard (2008) hervorgegangen ist. In den meist bösartigen Kommentaren der YouTube-Blogger, die den Spaziergang der Künstler überdecken, zeigt sich die traute Atmosphäre der gleichgesinnten urbanen Gärtner_innen als Hassobjekt anderer. Das verdeutlicht jedoch nicht nur, dass es andersdenkende Menschen gibt und die Etablierung eines neuen Verständnisses von öffentlichem Raum nicht ohne Widerstand realisierbar ist. In der drastischen Gegenüberstellung wird zugleich sichtbar, was die Gemeinschaft als Formation in demokratischen Zusammenhängen auszeichnet: Verschiedene Meinungen und Haltungen sind notwendigerweise Teil einer Demokratie, was Gemeinschaft zu einer nicht schlicht positiv konnotierbaren Form werden lässt. Die Kunstwissenschaftlerin Claire Bishop fragt deshalb in Bezug auf Nicolas Bourriauds Idee einer Gemeinschaftsbildung durch die relationale Kunst auch zu Recht nach der Art der Gemeinschaft, die hier entsteht: »If relational art produces human relations, then the next logical question to ask is what types of relations are being produced, and why?«42 Und auch Juliane Rebentisch verweist im Zusammenhang mit Bourriauds Verständnis von Gemeinschaft auf den grundlegenden Unterschied zu aktueller Demokratieforschung, wenn sie schreibt: Das unpolitisch generalisierte Lob sozialer Verbundenheit birgt selbst ein politisches Problem, und zwar aus der Perspektive der neueren Demokratietheorie, die festhält, dass demokratische Politik nicht zuletzt dort statthat, wo sie sich selbst spaltet, wo also Gemeinschaften in ihrer jeweiligen politischen Gestalt durch ihr Anderes politisch in Frage gestellt und zu einer Veränderung gezwungen werden.43 Genau diese Problematik einer versöhnenden Kunstpraxis wird anhand der Arbeit Double Standard sichtbar. So zeigen sich in den Kommentaren, mit Verweis auf die an dem Spaziergang ausschließlich weißen Teilnehmer_innen, 42 43
Claire Bishop, »Antagonism and Relational Aesthetics«, in: October, Nr. 110, Herbst 2004, S. 65. Juliane Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst, Hamburg 2013, S. 65.
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tatsächlich auch die Unzulänglichkeiten des Projekts, etwa die Nachbarschaft zu repräsentieren und paritätisch einzubinden. Anhand des aufgezeigten Verhältnisses zwischen präsentiertem Kunstwerk und der Reaktionen aus dem Publikum der YouTube-Blogger stellt sich mit dem Verhältnis der Kunst zu ihrem Publikum auch die Situation der jeweiligen Gemeinschaften, die sich ausbilden, zur Diskussion. Und damit ein Punkt, der insbesondere im Zusammenspiel der Kunst mit dem ausgerufenen gesellschaftlichen Interesse relevant ist. Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy hat eine Debatte angeregt, wie Gemeinschaft nach den politischen Begebenheiten des 20. Jahrhunderts neu zu denken wäre. Er spricht von einer »undarstellbaren«, einer »herausgeforderten« und einer »entwerkten« Gemeinschaft und setzt damit einem allzu positivistisch konnotierten Gemeinschaftsbegriff, wie er häufig auch in einer Kunst mit politischem Anspruch vertreten wird, ein neues Verständnis entgegen. Dies sieht Gemeinschaft nicht als Identitätsdenken mit dem Zwang zur Gleichheit und dem daraus resultierenden Ausschluss der »Anderen«. Vielmehr wird Gemeinschaft hier als ein Referenzsystem vorgestellt, das immer schon gegeben, ein »Mit-einander-Sein« und eine »MitTeilung« beinhaltet.44 Gemeinschaft kann nach Nancy nicht hergestellt, repräsentiert oder dargestellt werden. Sie bleibt eine temporäre Erscheinung, in der man »singulär plural« ist.45 Diese Perspektive auf Gemeinschaft spiegelt sich in Double Standard exemplarisch. Fallen Fruit sprechen davon, mit ihrem Blick durch die Frucht das symbolische Konstrukt zu öffnen und eine Reihe von Beziehungen offenzulegen: The object of fruit is a reflection of us, an index of our values. To say »values« might imply culture, but the values extend to the politics, economic and social values as well, though they are tinged by our delirium. Fallen Fruit uses fruit in its work to unpack a symbolic construct but also to reveal a set of relationships. These relationships take place in space, weather the discontinuous space of country and city, or the overlapping space of public and private.46 44 45 46
Vgl. dazu auch Elisabeth Fritz, Authentizität. Partizipation. Spektakel. Mediale Experimente mit »echten Menschen« in der zeitgenössischen Kunst, Wien 2015, S. 60. Jean-Luc Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988; singulär plural sein, Berlin, Zürich 2004. Fallen Fruit, »Sweetness in Public Space«, in: Andrea Phillips, Fulya Erdemci (Hg.), Actors, Agents and Attendants. Social Housing – Housing the Social: Art, Property and Spatial Justice, Amsterdam, Berlin 2012, S. 233.
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
Mit den genannten Verbindungen zwischen Stadt und Land sowie zwischen privatem und öffentlichem Raum berühren die hergestellten Beziehungen hier auch Fragen einer möglichen Funktion der Kunst. Hinter der Erweiterung des Kunstbegriffs durch Fallen Fruit steht die Diskussion darum, welche möglichen Funktionen die Kunst als Aktivismus in der Gestaltung der Stadt durch eine Politisierung der Stadtbewohner_innen haben kann, welche Möglichkeiten der relationalen Verbindungen möglich und welche sinnvoll sind. Landwirtschaftliche Praktiken sind als partizipative Praktiken attraktiv, um künstlerische mit sozialen Fragen zu verbinden. Als städtische Praxis bietet landwirtschaftliches Vorgehen insbesondere einen Zugang, der räumliche Bedingungen vor dem Hintergrund lebensnotwendiger Fragen anspricht. Gleichzeitig ermöglicht Landwirtschaft als Handlungsfeld, die Anliegen nicht nur potenziell außerhalb des Ausstellungsraums erfahrbar, sondern diese als Ausgangspunkt nutzbar zu machen. Während insbesondere die Fruitmaps und die Neighborhood Fruit Forages neben der Anwendbarkeit bzw. Teilnahmemöglichkeit eine Handlungsstrategie beinhalten, ist ihnen auch das Potenzial der möglichen Veränderungen inhärent. Wenn Fallen Fruit fragen: Wem gehört das Obst in der Stadt?, dann steht dahinter die Frage: Wem gehört die Stadt? Mit den Grenzüberschreitungen zwischen Kunst und Aktivismus in den Projekten von Fallen Fruit geraten jedoch auch die Einschränkungen einer solchen Praxis ins Visier. Die angerufenen Gemeinschaften rücken als zu hinterfragende Konstrukte in den Blick. Der Ort, die Grenzen und Herausforderungen dieser Projekte zu reflektieren, ist der Ausstellungsraum. Treffend konstatiert Juliane Rebentisch, was auch hier gilt: Wenn »Reflexion dezidiert gegen die Partizipation (ge)setzt (wird), so nicht, um deren Potenzial ganz zu verwerfen, sondern um es gegen seine mögliche Reduktion aufs buchstäblich Praktische als ästhetisches Potenzial zu verteidigen. Indem [sie] der Möglichkeit der Partizipation ein Primat vor ihrer tatsächlichen Durchführung zugewiesen wird, eröffnet sie ein anderes […], angemesseneres Verständnis der interaktiven und partizipatorischen Dimensionen […].«47 Für die Wirkung solcher Praxen hält sie fest: Politisches Potenzial entfaltet eine solche Arbeit mithin nicht in der Bildung von Zufallsgemeinschaften, sondern in der reflexiven Thematisierung jener
47
Juliane Rebentisch, »Partizipation und Reflexion. Angela Bullochs The Disenchanted Forest x 1000«, in: Angela Bulloch. Prime Numbers, Ausst.-Kat. The Power Plant Toronto, Köln 2005, S. 106.
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intersubjektiv gebildeten Überzeugungen, die uns – auf je unterschiedliche Weise – als historisch und gesellschaftlich situierte Subjekte ausmachen.48 In diesem Sinne könnte man sagen, bieten sich die Projekte von Fallen Fruit mit aktivistischen Aktionen und künstlerischen Reflexionen (an denen man schließlich selbst als Betrachter_in beteiligt ist) an, sich aus dem Zusammenschluss ergebende gemeinschaftliche Strukturen ebenso wie das einzelne Subjekt als handelndes zu reflektieren. Der Zugriff auf landwirtschaftliche Praxis in der Stadt bietet dabei den Zugang zu Fragen der Teilhabe, des Besitzes und der (selbstbestimmten) Daseinsvorsorge. Fallen Fruits aktivistische Kunst hört nicht auf, wenn ein vermeintliches Bildungsziel erreicht ist. Wenn die Künstler ihre politisch-aktivistischen Aktionen mit der harten Gegenperspektive von YouTube-Bloggern kontrastieren, dann setzen sie nicht auf eine Homogenisierung der geschaffenen Gemeinschaft, sondern diese wiederum der Befragung aus.
48
Ebd., S. 108.
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
3.2
Eine »ästhetische Infrastruktur«?: Soil Kitchen (2011) von Futurefarmers
Gegründet 1995, besteht die vorwiegend in den USA situierte Künstler_innengruppe Futurefarmers aus Mitgliedern aus den USA und Europa mit verschiedenen beruflichen, meist künstlerischen bzw. kreativen Hintergründen. Bevor die Futurefarmers 2006 ihre ersten aktiven Projekte im Bereich (Urban) Farming begannen, waren sie mit Projekten zu Ökologie und Ökonomie insbesondere im Internet präsent.49 Die interdisziplinäre Gruppe versammelt Herangehensweisen aus verschiedenen angewandten Bereichen, etwa der Social Media, des Designs, der Ökologie, der Architektur und des Ingenieurswesens, was sich auch in der Funktionalität ihrer Projekte spiegelt. Für einzelne Vorhaben arbeiten sie darüber hinaus mit externen Experten zusammen. Gründerin und heraus-ragendes Mitglied der Gruppe ist Amy Franceschini (*1979).50 Landwirtschaft ist ein thematischer Schwerpunkt in der Arbeit von Futurefarmers, wobei hier der persönliche Hintergrund von Franceschini, den sie auch öffentlich reflektiert, eine Rolle spielt. So hat sie Landwirtschaft in zwei Extremen kennengelernt: einmal durch ihren Vater, der einen industriellen landwirtschaftlichen sowie Pestizide produzierenden Betrieb besaß, und andererseits durch ihre Mutter, die einen kleinen Hof mit organischer Landwirtschaft betrieb.51 Aus diesem Spannungsfeld heraus beschäftigt sie sich seit der Gründung von Futurefarmers, deren Name angelehnt ist an ein staatliches Programm, das junge Erwachsene auf einen Werdegang im Landwirtschaftssektor vorbereitet, mit landwirtschaftlichen Formaten im städtischen und ländlichen Raum. Soil Kitchen der Initiative Futurfarmers fand vom 1. bis 6. April 2011, gefördert vom Office of Arts Culture and The Creative Economy, als erstes temporäres Public-Art-Projekt in Philadelphia statt. Soil Kitchen wurde von den Futurefarmers im Ladenlokal eines verlassenen Hauses in der Nähe einer Don-Quichotte-Skulptur eingerichtet, auf die sie sich mit einem auf dem Dach installierten Windenergie-Modul bezogen, das die energetische
49 50 51
Vgl. auch Susan Spaid, Green Acres, Artistst farming Fields›Greenhouses and abandoned Lots, Cincinnati 2012, S. 117. Vgl. Internetseite www.futurefarmers.com, Zugriff 14.01.2016. Vgl. dazu auch Amy Franceschini, »Mirage, Myth & Monoculture«, in: Wapke Feenstra, Antje Schiffers, (Hg.), Images of Farming, Heijningen 2011, S. 20-27.
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Abb. 37: Futurefarmers, Soil Kitchen, Philadelphia 2011, Außenansicht
Versorgung des Ladens sicherte. Dabei sorgte die Installation des Windrades, im Zusammenspiel mit der erwähnten Skulptur, zusätzlich für eine größere öffentliche Sichtbarkeit. Der ehemalige Laden, der Soil Kitchen beherbergte, war mit Einrichtungsgegenständen wie einer Bar, Bänken und Tischen ausgestattet und changierte in seinem Aussehen zwischen einem
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zeitgenössischen Café und einem Nachbarschaftszentrum. Amy Franceschini als (Web-)Designerin und Lode Vranken als Architekt verantworteten die populäre Einrichtung von Soil Kitchen.52 In Soil Kitchen konnten Interessierte eine Woche lang kostenlos die Erde von städtischen Brachflächen auf Verunreinigungen untersuchen lassen, wofür die Futurefarmers mit Wissenschaftler_innen der Universität Philadelphia zusammenarbeiteten. Dazu waren sie zu einer Suppe aus lokalen Zutaten eingeladen. Dieses Angebot war eingebunden in ein weites Veranstaltungsnetzwerk, das verschiedene Themen rund um Selbstversorgung in der Stadt, etwa in Workshops zur Aufbereitung kontaminierter Böden und Stromversorgung aus Windenergie, ansprach. So fand unter anderem auch das Jahrestreffen der jungen Landwirte der weiteren Region in Soil Kitchen statt und brachte so die auf dem Land arbeitenden Bauern mit ihren urbanen Kolleg_innen zusammen. Für die Dauer des Projekts wurde Soil Kitchen zu einem funktionierenden und zeitgenössischem Unternehmen.
Abb. 38: Futurefarmers, Soil Kitchen, Philadelphia 2011, Innenansicht
52
So wie die Künstler auch den Internetauftritt designten, den man neben dem Aktionsraum in Philadelphia als zweiten wichtigen Ort der Präsentation bezeichnen kann.
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Die ästhetische Form des Projekts gibt einen wichtigen Hinweis auf den Charakter und vielleicht auch auf die vorgesehene Art der Begegnung, die Soil Kitchen ermöglicht. Häufig nämlich finden Public-Art-Projekte mit partizipativen Vorgehensweisen in etablierten Formen der Vermittlung und Vernetzung, wie beispielsweise der Schule, dem Laden, dem Garten und hier der Suppenküche, statt. Diese Orte schaffen den Raum für die Begegnung zwischen Produzierenden, Partizipierenden und Rezipierenden. Als partizipatorisch angelegte Kunst, die Öffentlichkeit jenseits der Kunstinstitution sucht, setzte auch dieses Projekt die Teilnahme von Menschen voraus – anvisiert waren hier interessierte Stadtgärtner_innen und solche, die es werden wollten.53 Der Charakter der geschaffenen Orte, und darauf möchte ich im Folgenden hinaus, beleuchtet mit der Schnittstelle zwischen Kunst und Wirklichkeit hier weniger die eigene Verfasstheit vor dem Hintergrund des Systems der Kunst, vielmehr steht das Agieren als Kunst in der Welt im Fokus.
Soil Kitchen als Public Art Wesentlich für den Charakter von Soil Kitchen als Kunstprojekt ist, dass es als temporäres Public-Art-Projekt, beauftragt von der Stadt Philadelphia, stattgefunden hat. Nachdem sich in den 1970er- und 1980er-Jahren die ersten öffentlich geförderten Kunstprojekte im öffentlichen Raum etablierten, blicken viele amerikanische Städte heute auf eine jahrzehntelange Geschichte einer Kunst im öffentlichen Raum zurück.54 Sie nutzen die Programme für aufsehenerregende Installationen im städtischen Raum – insbesondere der Public Art Fund New York realisiert bis heute spektakuläre Installationen –, die verschiedene, ortsspezifische Themen aufgreifen. Diese Entwicklung trägt dem Umstand Rechnung, dass sich, wie die Kunsthistorikerin Miwon Kwon es formuliert, der Begriff der Ortsspezifik, als genuiner Begriff der Public Art, ge53
54
Der Kunstvermittler Pablo Helquera differenziert Teilnehmende an partizipativen Projekten wie folgt: »[…] between nonvoluntary (with no negotiation or agreement involved), voluntary (with a clear agreement or even contract as in the case of Serra), and involuntary participation – the negotiations in the latter being rather subtile, not direct, a play of hidden agendas in which deceit and seduction play a central role.«, in: Florian Malzacher (Hg.), Truth is Concrete, Graz 2014, S. 19. Der Public Art Fund New York, bis heute verantwortlich für Kunstprojekte im öffentlichen Raum, wurde 1977 gegründet, und realisiert seitdem Kunst im Öffentlichen Raum.
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
Abb. 39 und 40: Futurefarmers, Soil Kitchen, Philadelphia 2011, Innenansichten
wandelt und eine Bewegung von der räumlichen zur inhaltlichen Auseinandersetzung – »a slide from site specific to issue-specific …« – durchlaufen hat.55 Ein wesentliches Merkmal auch der künstlerischen Arbeit von Futurefarmers ist ihre Expertise, gesellschaftliche Entwicklungen von Orten zu erkennen, in interdisziplinären Strategien aufzuzeigen und in ein Verhältnis zur realpolitischen Situation zu stellen. Wie sie selber beschreiben: »an interest in making work that is relevant to the time and place surrounding us«.56 So war der Ausgangspunkt und Anlass des Projekts Soil Kitchen die Entwicklung von Philadelphia als »schrumpfender Stadt«.57 Als solche werden Orte bezeichnet, deren Bevölkerung sich vornehmlich durch ökonomische Gründe 55
56 57
Miwon Kwon, One Place After Another: Site-specific Art and Locational Identity, New York 2004, S. 112. Um Kwons Site-specific Untersuchung wird es noch einmal detailliert in Kapitel 3.6. gehen. Vgl. www.futurefarmers.com, Zugriff 14.01.2016. Chicago und Detroit sind in den USA zu den bekanntesten Zentren dieser Entwicklungen geworden. Jedoch lassen sich für das Phänomen weltweit Beispiele finden. Vgl.
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vehement verringert. Dadurch kommt es teils zum Verfall ganzer Stadtteile und in der Folge zur Auflösung der städtischen Infrastrukturen. Die betroffenen Städte und Kommunen stellt dies vor große Schwierigkeiten, da Daseinsvorsorge und Schutz der Menschen in den infrastrukturell zerfallenen Orten kaum mehr gesichert werden können. Die innerstädtischen, oft großflächig brachliegenden Areale werden in den USA als brownfields bezeichnet.58 Von den Stadtbewohner_innen werden sie teils für urbane Landwirtschaft und wildes Gärtnern genutzt. Der Ertrag ist den Menschen an den ökonomisch meist schwachen Orten mitunter ein tatsächlicher Beitrag zu ihrem Lebensunterhalt. In Detroit, jener Stadt in den USA, durch die Urbane Landwirtschaft besonders populär geworden ist, bewirtschaften auch kirchliche Suppenküchen große innerstädtische Areale. Darüber hinaus haben Künstler_innen und Aktivist_innen die Flächen als Experimentierfelder für alternative Möglichkeiten in der Nutzung von Stadtraum entdeckt. Bei den künstlerischen Landwirtschaftsprojekten handelt es sich häufig ebenfalls um soziale Projekte, die helfen sollen, die Menschen in den verlassenen Gegenden zusammenzubringen oder ihnen das Wissen um Nahrungsmittel näherzubringen, das sie in den sogenannten food deserts der amerikanischen Städte verloren haben.59 Grundsätzlich besteht jedoch das Problem, dass viele der städtischen Böden stark kontaminiert sind und daher nur bedingt zum Anbau von Lebensmitteln eignen. An dieser Stelle setzt Soil Kitchen an. Das Kunstprojekt der Futurefarmers griff damit ganz konkret Aspekte der Realität der in Philadelphia lebenden Menschen auf, ihre städtische Umgebung, ihre soziale Situation und ihre Autonomie als Bürger_innen betreffend. Soil Kitchen bestätigte das informelle Handeln der Menschen im Umgang mit dem brachliegenden Stadtraum als bedeutend und ermutigte sie, sich den notwendigen Raum zu nehmen, um für sich selbst zu sorgen. Das heißt, sich unabhängig von weit entfernten Supermärkten zu machen und Obst und Gemüse selbst
58 59
auch Philipp Oswalt (Hg.), Schrumpfende Städte. Band 1: Internationale Untersuchung, Ostfildern 2005. Der Begriff brownfield kann mit Brache übersetzt werden, bezieht sich jedoch explizit auf Industriebrachen. Die nordamerikanische Stadt Detroit, durch den Niedergang der Autoindustrie im wahrsten Sinne brachliegend, verfügt in der Innenstadt kaum noch über Einkaufsmöglichkeiten. Die Chicagoer Sozialwissenschaftlerin Mari Gallagher hat dafür den Begriff food desert geprägt, er bezeichnet Gebiete, in denen es nicht möglich ist, sich ohne Auto mit Essen (außer Fastfood) zu versorgen. Vgl. auch Ulrich Schulte, »In der Lebensmittelwüste«, in: taz, 22.10.2010.
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anzubauen. Aber auch, sich unabhängig von Suppenküchen (soup kitchen) und anderen Welfare-Angeboten eine eigene Existenz aufzubauen: to »literally take matters into their own hands«.60 Dafür bot Soil Kitchen mit den Bodenuntersuchungen ein Werkzeug an, ohne gesundheitliche Risiken in der Stadt gärtnern zu können. Mit der Versammlung von Menschen mit den gleichen Interessen erfüllte sich darüber hinaus der Zweck der inhaltlichen Vernetzung. Die temporäre Infrastruktur von Soil Kitchen nahm also das sich bereits etablierte informelle Handeln zum Anlass, es als Phänomen sichtbar zu machen, in einer formalen Struktur zu fördern und damit zu verbreiten. Die angebotene Suppe aus lokalen Zutaten gab darüber hinaus einen utopischen Ausblick auf selbst angebaute Produkte, die Urban Farming möglich macht.61
Kunst als »everyday-action« Auf den ersten Blick verhalfen die Futurefarmers also einer Gegenbewegung oder alternativen Bewegung zu mehr Öffentlichkeit und Akzeptanz durch Professionalisierung und Vernetzung. Urbane Landwirtschaft wurde als gesellschaftliche Realität, aber ebenso als Politikum verstanden und von der Künstler_innengruppe im Sinne ihrer Anwender_innen weiterentwickelt. Mit der Einrichtung einer öffentlichen Suppenküche, die die längerfristige Versorgung der Besucher_innen verfolgte, warben die Künstler_innen explizit für die Teilnahme von lokal Interessierten, die nicht zwangsläufig mit dem Kunstfeld verbunden sind. Daran geknüpft ist das Interesse der Künstler_innen, auch über das Kunstsystem hinaus gesellschaftsrelevante Fragen zu diskutieren, die jeden angehen könnten. Über ihren künstlerischen Ansatz sagt
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Twylene Moyer, »Tradition telling Truth to Power«, in: Twylene Moyer, Glenn Harper (Hg.), The New Earthwork. Art, Action, Agency, Hamilton 2011, S. 246-251, hier S. 249. Bereits in älteren Projekten von Futurefarmers wurden Ausblicke in Zeit und Raum als Potenzial betrachtet, um aktuelle Fragen etwa nach Landwirtschaft im Jahr 2050, aber auch generell des Lebens zu vergegenwärtigen. So stand 1. die Publikation Free Soil Journal #1, 2011 unter dem Motto Farming 2050 und versammelte zwölf Kommentare von Künstler_innen, Aktivist_innen und Farmern zu ihren Vorstellungen einer Landwirtschaft im Jahr 2050; 2. Im Projekt Powers of Ten. A Variation, versuchten Amy Franceschini und Michael Swain von den Futurefarmers in Referenz auf einen Film von Ray und Charles Eames aus dem Jahr 1977 in zehn Picknicks mit unterschiedlichen Wissenschaftler_innen Fragen nach der Utopie von Wissenschaft und zur Zukunft der Welt auszuloten.
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Amy Franceschini selbst: »I wanted to invest in a real way in the world and affect a larger population than just the art crowd.«62 Sie beschreibt ihre Kunst als Umkehr von Duchamps Verwandlung von realen Objekten in Kunst. Dabei geht sie nicht so weit zu sagen, das Urinal solle zurück ins Badezimmer, wie die Künstlerin Tania Bruguera vorgeschlagen hat.63 Sondern sie wünscht sich, Kunst in eine »everday action« zu verwandeln, was den Unterschied zwischen Kunst und Realität einebnet: It’s a play on Duchamp’s quote. He said the reverse readymade is like taking a Van Gogh and turning it into an ironing board. It means taking everyday objects and turning them into art. Reversing that is flattening the hierarchy of what’s art and not art.64 Mit dieser abgeflachten Hierarchie von Kunst und Nicht-Kunst, rückt in den Arbeiten von Futurefarmers nicht nur die Frage der Funktionalität der Kunst in den Vordergrund, sondern die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst generell. Denn Soil Kitchen erscheint hier ganz selbstverständlich als ein reales Angebot, das sich dezidiert an eine bestimmte Gruppe von Menschen richtet, die sich wiederum für eine bestimmte Praxis interessiert.65 Ihnen wird im Projekt eine für sie relevante (und bis dahin nicht existierende) Dienstleistung angeboten, bei gleichzeitiger Möglichkeit der Weiterbildung und Vernetzung der informell tätigen Stadtgärtner_innen, was in der Stadt selber mit einer 62 63 64 65
Paul Schmelzer, »Practical propaganda: Amy Franceschini reinvents the Victory Gardens«, 2009, http://blog.art21.org, Zugriff 22.06.2016 » It is time to put Duchamp’s urinal back in the restroom«, in: Nato Thompson, Living as Form: Socially Engaged Art from 1991-2011, New York 2012, S. 21. Paul Schmelzer, »Practical propaganda: Amy Franceschini reinvents the Victory Gardens«, 2009, http://blog.art21.org, Zugriff 22.06.2016. Nicht immer handelt es sich bei den anvisierten Personen um Hilfsbedürftige oder Marginalisierte. Seit 2012 arbeiten die Futurefarmers an einem neuen, permanenten Public-Art-Projekt im Hafen von Oslo: der Flatbread Society. Dort entwickeln sie unter Teilhabe von lokal Interessierten ein Experimentierareal für den Anbau und die Verarbeitung von Getreide. Neben einem Testfeld und einer Saatbank für alte Getreidesorten wird dort ein öffentliches Backhaus errichtet. Das Projekt wird auf einem Areal zwischen den gigantischen Neubauprojekten im ehemaligen Hafen von Oslo realisiert. Die alienhafte Anmutung des handwerklich errichteten Projekts an dem artifiziell erscheinenden Ort widmet sich, das ist augenfällig, nicht einer problematisierten oder marginalisierten Gruppe von Menschen und auch keinem solchen Ort. An diesem Ort, der seine Struktur erst noch finden muss, eröffnen sie einen Raum der Teilhabe, der Gemeinschaft und des Wissens.
