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German Pages 398 Year 2015
Devi Dumbadze, Johannes Geffers, Jan Haut, Arne Klöpper, Vanessa Lux, Irene Pimminger (Hg.) Erkenntnis und Kritik
2009-09-03 13-59-06 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0303219879870702|(S.
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Devi Dumbadze, Johannes Geffers, Jan Haut, Arne Klöpper, Vanessa Lux, Irene Pimminger (Hg.)
Erkenntnis und Kritik Zeitgenössische Positionen
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Gefördert aus Mitteln der Hans-Böckler-Stiftung
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INHALT
Einleitung
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WISSENSCHAFT – GESELLSCHAFT – KRITIK
Gesellschaftliche Bedingungen von Erkenntnis und Wissen GERHARD STAPELFELDT
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Kritik bei Marx MICHAEL HEINRICH
41
Adorno nicht. Kritik als Praxis in Zeiten deren Unmöglichkeit DIRK BRAUNSTEIN
49
Zu „Kritik“ bei Foucault KATHARINA PÜHL
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Der Preis der Wahrheit. Michel Foucaults Wissenschaftskritik und die Politik post-souveräner Wissenschaften MIKE LAUFENBERG
69
Lost in Orientation? Eine Antwort auf Göran Therborns After Dialectics JÖRG HESS
89
Die Soziologie des seiner Objektivität nicht mächtigen Wissens. Eine kritische Skizze zur Konstitution des Gegenstands der „Wissenssoziologie“ 113 HOLGER HAGEN
EXEMPLARISCHE STUDIEN
Erkenntnis und Subjekte im Zeitalter der Biomedizin VANESSA LUX Operationalisierung – Standardisierung – Normalisierung. Die Produktion und Visualisierung von Daten in der kognitiven Neurowissenschaft LARA HUBER Rechtsformanalyse jenseits der Befehlstheorie. Eine Alternative zur reduktionistischen Konzeption von ‚juridisch-diskursiver‘ Macht INGO ELBE Das Normale und der Wert. Zur Kritik der Normalismustheorie DEVI DUMBADZE Soziologische Aufklärung zwischen Kritik, Affirmation und Normativität: Implikationen der Theorie sozialer Systeme für das Projekt einer Fortschreibung der Kritischen Theorie HANNO PAHL Pariser Mai im Dunkeln: Godards fröhliche Wissenschaft CHRISTOPH HESSE
143
167
193
213
241
263
ARBEIT
Verwissenschaftlichung von Arbeit. Reflexionen zu einem Umbruch gesellschaftlicher Arbeits- und Technikverhältnisse INES LANGEMEYER UND CHRISTOF OHM
279
Wissenschaft in der betrieblichen Praxis und für die betriebliche Praxis INTERVIEW MIT WALTER FABIAN
303
Arbeit erkennen JULIKA BÜRGIN „Die Fotografie einer Fabrik sagt noch nichts über das Wesen einer Fabrik aus.“ – Ein Beitrag zu Erkenntnis, Literatur und Subjektivität ASTRID HENNING
311
321
POLITIK
Essay: Soll man erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält? Ein 100. Geburtstag, die Verantwortung der Naturwissenschaft und Promovieren 2008 TORSTEN STEIDTEN
337
Die theoretischen Grundlagen der Standortdebatte MARTIN SAUBER
347
Wissenschaft, Gewerkschaft, Politik, Ideologie DETLEF HENSCHE UND ARNE KLÖPPER
373
Autorinnen und Autoren
391
Herausgeberinnen und Herausgeber
395
Einleitung
„Man wähnt, wenn man nach wissenschaftlichen Regeln sich richtet, dem wissenschaftlichen Ritual gehorcht, mit Wissenschaft sich umgibt, gerettet zu sein. Wissenschaftliche Approbation wird zum Ersatz der geistigen Reflexion des Tatsächlichen, in der Wissenschaft erst bestünde. […] Je tiefer man ahnt, daß man das Beste vergessen hat, desto mehr tröstet man sich damit, daß man über die Apparatur verfügt.“ (Theodor W. Adorno, Philosophie und Lehrer, AGS 10.2, 491)
Sich in einem Sammelband mit den Grundlagen von Erkenntnis, den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer wissenschaftlichen Produktion und schließlich mit der Rezeption und den Auswirkungen dieses Wissens auseinanderzusetzen, bedarf vielleicht keiner Rechtfertigung. Es in der hier vorliegenden Form zu tun, bedarf jedoch zumindest der Erklärung. Der Band versammelt Beiträge zu Grundlagen, Produktionsprozessen und Verwendungsweisen von ‚Erkenntnis‘ unter dem Titel „Erkenntnis und Kritik“. Dennoch passt diese Form der Vergewisserung über die Bedingungen des (eigenen) wissenschaftlichen Tuns nicht recht in die Art, die eine solche Auseinandersetzung mit ‚Erkenntnistheorie‘ oder ‚Wissenschaftskritik‘ im akademischen Betrieb meist annimmt. Die Frage danach, was man überhaupt wissen könne (Kant) und wie Erkenntnis zu bewerkstelligen sei, ist in Form der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie einer philosophischen Spezialdisziplin überantwortet – und mit speziellen Disziplinen verhält es sich nun einmal so, dass sie für die konkrete wissenschaftliche Praxis anderer Fächer nicht zwingend not9
ERKENNTNIS UND KRITIK
wendig sind. Was für diese hingegen wichtig sei, das lehrten allein die großen Methodenkisten der einzelnen Fächer und nicht zuletzt die bewusstlos tradierten Konventionen ihrer scientific communities. Dies jedoch, die Versicherung über die Apparatur und die Einhaltung wissenschaftlicher Rituale, sind eben keine Antworten auf Fragen wie die, warum Erkenntnis so und nicht anders produziert wird, was dies mit der Einrichtung der Gesellschaft zu tun hat, in der sie stattfindet, zu welchem Ende Wissenschaft betrieben wird und welche Rolle die sie Ausübenden darin spielen. Im regulären Betrieb der Faktenproduktion hat diese Art der Reflexion keinen Platz. Unter den möglichen Perspektiven, aus denen man sich der Problematik der Erkenntnisproduktion nähern kann, bieten sich zwei als besonders nahe liegend und vielversprechend an: Der eine Zugang besteht darin, Wissenschaft mit dem Begriff der ‚Arbeit‘ und den mit ihm verbundenen theoretischen Konzepten zu beschreiben, um die Besonderheiten der Tätigkeit und ihrer Organisation nicht zuletzt durch die Kontrastierung mit anderen Produktionsbereichen in den Blick zu bekommen. Der andere Zugang ist jener über die Inhalte, d. h. über den Begriff des ‚Wissens‘ und die hier zur Verfügung stehenden theoretischen Konzepte nach den Spezifika wissenschaftlicher Prozesse zu fragen. Sowohl ‚Wissen‘ als auch ‚Arbeit‘ haben als Leitbegriffe in der Tat die Qualität, unbesehen von konkreten Inhalten und methodischen Ansätzen in verschiedenen Disziplinen, zentrale Einsichten über Erkenntnisproduktion und die Rolle der ‚Wissensarbeiterinnen und -arbeiter‘ darin zu vermitteln. Doch zeigen gerade die Schnittmengen dieser Leitbegriffe – man denke nur an die ‚Verwissenschaftlichung der Arbeit‘ oder die Forderung nach ‚praxisnahem‘ Studieren und Forschen – auch das Problematische beider Zugänge. Weder lässt sich Wissenschaft, ihrer idealisierten Autonomie zum Trotz, ohne ihren Zusammenhang mit gesellschaftlichen Produktionsprozessen beschreiben – noch ist ‚Arbeit‘ zu begreifen, ohne ihre gesellschaftlichen wie je individuellen Voraussetzungen des Wissensstands zu berücksichtigen. Daher taugt weder die Rede von der ‚Wissensgesellschaft‘ noch die von der ‚Arbeitsgesellschaft‘. Weil beides gesellschaftlich miteinander vermittelt ist, kann auch die theoretische Vermittlung nur aus einer allgemeineren Perspektive gelingen. Das aber meint hier Kritik der Erkenntnis: Reflexion fachwissenschaftlicher Zusammenhänge, ohne diese als nur spezielle Probleme zu begreifen; Erkenntnistheorie, ohne dabei in den Abstraktionen einer philosophischen Spezialdiskussion zu verbleiben; Auseinandersetzung mit Wissenschaft im Eingedenken ihrer Gesellschaftlichkeit. Diese Herangehensweise an „Erkenntnis und Kritik“ war keineswegs ein fertiges Forschungsprogramm oder theoretisches Konzept, das die 10
EINLEITUNG
Herausgeberinnen und Herausgeber bzw. die Autorinnen und Autoren der einzelnen Beiträge im Kopf gehabt hätten und nur anzuwenden brauchten. Sie ist nicht zuletzt dem Entstehungskontext des Bandes geschuldet. Er basiert auf den Beiträgen zur Promovierendentagung der Hans-Böckler-Stiftung, die im Jahr 2008 unter dem Titel „ErkenntnisArbeit – Reflexionen zu Wissen, Produktion und Subjektivität“ stattfand. Die Tagung diente u. a. dazu, sich wissenschaftlich mit der – eigenen – Situation als Wissenschaftler oder Wissenschaftlerin und ihren theoretischen wie gesellschaftlichen Voraussetzungen zu befassen. Dieses Interesse erklärt sich notwendig, aber nicht hinreichend, aus der besonderen biografischen und beruflichen Situation als Promovierende. Dazu dürfte etwas wie die Ahnung gekommen sein, die Adorno benennt: dass man trotz aller Aneignung wissenschaftlicher Kompetenz, trotz halbwegs gelungener wissenschaftlicher Sozialisation und trotz anstehender Initiation in den erlauchten Kreis der Wahrheitsproduzenten vielleicht doch „das Beste vergessen hat“. Und doch hat das alles weit weniger mit der bloßen Identitätsfindung von ‚Nachwuchs‘-Forscherinnen und -Forschern im unübersichtlichen Wissenschaftsbetrieb zu tun, als es vielmehr das ‚Wesen‘ von Wissenschaft selbst betrifft. Die disziplinären Hintergründe der Beitragenden und die sich aus ihnen eröffnenden Perspektiven auf das Thema sind sehr unterschiedlich. Doch steckt vielleicht auch gerade darin, wie in jedem ernst gemeinten Versuch zur Interdisziplinarität, die Chance, jenen Zusammenhang ‚Wissenschaft‘, in dem man sich bewegt, anders zu sehen – durch Perspektivenwechsel, durch andere praktische Probleme und andere Denkweisen. Diese Heterogenität ist hier jedoch nicht nur eine der Disziplinen, sie bezieht sich ebenso auf die Formen der Beiträge. Deshalb haben hier, neben den klassischen Aufsätzen nach Maßgabe wissenschaftlicher Konventionen, auch Essays, Werkstattberichte und jene Beiträge ihren Platz, die aus einem Filmvortrag und einer szenischen Lesung entstanden sind. Sie verdanken sich einer Suche nach Möglichkeiten der Erkenntnis, wo Wissenschaftlichkeit allein sie nicht verspricht. Denn „so gewiß ohne wissenschaftliche Disziplin kein Fortschritt des Bewußtseins wäre, so gewiß paralysiert die Disziplin gleichzeitig die Organe der Erkenntnis. Je mehr Wissenschaft zu dem von Max Weber der Welt prophezeiten Gehäuse erstarrt, desto mehr wird das als vorwissenschaftlich Verfemte zum Refugium von Erkenntnis.“ (Theodor W. Adorno, Einleitung zum ‚Positivismusstreit‘, AGS 8, 300)
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ERKENNTNIS UND KRITIK
Der erste Teil des Bandes widmet sich den Zusammenhängen von „Wissenschaft, Gesellschaft, Kritik“. Gerhard Stapelfeldt zeigt in seinem grundlegenden Beitrag die Notwendigkeit auf, die Gesellschaftlichen Bedingungen von Erkenntnis und Wissen zu reflektieren. Wie das Vernunftideal der bürgerlichen Aufklärung von ‚reiner‘ Erkenntnis- zur Gesellschaftstheorie führte, so münde der Neoliberalismus in einem warenförmigen Fakten-Wissen, das letztlich anti-rationalistisch sei, weil es mit dem Anspruch auf umfassende Gesellschaftserkenntnis auch die Reflexion auf die eigenen Grundlagen Preis gebe. Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis wiederum ist spätestens seit Kant untrennbar mit dem Begriff der Kritik verknüpft. Weitaus häufiger pauschal als pointiert verwendet, hat er auch in der Wissenschaft eine Verwässerung erfahren. Allzu oft wird jene als per se ‚kritische‘ oder das ‚Kritisch-Sein‘ als individuelle Geisteshaltung proklamiert – als Beleg für die Qualität des Wissens, für seine Wahrheit. Demgegenüber sind verschiedene Sozialtheorien einem anderen Kritikverständnis verpflichtet: Diesem erscheint Wahrheit nicht durch methodische Präzision oder eine verbürgte Objektivität des Wissenschaftsbetriebs gesichert, sondern es schließt die Eingebundenheit der Wissensproduktion in die gesellschaftliche Ordnung in die Reflexion mit ein. Demnach muss Kritik der Erkenntnis immer auch Gesellschaftskritik sein. Über dieses gemeinsame sowie auseinander gehende Momente in der Auffassung von ‚Kritik‘ bei Karl Marx, Theodor W. Adorno und Michel Foucault stritten Michael Heinrich, Dirk Braunstein und Katharina Pühl im Rahmen einer Podiumsdiskussion. Ihre Beiträge sind hier in leicht überarbeiteter Form dokumentiert. Will man diese Kritik nicht schlicht im großen Schrank der theoriegeschichtlichen Klassiker verstauben lassen, bedarf es ihrer Konfrontation mit aktuellen gesellschaftlichen und wissenschaftlich-theoretischen Entwicklungen. Mike Laufenberg knüpft in seinem Beitrag Der Preis der Wahrheit an Foucaults Analyse der „Wahrheitspolitik“ an und fragt, wie eine „post-souveräne Wissenschaft“ ihrem Eingebundensein in Machtdiskurse Rechnung tragen könnte. Dass dem fundamentalen Zusammenhang von Erkenntnis- und Gesellschaftstheorie allerdings nicht durch den Gemeinplatz Genüge getan wird, alles Wissen sei irgendwie gesellschaftlich und letztlich konstruiert, zeigt Holger Hagen mit seiner von Adorno inspirierten Kritik der Wissenssoziologie Die Soziologie des seiner Objektivität nicht mächtigen Wissens. In seinem Beitrag Lost in Orientation? Eine Antwort auf Göran Therborns ‚After Dialectics‘ skizziert Jörg Hess schließlich einige theoretische Probleme einer formalisierten Systematisierung von Sozialtheorien.
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EINLEITUNG
Wo man Wissenschaftlichkeit und Wahrheit durch die bloße Partizipation am Betrieb verbürgt glaubt und die Reflexion auf diese eigenen Grundlagen für obsolet erklärt wird, stehen Auseinandersetzungen wie jene mit der Möglichkeit von Erkenntnis oder mit dem Begriff der Kritik beständig im Verdacht, rein sophistische Debatten zwischen praxisfernen Spezialistinnen und Spezialisten oder Sonderlingen zu sein. Dass es dabei aber gerade nicht um erkenntnistheoretische Spitzfindigkeiten geht, sondern um höchst aktuelle wissenschaftspraktische Prozesse, Forschungsfragen und Diskussionen, zeigen die diversen „Exemplarischen Studien“ aus unterschiedlichsten Disziplinen, die im zweiten Teil dieses Bandes zusammengestellt sind. Seit einigen Jahren steht kaum ein zweites Thema derart im Fokus des wissenschaftlichen und öffentlichen Interesses wie die Entwicklungen in der biomedizinischen Hirnforschung und den kognitiven Neurowissenschaften, die die Entschlüsselung des Denkens selbst zu versprechen scheinen. Die Grenzen dieser Forschungsrichtung weist Vanessa Lux mit ihrem Beitrag über Erkenntnis und Subjekte im Zeitalter der Biomedizin auf, in dem sie den Reduktionismus der letzteren in der Betrachtung der Subjekte heraus arbeitet und für die Notwendigkeit sozialpsychologischer Analyse plädiert. Der Beitrag Operationalisierung – Standardisierung – Normalisierung. Die Produktion und Visualisierung von Daten in den kognitiven Neurowissenschaften von Lara Huber erweitert diese Kritik durch eine detaillierte Aufbereitung der methodologischen Fallstricke bildgebender Verfahren. – Nimmt in den naturwissenschaftlichen Bereichen die Kritik der Messinstrumente und -verfahren eine zentrale Stellung ein, so bezieht sie sich in den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften vorrangig auf Theorien. Nur allzu gern werden diese – und ihre Vertreterinnen und Vertreter – mit dem Prädikat ‚kritisch‘ geschmückt. Standpunktdenken allein jedoch macht noch keine kritische Wissenschaft aus, auch und gerade diese muss sich ihrer Kategorien vergewissern. Das zeigt zunächst die Rechtsformanalyse jenseits der Befehlstheorie von Ingo Elbe, die Verkürzungen der Rechts- und Staatstheorie benennt, insbesondere wo diese sich, an Marx oder Foucault angelehnt, von vornherein für ‚kritisch‘ hält. Devi Dumbadze kritisiert mit seinem Beitrag Das Normale und der Wert die medien- und kulturwissenschaftliche „Normalismustheorie“ von Jürgen Link, indem er deren mangelhaften Materialismus mit einer wertformanalytischen Marx-Interpretation konfrontiert. Unter dem Titel Soziologische Aufklärung zwischen Kritik, Affirmation und Normativität widmet sich Hanno Pahl der Frage, wie „Implikationen der Theorie sozialer Systeme für das Projekt einer Fortschreibung der Kritischen Theorie“ fruchtbar zu machen wären. Der aus einem Filmvortrag hervorgegangene Beitrag Pariser Mai im Dunkeln: Godards 13
ERKENNTNIS UND KRITIK
fröhliche Wissenschaft von Christoph Hesse erbringt schließlich den Nachweis, dass der Film nicht nur Objekt der Kritik bleiben muss, sondern – eben wie in den Arbeiten von Godard – selbst zu ihrem Medium werden kann. Stehen bis dahin die Produktionsbedingungen von Wissen und Erkenntnis im Mittelpunkt, so markiert der mit dem Begriff der „Arbeit“ überschriebene dritte Abschnitt des Bandes gewissermaßen einen perspektivischen Wendepunkt in Richtung der ‚Anwendung‘. Erkenntnisse werden selbstredend nicht nur unter spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen hervorgebracht, als Wissen über und für die gesellschaftliche Praxis konstituieren sie diese – ob verändernd oder reproduzierend – auch mit. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollen vorzugsweise ein praktisches Wissen produzieren, das möglichst unmittelbar ver- und anwendbar ist – gleichzeitig müssen sich die formal ‚nicht-wissenschaftlich‘ Arbeitenden mit immer neuen Wissensformen und den zu ihrer Aneignung nötigen Qualifikationen befassen. Dass das sprichwörtliche Spannungsverhältnis von ‚Theorie und Praxis‘ fortbesteht, sich jedoch vielmehr durch wechselseitige Verflechtung denn durch vermeintliche Geschiedenheit auszeichnet, wird nirgends so deutlich wie in der Auseinandersetzung mit den Arbeitsprozessen selbst. Deren Veränderungen – und den Gehalt der zu ihrer Beschreibung häufig aufgeworfenen Schlagworte wie „Informatisierung“, „Intellektualisierung“ etc. – diskutieren Ines Langemeyer und Christof Ohm in einem Überblick über das Forschungsfeld Verwissenschaftlichung von Arbeit. Wo diese in den Betrieben erkennbar ist und was das aus Sicht der Beschäftigten bedeutet, darüber gibt das Interview mit Walter Fabian Auskunft. Der Leiter des Vertrauensleutekörpers der IG-Metall bei VW Nutzfahrzeuge formuliert zudem seine Erwartungen an die Wissenschaft aus der Perspektive gewerkschaftlicher Arbeit. Der Beitrag Arbeit erkennen von Julika Bürgin geht auf eine Forschungswerkstatt „Welche Erkenntnisse über Arbeit formulieren Arbeitende?“ zurück. Er nimmt unterschiedliche theoretische Perspektiven und empirische Fragmente auf und versteht sich als Werkstück zur weiteren Arbeit an der Erkenntnis über Arbeit. Abgeschlossen wird das Thema hier mit einer literaturwissenschaftlichen Betrachtung von Astrid Henning. Ihr Beitrag „Die Fotografie einer Fabrik sagt noch nichts über das Wesen einer Fabrik aus“ entstand aus einer szenischen Lesung und widmet sich der Darstellung von Arbeit – und ihrer Bedeutung für Subjektivierungsprozesse – in Literatur, Film und Fernsehen. Neben dem Beitrag zu Produktionsprozessen wird von der Wissenschaft jedoch noch eine andere Art der ‚Anwendbarkeit‘ erwartet: Man erhofft sich von ihr Antworten auf gesellschaftliche, politische, ethische 14
EINLEITUNG
Fragen. Dieser Aspekt der „Politik“ wird im Schlussabschnitt des Bandes exemplarisch verhandelt. Es zeigt sich, dass Wissenschaft die Rolle als neutrale Beobachterin und Beraterin im wahrsten Sinne des Wortes bestenfalls ‚spielen‘ kann. Denn sie ist immer schon in gesellschaftliche Prozesse und Konflikte verstrickt und wirft bisweilen z. B. ethische Probleme durch die von ihr bereitgestellten Erkenntnisse selbst erst auf. An die Verantwortung der Wissenschaft erinnert Torsten Steidtens Essay mit der Frage: Soll man erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält? Der Beitrag von Martin Sauber über Die theoretischen Grundlagen der Standort-Debatte zeigt, wie unterschiedliche wissenschaftliche Positionen vereindeutigt werden, wenn sie in politischen Debatten vereinnahmt werden. Schließlich entfaltet Detlef Hensche, unter Mitarbeit von Arne Klöpper, Thesen zu diesem komplexen Verhältnis von Wissenschaft, Gewerkschaft, Politik, Ideologie. Sie plädieren für eine Kritische Wissenschaft, die sich ihrer Eingebundenheit in die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht nur bewusst ist, sondern praktisch hilft, sie auf den Begriff zu bringen. Jan Haut für die Herausgeberinnen und Herausgeber
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W ISSENSCHAFT – G ESELLSCHAFT – K RITIK
Gese lls c haftlic he Be dingunge n v on Erke nntnis und Wisse n GERHARD STAPELFELDT
Von der Erkenntnistheorie zur Gesellschaftstheorie Keine Erkenntnis ist freischwebend, keine ist voraussetzungslos. Kenntnisse lassen sich nicht einmal durch bloßes angestrengtes Nachdenken erlangen. Es bedarf, um etwas zu erkennen, zum einen individueller Bedingungen. Max Horkheimer (1974a/1926-31, 272f.) hat einmal, in einem kleinen Aphorismus über Uninteressiertes Streben nach Wahrheit, das positivistische Dogma werturteilsfreier Forschung und Wissenschaft durch ein Gedankenexperiment kritisiert: Wie muss das Subjekt werturteilsfreier Wissenschaft beschaffen sein? Es darf keinen Interessen folgen: Es darf „keine Liebe zu anderen Menschen“ verspüren, kein Leid, keine Trauer, keinen Schmerz, kein Mitgefühl, keine Freude, keine Lust; es darf weder von Solidarität, noch von Hass, noch von Furcht, noch von Angst bestimmt oder gar getrieben sein; es darf weder erstaunt sein, noch sich verwundern, noch sich empören, noch von Neugier geprägt sein. Kurz: Es muss sich um einen als „Gespenst erscheinenden Toten“ handeln, dem alles gleichgültig ist, der nichts will, der körperlich und geistig regungslos ist. Wer nichts will, will nichts wissen. Es bedarf aber auch gesellschaftlicher Bedingungen der Erkenntnis, obwohl die subjektiven Voraussetzungen vorhanden sein mögen. Galileo Galilei hat sich in seinem Dialog über die Weltsysteme (1980/1632) verwundert darüber geäußert, warum Aristoteles, der „Vater der Logik“ (ebd., 152f.), das Einfache der Relativität von Bewegung nicht erkannte: 19
GERHARD STAPELFELDT
dass Menschen, die auf der Erde leben, deren Bewegung sinnlich und unmittelbar gar nicht erkennen können, weil sie deren Bewegung teilen; sie können die Erdbewegung nur an der scheinbaren oder realen Bewegung anderer Himmelskörper wahrnehmen. Galilei kritisiert Aristoteles: Dessen Beweise, dass die Erde ruhig im Mittelpunkt des Kosmos stehe, setzten das zu Beweisende immer schon voraus, weil sie von den Erfahrungen eines Erdenmenschen ausgingen, weil Aristoteles nicht von der irdischen Existenz zu abstrahieren und sich in die Rolle des Bewohners eines anderen Himmelskörpers zu versetzen vermochte, der die Erde beobachtet. Warum aber gelang Aristoteles diese scheinbar schlichte Einsicht in die Relativität der Bewegung nicht? Galilei ist verwirrt angesichts der scheinbaren Denkschwäche des „Vaters der Logik“. So vermutet er: Aristoteles habe mit der „Logik“ das „Instrument der Philosophie“ geschaffen und sei deshalb ein „Instrumentenmacher“; aber ein solcher müsse nicht notwendig sein Instrument spielen können. Die mögliche, tiefer liegende, gesellschaftliche Ursache erkennt Galilei nicht: dass in seiner Voraussetzung der Selbstabstraktion des Erkenntnissubjekts bereits jene Individualität steckt, die erst in der frühen Neuzeit erlangt wurde. Indes ist auch Galileis gescheiterter Versuch, die Genese des aristotelischen Weltbildes gesellschaftlich zu erklären, kein Index subjektiver Denkschwäche. Die Erkenntnis der gesellschaftlichen Bedingungen von Wissen und Erkenntnis, eine Erkenntnis vor der Erkenntnis, scheint nur zirkulär, also gar nicht möglich. So hat Kants Theorie der Erkenntnis in der Kritik der reinen Vernunft (1781), der Kritik Hegels (HW 20, 333f.) zufolge, sich in der Tautologie einer Erkenntnis des „Erkenntnisvermögens“ vor dem Erkennen bewegt. Die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen der Erkenntnis und des Wissens geht über in die nach der Möglichkeit von Gesellschaftserkenntnis – aus der sich dann die Darstellung der gesellschaftlichen Bedingungen von Erkenntnis ableiten ließe? Der Zirkel kann erkenntnistheoretisch nicht aufgelöst werden, weil er das erkennende Subjekt und das Erkenntnisobjekt als getrennt voraussetzt. Er kann aber gelöst werden durch die schlichte Frage, warum es denn überhaupt einer Gesellschaftserkenntnis bedarf, da wir doch alle in einer Gesellschaft leben und oft bewusst handeln? Zwei Antworten sind möglich: Entweder ist die Gesellschaft real eine außer uns liegende „soziale Physik“ (Comte). Oder die Gesellschaft ist etwas, was von Menschen auf bewusstlose Weise gemacht wurde, so dass nun dieses allgemeine Unbewusste durch eine allgemeine, gesellschaftliche Reflexion – Aufklärung – zu Bewusstsein zu bringen wäre. Das war die Entdeckung der liberalen Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie von Vico (1725) bis Kant (nach 1781), Hegel (nach 1800) und Marx (nach 1840). Das Unbewusste, oder schwächer: das Bewusstlose, ist 20
GESELLSCHAFTLICHE BEDINGUNGEN VON ERKENNTNIS UND WISSEN
immer allgemein; darin unterscheidet es sich von einem bloßen Unwissen, Nicht-Wissen. Ein Unwissen ist ein subjektives Defizit von Wissen, dem durch Information abgeholfen werden könnte – der Aneignung von Wissen stünden allenfalls intellektuelle Defizite entgegen; das Subjekt muss sich nicht verändern, also bilden. Ein Unbewusstes aber ist ein Allgemeines, weil es – als allgemeines Selbstverständliches, als bewusstloses gesellschaftliches Verhältnis – nicht nur alle Seiten der Gesellschaft umgreift, in allen gesellschaftlichen Objektivationen materiell erscheint, sondern weil es die individuelle und kollektive Identität in einer Epoche prägt. Die Aufgabe einer Aufklärung des allgemeinen Unbewussten überwindet die erkenntnistheoretische Spaltung von Subjekt und Objekt: Das Subjekt ist nicht vorausgesetzt und fixiert, sondern Moment des Erkenntnisobjekts und mit diesem praktisch zu verändern. So geht die Erkenntnistheorie in eine praktisch gerichtete Gesellschaftstheorie über. Die Aufklärung überschreitet mithin die erkenntnistheoretische Spaltung von Subjekt und Objekt, den Zirkel des Erkennens vor dem Erkennen: Das Subjekt gehört dem Zusammenhang, den es erkennen will, immer schon selbst an, so dass die Gesellschaftserkenntnis von Selbsterkenntnis nicht abzulösen ist: Das Subjekt der Gesellschaftstheorie hat sich selbst als ein „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (Marx, Sechste These ad Feuerbach) zu erkennen; die Gesellschaftserkenntnis muss notwendig selbstreflexiv sich der Bedingungen ihrer eigenen Erkenntnis vergewissern – sonst projiziert sie bewusstlos die herrschenden Verhältnisse auf alle Geschichte. Weil die Reflexion sich immer nur auf ein gegebenes Bewusstloses richten kann, ist sie unmittelbar rückwärtsgerichtet: „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ (HW 7, 28) Diese Reflexion auf das Verhältnis von Gesellschaft und Erkenntnis verweist unmittelbar auf das Verhältnis von Theorie und Praxis: Die Selbstaufklärung des Erkenntnissubjekts, die Moment der Aufklärung der bewusstlosen Gesellschaft ist, zielt auf die Verwirklichung einer bewussten Gesellschaft – das ist die andere Grenze der Selbst- und Welterkenntnis. Die Aufklärung der gesellschaftlichen Bedingungen von Erkenntnis destruiert den Schein einer Selbstbegründung der Theorie; dadurch aber zergeht zugleich der Schein einer möglichen Selbstverwirklichung (siehe: HW, 46f.; dazu: Habermas 1969, 311, 316). Indes: Wie könnte eine Gesellschaft ganz immanent, auf ihrem eigenen Boden, erkannt werden? Die gesellschaftliche Totalität wäre unerkennbar, wäre sie unüberschreitbar, wäre sie das webersche „Gehäuse der Hörigkeit“, aus dem es keinen Ausweg gibt. Die Gesellschaft weist nur über sich hinaus, wenn sie intern brüchig ist: widerspruchsvoll, in21
GERHARD STAPELFELDT
tegriert-desintegriert, von allgemeinen Krisen bestimmt. Die Frage nach dem logos der societas entsteht erst, wenn dieser logos schwankend wird, wenn das gesellschaftliche Getriebe nicht länger wie selbstverständlich ‚funktioniert‘: wenn eine bestehende Gesellschaftsform vom Untergang bedroht ist. Erst die Krise produziert die Frage, erst in der Krise erscheinen die transzendierenden Gehalte der Gesellschaft. Das Subjekt, das in der Gesellschaft existiert, vermag diese eben nur zu erkennen, wenn die Verhältnisse immanent über sich hinaus weisen: auf ihre Genese einerseits, auf eine vernünftige Zukunft andererseits. So erhält die gesellschaftstheoretische Frage nach den Bedingungen von Wissen und Erkenntnis die Form einer Krisentheorie. Diese impliziert eine geschichtsphilosophische, zugleich utopische oder negativ-utopische Perspektive. Diese Bedingung einer durch eine allgemeine Krisis genetisch und utopisch über sich hinaus weisenden Gesellschaft ist nicht selbstverständlich gegeben. Adorno hat einmal bemerkt: „Die Irrationalität der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Spätphase ist widerspenstig dagegen, sich begreifen zu lassen; das waren noch gute Zeiten, als eine Kritik der politischen Ökonomie dieser Gesellschaft geschrieben werden konnte, die sie bei ihrer eigenen ratio nahm. Denn sie hat diese mittlerweile zum alten Eisen geworfen und virtuell durch unmittelbare Verfügung ersetzt.“ (Adorno 1974/1961, 284)
Diese irrationale Gesellschaft bestimmt Adorno (ebd., 285) als Zustand der „vollendeten Verdinglichung der Welt“: als einen Zustand, in dem die bewusstlosen Verhältnisse ganz undurchdringlich, unerkennbar sind und darum auf die „Welt der Natur“ (Vico) projiziert werden, so dass Gesellschaft und Natur in einem neuen rationalen Mythos verschmelzen. Die irrationale Gesellschaft wäre eine Gesellschaft ohne Erinnerung und Utopie: Sie wäre ohne transzendierende Potentiale, ohne die Möglichkeit weltverändernder Praxis, sie wäre jenes „Gehäuse der Hörigkeit“. So weit sie Krisen aufwiese, implizierten diese den Imperativ einer steigenden Anpassung an die Verhältnisse, nicht deren Revolutionierung. Das bedeutet aber keineswegs, dass diese geschlossene Gesellschaft der Rationalität entbehrte: Sie wäre zwar ohne aufklärende, auf die Verwirklichung der Utopie abzielende Utopie, aber sie erschiene, gerade weil sie als Ganze unüberschreitbar schiene, als ein naturgesetzlicher Kosmos, der eine technische Handlungsrationalisierung erlaubt. Die Rationalität der irrationalen Gesellschaft zielt auf ein innerhalb des Bestehenden verwertbares Wissen, das insofern unmittelbar ein Moment eines gesellschaftlichen Produktionsprozesses ist – eben nützlich. 22
GESELLSCHAFTLICHE BEDINGUNGEN VON ERKENNTNIS UND WISSEN
Als eine solche unüberschreitbare Welt hat Max Weber – in seiner Metapher vom „Gehäuse der Hörigkeit“ – die bürgerliche Gesellschaft im Stadium des Imperialismus (1870/73-1918/29) beschrieben: Sie sei eine als Ganze irrationale, auf dieser Basis naturgesetzlich, technischrational erscheinende Welt. Nach Rudolf Hilferdings (1968/1910, 456458) und Max Webers (PS, 63-65, 332f.) Einsicht hat schon der Imperialismus die alten liberalen Ideale der kosmopolitischen Freiheit und Gleichheit, des ewigen Friedens und des Wohlstands der Nationen, der Republik und der Nation, durch die Apologie von Unfreiheit, Notwendigkeit, Ungleichheit, Rassismus, Macht und Krieg, Nationalismus und politisch-gesellschaftlichem Autoritarismus ersetzt. Im Nationalsozialismus scheint dann das Ende der Aufklärung – der utopisch gerichteten Erinnerung – endgültig (vgl. Horkheimer/Adorno 1968/1944/47). Als unüberschreitbar und darum unerkennbar präsentiert sich auch die gegenwärtige gesellschaftliche Welt des Neoliberalismus. Friedrich August von Hayek, das Haupt der neoliberalen Theorie, hat es immer wieder formuliert: Die Gesellschaft ist so komplex, dass keine Erkenntnis sie durchdringen könnte – so sei sie als Ganze unerkennbar, darum auch unsteuerbar, eben irrational. Den Subjekten sei es nur möglich, sich den Verhältnissen durch Versuch und Irrtum anzupassen. Auf dieser irrationalen Grundlage sei ein zweckrationales Handeln sozialer Atome a posteriori möglich. Die Institution dieses irrationalen Rationalismus sei der Wettbewerb. So ist die Problematik der Möglichkeit von Gesellschaftserkenntnis, also Erkenntnis der gesellschaftlichen Bedingungen von Erkenntnis, zwar durch den Neoliberalismus erneut auf die Tagesordnung gesetzt – aber keineswegs erst durch den Neoliberalismus.
Aufklärende Gesellschaftserkenntnis im Liberalismus: Vico und Marx Den Zusammenhang von Selbst- und Welterkenntnis hat – in der Epoche der liberalen Aufklärung – als einer der ersten Giambattista Vico (1981/1725) in der berühmten Lehre ausgesprochen: dass die „gesellschaftliche Welt“ von der „Welt der Natur“ zu scheiden sei, weil der Mensch allein die „gesellschaftliche Welt […] gemacht“ habe, so dass deren „Prinzipien in den Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes auffindbar sein müssen.“ Es bedürfe aber der Gesellschaftserkenntnis, weil der Mensch seine Welt nur bewusstlos erschaffen habe, so dass diese Bewusstlosigkeit durch „Reflexion“ und Selbstreflexion – Erkenntnis der Welt und Selbsterkenntnis – in Bewusstsein zu verwandeln sei (ebd., §§ 236, 331). Diese Erkenntnis Vicos ist radikal entmy23
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thologisierend, weil sie unmittelbar eine vollendete Entzweiung von Subjekt und Objekt, eben eine Ent-Subjektivierung der Natur und eine Subjektivierung der Gesellschaft impliziert; der Mensch, als SubjektObjekt, als ein Vernunft- und Naturwesen in eins, steht zwischen beiden. Durch die Verselbständigung der Gesellschaft gegen die Natur und gegen die empirischen Individuen wird eine Theorie der Gesellschaft im prägnanten Sinn überhaupt erst möglich: Denn erst die bürgerliche Gesellschaft ist eine Gesellschaft und keine polis, Gemeinschaft oder politische Gesellschaft. Erst in der bürgerlichen Gesellschaft vermag das Denken seiner gesellschaftlichen Bedingungen inne zu werden und die Denk-Voraussetzungen nicht mythologisch, religiös oder metaphysisch zu explizieren. Weil die Gesellschaftstheorie nur als Aufklärung der Gesellschaft und Selbstaufklärung des Erkenntnissubjekts in eins möglich ist, weiß sich die Theorie als Moment einer allgemeinen, gesellschaftlichen Aufklärung. Darum bemerkt Hegel (HW 12, 528), man müsse „sich also nicht dagegen erklären, wenn gesagt wird, daß die Revolution von der Philosophie ihre erste Anregung erhalten habe.“ Vicos Lehre ist der liberalen bürgerlichen Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie leitend geblieben. Die Verselbständigung der subjektivierten Gesellschaft gegen die Natur und dadurch auch gegen die Menschen ist widersprüchlich. Einerseits erscheint die Gesellschaft durch diese Verselbständigung als Vernunft: Sie überwindet endgültig die vorangegangene mythologische und metaphysische Subjekt-Objekt-Einheit der Welt, die Herrschaft undurchschauter mythologischer Mächte. Zugleich jedoch werden die nunmehr verselbständigten gesellschaftlichen Verhältnisse – durch ihre Verselbständigung – zu einer den Menschen entfremdeten, ihnen bewusstlosen Welt: zu einem Gesellschaftlich-Unbewussten, zu einer transzendentalen Voraussetzung. Aufgeklärt scheint die vergangene mythologische und metaphysische Welt, unaufgeklärt aber ist die verselbständigte „gesellschaftliche Welt“. Die Aporie der Vernunft, die zugleich ein allgemeines Bewusstloses ist, ist in zahlreichen Metaphern ausgedrückt: „invisible hand“ (A. Smith), „Transzendentalsubjekt“, „übersinnliche Natur“ (Kant), „List der Vernunft“, „zweite Natur“ (Hegel). In den Metaphern erscheint, dass die bürgerliche Theorie der Gesellschaft die bürgerlichen Verhältnisse wohl verselbständigt und deshalb zu einem Gegenstand sui generis erhebt; dass aber durch die Verselbständigung die Verhältnisse bewusstlos vorausgesetzt und ausgesprochen sind, also unerkannt – unaufgeklärt – bleiben. So liegt in der Entgegensetzung von Gesellschaft, Natur und empirischen Subjekten der Widerspruch – die „Entzweiung“ (Hegel), die „Krisis“ (Marx) – der bürgerlichen Aufklärung und bewusstlosen Gesellschaft.
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Die Verhältnisse der liberalen bürgerlichen Gesellschaft und PolitikÖkonomie scheinen, weil sie als bewusstlos-vernünftige gesetzt sind, absolut neu, revolutionär – als Bruch mit der bisherigen Geschichte, als Gegensatz gegen die vorangegangenen Gesellschaftsformationen: An die Stelle der Herrschaft von Menschen über Menschen im willkürlichen oder im rationalisierten Absolutismus (Leviathan) tritt die Herrschaft der Vernunft, die Herrschaft überindividueller Gesetze. Die politische Revolution in Frankreich etabliert die Herrschaft der volonté générale, die ökonomisch-gesellschaftliche Revolution in England etabliert die Herrschaft der invisible hand. Gerade weil die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse gegen die „Welt der Natur“ und deshalb auch gegen die empirischen Subjekte verselbständigt sind, diesen fremd gegenüberstehen, geht die bürgerliche Revolution mit einer Beherrschung der äußeren Natur in der Industriellen Revolution und mit einer Beherrschung der inneren Natur des Menschen, mit einer rationalen Triebunterdrückung durch eine Pflichtethik (Kant) zusammen. Die Verselbständigung der Gesellschaft gegen die Natur und gegen die sinnlichen Subjekte erfolgt durch Abstraktion. Freigesetzt sind die Verhältnisse, nicht die empirischen Subjekte. Diese rationalisierte Form der Herrschaft bleibt unreflektiert – aufgrund der Verselbständigung der Verhältnisse, der Vernunft. Als bewusstlose Vernunft ist die bürgerliche Entmythologisierung der Welt, die bürgerliche Aufklärung, jedoch die Perpetuierung des Mythos, also der Geschichte der Herrschaft von Menschen über Menschen: Sie substituiert den transzendenten Gott durch die transzendentale Vernunft; sie substituiert die unmittelbare durch eine strukturelle Gewalt. Das gilt theoretisch und praktisch in eins. So sehr die Entzweiung von Gesellschaft und Natur die mythologische ebenso wie die metaphysische Welteinheit überwindet und diese aufzuklären scheint, so wenig wird auf diese Weise ein aufgeklärtes Geschichtsbewusstsein erlangt: Die Voraussetzung der „gesellschaftlichen Welt“ durch ihre Verselbständigung ist nur eine Entgegensetzung gegen die bisherige Geschichte, durch die deren logos bewusstlos, aber in rationalisierter Form reproduziert wird. Theoretisch erscheint der paradoxe Zusammenhang von Verselbständigung der „gesellschaftlichen Welt“ als bewusstlose Vernunft und Naturbeherrschung darin, dass die bürgerliche Aufklärung wohl praktisch – in der Französischen Revolution – den Bruch mit dem ancien régime vollzieht, während zeitgleich in England eine Industrielle Revolution erfolgt. Aber Vicos Lehre, der Mensch könne wohl die „gesellschaftliche Welt“, nicht jedoch die „Welt der Natur“ erkennen, erscheint lange noch darin, dass die Industrielle Revolution – mit der prominenten 25
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Ausnahme der Erfindung der Lokomotive durch den Ingenieur George Stephenson (um 1814/1821-25) – nicht auf der Umsetzung von Naturwissenschaft in Technik beruht, sondern auf Erfindungen von Tüftlern und Handwerkern. Der aufklärende Verstand wendet sich noch ab von der Welt der Natur und der Naturbeherrschung durch gesellschaftliche Arbeit; er zieht sich in die „Einsamkeit und Freiheit“ (Wilhelm von Humboldt) der Bildungsuniversität zurück und blickt verächtlich auf das bloße „Brotstudium“ (vgl. HW 10, 401, 412; HW 11, 32) herab. Die Welt draußen wird sich selbst überlassen; das Denken verselbständigt sich wie die gesellschaftlichen Verhältnisse, kreist in sich und erliegt dem Trug der Selbstbegründung und Selbstverwirklichung (vgl. HW 2, 46f.). In dieser Abstraktion von der Natur und der die Natur umgestaltenden Arbeit besteht die bürgerliche Idee der Freiheit. Diese Aporie der bürgerlichen Aufklärung, die sich einerseits in den politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts verwirklicht, die aber andererseits die bürgerlichen Verhältnisse als Vernunft blind voraussetzt, ist zuerst durch Hegel expliziert worden in seiner Kritik der Kantischen Philosophie, in der sich der Geist der Französischen Revolution ausspricht (HW 12, 524-539; HW 20, 329-386). Hegel kritisiert: Kant setzt, wie die Französische Revolution, die Vernunft nur bewusstlos voraus, der Natur und der bisherigen Geschichte entgegen. Dadurch reduziere sie die Vernunft auf den voraussetzungsvollen Verstand, auf ein Dogma, das durch seine Entgegensetzung die gesellschaftliche Welt in Freund und Feind spalte, so dass der Schrecken der jakobinischen Ära den emanzipatorischen Verstandesideen notwendig war. Diesem verständigen Dogmatismus Kants und der Revolution sei kein anderes Dogma entgegenzusetzen, sondern es seien die Intentionen der Revolution durch aufklärenden Rückgang hinter den Verstand zu bewahren: Freiheit sei als Freiheit nur möglich und wirklich, wenn das Subjekt seiner selbst bewusst, wenn bewusst sei, was Freiheit und Vernunft seien (vgl. HW 18, 445, 459). Marxens Kritik der klassischen Politischen Ökonomie Adam Smiths und David Ricardos, in der sich das Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft und Politik-Ökonomie ausspricht, ist Hegels Kritik der Französischen Philosophie und der Philosophie Kants analog. Die Politische Ökonomie nimmt die aufklärende Differenzierung zwischen der „Welt der Natur“ und der „gesellschaftlichen Welt“ (Vico) in der zuerst von François Quesnay (1758), dann präziser von Smith (1975-84/1776) explizierten Unterscheidung zwischen dem Gebrauchswert und dem Tauschwert der Waren auf. Während der Gebrauchswert der Waren darin besteht, dass sie als Naturstoff ein sinnliches Bedürfnis der Menschen befriedigen, bestimmt Smith (ebd., Buch I/Kap. IV, 38) den 26
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Tauschwert als die „Regeln, die Menschen beim Tausch von Ware gegen Ware oder gegen Geld natürlicherweise berücksichtigen“ – der Tauschwert ist ein gesellschaftliches Verhältnis. Durch diese Differenzierung ist der bis dahin theoretisch und praktisch anerkannte merkantilistische Geldfetischismus und Objektivismus, in dem ein Naturstoff (Silber) zugleich ein gesellschaftlich-rationales Ding ist, überwunden. Die Explikation des Wealth of Nations in Rücksicht auf den Tauschwert ist – philosophisch – ein Rückgang vom Objekt auf das Subjekt. Daher bestimmt Smith nicht länger ein Objektives: Silber, sondern ein Subjektives: Arbeit, als „Maß des Tauschwerts aller Waren“ (ebd., I/IV, 40). Marx (1970/1857/58, 24f.) würdigt diese Entwicklung vom Monetarsystem zur liberalen Politik-Ökonomie, vom „ganz objektiv“ gefassten „Reichtum“ zur „einfachen Abstraktion“ auf „Arbeit schlechthin“, als „ungeheuren Fortschritt“, durch den theoretisch und praktisch die alten „persönlichen“ „Abhängigkeitsverhältnisse“ durch „sachliche“, durch eine „Herrschaft von Abstraktionen“ abgelöst worden seien (ebd., 81f.), so dass nun statt willkürlich-persönlicher eine rational-überpersönliche Herrschaft etabliert sei. – Smiths Bestimmung, die Arbeit sei das „Maß des Tauschwerts aller Waren“, impliziert aber bereits die Grenze der bürgerlichen Aufklärung: der bürgerlichen Erkenntnis der bürgerlichen Gesellschaft. Smith geht wohl hinter die monetaristische und merkantilistische Voraussetzung des Silbergeldes zurück, aber er etabliert eine neue Voraussetzung: den Tauschwert. Denn die Arbeit als Wertmaß muss selbst Tauschwert sein, näher ein invarianter Tauschwert und eine kleinste Tauschwert-Einheit – sonst könnte die Arbeit kein Maß des Tauschwerts sein. Die Voraussetzung der Tauschwert-Arbeit muss in einem Zirkel oder einem unendlichen Regress erscheinen: Um die Invarianz der Arbeit als Wertmaß zu bestimmen, bedürfte es eines weiteren Maßes, und so fort (siehe: Marx, MEW 26.1, 121). Die Voraussetzung des gesellschaftlichen Verhältnisses als Tauschwert und „Arbeit überhaupt“ ist – als Voraussetzung – bewusstlos, eben unreflektiert: So ist der Tauschwert eine mythologisch-rationale invisible hand. Diese gesellschaftliche Bewusstlosigkeit wird notwendig auf Menschen und Dinge projiziert, so dass die Differenzierung von Gebrauchs- und Tauschwert umschlägt in deren erneute Identifikation: Der vor-liberale Gesellschaftsmythos wird substituiert durch einen liberalen. Die erste Identifikation besteht im Begriff der Arbeit: Diese wird, als eine sinnliche Tätigkeit oder als Arbeitskraft, zum Tauschwert-Maß, also zu einem Gesellschaftlich-Abstrakten. Diese Dialektik der bürgerlichen Aufklärung ist Gegenstand der marxschen Kritik. Marx radikalisiert die bürgerliche Aufklärung, indem er im Begriff der Arbeit differenziert zwischen der „konkreten Arbeit“, 27
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die Gebrauchswerte schafft, und der „abstrakten Arbeit“ als Substanz des Wertes, des gesellschaftlichen Verhältnisses. Dies sei „in der Tat das ganze Geheimnis der kritischen Auffassung“ (Marx an Engels, 8.1. 1868). Wird so konsequent zwischen dem gesellschaftlichen Verhältnis und dem Verhalten des Menschen als Natur zur äußeren Natur unterschieden, so wird zunächst hinter Smiths Voraussetzung der abstrakten Tauschwert-Arbeit zurückgegangen auf deren Genese, so dass die Abstraktion als eine „historische Abstraktion“ (Marx an Engels, 2.4.1858) gesellschaftsgeschichtlich erinnert wird: als ein historischer Abstraktionsprozess, durch den das gesellschaftliche Verhältnis sich abstrahierend gegen das Verhältnis des Menschen zur Natur in der Arbeit verselbständigt. Weil Marx nicht länger Tauschwert und Arbeit identifiziert, weil er nicht länger den Tauschwert und die Tauschwert-Arbeit als gesellschaftliches Verhältnis voraussetzt, sondern dessen Genese rekonstruiert, kann er beanspruchen, die Produktion und Reproduktion der Verhältnisse (vgl. Marx 1970, 362; MEW 23, 189) aufgeklärt zu haben: Die Produktion des Tauschwerts – das gesellschaftliche Verhältnis gründet im Verhalten des Menschen zur Natur. Analog wird die Genese der von Smith bewusstlos vollzogenen Identifikation von konkreter und abstrakter Arbeit, Gebrauchswert und Wert, in der Ware erinnert: die „Genesis dieser Geldform“ (MEW 23, 62). Die marxsche Kritik ist dialektisch in der Tradition von Sokrates und Platon, weil sie hinter die Voraussetzung des gesellschaftlichen Verhältnisses als Tauschwert-Arbeit in der klassischen Politischen Ökonomie zurückgeht, dadurch tiefer zwischen der „Welt der Natur“ und der „gesellschaftlichen Welt“ (Vico) unterscheidet (krinein) und so die Genesis dieser Voraussetzung, dieses Gesellschaftlich-Unbewussten, aus einem gesellschaftsgeschichtlichen Prozess der ökonomischen Abstraktion und Identifikation aufklärend erinnert. Marx setzt also Smith und Ricardo kein „sozialistisches System“ voraussetzungsvoll-dogmatisch – positiv – entgegen (vgl. MEW 1, 343346; MEW 19, 357), sondern hält sich strikt auf dem Boden der aufklärenden, immanenten Kritik: Er reflektiert die bürgerlichen Voraussetzungen, indem er zeigt, wie die Verhältnisse produziert und reproduziert werden. Reflektiert die Kritik die gesellschaftlichen Verhältnisse als bewusstloses Allgemeines, hebt sie den Schein einer Selbstbegründung und Selbstverwirklichung der Theorie auf. Durch dieses dialektische, dogmenkritische Verfahren klärt Marx die Krisis als die gesellschaftliche Bedingung seiner Kritik der Politischen Ökonomie und eröffnet dadurch die „Aussicht auf eine neue Gesellschaft“ (MEW 26.3, 422). Daher kritisiert er das „System der bürgerlichen Ökonomie“ vermittels
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einer Kritik der bürgerlichen Gesellschaftstheorie: der klassischen Politischen Ökonomie (vgl. Lukács 1923, 58-93, 94-118). Weil Marx den bürgerlichen keine ‚sozialistischen‘ Voraussetzungen entgegensetzt, sondern die bürgerlichen Voraussetzungen dialektisch aufklärt, klärt er nicht nur die Krisis als gesellschaftliche Bedingung seiner Kritik, sondern expliziert seine theoretische auch als Moment einer praktischen Kritik: der Klassenkämpfe der Zeit. Am 22. Februar 1858 schreibt Marx an Lassalle, während er an den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie arbeitet: „Wenn ich zu spät fertig werde, um noch die Welt für derartige Sachen aufmerksam zu finden, ist der Fehler offenbar my own.“ Während Marx seine unmittelbaren Vorarbeiten zum Kapital abschließt, formuliert er zugleich die Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation und deren Provisorische Statuten.