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Öffentlichkeit einhergeht. Der Publizist Jeffrey Kaster spricht bezüglich eines Projekts der Futurefarmers von einer »symbolischen Geste in Richtung der Demokratisierung einer [solchen] Aktivität«.66 Kaster sieht in den Projekten sowohl Formen partizipativer Teilhabe reflektiert als auch konkrete wissenschaftliche Daten erhoben: »Wie bei der Arbeit von Futurefarmers oft der Fall, handelt es sich […] gleichzeitig um eine Aussage bezüglich spezifischer Formen partizipatorischer Aktivitäten, wie es auch um die Erzeugung gesicherter wissenschaftlicher Resultate ging.«67 Diese gesicherten Resultate, hier die festgestellte Kontaminierung der Böden, machen die Funktionalität des Projekts deutlich. Als temporäres Kunstprojekt bleibt jedoch der Modellcharakter bedeutend, was sich auch darin bestätigt, dass die Universität von Philadelphia sich nach dem Ende von Soil Kitchen der Problematik angenommen hat und seitdem regelmäßig Erduntersuchungen für Bewohner_innen anbietet. Dies war zwar nicht das erklärte Ziel des Projekts, jedoch eine mögliche Konsequenz. Damit lässt es sich als Anregung verstehen, die aufgezeigte gesellschaftliche Situation zu reflektieren, die ein Umdenken in der Anerkennung von alternativen und informellen Formaten verlangt, um einen möglichen Umgang, auch in herrschenden Strukturen, zu finden.
Eine »ästhetische Infrastruktur«? In ihrem Buch Social Works. Performing Arts, Supporting Publics weist die Performance-Theoretikerin Shannon Jackson darauf hin, dass der Begriff Social Practice, wie man ihn auch auf die Projekte von Futurefarmers anwenden kann, ebenso unpräzise ist wie die Begriffe »Performance«, »Post-Studio Practice« und »Postdramatic Theater«, die sie für ihre Untersuchung aufruft.68 Zum einen gebe es medial keine Eingrenzung. Vielmehr konstatiert sie eine Heterogenität von verwendeten Medien, die häufig auch von den künstlerischen Fähigkeiten, die die Künstler_innen erlernt haben, abweichen.69 66
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Jeffrey Kaster, »Futurefarmers Lunchbox Laboratory«, in: Zero Landscape. Unfolding Active Agencies of Landscape, GAM.07. Graz Architektur Magazin, Wien 2011, S. 119-121, hier S. 120. Ebd. Vgl. auch Shannon Jackson, Social Works. Performing Art, Supporting Publics, New York 2011, S. 13. Ebd., S. 13f.
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Und diese Heterogenität erweitere sich noch, wenn die, wie Jackson es formuliert, »social heterogeneity of social practice« als durch unterschiedlichste Weisen hervorgebrachte Zugänge und Umgangsformen mit dem Sozialen betrachtet werden.70 Dabei stellt sie fest, dass die Qualität solcher sozialer Praktiken besonders anhand der Radikalität gemessen wird, in der sie sich von Institutionen der Kunst abkehren. Jackson sieht den Mehrwert jedoch weniger in der »anti-institutionality« von Social Practice, als vielmehr in einer Kunst, die es ermöglicht, tragfähige soziale Einrichtungen vorstellbar zu machen, in ihren Worten: »I am equally interested in art forms that help us to imagine sustainable social institutions.«71 Um einer Definition einer Social Practice in ihrem Sinne näher zu kommen, führt sie Kunstprojekte an, die sich Themen des Zusammenlebens und der Arbeit als »interdependent support« annähern, wie »social systems of labor, sanitation, welfare, and urban planning that coordinate humans in groups and over time«.72 In Form einer »cross-disciplinary, time-based, group art« sieht Jackson auch den Performance-Bezug einer Social Practice.73 Mit Blick auf die problematische Bezeichnung der »Interdependence«, die automatisch Fragen nach der Autonomie der Kunst auf den Plan ruft, fragt sie, ob nicht gerade die immer schon mit ihren Bedingungen verstrickte Performancekunst sich anbietet, um genau die Grenze zwischen autonomer Kunst und ihrer heteronomen Umgebung zu thematisieren. Sie formuliert die These, dass es in dieser Kunst womöglich genau um die Uneindeutigkeit dieser vermeintlichen Grenzziehung geht: What if the formal challenge of performance lies in the ambiguity of such a division? What if, for instance, the formal parameters of the form include the audience relation, casting such inter-subjective exchange, not as the extraneous context that surrounds it, but as the material of performance itself? What if performance challenges strict divisions about where the art ends and the rest of the world begins?74 Mit den von Jackson vorgenommenen Bestimmungen einer Social Practice lassen sich viele Anknüpfungen zur Arbeit von Futurefarmers herstellen.
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Ebd., S. 14. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 15.
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
Insbesondere findet sich eine Übereinstimmung mit dem Ergebnis von Amy Franceschinis abgeflachter Hierarchie zwischen Kunst und Nicht-Kunst: Sie erreicht nämlich eine Aufmerksamkeit für genau dieses Zusammentreffen. Die Entgrenzungsstrategie von Soil Kitchen fordert neben der inhaltlichen Ausrichtung damit besondere Aufmerksamkeit ein. Und hier kommt explizit zum Tragen, dass sie nicht in einer bereits bestehenden (Kunst-)Institution gezeigt wird, sondern sich, wenngleich kurzzeitig, in reale Strukturen einreiht und sich damit explizit auch an ein anderes als das Kunstpublikum wendet. Das Projekt behandelt so, im öffentlichen Raum situiert, Fragen nach Selbstbestimmung und demokratischer Teilhabe, besonders aber nach den staatlichen Möglichkeiten – den »supporting infrastructures« – im Umgang mit veränderten räumlichen und daran geknüpften sozialen Strukturen. So geht es, wie auch bei anderen Projekten von Futurefarmers, nicht nur um ein Erkennen einer Situation und die Teilhabe der betreffenden Menschen, sondern mit einer möglichen infrastrukturellen Neuordnung gleichzeitig um die Sichtbarmachung ihrer Bedingungen.
Abb. 41: Futurefarmers, Victory Gardens, San Francisco 2007, Installation
Interdisziplinäre Arbeit als »cross sector engagement« Ein anderes Projekt von Futurefarmers, die Victory Gardens von 2007, als Remake eines historischen Programms, in dem alternatives Handeln mit staatlichen Mitteln eingesetzt wurde, unterstreicht das Interesse an sozialen Fragen weniger als Gegenbewegung zu aktuellen Tendenzen der Stadtpolitik, sondern vielmehr als Appell an das Verständnis und die Umsetzung einer de-
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mokratischen Politik. Dabei ist insbesondere der historische Bezug zu den 1930er-Jahren interessant, den die Futurefarmers herstellen. Victory Gardens war das erste große Projekt von Futurefarmers zu urbaner Landwirtschaft. Es geht zurück auf eine historische Begebenheit. Innerhalb des sogenannten New Deal, einem Konsolidierungsprogramm der Regierung, wurden in den USA schon in den 1930er-Jahren vielfältige, teils ungewöhnliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Probleme während der Weltwirtschaftskrise ins Leben gerufen, die darum bemüht waren, die Menschen (speziell auch die Künstler_innen) vor Verarmung zu bewahren. Dazu gehörten auch die sogenannten Victory Gardens (oder War Gardens), Gärten, die in Städten während des Zweiten Weltkriegs auf privaten und öffentlichen Flächen von Bürgerinnen und Bürgern angelegt wurden und so auf kleinteilige Weise zur Nahrungsmittelversorgung während des Kriegs beitrugen. Das ganze Programm wurde als Teil des New Deal staatlich gelenkt, geplant und massiv beworben – Saatgut und Pflanzutensilien wurden durch die Behörde großflächig ausgegeben. Urbane Landwirtschaft wurde hier (noch) nicht als informelles oder gar subversives Vorgehen betrachtet und zum staatlichen Programm erklärt. Vorbildlich trug auch die First Lady Eleanor Roosevelt mit dem Anbau von Gemüse vor dem White House, wie über 60 Jahre später auch Michelle Obama, zur Verbreitung und Popularität von Urban Farming bei. Über 40 Prozent des Obst- und Gemüsebedarfs der US-amerikanischen Bevölkerung wurde so während der folgenden Kriegszeiten von den Bürger_innen selbst produziert. In dieser Tradition begannen die Futurefarmers 2007 mit Bewohner_innen von San Francisco erneut städtische Gärten vor der City Hall von San Francisco anzulegen, um die Möglichkeiten der Nahrungsmittelproduktion in der Stadt auszuloten. Das Victory Garden-Projekt von 2007 hinterließ nicht nur unzählige urbane Gärten in der Stadt, es entwickelte sich zu einer bedeutenden Beschäftigung der Künstler_innengruppe mit urbaner Landwirtschaft, die sich im Projekt Soil Kitchen fortsetzt. Die historische Herleitung, ihre Anwendung auf die Jetztzeit, aber vor allem das Interesse von Futurefarmers an der Verzahnung von staatlichen und informellen Strukturen, sticht bei allen Werken der Künstler_innengruppe hervor. Um zu zeigen, dass die Form der Kunst auch die in der Kunst angesprochenen Formen des Miteinanders aufruft, bezieht sich auch Shannon Jackson auf die Geschichte des Kulturprogramms des New Deal. Sie bringt das Theater Program des New Deal zum Anschlag, um anhand der »Interdependencies« auf Überschneidungen von Kunst und Gesellschaft zu verweisen:
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
Like other Works Progress Administration (WPA) culture workers – its writers, its mural painters, its photographers – FTP artists used interdependent art forms as vehicles for reimagining the interdependency of social beings. They form public art to public life.75 Um ebensolche Abhängigkeiten sichtbar und fruchtbar zu machen, nutzen die Futurefarmers ihre ganz unterschiedlichen disziplinären Hintergründe, durch die sich verschiedene Anknüpfungspunkte an das Leben eröffnen. Wo andere Projekte, etwa die Crossroads Community (The Farm) von Sherk, sich eher als Plattform für den Einsatz von Akteur_innen aus unterschiedlichsten Bereichen anboten, findet sich die Diversität der inhaltlichen Ausrichtung bei Futurefarmers bereits auf der Seite der Kunstproduktion. Sie schafft eine Vergegenwärtigung der eigenen (politischen) Handlungsmöglichkeiten, die sich aus der Interaktion und der Verknüpfung der unterschiedlichen Bereiche heraus verdeutlicht. Diese Vielfältigkeit aufzuzeigen wird ermöglicht durch ein »cross sector engagement«, wie Jackson beschreibt: Cross sector engagement exposes and complicates our awareness of the systems and processes that coordinate and sustain social life. For my own part, this is where social art becomes rigorous, conceptual and formal. The nonmonumental gestures of such public art works address, mimic, subvert, and redefine public processes, provoking us to reflect upon what kinds of forms – be they aesthetic, social, economic, or governmental – we want to sustain a life worth living. […] such aesthetic projects embed and rework the infrastructures of the social.76 Sie erklärt damit, ausgehend von der Form, die das Kunstwerk einnimmt, die angesprochenen Strukturen für wesentlich. Durch Einbettung der sozialen Infrastrukturen des Außerkünstlerischen in die Kunst, lassen sich diese aufarbeiten. Für die Betrachter_innen ergibt sich eine Situation, an der sich die Umstände, in denen wir leben möchten, reflektieren lassen. Auch Jackson verweist auf die Relevanz des Verständnisses von uns als handelnde und damit bestimmende Menschen, das uns Kunst vermitteln kann, um im Leben zu bestimmen, was Bedeutung hat: »By reminding us that living is form, these
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Shannon Jackson, »Living takes many forms«, in: Nato Thompson, Living as Form: Socially Engaged Art from 1991-2011, New York 2012, S. 87. Ebd., S. 93.
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works remind us of responsibility for creating and recreating the conditions of life. […] Living does not just ›happen‹, but is, in fact, actively produced.«77
Abb. 42 und 43: Futurefarmers, Soil Kitchen, 2011, Holzmodell, Zeichnung (Aquarell, Fineliner auf Papier), Ausstellungsansicht Kunstraum Kreuzberg 2012, Details
Soil Kitchen im Ausstellungsraum Wenn nun ein Kunstwerk derart stark im öffentlichen Raum verankert ist und auch wirkt, wie lässt sich das in den Ausstellungsraum übertragen? Im Kunstraum präsentiert sich dieses Projekt in verschiedenen Dokumentationsformen, die fern des Ursprungsortes auch die besondere Stellung der Kunst für ihre Anliegen und Möglichkeiten noch einmal sichtbar werden lassen sollen. Da alle Projekte der Künstler_innengruppe, bedingt durch ihre räumlichen und finanziellen Dimensionen, stark auf Öffentlichkeit ausgerichtet sind, existieren vielfältige Dokumentationen und Materialien, die sich auch für Präsentationen eignen. Hier ist es ein professionell hergestellter Film über Soil Kitchen, der trailerartig zwischen Information und Werbung changiert, ein Modell von Soil Kitchen, das das Haus eingebunden in die städtebauliche Situation wiedergibt, sowie einige vorab gefertigte Zeichnungen, die die technische Umsetzung und das mögliche Geschehen in den sechs Tagen seines Bestehens vorwegnehmen. Während der Film natürlich erst nach dem Projekt fertig geworden ist, wurden das Modell und die Zeichnungen in der
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Ebd.
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
Konzeption des Projekts als utopische Illustrationen des geplanten Vorhabens erstellt. Das Modell von Soil Kitchenin Philadelphia sagt das Projekt nicht nur in seiner Form voraus, sondern verweist auch auf seine (vergangene) Existenz im Stadtraum. Zusammen mit dem beschriebenen Film sowie den Zeichnungen schafft die Konstellation für die Betrachter_innen einen Erfahrungsraum für das Projekt, eben auch, wenn es als temporäres bereits Vergangenheit geworden ist. Sie bietet uns als Betrachter_innen im Rückblick einen Ausblick und funktioniert zum einen, um uns etwa die reale städtische Situation gegenüber der Don-Quichotte-Skulptur aufzuzeigen, aus der sich die Wind(mühlen)räder auf dem Dach ergaben, aber auch um die Nutzung des Raums und seine Einrichtung als Soil Kitchenzu vergegenwärtigen. Als Subjekt wird man so durch das Modell Teil des Systems Welt, indem man durch die besondere Gegebenheit der Größenskalierung – hier Verkleinerung von einem Ausschnitt der Welt – diese in ihrer Realität von vorneherein mitdenkt bzw. diese mitgeliefert wird. Das Kleine, das alles vom Großen schon in sich trägt, wird selbst zur Folie unserer Vorstellung – die Wirklichkeit der Situation wird hier in Architektur und Design erlebbar gemacht. Im Zusammenspiel von Film, Zeichnung und Modell verbinden sich die voraussagenden und dokumentarischen Eigenschaften zu einer Realität gewordenen Utopie. Jedoch soll diese Vorstellung der Präsentation nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei den Bestandteilen der installativen Anordnung letztlich um Nebenprodukte für ein weiteres Kunstpublikum handelt. Sie verweisen auf das Projekt, wie es in Philadelphia stattgefunden hat, und informieren über Aussehen und Inhalt. Die Präsentation wird nicht genutzt, um eine Reflexion eines partizipativen Projekts anzustoßen. Auch versucht diese Ausstellungssituation hier nicht, modellhaft etwa im Sinne Bourriauds zu wirken, um im gesicherten Raum Möglichkeiten für das Leben zu erproben. Das Modell verweist explizit auf die Existenz von Soil Kitchenim Stadtraum. Allenfalls dort kann das partizipative Projekt als Public Art auch modellhaft sein, indem es mögliche neue Infrastrukturen nicht nur visualisiert, sondern auch umsetzt und nutzbar macht. Die Universität, die die Bodenproben heute anbietet, hat das Projekt damit erreicht. Zusammenfassend sind die Projekte von Futurefarmers somit nicht als Gegenprojekte zu verstehen, sondern als Reflexion des bestehenden Systems, in das sich auch Soil Kitchen so selbstverständlich einschreibt. Dabei verweisen die Strategien der Selbstermächtigung auf zu aktualisierende Strukturen in einer sich stetig ändernden Welt durch aktive und mündige Bürger_in-
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nen. Die hier formulierte (ortsspezifische) Utopie zeigt sich in institutioneller Form – als Suppenküche mit aktualisiertem Konzept – überzeugend in der Stadt, hat jedoch im Ausstellungsraum fast ausschließlich einen informierenden und verweisenden Charakter. Hier wird die Ausstellung nicht, wie im vorangegangenen Kapitel zu Fallen Fruit beschrieben, als Reflexionsort genutzt. Ihre Kraft entfaltet Soil Kitchen vor allem als ›ästhetische Infrastruktur‹, was mit Shannon Jackson heißt, als Projekt, das sich als Institution in die Infrastruktur der Stadt Philadelphia einschreibt und von dort aus durch die eigene Form Fragen zu den notwendigen und denkbaren Institutionen und Infrastrukturen aufwirft.
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3.3
Kunst und Landwirtschaft als ›Immersive Life Practice‹ – Guerilla Composting, Feed-Back Berlin (2012), Post-(R)evolutionary Exercises (2011) von Kultivator
Kultivator ist eine Kooperative von Künstler_innen und Landwirten, die mit ihren Familien einen Hof in Süd-Schweden betreiben, das heißt, ihr Lebensentwurf beinhaltet neben der Bewirtschaftung des landwirtschaftlichen Betriebs auch eine mit ihm verbundene künstlerische Praxis. Die Kunstprojekte, die durch die beteiligten Künstler_innen Malin Lindmark Vrijmann (*1971) und Mathieu Vrijmann (*1977) initiiert werden, finden häufig auf dem Hof selbst statt oder stehen in Verbindung zum Hof, zur Nahrungsmittelproduktion und zu einzelnen Aspekten im Umgang mit Pflanzen und Tieren. Gleichzeitig arbeitet das fünfköpfige Kollektiv an einem Netzwerk mit Gleichgesinnten, das sich den Fragen eines selbstbestimmten Lebens, der eigenen Rolle in der Gesellschaft, aber auch der Rolle von Kunst in der Gesellschaft widmet. Räumlichkeiten für Künstler_innenresidenzen, Workshops und Ausstellungen sind vorhanden, und so kann man sich mit anderen Kunstinitiativen, Studierenden oder Schüler_innen austauschen. Ausgehend von der eigenen Lebensrealität thematisieren und verbinden die künstlerischen Projekte von Kultivator auch rurale und urbane Lebensweisen, etwa durch PflanzenPatenschaften von Städter_innen. Die Kunst von Kultivator zeigt sich weniger mit dem etablierten Kunstsystem verbunden, Kultivator agieren fern vom Kunstmarkt. Wenn die Künstler_innen an Ausstellungen oder gar Kunstmessen teilnehmen, so handelt es sich dabei meist um alternative oder kommunale, nichtkommerzielle Veranstaltungen. Das mag auch dem gewählten Lebens- und Arbeitskonstrukt geschuldet sein, in dem neben der Kunst auch die Landwirtschaft zum Unterhalt der Künstler_innen beiträgt. Wenn Kultivator unterschiedliche Aspekte eines unabhängigen und ökologisch bewussten Lebens in gemeinschaftlichen Strukturen in ihren Arbeiten thematisieren, dann immer anhand des eigenen Lebensalltags, der die Grundlage für z.B. Workshops zur Herstellung von Komposttoiletten oder den Umgang mit Pferden bildet. Die Landwirtschaft als Einkommens- und Versorgungstätigkeit wird dabei zum Anlass genommen, aus lebenspraktischer Nähe politische Themen nicht nur anzusprechen, sondern so aufzubereiten, dass daraus Handlungsanweisungen für Einzelne entstehen. Dafür findet die Gruppe Formate nicht nur vor Ort, sondern auch im Ausstellungsraum.
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Abb. 44: Kultivator, Post-(R)evolutionary Exercises, 2011, S/W-Digitaldruck auf Papier, Ausstellungsansicht Kunstraum Kreuzberg, 2012
Partizipation im Ausstellungsraum Im Kunstraum Kreuzberg (2012) wurden zwei zusammenhängende Arbeiten von Kultivator gezeigt: die Plakatserie Post-(R)evolutionary Exercises (2011) und die daran anknüpfende partizipatorische Arbeit Guerilla-Composting. Feed-Back Berlin (2012). Bei den Post-(R)evolutionary Exercises handelt es sich um Handlungsanweisungen auf zehn Schwarz-Weiß-Kopien im DIN A0-Format, die je durch eine Fotografie aus dem Arbeitszusammenhang von Kultivator illustriert sind. Ergänzt wurden diese durch ein Plakat, das die Luftaufnahme des Hofes zeigt, in das ältere Projekte der Künstler_innen fotografisch eingelassen sind. Die Anweisungen oder »Übungen«, wie die Künstler_innen sie bezeichnen, lauten: »Disregard borders«, »locate the wild edible plants in your neighbourhood«, »help a farmer«, »buy nothing«, »learn from old people«, »milk a cow«, »forget money«, »reclaim technology«, »arrange a party to get to know your neighbours«, »spread the word«. Zusammengefasst beschreiben sie antikapitalistische, gemeinschaftsorientierte und ökologisch-landwirtschaftliche Strategien. Gerahmt sind die bebilderten Anweisungen auf den Plakaten je
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vom gleichen ornamentalen Muster, in das unten links das Logo von Kultivator und unten rechts das Konterfei von William Morris, dem Begründer der Arts-and-Crafts-Bewegung, integriert ist. Die Posterserie entstand 2011 aus einem Treffen bei Kultivator in Schweden mit Künstler_innengruppen bzw. Vertreter_innen unabhängiger Künstlerräume aus dem Libanon und Syrien. Die Poster waren damit auch beeinflusst von den Revolutionen im Nahen Osten, dem sogenannten Arabischen Frühling. Die Geschehnisse dominierten die Gespräche der Teilnehmenden des Treffens, woraus sich, so beschreiben es die Künstler_innen selbst, die Frage ergab, was nach der Revolution passieren solle. Wie geht es weiter? Es fanden sich Parallelen zum Hofalltag, der täglich neu überdacht und strukturiert werden muss, jedoch immer auch die notwendig zu verrichtenden Arbeiten, wie die Versorgung der Tiere, vorgibt: […] when everybody […] had arrived and were gathered on the farm, we all as usual began to do »the farm things«, (like slaughtering, fencing, milking etc.,) someone came up with that »this is actually what you must do after the revolution«; building up again.78 Gemeinsam identifizierten sie so die ersten zehn Übungen, »intended for anyone who hopes to live through a revolution«.79 Daran anknüpfend, entwarfen Kultivator für die Ausstellung in Berlin eine Handlungsanweisung für Stadtbewohner_innen. Das elfte Poster stellt eine Ergänzung der Reihe dar und steht in Verbindung zur zweiten Arbeit, Guerilla-Composting. Feed-Back Berlin (2012). Es zeigt die Fotografie einer Frau, die etwas auf einer städtischen Wiese vergräbt. Die Bildunterschrift erläutert, dass es sich um die Künstlerin und Mitbegründerin von Kultivator, Malin Lindmark Vrijman, in einem Vorort von Stockholm handelt. Überschrieben ist das Poster mit »Post-(R)evolutionary exercise Nr. 11«, worauf die Unterschrift mit einem »feed-back« antwortet. Die Arbeit Guerilla-Composting. Feed-Back Berlin (2012) wurde eigens für die Ausstellung Hungry City entwickelt. Sie ist die einzige Arbeit, die sich hier zur Teilnahme an die Besucher_innen richtet. Den Ausgangspunkt der Installation stellt das sogenannte Worm Campaign Office dar.80 Ein Setting, das unmit-
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kultivator.org/post-revolutionary-exercises, Zugriff 29.03.2018. Ebd. So bezeichnen die Künstler selbst ihre Installation im begleitenden Manual Guerilla Composting. Feed-Back Berlin, Berlin 2012.
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Abb. 45: Kultivator, Guerilla-Composting. Feed-back Berlin – Worm Tower Office, 2012, Holz, Kunststoffröhren, Würmer, Ausstellungsansicht Kunstraum Kreuzberg, 2012
telbar unter dem Poster »Post-(R)evolutionary exercise Nr. 11« eine Situation zwischen Werkstatt und Kampagnen-Büro andeutet, deutlich in Eigenbau und für die temporäre Nutzung entstanden. Auf einem aus gefundenen Materialien (einem Türblatt, einem Schränkchen und einem Stuhl) zusammengebauten Tisch steht eine schwarze Kiste mit der Aufschrift »worm-farm«, in welcher sich, verborgen unter Papier und Erde, sogenannte Kompostwürmer befinden. Des Weiteren steht eine einfache selbstgebaute Konstruktion auf dem Tisch, die dazu dient, Plastikrohre zu schneiden und mit Löchern zu versehen. Bereits geschnittene und gebohrte Rohre befinden sich auf dem Stuhl unter dem Tisch. Aus dem Schränkchen daneben drängen Holzdeckel mit der Aufschrift: »Worm-compost. Leave organic waste here«. Bei Interesse an einem solchen ›Wurm-Kompost‹, so vermittelt ein Informationsschild, können Besucher_innen sich an die Aufsicht wenden und sich ein Set, bestehend aus einem Rohr mit Deckel sowie einigen Würmern, mitnehmen. Ein ebenfalls zur Mitnahme ausliegendes Hand-out mit dem Titel »Guerilla Composting. Feed-Back Berlin« informiert darüber, wie Wurmkomposter
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funktionieren und eingesetzt werden. So ausgerüstet, kann die Suche nach einem geeigneten Ort beginnen, um einen ›Guerilla Kompost‹ einzurichten, darin die Würmer auszusetzen und über die Deckelöffnung organischen Müll zu entsorgen, der die Bodenqualität in der Stadt erhöht. Das Projekt versteht sich als ergänzender Beitrag zum sogenannten ›Guerilla Gardening‹, das nicht genehmigte gärtnerische Aktivitäten in der Stadt beschreibt. Und damit eine Bewegung darstellt, so die Künstler_innen von Kultivator, die die aktuellen Probleme der industriellen Agrarwirtschaft und die Bezugslosigkeit zwischen Stadt und Land beleuchtet: »Recent years Guerilla Gardening is a fantastic movement, adressing many of the problems connected to industrial agriculture and urban-rural disconnection.«81 In diesem Sinne hat auch das ›Guerilla Composting‹ Konsequenzen, die vor allem in seiner Aufmerksamkeit schaffenden Ansprache liegen. Es verweist auf die Notwendigkeit von gesunden und ertragreichen Böden für die Versorgung von Menschen mit Nahrungsmitteln. Als Aktivität in der Stadt wirft ›Guerilla Composting‹ zudem ein Licht auf die große Anzahl derer, die hier auf die landwirtschaftlichen Erträge angewiesen sind. Solche Stadt-LandBeziehungen sind, darauf wurde bereits verwiesen, ein wiederkehrendes Thema von Kultivator.82 Bei Guerilla-Composting. Feed-back Berlin handelt es sich somit um eine partizipative Werkform, die über ihren informativen Charakter hinaus in der Ausstellung die etablierte Rolle der Betrachtenden angreift, indem sie sie auffordert, aktiv teilzunehmen.