Vom Liberalismus zum Imperialismus: Dialektik der Aufklärung Die von Sokrates bis zum Liberalismus reichende Idee der Welt- und Selbsterkenntnis, der Vernunft, die sich geltend macht im Zusammenhang von Krise, Kritik und Revolution, wurde bereits im 19. Jahrhundert in doppelter Weise destruiert. Das postliberale bürgerliche Bewusstsein vermochte weder eine Erkenntnis der Gesellschaft als Ganzer zu formulieren, noch sich seiner gesellschaftlichen Bedingungen zu versichern, weil die Möglichkeit einer utopisch gerichteten Erinnerung verloren ging. Die bürgerliche Theorie und Praxis wurde gesellschaftlich anti-revolutionär und agnostizistisch. Fragen der gesellschaftlichen Bedingungen von Erkenntnis wurden zu Fragen eines in wahrheits-unabhängigen Werturteilen bestehenden „Erkenntnisinteresses“ (Weber 1968, 161, 598600) oder der Psychologie der Forschung (Popper) oder der organischdarwinistischen Gesellschaftsentwicklung (Hayek) – in jedem Fall: zu rational unentscheidbaren Problemen. Indem die Theorie sich nicht länger reflexiv ihrer gesellschaftlichen Bedingungen, ihres gesellschaftlichen Erfahrungsgehaltes zu versichern vermochte, und dadurch die Gesellschaft entweder zu einem irrationalen oder zu einem naturgesetzlich-rationalen Kosmos verdinglichte, verwandelte sie sich in die Fachwissenschaften und integrierte sich umso umstandsloser in den gesellschaftlichen Produktionsprozess, um diesen zu rationalisieren: Das Wissen wurde zur Produktivkraft, zur Ware – und erlag dem irrationalrationalen Warenfetischismus. Die eine Entwicklung der Erosion von Gesellschaftserkenntnis in der bürgerlichen Theorie führt in einer Dialektik der Aufklärung vom Libe29
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ralismus in den Imperialismus. Die bürgerliche Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, also die liberale Sozialphilosophie und die klassische Politische Ökonomie, konnte ihren aufklärerischen Gehalt entfalten im Kontext der bürgerlichen Revolutionen. Der dogmatische, gesellschaftlich-bewusstlose Gehalt jener Theorien verlor aber nach der Revolution von 1848/49 sowie nach der Vollendung des ökonomischen Liberalismus in England durch die Aufhebung der Korngesetze (1846) und der Navigationsakte (1849) seinen utopisch-vernünftigen Gehalt und fixierte die gesellschaftliche Bewusstlosigkeit zur gesellschaftlichen Irrationalität. Die Bewusstlosigkeit, die die bewusstlose Projektion des logos der societas auf die „Welt der Natur“ implizierte, konstituierte zunehmend – endgültig im Kontext der Großen Depression (1873-79) – eine reale „soziale Physik“ (Comte), die ihre Grundlage in der Irrationalität der Gesellschaft besaß. Diese Natur-Gesellschaft setzte an die Stelle der Freiheit die Notwendigkeit, an die Stelle der Aufklärung die Kausalerklärung, an die Stelle der Gleichheit die Ungleichheit, an die Stelle der Utopie des ewigen Friedens die Apologie eines Gesellschaftskrieges, an die Stelle der Utopie eines Wealth of Nations das Dogma der Knappheit. Auf der Basis der gesellschaftlichen Irrationalität freilich war eine technische Handlungs-Rationalisierung möglich. Die Theorie integrierte sich unmittelbar in das System der gesellschaftlichen Arbeit: der technischen Beherrschung von Natur und Gesellschaft während der Zweiten Industriellen Revolution, die Naturwissenschaft in Technik umsetzte. Max Weber hat diese postliberale, imperialistische bürgerliche Gesellschaft, die als Ganze irrational, im Einzelnen aber rational war, als „Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft“ erkannt (PS, 332; RS 1, 203f.). Die andere Entwicklung der Erosion von Gesellschaftserkenntnis in der bürgerlichen Theorie beginnt schon in der frühen Phase des kosmopolitischen Liberalismus: in der Apologie eines gesellschaftlichen Irrationalismus durch die englische (E. Burke, Th. R. Malthus), vor allem aber durch die deutsche Gegenaufklärung (G. Hugo, F. C. von Savigny, auch J. G. Fichte und F. List). Von hier aus reicht eine Linie zur sinnverstehenden Soziologie (M. Weber), zur österreichischen Volkswirtschaftslehre (C. Menger) und zum Neoliberalismus (F. A. von Hayek). Die von Gustav Hugo und Friedrich Carl von Savigny begründete Historische Schule des Rechts antwortete, zur Zeit des Wiener Kongresses (1814/15), auf ein politisch-gesellschaftliches Problem. Nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft in Deutschland, durch die die Rheinbund-Staaten unter das Revolutionsrecht – den Code Civil (Code Napoléon) – gestellt worden waren, stand die Frage nach der Neuordnung Deutschlands auf der Tagesordnung. Diese Frage war a priori als eine rechts- und staatsphilosophische gestellt: Denn es galt, sich vom 30
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französischen Rationalismus in der Form des Staatsrechts abzusetzen, wie Rousseau es im Contrat Social entworfen hatte und wie es in die Menschenrechtserklärung vom August 1789 eingegangen war. Der Kern jenes Rechts war die Idee der volonté générale, des vernünftigen allgemeinen Willens, durch den die Staatsbürger sich zur Republik integrieren. Die Frage nach der Neuordnung Deutschlands hätte nun scheinbar leicht entschieden werden können durch Rückkehr zum alten Recht. Aber Savigny (1959/1814) bemerkt: In denjenigen Ländern, „in welchen bis jetzt gemeines Recht und Landesrecht (nur etwa unterbrochen durch die kurze Herrschaft des Code) galt“, herrscht ein ganz unübersichtlicher Zustand in Rücksicht auf die „Rechtsquellen“, so dass ein „Rufen nach Gesetzbüchern“ entstanden ist (ebd., 95-97, 136f.). Das tradierte Recht, konstatiert Savigny, ist „uns“ fremd geworden, so dass „wir“ es nicht mehr verstehen – die Tradition, die deutsche Identität ist brüchig geworden und kann nur durch eine „streng historische Methode“ sinnverstehend – hermeneutisch – neu angeeignet werden. Es gelte demnach, Recht nicht durch Vernunft neu zu setzen, sondern die „organische“ Rechtsentwicklung historisch-hermeneutisch fortzuschreiben. So hat die Historische Schule die historische Methode des Quellenstudiums in der Absicht etabliert, die deutsche Identität auf eine organisch gegebene, unreflektierte Tradition zu stellen, so dass ein Gegensatz zur Vernunft des kosmopolitischen Liberalismus gesetzt war. Als am Ende des 19. Jahrhunderts, beim Übergang des Liberalismus in den Imperialismus, der Fortgang von der liberalen Aufklärung zur imperialistischen sozialen Physik vollzogen und dadurch der gesellschaftliche Irrationalismus durch die Bewegung der Dialektik der Aufklärung ebenso wie durch die Verallgemeinerung der Gegenaufklärung verwirklicht wurde, wurde die klassische, kosmopolitische Ökonomie abgelöst durch die neue ökonomische Fachwissenschaft: die Volkswirtschaftslehre. Sie war Ausdruck des post-liberalen Rationalismus einerseits durch die Intention, das Handeln des homo oeconomicus technisch zu rationalisieren, andererseits durch die Apologie gesellschaftlicher Irrationalität. Carl Menger, der Begründer der österreichischen Version der „Volkswirtschaftslehre“, hat in seinem folgenreichen Methodenwerk aus dem Jahre 1883 (1968) diese beiden Seiten expliziert. Einerseits leiste seine ‚reine Theorie‘ durch Formulierung von Kausalgesetzen eine Erklärung sowie eine Prognose sozialer Phänomene und eine Weltbeherrschung durch technische Handlungsrationalisierung (ebd., 33). Andererseits sei die Basis dieser Rationalisierung eine gesellschaftliche Irrationalität. In dieser Rücksicht beansprucht Menger, dass seine Theorie – und nicht die historische Nationalökonomie seines Kontrahenten Gustav von Schmoller – die wahrhafte Erbin der Historischen Rechts31
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schule, der Gegenaufklärung sei (ebd., 203-208): Wie die Historische Rechtsschule sich einst gegen den Rationalismus der französischen Aufklärung und Revolution richtete, so richte sich die Volkswirtschaftslehre nun gegen die Erbin jenes Rationalismus: die revolutionäre Arbeiterbewegung.
Der gesellschaftliche Anti-Rationalismus des Neoliberalismus Der Neoliberalismus als Gesellschaftstheorie und ökonomische Theorie schließt an die deutsche Gegenaufklärung und die österreichische Volkswirtschaftslehre an. Das theoretische Haupt des Neoliberalismus, Friedrich August von Hayek, bezeichnete seine „Gesellschaftstheorie“ (Hayek 1980, 144, 154, 157) erst als gesellschaftlichen „Irrationalismus“ (vgl. Hayek 1952, 36, 38), dann (1952, 18, 21; 1960, 87) als „Anti-Rationalismus“. Um die Tradition dieser Position zu kennzeichnen, zitiert er immer wieder Savigny und Burke, dann auch Menger, insbesondere die oben gegebene Textstelle; Hayek hat die Werke Mengers 1968 neu herausgegeben. Institutionalisiert wurde der Neoliberalismus 1947 durch Gründung der Mont-Pèlerin-Society; Hayek hielt auf dem Gründungskongress die programmatische Rede über ‚Freie Wirtschaft‘ und Wettbewerbsordnung. Das erste Dogma des Neoliberalismus lautet: Die Gesellschaft ist eine so komplexe Welt von Tatsachen, dass sie von niemandem als Ganzes erkannt werden kann (vgl. Hayek 1980, 23-53). Die gesellschaftliche Bewusstlosigkeit besteht, nach Hayek (1991/1960, 78f.), auf der Ebene einer blinden Tradition von Werten und Normen: von „Konventionen und Gebräuchen“, von „Moralregeln“, von „fest eingewurzelten Gewohnheiten und Überlieferungen“. Die „Mitglieder unserer Zivilisationen“ richteten sich nach „unbewussten Verhaltensformen“. Weil die Theorie nicht reflexiv hinter diese bewusstlose Tradition zurückgehen, diese also nur aussprechen kann, ist sie selbst ein Dogma, ein Glaubenssatz und „Glaubensbekenntnis“ (ebd., 85). Die Theorie vermag sich weder argumentativ zu begründen, noch sich durch Argumente annehmlich zu machen, sondern allein durch „Propaganda“ (vgl. Friedman 2002/1962, 38-43, 46-48). Das zweite Dogma des Neoliberalismus lautet: Weil die gesellschaftlichen Regeln undurchschaubar gegeben sind, bleibt den Mitgliedern der Gesellschaft nur, sich diesen Regeln anzupassen. „Anpassung“ ist der kategorische Imperativ des Neoliberalismus (Hayek 1991, 78f.).
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Das dritte Dogma des Neoliberalismus folgt aus dem zweiten. Die Anpassung der Menschen erfolgt an eine bewusstlose „zweite Natur“, die wie eine kausalgesetzliche „erste Natur“ (Hegel) erscheint und eine technische Handlungsrationalisierung post festum erlaubt. Das vierte Dogma des Neoliberalismus lautet: Weil die Gesellschaft als Ganze unerkennbar ist, muss die Theorie einem „methodischen Individualismus“ (Hayek 1968, 7) folgen. Der Einzelne ist gesellschaftlich blind und handelt zweckrational a posteriori. Soziale Erscheinungen werden aus dem Individuum als einem „vereinzelten Einzelnen“ (Marx) begriffen. Der „methodische Individualismus“ entspricht einer Gesellschaft, die so vollkommen bewusstlos ist, dass die Einzelnen deren Strukturen total verinnerlicht haben. So wurde einst der „autoritäre Charakter“ bestimmt (vgl. Horkheimer et al. 1987/1936, 58f.): Der neoliberale Individualismus steht auf dem Standpunkt des liquidierten Individuums. Das fünfte Dogma des Neoliberalismus gilt dem Begriff der Freiheit; Freiheit wird mit „Konformismus“ zusammengedacht. Da die Gesellschaft ebenso wie die Gesellschaftsgeschichte als undurchschaubar gilt, kann die Freiheit nur auf den „vereinzelten Einzelnen“ (Marx) bezogen werden. Unter der Bedingung blinder gesellschaftlicher Verhältnisse kann der Einzelne eine Freiheit nur darin besitzen, dass er selbst nach den angemessenen Zwecken und Mitteln seines Anpassungshandelns sucht – dass ihm niemand vorschreibt, was zu tun ist. Das sechste Dogma des Neoliberalismus lautet: Freiheit koinzidiert nicht – wie die kosmopolitische Freiheit der Menschenrechte – mit Gleichheit, sondern mit Ungleichheit (Hayek 1991, 106f.). Zum einen ist keine Vernunft gegeben, die die sozialatomistische Freiheit zu einer volonté générale, zu einem kategorischen Imperativ, verallgemeinern könnte. Zum anderen impliziert das Anpassungshandeln in der Form des zweckrationalen Handelns eine technische Rationalität, die jede Verständigung mit dem Anderen als einem Subjekt ausschließt, sondern den Anderen als ein Objekt setzt, das es zu beherrschen gilt, gegen das der eigene Zweck durchzusetzen ist. Die neoliberale Gesellschaft ist daher eine Gesellschaft des Kampfes in der Form des Wettbewerbs. Das siebte Dogma des Neoliberalismus lautet: Die Gesellschaft ist ungerecht, weil sie auf Freiheit und Ungleichheit beruht; jeder Versuch aber, diese Ungerechtigkeit und Ungleichheit durch Verwirklichung von ‚Vernunft‘ zu überwinden, vertieft die Übel der Welt, weil die ‚Vernunft‘ den allein Entwicklung und privatistische Freiheit garantierenden Wettbewerb zerstört und an dessen Stelle eine Diktatur setzt. Kaum eine Lehre ist sozialer Herrschaft so günstig wie der Neoliberalismus. Der neue Liberalismus ist hoffnungslos, weil er jede vernunft33
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gegründete Utopie als autoritären Traum dechiffriert. Der neue Liberalismus ist eine erinnerungslose Dogmatik, weil ihm keine Möglichkeit gesellschaftlicher, prinzipiell rückwärtsgerichteter Aufklärung bleibt. Der neue Liberalismus ist ein gesellschaftlicher Analphabetismus, weil er die Möglichkeit der Gesellschaftserkenntnis negiert. Der neue Liberalismus ist konformistisch und darum xenophobisch, weil er – wie jedes Dogma – die gesellschaftliche Welt in Freund und Feind trennt. Der Neoliberalismus verwandelt den klassischen Zusammenhang von Krise und theoretisch-praktischer Kritik in den Zusammenhang von Sozialatomismus, individualistischer Ungleichheit, bellum omnium contra omnes und individueller Anpassung oder „konformistischer Revolte“. Weil das neoliberale Subjekt gesellschaftliche Krisen als individuelle Defizite auffassen muss, bleibt ihm nur, sich über Versuch und Irrtum den blinden gesellschaftlichen Mechanismen anzupassen (Horkheimer 1974a, 164).
Implementierung des neoliberalen gesellschaftlichen Anti-Rationalismus Der Neoliberalismus, als Theorie spätestens in den vierziger Jahren ausformuliert, wurde nach der Weltwirtschaftskrise von 1973/79 als ökonomische, gesellschaftliche und politische Praxis zunächst auf nationalstaatlicher, dann auf regionaler, endlich auf globaler Ebene implementiert. Im Kontext der weltökonomischen Veränderungen, die zwischen 1973 (Ende des Bretton-Woods-Systems), 1982 (Mexiko-Krise; Schuldenkrise der Dritten Welt) und 1990 (Zusammenbruch des autoritären Staatssozialismus) implementiert wurden, sind die Begriffe der Wissensökonomie und Wissensgesellschaft entstanden. Wissen scheint immer bedeutsamer zu werden: auf der Ebene der Warenproduktion und -zirkulation durch die Erosion des Taylorismus, die Erosion der strikten Trennung von Hand- und Kopfarbeit; auf der Ebene der Dienstleistungen, weil weltweit die Nationalökonomien zunehmend Dienstleistungsökonomien sind, Dienstleistungen aber immer mehr eine immaterielle Form annehmen und in geistiger Arbeit – von Finanzdienstleistungen bis zur Forschungen in produktiver Absicht (Biotechnologie, Informationsund Kommunikationstechnologie), von der Werbung und der Logistik bis zur Kulturindustrie – bestehen. Das UNDP (1999, 80, 88) konstatiert mithin die Entstehung einer globalen „wissensintensiven Wirtschaft“, einer globalen „Informations-Gesellschaft“, also „Wissensgesellschaft“: Die „Produktion von Wissen“ könne sich „als Schnellspur zu höherem Wachstum erweisen“ (ebd., 72). Was aber bedeutet in diesem Kontext 34
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„Wissen“? Wissen ist zunächst, im deregulierten Waren- und Dienstleistungsverkehr, eine Ware, die verkauft und gekauft werden kann; vorausgesetzt ist, dass es sich um privates Eigentum handelt. Wie eine Linie von der Warenform zum Kapital führt, so ist das Wissen als Ware nur dann eine Ware, wenn sie der Kapitalverwertung dient: Die Frage, was Wissen sei, entscheidet sich weniger nach wissenschaftlichen Regeln und Zielen wie ‚Wahrheit‘, sondern nach der Verwertung. Die Institutionen, die das Wissen als Ware und Privateigentum anerkennen, sind – im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) – das GATS (General Agreement on Trade in Services) und das TRIPS (Trade-related Aspects of Intellectual Property Rights). Wissen heißt dann vor allem, dass es nicht den sozialökonomischen Bedingungen seiner Produktion und Verwendung gilt, dass es also die sozialökonomischen Verhältnisse selbst nicht reflektiert. Sowohl die Weltbank (2000) als auch das UNDP sprechen in ihren Berichten zum Thema ‚Globalisierung‘ von schicksalhaften „Kräften der Globalisierung“, die man allenfalls zügeln könne (UNDP 1999, iii). Das Ganze ist das Irrationale, der Weltkapitalismus als Mythos. Unter dieser bewusstlosen Voraussetzung erscheint die gesellschaftliche Welt als Welt isolierter Tatsachen – das Wissen ist Informationswissen, Tatsachenwissen, nicht aber Wissen durch Aufklärung und Selbstaufklärung seiner gesellschaftlichen Voraussetzungen. Das Wissen der Wissensgesellschaft ist kein reflektiertes Wissen, kein Wissen des Wissens, kein ‚Denken des Denkens‘ (Aristoteles), sondern ein Wissen von Sachverhalten unter der bewusstlosen Voraussetzung der gesellschaftlichen Verhältnisse, der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. So wird der Wissende zum Humankapital, zum bewusstlosen Ausführungsorgan des logos der kapitalistischen Ökonomie: zum Werkzeug. Das Wissen ist ihm, als unreflektiertes Wissen, keine Erkenntnis, die mit Selbsterkenntnis koinzidiert: kein Bildungswissen, sondern äußerliches, entfremdetes Wissen. Dieser Wissende wähnt sich frei, weil er seine gesellschaftliche Vermittlung – soziale Herrschaft – vollständig internalisiert hat; es ist die Freiheit des autoritären Charakters (vgl. Horkheimer et al. 1987, 58f.). Das hat schon Nietzsche vor mehr als einhundert Jahren konstatiert (NW 3, 191f., 193, 630). Die Produktionsstätten des Wissens, das sich nicht weiß und deshalb als Ware, als Privateigentum und als Instrument der Kapitalverwertung gesetzt ist, die Produktionsstätten auch der Menschen als Humankapital, sind einmal die Forschungslabore der Industrie, dann auch die öffentlichen und privaten Hochschulen. Sie werden neoliberal für die Wissensökonomie geformt (vgl. Stapelfeldt 2003, 137-168; Stapelfeldt 2007). Dem gesellschaftlichen Irrationalismus, Konformismus und Autoritarismus des Neoliberalismus gemäß wird in ihnen die Frage nach der Ge35
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sellschaft als Gegenstand der Forschung und als Bedingung der Forschung nicht länger gestellt. Das Wissen, das hier produziert und reproduziert wird, ist gesellschaftskonformes Wissen. Zwischen den Hochschulen und in den Hochschulen wird der Wettbewerb etabliert. Dazu müssen sich die Universitäten intern als Betriebe organisieren nach dem Vorbild von Wirtschaftsbetrieben. Eine Tauschwert-Forschung wird betrieben für eine kaufkräftige Nachfrage auf dem Wissensmarkt mit dem Ziel der Aneignung von Drittmitteln und Prestige; Hochschul-Rankings messen den Erfolg im Wettbewerb. Die Lehre wird von der Forschung entkoppelt, mithin unbedeutend, weil das Tauschwert-Wissen ein Wissen als fixer und äußerlich-entfremdeter Privatbesitz ist, das der sokratischen Aufklärung durch ein Lehren-Lernen – durch Reflexion und Selbstreflexion – nicht bedarf. Das Forschen und Lernen erscheint nicht als gesellschaftlicher, wahrheitsbezogener Prozess der Verständigung, sondern als Kampf zwischen Sozialatomen um den Sieg im Wettbewerb: um ‚Exzellenz‘. Die Aneignung von Wissen erfolgt als Auswendiglernen äußerlichen Wissens und dessen Abprüfung in ReproduktionsÜbungen. So werden die Wissenden nicht gebildet, sondern ihrer selbst entfremdet: Humankapital. Sie sind die Subjekte einer Gesellschaft – und Universität –, die den bellum omnium contra omnes in Form eines sozialdarwinistischen Daseinskampfes etabliert hat. Darum ist der Wettbewerb in der Gesellschaft, also auch in der Universität, die Einübung in Inhumanität (siehe: Adorno/Becker 1970/1968, 125-127).
Gesellschaftskritik durch utopisch gerichtete Erinnerung So liegt die Frage auf der Hand: Wie ist die gegenwärtig dominierende neoliberale Theorie, wie sind die als ‚Globalisierung‘ fetischisierten neoliberalen sozialökonomischen Verhältnisse noch durchschaubar, noch kritisierbar? Der klassische Liberalismus enthielt die Utopie einer Weltgesellschaft universeller Freiheit und Gleichheit, ewigen Friedens und eines Wealth of Nations. Daran konnte die Kritik anschließen: von Hegels Kritik der Französischen Revolution bis zum Frühsozialismus und zu Marxens Kritik der Politischen Ökonomie. Der neue Liberalismus, der aus dem alten durch eine Dialektik der Aufklärung hervorging und dadurch mit diesem auch bricht, hat alle utopischen Versprechen eingezogen: Er ist eine Ideologie ohne Utopie. Der Neoliberalismus ist deshalb nicht ebenso zu kritisieren wie Marx einst den klassischen Liberalismus kritisierte. Dennoch steht die Kritik des Neoliberalismus heute ebenso auf der Tagesordnung, wie die Liberalismus-Kritik im 19. Jahr36
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hundert um der Verwirklichung der „Träume“ der westeuropäischen Zivilisation willen zwingend geboten war (vgl. MEW 1, 343-346). Die Inhumanität der neoliberalen Verhältnisse fordert den theoretischen und praktischen Widerspruchsgeist heraus. Dieser ist, auch unter der neoliberalen Leugnung der Vernunft und der neoliberalen Denunziation aller Vernunftutopien als ‚totalitär‘, keineswegs auf ein bloßes, begründungsloses Moralisieren verwiesen, der dem neoliberalen Dogmatismus nur einen anderen Dogmatismus entgegensetzte – und insofern den herrschenden Anti-Rationalismus hilflos reproduzierte. Indem der Neoliberalismus die Vernunft, die Utopie leugnet, enthält er sie indes noch negativ und auch systematisch zentral: Die VernunftKritik ist seine Rechtfertigung – er ist nicht bloß ein „Glaubensbekenntnis“ (Hayek 1991, 85). Die Aporie des Neoliberalismus, explizit ein Dogma zu sein und doch eine rationale Begründung zu liefern, eine „Gesellschaftstheorie“ (Hayek 1980, 154 und öfter) zu sein, erscheint in dem Widerspruch, dass er für sich eine Einsicht in Anspruch nimmt, die er explizit als unmöglich denunziert: Wäre die Gesellschaft unerkennbar, wüsste der neoliberale Theoretiker dies gar nicht (vgl. Hayek 1968, 3f.). Der Neoliberalismus weiß aber durchaus noch, und ganz explizit, von vergangenen Vernunft-Utopien; er nennt ausdrücklich die neoliberalen Verhältnisse „unbewusst“ und anti-rational (Hayek 1991, 78, 87). Trotz der Apologie gesellschaftlicher Irrationalität, trotz seines methodischen Sozialatomismus, ist der Neoliberalismus also keineswegs frei von Erinnerung der Gesellschafts- und Theoriegeschichte. Darum ist eine Gesellschaftserkenntnis durch Gesellschaftskritik nicht liquidiert. Der Neoliberalismus ist zu kritisieren durch die Rekonstruktion seiner Genese, durch kritische Reformulierung seiner eigenen genetischen Selbstexplikation: durch die Aufklärung der Geschichte vor allem des Fortgangs vom Liberalismus zum Neoliberalismus als einer Dialektik der Aufklärung, des Aufstiegs und Verfalls der Vernunft. Diese ist, als vergangene Idee, deshalb nicht vollends aus der Gegenwart verbannt. Aber die Gesellschaftskritik wird zu einem revoltierenden Anachronismus, zur Erinnerung vergangener, gegenwärtig negierter „Träume“.
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Vorbemerkung: Der folgende Text ist eine überarbeitete Fassung meines Vortrags bei der Promovierendentagung „ErkenntnisArbeit“ der BöcklerStipendiatinnen und Stipendiaten am 13. Mai 2008 sowie eines längeren Beitrags zu der an den Vortrag anschließenden Diskussion. Der Charakter des mündlichen Vortrags wurde beibehalten, um aber dem Wunsch nach wissenschaftlicher Präzision Genüge zu tun, wurden eine Reihe von Fußnoten mit Quellenangaben und Erläuterungen hinzugefügt. Vielen Dank für die Einladung, der ich gern gefolgt bin, und vielen Dank auch für die Einführung zu meinem Referat. Ein Punkt in der Einführung hat mich allerdings ein bisschen gestört. Da hieß es, es sei schwierig, in dieser Republik Marxisten oder Marxistinnen zu finden, und das bezog sich offensichtlich auf mich. Mit anderen Worten: Da sitzt jetzt einer der wenigen Marxisten, die wir finden konnten. Was nun den Marxismus angeht, da verhalte ich mich – mit Bezug auf Marx – allerdings sehr orthodox. Es gibt ja diesen schönen Satz von Marx: „Je ne suis pas marxiste“.1 Und das ist nicht bloß so ein dahingeworfener Satz. Der drückt aus, dass Marx mit dem „Ismus“, mit dem Anspruch, da entsteht jetzt ein ganzes System, eine neue Weltanschauung, dass er damit seine Probleme hat. Es gibt auch ein paar weniger bekannte Äußerungen, die in eine ähnliche Richtung zielen. So hat er in seinen Kommentaren zu einem ökonomischen Lehrbuch, in dem er vom Autor als 1
Marx äußerte ihn gegenüber seinem Schwiegersohn Paul Lafargue, als der ihm von dem Treiben französischer Marxistinnen und Marxisten berichtete. Engels hat mehrfach darüber berichtet (vgl. MEW 22, 69; MEW 35, 388; MEW 37, 436). 41
MICHAEL HEINRICH
Schöpfer eines „sozialistischen Systems“ tituliert wurde, verärgert notiert, dass er „niemals ein ‚sozialistisches System‘ aufgestellt“ habe.2 Der „Ismus“, diese Systembildnerei, auf die später viele Marxistinnen und Marxisten so stolz waren, dieses Bestreben, auf alles eine „marxistische“ Antwort zu finden, das war nicht das marxsche Projekt. Der „Marxismus“ ist eine historische Konstruktion, die bereits sehr früh (nämlich in der Sozialdemokratie des späten 19. Jahrhunderts) angefangen hat, die dann im „Marxismus-Leninismus“ ihren Höhepunkt erlebte, die man aber nicht so ohne weiteres mit dem marxschen Projekt einer „Kritik“ in eins setzen kann. Dieses marxsche Verständnis von Kritik versuche ich nun – in der Kürze der Zeit – zu umreißen. Kritik war für Marx schon sehr früh ein ganz zentraler Begriff. Was hat er darunter verstanden? Da gibt es bei Marx nicht bloß ein Verständnis. Man kann nicht einfach sagen: Das marxsche Kritikverständnis besteht in dem und dem. Dieses Verständnis hat sich verändert. Das ist auch kein Wunder bei jemandem wie Marx, der über vierzig Jahre intensiv politisch, wissenschaftlich, publizistisch tätig war. Da kann man nicht davon ausgehen, dass Marx sozusagen als der ‚Marx‘ auf die Welt kam, dass von Anfang an alles aus einem Guss war und vierzig Jahre lang alles immer bloß noch besser und schöner wurde. Marx war ungeheuer lernfähig, er verarbeitete ständig neue Erfahrungen und war bereit, die eigenen Ergebnisse im Lichte neuer Einsichten zu überprüfen und zu kritisieren. Daher finden wir bei Marx auch mehrere Kritikkonzeptionen, die ich ganz schnell durchgehen möchte. Dabei geht es mir nicht um ein bildungsbürgerliches Interesse, es geht mir nicht darum, einen Autor in vollem Umfang vorzustellen. Ich beginne mit diesem Überblick deshalb, weil in den Debatten über Marx häufig auf einzelne dieser Kritikbegriffe Bezug genommen wird, positiv oder negativ, ohne dass aber berücksichtigt wird, dass sich diese Kritikbegriffe geändert haben. Ein Kritikbegriff, der seit den 1960er Jahren aber z. T. auch heute noch sehr prominent ist, orientiert sich an dem frühen Marx, an dem Marx der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von 1844, die vor allem durch das Entfremdungskonzept berühmt geworden sind: Der Mensch ist im Kapitalismus von seinem Gattungswesen entfremdet. Diese Konzeption, die abhebt auf ein „menschliches Wesen“, ist sehr stark von der Philosophie Ludwig Feuerbachs inspiriert. Marx übernimmt aber nicht einfach den feuerbachschen Begriff des Menschen als eines „sinnlichen“ Wesens, er erweitert ihn: In der gesellschaftlichen Arbeit entfaltet der Mensch in einem historischen Prozess seine Gat2 42
Randglossen zu Wagner, MEW 19, 357.
KRITIK BEI MARX
tungskräfte. Aber der Ansatzpunkt Feuerbachs, den Abstraktionen der hegelschen Philosophie den sinnlichen, konkreten Menschen entgegenzustellen, dieser Ansatzpunkt, diese Stoßrichtung, die teilt Marx, und 1844 wird Feuerbach dafür von Marx auch geradezu euphorisch gefeiert.3 Daraus resultiert nun ein spezifischer Kritikbegriff: Der schlechten kapitalistischen Wirklichkeit wird das eigentliche, wahre „menschliche Wesen“ gegenüber gestellt. Kritisiert wird am Kapitalismus, dass er diesem menschlichen Wesen nicht entspricht, dass der Mensch im Kapitalismus von seinem eigenen Wesen „entfremdet“ sei. Insofern handle es sich beim Kapitalismus um eine im wörtlichen Sinne un-menschliche Gesellschaft. Kommunismus, die praktisch gewordene Kritik, besteht dann darin, wieder zur „menschlichen“ Gesellschaft zurückzukommen. Dreh- und Angelpunkt dieser frühen Kritikkonzeption ist die Vorstellung eines „Wesens des Menschen“, die Marx aber zunehmend suspekt wurde. 1845 unterzog er diese Vorstellung zunächst in den Thesen über Feuerbach und dann gemeinsam mit Friedrich Engels in der Deutschen Ideologie einer grundsätzlichen Kritik, über die er 1859 im Vorwort von Zur Kritik der politischen Ökonomie schrieb, es sei darum gegangen, „mit unserem ehemaligen philosophischen Gewissen abzurechnen“ (MEW 13, 10). Dieses philosophische Gewissen, das war die feuerbachsche Philosophie. Feuerbach wird jetzt in Grund und Boden kritisiert und damit gibt es auch eine grundsätzliche Kritik an der Vorstellung eines „Wesens des Menschen“. In der Deutschen Ideologie werden diese Vorstellungen über ein menschliches Wesen, über eine dem Menschen entsprechende Gesellschaft als Idealisierungen der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse aufgefasst (vgl. etwa MEW 3, 38, 167). Man löst sich mit der Kritik an der „Entfremdung“ von dem menschlichen Wesen gar nicht aus den vorhandenen gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern hechelt einer Idealisierung dieser Verhältnisse hinterher. Eine solche Kritik, die eine bestimmte Vorstellung von einem Wesen des Menschen voraussetzt, ist damit für Marx nach 1845 nicht mehr möglich. Wenn man seine Texte durchliest, findet sich nach 1845 auch nirgendwo mehr ein positiver Bezug auf irgendeine Vorstellung eines „Wesens des Menschen“.4 Wie ist Kritik aber dann möglich? Marx entwickelt in der zweiten Hälfte der 1840er Jahre ein anderes Kritikkonzept. Er stützt sich auf die Ergebnisse der fortgeschrittensten bürgerlichen Wissenschaften, der po3 4
Vgl. etwa die Vorrede der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte, MEW 40, 468. Diese Einschätzung ist in der Literatur zu Marx nicht unumstritten. Eine ausführliche Darstellung der marxschen Abkehr von der Wesensphilosophie gebe ich in Die Wissenschaft vom Wert (1999, 4. Kapitel). 43
MICHAEL HEINRICH
litischen Ökonomie David Ricardos und auf die Klassenanalyse und Geschichtsschreibung vor allem französischer Historiker. Ihre Ergebnisse verwendet er in einem kritischen Kontext. Marx revidiert also diese Ergebnisse nicht, er kritisiert noch längst nicht die dabei verwendeten Kategorien, sondern er verwendet diese Ergebnisse in einer kritischen Weise. So etwa bei seiner Auseinandersetzung mit Proudhon im Elend der Philosophie von 1847. Dort lobt er Ricardo über den grünen Klee, der habe in hervorragender Weise den Kapitalismus analysiert; das einzige, was Marx zu dieser Zeit an Ricardo kritisiert, ist, dass Ricardo nicht gesehen hätte, dass der Kapitalismus etwas historisch Endliches sei, Ricardo betrachte ihn als Naturform der Ökonomie. Aber an der Art, wie Ricardo den Kapitalismus analysiert, an den Kategorien Ricardos, an seiner Argumentation, da hat Marx 1847-1848 im Grunde genommen noch nichts auszusetzen. Ein solcher Modus der Kritik – die kritische Verwendung der Ergebnisse einer Wissenschaft, die aber selbst nicht kritisch hinterfragt wird –, der ist auch heute noch verbreitet. Seine eigene, spezifische Konzeption von Kritik entwickelt Marx erst ab 1850. Marx war – als Folge der Niederlage der Revolution von 1848 – gezwungen, zuerst nach Paris und dann nach London zu emigrieren. Das bedeutete für ihn und seine Familie eine ziemliche Katastrophe, weil sie dort in den 1850er Jahren – trotz der Hilfe von Engels – unter ziemlich erbärmlichen Verhältnissen leben mussten, die auch zum Tod mehrerer ihrer Kinder beigetragen haben. Für Marx’ theoretische Arbeit war es dagegen ein ungeheurer Fortschritt. London war zu dieser Zeit nicht nur das kapitalistische Zentrum schlechthin. Mit der ungeheuren Bibliothek im British Museum, zu der es damals weltweit nichts Vergleichbares gab, wurden die umfassenden Studien von Marx überhaupt erst möglich. Ohne die erzwungene Emigration nach London hätte es das Kapital wahrscheinlich nie gegeben. Im oben erwähnten Vorwort von 1859 schreibt Marx, dass er in London mit seinen ökonomischen Studien wieder „ganz von vorn“ angefangen habe (MEW 13, 10). Und dieser Neuanfang hat sich gelohnt. Jetzt entwickelt Marx nämlich eine Kritik an den Grundkategorien der bürgerlichen Ökonomie. Er verwendet nicht mehr die Ergebnisse dieser Wissenschaft in einem kritischen Kontext, jetzt kritisiert er diese Wissenschaft als Ganze. Der Untertitel des Kapital, „Kritik der politischen Ökonomie“, erinnert nicht zufällig an ein für die Philosophiegeschichte sehr zentrales Werk, nämlich Die Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant. Auch dort ging es darum, eine Wissenschaft als Ganze zu kritisieren, die Möglichkeiten und die Grenzen einer Wissenschaft abzustecken und nicht bloß einzelne Theorien, einzelne Autoren zu kritisieren. Genauso verhält es sich mit der Kritik der politischen Ökonomie, 44
KRITIK BEI MARX
wie sie von Marx anvisiert wird. Es geht nicht einfach um Kritik an einzelnen Autoren, die findet natürlich auch statt, es geht jetzt vornehmlich um die Kritik einer ganzen Wissenschaft. Was wird nun an dieser Wissenschaft so grundsätzlich kritisiert? Dazu möchte ich euch ein kleines Zitat aus dem ersten Kapitel vom ersten Band des Kapital vorlesen, wo Marx die Leistungen der klassischen politischen Ökonomie hervorhebt und gleichzeitig ihre Grenzen aufzeigt. „Die politische Ökonomie hat nun zwar, wenn auch unvollkommen, Wert und Wertgröße analysiert und den in diesen Formen versteckten Inhalt entdeckt. Sie hat niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt, warum sich also die Arbeit im Wert und das Maß der Arbeit durch ihre Zeitdauer in der Wertgröße des Arbeitsprodukts darstellt?“ (MEW 23, 94f.)
Marx billigt der politischen Ökonomie hier zu, den Zusammenhang von Arbeit und Wert einigermaßen korrekt erfasst zu haben. Also das Resultat ist nicht in erster Linie das Problem, aber was kritisiert er? Er kritisiert, dass eine Frage ausgeblieben ist, nämlich die Frage, warum dieser Inhalt jene Form annimmt, er kritisiert nicht eine falsche Antwort, sondern er kritisiert, dass diese Frage nicht einmal gestellt wird. Und er liefert auch im folgenden Text die Erklärung dafür, warum diese Frage nicht gestellt worden ist: Nicht etwa, weil einzelne Ökonomen borniert gewesen wären. Das waren sie meinetwegen auch, aber das ist nicht der entscheidende Punkt. Die Frage wird nicht gestellt, weil die politische Ökonomie als bürgerliche Wissenschaft einer Naturalisierung unterliegt, die in der bürgerlichen Gesellschaft selbst angelegt ist: Die bürgerlichen, auf Warenproduktion beruhenden gesellschaftlichen Verhältnisse werden als natürliche und damit als grundsätzlich nicht veränderbare wahrgenommen.5 Wenn Marx diese Kritik der politischen Ökonomie leistet, wenn er eine gesamte Wissenschaft kritisiert, dann werden manche jetzt vielleicht denken, „Naja, was soll’s, das ist ja ziemlich abstrakt und abgehoben, warum sollen wir uns damit befassen?“ Die Wissenschaft, die Marx hier kritisiert, ist nicht irgendeine Wissenschaft, es ist die für die bürgerliche Gesellschaft zentrale Wissenschaft, die nämlich beansprucht, 5
Es ist der von Marx analysierte „Fetischismus“ der bürgerlichen Verhältnisse – dass gesellschaftliche Beziehungen als gegenständliche Eigenschaften auftreten –, der diese Naturalisierung hervorbringt. Die marxsche Analyse des Fetischismus beginnt zwar mit dem Warenfetisch im ersten Kapitel des Kapital, sie endet dort aber nicht, sondern zieht sich durch alle drei Bände hindurch. Ihren Abschluss findet sie erst in der Darstellung der „Trinitarischen Formel“ am Ende des dritten Bandes (vgl. dazu das 10. Kapitel meiner Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, 2004). 45
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aufzuklären über das Funktionieren dieser Gesellschaft, und die gleichzeitig auch das Selbstverständnis dieser Gesellschaft artikuliert. Was bedeuten Freiheit, Gleichheit, Eigentum in dieser Gesellschaft? Die zentralen und auch praktisch wirksamen Antworten auf diese Frage bietet die politische Ökonomie. Indem Marx die systematischen Blindheiten der politischen Ökonomie kritisiert, wird Wissenschaftskritik ganz schnell zu Gesellschaftskritik. Allerdings muss man sich hier vor zwei häufigen Missverständnissen hüten. Es geht Marx weder darum, die Wahrheit von Freiheit, Gleichheit und Eigentum gegen ihre bürgerliche Verzerrung einzuklagen. Im Gegenteil, dieser Kritikmodus, der Versuch, die bürgerlichen Ideale gegen die schlechte bürgerliche Wirklichkeit auszuspielen, der wird von Marx ebenfalls kritisiert.6 Es geht Marx aber auch nicht um eine Kritik am Kapitalismus von irgendeinem moralischen Standpunkt aus. Wann immer er im Kapital auf eine solche moralische Kritik zu sprechen kommt, macht er sich darüber lustig.7 Aber was kritisiert Marx denn nun? Sind es nur ausgebliebene Fragen? Naturalisierungen und Fetischisierungen? Marx betrachtete sein Kapital als eine Waffe in den Kämpfen seiner Zeit. Keineswegs unbescheiden nannte er es in einem Brief das „furchtbarste Missile“, das den Bürgern noch an den Kopf geschleudert worden sei (MEW 31, 541). Es geht ihm nicht bloß um eine andere Politik oder gar nur um andere Verteilungsverhältnisse, es geht ihm um eine andere Art der Vergesellschaftung, es geht ihm um die Abschaffung des Kapitalismus. Aber warum sollen sich Menschen für dieses Ziel einsetzen? Die Kritik der Grundkategorien und der Fragestellungen der politischen Ökonomie geht einher mit einer Analyse des Funktionierens der kapitalistischen Produktionsweise, die das destruktive Potential dieser Produktionsweise enthüllt. Dass der Kapitalismus in seinem Fortschritt destruktiv ist, sowohl für die Arbeitskraft wie auch für die Natur, ist keine spezifisch marxsche Einsicht. Marx will aber nicht nur auf die Faktizität dieser Zerstörung hinaus, er will zeigen, dass dieses destruktive Potential dem 6
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Im Kapital findet sich diese Kritik unter der Überschrift „Umschlag der Aneignungsgesetze“ nur sehr knapp im 22. Kapitel des ersten Bandes, ausführlicher wird dieser Punkt in den Grundrissen (Marx 1974) und dem Urtext von Zur Kritik der politischen Ökonomie behandelt (MEGA2 II/2). Man vgl. etwa die Art und Weise, wie Proudhon abgefertigt wird (z. B. MEW 23, 99f., Fn. 38). Dass es Marx nicht nur um die Zurückweisung bestimmter Gerechtigkeitskonzeptionen geht, sondern dass er „Gerechtigkeit“ als Maßstab der Kritik für grundsätzlich ungeeignet, weil nämlich der jeweiligen Gesellschaft verhaftet, hält, macht eine Bemerkung im dritten Band sehr deutlich (MEW 25, 351f.; vgl. ausführlicher zu der gesamten Thematik, ob man bei Marx eine normative Kritik findet, Kapitel 9.1 der Wissenschaft vom Wert).
KRITIK BEI MARX
Kapitalismus notwendigerweise inne wohnt. Die vom Kapitalismus angerichteten Zerstörungen, sowohl die physischen und psychischen als auch die sozialen und ökologischen, sind keine Betriebsunfälle, keine Folgen uneinsichtiger Politik (obwohl auch das vorkommen mag), sie sind vielmehr die Konsequenz einer Produktionsweise, deren Zweck, dem alles andere untergeordnet wird, in der Verwertung von Wert besteht.8 Es geht Marx nicht darum, dass der Kapitalismus einer Moral oder irgendeinem Gerechtigkeitsideal entgegen stehen würde. Er will vielmehr aufzeigen, dass der Kapitalismus bereits von seiner Grundstruktur her den unmittelbaren Lebensinteressen der Menschen entgegen gesetzt ist. Mit seinem Kapital wollte Marx die Struktur dieser Zumutung des Kapitalismus deutlich machen, in der Hoffnung, dass die Menschen mit dieser Zumutung eines Tages Schluss machen. Damit sind wir bei der Frage nach dem Subjekt der Veränderung. In vielen marxistischen Debatten ging es um die Frage „wer ist das revolutionäre Subjekt?“ und dabei wurden dann im Lauf der Zeit ganz unterschiedliche Antworten gegeben. Mir kommt diese Debatte aber ein bisschen so vor wie die Suche der Alchemisten nach dem „Stein der Weisen“, der jedes Metall in Gold verwandeln sollte: Wir müssen nur noch herausfinden, wer das revolutionäre Subjekt ist, ihm Bescheid sagen und dann geht die Post ab, Richtung Revolution. Ein „revolutionäres Subjekt“ ist aber nicht einfach da, es konstituiert sich vielmehr in einer revolutionären Situation. Und wenn die Revolution eine Niederlage erlebt – was ja, wie wir aus der Geschichte wissen, nicht gerade selten der Fall ist –, dann zerfällt auch das revolutionäre Subjekt. Die Fetischismen, die Naturalisierungen, die Marx analysiert hat, die sind keineswegs undurchdringlich. Sie können durch Kämpfe, durch praktische Erfahrungen, dass alles auch anders geht, in Frage gestellt und überwunden werden. Aber es gibt keine Gewissheit, dass diese Erfahrungen und Lernprozesse von Dauer sind, sie können auch wieder verloren gehen. Hinzu kommt noch ein weiteres Moment. Der Kapitalismus ist enorm flexibel. In seiner Geschichte hat er schon jede Menge oppositioneller Bewegungen und grundsätzlicher Kritik integriert und sich nutzbar gemacht. Diese Nutzbarmachung kennt im Kapitalismus keine Grenzen. Insofern müssen diejenigen, die grundsätzliche Kritik üben, welche auf Veränderung und Abschaffung des Kapitalismus zielt, sich stets fra8
Zusammenfassend schreibt Marx am Ende des 13. Kapitels: „Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ (MEW 23, 529f., vgl. auch 673-675) 47
MICHAEL HEINRICH
gen lassen und auch sich selbst die Frage stellen, welche ungewollte Rolle sie möglicherweise mit ihrer Kritik in diesem System spielen? Es gibt keine privilegierten Orte, für die man sagen könnte: „Da passiert mir das nicht“. Innerhalb der Institutionen (nicht zuletzt der akademischen) passiert es sehr schnell, dass man aufgesogen wird, dass man sich anpasst, ohne es gleich zu bemerken. Aber wenn man sich den Institutionen verweigert und sagt, wir bleiben draußen, wir bleiben rein, unbefleckt von allem, hat man genauso wenig eine Gewissheit dafür, nicht vereinnahmt zu werden. Es gibt keinen privilegierten Ort der Kritik, der grundsätzlichen Opposition. Deshalb darf man auch den eigenen Ort der Kritik nicht von der Kritik ausnehmen. Dasselbe gilt auch für oppositionelle Bewegungen. Vorhin wurden die Zapatisten erwähnt. Ihr Motto „Fragend gehen wir voran“ wird ja auch hierzulande allen möglichen kritischen Publikationen vorangestellt. Das wird alles zum Teil ziemlich euphorisch gefeiert. Wenn man jedoch darauf hinweist, dass es bei den Zapatisten auch ein paar nationalistische Töne gibt, dass dort ‚das Volk‘ hochgehalten wird, dann kommt sofort die Erklärung, das stehe im kulturellen Kontext, der sei ein ganz anderer als bei uns. Wenn überhaupt Kritik geübt wird, dann wird sie in viel Watte verpackt. Wenn ich das hier betone, dann geht es mir nicht um ein Zapatisten-Bashing, sondern um die häufig zu beobachtende Kritiklosigkeit derjenigen, die sich auf die Zapatisten beziehen. „Proletarische Revolutionen“, schrieb Marx im 18. Brumaire, „kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche“ (MEW 8, 118) – schön wär’s, wenn es wirklich so wäre.
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Adorno nic ht. Kritik als Praxis in Zeiten deren Unmöglic hke it DIRK BRAUNSTEIN
I. Adorno kommt, wie so viele linke Intellektuelle seiner Zeit, durch die Rezeption von Georg Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein zur Gesellschaftskritik im Allgemeinen und zu einer marxistischen Kritik im Besonderen. Aus dieser 1923 publizierten Schrift übernimmt er unter anderem die These der allumfassenden Verwarenförmigung der Gesellschaft sowie in Konsequenz daraus das an Hegel orientierte Konzept der Gesellschaft als Totalität. Die Gesellschaft habe historisch einen Stand erreicht, in dem alles zur Ware wird und insofern der irrationalen Rationalität des Warentausches unterliegt. Damit ist zugleich eine Grenze zu Lukács gezogen, der dem Proletariat in einer Gesellschaft, in der die Warenform universal geworden ist, die messianische Rolle zuweist, als seinerseits warenförmiges Subjekt die Totalität der Wirklichkeit zu denken. Für Adorno hingegen, der bezweifelt, dass die Totalität positiv erkannt werden kann, geht es darum, diese zu kritisieren. Gesellschaft ist ihm ein Zwangszusammenhang, der allen Individuen unabhängig von deren Klassenzugehörigkeit auferlegt ist. Das Ganze ist kein System, das liefe wie geschmiert, denn „[d]er Vergesellschaftungsprozeß vollzieht sich nicht jenseits der Konflikte und Antagonismen oder trotz ihrer. Sein Medium sind die Antagonismen 49
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selbst, welche gleichzeitig die Gesellschaft zerreißen. Im gesellschaftlichen Tauschverhältnis als solchem wird der Antagonismus gesetzt und reproduziert, der organisierte Gesellschaft jeden Tag mit der totalen Katastrophe auslöschen könnte.“ (Adorno 1972a, 14f.)
Hier sind die Menschen bloß „Anhängsel der Maschinerie“ (ebd., 18), ein gesellschaftliches Gesamtsubjekt existiert nicht. Im Gegenteil: Adorno sieht „das spezifisch Gesellschaftliche im Übergewicht von Verhältnissen über die Menschen, deren entmächtigte Produkte diese nachgerade sind“ (ebd., 9), d. h. in der „Abhängigkeit aller Einzelnen von der Totalität […], die sie bilden. In dieser sind auch alle von allen abhängig. Das Ganze erhält sich nur vermöge der Einheit der von seinen Mitgliedern erfüllten Funktionen. Generell muß jeder Einzelne, um sein Leben zu fristen, eine Funktion auf sich nehmen und wird gelehrt, zu danken, solange er eine hat.“ (Ebd., 10)
II. Der Begriff der gesellschaftlichen Totalität zieht die Frage nach sich, was eigentlich die Gesellschaft zur Totalität verhalte; was das synthetisierende Moment bzw. der ‚Kitt‘ sei, von dem Adorno gelegentlich spricht. Marx ist in seiner Theorie der Vergesellschaftung davon ausgegangen, dass die Individuen innerhalb der vorgefundenen Handlungsgrenzen nach ihrem jeweiligen Interesse handelten (und sei dies Interesse das Erhalten des nackten Lebens), um so die Gesellschaft – den Interessen einzelner zuwider – in jener Form fortexistieren zu lassen, in der die Handlungsspielräume auch weiterhin aufs gesellschaftlich Notwendige begrenzt sind. Bedurfte es vormals der Ideologie, einer sei’s göttlichen, sei’s natürlichen Ordnung des menschlichen Zusammenlebens, der zufolge die einen arbeiten, die anderen herrschen müssen zum gesellschaftlichen Wohle, das sich als individuelles Glücksversprechen den Einzelnen vermittelte, lässt Adorno zufolge „ohne viel Übertreibung sich sagen, in der gegenwärtigen Situation seien buchstäblich die Menschen selber, in ihrem So- und Nichtanderssein, die Ideologie, die das falsche Leben trotz seiner offenbaren Verkehrtheit zu verewigen sich anschickt“ (ebd., 18). Im Gegensatz zur antipsychologischen Theorie von Marx, Ausdruck einer „rein materialistische[n] […] Auffassung, von keinen Gemütsmucken gestört“ (Marx/Engels 1990, 416), erkennt Adorno die
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„Notwendigkeit eines psychologischen Surplus über die objektive Ökonomie, um die Gesellschaft zusammenzuhalten“ (Adorno 2003b, 292). War einst die Familie jener Kitt, der die Individuen zusammenschloss, wird der notwendige Zwang im Spätkapitalismus zwanglos von der Kulturindustrie ausgeübt. Deren Begriff deutet allerdings bereits auf die Herkunft des mit ihm Bezeichneten aus der wiederum ökonomischen Sphäre: Kultur wird nach kapitalistischen Verfahrensregeln produziert und belobigt dergestalt – formal wie inhaltlich – jene Sphäre, der sie entstammt. „Geistige Gebilde kulturindustriellen Stils sind nicht länger auch Waren, sondern sind es durch und durch. Diese quantitative Verschiebung ist so groß, daß sie ganz neue Phänomene zeitigt. Schließlich braucht die Kulturindustrie gar nicht mehr überall die Profitinteressen direkt zu verfolgen, von denen sie ausging. Sie haben in ihrer Ideologie sich vergegenständlicht, zuweilen sich unabhängig gemacht vom Zwang, die Kulturwaren zu verkaufen, die ohnehin geschluckt werden müssen. Kulturindustrie geht über in public relations, die Herstellung eines good will schlechthin, ohne Rücksicht auf besondere Firmen oder Verkaufsobjekte. An den Mann gebracht wird allgemeines unkritisches Einverständnis, Reklame gemacht für die Welt, so wie ein jedes kulturindustrielles Produkt seine eigene Reklame ist.“ (Adorno 1977a, 338f.)
Jenseits der ökonomischen Notwendigkeit materieller Versorgung hat sich ein stahlharter und selbstvergessener Wille zum praktisch unbedingten Mitmachen etabliert, der nicht mal mehr ideologisch legitimiert werden muss. Kultur ist dergestalt nur mehr Negation dessen, was darzulegen die Kritische Theorie da sein soll: Dass das, was ist, nicht alles ist, nur weil es ist. „Der Kitt von einst, die Ideologien, welche die Massen bei der Stange hielten, sind zusammengeschrumpft zur Imitation dessen, was ohnehin ist, unter Verzicht darauf, es zu überhöhen, zu rechtfertigen, selbst es zu verleugnen.“ (Adorno 1973, 405) Kultur gehorcht einem Positivismus, demzufolge die Welt nicht mehr ist, als was sie zu sein scheint. Der Tausch „verhält die ganze Welt zum Identischen, zur Totalität“ (Adorno 1970, 149), und die Kulturindustrie bestätigt den Individuen unablässig, dass die Welt nun mal genau so beschaffen sei. Kritik am Ganzen der Gesellschaft ist so gründlich desavouiert, wie die Einsicht, es könne alles auch ganz anders sein, zur Illusion degradiert ist, die man sich als rational denkender und handelnder Mensch besser nicht macht. Die „Kritik an der Utopie ist heute selbst in den ideologischen Vorrat hinabgesunken, während gleichzeitig der Triumph der technischen Produktivität dazu taugt vorzuspiegeln, die Utopie, unvereinbar 51
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mit den Produktionsverhältnissen, sei in deren Rahmen bereits verwirklicht.“ (Adorno 1972b, 362) Zwar ist Kritik dort wohlgelitten, wo sie auf partikulare Verbesserungen innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen aus ist, hat mit wirklicher Kritik aber nichts mehr gemein. Ist diese auf die Negation des Kritisierten aus, sucht die realpolitische, sich ‚konstruktiv‘ wähnende Kritik nach Handlungsspielräumen oder dergleichen innerhalb dessen, was bereits ist; was schon deshalb nicht angetastet werden darf, weil man ja nie wissen kann, ob es nicht noch schlimmer kommt, und außerdem sei man dem Ganzen gegenüber eh ohnmächtig. Realistisch ist diese Position ohne Zweifel, aber „[r]ealitätsgerechte Empörung wird zur Warenmarke dessen, der dem Betrieb eine neue Idee zuzuführen hat“ (Horkheimer/Adorno 1980, 153). Die Gesellschaft verleibt sich jene Kritik, die nicht aufs Ganze zu gehen bereit ist, bestenfalls als den bis morgen letzten Schrei ein; wahrscheinlicher ist, dass sie sie schlicht ignoriert. Wenn Kritik hingegen tatsächlich einmal gegen das Ganze gerichtet ist, erfährt sie unweigerlich ihre eigene Ohnmacht, die zuletzt darin besteht, dass sie nicht unmittelbar eingreifen kann. Trotzdem: „Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.“ (Adorno 1980, 63) – Wenn alle anderen Möglichkeiten versperrt sind, bleibt immer noch die Kritik an diesem Versperrtsein, während jedwede partikulare Kritik unweigerlich entweder in der Sackgasse endet oder gleichsam von sich aus doch wieder zum Ganzen führt, weil die konsequente Kritik an bestimmten gesellschaftlichen Sachverhalten diese unweigerlich als bloße Momente jenes Ganzen zu erkennen gibt. Wenn, einem vielzitierten Wort Adornos aus den Minima Moralia gemäß, das Ganze das Unwahre ist (siehe Adorno 1980, 55), sind es seine Teile, als Momente des Ganzen, ebenfalls.1 1
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Dies gilt übrigens auch für die Wissenschaften als Teil jenes gesellschaftlichen Ganzen. Während Marx, wie Michael Heinrich betont, seine Kritik der politischen Ökonomie „einreiht in ‚wissenschaftliche Versuche zur Revolutionierung einer Wissenschaft‘“ (Heinrich 2008, 36; das Zitat Marx’ stammt aus einem Brief an Ludwig Kugelmann vom 28. Dezember 1862) und dergestalt eine Kritik an „den sogenannten positiven Wissenschaften […] niemals vollzog, sondern seinem Selbstverständnis nach sich in Übereinstimmung mit den positiven Wissenschaften geglaubt“ (Adorno 1974b, 172) hat, ist Adorno zufolge für die Kritische Theorie „Wissenschaft eine unter anderen gesellschaftlichen Produktivkräften und verflochten in die Produktionsverhältnisse. Sie selbst unterliegt jener Verdinglichung, gegen welche die kritische Theorie sich richtet. Sie kann nicht das Maß der kritischen Theorie, diese kann nicht Wissenschaft sein wie Marx und Engels es postulieren.“ (Adorno 2003b, 292) Kritik darf nicht ausgerechnet vor der Rationalität haltmachen, unter deren An-
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So verhält es sich, um ein Beispiel anzuführen, mit der Hoffnung Adornos, der gerechte Tausch möge sich endlich erfüllen: Diese Utopie ist keineswegs identisch mit der klassenkämpferischen Forderung des Arbeiterbewegungsmarxismus nach gerechtem Lohn. Der wirklich gerechte Lohn wäre eins mit der Überwindung des Kapitalismus, insofern als er der volle Ertrag der Arbeit, mithin alle durch Verausgabung der Arbeitskraft erzeugten Waren bzw. deren Geldwert wäre. Dadurch käme dem Arbeiter der gesamte selbsterzeugte Wert zu, inklusive des Mehrwerts. Der Kapitalist, der die Arbeitskraft des Arbeiters für das Geld gekauft hat, ginge also leer aus, das System, das auf dem Tausch der Ware Arbeitskraft gegen Lohn basiert, bräche – dergestalt real ad absurdum geführt – zusammen. „Das allein transzendierte den Tausch.“ (Adorno 1970, 150) Wo wahrhaft Gleiches getauscht würde, wäre der Tausch ebenso überwunden, wie die Idee der Gerechtigkeit hinfällig würde. Anders gewendet: Die Kritik an der Ungerechtigkeit des Tauschs lässt sich konsequent nur durchführen als Kritik an der Gesellschaft, die sich erst durch diese Ungerechtigkeit überhaupt konstituiert und an ihr deshalb notwendig festhalten muss. Die Unwahrheit der Gesellschaft als ganzer macht es auch theoretisch wie praktisch unmöglich, konstruktive Kritik innerhalb dieses Ganzen zu üben. Bereits 1848 schreiben Marx und Engels in einem Artikel für die Neue Rheinische Zeitung: „Verlangt eine teilweise Reform in den industriellen und kommerziellen Zuständen […], und sie halten euch die Verkettung und die Wechselwirkung der Gesamtorganisation entgegen. Verlangt die Umwälzung der Gesamtorganisation, und ihr seid destruktiv, revolutionär, gewissenlos, utopisch und überseht die partiellen Reformen. Also Resultat: Laßt alles beim Alten.“ (Marx/Engels 1959, 423)
Eine sich ‚konstruktiv‘ nennende Gesellschaftskritik, die realpolitisch auf Reformen aus ist, um die Gesellschaft in ihrer bestehenden Form unberührt zu lassen, ist keine Gesellschaftskritik. Eine solche gewönne ihre Positivität nicht in voreiligem Einverständnis mit der einen oder anderen partikular-hilfreichen Einrichtung innerhalb des Bestehenden, sondern erst als bestimmte Negation dessen insgesamt. Den einzig womöglich gangbaren Weg sieht Adorno darin, in bestimmter Negation dessen, was bereits ist, über dieses hinauszuführen, indem „das Falsche, einmal bestimmt erkannt und präzisiert, bereits Index des Richtigen, Besseren ist“ (Adorno 1977c, 793), denn „das einzig wendung sich sowohl das Wissenschaftsverständnis als auch die Gesellschaft als solche konstituieren. 53
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Positive, das man ‚hat‘, ist das Gegebene in seiner Schlechtigkeit, über das die Erkenntnis mit nichts anderem hinausgeht als damit daß sie die Schlechtigkeit durch den immanenten Widerspruch des Gegebenen bestimmt. Das Positive ist das Negative, und nur das Negative, die bestimmte Negation, eigentlich positiv“ (Adorno 2004, 486); das meint konkrete Kritik an konkreten Verhältnissen im Gegensatz zur ‚konstruktiven Kritik‘, für die ‚das Positive‘ immer schon abrufbar scheint, wenn man sich nur seine rechten Gedanken macht.