William Morris als Referenz der Künstler_innen Die Autorinnen des Buchs Form, art and the environment. Engaging in sustainability, Nathalie Blanc und Barbara L. Benish, beschreiben die Projekte von Kultivator in ihren vielfältigen Formaten: »[…] the artworks produced by Kultivator range from discursive farming projects and eco building experiments to development of smartphone applications.«83 Sie erkennen darin ein Interesse 81 82
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Ebd. So wurden etwa im Patenschaftsprogramm für Pflanzen unter dem Titel Making new friends (2008) städtische Paten und Patinnen auf einer alternativen Kunstmesse und durch Bilder über das Wachsen und Gedeihen »ihrer« Pflanzen informiert und schließlich zum Ernten auf den Hof eingeladen. Nathalie Blanc, Barbara L. Benish, »An Aesthetic of Repair«, in: Form, art and the environment. Engaging in sustainability, 2016, S. 81-92, hier S. 92.
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am Austausch, der deutlich auch zur Bildung von sozialen, naturbezogenen und fairen Bewegungen beiträgt: Many of these (projects by artists) are artist-run and creating a wide network of exchange and interaction internationally. This supportive aesthetic of local dynamics can go as far as we can see, up to recreating socially, naturally and economically fair movements.84 Diesen Bezug unterstreichen Kultivator, indem sie eine historische Verbindung zur Arts-and-Crafts-Bewegung im England des ausgehenden 19. Jahrhunderts und insbesondere zu den Theorien eines ihrer Begründer, William Morris, herstellen, wenn sie sein Konterfei in ihre Posterserie integrieren. Wie beschrieben, findet es sich, betrachtet man die Poster der Serie Post-(R)evolutionary Exercises im floralen Rahmen genau gegenüber dem zwar zeitgenössischen, aber ebenfalls ornamentalen Logo von Kultivator. William Morris (1834-1896) war Künstler, Sozialreformer, Politiker, Unternehmer und Designer gleichermaßen. In seiner Idee von Kunst in einer sozialistischen Gesellschaft formuliert sich eine erste Vorstellung der gesellschaftspolitischen Relevanz von Kunst überhaupt, die in der Gestaltung ästhetische, soziale, ökonomische und politische Aspekte verbindet. Er war auch der Entwickler der von Kultivator benutzten floralen Ornamentik, die in seinem wohl berühmtesten Buch, News from Nowhere (1890), verwendet wurde, das seine Ideen einer sozialistischen Welt bis ins 21. Jahrhundert reflektiert. Dort beschreibt Morris seine utopische Vorstellung von einer Gesellschaft, in der Kunst, Leben und Arbeit im Zusammenspiel funktionieren, wobei die Basis dieses Lebens landwirtschaftlich geprägt ist.85 Tatsächlich ist Morris einer der wenigen seiner Zeit, die die Kunst innerhalb eines politischen Gesellschaftsverständnisses als relevant erachtet haben. Im von Will Bradley und Charles Esche herausgegebenen Buch Art and Social Change. A Critical Reader (2008) steht Morris, zusammen mit Gustave 84 85
Ebd. Morris spricht hier ökologische Fragen an, die im Zuge der Industrialisierung bereits ersichtlich wurden. So verschlägt es den Protagonisten nach der Revolution und einer Entwicklung der neuen sozialistischen Gesellschaft ins 21. Jahrhundert. Entgegen der Situation im 19. Jahrhundert sind das Wasser der Themse und die Luft der Stadt London in Morris‹ Utopie im 21. Jahrhundert klar. Vgl. auch die Beschreibungen von Tony Pinkney, »Versions of Ecotopia in News of Nowhere«, in: Phillippa Bennett, Rosie Miles (Hg.), William Morris in the Twenty-First Century, Oxford, Bern, Berlin, Brüssel, Frankfurt a.M., New York, Wien 2010, S. 93-106, hier S. 95f.
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Abb. 46: Kultivator, Logo
Courbet, für die Anfänge einer Kunst, die gesellschaftspolitische Fragen thematisiert. Im Manifest »The Socialist Ideal: Art« (1891) führt Morris die Bedeutung der Kunst für eine gerechte und funktionierende Gesellschaft aus.86 Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Industrialisierung kämpft Morris für die Anerkennung von handwerklicher Arbeit. Er beschreibt, warum ein Kunstideal für den Sozialismus als »all-embracing theory of life« wesentlich ist.87 Seine Definition für Kunst bezieht sich dabei auf alles, »which can be looked at«.88 Für Morris ist aus seiner sozialistischen Sicht, die er von einer »commercialist« Perspektive unterscheidet, jeder Gegenstand ein durch den
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William Morris, »The Socialist Ideal: Art«, in: Charles Esche, Will Bradley (Hg.), Art and Social Change. A Critical Reader, London 2007, S. 47. Ebd. Ebd.
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Menschen gestalteter Gegenstand: »To the socialist, a house, a knife, a cup, a steam engine or what not, anything, I repeat, that is made by man and has form, must either be a work of art or destructive to art.«89 Er verwehrt sich einer Teilung in nützliche Gegenstände und Gegenstände der Kunst, die ihren Wert durch einen anderen Markt erhalten. Als Sozialist möchte er die Welt, in der (industrialisierte) Arbeit keine (handwerklichen) und damit an den Menschen gebundenen Produkte erzeugt, verändern. Denn in der handwerklichen Produktion liegt nach Morris die Freude der Arbeit, womit er als einer der frühen Kritiker der Arbeitsteilung gilt. Kunst soll allen zugänglich sein, nicht nur einer bürgerlichen Elite. Das ist jedoch nach Morris nur möglich, wenn Kunst ein wesentlicher Teil des Lebens ist und, wie er schreibt, auch als solcher anerkannt wird: In the Socialist ideal of art […] it should be common to the whole people; and this can only be the case if it comes to be recognized that art should be an integral part of all manufactured wares that have definite form and are intended for any endurance. In other words, instead of looking upon art as a luxury incidental to a certain privileged position, the socialist claims art as a necessity of human life which society has no right to withhold from any one of the citizens […].90 Dabei wird auch der Nachbarschaftlichkeit, also der Verbindung der Menschen untereinander, eine wesentliche Rolle beigemessen, wenn Morris schreibt: »… the great mass of effective art, that which pervades all life, must be the result of the harmonious co-operation of neighbours«.91 Besonders hervorzuheben scheint mir an der durch Kultivator hergestellten Verbindung zu William Morris der Rückgriff der Künstler_innen auf einen historischen Entwurf, der tatsächlich die ersten Gedanken einer gesellschaftlichen Bedeutung von Kunst berührt. Die Historikerin Gerda Breuer sieht in der durch Morris propagierten Auflösung einer Trennung von nützlicher und hoher Kunst eine seiner wesentlichsten und nachhaltigsten Reforminhalte, wenn sie schreibt: »Die Aufwertung der sogenannten ›nützlichen Künste‹ gegenüber der ›hohen Kunst‹ war ein entscheidender Impuls, der Künstler wei-
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terhin fast ein ganzes Jahrhundert beschäftigte.«92 Interessanterweise haben sich tatsächlich an einigen Kunsthochschulen mit Werkkunsttradition, etwa der Glasgow School of Art sowie der Bauhaus Universität Weimar, besonders früh Studiengänge wie ›Environmental Art‹ und ›Public Art and New Artistic Strategies‹ entwickelt, die sich explizit in den (gesellschaftlichen) Raum öffnen. Die Perspektive der Gestaltung von Gesellschaft hat sich hier vom formalen zum sozialen Bezug erweitert. Damit reicht die Beschäftigung sogar bis in die Gegenwart, was sich auch in Formen wie der so bezeichneten Arte Útil spiegelt, deren Konzept die Festen der Autonomie an der Stelle von Kunst und Gestaltung zum Wanken bringt.93 Die Kritik an dem Projekt betrifft vor allem die Beschränkung der Kunst auf ihre Nützlichkeit, die sich damit jedoch dem Anspruch des Neoliberalismus konform zeigt, was auch durch die häufig projektbegrenzten Mittel unterstrichen wird. Sie betrifft auch die Reduktion von Kunst auf ihre Rezeption und damit stets auf ein ergebnisorientiertes Wirken. Und schließlich macht die Kritik im Ansatz eine anti-institutionelle Haltung aus, die die Institutionen in ihrer Arbeit zusätzlich schwächen.94 Schaut man sich von hier aus Kultivators Kunst in ihrer Funktionalität an, so verbleibt sie, bei aller praktisch wie theoretisch hergestellten Referenz, doch wesentlich als Kunst gerahmt. Mit Blick auf die einzelnen Projekte von Kultivator können die jeweiligen Funktionen der hergestellten Gegenstände und Situationen nämlich nicht unabhängig von den Künstler_innen gesehen werden. Denn immer stehen sie im Zusammenhang mit der von den Künstler_innen gewählten Lebenssituation, auf die sie jeweils auch referieren. Bei den hier herangezogenen Beispielen etwa auf die notwendige Arbeit an guten Böden und auf die Organisation von Arbeit in selbstverwalteten Struktu-
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Gerda Breuer, »Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Gesellschaftsreform durch Schönheit bei William Morris«, in: Gerda Breuer (Hg.), Von Morris bis Mackintosh – Reformbewegung zwischen Kunstgewerbe und Sozialutopie, Ausst.-Kat. Institut Mathildenhöhe Darmstadt 1994, S. 77-104, hier S. 101. Arte Útil ist eine Initiative der kubanischen Künstlerin Tania Bruguera, die sich mit der Frage der Nützlichkeit von und der Gestaltung durch Kunst beschäftigt. Das Projekt versammelt Arbeiten von Künstler_innen, die als solche in ihrer Nützlichkeit erkannt wurden, und hat sich als ein Netzwerk in Zusammenarbeit mit verschiedenen Institutionen etabliert. Ein Aufriss der Problematik findet sich anschaulich in der Podiumsdiskussion Really Useful Theater. Useful Theater vs. Artistic freedom?, insbesondere in den Differenzen zwischen Juliane Rebentisch, Alistair Hudson, Videodokumentation, http://usefultheater .de/useful-theater-vs-artistic-freedom, Zugriff 29.04.2019.
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ren. In diesem Sinne verweist auch das William-Morris-Zitat vor allem auf die Möglichkeit, eine Verbindung der Kunst mit dem Leben durch das eigene Tun herzustellen. Wenn Will Bradley in seinem Reader zu politischen Manifesten schreibt: »Morris’s attempts to establish a co-operative artisanal workshop embodied his belief that all production should be, in some sense, the production of art«, dann gehen hier gemeinschaftliches Arbeiten und die Frage danach, welche Tätigkeit des Tages Kunst ist, in dem Konstrukt von Kultivator Hand in Hand.95 Sie selbst beschreiben ihre Praxis wie folgt: »Kultivator provide a meeting and working space that points out the parallels between provision production und art practice, between concrete and abstract processes for survival.«96 Insbesondere die Verbindung von Ertragsarbeit und Kunstproduktion lässt Ähnlichkeiten aufscheinen, auf die Kultivator hier verweisen. In dieser Verbindung schlagen sich Kultivator nicht rein auf die Seite der Funktionalisten, noch fordern sie ein, explizit (autonome) Kunst zu produzieren. Vielmehr erscheint in den hier beschriebenen Arbeiten, wie auch in anderen Projekten und ihren Formaten, seien es Workshops, internationale Vernetzungstreffen, Feiern oder Dinners, aber auch Ausstellungen und Projekte, die Kunst in unterschiedlichen Facetten ihrer Autonomie. Dabei ist der eigene Lebensentwurf immer als Reflexionsebene vorhanden.
Lebenskunstwerk oder ›Immersive Life Practice‹? Ein Projekt von Kultivator kommt kaum ohne Partizipierende aus, Kultivator richtet sich immer explizit an seine Gäste oder andere Teilnehmer_innen, an Schüler_innen oder Expert_innen. Kultivators Praxis erscheint als ein unmittelbares Korrektiv des Gesellschafts- und Wirtschaftssystems und soll auch als ein Antrieb zu Veränderungen in den Strukturen der Gesellschaft wirken. Kultivator äußern in ihren Projekten keine direkte Kritik, sie wenden sich nicht gegen etwas, sondern wählen den positiven Weg, der mögliche Arten, etwas anders oder besser zu machen, vorschlägt oder Themen anreißt, die jedem Menschen in seinem Lebensalltag vertraut sind, und anregt, diese zu hinterfragen. Immer finden die Kunstprojekte vor dem Hintergrund des eigenen Lebens statt, das als Ort (ländliche Gegenden weltweit, der eigene Bau95 96
Will Bradley, »Introduction«, in: Charles Esche, Will Bradley (Hg.), Art and Social Change. A Critical Reader, London 2007, S. 9-24, hier S. 13. Vgl. auch www.kultivator.org.
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ernhof) oder als Praxis (Pferdehaltung, Düngen, Pflanzen ziehen, Kühe füttern, Feste feiern) Eingang in die Kunst erhält. Dabei erscheint ihr Lebensund Arbeitskonstrukt nicht als Ideal, sondern als thematischer Reflexionsraum für die unterschiedlichen Formate der künstlerischen Praxis. Die Kunst entspringt der Lebenspraxis der Künstler_innen und nimmt immer wieder Bezug darauf, Landwirtschaft ist hier Lebensgrundlage und Inhalt zugleich. Die Autorin des Buches Neue Orte der Utopie. Zur Produktion von Möglichkeitsräumen bei zeitgenössischen Künstlergruppen, Julia Bulk, schreibt mit Blick auf künstlerische Arbeiten, die sich lebensgestalterisch hervortun, »sie trennen ihre alternative Lebenspraxis selbst als Lebenskunstwerk von der Ausgangsgesellschaft ab«.97 Auch Kultivator grenzen sich von der umgebenden Welt ab, und zwar sowohl als gelebte Utopie als auch als Lebensweise, die insbesondere der Kunst vollkommen fremd ist. 1998 entwickelt Paolo Bianchi den Begriff des Lebenskunstwerks (LKW), der in Anlehnung und Abgrenzung an Gesamtkunstwerke künstlerische Praktiken bezeichnet, die aus den Lebenswirklichkeiten von Künstler_innen hervorgehen.98 Gespiegelt sieht er darin die Frage: »Wie kann das Leben als Leben, als Teil eines künstlerischen Prozesses erlebt werden?«99 Zur Intention von Lebenskunstwerk-Künstler_innen sagt er weiter: »LKWs geht es nicht um neue Weltbilder, sondern um Projekte und Experimente. Es geht nicht um Selbstverwirklichung, sondern um Selbstversuche.«100 Tatsächlich passen hierzu auch einige der von Kultivator gewählten Formate, jedoch spielen explizit politische Fragen der Ökonomie und Ökologie eine bedeutende Rolle, die sich im von Bianchi formulierten Begriff und seinen dazu aufgerufenen Beispielen nicht bestätigen.101 Die Praxis von Kultivator huldigt weniger dem eigenen Kosmos, als dass sie als Reflexion auf das bestehende System der Kunst zu verstehen ist, von dem sie sich
Julia Bulk, Neue Orte der Utopie. Zur Produktion von Möglichkeitsräumen bei zeitgenössischen Künstlergruppen, Bielefeld 2016, S. 155 98 Die Autorin Alexandra Vinzenz verweist in ihrem Buch zum Konzept des Gesamtkunstwerks auf die ungeklärte und womöglich auch nicht notwendige Unterscheidung. Sie begründet dies mit einem sehr viel weniger totalitären Anspruch an das Konzept des Gesamtkunstwerks als angenommen. Vgl. Andrea Vinzenz, Vision Gesamtkunstwerk, Bielefeld 2018, S. 9f. » 99 Lebenskunstwerke (LKW)«, Kunstforum International, Band 142, Oktober–Dezember 1996, S. 50 100 Ebd., S. 51. 101 Etwa eine von ihnen gefeierte Hochzeit von Kunst und Landwirtschaft (Wedding of Art and Agriculture, 2010), mit Kolleg_innen anlässlich ihres fünfjährigen Bestehens. 97
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in Anlehnung abgrenzt. Hier rückt, und das scheint mir im Zusammenhang mit der Arbeit von Kultivator wesentlich zu sein, vor allem die Autonomie der Künstler_innen selbst in den Fokus. Dafür lässt sich eine neue Formulierung für eine künstlerische Praxis, die das Leben, die Lebenspraxis der Künstler_innen betrifft, heranziehen. 2014 bezeichnet Daniel Tucker, der in Philadelphia Socially Engaged Art unterrichtet, künstlerische Praktiken, die eine Verbindung von Kunst und Leben herstellen, als ›Immersive Life Practice‹.102 › Immersive Life Practice‹ bezeichnet eine Verbindung, in der die Kunst sowohl Lebenspraxis als auch das Leben Kunstpraxis sein kann. Die im gleichnamigen Buch vorgestellten Projekte zeichnen sich durch ihre Verbindung von Kunst und Leben aus, wobei Landwirtschaft ein bestimmendes Thema ist. Bei den vorgestellten Projekten, die sowohl auf dem Land als auch in der Stadt existieren, handelt es sich meist um gemeinschaftlich entwickelte und durchgeführte Projekte. Tucker fasst die Projekte in ihrer einerseits lebensgestaltenden und andererseits kunstgestaltenden Art zusammen. Den Projekten liegen zwei Fragen zugrunde: Wie wollen und können wir leben? Und welche Rolle kann Kunst bei dieser Frage spielen? Mit den ›Immersive Life Practices‹ macht Tucker einen wesentlichen Unterschied zur reinen Lebensgestaltung auf, der auch bezüglich der Arbeit von Kultivator zum Tragen kommt: die Ebene der Repräsentation. In der Untersuchung dieser von Tucker ausgemachten Praxis stellt sich die Frage, der eine sozial engagierte künstlerische Praxis, nach ihm, stets unterliegt: Kann Kunst sowohl aktivistisch als auch repräsentativ sein? ›Immersive Life Practice‹ ist nach Tucker eine Praxis, die genau mit dieser Diskrepanz kämpft: »which grapple(s) with the relationship between doing and representing one’s work in the context of one’s own life«.103 Die im Fokus stehenden Fragen einer Lebensgestaltung sowie einer Gestaltung von gesellschaftlichen und politischen Strukturen zeigt sich hier vor dem Hintergrund des eigenen Lebens.104 So geht es auch in den ›Immersive Life Practices‹ – und darauf 102 Daniel Tucker, Immersive Life Practices, Chicago 2014. 103 Ebd., S. 3. 104 Bereits 2011 war Tucker, zusammen mit der Künstlerin Amy Franceschini von den Futurefarmers, Mitherausgeber des Buches Farm together now, in dem gemeinschaftliche Landwirtschaftsprojekte ohne Kunstbezug in verschiedenen Städten und ruralen Gegenden der USA vorgestellt werden. Ähnlich wie bei sozial engagierten, künstlerischen Projekten standen die Bauern und Bäuerinnen in der Zwickmühle zwischen dem Machen-Wollen und dem Verbreiten-Wollen. Oder anders gesagt, bot die Praxis beide Zugänge, die auch für sich genommen eine politische Wirkung haben. Hierin liegt
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möchte Tuckers Begriff verweisen – immer gleichzeitig um die reale Situation und ihr Modell, um die Gestaltung von Leben und das Verweisen auf diese Gestaltungsmöglichkeiten: »… these immersive life practices can be seen as a marriage of redistribution and representation, of the work and the image of the work, of politics and ethics«.105 Das erinnert an Bonnie Ora Sherks ›Life Frames‹ und an das Bild, das sich von ihrem Bauernhof, gerahmt durch die Autobahnen in der Stadt, ergibt, wie wir in Kapitel 1.2. gesehen haben. Hier wie auch bei den anderen vorhergehend beschriebenen Kunstprojekten bleibt die Modellhaftigkeit der Kunst relevant, und zwar in ihrer realweltlichen und infrastrukturellen Einbettung. Mit Tuckers ›Immersive Life Practice‹ kommt ein Begriff ins Spiel, der auf die Grundlagen des Lebens referiert, wofür sich die Landwirtschaft als Basis allen Lebens besonders gut eignet. Darauf verweist auch Donna Neuwirth, eine der von Tucker als ›Immersive Life Practice‹ beschriebenen Vertreter_innen. Was nach ihr daran liegt, dass sich die Art und Weise, wie die meisten Menschen leben, anlehnt an eine landwirtschaftlich geprägte Lebensweise, auf die verbreitete Modelle von Paarbeziehungen, geregelten Arbeitszeiten und Landbesitz zurückgehen: […] whether we live in the city or rural areas we are living a lifestyle based upon an agrarian model. Our patterns of production, consumption, and reproduction are essentially those of farmers. Accumulation property, permanent pair bonding, and child rearing, having a set job that you perform daily, and even organized religion and a Roth IRA are all manifestations of an agricultural mindset.106 Sie sieht in der Verbindung von Kunst mit Landwirtschaft als Synonyme für Stadt und Land eine logische Entwicklung, die immer wieder auch auf die gegenseitige Abhängigkeit der beiden Räume, in denen sie existieren und die sie repräsentieren, verweist, die nur so auch lebenswerte Räume bleiben: These places [the urban and rural places, A. K.] are linked through the production and delivery of food as well as culture. Despite what our peers in the
auch eine der Verbindungen zu den Projekten, die Tucker als ›Immersive Life Practices‹ zusammenfasst. In vielen Landwirtschaftsprojekten wird die Zusammenarbeit mit Künstler_innen als positiv bewertet, da durch die Kunst die Ebene der Repräsentation deutlicher bearbeitet und so in ihrem Potenzial ausgeschöpft werden kann. 105 Ebd., S. 5. 106 Ebd., S. 89.
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urban agriculture movement believe, they cannot become nutritionally selfsufficient. And rural areas cannot become culturally self-sufficient.107 Vor diesem Hintergrund bleibt der Verweis der Kultivator-Künstler_innen auf Morris nur ein Wink in eine Richtung, die sich in der eigenen Praxis doch noch einmal anders, nämlich auf das eigene System hin reflektiert, gestaltet. Als eine ›Immersive Life Practice‹ verstanden, geht es bei Kultivator nicht nur um die direkte Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse, auch wenn Teilnehmende an Workshops, aber auch Besucher_innen von Ausstellungen durch Projekte von Kultivator zum Handeln bewegt werden. Als Kunst bietet sich ihr Zugriff vor dem Hintergrund des eigenen Lebensentwurfs an, um auf die eigene Rolle im System der Kunst zu reflektieren. Die Verbindung der Kunst mit den persönlichen Lebenszusammenhängen eröffnet auch einen Blick auf die ökonomische Autonomie der Künstler_innen. Bei allem Anschein einer im Leben aufgegangenen Praxis ist das Projekt von Kultivator dann doch eines, das sich in Anlehnung und Abgrenzung zum Kunstsystem formuliert und dieses durch die eigene Positionierung außerhalb durchaus mitreflektiert.
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Eine alternative Versuchsanordnung als ›Social Landart‹: Das Eichelschwein (2006) von Insa Winkler
Bei Insa Winklers Das Eichelschwein handelt es sich um eine, insbesondere für eine Künstlerin aufwendige und langwierige Arbeit. Hier zeigt sich die Verbindung der Kunst mit der Landwirtschaft in ihrer Ungewöhnlichkeit besonders deutlich, da Winkler dafür eigens landwirtschaftliche Methoden erlernen musste. Mit Das Eichelschwein stellt Winkler (*1960) der konventionellen Schweinemast eine Alternative entgegen, indem sie zehn Ferkel über den Zeitraum von neun Monaten mit Auslauf, persönlicher Betreuung und besonderer Fütterung aufzieht. Die Schweine wurden, den Pata-Negra-Schweinen in Spanien gleich, vorwiegend mit Eicheln gefüttert, um ein Äquivalent zum berühmten und kostspieligen Iberico-Schinken zu erhalten. Vorab wurde eine Machbarkeitsstudie durch die Landwirtschaftsschule Großenhain erstellt, vor deren Hintergrund das Projekt durchgeführt wurde. Finanziert wurde es in der Umsetzung durch die Eichelschwein-gesellschafter_innen, die als Investor_innen und Abnehmer_innen für das Fleisch gefunden worden waren. Begleitet wurde das Projekt von verschiedenen öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen, wie beispielsweise einem Schweinerennen. Es erscheint als Environmental Art, mit partizipativen (durch die Eichelschweingesellschafter_innen) und performativen Anteilen (durch das Eichelschweinrennen). Mit ihrem Versuch, so die Künstlerin selbst, wollte Winkler ein Überdenken der aktuellen Formen von Fleischproduktion anregen: »Das Eichelschwein-Projekt vergleicht zwei extrem unterschiedliche Tierhaltungsformen der Schweinehaltung und hinterfragt die Agrarpolitik.«108 Entstanden war es als »Kunst für den ländlichen Raum gegen Massentierhaltung und Auswirkungen der Landflucht«.109 Die Idee dafür wurde im größeren Rahmen von Cultura21 entwickelt, einem bundesweiten Workshop, der unter dem Titel Ressource Kultur? Die Bedeutung von Kunst und Kultur für die Entwicklung ländlicher Regionen, 2002 in Sachsen initiiert worden war. »Veranstalter des bundesweiten Workshops waren das Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen und die Stadt Großenhain.« Auch die Ziele waren bereits festgelegt: »Überprüft werden sollte mit dem interdisziplinären Projekt, ob aus der Kunst Erkenntnisse für den ländlichen Raum gewonnen 108 Ebd. 109 Vgl. auch www.social-landart.org, Zugriff 17.04.2018.
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werden können.« So sollten »aus dem Workshop Empfehlungen an das Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft hervorgehen«.110 Aus dem Prozess, der sich an den initiierenden Workshop anschloss, entwickelte Winkler die Idee für Das Eichelschwein. Dieses lässt sich als eine Versuchsanordnung bezeichnen, die eine utopische Idee ausformuliert – trotz aller Schwierigkeiten, die ein solches Projekt in der Umsetzung für eine Künstlerin mit sich bringt. Dabei soll der Begriff ›Social Land Art‹, den Winkler für ihre Projekte in Anlehung an Beuys‹ Soziale Plastik und die Land Art entwickelt hat, auf seine Anschlussfähigkeit und Bedeutung untersucht werden. Ob sich das Kunstprojekt, wie von der Künstlerin gewünscht, eignet, um Relevanz in politischen Debatten zu erhalten, soll abschließend aufgegriffen werden.
Abb. 47: Insa Winkler, Das Eichelschwein, 2006, Videos, Holzmodell, Ausstellungsansicht Kunstraum Kreuzberg, 2012
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Vgl. auch und-institut.de/de/projekte/realisiert, Zugriff 17.04.2018. Hildegard Kurt, Kulturwissenschaftlerin und Betreiberin der Internetseite, war zusammen mit der Galeristin Heike Strelow eine der assoziierten Vertreterinnen der Kultur.