III. Die Frage drängt sich auf, wie Kritik praktisch werden könnte, ohne sogleich in Affirmation des Bestehenden zurückzufallen. Für Adorno ist dieses Praktischwerden nur vermittels einer kritischen Theorie möglich. Den unmittelbaren Bezug zur Praxis sieht er als einen „Sprung in die Praxis“, der „den Gedanken nicht von der Resignation [kuriert], solange er bezahlt wird mit dem geheimen Wissen, daß es so doch nicht gehe“ (Adorno 1977d, 796). In drei Diskussionen, geführt 1939, 1945 und 19562, besprachen Adorno und Horkheimer je gemeinsam die Möglichkeit, ein, wie Adorno es formulierte, „streng leninistisches Manifest“ (Horkheimer/Adorno 1996, 66) zu schreiben und zu verbreiten, um politisch in die jeweils gegenwärtige Gesellschaft einzugreifen. Adorno und Horkheimer arbeiteten sich in allen drei Gesprächen über die Jahre hinweg regelrecht an der Frage ab, wie in einer historischen Phase noch wirksam zu schreiben sei, in der einerseits die Wirklichkeit nicht länger ideologisch verbrämt, sondern jedem offen zur Schau gestellt ist, andererseits alle Aufrufe nur mehr mit gefälligem Interesse rezipiert werden, so dass jedem Appell von vornherein der Stachel genommen ist; wie also ein wirksames Manifest in einer Zeit zu schreiben sei, in der, wie Adorno 1959 schreibt, für „das Flugblatt und das Manifest, […] heute die objektiven Voraussetzungen [fehlen]“: „Wer sie mimt, plustert nur als geheimer Machtanbeter die eigene Ohnmacht auf“ (Adorno 1974a, 348); kurz: ob Kritische Theorie in Zeiten der gesellschaftlich abgeschnitten Vermittlung zwischen Theorie und Praxis doch praktisch werden könne. Dieses Manifest ist nie zustande gekommen, und damit ist zugleich die Frage beantwortet: Adorno und Horkheimer sahen keine Vermitt2
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Die Diskussion von 1939 findet sich in Horkheimer/Adorno 1985, die von 1956 in dies. 1996. Die 1945 geführte Diskussion ist bislang unveröffentlicht.
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lungschancen für politisch wirksame kritische Theorie, unmittelbares Eingreifen galt Adorno zumal als auf unabsehbare Zukunft vertagt. Wo einerseits der Augenblick zur „Verwirklichung der Philosophie“, „in dem, wie Adorno vermutete, Befreiung einmal möglich war“ (Demirovi 1998, 89), versäumt ist, sich andererseits eine neue Möglichkeit der Verwirklichung aber nicht auch nur von ferne abzeichnet, ist eine Praxis, die so tut, als ob „die Revolution unmittelbar bevorstünde“ nur mehr anachronistisches Überbleibsel aus vermeintlich besseren Tagen, während eine tatsächlich befreiende Praxis „auf unabsehbare Zeit vertagt“ (Adorno 1970, 15) ist. Jede Theorie, die solche Praxis stützen soll, muss in „weltanschauliche[s] Abrakadabra“ (Adorno 1977b, 460) verfallen. „Der Augenblick, an dem die Kritik der Theorie“ – zugunsten der Praxis – „hing, läßt nicht theoretisch sich prolongieren“ (Adorno 1970, 15). Adorno geht es gerade um das „Nachdenken darüber, warum es nicht geschah; also warum die Praxis in jenen Schwierigkeiten oder in jener Situation des Stillgestelltseins sich findet“ (Adorno 2003a, 86). Und „dieses Nachdenken ist selbst ein wesentlicher Teil dessen, was man heute überhaupt Philosophie nennen kann. Also in gewissem Sinn ist der Prozeß von Theorie und Praxis dadurch, daß der prognostizierte Übergang der Theorie in die Praxis nicht erfolgte, an die Theorie wieder zurückzuverweisen.“ (Adorno 2003a, 86f.) Es käme daher, die elfte Feuerbachthese von Marx zu revidieren, darauf an, darüber nachzudenken, weshalb die Möglichkeit zur Veränderung der Welt versperrt ist. Kritik als theoretische ist die bis auf weiteres einzig verbleibende Praxis radikaler Gesellschaftskritik. Sich damit zu bescheiden, fällt, so denn tatsächlich mal ein Veränderungswille vorhanden ist, schwer. „Distanz von Praxis ist allen anrüchig. Beargwöhnt wird, wer nicht fest zupacken, nicht die Hände sich schmutzig machen möchte, als wäre nicht die Abneigung dagegen legitim und erst durchs Privileg entstellt“ (Adorno 1977d, 794), also dadurch, dass sich viele ‚die Hände schmutzig machen‘ müssen, damit einige wenige es nicht brauchen. Die Konsequenz dieser Theoriefeindschaft zeitige sich, so Adorno seinerzeit, in den Staaten des Ostblocks: Wenn die Praxis gegen die gebotene Theorie ausgespielt wird, ist zugleich der Praxisbegriff ideologisch eingeschränkt auf „gesteigerte Produktion von Produktionsmitteln; Kritik wurde nicht mehr geduldet außer der, es werde noch nicht genug gearbeitet“ (ebd., 795). Auf diese Weise – siehe oben: „Laßt alles beim Alten“ – schlage „die Subordination von Theorie unter Praxis um in den Dienst an abermaliger Unterdrückung“ (ebd.). Einen Ausweg aus der einseitigen Verabsolutierung von Praxis, die darauf hinausläuft, das, was eh getan wird, noch mehr zu tun, 55
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„könnte einzig Denken finden, und zwar eines, dem nicht vorgeschrieben wird, was herauskommen soll […]. Sind die Türen verrammelt, so darf der Gedanke erst recht nicht abbrechen. Er hätte die Gründe zu analysieren und daraus die Konsequenz zu ziehen. An ihm ist es, nicht die Situation als endgültig hinzunehmen. Zu verändern ist sie, wenn irgend, durch ungeschmälerte Einsicht.“ (Ebd., 796)
Diese Einsicht wäre zugleich eine in die Gesellschaftlichkeit der Gesellschaft selbst, damit auch eine in ihre grundsätzliche Veränderbarkeit. Sie begriffe das Unnatürliche als bloß gemachtes, auch wenn es als Natürliches erscheint; das scheinbar natürlich Gegebene als gesellschaftliches Produkt, als das es ausführlich bei Marx ausgewiesen und kritisiert ist. Das Ganze, als Objekt der Kritik, ist das gesellschaftlich Ganze, das „sich mit der Aura naturwüchsigen Ansichseins“ (Böckelmann 1998, 34) umgibt. Auf diese Weise werden kritikable Zustände – wie die Tatsache, dass sich die Individuen mal mehr oder weniger regieren lassen müssen – als das erkannt, was sie sind: zu allen Zeiten sich bemerkbar machende Epiphänomene eines falschen Ganzen, das sich, so Adorno, „knirschend, stöhnend, mit unsäglichen Opfern“ (Adorno 1972a, 15) durch ebendiese Opfer erhält.
IV. Im Frühjahr 1969 gibt Adorno dem Spiegel ein Interview. Kurz zuvor, auf dem Höhepunkt der Studentenrevolte, ist Adornos Vorlesung gesprengt sowie der Versuch unternommen worden, das Institut für Sozialforschung, dessen Direktor Adorno seinerzeit ist, zu besetzen. Der Spiegel-Reporter, der wohl zunächst ein Einverständnis über den allgemeinen Verfall der guten Sitten als Grundlage für das Gespräch herstellen möchte, beginnt das Interview: „Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung …“ … Adorno repliziert: „Mir nicht.“ (Adorno 1986, 815) Und das ist keine Anekdote.
Literatur Adorno, Theodor W. (1970): Negative Dialektik, in: ders., Gesammelte Schriften (AGS), hg. v. Rolf Tiedemann. Unter Mitwirkung v. Gretel Adorno, Susan Buck-Morss u. Klaus Schultz, Frankfurt/M., 7-412. ders. (1972a): Gesellschaft, in: AGS, Bd. 8, 9-19. 56
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ders. (1972b): Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Einleitungsvortrag zum 16. Deutschen Soziologentag, in: AGS, Bd. 8, 354-370. ders. (1973): Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, in: AGS, Bd. 14, 169-433. ders. (1974a): Bibliographische Grillen, in: AGS, Bd. 11, 345-357. ders. (1974b): Philosophische Terminologie. Zur Einleitung, hg. v. Rudolf zur Lippe, Frankfurt/M., Bd. 2. ders. (1977a): Résumé über Kulturindustrie, in: AGS, Bd. 10.1, 337-345. ders. (1977b): Wozu noch Philosophie?, in: AGS, Bd. 10.2, 459-473. ders. (1977c): Kritik, in: AGS, Bd. 10.2, 785-793. ders. (1977d): Resignation, in: AGS, Bd. 10.2, 794-799. ders. (1980): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: AGS, Bd. 4. ders. (1986): ‚Keine Angst vor dem Elfenbeinturm‘. Ein ‚Spiegel‘-Gespräch, in: AGS, Bd. 20.1, 402-409. ders. (2003a [1993ff.]): Vorlesung über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/66, in: ders., Nachgelassene Schriften, hg. v. Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt/M., Bd. IV.16, hg. v. Rolf Tiedemann. ders. (2003b): Zur Spezifikation der kritischen Theorie, in: Theodor W. Adorno Archiv (Hg.): Adorno. Eine Bildmonographie. Frankfurt/M., 292. ders. (2004 [1994ff.]): Contra Paulum, in: ders., Briefe und Briefwechsel, hg. v. Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt/M., Bd. 4.II, hg. v. Christoph Gödde/Henri Lonitz, 475-503. Böckelmann, Frank (1998): Über Marx und Adorno. Schwierigkeiten der spätmarxistischen Theorie, Freiburg. Demirovi, Alex (1998): Ökonomiekritik und kritische Gesellschaftstheorie, in: Zeitschrift für kritische Theorie, 4. Jg., H. 6, 83-90. Heinrich, Michael (2008): Wie das Marxsche ‚Kapital‘ lesen? Leseanleitung und Kommentar zum Anfang des ‚Kapital‘, Stuttgart. Horkheimer, Max/Theodor W. Adorno (1981): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: AGS, Bd. 3, 7-296. dies. (1985): [Diskussionen über Sprache und Erkenntnis, Naturbeherrschung am Menschen, politische Aspekte des Marxismus], in: Horkheimer, Max, Gesammelte Schriften (HGS), hg. v. Alfred Schmidt u. Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt/M., Bd. 12, hg. v. Gunzelin Schmid Noerr, 493-525. dies. (1996): [Diskussion über Theorie und Praxis], in: HGS, Bd. 19, hg. v. Gunzelin Schmid Noerr, 32-72.
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Marx, Karl/Friedrich Engels (1959[1956ff.]): Thiers’ Rede über eine allgemeine Hypothekenbank mit Zwangskurs, in: dies., Werke (MEW), Berlin, Bd. 5, 423-427. dies. (1990): [Anmerkung der Redaktion zu dem Artikel ‚Die Schneiderei in London oder der Kampf des großen und des kleinen Capitals‘ von J. G. Eccarius], in: MEW, Bd. 7, 416.
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Zu „ Kritik“ bei Fouca ult KATHARINA PÜHL
Ich möchte mit einer Anmerkung bzw. der Frage einsteigen, ob nicht eine schwierige Konsequenz aus dem Bezug auf Dialektik bei Marx oder auch in der Kritischen Theorie ist, dass diese immer zwei Seiten und ein Kehrmoment, einen Umschlagpunkt denkt, Antagonismen denkt, jedenfalls eine letztlich binäre Konstruktion. Ich denke, dass Foucault und viele andere, die nach ihm geschrieben und gedacht und sich kritisch am Marxismus abgearbeitet haben, genau hier eine Unzufriedenheit gespürt haben und aus diesem Aspekt in Gesellschaftskritik ein starkes Motiv für ihre Theoriebildung sahen und sehen. Und hier setzt auch der Streit in der zeitgenössischen Rezeption von Foucault an, die Foucault aus Sicht der Kritischen Theorie oder des Marxismus genau wegen eines Mangels dialektischer Analyse als Gesellschaftstheoretiker des Spätkapitalismus nicht ernst nehmen zu können glaubt. Foucault hat von sich – leicht selbstironisch – bekanntlich behauptet, er sei ein fröhlicher Positivist. Allerdings steht dies im Zusammenhang von Debatten bzw. einer skeptischen Haltung zum Marxismus der 1960/70er Jahre. Das Anliegen Foucaults und seine theoretischen Volten sind aus meiner Sicht nicht einfach als Gegenposition zur Kritischen Theorie zu verstehen. Eher formulierte er aus freundschaftlicher Distanz Diskursbausteine einer „Analytik der Gegenwart“ im Gegensatz zu einer Systematik beanspruchenden kritischen Gesellschaftstheorie. – Foucault betonte stets, dass er sich einer elitären Kritikerposition des Philosophen enthalte und definierte seine Rolle bzw. Perspektive als die eines Wissenshistorikers, der Wissenssysteme untersuche (z. B. sinngemäß in Foucault 1983). Aus meiner Sicht – und das ist eine ‚Frankfurter‘ Sicht, die Marx und Foucault zusammen denkt – hat er andere gesellschaftli59
KATHARINA PÜHL
che Praxen in den Fokus gerückt als die von Akteurinnen und Akteuren, die im Gegensatz von Klassenwidersprüchen verfangen einander gegenüberstehen. Dabei hat er aber die Analyse von sozialen Hierarchien, Machtunterschieden, Effekten von Unterdrückung und komplexen Formen von Ausbeutung nicht ausgelassen, sondern auf andere Weise aufbereitet. Seine theoretischen Perspektiven sind im Zusammenhang einer Kritik der politischen Ökonomie zu lesen, auch wenn „Ökonomie“ bei ihm ein weit gefasster Begriff ist, der nicht in der Form- und Wertanalyse kapitalistischer Gesellschaften aufgeht. Dieses Motiv zieht sich durch sein Werk, bis hin zu den Vorlesungen über Gouvernementalität (Foucault 2004 [1978]). Jedoch spricht er nicht immer ausdrücklich über Ökonomie. In den Vorlesungen zur Gouvernementalität, seiner absolut lesenswerten Analyse neoliberaler gesellschaftlicher Entwicklungen in Frankreich, in Deutschland, in den USA, beschäftigt er sich dann auch ausdrücklich mit neoliberalen und neoklassischen Ansätzen der Wirtschaftswissenschaft. Aber hat er die Motive dieser Kritik nicht auch schon unter anderem in seinem Text Was ist Kritik? (Foucault 1992 [1978]) entwickelt? Dieser ist, systematisch gesehen, wie Vieles von Foucault, vom Textgestus her ‚leichte Ware‘. Es handelt sich um Transkriptionen – wie auch bei den Gouvernementalitätsvorlesungen aus Paris – die von anderen von seiner Vorlesung angefertigt wurden. In diesem fragmentarisch wirkenden Text formuliert Foucault sehr grundsätzliche Aspekte von Gesellschaftskritik, so meine Lesart. Was ist Kritik? Foucault greift, wie Marx, die kantische Idee von der Notwendigkeit einer Grundlegung von Erkenntnis kritisch auf, also die Frage, welche legitimatorische Basis Wissen überhaupt haben kann. Foucault wendet diese Frage aber anti-aufklärerisch – und letztlich auch gegen die Kritische Theorie. Für ihn kann es als Grundlage von Kritik einen Standard der Wahrheit nicht einfach, nicht umstandslos und nicht universalisierend geben. In Was ist Kritik? lässt sich das Manöver deutlich nachvollziehen – das theoretische und auch das methodologische –, das Foucault hier macht und das sich durch viele Schriften seines Werkes zieht, angefangen von Sexualität und Wahrheit (Foucault 1983 [1976]) über viele kleinere Vorträge und Schriften bis hin zu den Vorlesungen über Gouvernementalität. In Was ist Kritik? steigt Foucault gleich damit ein, dass Kritik nichts ist, was normativ nach klaren Standards oder als eine Einheit auszuweisen noch durch ein philosophisches Fundament irgendwie zu begründen wäre. Kritik existiert nach Foucault nur im Modus des Verhältnisses zu etwas anderem (1992 [1978], 8) und unterliegt „von Natur aus und sozusagen von Berufs wegen der Zerstreuung, der Abhängigkeit, der puren 60
ZU „KRITIK“ BEI FOUCAULT
Heteronomie“ (ebd.). Gleichwohl stellt er sie in einen bestimmten konstitutiven Kontext historischer Entwicklung, nämlich der Herausbildung moderner Regierungsformen, dem Regierbarmachen von Bevölkerung mit der Entwicklung bürgerlicher Gesellschaften seit dem späten 18. Jahrhundert, der er weit ausgreifende genealogische Studien gewidmet hat. Entsprechend geht es für Foucault um ein zentrales Motiv der Kritik, nämlich „nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und solchen Verfahren regiert“ zu werden, „dass man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird“ (ebd., 11f.). Kritik geht entsprechend nicht von einem Einzelnen aus, sondern betrifft einen Macht- und Herrschaftszusammenhang. Sie kann zwar von einzelnen Individuen initiiert werden, aber es handelt sich letztlich um eine gesellschaftliche Praxis, der man nach Foucault nicht unbedingt eine Richtung vorgeben kann – auch nicht die der Befreiung oder die einer linearen gesellschaftlichen Entwicklung. Der Gedanke etwa, dass der Kapitalismus notwendig in sein Gegenteil umschlagen müsse und sich nur krisenhaft hin zur Katastrophe und dann durch Katharsis entwickeln könne, ist einer solchen Perspektive fremd. Das ist für Foucault eine (philosophische) Vorstellung von Gesellschaft, die er für Mythologie hält. Er macht eine andere Theoriebewegung, um damit Räume für neue Fragen zu öffnen und letztlich andere gesellschaftliche Praxen denken zu können, die in Richtung „Ent-Unterwerfung“ führen (Foucault 1992 [1978], 15). Damit ist der Maßstab des politisch notwendigen Gehalts von Kritik in den Vordergrund gerückt. Theorie muss nicht erst ausweisen, dass sie politisch werden oder sein kann, sondern umgekehrt werden Theorie und Politik von vornherein als eine Art Wechselverhältnis gedacht – was das Privileg von Theorie als Kritikmoment bricht oder zumindest relativiert. Das ist einer der Knackpunkte bis heute, auch bis in die deutschsprachigen Debatten zu „Foucault und/oder Marx?“ In bestimmten Zusammenhängen (wie in manchen Texten der Zeitschrift Das Argument) und durch viele Generationen hindurch gilt Foucault vielen Marxistinnen und Marxisten lediglich als Relativist, mit dem man weder eine system- noch gesellschaftskritisch fundierte Perspektive entwickeln könne. Oder umgekehrt: Öffnet er mit Elementen der Kritik genau den Raum für etwas, was bei anderen als Aporie gefasst ist? Tatsächlich hat Foucault zu einer starken Dynamisierung des Kritikbegriffs beigetragen und in den Raum gestellt, dass es eben letztlich nicht um ein Konzept oder einen Begriff von Kritik geht, sondern um eine umfassende Praxis, die sich zugleich auf einer diskursiven wie auch einer praktisch-politischen Ebene und im Kontext von Subjektivie61
KATHARINA PÜHL
rungsweisen abspielt. Letztere hat er über sehr weite historische Zeiträume hinweg in unterschiedlichen Phasen gesellschaftlicher Entwicklung im Westen/Norden untersucht und lange historische Bögen gespannt, die die Vorgeschichte der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft in Westeuropa in den Blick nimmt. In diesem Sinne hat Foucault ein Parallelprojekt zu Marx und zur Kritik der Politischen Ökonomie unternommen, jedoch auf ganz andere Wissensbereiche und gesellschaftliche Praxen zurück gegriffen – wie zum Beispiel Sexualität, Sprache, oder auch ein historisches Bewusstsein, das sich nicht nur als Klassenbewusstsein abbildet – und versucht, sie genealogisch zu konturieren. Ein zentrales Anliegen in seiner gesamten Arbeit durch verschiedene Themenfelder und Problematisierungen hindurch ist die Frage: Wie wird das Subjekt zum Subjekt; warum wird es „unterworfen“ oder wie wird es in Machtzusammenhänge eingebunden, die schließlich in herrschaftsförmige Arrangements münden können? Anders als Adorno und die Kritische Theorie hat er stark gemacht, diesen Vergesellschaftungsprozess nicht nur repressiv zu verstehen. Es gibt dazu viele wichtige Textpassagen aus Sexualität und Wahrheit, Band 1, die aufschlussreich sind, nur eine möchte ich für unseren Zusammenhang hier zitieren: „Die Analyse, die sich auf der Ebene der Macht halten will, darf weder die Souveränität des Staates, noch die Form des Gesetzes, noch die globale Einheit einer Herrschaft als ursprüngliche Gegebenheit voraussetzen; dabei handelt es sich eher um Endformen. Unter Macht, scheint mir, ist zunächst zu verstehen: die Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kraftverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die diese Kraftverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten – oder die Verschiebungen und Widersprüche, die sie gegeneinander isolieren; und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionellen Kristallisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern.“ (Foucault 1983 [1976], 113f.)
Foucault führt aus, dass Machtverhältnisse und Gesellschaftsverhältnisse nicht nur repressiv wirken, sondern dass sie im Gegenteil ein produktives Moment aufweisen, das man nicht steuern kann. Foucault geht es darum, zu betonen, dass Kritik zuerst einmal eine kritische Haltung ist. Es geht ihm letztlich um eine Herrschaftskritik – so muss sich Kritik ausweisen können. Damit stimmt er mit Marx und Adorno überein. Aber mit der „Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden“, steht erst einmal die Frage nach Autoritätskritik, nach Demokratie62
ZU „KRITIK“ BEI FOUCAULT
und Gesellschaftskritik im Mittelpunkt. Das „nicht dermaßen“ wirft dabei die Frage auf: Wie denn anders? Oder was sind Spielräume? Oder was ist das Mehr oder Weniger von „regiert werden“? Was sind die Möglichkeiten einer kollektiven Beteiligung auch am Regiert-Sein und nicht nur am Regiert-Werden? Was ist das Wechselverhältnis zwischen Subjektivierung und dem Mitmachen – eine sehr adornische Frage letztlich und auch schon eine marxsche Frage – und der Möglichkeit zur politischen Kritik? Die Frage ist, wie schon gesagt, daher: Wie ist es möglich, dass man nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird, dass man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird? Man merkt schon an der Sprache, dass Foucault da polemisch wird, und gleichzeitig aber versucht, verschiedene Akteurinnen und Akteure im Blick zu haben. Es gibt nicht die privilegierten Intellektuellen. Es gibt nicht die privilegierten politischen Führerinnen und Führer, die uns zur Freiheit führen können, sondern die Befreiung wird nach weiter unten verlegt, in die Frage von Alltagsverhältnissen, von Selbstverhältnissen, von Selbstvergesellschaftungsverhältnissen und von Subjektivierungsweisen, wie es in der von Foucault inspirierten Sozialwissenschaft heißt. Die Wahrheit ist bei ihm in dem Sinne auch nicht – in Abgrenzung etwa zum Totalitätsbegriff – die Wahrheit des Ganzen. Das wäre für ihn die falsche Frage. Sondern die Frage ist, wie Wahrheit überhaupt erfragt wird oder auch als Kriterium in eine kritische Gesellschaftstheorie eingebunden ist. Er denkt das Ganze eher über Machtverhältnisse und die Frage, wie Dinge wahrgesprochen werden. Dabei ist er ein großer Skeptiker von Wahrheitsbegriffen, in dem Fall auch ein Kritiker der Aufklärung, also eben immer mit dem Gedanken, dass es diesen einen Standpunkt der Kritik, diesen universellen gesellschaftskritischen Standpunkt seiner Meinung nach nicht geben kann. Handeln produziert immer auch kontingente, unvorhergesehene Momente, selbst in repressiven gesellschaftlichen Konstellationen, die Foucault ja selber nie müde war anzuprangern: Er ist auf die Straße gegangen und hat viele politische Kämpfe in Frankreich mitgetragen, die zu seinen Lebzeiten stattgefunden haben. Er war der praktische politische Intellektuelle, der sich unter die Leute gemischt hat. – Ihm daher vorzuwerfen, wie es manche tun, dass er mit seiner Theorie politische Enthaltsamkeit predigte, verdeckt seinen eigentlichen Eingriffspunkt. Es geht um ein anderes Verständnis davon, wie man sich durch Machtverhältnisse hindurch und auf jeden Fall nicht nur mit einer negativen Vorstellung von Wirkung von Macht bewegen kann. Damit hat er zugleich versucht, sich den Imprägnierungen eines sehr fatalistischen Blicks auf ka63
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pitalistische Vergesellschaftung zu entziehen. Zudem ist auch ein stra– tegisches Moment zu berücksichtigen, eine Bewegung in der Kritik, wie sie in den konkreten Auseinandersetzungen zwischen dem Poststrukturalismus als damaliger Theorieentwicklung in Frankreich und einer starken Kritischen Theorie in Deutschland geführt wurde. Wenn man das so betrachtet und sieht, dass von beiden Seiten überspitzte Antworten gegeben worden sind, rückt Foucaults Formulierung sofort in einen anderen theoriepolitischen Kontext. Jürgen Habermas hat Foucault bekanntlich mal als Neokonservativen bezeichnet – ich finde es wichtig, sich an diesen Vorwurf zu erinnern, in Zeiten, in denen uns ja tatsächlich kritische Konzepte von vorne als Herrschaftswissen wieder entgegenkommen, also jetzt im Neoliberalismus, Stichwort z. B. empowerment. Aber wie konstelliert sich heute, anders als in den 1960er und 70er Jahren, angesichts der passiven Revolution, mit der die bürgerliche Macht die radikale Kritik einbezogen und umgewandelt hat, die Frage des kritischen Standpunkts? Wenn nicht mehr leicht auszumachen ist: Wo ist die kritische Bewegung? Wo sind die sozialen Bewegungen? Wie lässt sich ein, wie auch immer gefasster, Klassengegensatz erkennen? Er hat die Form gewandelt. Wie bilden Theorien das ab? Das, finde ich, ist die Schwierigkeit dessen, was wir hier heute vortragen – weil Foucault vor dem Hintergrund von Gesellschaftsanalysen der 1960er bis 70er Jahre zu diesen Überlegungen kam. Wir stehen vor der Herausforderung, theoretische Transferleistungen erbringen zu müssen in die heutige Zeit. Das stellt uns vor die Notwendigkeit, genau zu fragen, vor welchem Hintergrund von Gesellschaftsanalyse diese Deutungen entstanden sind und dieses Kritikbedürfnis damals formuliert worden ist. Kann dieses uns heute eigentlich noch weiterhelfen? Ja, ist meine Antwort, gleichzeitig müssen wir selber daraus auch ganz Neues entwickeln. Es geht also nicht so sehr um die Frage: Marx/Kritische Theorie oder Foucault? – sondern: Was denn von Marx, was denn von Adorno und was von Foucault soll uns beschäftigen? Wenn man z. B. überlegt, dass ja alle drei die Kritik des Subjekts als zentrales Thema ihrer Arbeiten formulieren, wenn auch mit unterschiedlichen Bezugspunkten, dann lassen sich viele Aspekte dieser Kritik von Adorno mit Foucault durchaus zusammen denken. Foucaults Anliegen, Kritik als Praxis zu verstehen, die sich immer in einem Kontext bewähren und in einer konkreten historischen Situation verortet sein muss, ist herausfordernd. Kritik im Kontext von Machtmechanismen ist bei Foucault die Kritik der Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin zu befragen. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit.