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Das Eichelschwein im Ausstellungsraum In der Ausstellung Hungry City (2012) wurde Das Eichelschwein insbesondere durch zwei Filme in einer installativen Anordnung vorgestellt. Der Hauptfilm, Das Eichelschwein – Haben Schweine eine Seele? (2012), wurde als wandfüllende Projektion mit Ton in einem separaten Raum gezeigt. Der 15-minütige Film beschreibt das Projekt aus der Perspektive eines der von Winkler aufgezogenen Eichelschweine.111 Die Künstlerin erläutert: Es [das Schwein, Anm. A. K.] blickt zurück auf seine eigentliche Bestimmung als anonym wachsendes Fleisch. Es erzählt vom Alltag der Massentierhaltung, von der Not der Landwirte durch den Preisdruck, den der Verbraucher verursacht, und es träumt davon, auch als lebenswertes Tier gewürdigt zu werden.112 Der Film beginnt mit der Geburt von Ferkeln in einem konventionellen Landwirtschaftsbetrieb, beschreibt das dortige Leben von Schweinen als »wachsende Schinken«, das nach vier Monaten beendet ist.113 Die Szenerie wechselt sodann von der konventionellen Aufzucht zu Das Eichelschwein. Wenn die Künstlerin das Eichelschwein im Film sagen lässt: »Ich symbolisiere die Seele und den Geist aller Schweine und ich bin ein lebendiges Kunstwerk« und weiter fragen lässt: »Warum esst ihr nur die Tiere, die ihr nicht seht?«, bringt uns dies zur ethischen Dimension des Themas.114 Im weiteren Verlauf wird Das Eichelschwein chronologisch vorgestellt: Man sieht, wie die zehn von Winkler erworbenen Ferkel auf die Wiese kommen, wie sie im Matsch buddeln, wie die Künstlerin sie mit Eicheln lockt und mit ihnen, als Training für ihren großen Auftritt beim Schweinerennen, läuft. Es folgt, als Publicity-Event, das große Rennen der Schweine. Zu diesem Anlass tragen die Schweine rote Fahnen in Form von Eichenblättern mit ihren Startnummern auf dem Rücken. Neben anderen Gästen sind die Gesellschafter_innen anwesend, die das Projekt durch ihre Investitionen finanziert haben. Es folgen Szenen, die zeigen, 111
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Die Perspektive der Ich-Erzählung aus Schweinesicht ruft den Vergleich zu einem bekannten australischen Film Ein Schweinchen namens Babe (1995) auf. Dort entkommt ein Ferkel einem Leben in einem Mastbetrieb und darf sich als Hüteschwein auf einem kleinen Bauernhof beweisen. www.social-landart.org, Zugriff 17.04.2018. Zitat aus dem Film von Insa Winkler, Das Eichelschwein – Haben Schweine eine Seele?, 15 min, 2004. Ebd.
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wie acht der Schweine verladen und im Schlachthof getötet werden. Ein Fest mit allen Beteiligten findet statt, bei dem ein Schwein gebraten und gegessen wird. Der Film endet mit einer Einstellung im Osnabrücker Zoo, wo zwei der Eichelschweine weiterleben und, wie Winkler sagt, »als [das] Eichelschwein[e] für die Zukunft« träumen dürfen.115 Aus der Perspektive des Schweins erzählt, wird deutlich, dass in diesem Film der Versuch unternommen wird, die Herstellung von Fleisch unter andere Vorzeichen, nämlich das Tier und seine Rechte berücksichtigend, zu stellen. Die für die Schweine ganz unterschiedlichen Ausgänge des Experiments: einerseits geschlachtet und andererseits als Streicheltier im Zoo weiterlebend, beschreiben auch die zwei Umgangsweisen mit Tieren, die in der Unterscheidung zwischen Haus- und Nutztier kulturhistorisch interessant zu betrachten sind. Durch die chronologische Erzählstruktur gibt der Film einen Überblick über das gesamte Projekt, das hier in seiner Experimenthaftigkeit erscheint.
Abb. 48: Insa Winkler, Eichelschwein-Kino, 2006
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Im Ausstellungsraum vor diesem Beitrag befand sich ein Modell des Eichelschwein-Kinos, einer Vorführkonstruktion für den öffentlichen Raum: eine auf einem Sockel platzierte rosafarbene Holzfigur in Form eines geflügelten Eichelschweins, in dessen Bauch ein Bildschirm eingelassen ist. Dort war, ebenfalls mit Ton, der Film ABC Schweine – Künstler treffen Landwirte (2004) zu sehen. Er ist aus der Begegnung der Künstlerin mit dem landwirtschaftlichen Betrieb Jans-Wenstrup zwei Jahre vor der Umsetzung des Projekts entstanden. Der Film ist ein Porträt des konventionellen norddeutschen Schweinemastbetriebs, in dem der Landwirt selbst seine Produktion im Zusammenhang mit dem Kaufverhalten der Konsumenten beschreibt und sich ausmalt, wie der Betrieb sich in Zukunft weiterentwickeln könnte. Dabei benennt er zwei Optionen: entweder weiter in Richtung Industrialisierung oder als qualitativer Edel-Masthof für Eichelschweine, der den Hof umgebenden Eichenwald als Ressource berücksichtigt. Während der Erzählungen des Landwirts läuft im unteren Bildteil ein Wortband, das von »Abferkeln« bis »Zukunft« ein Alphabet der Schweine durchbuchstabiert. Dabei macht die Vielfalt der Begriffe des ABC Schweine deutlich, welche thematische Vielschichtigkeit sich anhand landwirtschaftlicher Produktion aufrufen lässt. Dieser Film von 2004 gibt einen Einblick in einen zentralen Moment der Entstehungsgeschichte von Winklers Projekt, indem er ganz dezidiert die Begegnung Winklers mit der realen Situation der Schweinehaltung beim Bauern zeigt. Winkler zeichnet hier nicht das Bild einer per se schlechten Landwirtschaft, sondern verweist neben der Rolle des Bauern und seiner Familie als Produzent_innen auch auf die Bedeutung der Konsument_innen in diesen Zusammenhängen. Während sich im 2004 entstandenen Film das Interesse der Künstlerin an den Gegebenheiten der aktuellen Agrarwirtschaft, die in Anlehnung bzw. Abgrenzung nach neuen Modellen für die Zukunft sucht, ausdrückt, zeigt der Film von 2006 mit Das Eichelschwein eine realisierte Version der aus der Begegnung mit dem Landwirt entstandenen Visionen. Der Film von 2006 gibt einen dokumentarischen Überblick über den Verlauf des Projekts von Winkler, in dem durch das Schwein als Erzähler_in auch Informationen zur Haltung der Künstlerin zur konventionellen Landwirtschaft gegeben werden. Das Eichelschwein zeigt sich als ein Projekt, das eine Situation herstellt, die in Anlehnung an die Arbeit aus dem agrarwirtschaftlichen Bereich eine Alternative zum konventionellen Vorgehen aufzeigen will. Unterstützt wird das Vorhaben durch wissenschaftliche Zuarbeit, eine von Agrarwissenschaftlern hergestellte Machbarkeitsstudie, die Teil der Recherche war. Winkler über-
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prüft die Machbarkeitsstudie, indem sie sie als künstlerisches Projekt umsetzt. Sie leistet mit ihrem durchgeführten Versuch einen künstlerisch-wissenschaftlichen Beitrag, mit dem sie das Ziel einer Einflussnahme auf politische Entscheidungen erreichen will. Winklers Projekt hat nicht den Anspruch, tatsächlich das eine landwirtschaftliche Modell gegen das andere auszuloten. Vielmehr ergibt sich aus den beiden gegenübergestellten Modellen ein Spannungsfeld, das die Problematik aus verschiedenen Perspektiven darlegt. Wenn Winkler ein Bild von Landwirtschaft entstehen lässt, das entgegen der bisher beschriebenen Arbeiten idyllische Anleihen nicht reflektiert oder kritisch hinterfragt, sondern vielmehr bestätigend aufruft, dann tut sie das auch, um im Umkehrschluss auf die verbreiteten Methoden der Landwirtschaft zu verweisen. Wenn hier also die Rede von einer Versuchsordnung ist, dann plädiert Winklers Projekt vor allem für eine andere Forschungsfrage als die, die der konventionellen Landwirtschaft zugrunde liegt. Der Auftrag lautet dann nicht mehr: Wie lässt sich möglichst günstig möglichst viel Fleisch produzieren? Sondern: Wie lässt sich heute eine Fleischproduktion der Zukunft denken, die von nachhaltigen Aspekten geleitet ist? Was die Arbeit also aus dem Wissenschaftsbezug erhält, das ist der Verweis, der sich auf die bereits bezeichneten (agrar-)wissenschaftlichen Zustände und Prozesse ergibt, die nur noch in Richtung Kapitalmaximierung produzieren. Das Eichelschwein spricht damit vor allem die ethische Seite der Herstellung von Nahrungsmitteln an sowie die Betrachtenden in ihrer Rolle als Konsument_innen und zeigt einen möglichen Ausweg aus der beschriebenen Entwicklung auf. Winkler beleuchtet damit agrarwissenschaftliche Forschung in ihren Versäumnissen sowie die Notwendigkeit für neue Konzepte ökologischen Handelns. Dabei sieht sie die Kunst, insbesondere die von ihr so bezeichnete ›Social Landart‹ – eine Verbindung der Sozialen Plastik mit der Land Art – als Möglichkeit, diese neuen Konzepte mit zu entwickeln.
Das Eichelschwein als ›Social Landart‹ Bereits seit den 1990er-Jahren verwendet Winkler für ihre Kunstproduktion den Begriff ›Social Landart‹.116 Darunter fasst Winkler auf ihrer Internetseite verschiedene von ihr realisierte Projekte, die sich im weitesten Sinn mit 116
Die Schreibweise von Social Landart variiert in den unterschiedlichen Dokumenten. Ich habe mich hier für die häufiger verwendete Variante entschieden.
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(Nutz-)Landschaft und Ökologie, aber auch mit Gemeinschaft und künstlerischem Austausch beschäftigen. Mit der ›Social Landart‹ hat Winkler sich zur Aufgabe gemacht hat, wie sie schreibt, »unabhängig vom Kunstmarkt, künstlerische Projekte mit heterogenen Beiträgen aus Kunst und Wissenschaft überregional und international der Öffentlichkeit zugänglich zu machen«.117 Landwirtschaft und ländlicher Raum sind wiederkehrende Themen, die die Künstlerin immer wieder aufruft und diskutiert.118 Mit der ›Social Landart‹ bringt Winkler zwei Konzepte einer Zeit zusammen: Sie kombiniert die Land Art, die sich in den USA in den späten 1960er-Jahren entwickelt hat, mit dem Begriff des Sozialen, den Winkler auf die Soziale Plastik von Joseph Beuys bezieht. Winkler beschreibt ›Social Landart‹ wie folgt: Social Land Art legt als Kunstform besonderen Wert auf den Genius loci und die damit verbundenen sozialen, kulturellen und ökologischen Strukturen: Kulturlandschaft ist der Spiegel der Gesellschaft unter der Beleuchtung ihrer Beziehung zur Natur – die kulturelle Vielfalt und die biologische Vielfalt.119 Und erklärt an anderer Stelle: Social Landart erweitert das vorrangig ästhetische oder eben auch mythologische Vorgehen der Landart. Social Landart [SLa] hat einen interventiven Charakter. Mit der Absicht einer sozio-kulturellen Wandlung in einem geo-
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slap e.V./Insa Winkler, Kunst und Agrarkultur, Oldenburg 2003, S. 86. 2002 hat Insa Winkler die Tagung Kunst und Agrarkultur in Ganderkesee in Norddeutschland organisiert und damit auch den Stellenwert der Landwirtschaft in ihrer künstlerischen Arbeit hervorgehoben. Die dazugehörige Publikation dokumentiert die Vorträge der eingeladenen Gäste. Dazu gehören auch namhafte Pioniere in der Beschäftigung mit Fragen von ländlichem Raum und ›Rural Art‹, wie etwa der Landwirt Michael Heart, dessen Stiftung Littoral in England bereits erste Kontakte von Künstler_innen mit Landwirten organisiert hatte. 2006/07 war Insa Winkler Mitinitiatorin von Hinterland Avantgarden, einem Austauschprojekt zwischen den ländlichen Kunstvereinen LandKunstLeben in Brandenburg und slap e. V. in Niedersachsen. Winkler ist auch Gründungsmitglied und aktives Mitglied der seit 2010 bestehenden Vereinigung artecology_network. Sie ist damit Teil eines Netzwerks, das sich aus Initiativen zusammensetzt, die ländlich beheimatet sind und sich explizit für eine künstlerische Beschäftigung mit Aspekten des Ländlichen einsetzen, diese organisieren und verbreiten. Vgl. www.social-landart.org, Zugriff 17.04.2018.
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grafischen, auch agri-kulturellen Raum erweitert SLa die Erkenntnisabsichten zum ganzheitlichen Welt- und Menschenbild der Sozialen Plastik.120 Während die Land Art hier vor allem im räumlichen Bezug und im Umgang mit den landschaftsprägenden Materialien aufgerufen wird, erfährt sie durch die Soziale Plastik die Erweiterung, die sie um ein politisch-ökologisches und ethisches Bestreben ergänzt.121 Mit dem Bezug zu Beuys öffnet sich der materialistische Bezug der Land Art auf die sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen einer Landschaft zur ›Social Landart‹. In seinem Text von 1973, »I am searching for field character«, definiert Beuys die Idee der Sozialen Plastik. Er beschreibt Kunst als Möglichkeit, das alte und überholte soziale System zu erneuern und einen »Sozialen Organismus als Kunstwerk« aufzubauen. Dort heißt es: »Only art is capable of dismantling the repressive effects of a senile social system that continues to totter along the deathline: to dismantle in order to build A SOCIAL ORGANISM AS A WORK OF ART.«122 Beuys nutzt das Konzept der Sozialen Plastik ganz gezielt als politisches Instrument.123 Dabei zeigt sich in vielen seiner Projekte ein besonderes Interesse an ökologischen Fragen.124 Für Beuys soll Kunst »nicht mehr auf das materiell fassbare Artefakt beschränkt sein, sondern gleichermaßen die auf soziale Konsequenzen hin reflektierten Hand-
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Ebd. 2006 erschien ein wichtiges Kompendium für sogenannte Eco Art, herausgegeben von Max Andrews, mit dem Titel Land, Art. Auch hier erweitert sich der Begriff der Land Art zu einer Kunst, die sich in das Verhältnis zum Land setzt, weniger in seiner Dimension oder seiner Materialität als in seiner sozialen, ökologischen und politischen Bedeutung, was durch die Trennung des Begriffs hervorgehoben wird. Max Andrews, LAND, ART. A Cultural Ecology Handbook, London 2006. 122 Joseph Beuys, »I Am Searching for Field Character«, 1973, in: Claire Bishop, Participation: Documents of Contemporary Art, London 2006, S. 125. 123 1971 gründet er zusammen mit Johannes Stüttgen und Karl Fast die Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung. Sie soll eben denen einen Raum zur politischen Teilhabe bieten, die sich und ihre Anliegen im aktuellen Parteiensystem nicht vertreten fühlen. Seine Vorstellung einer Kunst, die sich in der oder auch als Politik niederschlägt, wird besonders deutlich an Beuys‹ Kandidatur 1979 für die Partei Bündnis 90/Die Grünen im Europaparlament. 124 Bekannt geworden vor allem in der Arbeit 7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung (1981) für die documenta 7 oder, weniger bekannt in seinem abgelehnten Vorschlag für die Hamburger Spülfelder: Gesamtkunstwerk Freie und Hansestadt Hamburg (1983).
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lungen einschließen«, schreibt die Kunstwissenschaftlerin Barbara Lange.125 Ähnlich wie bei Beuys, bei dem zwischenmenschlich erzeugte Wärmereaktionen die Kunst zu einer formenden Kraft werden lassen, versteht auch Insa Winkler den Einsatz der Menschen, die in ihren Projekten zusammenkommen.126 Einerseits der Menschen mit verschiedenen disziplinären Hintergründen und andererseits jener, die an den Orten der Bearbeitung leben. Sie schreibt zu Interaktion, Partizipation und Austausch: Charakter der »Social Landart« ist, dass Künstler miteinander kommunizieren als Empiriker und im Austausch mit wissenschaftlichen Experten als eine Verbindung mit dem trans-disziplinären anderen. Auf der anderen Seite erfolgt die Auseinandersetzung mit dem Leben der Bewohner, mit den Nachbarschaften in Form einer Bürgerbeteiligung. Die Ergebnisse werden als Ganzes in einem künstlerischen Prozess vereint, selbst unter Berücksichtigung einer langfristigen Entwicklung.127 Tatsächlich musste Winkler für die Realisierung ihres Vorhabens eng mit verschiedenen Personen zusammenarbeiten, sei es für die Expertise im Umgang mit den Schweinen, sei es für die finanzielle Umsetzung, die u.a. durch die beteiligten Gesellschafter_innen geleistet wurde. Entsprechend illustriert womöglich besonders das Schweinerennen als einziges öffentliches Event des Projekts Das Eichelschwein, an dem alle Beteiligten: die Künstlerin, die Schweine, die Gesellschafter_innen und alle Interessierten zusammenkommen, die Idee der Sozialen Plastik, indem es die Utopie einer Sozialen Gemeinschaft bildet, die sich für eine andere Tierzucht entschieden hat. Nicht nur als Person, sondern auch in seinem besonderen Interesse am Sozialen in Kunst und Leben nimmt Joseph Beuys sowohl in der Entwicklung einer Sozial Engagierten Kunst als auch einer Kunst im öffentlichen Raum
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Barbara Lange, »Soziale Plastik«, in: Hubertus Butin, Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln 2014, S. 323-326, hier S. 323. Barbara Lange weist in diesem Zusammenhang auf die modernistischen Implikationen hin, die sich im Gestaltungskonzept von Beuys‹ ›Sozialer Plastik‹ finden lassen. In diesem Zusammenhang mag es interessant sein, dass Winkler auch als ausgebildete Landschaftsplanerin tätig ist. Ihr Studio Kunst und Landschaft, das auch auf ihrer allgemeinen Internetseite verlinkt ist, übernimmt professionelle Aufträge der Landschafts- bzw. Gartengestaltung. Vgl. auch Volker Harlan, Rainer Rappmann, Peter Schata (Hg.), Soziale Plastik. Materialien zu Beuys, Achnerg 1984, S. 58. Vgl. www.social-landart.org, Zugriff 17.04.2018.
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Kunst und Landwirtschaft
Abb. 49 und 50: Insa Winkler, Eichelschweinrennen, 2006
eine wichtige Rolle insbesondere für die Positionen ein, die ihre Hinwendungen als politisch wirksame verstehen und dafür partizipative Strategien bemühen.128 Interessanterweise ist auf seine Arbeit im Zusammenhang mit einer aktuellen ›Engagierten Kunst‹ zwar immer wieder hingewiesen, jedoch wenig konkret Bezug genommen worden. Der Autor Arthur C. Danto bespricht im Vorwort zum Buch Joseph Beuys – The Reader (2007) die geringe Antizipation von Beuys‹ Werk für die aktuelle Kunst etwa im Gegensatz zu Duchamp und Warhol und erklärt sie mit dessen Zugang zur Politik, vor allem zum Spirituellen: »His politics and to some degree the ritual aura that invests his art somewhat distance us from him.«129 Auch die Kunstkritikerin 128
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In Claire Bishops Anthologie relevanter Aufsätze und Theorien zum Thema Partizipation steht der oben erwähnte Text »I am searching for field character« sowie eine Aufzeichnung aus dem Büro für direkte Demokratie neben dem vielbesprochenen Text Relational Aesthetics von Nicolas Bourriaud, der die Debatte um partizipative Kunst in den 1990er- und 2000er-Jahren wesentlich bestimmt hat. Und auch im Vorwort zum Buch Joseph Beuys – The Reader (2007) wird auf dessen Vorbildcharakter als »the most prophetic voice« für das Public-Art-Projekt Sculpture Chicago namens Culture in Action hingewiesen. Arthur C. Danto, »Style and Salvation in the Art of Beuys«, in: Claudia Mesch, Viola Michely (Hg.), Joseph Beuys – The Reader, New York 2007, S. 13f.
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
Laurie Rojas zeigt, dass sich zwar die Bedeutung eines Beuys’schen Kunstbegriffs für Künstler wie Thomas Hirschhorn und Jeremy Deller herausarbeiten lässt, macht jedoch einen wesentlichen Unterschied der sozialen Praxen gestern und heute aus. Während sie den Wunsch nach Revolution im politischen Hintergrund, bei Beuys durch die Erlebnisse des Zweiten Weltkriegs, vermutet, sieht sie bei relationalen Kunstwerken mit linksutopischer Ausrichtung heute vielmehr eine Beschäftigung mit der Situation des eigenen Daseins als Künstler_in in einer prekären Welt. Nicht mehr der gesamtgesellschaftliche Entwurf wird nach ihr durch Künstler_innen infrage gestellt, sondern einzelne Aspekte eines Lebens, die allenfalls auf einen größeren Zusammenhang verweisen.130 Diese Feststellung scheint treffend für das Verhältnis zwischen Beuys‹ Sozialer Plastik und aktuellen Arbeiten einer Social Practice heute. Was die Soziale Plastik mit der Land Art verbindet, sind ihre Entgrenzungen als Kunst in das Außerkünstlerische, in die Gesellschaft, in den Raum, in die Natur. Entsprechend nennt Peter Bürger Beuys einen Grenzgänger, der in Fortsetzung avantgardistischer Traditionen an der Grenze zwischen Kunst und Leben agiert diese jedoch »als Grenze zugleich ständig negiert«.131 Seine in politische und ökologische Bereiche erweiterten Kunstwerke beinhalten immer auch die Reflexion von Kunst unter den Vorzeichen eines erweiterten Kunstbegriffs, den er provoziert.132 In Fortsetzung der Entgrenzungsstrategien von Land Art und Sozialer Plastik, gerät mit der ›Social Landart‹ so vor allem die Grenze zwischen Kunst und Landwirtschaft in den Blick, provoziert durch die an die reale Praxis angenäherte künstlerische Praxis der Landwirtschaft. Dabei treten mit den Bedingungen der Kunst auch die Bedingungen der Landwirtschaft hervor. Jürgen Weichhardt beschreibt im Katalog zur Ausstellung Ökomedien (2007) das Projekt Das Eichelschwein in seiner Prozesshaftig- und Vielschichtigkeit:
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Laurie Rojas, Beuys‹ Concept of Social Sculpture and Relational Art Practices Today,https://t hecharnelhouse.org/2013/02/08/beuys-concept-of-social-sculpture-and-relational-artpractices-today-by-laurie-rojas/, Zugriff 07.03.2019. Peter Bürger, »Der Avantgardist nach dem Ende der Avantgarde: Joseph Beuys«, in: Peter Bürger, Das Altern der Moderne. Schriften zur Bildenden Kunst, Frankfurt a.M. 2001, S. 161. Vgl. auch Rainer Rappmann, »Der soziale Organismus – ein Kunstwerk. Interview mit Joseph Beuys«, in: Volker Harlan, Rainer Rappmann, Peter Schata, (Hg.), Soziale Palstik. Materialien zu Beuys, Achberg 1984.
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Dabei bleibt Insa Winkler stets Künstlerin: Kunst als Prozess schließt die Auseinandersetzung mit der Bürokratie, die Dialoge mit den Landwirten und die Diskussionen mit anderen Künstlern ebenso ein wie die praktische Arbeit am Logo des Unternehmens und an der mobilen Installation, dem Eichelschwein Kino.133 In dieser einfachen, aber äußert wichtigen Beobachtung, die sich durchaus auch in den Bestandteilen des Kunstwerks für den Ausstellungsraum niederschlägt, wird deutlich, dass in der Betrachtung des gesamten Prozesses der Produktion von Das Eichelschwein das besondere Potenzial einer Kunst liegt, die mit der Gestaltung lebensnaher Bereiche auch die Bedingungen für diese Gestaltung sichtbar werden lassen kann. Hier ergibt sich ein Verhältnis von Kunst zur Realität, das sich in das Leben einschreibt und damit auf die paradigmatischen Problemstellen der Gesellschaftsgestaltung verweist. In diesem Sinne macht die Kunst hier, frei von (real-)ökonomischen Bedingungen und lobbyistischen Interessen, vor allem die an die Entwicklung von agrarwirtschaftlichen Entscheidungen gekoppelten Bedingungen und Zwänge sichtbar. Und das in besonderem Maße dort, wo es sich explizit für die Partizipation öffnet. Denn mit den Gesellschafter_innen, die nicht nur das Projekt finanziell unterstützen, sondern dadurch auch Abnehmer_innen des erzeugten Produkts sind, wird die Rolle der Konsument_innen auf besondere Weise ins Licht gerückt und zeigt sich als wesentliche. Ob sich das Projekt so gesehen im Sinne eines Ziels der ›Social Landart‹ eignet, das Winkler darin sieht, »die Kultur als 4. Säule im Prozess der Agenda 21. zu etablieren«, bleibt vor dem aufgezeigten Hintergrund fraglich.134 Kaum jedoch im Sinne einer direkten Mitgestaltung der Welt, sondern allenfalls im Sinne einer Reflexionsermöglichung der durch die verwirklichten Situationen vorgeführten Hintergründe, die andere Modelle von Landwirtschaft derzeit in Umsetzung nicht erlauben.
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Jürgen Weichhardt, »Insa Winkler, Das Eichelschwein Kino Mobil 2007«, in: Sabine Himmelsbach, Yvonne Volkart (Hg.), Ökomedien, Ostfildern 2007, S. 145. slap e. V./Insa Winkler, Kunst und Agrarkultur, Oldenburg 2003, S. 86. Die Agenda 21 ist ein Aktionsprogramm der Vereinten Nationen zu einer nachhaltigen Entwicklung, das nach der Klimakonferenz 1992 erstellt wurde.