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Foucault hat zudem die Frage der Kritik ganz stark in Richtung von Wissensformen gelenkt. Deshalb, denke ich, ist Foucault heute wieder, wenn auch anders, aktuell, wenn wir im Begriff sind, in einer „Wissensgesellschaft“ zu leben. Ihn hat letztlich interessiert, wie die Plausibilisierung oder die Legitimation von Macht – sozialstaatlicher Macht oder so genannter demokratischer Macht – eigentlich hergestellt wird. Dabei müsse man sich nicht den Inhalt dieser Legitimationen anschauen – das ist letztlich nicht der Punkt, um den es Foucault geht – sondern das Plausibel-Machen, die Wahrsprechung von bestimmten, vermeintlich verallgemeinerungsfähigen Freiheitsbegriffen, Demokratiebegriffen, gesellschaftlichen Vorstellungen, also das Macht-Wahrheits-Spiel, die Strategien, die dahinter stecken. Dann versteht man, wie gesellschaftlich Macht und Herrschaft durchgesetzt werden. Foucault geht es demnach eher um „Elemente der Wissensfront“, so auch eine Formulierung von ihm. Die Entlehnung militärischer Begrifflichkeiten ist bereits Einsatz in der Gesellschaftsanalyse, die darauf verweist, dass Kritik sich in politischen Kampfkonstellationen zu bewähren hat. Diese diskursiven Elemente gesellschaftlicher Auseinandersetzungen sind nach Foucault kein Privileg des Krieges, des Militärs, sondern auch in Kultur bzw. vermeintlich „weiche“ Bereiche gesellschaftlichen Handelns eingeschrieben. Er denkt „das Ganze“ als ein Feld von Elementen, die von Machtverhältnissen durchzogen sind. Es geht also darum, Machtmechanismen zu identifizieren und Verwendungsweisen von Begriffen, von Diskursen nachzuvollziehen. Für uns stellt sich daraus z. B. die Frage nach den diskursiven Einsätzen heute – neoliberale Vergesellschaftung, Ökonomisierung des Sozialen sind da ja wichtige Stichworte: Warum kommen uns Begriffe der Kritik, Konzepte der Befreiung als betriebswirtschaftliches Expertenwissen entgegen? Warum müssen wir alle lernen, diese Vokabeln zu sprechen? Warum verursacht das Wort „Aktivierung“ nicht einfach nur Hautausschlag? Warum kriegen wir, wenn wir zur Krankenkasse gehen, ein ganzes Repertoire neoliberaler Herrschaftstechnik serviert? Warum wandern diese Begriffe aus ihren kritischen Kontexten aus? Ich meine, dass dies im Kern eine foucaultsche Frage ist: Er hat sich genau diese ‚konzeptionelle Migration‘ historisch-genealogisch angeschaut und gleichzeitig auch Neuartikulationen von Begriffen in seiner Analyse früher neoliberaler Entwicklung nachgezeichnet. Denn Begriffe werden ja nicht einfach übergestülpt, sondern sie müssen irgendwie auch plausibel gemacht werden, sonst würden sie nicht wirksam werden. Was sind die Momente, in denen sie – wenn auch manchmal sperrig und knirschend – ‚funktionieren‘ oder zumindest als verallgemeinerbares Vokabular gelten? 65
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Das, was Adorno als Aporie bezeichnen würde, als Entweder-Oder von Kritikmöglichkeit, wäre bei Foucault wahrscheinlich eher die Untersuchung von Gleichzeitigkeiten (mit einer Begrifflichkeit aus der Frankfurter Schule: Ungleichzeitigkeit, Gleichzeitigkeit). Indem er durchaus widersprüchliche Momente der Verhandlung von „Wahrheit“ – jetzt nur noch in Anführungszeichen – untersucht, die nebeneinander existieren, klärt er, wie in diskursiven Feldern Strukturen der Wahrheit entstehen. Er hat sich damit aber auch dem Vorwurf ausgesetzt, die Antagonismen der kapitalistischen Gesellschaft aus dieser Perspektive nicht mehr benennen zu können. Er hat dem entgegengehalten, dass er mit anderen Problematisierungen antritt und nach Strategien und Möglichkeiten sucht, diese Widersprüchlichkeiten überhaupt aufzuzeigen. Das ist es, was ich gern „emphatisch“ mit Foucault vertreten möchte. Um dies am Beispiel von Geschlechterverhältnissen zu verdeutlichen: Wenn wir es mit Effekten von Machtkonstellationen zu tun haben, wenn wir nicht über die Inhalte, z. B. der Kategorie „Gender“ reden wollen, wie Frauen und Männer eigentlich sind, sondern wenn wir über die Politik des Wissens über Geschlechterverhältnisse reden wollen, im foucaultschen Sinne, dann geht es um die Frage, was uns eigentlich heute hier plausibel gemacht wird. Da sieht man natürlich extrem Widersprüchliches nebeneinander. Wir registrieren das Wieder-Erstarken eines gesellschaftlichen Konservatismus, um nicht zu sagen backlash, bezogen darauf, dass Gleichstellungspolitik und das, was in den 1970er und 80er Jahren wirklich errungen und sozialstaatlich auch kodifiziert und umgesetzt worden ist, als Familienpolitik re-formuliert wird. Das ist beileibe nicht, wofür damals politisch gefochten worden ist, und es sind wirklich politische Rückschritte zu verzeichnen. Insofern können wir auch nicht aufhören, über Geschlechtergerechtigkeit oder Gleichheit zu sprechen, sie sind faktisch nicht verwirklicht. Ganz im Gegenteil: Die sozialpolitischen Regulierungen insbesondere auch der Grünen-/SPD-Regierung im Kontext der Agenda 2010, vor allem Hartz IV, sind als extrem konservative Rückschritte zu bewerten. Hier lässt sich ‚rechts‘ oder ‚links‘ gar nicht mehr ausmachen, wenn im Endeffekt alle politischen Parteien dazu beitragen, sozialstaatlich etwas zurückzunehmen, was über zwanzig, dreißig, vierzig Jahre hart erkämpft worden ist. An so einer Stelle hat ein genealogisches Verfahren viel Sinn, das auch von nicht-linearen Entwicklungen von Politik ausgeht und verfolgt, wer wie argumentiert und wie Begriffe wie „Aktivierung“ plötzlich zu „Politiken der Ausgrenzung“ für bestimmte Menschengruppen werden: Nicht nur für Frauen – das möchte ich betonen. Das Komplexe und Schwierige an der Analyse der gegenwärtigen Verhältnisse liegt darin, dass diese Regulierungen Viele quer zu sozialen Lagen und Identitäten betreffen. Warum gibt es nicht mehr Ge66
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genwehr? Warum hatten wir keinen Generalstreik? Warum wird politische Kritik entmächtigt, die einmal so stark war? Das wäre eine foucaultsche Frage, welche Effekte da eigentlich produziert worden sind, die Menschen immer noch so ängstlich einerseits und dann so zufrieden andererseits scheinen lassen, dass sie sich nicht zusammen tun und sagen: Diese Regierung muss weg! Ich will darauf hinaus, dass es hier sinnvoll ist, eine Kritik der politischen Ökonomie mit der poststrukturalistischen Kritik anzureichern, die genau nach diesen Widersprüchlichkeiten fragt und die ein Strategienpotential einbringt, wie Foucault es bereits entwickelt hat. Man muss nicht nur Herrschaftsverhältnisse, sondern auch jede Form von Privilegierungsweisen kritisieren und angreifen, die so unsichtbar und alltäglich funktionieren – weiß sein, Mann sein, Geld haben, Ausbildung vorweisen können oder nicht. Es gibt aus dem Spektrum der postkolonialen Theorie, der Queer-Theorie und anderer kritischer Theorien eine breite Palette von Versuchen, sich nicht in die Diskussion „Adorno oder Foucault, Kritische Theorie oder Poststrukturalismus“ zu verstricken und gleichwohl mit einer politischen und reflektierten Kritik mit dem Umstand umzugehen, dass wir wissen: Wenn wir Kategorien benutzen, verlängern wir auch Herrschaft, indem wir bezeichnen. In der Selbstwie in der Fremdbezeichnung steckt immer eine Anordnung im Rahmen vermachteter gesellschaftlicher Verhältnisse. Das ist in der Tat eine Aporie, die nicht auflösbar ist. Aber es gibt niedrigschwelligere Strategien, mit denen man versuchen kann, trotzdem politischen Umgang mit diesen Widersprüchen zu finden. Manchmal wird in diesem Zusammenhang eingewandt, dass es eines Verständnisses des gesellschaftlichen Ganzen, der Totalität bedarf, um die alltägliche Anordnung in dieser zu erfassen und einen politischen Umgang hin auf ihre Veränderung zu entwickeln. Ich würde dem entgegenhalten: Warum müssen wir gesellschaftliche Zusammenhänge über die Kategorie der Totalität denken? Foucaults Volte war ja nicht zu sagen, dass man nicht das Ganze erkennen können soll. Er hat andersherum angefangen und gesagt: Lass uns doch mal sehen, welche Elemente von Machtverhältnissen sich verketten, so dass am Ende diese Totalität als Bild entsteht. Die produktive Frage in dem Zusammenhang ist: Warum muss ich erst das Ganze denken können, um dann analysieren zu können, was die Funktion einzelner Begriffe oder Praktiken ist? Kritik hat, so gedacht, einen gewissen Funktionalismus zur Konsequenz, der am Ende vielleicht mehr ver- als aufdeckt. Das ist jetzt sehr basal formuliert und heruntergebrochen, aber von der Denkbewegung her meint Foucault: Ich kann Elemente kapitalistischer Vergesellschaftung beschreiben, dafür 67
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brauche ich den Begriff der Totalität nicht. Trotzdem lassen sich Verkettungen, Machtzusammenballungen und Verdichtungen sozialer Bedeutungspraxis erkennen und analysieren. Hier lässt sich die grundsätzliche Frage danach, die auch in der Kritik der politischen Ökonomie eine wichtige Rolle spielt, anknüpfen: Warum handeln Menschen zusammen, warum so und warum nicht anders? Ein anderes Konzept, das an den Wahrheitsbegriff geknüpft ist und im Zentrum der verschiedenen Auseinandersetzungen, etwa auch im Positivismusstreit steht, ist das der Objektivität, weswegen ich es hier noch kurz aufgreifen möchte. Foucault kritisiert rationale Vorstellungen bzw. einen Begriff der Objektivität als herrschaftsförmig. Genau dieses Anliegen stellt er als eine spezifische Form von Wahrheitspolitik in Frage und sagt: Das ist eine Operation aus der Wissenschaft heraus. Foucault ist geprägt vom strukturalistischen Marxismus in seinen frühen Jahren und von der Auseinandersetzung in der französischen Linken in den 1960er Jahren, und davon, welche Rolle der Stalinismus spielt, bezogen auf eine Weltkonstellation von sozialistischer Theorie und Politik. Es ist ihm ein starkes Anliegen gewesen, darauf hinzuweisen, dass mit den Kriterien ‚richtig‘ und ‚falsch‘ in Bezug auf Politik wie auch auf Erkenntnisstandpunkte Gewalt produziert worden ist und nicht Befreiung. Das muss uns nachdenklich machen. Die Frage nach ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ zu stellen, stellt eine Form von Wahrheitspolitik dar und führt zur Privilegierung bestimmten Wissens oder einer Weltsicht. Foucault enthielt sich aber auch einer Aussage darüber, was denn folgen würde, wenn wir die Frage nicht so stellen würden. Vielmehr hinterfragte er, was wir uns mit dieser Denk-, Sprech- und Handlungsform an Möglichkeiten verbauen. Gleichzeitig ist er an dem Punkt aber auch nicht so weit weg von z. B. Adorno: Beide stellen fest, dass man – foucaultsch gesprochen – aus der diskursiven Verstrickung nicht herausspringen kann. Foucaults Selbstbeschränkung besteht darin, normative Enthaltsamkeit zu praktizieren.
Literatur Foucault, Michel (1983 [1976]): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/M. ders. (1992 [1978]): Was ist Kritik?, Berlin. ders. (2004 [1978]): Geschichte der Gouvernementalität I und II, Frankfurt/M.
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Der Preis der Wahrheit. Michel Foucaults Wissenschaftskritik und die Politik post-s ouve rä ner Wiss e nsc ha fte n 1 MIKE LAUFENBERG
Es sei die Lüge weit mehr als das Lachen, das uns zu „Menschen“ macht, schreibt der Philosoph und Wissenschaftshistoriker Alexandre Koyré in dem Jahr, als der Weltöffentlichkeit das Ausmaß der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik allmählich gewahr wird (Koyré 1946). Einmal angenommen, dies träfe zu, wäre dann die Geschichte unserer Kultur und ihrer obsessiven Suche nach der Wahrheit – der Wahrheit unserer Existenz, der Wahrheit des Universums, der Wahrheit des Lebens – nicht umzuschreiben in eine Geschichte der Täuschung und des Irrtums sowie der vielfältigen Strategien ihrer Verbergung? Folgt man dem Wissenschaftsphilosophen Georges Canguilhem, dann birgt das Leben selbst den Irrtum in sich, ja die Unausweichlichkeit des Irrtums bestimmt zuallererst das Leben, welches weniger durch Struktur und Konsistenz als durch Diskontinuität und Inkongruenz gekennzeichnet ist und seine Form aus der Eventualität und Zufälligkeit von Ereignissen bezieht (vgl. Foucault 2005, 956f.). Der Mensch, der Teil jenes Lebens ist, das er sich zugleich zum Gegenstand der Erkenntnis macht, 1
Dieser Text ist der Übungsgruppe um Sabine Hark gewidmet, in der Menschen Woche um Woche im abgelegenen Franklinbau der Technischen Universität Berlin zusammenkommen, weil sie eine Vision teilen: dass eine „andere“ Wissenschaft möglich ist. Ohne die vielen selbstkritischen Gruppendiskussionen der vergangenen Monate sowie die Kommentare und Anmerkungen von Bini Adamczak, Aline Oloff, Thomas Viola Rieske, Tino Plümecke und Chris Tedjasukmana wäre dieser Text ein gänzlich anderer geworden. 69
MIKE LAUFENBERG
wäre dann geradezu verurteilt zum Irrtum, und der Wille zur Wahrheit, die Formung von Begriffen oder die Konstruktion von Theorien würden als spezifische Antworten auf diese Zufälligkeit von Ereignissen gelesen werden können – als besondere Weise, zu leben und sich zur Umwelt ins Verhältnis zu setzen. So zumindest lautet die Interpretation und Weiterführung der Arbeiten Canguilhems durch seinen prominentesten Schüler, Michel Foucault: „Die Opposition zwischen dem Wahren und dem Falschen, die Werte, die man dem einen und dem anderen zuschreibt, die Machtwirkungen, die die verschiedenen Gesellschaften und die verschiedenen Institutionen mit dieser Unterscheidung verknüpfen“, so Foucault in einer Würdigung seines Lehrers, „all das ist vielleicht nichts anderes als die letzte Antwort auf diese dem Leben innewohnende Möglichkeit des Irrtums“ (ebd., 957). Innerhalb des foucaultschen Werks, das sich von einer Geschichte der Denksysteme allmählich zu einer Genealogie der Moderne und ihrer Subjektivierungsweisen ausweitet, nimmt das Problem der Wahrheit von Beginn an einen besonderen Stellenwert ein. So wundert es kaum, dass in seinen Arbeiten immer wieder jene Institution eine herausragende Beachtung findet, um die es an dieser Stelle gehen soll und die sich wie keine andere als Autorität für das Hervorbringen von Wahrheiten in die Geschichte der westlichen Moderne einschreiben konnte: die Wissenschaft.2 Anders als bei Canguilhem verliert die wissenschaftliche Suche nach der Wahrheit in Foucaults Texten allerdings ihre epistemologische Unschuld. In der Perspektive der Genealogie geben sich die modernen Wissenschaften vielmehr als Voraussetzung und Agentur von Machttechnologien zu erkennen, die das Möglichkeitsfeld dessen hervorbringen und begrenzen, was wir wissen und sein können. Foucaults Wissenschaftskritik wird damit zum Kristallisationspunkt einer Kritik moderner Vergesellschaftungs- und Subjektivierungsweisen überhaupt – und vice versa: Seine Gesellschaftskritik ist zugleich immer auch angelegt als Ontologie- und Erkenntniskritik im Sinne einer Kritik der Subjektivierungs- und Erkenntnismöglichkeiten, die eine bestimmte gesellschaftliche Konstellation zulässt. 2
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Foucaults Arbeiten beschränken sich dabei zunächst auf die so genannten Humanwissenschaften, also all jene Wissenschaften, die das Erkenntnisobjekt „Mensch“ etablieren: von der Geschichtswissenschaft und der Soziologie über die Psychologie und Anthropologie bis hin zur Biologie und Ökonomie, insofern letztere sich mit dem Menschen als lebendigem Individuum oder als Gruppe beschäftigen (vgl. Biebricher 2006, 37). Eine Möglichkeit, Foucaults Instrumentarium ebenfalls für eine Analyse und Kritik von Naturwissenschaften wie Physik, Chemie oder Mathematik heranzuziehen, bietet Rouse 1990.
DER PREIS DER WAHRHEIT
Die Wissenschaft der Gesellschaft Die Entwicklung der Wissenschaften seit dem 17. Jahrhundert kann mit Foucault nicht losgekoppelt von der Formierung der Disziplinargesellschaft betrachtet werden. Die wissenschaftliche Produktion von Wissen und das Begehren nach Wahrheit sind hier durchdrungen von einer „instrumentellen Vernunft“ (Horkheimer), die sich in der besonderen Architektur und in den konkreten Praktiken von Einschließungsinstanzen materialisiert, die die Körper der Individuen auf spezifische Weise organisieren: das Gefängnis, das Krankenhaus, die Irrenanstalt, die Fa– brik, die Schule. Wurde das „Andere“ jahrhundertelang aus der sozialen Welt verbannt, so entdeckt die Disziplinargesellschaft nun die Einschließung als effizienteste Form des Ausschlusses. Das „Andere der Vernunft“ – der Wahnsinn und die Delinquenz, die Arbeitsverweigerung und die Perversion – bekommt seinen eigenen Ort, an dem es in kontrollierter Weise und nach den Regeln des Diskurses zum Sprechen animiert wird, ansonsten aber zum Schweigen verurteilt ist. Mit der Regulierung des Sag- und Lebbaren durch die Errichtung eines Rationalitätssystems, das die Menschheit ins Licht und in den Wohlstand führen soll, wird aber auch die Vorstellbarkeit einer anderen Welt unwahrscheinlicher; andere Möglichkeiten des Seins und des Sich-inBeziehung-Setzens zu sich selbst und zu anderen, zum Wissen und zur Wahrheit, werden tendenziell verworfen und verunmöglicht. Mit dem Wahnsinn, der Perversion, der Delinquenz, ja dem „Devianten“ schlechthin, schafft sich die (wissenschaftliche) Vernunft ihre totalisierende, kategorische Ordnung, die das Projekt der bürgerlichen Gesellschaft rational begründet als eine Gesellschaft der organisierten (Selbst-)Disziplinierung und Regulierung von Wünschen und Begehrensweisen. Foucault argumentiert hier ungewöhnlich klar: Die Formierung einer auf das Leben und die Körper von Individuen und Bevölkerungen zielenden Bio-Macht und Bio-Politik seit dem 18. Jahrhundert; die Herausbildung von, der christlichen Pastoralmacht entstammenden, modernisierten Technologien der Regierung und Führung anderer und seiner selbst; kurz: Die Organisierung einer neuartigen, modernen Ökonomie der Macht ist zugleich Ermöglichungsbedingung und Ausdruck der kapitalistischen Organisationsform. Die Ökonomie der Macht passt die Individuen und ihre Körper regelrecht an den kapitalistischen Produktionsimperativ an; sie verwaltet und fördert das, was für die Wertproduktion produktiv ist, während sie gleichzeitig das Unproduktive aussortiert und verwirft. Nicht aber, indem sie es einfach vernichtet und zerstört; vielmehr bildet die Gesellschaft Instanzen heraus, die das Unproduktive 71
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untersuchen und analysieren, die nach Ursachen und Quellen der ‚Abweichung‘ fahnden, um den ‚Fehler‘ schließlich zu beheben, zu therapieren, zu ‚heilen‘ und das ‚Anormale‘ über spezifische Eingriffe re-integrierbar und produktiv zu machen.3 Für die Organisierung und Ausübung der modernen Bio-Macht – und damit auch für die Herausbildung historischer Subjektformen – waren Prozesse wissenschaftlicher Wissensproduktion also essenziell. Für Foucault sind sie Teil eines Wissen/Macht-Komplexes, hervorgegangen aus der neuen gesellschaftlichen Machtordnung mit ihren spezifischen Erfordernissen und Rationalitäten. Der lange Zeit gültige Anspruch der wissenschaftlichen Disziplinen, die Ordnung der Dinge zu repräsentieren und zu beschreiben, wird zunehmend überformt von der Aufgabe, in natürliche und gesellschaftliche Prozesse zu intervenieren und diese mit zu gestalten. Die Herausbildung der Statistik und der Bevölkerungswissenschaft als spezifische Instrumente eines gouvernementalen Denkens, das die Effizienz von Regierungstechniken zu steigern sucht, zählt dabei nur zu den offensichtlichsten Beispielen. So verfolgt Foucault die für heutige Wissenschaften charakteristische Form der „Untersuchung“ insgesamt zurück auf deren Entstehung im Zusammenhang mit dem Aufkommen der Wahrheitssuche in den Gerichtsverfahren der entstehenden Disziplinargesellschaft: „Um genau zu erfahren, wer was wann unter welchen Umständen getan hat, entwickelte das Abendland die komplexen Techniken der Untersuchung [enquête], die anschließend auch in den Wissenschaften und in der philosophischen Reflexion eingesetzt werden konnten. Im 19. Jahrhundert entwickelte man dann auf der Basis juristischer, gerichtlicher und strafrechtlicher Probleme recht eigentümliche Untersuchungsformen, die ich […] als examen bezeichnen möchte. Aus diesen Untersuchungsformen gingen Soziologie, Psychologie, Psychopathologie, Kriminologie und Psychoanalyse hervor.“ (Foucault 2003, 13f.)
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Im Zeitalter der Bio-Macht, in der der Erhalt und die Reproduktion von Leben im Zentrum stehen, steht die Tötung von Leben Foucault zufolge vor einem Legitimationsproblem und muss über besondere Dispositive wie den Rassismus erst wieder an souveräne Entscheidungsträger gebunden werden. Agamben ist in dem Punkt zuzustimmen, dass Foucault in seiner Analyse der Bio-Macht solche Formen der Verwaltung von Individuen und Körpern vernachlässigt, die nicht deren Re-Integration in ein Produktionsregime dienen, sondern – gegenwärtig im Falle des EU-Grenzund Migrationsregimes und der Internierung, ja Lagerung von Menschen in rechtsfreien Räumen außerhalb der Grenzen der EU – auf ihren vollständigen Ausschluss aus dem sozialen und politischen Leben abzielen (Agamben 2002).
DER PREIS DER WAHRHEIT
Zunächst unverdächtig erscheinende wissenschaftliche Verfahrensweisen zur Herstellung von Wahrheiten – Messung, Beobachtung und Prüfung, aber auch das Interview mit seinen geständniserzeugenden Strategien – verlieren in Foucaults Arbeiten gänzlich ihre Unschuld. Denn sie werden im Kontext einer Machtordnung entwickelt, deren Ziel die Optimierung des Zugriffs auf den Menschen darstellt; die Mittel der Humanwissenschaften, Wissen über ‚den‘ Menschen zu gewinnen, sind die Mittel der Disziplinargesellschaft. So verwundert es nicht, dass z. B. neue Techniken der Beobachtung dort entstehen, wo das Individuum auf besondere Weise isolier- und fixierbar wird: in den Einschließungsanstalten. „Das Kerkernetz“, so Foucault, „bildet ein Arsenal dieses Komplexes aus Macht/Wissen, der die Humanwissenschaften geschichtlich ermöglicht hat. Der erkennbare Mensch (Seele, Individualität, Bewusstsein, Gewissen, Verhalten…) ist Effekt/Objekt dieser analytischen Erfassung, dieser Beherrschung/Beobachtung“ (Foucault 1994, 394). Die Humanwissenschaften konnten sich demnach nur formieren, „weil sie von einer spezifischen und neuartigen Spielart der Macht getragen waren“ und diese Machtverhältnisse die Eingliederung bestimmter Formen des Wissens über Individuen und ihre Körper erforderte (ebd., 393f.). Foucaults kritischer Beitrag für die Wissenschaftsforschung besteht meines Erachtens genau darin, diese Verwobenheit von Geistes- und Sozialgeschichte, Wissensproduktion und gesellschaftlicher Machtordnung vorzuführen. Dadurch wird offenbar, dass die Grenzen dessen, was wir wissen und sein könnten, eine Geschichte haben und dass diese immer auch eine Geschichte von Kämpfen ist. Foucaults Genealogie der Moderne macht diese Kämpfe wieder sichtbar; man beginnt zu ahnen, um welchen Preis sich das moderne Subjekt seine Gestalt erkauft hat und welche Möglichkeiten anderer Weisen des Wissens und Seins auf diesem Weg verworfen werden mussten. Es sind diese Verlustspuren unseres historischen Gewordenseins, die Foucault der Erfahrung zugänglich machen will: Seine Geschichte der Wahrheit ist zugleich immer auch eine Geschichte verworfener Wissensformen, seine Geschichte des Subjekts stets auch eine Geschichte der Verunmöglichung alternativer Existenzweisen. Durch das Wieder-Erfahrbar-Machen dieser Verluste eröffnet sich zugleich ein neuer epistemischer und affektiver Raum, in dem sich eine Hoffnung manifestieren kann, die die Frage nach Kritik und Veränderung überhaupt erst stellen lässt: dass es Anderes gibt als das Bestehende.4
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Zur Rekonstruktion des Verfahrens der Genealogie als Kritik bei Foucault und Nietzsche siehe Saar 2007. 73
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Diese Hoffnung richtet sich auch auf die Wissenschaft selbst. Wenn ich auf den folgenden Seiten also jene von Foucault gestreute Verlustspur aufnehme, die nach der Begrenzung unseres Wissens und dem Preis der Wahrheit fragt, dann um daraus Schlüsse für einen ‚anderen‘ Modus von Kritik und Wissenschaft zu ziehen, der sein Verhältnis zur Wahrheit grundlegend überdenken muss.