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
3.5
Kunst als ›Para-Institution‹: A Shepherd’s School (seit 2004) von Fernando García-Dory
Der spanische Künstler Fernando García-Dory (*1978) ist derjenige der hier aufgeführten Künstler_innen, der mit dem Thema Landwirtschaft am meisten auf großen Kunstausstellungen und -messen präsent ist. In den vergangenen Jahren war er an der dOCUMENTA13 (2012), der Istanbul Biennale (2015), der Arco Madrid (2014) und in der Galerie Hauser & Wirth (2018) mit Projekten und Vermittlungsprogrammen beteiligt. Seine erste bekannte Arbeit ist A Shepherd’s School, die, 2004 entwickelt, seit 2007 jährlich in einem fünfmonatigen Workshop in den asturischen Bergen im Norden Spaniens die Möglichkeit eines Einblicks in die Arbeit der Schäferei bietet. Gestartet ist das Projekt dem Künstler zufolge mit dem Ziel, zwei unterschiedliche Entwicklungen miteinander zu verschränken und so eine Synergie zu erzeugen: Während Anfang der 2000er-Jahre einerseits die Schäferei in den asturischen Bergen stark rückläufig war und mit acht verbliebenen Beschäftigten kurz vor ihrem Ende stand, zeigte sich gleichzeitig ein wachsendes Interesse vornehmlich junger Städter_innen an der Arbeit und den Entwicklungen im ländlichen Raum.135 A Shepherd’s School bietet daher ausgewählten Interessent_innen die Möglichkeit, im Workshop-Format von lokalen Schäfern die Grundlagen der Schäferei zu erlernen. Zu den Inhalten gehören neben Landes- und Regionalkunde das notwendige Wissen zum kargen Leben in den Bergen, der Umgang mit den Tieren vom Hüten, Betreuen, Melken bis zum Schlachten sowie die Herstellung des regional typischen Käses. Jährlich bewerben sich ca. 20 interessierte und potenzielle Neu-Schäfer_innen. Acht von ihnen werden von den Schäfern und dem Künstler ausgewählt und bekommen für die Zeit des Workshops ein Stipendium ausgezahlt. Unterstützt unter anderem durch Gelder des Ministeriums für Kultur und Bildung, hat sich A Shepherd’s School mit der Summerschool auch durch die Gestaltung neuer Unterkünfte in die sich in Auflösung befindlichen Infrastrukturen des ländlichen Raums in Nordspanien eingeschrieben. Diese starke Entgrenzungsgeste von Kunst in die ländliche Arbeit und Kultur legt nahe, das Projekt nicht als Kunst, sondern als eine sozial und ökologisch motivierte Maßnahme zum Erhalt der Schäferkultur und der ökologischen Bildung zu betrachten. Gleichzeitig lässt es sich nicht am Erfolg messen, tatsächlich neue Schäfer_innen zu etablieren, denn bisher hat sich 135
Vgl. auch www.fernandogarciadory.info, Zugriff 02.05.2018.
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nur ein Schüler tatsächlich an einer zukünftigen Arbeit als Schäfer interessiert gezeigt. Wo lässt sich nun die Pointe eines derart realitätsnahen Projekts ausmachen, das als Socially Engaged Art vor allem Aufmerksamkeit in internationalen Kunstzusammenhängen erfährt?136
Abb. 51: Fernando García-Dory, A Shepherd’s School, seit 2004, Ölgemälde, Zeichnung, Objekt, Digitaldruck auf Papier, Fotokopien, Wandtext, Ausstellungsansicht Kunstraum Kreuzberg, 2012
A Shepherd’s School im Ausstellungsraum Im Kunstraum Kreuzberg (2012) wurde das Projekt als installative Anordnung in einem eigenen Raum gezeigt. Sie setzte sich zusammen aus farbig ausgedruckten Fotografien, die Situationen aus der Shepherd’s School, insbesondere das Zusammenspiel von Schüler_innen und Schäfern, zeigten; zwei einfachen
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2012 erhielt García-Dory die renommierte Auszeichnung Leonore Annenberg Prize for Art and Social Change u.a. wird seine Kunst in diesem Zusammenhang als ›socially engaged art‹ bezeichnet. Vgl. http://creativetime.org/summit/prize/, Zugriff 02.05.2018.
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
Strichzeichnungen, die die für die Käseherstellung wichtigen Bakterien abbildeten; einer kleinen Leinwand mit einem unfertigen Gemälde einer österreichisch anmutenden Berghütte; der abstrakten Zeichnung einer Berglandschaft; einer Fotografie eines Wolfs sowie einer Gemse; einem Papier mit den Koordinaten der Schäferschule; sowie dem Buch Enclosure and the small farmer in the age of industrial revolution. Ergänzt war diese Zusammenstellung durch eine Fotografie einer ehemaligen Installation sowie einen Text, der die Entstehung des Projekts und seine Teilnahmemöglichkeiten erläuterte. Die Anordnung der Bilder ermöglichte den Betrachtenden, Verbindungen herzustellen, die das Projekt inhaltlich und formal aufspannen: zwischen den Schäfern und den Schüler_innen, zwischen den Bakterien und der Käseproduktion, zwischen dem Wolf und der Entwicklung der Schäferei. Die Präsentation bildet damit zugleich den Rahmen einer möglichen strukturellen Verfasstheit ab. Mit der Beziehung zwischen den Schäfern und den Schüler_innen, die auf den Fotografien im Austausch zu sehen sind, kommt vor allem der edukativen Seite des Projekts Sichtbarkeit zu. Ähnlich widmen sich auch andere Projekte von García-Dory der Ausbildung in traditioneller Lebensmittelproduktion und handwerklicher Fähigkeiten. Einen Schwerpunkt stellt auch die Vernetzung und Versammlung von Menschen mit ähnlichen (landwirtschaftlich geprägten) Hintergründen dar.
Abb. 52 und 53: Fernando García-Dory, A Shepherd’s School, seit 2004, Details
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Projekte der (politischen) Vernetzung und Bildung: A Shepherd Assembly, INLAND 2012 initiierte der Künstler im Rahmen der dOCUMENTA 13 ein großes Schäfertreffen auf europäischer Ebene. Unter dem Titel A Shepherd Assembly und dem Motto: Another Europe, Transformed by Shepherds trafen sich Schäfer_innen aus verschiedenen europäischen Ländern, um ihre Arbeit auch im Hinblick auf die Zukunft zu diskutieren. Teil des Programms war die Präsentation eines Dokumentarfilms über den Protestmarsch von Schäfer_innen mit ihren Tieren von Berlin und Brüssel nach Trier.137 2007 bereits brachte García-Dory in A World Gathering of Nomadic People mehr als 300 Menschen aus 44 Ländern zusammen, die als Nomaden und Schäfer leben.138 Das Treffen führte zur Gründung der Vereinigung nomadischer Schäfer in der ›World Alliance of Mobile Indigenous Pastoralists‹ (WAMIP).139 García-Dory arbeitete dafür mit verschiedenen NGOs und Grassroots-Bewegungen zusammen und suchte bereits hier die Einflussnahme auf politische Organisationen, etwa die Food and Agriculture Organisation (FAO) oder die United Nations Convention to Combat Desertification (UNCCD). Der Künstler bezeichnet Strukturen von Systemen als eines seiner großen Interessen – ob des Bienenstaats oder Staatssystemen und ihren (Vereinigungs-)Organisationen, wenn er schreibt: My experience of working within national state structures or supranational bodies such as the UN Convention to Combat Desertification (UNCCD) or FAO has been as fascinating for me as the beekeeping that I learned from my father and neighbors. Social insects are interesting to study as a state organization; states, as a kind of corporation, have the capacity and power to convert a wish or an idea into an operative object or system.140 Die Zusammenarbeit mit politischen Organisationen auch auf internationaler und globaler Ebene bezeichnet er als fruchtbar und ergebnisreich. Seine
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Vgl. De13.documenta.de, Zugriff, 26.04.2018 Vgl. Fernando García-Dory, »Razing Arcadia and Shepherding Amongst the Ruins«, in: Wapke Feenstra, Antje Schiffers, (Hg.), Images of Farming, Heijningen 2011, S. 143. 139 Vgl. www.fernandogarciadory.info/index.php?/projects/world-gathering-of-nomadicpeoples/, Zugriff 26.04.2018. 140 »Fernando García-Dory in conversation with Chris Fite-Wassilak«, in: Claire Doherty (Hg.), Out of Time. Out of Place. Public Art (Now), London 2015, S. 195.
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Abb. 54: Fernando García-Dory, Schäferversammlung, dOCUMENTA 13, 2012
Erfahrung ist, dass es dort mehr Möglichkeiten der (künstlerischen) Mitarbeit gibt und die Strukturen weniger verschlossen sind als angenommen.141 García-Dory sieht die Möglichkeiten einer verknüpfenden Struktur von Kunst und Politik nur in einem realistischen Umgang mit den herrschenden Strukturen, wenn er erklärt: »I firmly believe that artists who attempt to influence the world have at some point to make compromises with the current ruling structures.«142 Auch die Form seiner Projekte gibt darüber Aufschluss, sind sie neben der Vernetzung immer dem Wissensaustausch und der Bildung verpflichtet, entsprechend seiner Ansicht, dass es sich hierbei um einen wesentlichen Aspekt von Menschlichkeit handelt: In my view, exchanging, teaching, learning, sharing, helping and growing, offers communication as education, which is one of the essences of humanity
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Dazu sagt García-Dory selbst: »In the end, I find structured efforts of consensus and coordination within the mess of humankind and individual agency quite moving and tender. We are closer, and there is more goodwill in the world, than we might think.« Ebd. 142 Ebd., S. 195.
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in mankind – something barely noticeable, but which always enters my mind when I am in public places like libraries or parks or meetings between people […].143 Nicht nur die Schule findet sich zumindest namentlich als wiederkehrendes Format seiner Projekte, sondern auch andere pädagogisch anmutende Formate der Vernetzung und des Wissensaustauschs. Aktuell sind es weniger Präsentationen als vielmehr Bildungsprojekte wie Workshops und Symposien, zu denen der Künstler in internationalen Zusammenhängen eingeladen ist.144 Gleichzeitig schafft er selbst internationale Zusammenhänge, indem er versucht, größere Netzwerkprogramme zu etablieren. So führt er beispielsweise mehrere seiner Projekte wie A Shepherd’s School in Asturien, die Elemental School of Crafts145 auf Mallorca, die School für Peasant Leaders146 u.a. als verschiedene Bildungsformate und Vernetzungsangebote in einem übergreifend angelegten Netzwerkprogramm namens INLAND zusammen.147 Bereits seit 2009 arbeitet García-Dory an der Idee und Struktur von INLAND, das darauf zielt, die sich über unterschiedliche Länder erstreckenden Projekte an Institutionen der Kunst, Museen und Akademien anzubinden. Gestartet in Spanien, wo neben einem umfangreichen Residency-Programm für Künstler_innen an ländlichen Orten eine Ausstellung und eine Konferenz stattfanden, weitete García-Dory das Projekt nach einer Phase der Reflexion auf andere Länder aus, in denen er kooperierende Institutionen fand u.a. in Deutschland, Italien, den Niederlanden, Schottland und Argentinien. INLAND engagiert sich in den Bereichen Land, Landwirtschaft und Sozialer Wandel. Ziel ist letztlich auch hier die politische Einflussnahme: INLAND berichtet an die EU-
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Fernando García-Dory, »Razing Arcadia and Sheperding Amongst the Ruins«, in: Wapke Feenstra, Antje Schiffers, (Hg.), Images of Farming, Heijningen 2011, S. 143. 144 www.fernandogarciadory.info, Zugriff 26.04.2018. 145 Die Elemental School of Crafts ist ein Workshop für Arbeitslose in Mallorca, die dort von lokalen Handwerksmeister_innen in Zusammenarbeit mit Künstler_innen neue Formen traditioneller Handwerke entwickeln sollen. 146 Die School for Peasant Leaders ist als ein Residency-Programm für Landwirte oder andere im landwirtschaftlichen Bereich tätige Führungspersonen angedacht. 147 Auch in anderen Arbeiten in Kapitel 3 dieser Untersuchung fanden sich bereits verschiedene formale und inhaltliche Bezüge zu Bildung, etwa in der Bibliobox von Myvillages, in Soil Kitchen von Futurefarmers und in Crossroads Community von Bonnie Ora Sherk.
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
Kommission über den Nutzen von Kunst für die Entwicklung des ländlichen Raums.148 García-Dory versteht Kunst, ganz ähnlich wie Insa Winkler im vorangegangenen Beispiel, als Kooperationspartner in (regional-)politischen Zusammenhängen. Während Winkler den Anspruch einer konkreten Wirksamkeit auf politischer Ebene verfolgt und sich konsequenterweise gegen jegliche Teilnahme am Kunstmarkt ausspricht, ist, seinen eigenen Aussagen nach, García-Dorys Vorgehen zwar durchaus von Skepsis gegenüber den Möglichkeiten und Erfolgen einer engagierten Kunst geprägt, er verortet sich mit seiner Arbeit jedoch in einer breiten institutionellen Öffentlichkeit. Gleichzeitig reflektiert er seine Arbeit im Kontext historischer und aktueller künstlerischer Vorgehensweisen und Motive, ebenso wie er versucht, diese im Kontext aktueller kunstwissenschaftlicher Theorie zu interpretieren.
A Shepherd’s School: ein ›Neopastorales Kunstgenre‹, eine ›Micro-Utopie‹ und eine Soziale Plastik Die Shepherd’s School ist eines der ersten Projekte, die Fernando García-Dory zum Thema Landwirtschaft realisiert hat. Er selbst hat dazu eine umfangreiche Auseinandersetzung geführt, die mit historischen sowie zeitgenössischen kunstwissenschaftlichen Einordnungen nicht zuletzt das Verständnis, aber auch die Legitimation seines Projektes als Kunst behandelt. Wenn er 2011 unter dem Titel Razing Arcadia and Shepherding Amongst the Ruins über die Arbeit schreibt, dann spricht er verschiedene Verbindungen zur Intention und auch Interpretation seiner Kunst an.149 García-Dory bringt die Bezeichnung ›Neopastoral Art‹ an. Er bezieht sich damit auf eine Form der pastoralen Malerei — einem Genre der Landschaftsdarstellung, die Situationen des Tierehütens beinhaltet — des 19. Jahrhunderts, die vornehmlich für eine bürgerliche Elite der Stadt hergestellt war: 148
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It [INLAND] also advises as a consultant for the European Union Commission on the use of art for rural development policies, facilitates shepherds‹ movements, and is recovering an abandoned village in an undisclosed location for collective artistic and agricultural production.« Aus der Ankündigung eines Gesprächs des Künstlers mit Andrea Phillips an der Kunsthochschule Oslo, 2018, www.khio.no/en/events/583, Zugriff 27.04.2018. 149 Fernando García-Dory, »Razing Arcadia and Shepherding Amongst the Ruins«, in: Wapke Feenstra, Antje Schiffers, (Hg.), Images of Farming, Heijningen 2011, S. 136-147.
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With this project I deal with what I call the Neopastoral art genre, for me a reiteration of the ever-present pastoral art, a valuable indicator of the history of the relations of representations of the rural by the often urban-based cultural elite.150 Wenn nun in A Shepherd’s School die alteingesessenen Schäfer auf die jungen interessierten Summerschool-Schüler_innen treffen, ergibt sich für García-Dory daraus ein Sinnbild unserer aktuellen Zeit für das Verhältnis der Stadt bzw. der Städter_innen zum Land. Angetrieben von einem gewissen Öko-Lifestyle, der sich im Interesse an Organic Food und ›Urban Gardening‹ niederschlägt, sieht er die Schüler_innen in den Bergen der Realität der Nahrungsmittelproduktion ausgesetzt, was sich gleichzeitig als idyllisches Bild der Vermarktung des Ländlichen anbietet. García-Dory spricht von einer »ruralen Idylle«, die sich heute in marktorientierten ideologischen Bildern zeigt.151 Er erweitert so mit der Ergänzung des ›Neo‹ die pastorale Perspektive über die Moderne auch auf die Postmoderne, wie er selbst beschreibt: »The Neopastoral art genre is inscribed in a postmodern ›neo‹ formulation regarding the critical examination of that one-dimensional reading of the rural.«152 Damit beabsichtigt er eine kritische Revision des Pastoralen in seinem Ausdruck des Verhältnisses von Stadt und Land, von Mensch und Natur.153 García-Dory beschreibt sein künstlerisches Interesse als »Re-Modern operation, or Retro-Modern, insofar as it means taking a step back to address present situations and future possibilities«.154 Wobei er sich damit auf eine Rückbesinnung auf die Moderne bezieht, die sich nicht schlicht in einem Negieren moderner Positionen versteht, sondern
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Ebd, S. 141. Ebd. Ebd. Tatsächlich stellen die Errungenschaften der Moderne, wie etwa die Einführung von Nationalparks, auch in den Bergen Asturiens zwar einerseits eine Wertschätzung der speziellen Landschaft und Natur dar, jedoch kaum zugunsten der dort arbeitenden und lebenden Schäfer. Die Bedeutung der Schäfer und ihrer Arbeit für die Ausbildung der speziellen Landschaft wurde ebenso wenig berücksichtigt wie ihr an die Arbeit und die Region geknüpftes Wissen. So stellt die Sicherung der Region in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als geschützte vielmehr den Beginn des Niedergangs der Arbeit der Schäfer dar, der sich ab den 1950er-Jahren beschleunigte. Von damals 1000 Menschen, die in den Bergen arbeiteten, sind heute acht übriggeblieben. Ebd., S. 140. Ebd., S. 142.
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als Chance zur Entwicklung betrachten lässt.155 In seinem ›neopastoralen‹ Zugang, der den Kontakt mit der Situation möglich macht, »to manage the resources directly as tools of social change«, sieht er gleichzeitig auch dessen Schwäche hervorgehoben, »it highlights the weakness inherent in such a simplistic approach«.156 Die Funktionalität eines Kunstwerks bietet hier den Zugang zu einem Thema, offenbart jedoch nach García-Dory, der damit bereits der Debatte um eine räumlich und formal entgrenzte Kunst der 1990er-Jahre folgt, auch die Problematik, die es in dieser Rolle bekommt. Eine Präsentation der Schäferschule 2009 im LABoral Center in Gijon beinhaltete über das beschriebene Bildmaterial ein Treffen von Repräsentanten der spanischen Schäfervereinigung, das in einer Architektur aus einer recycelten Arbeit von Rirkrit Tiravanija stattfand.157 García-Dory spricht in diesem Zusammenhang von seinem Kunstwerk als »Soziale Plastik – Neo Pastoral Work« und versteht seine Präsentation als Möglichkeit, die ausufernde Praxis der Relationalen Kunst und andere Praktiken retrospektiv innerhalb des begrenzten Raums der Installation untersuchen zu können.158 Was genau passiert, wenn eine außerkünstlerisch tätige Gruppe von Menschen – hier spanische Schäfer – eingeladen wird, in den Räumlichkeiten einer Kunstinstitution ihr Jahrestreffen abzuhalten: Is a platform that praises a social movement a model of civility? Is it de-activating the dynamic displaced as a museum piece? Or is it, on the contrary, with the wood as insulator, protecting the group from the white box space?159 Im Fall dieses Treffens läuft das Zusammentreffen von Kunstinstitution und außerkünstlerischer Praxis nicht Gefahr, einer Entpolitisierung durch Ästhetisierung zu unterliegen: Zu stark wird der Raum nur als ein möglicher für das Treffen genutzt und bietet auch anderen Zusammenkünften Platz. Im Gegenteil nutzt der Künstler die räumliche Möglichkeit zum Zweck der Politisie155 156 157
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Vgl. ebd. Ebd., S. 142. Rirkrit Tiravanija ist als einer der bekanntesten Künstler zu bezeichnen, die mit partizipativen Strategien in der Kunst arbeiten. Von Nicolas Bourriaud wurde er als prominentes Beispiel der Relationalen Ästhetik hervorgehoben. García-Dory schreibt dazu: »Again, this offers me a Retro-Modern chance to examine relational Art, often self-indulgent interventions, as well as classical model of the social movement-building plan inherited from the twentieth-century political avantgardist.« Ebd., S. 143. Ebd., S. 146.
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rung der Bauern. In einem Interview mit dem Autor und Kunstkritiker Chris Fite-Wassilak (2015) beschreibt García-Dory die Vereinigung der Schäfer, die durch seine Bemühungen erstmals zusammengekommen waren, nämlich als eine Täuschung, durch die jedoch mit einem Sitz im Vorstand des Landwirtschaftsministeriums Wesentliches – im politischen Sektor – erreicht wurde: The shepherds‹ federation is a bluff, much like in poker. It is a minority group of a bunch of shepherds. But thanks to this cultural strategy, we now have a position in the advisory board of the Ministry of Farming, pushing for a new law on transhumance and providing this pastoralist practice a special status and support.160 García-Dorys eigene Interpretationsversuche, seine Kunstpraxis zwischen modellhaft und interventionistisch einzuordnen, reißen einige Punkte der Problematik an, die derart entgrenzte Kunstwerke eröffnen. Mit dem Untertitel der Shepherd’s School, »A Micro Kingdom of Utopia«, verweist GarcíaDory auf den modellhaften Charakter des Projekts im Sinne von Nicolas Bourriauds Relationaler Ästhetik, der seine ausgemachten Beispiele als »Micro-Utopien« bezeichnet.161 Jedoch handelt es bei sich bei García-Dorys Unternehmungen kaum um ein (ungelenktes) intersubjektives Zusammenkommen, wie es Bourriaud bestimmt. Es geht nicht um die sich bildenden Gemeinschaften, die durch die Projekte entstehen, sondern vielmehr um die Bedingungen, unter denen sie zusammenkommen, als auch um die hergestellten Verbindungsarten: nämlich in Organisationsformen, die explizit nicht den politischen Strukturen entsprechen, sondern eine durch das Volk propagierte »direkte Demokratie« unterstützen.162 Hier lässt sich auch die Nennung von Beuys‹ Sozialer Plastik, die auch García-Dory als Referenz einer Gesellschaft gestaltenden Kunst nennt, einordnen. Interessant sind die von Beuys geschaffenen Organisationsformen hier vor allem im Hinblick auf die institutionelle Rahmung, die auch durch pädagogische Formate (z.B. die Free University) geschaffen wird.
160 »Fernando García-Dory in conversation with Chris Fite-Wassilak«, in: Claire Doherty (Hg.), Out of Time. Out of Place. Public Art (Now), London 2015, S. 194. 161 Etwa im vom Künstler herausgegebenen Booklet zur Arbeit, Issue no. 2 of Common commisioned by the initiative of Collections of Minds. 162 Bereits im Zusammenhang mit Insa Winkler wurde auf die Projekte Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung (1972) und Free International University (1973) von Beuys hingewiesen.
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
Die ›Para-Institution‹ als Kunstbestätigung Das erweitere Spektrum von García-Dorys Projekten betrachtend, zeigt sich der pädagogische Ansatz auch bei A Shepherd’s School nicht als Einzelfall, sondern als Prinzip, wenn wir die verschiedenen unter INLAND subsumierten Schulen bedenken. Aktuell bestimmt Garcá-Dory seine Projekte als ›ParaInstitutionen‹, eine Bezeichnung der Künstlerin Tania Bruguera, die damit Kunstprojekte beschreibt, die zwar in einem institutionellen Format existieren, jedoch den Erwartungen an eine solche Institution in ihrer Funktion nicht entsprechen müssen. Wenn García-Dorys künstlerische Formate der Wissensvermittlung und der Bildung, also auch seine Schäferschule, ›ParaInstitutionen‹ sind, dann entbindet er sie von vorneherein von den herkömmlichen Erwartungen, die sich an eine Institution formulieren. García-Dory liefert selbst eine Beschreibung von Form und Wirkung einer solchen ›ParaInstitution‹. Sie gibt mit einzelnen Details auch Aufschluss darüber, wie er sich eine Social Practice vorstellt: The concept of a para-institution could refer to the cultural tactic of creating a symbolic and functional structure to host expanded artistic activities. Para-institutions are based in the field. They are polyvalent specialist mobile units working in emergency contexts. Para-institutions can operate in relation to an »official« institution, i.e. a state or a company, thereby (drawing the veil of socially legitimate power) over (themselves). In this way, para-institutions exist beside or near an official institution while at the same time, against, taking on a confrontational, dialectic position towards that institution. A para-institution resembles the institution, using mimetic, camouflage and mirroring (manoeuvers), but also aims to be beyond, for example subverting the existing labour-life relation or the hierarchy in established conventional institutions.163 García-Dory spricht hier vom Herstellen einer symbolischen und funktionalen Struktur, die erweiterte künstlerische Aktivitäten beherbergen kann.
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Fernando García-Dory, www.nachbarschaftsakademie.org/partner/inland/, Zugriff 25.04. 2018.
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Durch das Präfix Para-, das hier als neben (griechisch) oder auch gegen (lateinisch) zu verstehen ist, schwingt bereits das Wissen um die Uneingelöstheit des Projektes als rein funktionales mit.164 Gleichzeitig beschreibt die ›ParaInstitution‹ treffend ein Interesse an den strukturellen Bedingungen, die in den künstlerischen Projekten mit Landwirtschaftsbezug aufscheinen. Deutlich wird der Zusammenhang der von ihm gedachten ›Para-Institutionen‹ und ihrer Verbindung zu offiziellen Institutionen, denen sie ähneln, die sie nutzen und von denen sie sich zugleich abgrenzen. Das unterstreicht der Künstler, wenn er auf den sich ähnelnden umfangreichen Anteil administrativer Arbeit von Künstler_innen und Bauern heute verweist.165 Bereits 2009 erwähnt die Künstlerin Tania Bruguera den Begriff der ›Para-Institution‹ in einem Gespräch mit dem Kunstvermittler Pablo Helquera am MoMA New York. Unter der Überschrift Transpedagogy: Contemporary Art and the Vehicles of Education befragt der Kunstvermittler Helquera die Künstlerin Bruguera nach ihrer Haltung zum Einsatz von Bildungsformaten in politischer Kunstpraxis. Als Antwort auf die Frage nach einer Verbindung oder Abgrenzung solcher Formate von Institutionskritik und Relationaler Ästhetik kontert sie mit der Idee der ›Para-Institution‹. Sie beschreibt sie als Parallel-Institutionen, die andere Formen von Arbeitssystemen vorführen, in ihren Worten als parallel institutions, working institutions, that do propose and show in its operation other working systems, being a temporary frame of action where art enters as the self-reflective, self-critical tool, while it is simultaneously
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»The Greek word παρά can be translated in many respects, for instance, locally as from … to, nearby, next … to; temporally as during, along; and figuratively as in comparison, in contrast, contra-, and against. Although para refers to deviation rather than opposition in Greek, in Latin it becomes contra.« Nora Sternfeld nutzt den Begriff des Para-Museums, hergeleitet von Projekten mit Institutionsbezug von Marcel Broodthaers und Claes Oldenburg, um die besondere Situation der documenta zwischen »Event und Institution« zu betrachten. Vgl. Nora Sternfeld, »Para-Museum of 100 Days: documenta between Event and Institution«, in: OnCurating, Issue 33/June 2017, S. 165. Er schreibt zu der Annäherung: »By pushing the managerial dimensions to the limit, I seek to define the limitation of that form of art. I confront myself with that exhausting task as the opposite of creative process.«, »Fernando García-Dory in conversation with Chris Fite-Wassilak«, in: Claire Doherty (Hg.), Out of Time. Out of Place. Public Art (Now), London 2015, S. 195.