Eine politische Geschichte der Wahrheit „Das Wichtigste ist meines Erachtens, dass die Wahrheit weder außerhalb der Macht noch ohne Macht ist (sie ist […] nicht die Belohnung freier Geister, nicht das Kind langer Einsamkeiten, nicht das Vorrecht derer, die sich freimachen konnten). Die Wahrheit ist von dieser Welt; sie wird in ihr dank vielfältiger Zwänge hervorgebracht.“ (Foucault 2003a, 149)
Foucaults Annäherung an das Problem der Erkenntnis unterscheidet sich fundamental von anderen erkenntnistheoretischen Zugängen. Foucault fragt nicht danach, wie Erkenntnis überhaupt möglich ist – sein Problem ist nicht, auf welche Weise das Verhältnis zwischen Erkenntnissubjekt und Objektwelt gefasst werden muss, damit die Aussagen, die Ersteres über Letztere trifft, als wahr gelten können. Wahrheit stellt für ihn keine intrinsische Qualität gelungener Erkenntnisprozesse dar; sie ist weder eine dem Erkenntnissubjekt vorgelagerte Faktizität der Dinge, die es mittels angemessener Methoden, Instrumente und Experimente nur noch zu beschreiben gelte, noch ein bloßes Produkt oder Konstrukt transzendentaler Erkenntnissubjekte. Die Genealogie Foucaults problematisiert vielmehr das historische In-Erscheinung-Treten erkenntnistheoretischer Fragen selbst als spezifische diskursive Strategie, die innerhalb konkreter gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse funktional wird. Eine Kritik der Erkenntnis habe daher die Form einer „politischen Geschichte der Erkenntnis“ (Foucault 2003, 24) anzunehmen, die mit dem abendländischphilosophischen Harmonismus breche, wonach die Welt als Komplizin des Geistes vorgestellt werde. Denn: „Die Welt versucht keineswegs, den Menschen nachzuahmen; sie kennt keinerlei Gesetz. […] Die Erkenntnis hat mit einer Welt ohne Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit und Weisheit zu kämpfen. Darauf bezieht sich Erkenntnis. Nichts in der Erkenntnis gibt ihr ein Recht darauf, diese Welt zu erkennen.“ (Ebd., 20) Daher könne es auch 74
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„zwischen der Erkenntnis und den zu erkennenden Dingen [kein] Verhältnis natürlicher Kontinuität geben, sondern nur ein Verhältnis, das durch Gewalt, Herrschaft und Macht gekennzeichnet ist. Erkenntnis kann den zu erkennenden Dingen nur Gewalt antun; sie kann sie nicht wahrnehmen, akzeptieren, sich mit ihnen oder sie mit sich identifizieren.“ (Ebd. )
Foucault polemisiert hier gegen eine erkenntnisphilosophische Tradition, die von einer ursprünglichen, versöhnlichen Einheit von Geist und Welt ausgeht, und die noch in der marxistischen Ideologiekritik fortwirkt, wenn diese annimmt, dass ökonomische und gesellschaftliche Bedingungen dem Subjekt den Blick auf die Wahrheit lediglich verstellten. Erkenntnis, so Foucaults Re-Lektüre Nietzsches, lasse sich aber nicht als natürliches Bedürfnis des Menschen anthropologisieren, sich ihren Gegenständen liebevoll anzunähern. Sie trete der Dingwelt vielmehr mit Angst, Verachtung und Hass gegenüber und gehe aus dem Widerspiel eines „Verlachens“, „Beklagens“ und „Verwünschens“ des Objekts hervor. Der Erkenntnisprozess wird von Foucault darüber hinaus als gewaltförmig gedacht, weil er innerhalb einer Ökonomie der Wahrheit verortet ist, in welcher Wahrheit stets als Ressource und Einsatz politischer Kämpfe und sozialer Konflikte fungiert. Die Qualität der Wahrheit wird innerhalb einer solchen Ökonomie zu dem Kriterium, das sowohl die Verteilung und Zirkulation möglicher Aussagen, die Legitimität und Plausibilität von gesellschaftlichen Verhältnissen, als auch die Intelligibilität möglicher Selbstverhältnisse und Seinsweisen reguliert, kontrolliert und hervorbringt. Foucault betont daher in Abgrenzung von seinerzeit populären marxistischen Auslegungen und gleichzeitig in Hinwendung zu Marx selbst, dass es sich bei der Ordnung der Wahrheit nicht lediglich um eine über den materiellen Verhältnissen liegende, ideologische Struktur handle, sondern um „eine Bedingung für die Ausbildung und Entwicklung des Kapitalismus“ selbst. „Das Problem“ sei daher nicht einfach „das ‚Bewusstsein‘ der Leute […] zu verändern, sondern die politische, ökonomische und institutionelle Produktionsordnung der Wahrheit“ (Foucault 2003a, 151f.).5 Die Frage nach der Transformation von Wahrheitsordnungen impliziert für Foucault immer auch das Problem der Subjektivität. Erkenntnis5
Indem er die Wahrheit selbst als Effekt und Voraussetzung konkreter Macht/Wissen-Komplexe analysiert, widerspricht Foucault mitunter auch Versuchen, das Projekt einer „neutralen“ Wissenschaft dadurch zu retten, indem eine Verbindung von wissenschaftlichem Wissen und Macht allenfalls im Nachhinein hergestellt wird, etwa durch eine politische Instrumentalisierung wissenschaftlicher Ergebnisse oder eine bestimmte industrielle Nutzbarmachung wie z. B. in der Rüstungsindustrie. 75
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theoretischen Positionen, die von einer Vorgängigkeit von Erkenntnissubjekt und -objekt vor dem eigentlichen Erkenntnisprozess ausgehen, hält er entgegen, dass sich Wissensbereiche erst durch spezifische soziale Praktiken (der Disziplinierung, der Problematisierung etc.) herausbilden, „die nicht nur neue Objekte, neue Konzepte, neue Techniken hervorbringen, sondern auch gänzlich neue Formen von Subjekten und Erkenntnissubjekten. Auch das Erkenntnissubjekt hat eine Geschichte; auch die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, also die Wahrheit, hat eine Geschichte“ (Foucault 2003, 10). Erkenntnis drängt sich also nicht einfach einem schon existierenden Subjekt auf, sondern führt immer zu dessen Transformation oder gar Neukonstitution. So kann sich durch die Erkenntnis des Wahnsinns erst ein vernünftiges Subjekt, durch die Erkenntnis der Krankheit und der Perversion erst ein gesundes und normales Subjekt konstituieren. Mit der Herausbildung neuer Wissensbereiche – man denke nur aktuell an Felder wie Genetik oder Hirnforschung – geht also eine Veränderung und Formung der Beziehungen einher, die wir als (selbst-)erkennende Subjekte zu uns selbst, zu anderen und zu den Dingen einnehmen können. An die Konstituierung neuer Wissensfelder ist eine Ausbildung spezifischer Verhaltensweisen geknüpft, mit diesem Wissen umzugehen und es zur Grundlage einer (Identitäts-)Arbeit zu machen, die man an sich selbst verrichtet und in der man „selbst zugleich Ziel, Handlungsfeld, Mittel und handelndes Subjekt ist“ (Foucault 2005, 259). Solche „Techniken des Selbst“, wie Foucault sie nennt, bringen letztlich eine „feste Ontologie“ hervor, die wiederum unser Verständnis dessen beschränkt, was möglich ist (vgl. Butler 2001). Für uns als Subjekte geht Erkenntnis daher immer mit der Gefahr des Verlusts einher. Indem wir uns den Regeln der „Wahrheitsspiele“ unterwerfen und uns zu einer bestimmten Wahrheit in Beziehung setzen, etwa zur Wahrheit, dass es zwei Geschlechter gibt, werden wir auf spezifische Weise zu Subjekten und verwerfen damit automatisch andere Weisen des Werdens. Daran schließen sich weitere Fragen an, deren Spur etwa Judith Butler nachgeht, wenn sie die Frage nach den Grenzen des Menschlichen stellt (Butler 2003, 2004): Wer wird als Subjekt, als Mensch anerkannt? Welches Verhältnis zur Wahrheit müssen wir eingehen, um intelligibel zu sein und als Teil einer Gemeinschaft gelten zu können? Wer können wir sein und was alles nicht werden, wenn wir auf eine besondere Weise innerhalb der diskursiven und materiellen Grenzen der Wahrheit verbleiben müssen, um anerkannt zu werden? Kurzum: Was sind die Kosten der „Wahrheitsspiele“, was der Preis der Wahrheit, den wir zahlen, in dem Moment, wo wir uns zu ihr verhalten (müssen)?
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Nun lassen sich der logos und die Ontologie der Wahrheit nicht mit voluntaristischen Wunschgedanken aushebeln. Die Trägheit geronnener Machtverhältnisse und die Beständigkeit der Struktur gegenüber individuellem Handeln verhindern naive Überschätzungen der selbsttransformierenden Fähigkeiten des Subjekts. Foucault und Butler wissen das, doch sie verwerfen ebenso einen resignativen Nihilismus, der Subjekten angesichts einer Allgegenwärtigkeit von Machtprozessen und ökonomischen Zwängen keinerlei Handlungsraum mehr zugesteht. Dieser Handlungsspielraum ist allerdings stets prekär, weil das Subjekt durch Normen unterworfen wird, die gerade durch ihre Berufung auf institutionell gestützte Wahrheiten ihre Macht entfalten und den Möglichkeitsraum des Denk- und Lebbaren regulieren. Von der Wahrheit – und mithin von der Wissenschaft als ihrer Agentin – geht also immer eine potentielle Gefahr für das Subjekt aus, die sich vor allem dann zu erkennen gibt, wenn das Subjekt beginnt, Kritik zu üben. Eine kritische Haltung einzunehmen, so Foucault, bestünde nämlich gerade darin, sich „das Recht [herauszunehmen], die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung“ (Foucault 1992, 15). In dem Begriff der „Entunterwerfung“ verdichtet sich erneut die für Foucault charakteristische Perspektive, epistemische und ontologische Prozesse ineinander verschränkt zu denken. Indem wir uns auf bestimmte Weise zur Wahrheit und zum Wissen verhalten, und insofern wir als Subjekte stets nur vermittelt durch diese epistemische Matrix intelligibel werden, werden durch eine Befragung der Wahrheitsdiskurse zugleich Effekte auf der Ebene des Subjekts ausgelöst. Und umgekehrt: Es bedarf einer Arbeit am Subjekt, um das intime Verhältnis von Wahrheit und Macht auf der epistemischen Ebene hinterfragen zu können. Kritik ist also immer beides: ein „Aufstand“ auf der epistemologischen und auf der ontologischen Ebene. Eine solche Bestimmung von Kritik macht deutlich, dass das Subjekt sich im Kritisieren wortwörtlich selbst riskiert. Denn Wahrheiten zu hinterfragen, sei es die Wahrheit über die „Natur“ des Menschen, die Vernunft oder das Kapital, sind keine dem Subjekt rein äußerlichen Vorgänge; als Subjekte können wir nicht einfach nein zu diesen Wahrheiten sagen, wie Foucault immer wieder insistiert, weil wir durch sie erst geworden sind, wer wir sind. Foucaults Suche nach einer anderen Form der Beziehung zwischen Subjekt und Wahrheit führt ihn in den Jahren vor seinem Tod zu einem intensiveren Studium der Wahrheitsordnung der griechischen Antike. Dort findet er mit der parrhesia eine Praxis des Wahr-Sprechens vor, die den Sprechenden in ein bestimmtes Verhältnis zu dem Gesprochenen 77
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setzt, das sich von der cartesianischen Vorstellung des Wahrheit erkennenden Subjekts fundamental unterscheidet (Foucault 1996). Die Frage, ob etwas als wahr gelten kann oder nicht, ist im Falle der parrhesia keine Frage der richtigen Erkenntnismittel oder der Verfasstheit des Erkenntnissubjekts. Die Tätigkeit der parrhesia ist vielmehr an den sozialen Status des Wahr-Sprechers (parrhesiastes) und an den konkreten Kontext des Sprechakts gebunden: parrhesia findet innerhalb eines hierarchischen Machtverhältnisses statt, innerhalb dessen der Sprechende alles durch das Aussprechen der Wahrheit verlieren kann, weil diese sich – als Kritik – gegen die Wahrheit eines Souveräns oder die Überzeugungen einer Allgemeinheit richtet. Die Risikobereitschaft und der „Mut, trotz einer gewissen Gefahr die Wahrheit zu sprechen“ (Foucault 1996, 15), verkörpern dabei jene moralischen Tugenden, die den parrhesiastes zuallererst als Wahrheits-Sprecher qualifizieren. Das Verhältnis des parrhesiastes zur Wahrheit konstituiert sich also über eine bestimmte Form der Selbstführung, ein „Ethos der Kritik“, und die damit verbundene Bereitschaft, sich aufs Spiel zu setzen. Dieses Ethos mit seiner affektiven Bindung an die Wahrheit, das Foucault in den Sophisten verkörpert sieht, stehe gegen einen „Willen zur Wahrheit“, der mit einem Begehren von Macht zusammenfällt, und den Foucault mit der sokratisch-platonischen Rhetorik in die abendländische Philosophie Eingang finden sieht. Die Rhetorik benutze die Idee der einen Wahrheit als Instrument, um den Diskurs zu kontrollieren und das Wissen zu limitieren; sie wähle entsprechend die Form des langen Monologs, um eigene Wahrheitsbehauptungen zu „beweisen“ und Doktrinen zu verkünden. Die parrhesia der Sophisten hingegen wähle die Disputation und den offenen Dialog, ein Spiel aus Fragen und Antworten, um die Wahrheit auszusprechen. Die Funktion der parrhesia, so Foucault, sei dabei nicht das Verkünden von Wahrheit selbst, sondern das Äußern von Kritik: „Kritik am Gesprächspartner oder am Sprecher selbst“ (ebd., 16).
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Von der Kritik der Wahrheit zur Politik post-souveräner Wissenschaften „Die Kategorien, mit denen das soziale Leben geregelt ist, bringen eine gewisse Inkohärenz oder ganze Bereiche des Unaussprechlichen hervor. Und von dieser Bedingung, vom Riss im Gewebe unseres epistemologischen Netzes her, entsteht die Praxis der Kritik mit dem Bewusstsein, dass hier kein Diskurs angemessen ist oder dass unsere Diskurse in eine Sackgasse geführt haben.“ (Butler 2001)
Nimmt man Foucaults Kritik moderner Wahrheitspolitiken ernst, so stellt sich die Frage, welche Konsequenzen dies für (selbst-)kritische Wissenschaften haben müsste. Welche Beziehung zur Wahrheit können und sollen solche Wissenschaftsprojekte eingehen? Soll der Begriff der Wahrheit ganz verworfen werden und wenn ja, wäre eine Teilhabe an (wissenschaftlichen) Diskursen ohne eine Beteiligung an den Wahrheitsspielen noch möglich? Oder geht es eher darum, ein strategisches Verhältnis zur Wahrheit einzunehmen und andere ‚Wahrheiten‘ zu produzieren, weil man davon ausgeht, dass sie allemal besser als die herrschenden Wahrheiten sind? Folgt man der Interpretation Hans-Herbert Köglers (1994), dann verabschiedet Foucault einen universalistischen Wahrheitsbegriff zugunsten eines radikalen Perspektivismus, der die besonderen, in den konkreten Machtkämpfen um Wissen und Wahrheit lokalisierten Erfahrungen der Subjekte als Ausgangspunkt für die Konstituierung von Wissen beschreibt. Die Genealogie verstehe sich in diesem Sinne als Versuch, das Erfahrungs- und Kontextwissen der Subjekte wieder zugänglich zu machen, welches im Zuge der vermeintlichen Entkopplung von Wissen und Macht im Verwissenschaftlichungsprozess zum Verschwinden gebracht wurde. Kögler entdeckt somit in der Genealogie eine „Standpunkt-Epistemologie der unterdrückten Wissensarten“ (ebd., 126), die einen „Perspektivismus der Betroffenen, der Ausgegrenzten, der Randgruppen und Minderheiten“ vertritt und „den Schein eines außerhalb der sozialen Realität stehenden Diskurses durch einen komplexeren Wahrheitsbegriff zu überwinden“ sucht (ebd., 132). Für eine solche Interpretation sprechen sicherlich zunächst Foucaults eigene Ausführungen über eine Koalition zwischen der Genealogie und einem „Wissen der Leute“ (Foucault 1999, 21), das durch die Verobjektivierung und Universalisierung des Wahrheitsbegriffs in den Wissen79
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schaften verworfen werde. Mit dem „Wissen der Leute“ bezeichnet Foucault lokale, partikulare und spezielle „Wissen und Inhalte“, die durch den wissenschaftlichen Systematisierungs- und Vereinheitlichungsprozess disqualifiziert und verschüttet wurden und die mit Hilfe der genealogischen Kritik wieder zum Vorschein gebracht werden sollen. Er nimmt hier Bezug auf die konkreten politischen Ereignisse der späten 1960er und 70er Jahre, in denen sich auf den Pariser Straßen allmählich Widerstand gegen die Einschließungssysteme der Psychiatrie und des Gefängnisses organisiert. Dieser Widerstand, so Foucault, wurde möglich durch eine Kritik, die die Erfahrungen der Psychiatrisierten und Pathologisierten, der Ärztinnen und Pfleger, der Eingesperrten, Gefängniswärter und Angehörigen in sich aufnahm, um damit das mächtige wissenschaftlich autorisierte Wissen der Medizin, der Psychiatrie oder auch der Strafjustiz herauszufordern. Die Aufgabe der Genealogie sei dabei, das hervorzukehren, worum es in den unterworfenen und verschütteten Wissen gehe: „Es geht um das historische Wissen der Kämpfe. In dem spezialisierten Bereich der Bildung wie in dem disqualifizierten Wissen der Leute schlummerte die Erinnerung an Schlachten, und zwar an genau jene, die man bislang außen vor gelassen hatte.“ (Ebd., 22) Anders als Kögler mit seiner „Standpunkt-Epistemologie“ nahe legt, geht es Foucault aber vermutlich nicht darum, die konkreten Erfahrungen und Wissen der Leute in einen empiristischen, multiperspektivischen Wahrheitsbegriff zu überführen. Er bezweckt, wie er selbst betont, keinesfalls, „der abstrakten Einheit der Theorie die konkrete Vielheit der Tatsachen gegenüberzustellen“. Vielmehr sollen mit Hilfe der Genealogie „lokale, unzusammenhängende, disqualifizierte, nicht legitimierte Wissen gegen die theoretische Einheitsinstanz ins Spiel“ gebracht werden, „die den Anspruch erhebt, sie im Namen wahrer Erkenntnis, im Namen der Rechte einer von gewissen Leuten betriebenen Wissenschaft zu filtern, zu hierarchisieren und zu ordnen“. In diesem Sinne seien Genealogien keine „positivistischen Rückgriffe auf eine gewissenhaftere und genauere Form der Wissenschaft“, sondern vielmehr als „Anti-Wissenschaften“ zu verstehen (alle Zitate ebd., 23). Diese wollten einen „Aufstand der Wissen“ forcieren, nicht einfach nur gegen bestimmte Inhalte, Methoden und Begriffe einer Wissenschaft, sondern viel eher gegen „die zentralisierenden Machtwirkungen, die mit der Institution und dem Funktionieren eines im Innern einer Gesellschaft wie der unsrigen organisierten wissenschaftlichen Diskurses verbunden sind“ (ebd.). Als Teil eines „Aufstands der Wissen“ stellt die Genealogie keine bessere, weil objektivere Perspektive auf die Welt der Dinge und Ereignisse dar, sondern reflektiert sich selbst als Teil und Ergebnis histori80
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scher Kämpfe um Wissen und Deutungsperspektiven. In seinen Vorlesungen sowie in vielen kleineren Aufsätzen und Interviews hat Foucault sich denn auch stets negativ über den akademischen (Freudo-)Marxismus ausgelassen. Einst angetreten, um Wahrheitsdiskurse zu befragen, hätte dieser sich mit seiner Akademisierung selbst in eine spezifische Wahrheitspolitik transformiert, deren Aussagen universelle Geltung verlangten, und die daher keinen wirklichen Bruch mit der gesellschaftlichen Machtordnung herbeiführen konnte. So verharre der marxistische Ideologiebegriff innerhalb einer emphatischen Gegenüberstellung von wahr und falsch, wobei er selbst „stets in einem virtuellen Gegensatz zu etwas steht, das die Wahrheit wäre“ (Foucault 2003b, 196). Formen von Ökonomismus, Basis-Überbau-Unterscheidungen oder ein Begriff von Macht, der diese lediglich in Begriffen des Gesetzes und der Unterdrückung begreife, hätten dabei viele Fragen nicht mehr aufwerfen und Probleme nicht mehr als solche erkennen lassen, so dass der akademische Marxismus letztlich selbst zu einer diskursiven Ausschließungsmaschine werden konnte. Inzwischen ist der Marxismus in den Universitäten freilich längst als Gralshüter der Kritik abgelöst worden (und mit ihm viele Fragen, die wichtig und sinnvoll waren). Neuere interdisziplinäre Felder wie die Gender und Queer Studies, Postkoloniale Theorien oder die Cultural Studies, die aus den historischen Kämpfen um Repräsentation und Selbstrepräsentation im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hervorgegangen sind, verfolgen heute ein Verständnis von Kritik, das seine Wurzeln zu einem großen Teil in so genannten poststrukturalistischen Ansätzen hat, die wiederum in besonderer Weise mit dem Namen Foucault in Verbindung stehen. Foucault, der immer wieder vor der Gefahr der Verwissenschaftlichung von Diskursen und der Systematisierung von Wissen gewarnt hat, steht heute also selbst Pate für wissenschaftliche Projekte, deren Selbstverständnis in einer Kritik traditioneller Wissenschaften und deren Ziel in der Durchsetzung ‚besseren‘ Wissens besteht. Universalistische Wahrheitsbehauptungen problematisierend, zählt die systematische Reflexion und kritische Befragung der Bedingungen des eigenen Wissens zu den selbsterklärten Ansprüchen jener Wissensfelder; alternativ werden Konzepte einer Partikularität und Situiertheit jeglichen, also auch des eigenen Wissens postuliert. In dem Zusammenhang kommen Fragen auf, die wir so oder ähnlich auch bei Foucault finden: Was machen wir sichtbar und wer oder was wird undenkbar gemacht, wenn wir Wissenschaft betreiben? Welche Ordnungen produzieren oder reproduzieren wir, welche Mittel setzen wir ein und welche Regeln befolgen wir, um legitimes Wissen herzustellen, und welches Wissen delegitimieren und verunmöglichen wir dadurch womöglich? Welche Fragen 81
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erlauben uns wissenschaftliche Institutionen noch zu stellen, welche Texte werden wie gelesen und mit welchem Ziel erörtert? Nicht zuletzt ist der Begriff der Kritik selbst prekär geworden, seit diese sich nicht mehr auf universale Wahrheiten beziehen und von einem aperspektivischen Ort „außerhalb“ des Diskurses sprechen kann: Von welchem Standpunkt aus ist Kritik noch möglich, worauf bezieht sie sich und wodurch „verdient“ ein Wissen die Attribuierung kritisch? (Vgl. Heite/Plümecke 2006) Solche Fragen stellt sich auch Sabine Hark, die nach der Zukunft des akademisch werdenden Feminismus fragt, also danach, was mit einem dissidenten Wissensprojekt passiert, wenn es den Weg in die Akademie wagt, um dort vor Ort an den Wahrheitsspielen zu partizipieren (Hark 2005). Da die Gefahr der Vereinnahmung durch die Regeln des wissenschaftlichen Systems fortwährend bestehe, betont Hark die Bedeutung feministischer Wissenschaft für die Arbeit an den Grenzen des Wissens und damit – hier wird ihr Bezug auf Foucault sehr deutlich – des Seins: „[W]enn es Wissen ist, das die Grenzen bestimmt, innerhalb derer wir uns haben begreifen können und haben begreifen lassen, das bestimmt, was lebbar ist, wie wir unsere Körper, unsere Erfahrungen, unsere Identitäten, unser ‚inder-Welt-sein‘ begreifen können, dann muss es feministischer Kritik darum gehen, um der Möglichkeit ihrer Überschreitung willen, an diesen Grenzen zu arbeiten, sie historisch-praktisch auszuloten und zu erproben. Und ich würde behaupten, dass Feminismus dies vielfältig und auf viele verschiedene Weisen getan hat, nämlich immer dort, wo er vergeschlechtlichte und heteronormative Verfügungen zu sein, zurückgewiesen hat, diese in Frage stellte und danach begehrte, anders in der Welt zu sein“ (Hark 2008; vgl. auch 2009).
Dieses Arbeiten an den epistemologischen und ontologischen Grenzen erfordert eine Haltung, mit der man viel aufs Spiel setzt. Man riskiert sich selbst in diesem Spiel: seine Intelligibiliät, seine Glaubwürdigkeit, seinen Job und immer wieder – das erzählt uns die Geschichte der Dissidenz ebenso wie die Bestrafung von Irritationen universeller Wahrheitsdiskurse (des Geschlechts, der ‚Rasse‘, der Vernunft etc.) – auch ganz wortwörtlich sein Leben. Man geht dabei „nicht für eine erregende Erfahrung an die Grenzen“, so Butler, sondern „weil man bereits innerhalb des epistemologischen Feldes in eine Krise des epistemologischen Feldes geraten ist, in dem man lebt“ (Butler 2001). Kategorien wie Geschlecht, Nationalität, Vernunft und viele mehr, die unsere soziale Welt ordnen und die uns in spezifischer Weise zu Subjekten machen, stoßen nämlich selbst notwendig an realitere Grenzen: Sie produzieren Realitäten des Unaussprechbaren, bringen „unlebbare“ und „unbewohnbare“ 82
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Zonen hervor, die von Menschen bevölkert sind, die keinen Subjektstatus genießen, „deren Leben im Zeichen des ‚Nicht-Lebbaren‘ jedoch benötigt wird, um den Bereich des Subjekts einzugrenzen“ (Butler 1997, 23). Ob feministische Theorien, marxistische und poststrukturalistische Ansätze oder queere und postkoloniale Analysen: Am Anfang so gut wie jedes wissenschaftlichen Projekts, das seine Wurzeln in einem Diskurs sozialer Bewegungen hat, steht daher die Überzeugung, dass Fragen nach angemessenen Analysen gesellschaftlicher Wirklichkeiten immer auch Fragen danach sind, welche Leben anerkannt und welche Tode betrauert werden können – und welche nicht. Diese Gewissheit und die Bereitschaft, sie zur Sprache zu bringen, unterscheidet jene Forschungsfelder von konventionellen Wissenschaften, und zugleich sind sie es, die auf dem Spiel stehen und leicht in Vergessenheit geraten, wenn gesellschaftskritische Projekte im Feld der Wissenschaft um Anerkennung ringen. Das Nachdenken über mögliche Formen einer „Nachfolgewissenschaft“ (Harding), die mit modernen Wahrheitspolitiken und ihren normierenden Effekten auf Möglichkeiten des Sprechens und des Seins brechen möchte, ist damit vor große Probleme gestellt. Wie können wir angesichts der Fülle an wissenschaftskritischen Arbeiten, die uns immer wieder das intime Verhältnis von Wissen und Macht vergegenwärtigen, heute noch Wissenschaft betreiben? Was gibt uns das Recht dazu, im Namen der Wissenschaft und mitunter der Wahrheit produktiv zu werden, wenn die Geschichte dieser Produktivität immer auch eine Geschichte des Hervorbringens neuer „Zonen der Unbewohnbarkeit“ samt ihrer Effekte auf die Wirklichkeit gelebter und lebbarer Existenzweisen war? Können wir wirklich so naiv sein und glauben, aus der Geschichte gelernt zu haben und in der Zukunft alles besser zu machen? Wie gehen wir angesichts eines Wissens um die Begrenztheit und Machtförmigkeit unseres Wissens also in Zukunft mit der Verantwortung um, wiederum an Wahrheitsproduktionen beteiligt zu sein, die realitätsmächtige, normierende Effekte auf die Leben anderer haben werden – wirkliche Leben, die in unseren Diskursen und Wörtern riskiert und verloren werden (vgl. Foucault 2001, 14f.)? Reicht es hier aus, das eigene Tun permanent selbstkritisch zu beäugen, die eigenen Kategorien und Modelle immer wieder zu überprüfen, die Wahrscheinlichkeit des Irrtums herauszustellen und die Grenzen der verwendeten Theorien zu befragen? Ich bin mir nicht sicher, aber mein Verdacht ist, dass die Klärung dieser Fragen auch und gerade eine Klärung des Verhältnisses sein muss, das kritische Wissenschaften zur Wahrheit einnehmen sollen. Die immer noch offene Frage ist: Brauchen wir die Wahrheit überhaupt, um 83
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Wissenschaft zu betreiben, oder beinhaltete eine kritische Arbeit an den Grenzen des Wissens und des Seins nicht vielmehr, sich von der Wahrheit abbringen zu lassen? Eine solche Form des Fragens provoziert einen Einwand, den viele Erkenntnistheorien mit dem Alltagsverstand teilen: „Aber es gibt doch eine Wahrheit! Und nur weil wir sie nicht immer erkennen oder uns ihre Worte und Zahlen nicht passen, können wir sie nicht einfach aus der Welt wünschen.“ Foucaults Kritik der Wahrheit kann hier sehr hilfreich sein, weil sie einen Beitrag zum Wahrheitsproblem bietet, dessen Stärke – anders als Kögler nahe legt – gerade nicht in der Formulierung einer neuen Erkenntnistheorie oder in der Fundierung eines anderen Wahrheitsbegriffs besteht. Dies mag aus wissenschaftstheoretischer Sicht defizitär erscheinen, doch für die Praxis kritischer Wissenschaften weist Foucault mit seiner Wahrheitskritik eine Perspektive auf, das Wahrheitsproblem aus seinem erkenntnistheoretischen Korsett zu lösen und in einer anderen Hinsicht zum Diskussionsgegenstand zu machen: als Frage, welche Haltung wir als (Wissenschafts-)Subjekte zur Wahrheit einnehmen sollen. Wie immer diese Haltung aussehen soll, so steht doch eines fest: Sie kann keine souveräne mehr sein. Das Begehren epistemischer Souveränität charakterisiert die Geschichte der modernen Wissenschaften, welche mittels der Wahrheit die Dinge ordnen, um sie zu kontrollieren, und welche das Wissen vereinheitlichen, um es anzuwenden. Es ist ein Bestreben nach Souveränität, das seit der Renaissance nicht nur der Idee von Staatlichkeit zugrunde gelegt wird, sondern allmählich die Vorstellungen von Handeln und Erkennen, Wissen und Sein insgesamt konstituiert, und das die Sicherheit und Macht des wahren Wortes begehrt. Eine Antwort auf die ambivalente Geschichte der modernen Wissenschaften kann heute nur ein Modus von Wissenschaft sein, der zugleich wissenschaftskritisch ist: eine post-souveräne Wissenschaft. Mit postsouveräner Wissenschaft ist hier keine neue Kategorie für ein anderes Wahrheitsverständnis oder gar ein neues Wissenschaftsmodell gefunden. Der Begriff bezeichnet tatsächlich eine andere Form der Haltung gegenüber dem wissenschaftlichen Feld, seinen Regeln und Effekten. Diese Haltung ist notwendig geworden, weil wir heute um die Machtaffinität und Gewaltförmigkeit wissenschaftlicher Wahrheitsspiele wissen und dieses Wissen ein anderes Ethos von Wissenschaft erforderlich macht. Post-souveränen Wissenschaften ist dabei bewusst, dass sie nicht am wissenschaftlichen Diskurs teilhaben können, ohne an seinen Wahrheitsspielen zu partizipieren. Wahrheit ist immer noch der Einsatz, der gemacht werden muss, damit Wissen legitim werden und im wissenschaftlichen Feld zirkulieren kann. Wahrheit, um es in Bourdieus Worten zu sagen, ist die illusio der Wissenschaft, die von allen im Feld 84
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geteilt werden muss, wollen sie als Mitspielerinnen und Mitspieler akzeptiert werden. Sich am Wahrheitsspiel beteiligen zu müssen, bedeutet allerdings nicht, dass die Regeln des Spiels unverhandelbar sind, und es war stets eine wichtige Aufgabe kritischer Wissenschaften, Wege auszuloten, wie diese Spielregeln subvertiert und verändert werden können. Ein post-souveränes Wissenschaftsethos setzt der machtvollen Politik souveräner Wahrheitsdemonstration eine Politik des Fragens, „des Stotterns und des partiell Verstandenen“ (Haraway 1995, 90) entgegen, weil es um die soziale Bedingtheit und Begrenztheit der eigenen Perspektive weiß. Wenn die Macht des wissenschaftlichen Diskurses vor allem in seinem Versprechen gründet, Wahrheiten zu präsentieren, dann sind post-souveräne Wissenschaften bereit, diese Macht zu verlieren, indem sie Wahrheit als zentrales Kriterium wissenschaftlicher Produktionen de-zentrieren. Denn wichtige Probleme der Sozial- und Geisteswissenschaften, etwa die Frage danach, wie Gesellschaft einzurichten sei und wie dieses praktisch werden könnte, waren immer schon genuin politische Probleme und keine Frage von wahr oder falsch. Eine wissenschaftliche Praxis der Parteinahme und Verortung, schreibt Haraway, „hat also etwas mit Verwundbarkeit zu tun“ (ebd.). Wenn dies so ist, dann besteht die schwierige Aufgabe post-souveräner Wissenschaften darin, dieser Verwundbarkeit Transparenz zu verleihen und einer Politik der Stärke gegenüberzustellen, die wissenschaftliches Wissen von Zweifeln und Inkonsistenzen bereinigt und eine Rhetorik der Unangreifbarkeit verfolgt. Die Idee einer kritischen, post-souveränen Wissenschaft erschöpft sich also nicht in methodologischen Reflexionen über die Situiertheit und Begrenztheit wissenschaftlicher Wissensproduktion. Anders als dem Relativismus oder einigen Spielarten des Dekonstruktivismus kann es nicht nur darum gehen, die Kontingenz und Arbitrarität der Kategorien und Verhältnisse aufzuzeigen, die uns und unsere soziale Welt konstituieren. Kritische Wissenschaften sollten darüber hinaus weiterhin „auf einer besseren Darstellung der Welt“ (ebd., 78) beharren – nicht aber, indem die Form doktrinären Wahr-Sprechens lediglich mit andern Inhalten gefüllt wird, sondern indem solche Wissenschaften sich dialogisch an der Herstellung gesellschaftlicher Bedingungen beteiligen, die es mehr Menschen ermöglichen, Wahrheiten zu befragen und, in den Worten Foucaults, anders zu werden. Um ein Anders-Werden, um Praktiken der Entunterwerfung zu ermöglichen, muss die politische und ökonomische Produktionsordnung von Wahrheit insgesamt verstanden und verändert werden. Subjekte müssen in die Lage versetzt werden, Existenzweisen zu wagen, die nicht von „der Herrschaft der Wahrheit gestützt werden“ (Butler 2001). 85
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Aber sind wissenschaftliche Arbeiten tatsächlich dazu imstande, Erfahrungsräume zu öffnen, die ein solches Wagnis überhaupt vorstellbar werden lassen? Es waren vor allem feministische und anti-rassistische Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen, die in den 1970er und 80er Jahren wichtige Grundsteine für ein solches Projekt legten, indem sie einer scholastischen Politik der Versachlichung Formen wissenschaftlichen Sprechens gegenüberstellten, die die Inhalte nicht mehr abzuschneiden suchten von den konkreten Erfahrungen der Subjekte, über die man schrieb und die man selbst verkörperte. Meine Sorge ist, dass die Erinnerung an diese Versuche verschüttet wurde in den Ruinen verlorener Kämpfe um ‚richtige‘ Formen von Wissenschaft und dass die scholastische Vernunft inzwischen auch in die Sprache jener wissenspolitischen Projekte Eingang gefunden hat, die deren rationalistischen, souveränen Gestus einmal als herrschaftsförmige Immunisierungsstrategie kritisierten. Umso wichtiger wird es für das Projekt post-souveräner Wissenschaften sein, die in Vergessenheit geratenen Praktiken wissenschaftskritischer Wissenschaften wieder in Erinnerung zu rufen. Dafür appelliert auch María do Mar Castro Varela, die in ihrer Reflexion auf eine feministische Re-Politisierung vergangener Kämpfe um legitimes Wissen daran erinnert, wie wichtig es sei, sich in feministischen Schriften der Vergangenheit „auf die Suche nach jenen experimentellen Impulsen zu machen, die heute so schmerzlich vermisst werden“. Nicht, so Castro Varela, „um darin nach essentialistischen Argumentationen zu suchen, die leicht zu finden sind, sondern um in ihnen nach Aussagen, Ideen und Leidenschaften zu suchen, die es vermocht haben, Frauen zu berühren, und die viele dazu gebracht haben, ihr Leben zu ändern, und die damit unser aller Leben verändert haben“ (2005, 112). Auch Foucault sah in der Eröffnung von Erfahrungsräumen die wesentliche Aufgabe seiner Texte. Und vielleicht stellt seine Abkehr von der Wahrheit und Hinwendung zur Erfahrung als Movens intellektueller Kritik sogar das bedeutendste Charakteristikum dar, das es erlaubt, seine Arbeiten als Versuche post-souveränen Wissenschaftens zu betrachten. Ginge es nach Foucault, dann sollen Autorinnen und Autoren wie Lesende durch den Prozess des Schreibens bzw. Lesens zu einer Erfahrung gelangen, „die eine Veränderung erlaubt, einen Wandel in unserem Verhältnis zu uns selbst und zur Welt dort, wo wir bisher keine Probleme sahen“ (Foucault 2005a, 57). Foucault stellt seine Bücher dabei ganz bewusst in den Kontext sozialer Bewegungen wie der Antipsychiatrie oder der Gefangenenbewegung, in denen sich Erfahrungswissen schließlich mit kollektiven Praxen verknüpft, um gegen bestimmte Formen der Subjektivierung zu kämpfen.