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
being conceived and happening, a para-institution that sees itself from the outside, from the spectator’s point of view.166 Wenn Bruguera den Begriff ›Para-Institution‹ hier in Bezug auf pädagogische Konzepte prägt, dann lassen daran auch García-Dorys Schul- und WorkshopProjekte anschließen. Betrachtet man diese strukturell in ihrer meist außerinstitutionellen Erscheinung, gerät hier der Auftrag der Institution Kunst als Bildungseinrichtung in den Blick. Ein solches Verständnis würde die institutionskritische Seite der ›Para-Institution‹ hervorheben, was sich auch deckt mit anderen ›Para-Institutionen‹ der Kunst, wie sie von Nora Sternfeld z.B. im Musée d’Art Moderne Département des Aigles von Marcel Broodthaers identifiziert werden.167 Jedoch darf die hier entwickelte ›Para-Institution‹, wie sie Bruguera versteht, nicht fälschlicherweise mit Institutionskritik gleichgesetzt werden. Denn sie mag zwar eine institutionsreflexive Betrachtung beinhalten, verfolgt jedoch vornehmlich den Anspruch, außerhalb des eigenen Feldes sozialen Einfluss zu nehmen, und versucht nicht, die Institutionen selbst zu verändern. In der Historie der umfangreichen Selbstreflexion von García-Dorys Interpretation seiner Arbeit lässt sich somit ein interessanter Wandel nachvollziehen: Von der Einordnung als relationales Kunstwerk hin zur ›Para-Institution‹ wird deutlich, dass die Idee des modellhaften Wirkens der Kunst abgelöst wurde von einer differenzierteren Form einer Begegnung der Kunst mit der Nicht-Kunst. Während das relational verstandene Kunstwerk ein Erlebnis an der sozialen Beziehung verspricht, und damit modellhaft für das Leben stehen soll, ist im Konstrukt der ›Para-Institution‹ die NichtEinlösung als funktionales Kunstwerk bereits angelegt, lassen sich Struktur und Funktion nicht im herkömmlichen Verständnis in Übereinstimmung bringen. Die ›Para-Institution‹ bietet damit von vorneherein die Möglich-
166 Pablo Helguera, »Transpedagogy: Contemporary Art and the Vehicles of Education«, Panel Diskussion kuratiert von Pablo Helguera, Museum of Modern Art, 15.05.2009, www.taniabruguera.com, Zugriff 25.04.2018. 167 Nora Sternfeld bemüht den Begriff der ›Para-Institution‹ für die dort ausgestellten »Para-Museen« wie etwa Marcel Broodthaers‹ Musée d’Art Moderne Département des Aigles und Claes Oldenburgs Mouse Museum und auch für die Struktur der documenta selbst. Vgl. Nora Sternfeld, Para-Museum of 100 days: documenta between event and institution, www.on-curating.org/issue-33-reader/para-museum-of-100-daysdocumenta-between-event-and-institution.html#.XIeEufxCfeQ, Zugriff 20.02.2019.
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keit, die so bezeichnete sozial engagierte Kunst von ihren funktionalen Versprechen zu befreien. In Formaten der Bildung, Vernetzung und des Wissensaustauschs reflektiert die Kunst hier mit den Strukturen dieser ›Para-Institutionen‹ schließlich weniger die Strukturen der Institutionen der Kunst selbst, von denen sie sich einerseits so weit entfernt hat und mit denen sie andererseits so eng verbunden ist. In den Projekten von García-Dory werden ländliche Kulturtechniken vorgeführt, die im Laufe der fortschreitenden Globalisierung weiter verschwinden werden. Wenn jungen Menschen aus der Stadt die Möglichkeit gegeben wird, regional typische landwirtschaftliche Praxen für eine begrenzte Zeit kennenzulernen und den beteiligten Schäfern mit den Workshops eine Nebenbeschäftigung geboten wird, die sie in den Zeiten des Umbruchs ökonomisch unterstützt, dann leistet dies auch eine Anpassung an die sich veränderte Situation. Es schafft eine Überarbeitung der traditionellen Situation, die sie nicht mehr in ihrem Ursprung fortsetzt (auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, als ginge es um eine Rettung). Unter den neuen Vorzeichen eines städtisch geprägten Interesses wird Landwirtschaft hier als konsumierbares Erlebnis vorgeführt. Die Kunst zeigt so die mögliche Entwicklung, die derartige Landwirtschaft nehmen kann: als eine konservierte und im Workshop erlebbare Kulturtechnik. In diesem Verständnis ist solche Kunst dann aber nicht mehr als sozial engagierte Praxis zu verstehen im Sinne einer aktiven Mithilfe an der Verbesserung sozialer Situationen. Vielmehr verweist sie auf die strukturellen Veränderungen in den ländlichen Regionen und mit der Finanzierung durch das Ministerium für Kultur und Bildung auch auf die dahinter stehenden Interessen der Politik.
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
3.6
Der ländliche Raum als ›Site‹: Internationaler Dorfladen und Neue Dorfwaren (seit 2007) von Myvillages (Kathrin Böhm, Wapke Feenstra, Antje Schiffers)
Im zweiten Kapitel dieser Arbeit wurde bereits die Bibliobox der Künstlerinnengruppe Myvillages (Kathrin Böhm, Antje Schiffers und Wapke Feenstra) vorgestellt. Unter der Überschrift Landwirtschaft als Medium der Kunst werden hier zwei weitere, zusammenhängende Arbeiten der Künstlerinnen besprochen, bei denen sich der Bezug zur Landwirtschaft zugunsten des größeren Zusammenhangs der ländlichen Kultur und des ländlichen Raums erweitert. Zum einen die Neuen Dorfwaren (seit 2007), die in Zusammenarbeit mit lokalen Expert_innen als regional typische Produkte entstehen, und zum anderen der Internationale Dorfladen (seit 2007), der in immer wieder anderer Form als Display für die Neuen Dorfwaren dient. Beide Projekte beinhalten partizipative Öffnungen – einmal in der Produktion und einmal in der Rezeption. Außerinstitutionelle Aktion und institutionelle Präsentation sind damit sowohl formal als auch inhaltlich miteinander verknüpft. Wenn die Künstlerinnen auf dem internationalen Land und unter Beteiligung von Dorfbewohner_innen und anderen Expert_innen Neue Dorfwaren entwickeln und diese dann in temporären Internationalen Dorfläden präsentieren und verkaufen, dann rücken zwei Aspekte besonders in den Blick: die Schnittstelle Kunst und/oder Ware (als Nicht-Kunst) und die Verbindung von Internationalität und Dorf. Es ergeben sich Fragen nach den Produzent_innen von Kunst, nach der Funktionalität von Kunst, nach der Repräsentation von Kunst im ländlichen Raum und nach der Repräsentation von ländlichen Orten in der Kunst und generell.
Neue Dorfwaren, Internationaler Dorfladen, International Village Show Seit 2007 produzieren Myvillages, meist auf Einladung von Kunstinstitutionen, ortsbezogene Produkte, die aus regionalen Zusammenhängen entwickelt werden. Diese Neuen Dorfwaren entstehen in kollaborativer Praxis, das heißt in Zusammenarbeit mit ausgewählten Gruppen und Expert_innen vor Ort, wie beispielsweise den Höfener Landfrauen, Berliner Designer_innen, russischen Töpfer_innen oder norddeutschen Stofffabrikant_innen. Der Prozess der Entwicklung einer Dorfware nimmt mitunter mehrere Jahre ein. Das Pro-
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jekt zielt nicht nur auf das Produkt als solches, sondern der Prozess seiner Entwicklung ist wesentlicher Bestandteil der Arbeit. In der Entwicklungsphase, die aus Treffen der Beteiligten besteht, wird Wissen ausgetauscht, das ganz unterschiedliche Hintergründe haben kann. Traditionelle Verfahren in der Lebensmittelproduktion und im Handwerk, regionale Besonderheiten geografischer und ökonomischer Art sowie kulturelle und historische Phänomene bewahrt als Oral History fließen in die Entwicklung der Dorfwaren ein. Für die Umsetzung, das heißt die Fertigung, werden weitere Expert_innen einbezogen, die nicht selten ebenfalls aus regionalen Zusammenhängen kommen. Die Produkte entsprechen als künstlerische Artefakte in ihrer Nutzbarkeit und ihrem Aussehen nicht immer oder jedenfalls nicht nur marktwirtschaftlichen Ansprüchen. Vielmehr repräsentieren sie die Orte bzw. die Regionen, indem sie in sich Geschichten und Fakten, zusammengetragen von den diversen Stimmen der Beteiligten, versammeln. So ist beispielsweise bei einem Projekt in der Oberlausitz 2009 in Zusammenarbeit mit den dortigen Landfrauen, dem Heimatverein, Schüler_innen und Vertreter_innen der Politik der Leinölkühlturm entstanden.168 Der Leinölkühlturm ist ein ca. 15 cm hohes Gefäß, dessen Form angelehnt ist an die Kühltürme der Braunkohleregion Lausitz. Er besteht aus Glas, ein Material, für dessen Produktion die Gegend ebenso bekannt ist wie für die Leinölherstellung und -nutzung. Der Leinölkühlturm aus seinem dunklen Glas kann dazu dienen, das lichtempfindliche Leinöl für den Hausgebrauch aufzubewahren. Er repräsentiert in Zusammenfassung regional-ökonomische und -kulturelle Begebenheiten, hier eines industriell geprägten Dorfes, indem er eine landschaftlich markante Form der Region, den Kühlturm, als ästhetische formgebend für ein regionales Produkt verwendet. Während seine Funktion unbestreitbar ist, könnte seine Form auch als ein ironischer Kommentar auf regionale Vermarktungsstrategien gelesen werden. Es gibt aber auch andere Produkte, deren Ursprung vielmehr in mythischen Erzählungen oder Traditionen liegt. Ein Beispiel dafür ist das Ittinger Ei, das von Angestellten der Kartause Ittingen in der Schweiz entwickelt wurde.169 Die Kartause Ittingen ist ein ehemaliges Kloster, das neben einem Museum auch einen Betrieb mit Gärtnerei und Landwirtschaft, einen Hotel- und
Über Tage 09. Kunstprojekte für die Lausitzer Seenlandschaft. Kunstfestival an verschiedenen Orten in der Region Lausitz, Beginn 15.08.2009. 169 Entwickelt wurde das Produkt im Rahmen der Ausstellung 10.000 Stunden im Kunstmuseum Thurgau, 13.05.–30.09.2012, Warth, Schweiz. 168
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
Abb. 55 und 56: Myvillages, Neue Dorfwaren, seit 2007, Leinölkühlturm (2009), Ittinger Ei (2012)
Seminarbetrieb, ein Restaurant, eine Schmiede sowie Wohn- und Arbeitsraum für Betreute umfasst. Letztere produzieren vor Ort die aus Hopfenfaser geformten ei-ähnlichen Gebilde mit einer ausgestülpten Öffnung an der Spitze. Diese Neue Dorfware sollte sich von den im Klosterladen angebotenen Produkten deutlich unterscheiden, sie sollte »ein Geheimnis haben […], denn in der Kartause gibt es unzählige solche«.170 Kauft man das Ei, so ist einem der entsprechende Inhalt nicht bekannt. Er besteht aus von den Angestellten »gebrannten Geheimnissen« sowie Essenzen der Kartause.171 Auch diese Neue Dorfware repräsentiert den Ort, der hier in der Geschichte des Klosters und seiner heutigen Nutzung liegt. Diese zwei Beispiele stehen für eine Vielzahl von Waren, die seit 2007 entstanden sind und nicht nur verschiedene Kulturpraktiken, sondern letztlich Kulturgeschichten des ländlichen Raums vorstellen. Im Internationalen Dorfladen werden diese Neuen Dorfwaren angeboten. Der Internationale Dorfladen ist ein Konstrukt, das je nach Bedarf unterschiedliche Formate annimmt. Je nach Kontext öffnet der Laden, meist als äußerst simples Display, eine Stunde, einen Tag oder mehrere Wochen. Mal ist er integriert in eine Ausstellung, mal ist er Teil eines Festivals oder einer Konferenz, mal eröffnet er ganz ohne institutionelle Anbindung. Ebenso richten sich die Öffnungszeiten nach den Möglichkeiten der Künstlerinnen und dem Bedarf vor Ort. Im Internationalen Dorfladen werden neben den Neuen Dorfwaren auch andere lokale
170 Vgl. www.internationalvillageshop.net/products/neue-ittinger-ware, Zugriff 02.05. 2018. 171 Ebd.
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Produkte verkauft: etwa aus den Heimatzusammenhängen der Künstlerinnen, wie die Pferdemilchseife aus den Niederlanden, oder kurzfristig vor Ort ins Programm genommene Produkte kulinarischer Art, die die Anbindung an die jeweiligen Präsentationsorte unterstreichen. Der Internationale Dorfladen fungiert im funktionalen Format des Ladens und ist zugleich künstlerische Kompilation und eigene Galerie in der Ausstellung, auf dem Festival etc.
Abb. 57 und 58: Myvillages, Internationaler Dorfladen, seit 2007 , Festival Unter Tage 09, Boxberg, 2009; Setting the Table: Village Politics, Whitechapel Gallery, 2019
Die Produkte des Internationalen Dorfladen finden sich alle auch auf einer eigenen Internetseite. Optisch nimmt die Internetseite Anleihe an die Ästhetik von Online-Shops, es gibt hier jedoch keine Möglichkeit, tatsächlich Bestellungen aufzugeben. Vielmehr verweist die versammelnde Struktur zusätzlich auf ein Netzwerk von internationalen Institutionen, die bereits Dorfläden beheimatet haben und in deren Zusammenhang auch die Idee vom International Village Shop teilweise entwickelt worden ist.172 Hier bekommt man durch Bilder und Beschreibungen auch der verbundenen Institutionen und der Kollaborateur_innen einen vertiefenden Eindruck der Entstehungszusammenhänge. 2015/16 fand über den Zeitraum von zwei Jahren die große Überblicksschau zum Projekt – die International Village Show – in der Galerie für zeitgenössische Kunst in Leipzig (GfzK) statt. In insgesamt acht Etappen wurden immer zwei Regionen oder Dörfer aus zwei Ländern, z.B. aus Irland
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Der International Village Shop nahm seinen Anfang 2007 als gemeinsames Projekt von Myvillages (DE/NL/UK), public works (UK) und Grizedale Arts (UK).
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
und Russland, zusammengebracht, mit denen Myvillages Produkte entwickelt hat. Im eigens umgebauten Gartenhaus der GfzK entstand ein Ladengeschäft, in dem die Waren aus ruraler Produktion zusammen mit Filmen und Installationen der Künstlerinnen zu ihren Aufenthalten gezeigt wurden. Die acht Eröffnungen waren meist begleitet von typisch regionalem Essen der jeweiligen Schwerpunktländer. Einige der Beteiligten waren anwesend und mit Beiträgen künstlerischer oder kulinarischer Art beteiligt. Durch die bewusste Vermischung der Artefakte und der präsentierten kulturellen Praxen unterschiedlicher geografischer Hintergründe wurde insbesondere die Internationalität des Ländlichen sichtbar gemacht. Ländliche Kultur wurde hier nicht als Besonderheit der eigenen Heimat gezeigt, sondern in seiner internationalen Vielfalt, mit der dann Produkte aus dem irischen Ballykinlar auf solche aus dem russischen Zvizzchi trafen.
Relationale Bezüge bei Myvillages Die Kunsthistorikerin und Kuratorin Barbara Steiner verweist in einem Text anlässlich des zehnjährigen Bestehens von Myvillages 2011 auf die Verknüpfungen, die in der Arbeit von Myvillages hergestellt werden, vor dem Hintergrund der enormen Veränderungen des ländlichen Raumes zu Zeiten der Globalisierung.173 Steiner sieht in den von Myvillages produzierten Verbindungen zwischen den Orten, aber auch in den temporären Produktionsgemeinschaften eine Entsprechung der sozialen Situation in ländlichen Regionen. Neben der Andersartigkeit ländlicher Kultur wird die Einebnung von Stadt und Land vor dem Hintergrund einer globalen Ökonomie sichtbar, die auch konkrete Auswirkungen auf das Leben der Menschen, insbesondere auf die Gemeinschaftlichkeit, hat. Steiner verweist auf die veränderten sozialen Lebensbedingungen von Menschen im ländlichen Raum, die aufgrund der sozialen Medien und der Mobilität zwar längst nicht mehr nur die Kontakte in der direkten Nachbarschaft pflegen müssen, jedoch aufgrund fehlender Begegnungsmöglichkeiten vor Ort auch kaum pflegen können. Denn Daseinsvorsorge wird in den entleerten Orten teils nur noch von mobilen und eingeschränkt verfügbaren Institutionen geleistet, so wie der Bus, der nur auf Anfrage kommt, oder der Bäcker, der mit seinem Wagen zweimal die Woche
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Barbara Steiner, »Closeness and Distance«, in: Jubiläumsschrift Myvillages, 2013.
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Halt macht. An diese Beobachtungen anknüpfend, erscheint der International Village Shop entsprechend auch nur nach Bedarf und an Orten erhöhter Besucherfrequenz: in der Dorfkneipe, beim Dorffest, im Lebensmittelladen mit Öffnungszeiten, die von einer Stunde bis zu täglich reichen. Die Vielfalt der Gemeinschaften, die Myvillages dabei nach Steiner hervorbringen, ist wesentlicher ein Aspekt der künstlerischen Arbeit, jedoch, wie ich meine, nicht deren eigentliche Pointe. Wenn Kathrin Böhm von Myvillages über die International Village Show als eine Öffnung der Kunst gegenüber dem ländlichen Raum und seinen Bewohner_innen schreibt, dann wird hier vielmehr deutlich, dass das Interrelationale nicht nur den partizipativen Teil betrifft, sondern die Verbindung von Kunst und Land generell: Myvillages kommt aus der Kunst, und die International Village Show eröffnet bewusst einen Raum in ›unsere Kunstwelt‹, der offen steht und von denjenigen betreten und besucht werden kann, deren ländliche Räume wir normalerweise besuchen und benutzen.174 Die angesprochenen Gemeinschaften bilden damit allenfalls einen Teil einer von Myvillages gebildeten Struktur. Hier werden Zusammenhänge geschaffen, anhand derer die Unterschiede zum Ort der Reflexion werden. Besonders die Unterschiedlichkeit von Kunst und ländlichem Produkt bietet dabei einen besonderen Moment der Aufmerksamkeit. So beschreibt Böhm die Unterschiedlichkeit der in der Show zusammengeführten Dinge, Menschen und Tätigkeiten auch explizit: »Die International Village Show ist der Ort, an dem Sauerkraut und Malerei, Tongrube und Konzeptkunst, Künstlerinnen und Bauern einander begegnen und es bleibt allen überlassen, wie lange sie dabei sein wollen.«175 Mit der Gleichsetzung von Kunstprodukt und Haushaltsprodukt, von Ausstellung und Laden, von Künstler_innen und Nicht-Künstler_innen sowie von Betrachtenden und Teilnehmenden wird hier schließlich auch die Institution Kunst infrage gestellt. Das spiegelt sich auch im Katalog zur Ausstellung, dem ersten umfassenden Katalog zur Arbeit von Myvillages überhaupt. Die in Aufsätzen, Interviews, Kommentaren, Gesprächs- und Gedankenaufzeichnungen angesprochenen Themen sind
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»Rural Art Space«, Gespräch zwischen Francien van Westrenen und Kathrin Böhm, in: Myvillages, Stiftung Galerie für zeitgenössische Kunst Leipzig (Hg.), International Village Show, Ausst.-Kat. Galerie für zeitgenössische Kunst Leipzig, Berlin 2016, S. 216-219, hier S. 219. Kathrin Böhm, »Everyday Artspace«, in: Ebd., S. 74-77, hier S. 77.
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Konzeptkunst, Partizipation, Urheberschaft, Angewandte Kunst, Design und schließlich Institutionskritik.
Zur Ortsspezifik der Neuen Dorfwaren Mit der räumlichen Verbindung sind die Neuen Dorfwaren, auch wenn sie im Laden oder in der Show feilgeboten werden, deutlich im Kontext ihrer Ortsspezifik zu betrachten. Durch die Geschichten und das Wissen, das durch die Teilnahme der Menschen vor Ort, durch die lokale Bevölkerung (oder Belegschaft) in die Entwicklung fließt, bekommen die Neuen Dorfwaren ihren jeweiligen örtlichen und authentischen Bezug. Diese Authentizität erscheint als ganz spezifische und in der Kollaboration herausgearbeitet. Sie bescheinigt den Orten eine Besonderheit, die mitunter auch an regionale Vermarktungsstrategien für Tourismus erinnert und damit an ökonomische Strategien, die sich nach dem Ende der traditionellen Landwirtschaft anbieten. Im künstlerisch angeleiteten Prozess entstanden und im Kontext eines kulturellen Projekts angeboten sind die Neuen Dorfwaren Teil eines Kunstwerks, ohne dass sie selbst als Kunst zu charakterisieren wären. Der Einzigartigkeit als Kunstwerke stehen sie in ihrem Charakterzug als Ware, aber auch als von Nicht-Künstler_innen hergestellte Produkte entgegen. Dass dies ein Spiel ist, das Myvillages wiederholt anwenden, wird auch anhand folgender Anekdote einer Präsentation auf der Frieze Art Fair deutlich, wo Myvillages mit einer Schnaps- und Getränkebar vertreten waren. Antje Schiffers beschreibt, dass es einen Kaufinteressierten gab, der vor der Wahl stand, einen edlen Tropfen aus der Destillerie eines bekannten Kunstbuchhändlers mit Künstleretikett für 80 Euro zu erwerben oder aber den selbstgebrannten Schnaps eines Bauern, abgefüllt in einer wiederverwerteten Plastikflasche, für denselben Preis (für die er sich schließlich entschied). Hier wird das Anliegen von Myvillages deutlich: Mit welchen Differenzen wird Kunst produziert, welche Orte dürfen darin vorkommen, und welche Wertigkeiten entstehen?176 Als Site-specificity wird die Verbindung von Kunst mit dem sie umgebenden Ort, ob institutioneller oder außer-institutioneller Art, bezeichnet.177 176 177
Antje Schiffers, »Schnapsbar«, in: Ebd., S. 222-223, hier 223. Die Begriffe des Orts und der site lassen sich jedoch unterscheiden. Während der eine eher die geografische Begebenheit markiert, bezeichnet der andere einen erweiterten
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Sie lässt sich als künstlerischer Kommentar zum modernistisch abgeschlossenen Kunstwerk bezeichnen, das sich etwa im öffentlichen Raum als sogenannte Drop-Sculpture zeigt, das heißt als Skulptur, die an jedem beliebigen Ort aufgestellt werden kann.178 In ihrer Autonomie grenzt diese sich derart vom sie umgebenden Raum ab, dass sich eine klare Trennung zwischen Kunst und Realität ergibt. Mit der Durchlässigkeit dieser Grenzen in den 1960erund 1970er-Jahren in räumlicher und materieller Hinsicht thematisierten die Künstler_innen auch die Vermarktung von Kunst und Künstler_innen in einer ersten Welle, von der amerikanischen Kunsthistorikerin Miwon Kwon als »phänomenologisch« bezeichneter Site-specificity, die sie gefolgt sieht von der »sozial/institutionellen« und der »diskursiven«.179 So wurde in der Minimal Art, die der ersten Welle von Site-specific Art nach Kwon zuzurechnen ist, mit Materialien gearbeitet, die gänzlich dem Diktum einer modernistischen Kunstproduktion: Einzigartigkeit, Authentizität und künstlerische Fertigkeit, widersprachen. Zum Einsatz kamen hier vornehmlich industriell gefertigte Teile und Materialien.180 Im viel zitierten Satz von Richard Serra: »To remove the work is to destroy the work«, wird deutlich, dass die Site-specificity dieser Werke sie derart an den Ort ihrer Existenz bindet, dass dies auch (negative) Folgen für ihre Vermarktbarkeit hat.181 Auch die Land Art, die die institutionalisierten Räume, die Museen und Galerien verließ und die Dimensionen des Vermarktbaren in Größe und Material in ihren Werken überschritt, wird als eine institutionskritische Haltung bestimmt.182 In einer zweiten Phase, und relativ unbestimmten Ort, womit er, wie Nina Möntmann bestätigt, die Bezugnahme der Kunst meist treffender beschreibt. Vgl. auch Nina Möntmann: Kunst als sozialer Raum, Köln 2002, S. 12f. 178 Der Kunsthistoriker Jean-Christophe Ammann in seinem viel zitierten Artikel»Plädoyer für eine neue Kunst im öffentlichen Raum«, Parkett, Nr. 1, 1984. 179 Vgl. auch Miwon Kwon, One Place after the other, Massachusetts 2002. Eine Zusammenfassung dieser Genealogie findet sich auch bei Sönke Gau, Institutionskritik als Methode. Hegemonie und Kritik im künstlerischen Feld, Wien 2017, S. 118ff. 180 Crimp spricht von einer »Social specificity of its site«, wenn er beschreibt, dass Serra seine anlässlich der Documenta produzierte Skulptur im Ruhrgebiet und damit am Ort der Stahlproduktion selbst realisiert sehen wollte. Vgl. Douglas Crimp, »Redefining Site Specificity«, in: Hal Foster, Gordon Hughes, Richard Serra, Massachusetts 2001, S. 153. 181 Ebd., S. 148. 182 Tatsächlich kann man zwar von einem Verlassen der Orte zum Zweck der Herstellung sprechen, jedoch wurden die Arbeiten in dokumentierter Form sehr wohl in Galerien gezeigt und verkauft.
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»sozial-institutioneller« Site-specificity, für die der Künstler Hans Haacke ein prototypisches Beispiel ist, geraten neben den räumlichen Begebenheiten der Kunstinstitutionen auch die sozialen und ökonomischen Bedingungen von Kunstproduktion, -präsentation und -rezeption in den Fokus. Für die dritte, von Kwon als »diskursiv« ausgemachte Phase der Institutionskritik stehen künstlerische Arbeiten von u.a. Mark Dion, Andrea Fraser und Christian Phillip Müller, die durch Performances ephemeren Charakters Orte kreieren, »durch die Produktion von diskursiven Inhalten, die anschließend in Beziehung zu bereits diskursiven Formationen gesetzt würden«.183184 Kwon reflektiert und hinterfragt in ihrer Publikation in Bezug auf diese Künstler_innen und die vorhergehende Generation den Begriff bzw. die Wirkung einer Sitespecificity: What is the status of traditional aesthetic values such as originality, authenticity und uniqueness in site-specific art, which always begins with the particular, local, unrepeatable preconditions of a site, however it is defined? Is the prevailing relegation of authorship to the conditions of the site, including collaborators and/or reader-viewers, a continuing Barthesian performance of the »death of the author« or a recasting of the centrality of the artist as a »silent« manager/director? Furthermore, what is the commodity status of anti-commodities, that is, immaterial, process-oriented, ephemeral, performative events? While site-specific art once defied commodification by insisting on immobility, it now seems to espouse fluid mobility and nomadism for the same purpose. Curiously, however the nomadic principle also defines capital and power in our times.185 Von Kwon hervorgehoben wird hier die Autorschaft der Kunst, die sich in den neuen Arbeiten als kollaborative zeigt und die Künstler_innen zu Manager_innen macht. Auch Myvillages stellen sich, durch die Einbeziehung von Dorfbewohner_innen (oder anderer lokal Angesprochener) in die Entwicklung der Idee, dem Konzept der traditionellen künstlerischen Autorschaft entgegen,
Sönke Gau, Institutionskritik als Methode. Hegemonie und Krtik im künstlerischen Feld, Wien 2017, S. 120. 184 Es sei erwähnt, jedoch hier nicht weiter bearbeitet, dass sowohl Christian Phillip Müller als auch Hans Haacke sich, wenn auch nicht unbedingt in den als institutionskritisch bezeichneten Arbeiten, immer wieder mit landwirtschaftlichen Prozessen und Vorgehensweisen beschäftigt haben. 185 Miwon Kwon, One Place after the other, Massachusetts 2002, S. 31. 183
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das sie ohnehin schon durch den mehrperspektivischen Autor_innenstatus als Künstlerinnengruppe aufgeweicht haben. Die Künstlerinnen nehmen hier Funktionen ein, die das Projekt konzipieren, anleiten, durchführen – dabei wird ihre Künstler_innenpersönlichkeit gekoppelt mit ihrer Persönlichkeit als ehemalige Dorfbewohnerinnen, die heute aus London, Rotterdam und Berlin auf die Begebenheiten blicken. Gleichzeitig fragt Kwon vor dem Hintergrund eines Wandels im Verständnis von Site-specificity auch nach deren Bedeutung für die angesprochenen Themen der Vermarktung von Kunst. Zeigt sich in der Beweglichkeit von Ortsspezifik in den Arbeiten der 1990er-Jahre scheinbar gerade die umgekehrte Haltung dieser Kunst zu ihrer Vermarktung: Während sich Serras Arbeiten in ihrer Ortsspezifik und damit verbundener Unbeweglichkeit einer Verkäuflichkeit widersetzen, beansprucht die Kunst der 1990er-Jahre mit einer beweglich gewordenen Ortsspezifik das Gleiche, entspricht damit jedoch den flexiblen Anforderungen des kapitalistischen Systems mehr, als dass sie ihnen entgegensteht. Während Serras Arbeit bei dem Vorhaben, sie zu bewegen, durch den Verlust der Ortsspezifik zerstört würde, entziehen sich Arbeiten der 1990er-Jahre durch ihre Beweglichkeit zwar der Verkäuflichkeit, entsprechen jedoch dem Anspruch des Markts sehr wohl. In den Waren von Myvillages ist nun jedoch sowohl Ortsspezifik als auch Beweglichkeit als auch Verkäuflichkeit angelegt. So ruft die Ortsspezifik in den Produkten explizit die Vermarktbarkeit des Ländlichen, der jeweiligen Orte und Regionen auf. Und widmet sich so, durch die Repräsentation der ländlichen Orte als geografische Orte in den Produkten, gerade dem Handgemachten und nicht den Arbeitsmethoden einer Servicegesellschaft, wie die bezeichneten Projekte der 1990er-Jahre.186 Auch Nina Möntmann nimmt die 1990er-Generation in ihrer Untersuchung Kunst als sozialer Raum (2002) zum Anlass einer Revision von Ortsspezifik in der Kunst. Sie sieht in der Entwicklung der Raumkonzeptionen in der Kunst der 1990er-Jahre jedoch vielmehr eine notwendige Abkehr von Konzepten der Site-specificity. Der Entwicklung in den 1990er-Jahren liegt ihrer Meinung eine andere Betrachtung von Ort in seiner kulturellen Prägung, auch vor dem Hintergrund des Internets als neuer Möglichkeit der räumlichen Verbindungen, zugrunde, weshalb sie auch bevorzugt von einer »Orts186
Miwon Kwon beschreibt das Beweglich-Sein einer Kunst der »Wanderkünstler« in den 1990er-Jahren auch als ein Aufzeigen des Wechsels einer Produktion von (handwerklicher) Kunst zu einem Anbieten von Service. Ebd., S. 50.
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bezogenheit« spricht. Während das Verständnis von Raum und Ort in den 1970er-Jahren von den Disziplinen Geografie und Urbanistik geleitet war, so sieht sie es in den 1990er-Jahren durch die Disziplinen der Ethnologie und der Medienwissenschaften kulturwissenschaftlich geprägt.187 Sie schreibt: Mit der Situation des Postkolonialismus, der weltweiten Migration, der sublimierten Ost-West-Polarisierung und des World Wide Web sehe ich eine Verschiebung der Funktionen von Orten: Die Fragestellungen kreisen nicht mehr um Werte wie Authentizität und Originalität, sondern um den Ort in seiner Relation zu anderen Orten, um die Kommunikation und den Austausch von Orten.188 Tatsächlich nutzen Myvillages Ortsbezogenheit in diesem relationalen Verständnis, um den ländlichen Raum in seiner Dimension, aber auch in den Möglichkeiten einer neuen Vernetzung von verschiedenen ländlichen Räumen zu betrachten. Jedoch rufen sie anhand der eigenen Arbeit auch den institutionskritischen Ansatz der Ortsspezifik auf. So versuchen die Künstlerinnen nicht, sich mit einem formalen Austritt aus den Strukturen gegen eine etwaige Verwertung durch die Kunstinstitutionen zu wehren. Im Gegenteil, die von ihnen angebotenen Werke erscheinen bereits als Waren und stehen ganz dezidiert zum Verkauf innerhalb der geschaffenen Ladenstruktur, die lebensweltlich gezeichnet ist. Die Strategien finden Eingang in ein vielschichtiges Kunstwerk, nicht, um schlicht Partizipation zu ermöglichen oder Ortsbezogenheit herzustellen, sondern um anhand ihrer die Verbindung der Kunst mit dem ländlichen Raum zu reflektieren. Dieses findet als außerinstitutionelles Konstrukt Eingang in den Kunstraum, der ihm nicht entgegensteht, sondern sich – man denke an Kathrin Böhms Worte einer »Öffnung des Kunstraums« – mit ihm im Internationalen Dorfladen verbindet
Der Internationale Dorfladen als Institution Während andere in diesem Kapitel besprochene Arbeiten aus einem außerund einem innerinstitutionellen Teil bestehen, teilt sich das Projekt von Myvillages so denn auch nicht in einen aktiven Teil und einen dokumentarischen,
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Nina Möntmann, Kunst als sozialer Raum, Köln 2002, S. 44. Ebd.
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sondern besteht aus zwei miteinander verwobenen Teilen: einer Produktionsebene und einer Präsentations-/Verkaufsebene. Der Umstand, dass Myvillages eine Form entwickeln, in der Präsentation und Repräsentation zusammenfallen, wirft einmal mehr ein Licht auf das Verhältnis der Künstlerinnen zur Institution: Der Laden selbst wird als Institution ausgestellt und damit alle daran geknüpften Verbindungen zwischen den Künstlerinnen und den Expert_innen, den Orten, den Künstler_inneninitiativen und auch den Rezipient_innen im Kunstraum. Besucher_innen einer Ausstellung kommt schließlich in der Begegnung mit einem Internationalen Dorfladen eine andere Rolle zu als die von Betrachter_innen, wenn sie durch die verkäuflichen Produkte als Konsument_innen angesprochen werden. »Wer ist mein Publikum?«, fragt Wapke Feenstra von Myvillages so denn auch und verweist auf die partizipative Öffnung, die an verschiedene Stellen in der Arbeit von Myvillages angelegt ist.189 Für die Kuratorin Francien van Westrenen erscheint Myvillages so denn auch als eine »eigene Struktur, in der ausgestellt, produziert, veröffentlicht, verknüpft und gedacht wird – genau das, wofür Ausstellungsräume verantwortlich sind«.190 Kathrin Böhm von Myvillages beschreibt die Künstlerinnengruppe selbst als Institution und spricht von einem »ländlichen Kunstraum«, wenn sie Myvillages beschreibt.191 Tatsächlich haben die Künstlerinnen mit Myvillages eine Struktur entwickelt, die unabhängig von der Kunstinstitution funktioniert und sie dennoch immer mitdenkt. Wenn sie den ländlichen Raum und seine Realitäten als Teil einer globalisierten Welt verhandeln, so tun sie dies in Bezug auf die eigene Verfasstheit und auf das eigene System, nämlich das der Kunst. Hier trifft zu, was Möntmann zu den ortsbezogen arbeitenden Künstler_innen der 1990er-Jahre als erweitertes öffentliches Interesse beschreibt, das durch seine Positionierung in den eigenen Rahmenbedingungen mehr politische Kraft entfalten kann als in einem Einsatz ganz außerhalb der Kunst:
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Man könnte auch sagen, dass es verschiedene Schichten und Ebenen von Partizipation gibt. Wir machen Ausstellungen, beteiligen uns an Festivals, publizieren Bücher […].«, »Conceptual Art«, Gespräch zwischen Ronal Van de Sompel und Wapke Feenstra, in: Myvillages, Stiftung Galerie für zeitgenössische Kunst Leipzig (Hg.), International Village Show, Ausst.-Kat. Galerie für zeitgenössische Kunst Leipzig, Berlin 2016, S. 43. 190 »Rural Art Space«, Gespräch zwischen Francien van Westrenen und Kathrin Böhm, in: Ebd., S. 216-219, hier S. 219. 191 Ebd., S. 217.
3. Kunst im Medium Landwirtschaft
Die Künstler arbeiten mit einem erweiterten Begriff des öffentlichen Interesses, indem sie dieses mit den Fragestellungen innerhalb des ›Betriebssystems Kunst‹ verknüpfen. Dadurch funktionalisieren sie ihre eigene Position nicht in einem anderen Feld, sondern stellen ihre gegebenen Rahmenbedingungen mit in Frage. Die eigene Lokalisierung im Kunstbetrieb wird also nicht ignoriert, sondern in ihrer parallelen Ausrichtung erkannt und mit den Fragestellungen des Öffentlichen verschaltet. Es klingt paradox, aber gerade durch dieses ›Framing‹ des eigenen Standorts kann in der Kunst eine Position formuliert werden, die a priori politischer ist als diejenige der Aktionen, die ihre Rahmenbedingungen scheinbar hinter sich lassen und nicht unmittelbar als Kunst erkennbar in Erscheinung treten.192 Indem sich Myvillages dem Land, seinen Bewohner_innen und deren Geschichten öffnen, verweisen sie auf die Beschränktheit der Weltbetrachtung generell und des Kunstsystems im Besonderen. In den Neuen Dorfwaren vereinen sich räumliche und kulturelle Besonderheiten der internationalen Orte, die durch den partizipativen Einsatz der Ortsansässigen die Produkte vorderhand authentisch prägen. Die Vielzahl und Unterschiedlichkeit der Produkte zeigt auch die kulturelle Vielfalt des Ländlichen. Die ländlichen Orte und ihre Bewohner_innen geraten durch ihre Präsenz in den Mittelpunkt der Arbeit und weisen so vor allem auf ihre Nicht-Präsenz in der Kunstwelt hin. Das Verständnis eines ländlichen Raums, der dem Kunstsystem als fremder, kulturloser Ort entgegensteht, an dem Kunst nicht produziert und rezipiert wird, sondern allenfalls Produkte hergestellt werden, stellen Myvillages damit infrage. Neben die Stadt und ihre unendlichen Möglichkeiten stellen sie das Land mit seinem (Kultur-)Angebot. Entsprechend fragen sie auf der Internetseite: »What is more fun? Talking about the latest visit in a club in London or that your uncle has slaughtered a pig?«193 Im Changieren zwischen Kunst und Ware, zwischen Stadt und Land, entfaltet sich das Potenzial der Arbeit, das schließlich in einer Form der Institutionskritik mündet: der Sichtbarmachung des (marginalisierten) Verhältnisses der Kunst zum ländlichen Raum.
192 193
Nina Möntmann, Kunst als Sozialer Raum, Köln 2002, S. 46f. www.myvillages.com, Zugriff 18.07.2017.
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Zusammenfassung/Fazit
Dieser Arbeit geht es um zweierlei: der Bestimmung eines herausragenden Themenfeldes der Kunst, das sich seit den 2000er-Jahren formuliert, und einer differenzierten Untersuchung dieser thematischen Annäherung anhand der formalen Erscheinungen der Kunstwerke. Nicht nur, dass die Landwirtschaft als Thema der Kunst aktuell bedeutend ist, sondern auch, wie sie es ist, soll gezeigt werden. Dabei stellt sich bei allem Realitätsbezug der hier vorgestellten Kunst auch die Frage nach deren gesellschaftlich-politischer Dimension. Im ersten Kapitel dieser Arbeit wurden unter der Überschrift Bilder der Landwirtschaft und Landwirtschaft als Bild – Zwei Positionen der 1970er-Jahre zur Einführung zwei Arbeiten nebeneinander gestellt: Heinrich Riebesehls Fotoserie Agrarlandschaften zeigt Landwirtschaft in einem gravierenden Moment ihrer Veränderung in den 1970er-Jahren. Dafür nähert er sich dem Sujet im ›dokumentarischen Stil‹ in Anlehnung an Walker Evans, das heißt in einem distanzierten und mehrperspektivischen Zugriff, bei dem auch die Rezeption der Bilder bereits angedacht ist. Obwohl den Wirklichkeit wiedergebenden Interessen der Dokumentarfotografie folgend, wird in Agrarlandschaften bereits eine Beschäftigung mit Fragen nach der Darstellbarkeit von Landschaft und Landwirtschaft und der Bedeutung ihrer Repräsentationen sichtbar. Mit Bonnie Ora Sherks Crossroads Community (The Farm), einem Environmental-Art-Projekt, das als städtischer Bauernhof unter Beteilugung von Menschen und Tieren angelegt war, wurde eine Position vorgestellt, die sich auf den ersten Blick abkehrt von Fragen der Repräsentation, da sich das formale Konstrukt Bauernhof‹ übertragen auf eine städtische Brache vielmehr als partizipativer Erfahrungsraum anbot. Dabei markierte die Rahmung durch die umgebenden Autobahnen mit der Grenzziehung zwischen dem urbanen und dem ruralen Raum gleichzeitig auch die Grenze zwischen Kunst
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Kunst und Landwirtschaft
und Nicht-Kunst und rückte das Verhältnis des Menschen zur Natur in den Blick. In den beiden formal derart unterschiedlichen Arbeiten mit Landwirtschaftsbezug drücken sich so paradigmatische Beschäftigungen der Kunst der 1970er-Jahre aus, die mit den außerkünstlerischen Bezügen auch den Bedingungen der Kunst, etwa ihrer Formate, ihrer Produktion und ihrer Präsentationen, eine Sichtbarkeit geben. Die eine Position legt die Konstruktionen von Repräsentationen von Landwirtschaft offen und führt sie einer Neubestimmung zu. Die andere Position schafft einen landwirtschaftlich nutzbaren und zur Partizipation geöffneten Ort in der Stadt jenseits der Kunstinstitution. Wenngleich die lebensnahe Form des Projekts den Blick auf die Autonomie der Kunst lenkt, eröffnet dieses in seiner metaphorischen Erscheinung und Bezeichnung als Bauernhof (The Farm) auch Bezüge zu Fragen der Repräsentation, die durch die Installation für den Ausstellungsraum unterstrichen werden. Obwohl Riebesehls und Sherks Arbeiten weit vor dem Jahrtausendwechsel realisiert wurden, weisen sie damit Marker auf, die sich in aktuellen Arbeiten mit Landwirtschaftsbezug nach 2000 fortsetzen oder konkretisieren. Anhand der beiden Annäherungen an die Landwirtschaft strukturiert sich so der Blick auf die aktuellen Beispiele, woraus sich die folgenden Kapitel Landwirtschaft im Medium Kunst (Kapitel 2) und Kunst im Medium Landwirtschaft (Kapitel 3) ableiten lassen. Die in Kapitel 2, Landwirtschaft im Medium Kunst, vorgestellten sechs Beispiele beschäftigen sich, in der Tradition Riebesehls, mit Bildern und Darstellungen von Landwirtschaft, wobei hier unter der Bezeichnung Bild auch Vorstellungen von Landwirtschaft eingeschlossen sind. Auch wenn dokumentarische Verfahren die Werke beherrschen, nähern sie sich den Phänomenen der Landwirtschaft kaum mit dem Interesse der dokumentarischen Wiedergabe, sondern unterziehen vielmehr den Umgang mit der Darstellung und Imagination von Landwirtschaft einer kritischen Betrachtung. In den Untersuchungen von dokumentarischen Realitätszugriffen treten die daran gebundenen Subjektivitäten und Heteronomien, ihre Abhängigkeit von Präsentation und Rezeption in den Blick. Landwirtschaft, das lässt sich für die in Kapitel 2 behandelten Werke festhalten, wird hier in ihrer Vermitteltheit vorgestellt. Dabei wird Bildproduktion als kulturelle Praxis der Vermittlung generell hinterfragt – wie bei Schiffers/Sprenger –, werden politische Bildideologien, so des Sozialismus – wie bei Łukasz Skąpski und Åsa Sonjasdotter –, sichtbar gemacht sowie Fragen
Zusammenfassung/Fazit
der Repräsentation – wie bei Kristina Leko – bis zu den historischen Avantgarden zurückgehend aufgerufen. Doch Landwirtschaft wird auch als Sujet der Kunst und wiedergegeben in den entsprechenden Medien wie dem Kunstkatalog vor dem Hintergrund ihrer räumlich-kulturellen Bedeutung – wie bei Myvillages – oder – wie bei Tue Greenfort – mit Verkaufsbildern aus dem Internet in ihren aktuellsten Repräsentationsformen betrachtet. Als Sujet mit großem Potenzial für (kunst-)historische, künstlerische wie emotionale Reflexionen bietet Landwirtschaft dabei vielfältige Anknüpfungspunkte, die sich in den einzelnen Aspekten der jeweiligen Kapitel reflektieren. Dabei weisen einige der aktuellen Herangehensweisen deutliche Bezüge zu verschiedenen künstlerischen Traditionen und Strategien des vergangenen Jahrhunderts auf: von den Vorstellungen einer Aufhebung der Kunst im Leben in der Russischen Avantgarde über die ideologisch geprägten Darstellungen im Sozialistischen Realismus bis zur Appropriation als Mittel der kritischen Revision. Das erklärt auch, warum in den Arbeiten historische Anleihen aufblitzen, die fälschlicherweise als Zugang zum Thema wahrgenommen werden können. Wenn die Arbeiten mit landwirtschaftlichen Darstellungen hier auf eine Aktualisierung des Landwirtschaftsbildes und seiner Wahrnehmung abzielen, so tun sie dies meist in Bezugnahme auf bereits bekannte und vertraute Bilder. Ebenso wie bei Riebesehl – dessen Arbeit sich noch vom romantischen Landschaftsbild beeinflusst zeigt – bleiben die Referenzen sichtbar. Im Unterschied zur ausgemachten beiläufigen Repräsentationskritik bei Riebesehl zeigen sich die aktuellen Arbeiten durch die aufgerufenen Verfahren und Hintergründe deutlicher von Kritik geprägt. Stand bei Riebesehl noch die Dokumentation der Agrarlandschaften im Vordergrund, werden dokumentarische Vorgehensweisen und ihre Ergebnisse heute immer schon im Wissen um eine daran festzumachende Repräsentationskritik benutzt. Kritik formuliert sich in diesem selbstreflexiven Dokumentarismus anhand der Zugriffe bewusst vor den Bedingungen des eigenen Feldes: den Verfahrensweisen künstlerischer (Bild-)Produktion, Präsentation und Rezeption. Die teils dennoch neu entstehenden Dokumente sind hier eher als Nebenprodukte zu verstehen, wie beispielsweise das Archiv an Filmen über Landwirtschaft in den 2000er-Jahren im Projekt Ich bin gerne Bauer und möchte es auch gerne bleiben von Antje Schiffers und Thomas Sprenger. Über die Reflexion von Repräsentationen von Landwirtschaft gestern und heute schaffen die Arbeiten eine differenzierte Aufmerksamkeit für die Vermitteltheit der Welt und provozieren damit eine Neubestimmung des Verständnisses von Landwirtschaft und deren Bedeutung.
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Kunst und Landwirtschaft
In Kapitel 3, Kunst im Medium Landwirtschaft, gestaltet sich die Annäherung an die Landwirtschaft durch die Kunst direkter, indem für die Arbeiten oder Projekte selbst landwirtschaftliche Methoden verwendet oder vorgeführt werden. Das Kapitel gibt, ausgehend von Bonnie Ora Sherks Crossroads Community (The Farm), einen Eindruck, wie in partizipativen künstlerischen Formaten bekannte Vorgehensweisen, Strukturen und Organisationsformen des Außerkünstlerischen zitiert werden. Die Projekte, die auf den Stadt- bzw. Landraum entgrenzt sind, erscheinen entsprechend in lebensweltlich vertrauten Formaten als lokales Produkt, als Dorfladen, als Schäferschule, als landwirtschaftliches Leben oder als Suppenküche. In den landwirtschaftlich orientierten Werken in Kapitel 3 lässt sich nicht nur formal, sondern auch begrifflich – man denke an die ›Social Landart‹ von Insa Winkler oder an die Ortsbezogenheit bei Myvillages – ein Bezug zu bekannten Strategien und Problemfeldern der in den Raum entgrenzten Kunst der 1960er- und 1970-Jahre ausmachen. Wie bei der Environmental und Land Art wird das Verhältnis der Kunst zum sie umgebenden Raum in den Blick genommen, wobei bereits bekannte künstlerische Zugänge in Anlehnung mitreflektiert werden. Die in die realen Strukturen eingebetteten partizipativen Arbeiten bieten damit tatsächlich Teilhabe und Selbstermächtigung der Beteiligten. Sie versinken jedoch nicht schlicht in Lebensrealität – das wird unter Berücksichtigung der Performancetheorie deutlich –, sondern sie müssen in ihrer ästhetischen Differenz zum Leben verstanden werden. Immer reflektieren sie sich auch vor dem Hintergrund des Systems ›Kunst‹, was durch den Umstand unterstrichen wird, dass es von allen diesen Werken Formate gibt, in denen sie auch im Ausstellungsraum in Aufführung kommen. Mit den eingegangenen Verhältnissen zwischen Kunst und Nicht-Kunst geraten auch die eingenommenen außerkünstlerischen Strukturen und ihre Bedingungen in den Blick. Die Performancetheoretikerin Shannon Jackson greift für die von ihr betrachteten ›Social Works‹ den Begriff des ›Support‹ als Produktionsgrundlage von Kunst auf, den sie als bedeutend für die Sichtbarmachung der Träger sieht, auf die die Kunstwerke auch außerhalb der Kunst in ihrer thematischen und formalen Struktur verweisen.1 Mit dem Verweis
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Unter ›support‹ kann man das Trägermaterial verstehen, mit dem Kunst hergestellt wird, das von der Leinwand bis zu vielen Menschen reichen kann, das sich in der Gegenwartskunst sogar auf ein ganzes Trägersystem ausgeweitet hat. Shannon Jackson, Social Works. Performing Art, Supporting Publics, New York 2011, S. 32f. Unter Support fasst Jackson auch die sozialen Infrastrukturen, die die Gesellschaft stützen. Ebd. S. 39.
Zusammenfassung/Fazit
auf das Vorgehen von Minimal Art und Brecht’schem Theater, die Bedingungen ihres Bestehens offenzulegen, versteht Jackson als Social Practice eine Kunst, die neben den eigenen Strukturen auch die stützenden Strukturen der Gesellschaft reflektierbar macht: Joining the artistic impulse to »expose the support« inherited from Duchamp and Minimalism in visual art and from Bertolt Brecht in theatre with the vexing question of the role of »support« in globalizing social welfare models, I consider social practices that provoke reflection on the supporting infrastructures of both aesthetic objects and living beings.2 Die in der Kunst hergestellten Formate, in ihrer Anlehnung an existierende soziale und politische Vorbilder, unterstützt aus den dazugehörigen finanziellen Mitteln, verweisen so reflexiv auch auf die realpolitischen Instrumente und Möglichkeiten.3 Über die Trägermedien der Projekte geraten damit sowohl die künstlerischen als auch die sozialen Systeme in den Blick: das heißt hier mit den Bedingungen der Kunst auch die des angesprochenen Außen, der Landwirtschaft und des ländlichen Raums. Das betrifft auch die Rolle der Betrachtenden, die immer wieder als Handelnde oder Konsumenten angesprochen werden. Nach Erika Fischer-Lichte lässt sich in den Grenzüberschreitungen der Performancekunst ihr wesentlicher Charakter ausmachen, »zwischen Kunst und Nicht-Kunst, zwischen Hochkultur und populärer Kultur etc«.4 Diese Reihe kann mit Blick auf die künstlerischen Projekte in Kapitel 3 um die Dichotomien Stadt und Land sowie Kultur und Natur ergänzt werden.
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4
Ebd., S. 39. Bezüglich der künstlerischen Positionen in Kapitel 3 ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass keine_r der Künstler_innen bzw. Künstler_innengruppen durch eine Galerie vertreten ist, sondern Kunst mit Unterstützung durch öffentliche Mittel realisiert wird, die meist, aber nicht immer, aus dem Kulturbereich stammen. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004, S. 356.
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Kunst und Landwirtschaft
Kunst und Landwirtschaft als Reflexion eines zeitgenössischen Naturverständnisses Landwirtschaft beschreibt einen Umgang mit Natur, der Kulturlandschaft entstehen lässt.5 Damit ist Landwirtschaft behandelnde Kunst in der Tradition der Landschaftskunst stets auch Teil einer Bestimmung des Verhältnisses von Mensch und Natur. In der Landwirtschaft zeigen sich Natur und Kultur miteinander verstrickt, und zwar unter ganz offensichtlicher Beteiligung des Menschen, worauf auch die in Kapitel 3 angesprochenen Bezüge zu den Konstruktionen der Land Art hindeuten. Dabei sind die Arbeiten nicht an der Dialektik von Natur und Kultur wie in der Land Art interessiert,6 sondern ihr Schwerpunkt liegt auf der einseitigen Bearbeitung dieser Dialektik, der »kulturelle[n] Vermitteltheit der Natur«.7 An den besprochenen Kunstwerken lässt sich so ein Natur-Kultur-Verhältnis reflektieren, das Natur nie als in sich geschlossenes und ebenso wenig vom Menschen abgegrenztes Phänomen versteht, wie es noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Regel war. Darauf verweisen ganz besonders die Projekte, die im urbanen Raum angesiedelt sind und damit die Zuschreibungen von Stadt und Land aufheben. In der Landwirtschaft erscheint Natur ganz ohne Zweifel als Konstrukt, das machen sämtliche der beschriebenen Arbeiten und Projekte, und zwar sowohl aus Kapitel 2 wie Kapitel 3, sichtbar. So wie im von Åsa Sonjasdotter ausgestellten Material zur Kartoffelzucht, das eine Neubestimmung der Interaktionen von Menschen, Pflanzen, Tieren und Maschinen zugunsten einer Bewusstmachung der Verstricktheit der beteiligten Akteure vornimmt. Sowie auch in der gleichmachenden Darstellung aller Lebewesen in der Karte von Bonnie Ora Sherks Crossroads Community (The Farm), die bereits an eine derartige Gemengelage erinnert. Eine solche, von Sonjasdotter beleuchtete, von Sherk provozierte, neue Ordnung bildet nach Bruno Latour die Grundlage ei-
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»Landwirtschaft schafft Landschaft« hieß entsprechend ein Vortrag des Biologen und Professors für Pflanzenökologie, Hansjörg Küster, auf dem Symposium »Bilder der Landwirtschaft«, veranstaltet von der Künstlerinnengruppe Myvillages, 28.–30.01.2010, Nordhorn. Juliane Rebentisch spricht von »zwei Seiten der Natur-Kultur-Dialektik – die Konstruktion der Natur einerseits und die Naturverfallenheit der Konstruktion andererseits«, Juliane Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst, Hamburg 2013, S. 214. Ebd.
Zusammenfassung/Fazit
ner aktuellen politischen Ökologie.8 Diese spielte auch für den theoretischen Rahmen der dOCUMENTA 13 eine bedeutende Rolle, an der mit Fernando García-Dory und Tue Greenfort gleich zwei der hier behandelten Künstler beteiligt waren. Die Beschäftigung mit Landwirtschaft in der Kunst muss damit aufgrund der implizit und explizit verhandelten Fragen um ein Verhältnis des Menschen zur Natur vor dem Hintergrund der aktuellen politisch-ökologischen Debatte betrachtet werden. Dort wird der Landwirtschaft eine wesentliche Bedeutung am Klimawandel zugerechnet.9 Die Überschneidungen der beiden vorgestellten Annäherungen der Kunst an Landwirtschaft in diesem gesellschaftspolitischen Zusammenhang legen eine gemeinsame Betrachtung nahe, die die Realitätsbezüge noch einmal dezidiert in den Blick rückt. Es stellt sich die Frage, ob nicht aufgrund der vorgenommenen Befragungen der Wirklichkeit der Realismus eine Möglichkeit darstellt, die politischen Implikationen der Arbeiten zu fassen – nun jedoch nicht mehr im Modus der Repräsentation, sondern unter repräsentationskritischen Vorzeichen.
Strategien in Kunst und Landwirtschaft als ›Neue Realismen‹? Das Leben zeigt sich durchsetzt von landwirtschaftlichen Themen, und die Landwirtschaft bietet in der Kunst entsprechend die Möglichkeit zur Reflexion ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Aspekte. Das wird besonders gut an den Beispielen von Åsa Sonjasdotter und Fallen Fruit deutlich, die jeweils nur ein Thema – die Kartoffel bzw. das städtische Obst – bemühen, um darüber Perspektiven auf ganz verschiedene Zusammenhänge zu eröffnen. Das Zusammenkommen von Kunst und Landwirtschaft bedarf jedoch einiger Überbrückung: Einerseits besteht eine große inhaltliche Differenz, die durch die explizite Lebensnotwendigkeit der Landwirtschaft im Gegensatz zur Kunst entsteht, und andererseits eine Differenz in der räumlichen 8 9
Bruno Latour, Das Parlament der Dinge, Frankfurt a.M. 2010. Vgl. auch Kapitel 2.2. dieser Untersuchung. Studien gehen davon aus, dass die Landwirtschaft für ein Drittel der weltweiten Emissionen von CO2 verantwortlich ist. Gleichzeitig wird davon gesprochen, dass die Landwirtschaft in diesem Zusammenhang Täter und Opfer gleichermaßen sei, da die Klimaveränderungen sie direkt betreffe. Vgl. auch »Landwirtschaft und Klima«, Zusammenfassung des Greenpeace-Reports »Cool Farming: Climate Impacts of Agriculture and Mitigation Potential«, 2008, www.greenpeace.de, Zugriff 10.09.2019.
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Kunst und Landwirtschaft
Zuordnung, in der sich Kunst vornehmlich in und vor städtischen und kaum ländlichen Zusammenhängen formiert. Diese Unterschiede bieten als Entgrenzungsmöglichkeiten die Chance einer Sichtbarmachung von Vorgehensweisen in der Kunst, die auch eine Kritik an den thematischen und räumlichen Vorlieben sowie den Ausschluss anderer beinhaltet. Für die Landwirtschaft ist die Globalisierung nach der Industrialisierung der entscheidende Prozess ihrer Veränderung. Verschiedene Facetten ihres auch die Kunst betreffenden modernistisch geprägten Ursprungs und ihrer Entwicklung kommen hier zum Tragen: der industrielle Fortschritt, die Trennung von Natur und Kultur sowie die tendenziösen Darstellungsformen, die sich mit der Landwirtschaft – von romantisch über aufklärerisch bis verklärt – verbinden. Das Thema Landwirtschaft zeigt sich so einmal mehr prädestiniert für eine Untersuchung von Ist-Zustand und Repräsentation. Dafür rufen die Künstler_innen in Kapitel 2 paradigmatische Momente der (Landwirtschafts-)Geschichte auf, die bestimmend für die vergangenen Jahrzehnte waren, wie etwa die politischen Entwicklungen nach 1990. Besonders deutlich wird dies in den Arbeiten von Sonjasdotter, Skąpski, Greenfort und Leko, die auf je eigene Weise Bezüge zur sozialistischen Landwirtschaft und ihrem Erbe herstellen. Wenn sich die neuen Bilder von Landwirtschaft in Kapitel 2, Landwirtschaft im Medium Kunst, zwar von ihren historischen Vorgängern im Stile des Realismus genau durch die aufgezeigte Vermitteltheit als Kunst unterscheiden, stehen sie einem grundsätzlichen Verständnis von Realismus nicht entgegen. Juliane Rebentisch spricht bezugnehmend auf aktuelle Praxen im Umgang mit dem Dokumentarischen von einem »doppelten Anspruch des alten Realismus – der Verpflichtung auf das Gegebene um der Möglichkeit seiner praktischen Transformation willen«, dem diese durchaus die Treue halten. Dadurch nämlich, »dass sie die Implikationen unserer bestehenden Weltbilder – samt unseres Investments in dieselben – durch ihre Negativität einer distanzierenden Vergegenwärtigung zugänglich mach[en] und so auf mögliche Veränderungen öffnet«.10 Im Sinne einer Wirklichkeitsdarstellung, die nicht die Darstellung des Gegenstands durch seine direkte Repräsentation verfolgt, sondern in postmodern geprägter Perspektive mit der Art der Darstellung die Vermitteltheit des Gegenstandes als das Realistische der Arbeiten hervorhebt, lässt sich dies als ›Neuer Realismus‹ bezeichnen. Dabei werden 10
Juliane Rebentisch, »Realismus heute. Kunst, Politik und die Kritik der Repräsentation«, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, Heft 2, 2010, S. 15-29, hier S. 27.
Zusammenfassung/Fazit
die gesellschaftspolitischen Inhalte immer auch vor dem Hintergrund des eigenen Feldes verhandelt, das heißt, es formuliert sich eine Kritik, die immer auch die eigene Institution als Vermittlungsort betrifft. Über interdisziplinäre Zusammenhänge, historische Zugänge, kunsthistorische Zugriffe, ethnografische Perspektiven und kunstinstitutionelle Verweise werden in den künstlerischen Arbeiten der 2000er-Jahre landwirtschaftliche Realitäten aufgezeigt, die im Feld der Kunst reflektiert werden. Susanne Knaller hält fest, dass »realistische Formen [auch] nicht auf bestimmte Epochen, Modi und Programme eingegrenzt«11 verstanden werden können. Das heißt, dass ein Verständnis von Kunst als Realismus sich auch auf Vorgehensweisen übertragen lässt, die nicht den Umgang mit Formen repräsentierter Wirklichkeit verfolgen, sondern selbst reale Situationen schaffen. In Jacques Rancières »Aufteilung des Sinnlichen«12 sieht die Philosophin Maria Muhle einen Wirklichkeitsbezug, den sie in der Verlängerung als »Ästhetischen Realismus« bezeichnet.13 Im »Ästhetischen Realismus« ist nach ihr die »Trennung zwischen dargestellter Wirklichkeit und wirklicher Wirklichkeit suspendiert«, wodurch »Reflexionen auf die allgemeinen Bedingungen, unter denen Realität überhaupt erst erscheinen und zugänglich sein kann«, ermöglicht werden.14 Solche künstlerischen Formen zeigen Wirklichkeit nicht einfach auf, »sondern vielmehr die Kontingenz der Verfasstheit dieser Wirklichkeit und damit ihre Veränderbarkeit«, worin sich ihr politischer Anspruch ausdrückt.15 Muhles Betrachtung lässt sich als Grundlage für zwei weitere aktuelle Realismus-Konzeptionen verstehen, die die künstlerischen Vorgehensweisen dieser Wirklichkeiteneinebnung noch einmal dezidiert in den Blick nehmen. Eine Erweiterung des Begriffs des Dokumentarischen in diese Richtung haben Magdalena Marszałek und Dieter Mersch in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband Seien wir realistisch. Neue Realismen und Dokumentarismen in Philosophie und Kunst (2016) vorgestellt. Marszałek und Mersch sprechen von einem dokumentarischen »Realismus der Mittel«, aus den performati-
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Susanne Knaller, Die Realität der Kunst, Paderborn 2015, S. 125. Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin 2006. Maria Muhle, »Politische Kunst als Ästhetischer Realismus oder Leidenschaft des Realen?«, in: Texte zur Kunst, Heft 80, Berlin 2010, S. 67-75, hier S. 72. Ebd. Ebd.
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Kunst und Landwirtschaft
ven Künsten zu verstehen als »die Realität der Repräsentation«, oder auch von einem »Performativen Dokumentarismus«.16 Sie beschreiben damit künstlerische Praktiken, die das Dokumentarische gleichsam an Ort und Stelle in und durch Handlungen selber induzieren und somit die ›Realität‹ auf der Bühne entstehen und stattfinden lassen. Dann ist das Theater selbst der Ort des Realen, nicht ihrer Darstellung. Entsprechend ist solchen Projekten zu eigen, dass sie auf das ›authentische‹ Material nicht nur als bearbeiteten ›Stoff‹ zurückgreifen, sondern es im Setting einer performativen Inszenierung exponieren, es im Sinne eines sozialen Experiments oder einer politischen Aktion ausagieren, d.h. in eine Erfahrung überführen.17 Aus ihrer Perspektive »hat ein ›post-konstruktivistisch‹ zu nennender Realismus die Krise der Repräsentation bereits verlassen, um insbesondere mittels nicht-repräsentationaler Praktiken andere Wirklichkeitszugänge zu (er-)finden«.18 Der neue Realismus erscheint hier aber nicht als Fortsetzung der Idee des abbildenden Realismus, sondern als gegenläufige Vorgehensweise: […] während die klassischen Formen (als ästhetische Konventionen) das ›Wirkliche‹ dem Prinzip einer bearbeitenden Abbildung unterordnen, streben die aktuellen Formen nach einer Präsentation des ›Wirklichen‹ im Zurückdrängen von Vermittlung und Konstruktion.19 Bei aller zurückgedrängten Vermittlung und Konstruktion ist dieser Realismus vor dem Hintergrund seines Realitätsbegehrens und damit seines kritischen Bewusstseins für seine Konstruktion dann auch als politische Intervention zu verstehen: Im expliziten Wissen um die Gemachtheit der Darstellung, der Klüftung zwischen Signifikat und Signifikant und den Paradoxien der Repräsentation ist
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Sie beziehen sich damit auf die Arbeiten des Regisseurs Milo Rau, der sich in Langzeitprojekten Themen wie etwa dem Krieg im Kongo (Das Kongotribunal, 2015) widmet und dafür in enge Zusammenarbeit mit Menschen vor Ort geht. Magdalena Marszałek, »Einleitung«, in: Magdalena Marszałek, Dieter Mersch (Hg.), Seien wir realistisch. Neue Realismen und Dokumentarismen in Philosophie und Kunst, Zürich, Berlin 2016, S. 20. Ebd. Ebd., S. 22. Ebd., S. 24.
Zusammenfassung/Fazit
ihm gleichwohl ein Begehren nach Realität wie ebenfalls das Postulat der Wirklichkeitskritik und der politischen Intervention eigen.20 Nun handelt es sich bei den in Kapitel 3 aufgeführten Projekten nicht um die Wiederaufführung vergangener bzw. gegenwärtiger Situationen, vielmehr imitieren die Projekte, wie in den Beschreibungen deutlich wurde, reale Formate, Strukturen und Vorgehensweisen, die hier jedoch mit fiktiven Inhalten gefüllt werden. Deshalb sei eine weitere, womöglich passendere, Begrifflichkeit eingeführt. Dorothea von Hantelmann entwirft im Rückgriff auf den Literaturwissenschaftler Denis Hollier den Begriff ›Performativer Realismus‹, den von Hantelmann als Gegenentwurf eines an historische Bildtraditionen anknüpfenden Realismus als künstlerische Gestaltung von Realität versteht.21 Sie beschreibt ihn in der Tradition der Minimal Art als eine Öffnung der Kunst in den Raum im erweiterten Sinn, wodurch die Bedeutung des Werks zu einer Funktion des Außen wird – und in weiterer Konsequenz: des Öffentlichen, eines Raumes und eines Kontextes. Kunst, die Realität gestaltet, schafft nach dieser Theorie »ein[en] Realitätsbezug, der sich nicht über die Abbildung oder Beschreibung von Realität herstellt, sondern über […] eine räumlich-zeitliche Situierung oder auch ich-bezogene Spezifizierung des erzählten Geschehens«.22 Von Hantelmann beschreibt die Pointe dieses ›Performativen Realismus‹ darin, »dass er seinen Ausgangspunkt in der realen Situation findet, die das Kunstwerk umgibt. Indem er diese mit Fiktionen verbindet bzw. in Fiktion überführt, operiert er beständig an und mit der Grenze von Kunst und Nicht-Kunst, von Empirischem und Ästhetischem, von Realität und Irrealität. Realismus wird […] zum Prozess des Aushandelns dieser Grenze.«23 Daniel Buren formulierte in Abgrenzung zum Prinzip des Readymade von Marcel Duchamp, dass es – das Readymade – keineswegs einen radikalen Bruch mit den traditionellen bildlichen Repräsentationsstrategien darstelle,
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Ebd., S. 22f. Hantelmann entwickelt den Begriff für die Arbeit des Künstlers Maurizio Cattelan, der häufig lebensecht wirkende, und an real existierende Menschen angelehnte Figuren auf skurrile Weise inszeniert. Dorothea Hantelmann, »Performativer Realismus? Zum Realismus nach Minimalismus und Konzeptkunst«, in: Dirck Linck, Michael Lüthy, Brigitte Obermayr und Martin Vöhler (Hg.), Realismus in den Künstlen der Gegenwart, Berlin 2010, S. 85–S 105. Ebd., S. 93. Ebd.
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sondern diese nur auf die Spitze treibe. Duchamps politische Haltung bestätige mit dem Readymade das System, was sich darin erkennen lasse, dass es als historisches Objekt in einer Ausstellung vornehmlich als zeitgeschichtlicher Stellvertreter erscheint.24 Dieser vermeintlichen Gefahr entziehen sich die Arbeiten in Kapitel 3 nicht nur durch ihre zeitliche Begrenzung, sondern auch, indem sie ihre Situationen zwar an reale Strukturen anpassen, diese jedoch mit einem fiktiven Inhalt ausfüllen. Denn es gibt zwar eine Suppenküche, jedoch keine Soil Kitchen. Und auch eine Schäferschule scheint in ihrer Existenz durchaus plausibel, wäre unter ökonomischen Gesichtspunkten jedoch kaum tragbar. In den Kunstprojekten mit Landwirtschaftsbezug begegnen Fragen zur Kunst und ihrem Verhältnis zum Außerkünstlerischen solchen, die die realen Infrastrukturen und ihre (politischen) Bedingungen betreffen. Während der selbstreflexiv gewordene Dokumentarismus die Wiedergabe von Realität durch Formen der Darstellung kritisch hinterfragt, eröffnet der ›Performative Realismus‹ über die Annäherung und gleichzeitige Abgrenzung zur Wirklichkeit als Kunst mit der eigenen Verfasstheit einen Blick auf die Verfasstheit der angesprochenen außerkünstlerischen Strukturen. Der selbstreflexive Dokumentarismus zeigt die Welt in ihrer Vermitteltheit und lässt uns als Betrachter_innen der eigenen Perspektive gewahr werden. Der ›Performative Realismus‹ zeigt die Welt in ihrer Gestaltbarkeit und legt die strukturellen Bedingungen, auf die Perspektive ihrer Veränderung hin, offen. Als Thema der Kunst bietet Landwirtschaft mit ihren räumlichen, sozialen, ökonomischen wie ökologischen Ebenen dabei für die Betrachter_innen auf grundlegende Weise die Reflexionsmöglichkeit eines In-Beziehung-Stehens zum Leben.
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Ebd.
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Abbildungsnachweise
Abb. 1: Gustave Courbet, Die Steinklopfer, 1849, ehem. Dresden, Gemäldegalerie (Kriegsverlust) Abb. 2: Jean-François Millet, Die Ährenleserinnen, 1857, Musée D’Orsay, Paris Abb. 3: Grant Wood, American Gothic, 1930, Art Institute of Chicago Abb. 4: Walker Evans Bud Fields and His Family, Hale County, Alabama, ca. 1936-37, Library of Congress, Washington, D.C. Abb. 5: Heinrich Riebesehl, aus der Serie: Agrarlandschaften, Ostermunzel (Hannover), November 1978, Courtesy: Sprengel Museum Hannover/Land Niedersachsen, © Herling/Gwose, VG Bild-Kunst, Bonn 2021 Abb. 6: Heinrich Riebsehl, aus der Serie: Agrarlandschaften, Lengede (Peine), November 1978, Courtesy: Sprengel Museum Hannover/Land Niedersachsen, © Herling/Gwose, VG Bild-Kunst, Bonn 2021 Abb. 7: Heinrich Riebsehl, Agrarlandschaften, Schillerslage (Hannover), Oktober 1978, Courtesy: Sprengel Museum Hannover/Land Niedersachsen, © Herling/Gwose, VG Bild-Kunst, Bonn 2021 Abb. 8: Heinrich Riebesehl, aus der Serie: Agrarlandschaften (1976-1979), Ausstellungsansicht, Kunstraum Kreuzberg, 2012, Courtesy: Sprengel Museum Hannover/Land Niedersachsen, Foto: Thomas Bruns, © Kunstraum Kreuzberg Abb. 9: Bonnie Ora Sherk, Proposal for Crossroads Community (The Farm), 1974, Foto und © Bonnie Ora Sherk Abb. 10: Bonnie Ora Sherk, Crossroads Community (The Farm), 1974-1980, Ausstellungsansicht, Kunstraum Kreuzberg 2012, Foto: Thomas Bruns, © Kunstraum Kreuzberg Abb. 11: Bonnie Ora Sherk, Crossroads Community (The Farm), 1974-1980, Foto und © Bonnie Ora Sherk Abb. 12: Łukasz Skąpski, Machines, 2006, © Łukasz Skąpski
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Kunst und Landwirtschaft
Abb. 13: Łukasz Skąpski, Machines, 2006, © Łukasz Skąpski Abb. 14: Bernd und Hilla Becher, Getreidesilos, 1978-2000, © Estate Bernd & Hilla Becher, represented by Max Becher; courtesy Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur – Bernd and Hilla Becher Archive, Cologne Abb. 15: Åsa Sonjasdotter, Aus der Perspektive der Kartoffel auf Kenntnisse in der Pflanzenzucht, 2012, Foto und ©: Åsa Sonjasdotter Abb. 16: Åsa Sonjasdotter, Aus der Perspektive der Kartoffel auf Kenntnisse in der Pflanzenzucht, 2012, Ausstellungsansicht Kunstraum Kreuzberg, 2012, Foto: Thomas Bruns, © Kunstraum Kreuzberg Abb. 17: Åsa Sonjasdotter, The Order of Potatoes, 2010, Prinzessinnengarten Berlin, Foto und ©: Åsa Sonjasdotter Abb. 18: Tue Greenfort, Danzig, Hvarna, Siauliai, 2007, Foto: Thomas Bruns, © Kunstraum Kreuzberg Abb. 19: Hans Haacke, Condensation Cube, 1963-1965, Foto: Hans Haacke, © Hans Haacke, VG Bild-Kunst, Bonn 2021 Abb.20: Tue Greenfort, BONAQUA Kondensationswürfel (after Hans Haacke), 2005, © Tue Greenfort/König Galerie Abb. 21: Antje Schiffers und Thomas Sprenger, Ich bin gerne Bauer und möchte es auch gerne bleiben, seit 2008, Ausstellungsansicht Kunstraum Kreuzberg, 2012, Foto: Thomas Bruns, © Kunstraum Kreuzberg Abb. 22: Antje Schiffers und Thomas Sprenger, Ich bin gerne Bauer und möchte es auch gerne bleiben, seit 2008, Hinojosa del Valle, Extremadura Spanien, Foto und ©: Antje Schiffers und Thomas Sprenger Abb. 23 und 24: Antje Schiffers und Thomas Sprenger, Ich bin gerne Bauer und möchte es auch gerne bleiben, seit 2008, die Künstlerin als Plein-Air Malerin, Foto und ©: Antje Schiffers und Thomas Sprenger Abb. 25 und 26: Antje Schiffers und Thomas Sprenger, Ich bin gerne Bauer und möchte es auch gerne bleiben, seit 2008, Hinojosa del Valle, Extremadura Spanien, Foto und ©: Antje Schiffers und Thomas Sprenger Abb. 27: Wapke Feenstra/Myvillages, Bibliobox, 2005 - 2016, Foto: Wapke Feenstra, © Myvillages Abb. 28: Wapke Feenstra/Myvillages, Bibliobox, 2005 - 2016, Ausstellungsansicht Kunstraum Kreuzberg, 2012, Foto: Thomas Bruns, © Kunstraum Kreuzberg Abb. 29: Marcel Duchamp, La Boîte-en-Valise, 1938 – 1941 (1958), Foto ©: mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, VG Bild-Kunst, Bonn 2021
Abbildungsnachweise
Abb. 30: Kristina Leko, Von Milch und Menschen, 2003, Foto und ©: Kristina Leko Abb. 31: Kristina Leko, Von Milch und Menschen, 2003, Ausstellungsansicht ICA-Dunaujvaros, 2003, Foto und ©: Kristina Leko Abb. 32: Kristina Leko, Von Milch und Menschen, 2003, Ausstellungsansicht Kunstraum Kreuzberg, 2012, Foto: Thomas Bruns, © Kunstraum Kreuzberg Abb. 33: Fallen Fruit/David Allen Burns, Matias Viegener and Austin Young, Neighbourhood Fruit Forage/Nocturnal Fruit Forage, 2006, Silverlake, Los Angeles, Foto und ©: Fallen Fruit Abb. 34 und 35: Fallen Fruit/David Allen Burns, Matias Viegener and Austin Young, Fruit Maps, seit 2004, Foto und ©: Fallenfruit Abb. 36: Fallen Fruit/David Allen Burns, Matias Viegener and Austin Young, Double Standard, 2008, Foto und ©: Fallenfruit Abb. 37: Futurefarmers, Soil Kitchen, Philadelphia 2011, Fotos und ©: Futurefarmers Abb. 38: Futurefarmers, Soil Kitchen, Philadelphia 2011, Foto und ©: Futurefarmers Abb. 39 und 40: Futurefarmers, Soil Kitchen, Philadelphia 2011, Foto und ©: Futurefarmers Abb. 41: Futurefarmers, Victory Gardens, San Francisco 2007, Foto und ©: Futurefarmers Abb. 42 und 43: Futurefarmers, Soil Kitchen, 2011, Ausstellungsansichten Kunstraum Kreuzberg 2012, Foto: Thomas Bruns, © Kunstraum Kreuzberg Abb. 44: Kultivator, Post-(R)evolutionary Exercises, 2011, Ausstellungsansicht Kunstraum Kreuzberg, 2012, Foto: Thomas Bruns, © Kunstraum Kreuzberg Abb. 45: Kultivator, Guerilla-Composting. Feed-back Berlin – Worm Tower Office, 2012, Ausstellungsansicht Kunstraum Kreuzberg, 2012, Foto: Thomas Bruns, © Kunstraum Kreuzberg Abb. 46: Kultivator, Logo, ©: Kultivator Abb. 47: Insa Winkler, Das Eichelschwein, 2006, Ausstellungsansicht Kunstraum Kreuzberg, 2012, Foto: Thomas Bruns, © Kunstraum Kreuzberg Abb. 48: Insa Winkler, Eichelschwein-Kino, 2006, Foto und ©: Insa Winkler Abb. 49 und 50: Insa Winkler, Eichelschweinrennen, 2006, Foto und ©: Insa Winkler
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Kunst und Landwirtschaft
Abb. 51: Fernando García-Dory, A Shepherd’s School, seit 2004, Ausstellungsansicht Kunstraum Kreuzberg, 2012, Foto: Thomas Bruns, © Kunstraum Kreuzberg Abb. 52 und 53: Fernando García-Dory, A Shepherd’s School, seit 2004, Foto und ©: Fernando García-Dory Abb. 54: Fernando García-Dory, Schäferversammlung, dOCUMENTA 13, 2012, Foto und ©: Fernando García-Dory Abb. 55 und 56: Myvillages, Neue Dorfwaren, seit 2007, Foto und ©: Myvillages Abb. 57: Myvillages, Internationaler Dorfladen, seit 2007, Foto: Thomas Sprenger, © Myvillages Abb. 58: Myvillages, Internationaler Dorfladen, seit 2007, Foto: Wapke Feenstra, © Myvillages
Kunst- und Bildwissenschaft Elisa Ganivet
Border Wall Aesthetics Artworks in Border Spaces 2019, 250 p., hardcover, ill. 79,99 € (DE), 978-3-8376-4777-8 E-Book: PDF: 79,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4777-2
Thomas Gartmann, Christian Pauli (Hg.)
Arts in Context – Kunst, Forschung, Gesellschaft 2020, 232 S., kart. 39,00 € (DE), 978-3-8376-5322-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5322-3 €
Reinhard Kren, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)
Kultur – Erbe – Ethik »Heritage« im Wandel gesellschaftlicher Orientierungen 2020, 486 S., kart. 49,00 € (DE), 978-3-8376-5338-0 E-Book: PDF: 49,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5338-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kunst- und Bildwissenschaft Susanne von Falkenhausen
Beyond the Mirror Seeing in Art History and Visual Culture Studies 2020, 250 p., pb., ill. 60,00 € (DE), 978-3-8376-5352-6 E-Book: available as free open access publication PDF: ISBN 978-3-8394-5352-0
Nathalie Bäschlin
Fragile Werte Diskurs und Praxis der Restaurierungswissenschaften 1913–2014 2020, 272 S., kart., Dispersionsbindung, 22 SW-Abbildungen, 97 Farbabbildungen 40,00 € (DE), 978-3-8376-5121-8 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5121-2 €
Claus Gunti
Digital Image Systems Photography and New Technologies at the Düsseldorf School 2020, 352 p., pb. 44,99 € (DE), 978-3-8376-3902-5 E-Book: available as free open access publication PDF: ISBN 978-3-8394-3902-9
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