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Vielleicht könnte man mit Foucault eine Politik und Epistemologie post-souveräner Wissenschaften begründen, die aus den Kämpfen des vergangenen Jahrhunderts um Wissen und Repräsentation lernen, und die die Suche nach Möglichkeiten (selbst-)kritischer Bündnisse mit sozialen Bewegungen re-animieren; die eine Demokratisierung unterschiedlicher Wissensformen und eine Pluralisierung von Perspektiven anstreben; die an den Grenzen des Wissens experimentieren und die sich nicht mehr an der Gewissheit einer Wahrheit ausrichten, sondern Wahrheitspolitiken auf ihre Machtförmigkeit, ihre gesellschaftliche Funktionalität und ihre ontologischen Effekte hin befragen. Eine kritische, postsouveräne Wissenschaft müsste also die Bereitschaft entwickeln, sich permanent zu riskieren und aufs Spiel zu setzen, weil sie der Macht wissenschaftlicher Wahrheitsdiskurse nicht mit einem erneuten Willen zur Wahrheit begegnete, sondern dialogisch nach den verborgenen Möglichkeiten anderer Weisen des Fragens, des Wissens und des Werdens suchte. Es ginge ihr darum, das Gewordensein epistemischer und ontologischer Begrenzungen wieder der Erfahrung zugänglich zu machen – um der Möglichkeit ihrer Überschreitung und des Versuchs willen, „an einen bestimmten Punkt des Lebens zu gelangen, der dem Nicht-Lebbaren so nahe wie möglich kommt“ (Foucault 2005a, 54).
Literatur Agamben, Giorgio (2002): Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. Biebricher, Thomas (2006): Selbstkritik der Moderne: Foucault und Habermas im Vergleich, Frankfurt/M. Butler, Judith (1997): Körper von Gewicht, Frankfurt/M. dies. (2001): Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend, http:// transform.eipcp.net/transversal/ 0806/butler/de (19.1.2009). dies. (2003): Gefährdetes Leben: Politische Essays, Frankfurt/M. dies. (2004): Undoing Gender, New York. Castro Varela, María do Mar (2003): Vom Sinn des Herum-Irrens. Emanzipation und Dekonstruktion, in: Koppert, Claudia/Seiders, Beate (Hg.): Hand aufs dekonstruierte Herz. Verständigungsversuche in Zeiten der politisch-theoretischen Selbstabschaffung von Frauen, Königstein/Ts., 91-115. Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik?, Berlin. ders. (1994): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M.
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ders. (1996): Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der Parrhesia. Berkeley-Vorlesungen 1983, Berlin. ders. (1999): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), Frankfurt/M. ders. (2001): Das Leben der infamen Menschen, Berlin. ders. (2003): Die Wahrheit und die juristischen Formen, Frankfurt/M. ders. (2003a): Die Politische Funktion des Intellektuellen, in: Schriften Bd. III, Frankfurt/M., 145-152. ders. (2003b): Gespräch mit Michel Foucault, in: Schriften Bd. III, Frankfurt/M., 186-213. ders. (2005): Das Leben: Die Erfahrung und die Wissenschaft, in: Schriften Bd. IV, Frankfurt/M. 943-959. ders. (2005a [1980]): Gespräch mit Ducio Trombadori, in: Schriften Bd. IV, Frankfurt/M., 51-119. Haraway, Donna (1995): Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt/M. Hark, Sabine (2005): Dissidente Partizipation: Eine Diskursgeschichte des Feminismus, Frankfurt/M. dies. (2008): Was ist und wozu Kritik? Über Möglichkeiten und Grenzen feministischer Kritik heute. Vortrag auf dem Workshop „Was ist und wozu Kritik?“, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Juli 2008. dies. (2009): Was ist und wozu Kritik? Über Möglichkeiten und Grenzen feministischer Kritik heute, in: Feministische Studien, 1/2009 (i. E.). Heite, Catrin/Plümecke, Tino (2006): Kritik der Kritik oder Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, in: Widersprüche, 100, 6/2006. Kögler, Hans-Herbert (1994): Michel Foucault, Weimar. Koyré, Alexandre (1945): The Political Function of the Modern Lie, in: Contemporary Jewish Record, 290-300. Rouse, Joseph (1990): Knowledge and Power: Toward a Political Philosophy of Science, Ithaca/N.Y. Saar, Martin (2007): Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt/M.
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Los t in Orie ntation? Eine Antw ort auf Göran Therborns After Dialectics JÖRG HESS
Die Zusammenstellung von Reflexionen über Göran Therborns After Dialectics, die ich hier vorlege, besteht aus zwei Teilen. Im ersten nutze ich Therborns Ausführungen gewissermaßen als Sprungbrett, um zu einigen metatheoretischen Überlegungen vorzustoßen. Im zweiten schaue ich en détail in Therborns Text, und gebe die eine oder andere inhaltliche Kritik zu Protokoll.
Teil 1: Wissenschaftstheoretische Reflexionen Die hier am Beispiel von After Dialectics entwickelten metatheoretischen Reflexionen kreisen um zwei Fragen. Erstens: Wenn man in After Dialectics die spezielle Konkretisierung eines allgemeinen Forschungsprogramms sieht, was ist das für eine Problemstellung, an deren Lösung es arbeitet? Oder bildlicher gesprochen: Wenn man Therborns After Dialectics als einen unter anderen ‚Fertigungsschritten‘ betrachtet, wie lautet die ‚Mission‘ des Großprojekts, dem es zuarbeitet? Zweitens: Welche Gründe sprechen für ein ‚therbornianisches‘ Forschungsprogramm? Handfester formuliert: Warum sollte die sozialwissenschaftliche scientific community mehr Zeit, Energie und Ressourcen in die therbornianische Mission investieren?
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Mission Therborn geht es darum, den Leserinnen und Lesern – die sich vermutlich wie er in erster Linie aus der scientific community rekrutieren – ein Orientierungsangebot zu unterbreiten. Man kann darin die Serviceleistung eines Intellektuellen sehen. In ihrem Zentrum steht eine Transformation bzw. Transkription: die Verwandlung einer unübersichtlichen Diskurslandschaft – im konkreten Fall der Landschaft kontemporärer alt-, neo-, post-, ex- und gar-nicht-marxistischer linker, kritischer, ‚radikaler‘ Sozialtheorie – in ein strukturiertes ‚Ordnungssystem‘, die Transkription der ungeordneten, unterstelltermaßen informationsüberfrachteten Rohversion einer Theorielandschaft in eine komprimierte, komplexitätsreduzierte Metaversion. Die besagte Dienstleistung, die Therborn erbringt, unterteilt sich in drei ‚Leistungseinheiten‘, die sich auf den Begriff der Beschreibung, Erklärung und Bewertung bringen lassen. Leistung 1: Beschreibung – Die erste ‚Leistungseinheit‘ spaltet sich noch einmal in zwei ‚Servicepakete‘ auf. Im Rahmen des ersten ‚Servicepakets‘ scannt Therborn das gesamte nachkommunistische Spektrum linker, ‚radikaler‘ Theorien. Er filtert sieben Thematiken heraus, die seines Erachtens für die Neuausrichtung der ‚(ex-)marxistischen Forschungsfront‘ im Anschluss an die 1989er-Zeitenwende am bezeichnendsten sind. Jeder Thematik werden diejenigen Autorinnen und Autoren respektive Veröffentlichungen zugeordnet, die auf diesem Gebiet in den letzten 20-30 Jahren Pionierarbeit geleistet und sozusagen den Standard definiert haben. „Diese wegweisenden Veröffentlichungen und die in ihnen behandelten Thematiken sollte man unbedingt kennen, wenn man wissen will, in welche Richtungen sich die linke, ‚radikale‘ sozialtheoretische Forschungsfront seit der 1989er-Zeitenwende bewegte.“ Das ist sozusagen das Motto des ersten ‚Servicepakets‘. Im Rahmen des zweiten ‚Servicepakets‘ verwendet Therborn dieselbe Methode; nur filtert er hier nicht Thematiken bzw. Problematiken, sondern Theorieschulen heraus, die in ihren wissenschaftstheoretischen Positionen, historischen Narrationen, kausalen Explikationen und nicht zuletzt (partei-)politischen Affiliationen deutlich voneinander abweichen. Auch hier ordnet Therborn jeder Theorieschule die jeweils wichtigsten Autorinnen und Autoren zu. „Diese politisch zwischen dunkelrot und rosa und theoretisch zwischen altmarxistisch und gar-nicht-marxistisch positionierten Autorinnen und Autoren und die von ihnen gestifteten Schulen bzw. Lager sollte man unbedingt kennen, wenn man wissen will, was aktuell die wichtigsten Strömungen auf dem weiten Feld der radikalen Sozialtheorie sind.“ Das ist das Motto, unter dem das zweite ‚Servicepaket‘ steht. 90
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Leistung 2: Erklärung – Die beiden ‚Dienstleistungen‘ der ersten Dimension zielen darauf ab, der Fachöffentlichkeit Orientierungshilfen an die Hand zu geben, um im Wirrwarr linker, ‚radikaler‘ sozialtheoretischer Thematiken und Positionen der letzten 20-30 Jahre den Überblick zu behalten. Sie ringen in erster Linie um eine adäquate überblicksweise Beschreibung dessen, was historisch neu und bemerkenswert ist an der radikalen Sozialtheorie ‚post-1989‘. Wer nach Orientierung sucht, wird aber mit Sicherheit nicht nur wissen wollen, was das historisch Besondere an der ‚neuen Ära‘ ist. Wer Therborns Zeitenwende-Diagnose akzeptiert, der wird sicher auch wissen wollen, warum die radikale Sozialtheorie in den 1990ern andere Richtungen einschlug als in den Jahrzehnten davor. Folgerichtig setzt After Dialectics dazu an, eine zweite ‚Dienstleistung‘ zu erbringen. Sie besteht, ipso facto, in der Darlegung der Gründe dafür, warum die 1980er und 1990er für die Entwicklung der radikalen Sozialtheorie eine Wegscheide darstellten und warum die dominante Tendenz seitdem die einer Wieder- und Neuentdeckung von Thematiken und Problematiken jenseits des vordem dominierenden marxistischen Kanons war. Leistung 3: Bewertung – Um den analytischen Dreisprung eines umfassenden Orientierungsangebots zu vollenden, fehlt konsequenterweise noch die Bewertung. Stellen die ‚postmarxistischen‘ Re- und Neuorientierungen radikaler Sozialtheorie einen Fortschritt oder im Gegenteil einen Rückschritt hinter das marxistisch dominierte ‚klassische‘ Paradigma dar? Auch auf diese Frage gibt After Dialectics eine tentative Antwort. Uns Anhaltspunkte zu geben, wie man die Theorieentwicklung der letzten 20-30 Jahre beurteilen könnte (beurteilen sollte), und warum man sie so und nicht anders bewerten könnte (bewerten sollte), ist, ergo, After Dialectics’ Dienstleistung Nummer 3. Die therbornianische Mission dreht sich, mit einem Wort, um die Herstellung von Orientierung auf dem weiten Feld sozialwissenschaftlicher Theorien über das veränderliche Sein, Seinwerden und Seinsollen des sozialen Lebens. Diese Aufgabe präzisiert sie methodologisch als einen Dreisprung aus Beschreibung, Erklärung und Bewertung des historischen Gestaltwandels ‚oppositioneller‘ Sozialtheorien. Alle drei ‚Leistungseinheiten‘ haben allerdings die formalen und inhaltlichen Restriktionen des kategorischen Orientierungsimperativs der Mission zu beachten. So meint ‚Beschreibung‘ nicht eine Nacherzählung oder Inhaltswiedergabe einer jeden Theorie, die je in Umlauf gebracht wurde. Die Regieanweisung der Mission ist anders formuliert. Sie könnte etwa so lauten: 1. Ordne die aus Tausenden von sich unablässig verändernden ‚Pixeln‘ bestehende ‚Liveaufnahme‘ der sozialtheoretischen Ideenge91
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schichte nach Epochen oder Phasen. 2. Richte deine Aufmerksamkeit auf die gegenwärtige Phase. 3. Filtere die bezeichnendsten Thematiken und intellektuellen Strömungen heraus. 4. Gib ihnen einschlägige Namen. 5. Unterlege das resultierende ‚Navigationssystem‘ mit den wichtigsten Autorinnen und Autoren bzw. Werken. 6. Charakterisiere knapp und präzise ihren zentralen Aussagegehalt. Ebenso wenig gebietet ‚Erklärung‘, alle theoretisch nur denkbaren Ursachen aufzuzählen, die für den Umbruch von der letzten zur kontemporären Ära sozialtheoretischer Ideen in Frage kommen. Anders gesagt: Es geht nicht darum, alle irgendwie nur erdenklichen Gründe zu analysieren, die eine neue formative Generation von Sozialtheoretikerinnen und -theoretikern dazu veranlasst haben könnte, sich von der vorhergehenden formativen Generation zu distanzieren und neue Wege zu beschreiten. Das übergeordnete Ziel, die Herstellung von Orientierung (oder, andersherum, Vermeidung von Verwirrung), zwingt die Analyse zur Komplexitätsreduktion. Ergo sind nur die allerwichtigsten sozialen Ursachenkomplexe darzulegen. Schließlich verlangt ‚Bewertung‘ im Kontext der therbornianischen Mission nicht weniger, aber auch nicht mehr, als dass man seinen persönlichen Standpunkt in groben Zügen skizziert. Außerdem hat man seine Beweggründe angemessen transparent zu machen. Auch hier gilt jedoch, dass der Missionszweck es gerade nicht erfordert, alles zu sagen, was man zu den Gründen für die persönliche Bewertung der ‚neuen Ära‘ sagen könnte. Das Ziel der Herstellung von Orientierung macht Selbstbeschränkung zur Pflicht. Wie sich die persönliche Bewertung herleitet, muss im Großen und Ganzen nachvollziehbar sein. Der notwendigerweise enge Rahmen des Orientierungsauftrags darf aber nicht gesprengt werden. Die Vertiefung ist Aufgabe einer nachgelagerten Explikation, die das Detail und nicht mehr das große Ganze anzuvisieren hat.
Gute Gründe Dem therbornianischen Forschungsauftrag liegen verschiedene Vorannahmen zugrunde. Fragt man nach den Gründen, die eine therbornianische Mission für sich ins Feld führen kann, fragt man danach, ob diese Vorannahmen stichhaltig sind. Um welche Vorannahmen handelt es sich? Analytisch sind zwei verschiedene Kategorien zu unterscheiden, eine positive und eine normative. Positive Prämissen – Korrespondierend zu dem methodologischen Dreisprung der Mission summieren sich die positiven Prämissen auf drei unausgesprochene Annahmen, deren empirische Stichhaltigkeit stillschweigend vorausgesetzt wird. Der Beschreibungsauftrag unterstellt 92
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prima facie, dass es für den Laien und selbst die Expertin (jedenfalls die Expertin, die nicht zu den wenigen ausgewiesenen Spezialistinnen auf diesem Gebiet gehört) schwierig ist, das Repertoire an politischen, ökonomischen, kulturellen, wissenschaftstheoretischen und anderen Themen, Thesen und Positionen auf dem weiten Feld gesellschaftskritischer Sozialtheorie zu überblicken. Der Erklärungsauftrag wiederum setzt fraglos voraus, dass es ein Defizit an sozialwissenschaftlichen Angeboten gibt, die eingängig erklären, warum eingetreten ist, was After Dialectics diagnostiziert und rekonstruiert: das ans Ende Gelangen des historischen Entwicklungspfads radikaler Sozialtheorie in den 1980ern und ihr immer noch andauernder Aufbruch zu neuen Ufern in den 1990ern. Dem Bewertungsauftrag schließlich liegt offenkundig die Vermutung zugrunde, dass es innerhalb wie außerhalb der Academia einen ungedeckten Bewertungsbedarf gibt. Normative Prämissen – Was ihre normativen Vorannahmen betrifft, ist die Mission vergleichsweise sparsam. Alles, was sie normativ voraussetzt, ist, dass es gesellschaftlich sinnvoll und wünschenswert ist, Projekte zu starten, die auf die Verminderung der unterstellten Kenntnisdefizite hinwirken, indem sie ein ‚Navigationssystem‘ zur Verfügung stellen, das auf die drängendsten frequently asked questions verständliche Antworten gibt. Wir kennen jetzt die Prämissen der Mission. Damit kommen wir zurück zu der entscheidenden Frage: Sind sie stichhaltig? Positive Prämisse 1 – Frage: Ist es nachweislich schwierig, zu überblicken, welche Sozialtheorien in welchen alt-, neu- oder exlinken intellektuellen Zirkeln rund um den Erdball weshalb kritisiert oder gelobt, konstruiert oder dekonstruiert, multipliziert oder suspendiert werden? Von welcher Sozialtheorie werden welche sei es gesellschaftlichen Probleme oder Entwicklungschancen diagnostiziert, und wie werden sie diagnostiziert? Welche Sozialtheoretikerinnen und -theoretiker ermitteln für die gesellschaftlichen Probleme bzw. Entwicklungschancen welche Ursachen, und wie ermitteln sie die Ursachen? Von wem werden welche sozialtheoretisch elaborierten, sei es gemäßigten oder ‚fundamentalistischen‘, parlamentarischen oder ‚außerparlamentarischen‘ Problembehebungs- bzw. Chancenergreifungsmaßnahmen vorgeschlagen? Meine Antwort lautet, ja, es ist ausgesprochen schwierig, den Überblick zu behalten. Ich mache hier keinen Versuch, sie mit repräsentativen Umfragen oder anderen Statistiken zu belegen. Für den Moment soll und muss es als Beweismittel reichen, den Common sense in den Zeugenstand zu rufen. Positive Prämisse 2 – Frage: Ist es nachweislich schwierig, zu verstehen, warum sich die ‚Forschungsfront‘ von Zeit zu Zeit rasch und 93
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tiefgreifend wandelt und warum die Re- und Neuorientierungen gerade diese und nicht irgendeine andere Form annehmen? Kurze und gerade Antwort: Ja, zu verstehen, warum sich die Diskurslandschaft ändert, ist gewiss nicht einfacher, als zu überblicken, wie sie sich ändert. Positive Prämisse 3 – Frage: Ist es nachweislich schwierig, ein fundiertes Urteil zu fällen, ob die ‚Landschaftsveränderung‘ einen Schritt vorwärts, rückwärts oder seitwärts darstellt? Dito bin ich der Meinung, dass ein fundiertes Urteil eine schwierige Sache ist. Normative Prämisse – Frage: Ist der therbornianische Auftrag an die scientific community, ‚Navigationssysteme‘ anzufertigen, die den veranschlagten Beschreibungs-, Erklärungs- und Bewertungsbedarf ‚benutzerfreundlich‘ abdecken, gesellschaftlich sinnvoll und wünschenswert? In diesem Fall scheint es mir geboten, ein wenig ausführlicher zu antworten. Eröffnen möchte ich die Antwort mit einer Beobachtung. Es ist das die Beobachtung einer großen Skepsis, mit der viele – und nicht nur die Ottonormalbürgerinnen und -bürger – der Sozial- oder Gesellschaftstheorie begegnen. Wem oder was diese Skepsis geschuldet ist, wird nur schwerlich ‚exakt‘ zu klären sein. Mein Eindruck ist jedoch, dass hausgemachte ‚Kommunikationsdefizite‘ eine nicht unwesentliche Mitschuld tragen. Wenn sich selbst viele der so genannten Expertinnen und Experten schwer tun, das Feld zu überblicken, das Wie und Warum des Ab- oder Aufstiegs dieser oder jener Theorieschule zu verstehen oder sich ein solides persönliches Urteil über die ‚Fortschrittlichkeit‘ neuer Paradigmata zu bilden, dann kann es nicht Wunder nehmen, dass sich ein Großteil der Bevölkerung resigniert abwendet. Ob diese Entwicklung Anlass zur Sorge geben muss, dürfte wiederum schwerlich ‚exakt‘ zu beantworten sein. Unter Demokratiegesichtspunkten halte ich sie auf jeden Fall für ausgesprochen bedenklich. Das Hin und Her der Argumente Pro und Kontra widerstreitender politischer Aktionsprogramme und Maßnahmenkataloge ist in vielerlei Hinsicht ein Hin und Her zwischen unterschiedlichen Theorien bzw. Theorieschulen, deren Ursprünge meistens, wenn auch nicht immer, in die Theorieschmieden der scientific community zurückverfolgt werden können. Im Kontext ‚öffentlicher Diskussionsforen‘, namentlich parteipolitischer oder sonst wie ‚lobbyistischer‘ Natur, sind jedoch oftmals starke Anreize wirksam, sich die Theorien passend zurechtzubiegen, vor allem aber: zu unterschlagen, dass die persönliche Favoritin nur eine unter anderen Theorien ist, deren jeweilige Aussagekraft und Zuverlässigkeit nicht selten unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht weniger heiß umstritten ist als unter Politikerinnen und Politikern. Wer also das Risiko minimieren will, strategisch motivierten Verkürzungen auf den Leim zu gehen, wird gut daran tun, sich intensiver mit den originä94
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ren Theorieschulen und ihren schulinternen und -externen Kritikerinnen und Kritikern zu befassen. Dem Risiko zu begegnen, dass eine desinteressierte, desorientierte und desinformierte Bevölkerung auf etwaige ‚Manipulationen‘ hereinfällt, ist aber nur ein Grund, warum verstärkte Anstrengungen unternommen werden sollten, die Kluft zwischen ‚Stammtisch‘ und ‚Ge– lehrtenstube‘ zu reduzieren. Das Problem geht tiefer. Ein Auseinanderdriften zwischen ‚Expertentum‘ hier und ‚Laientum‘ dort ist selbst dann ein Problem, wenn die opportunistische Vereinnahmung der in der ‚Welt der Ideen‘ zirkulierenden Theorien durch hochorganisierte Pressure Groups nur eine Phantasmagorie überdrehter Verschwörungstheoretikerinnen und -theoretiker wäre. Eine fundierte politische Meinungs- und Entscheidungsbildung ist heute mehr denn je auf die Abstraktionsleistungen von Sozialtheorien angewiesen. Die ökonomischen, politischen und kulturellen Zusammenhänge unserer (regional und strukturell asymmetrisch) hochintegrierten zeitgenössischen sozialen Welt entziehen sich jedem Versuch, sie unmittelbar aus dem Blickwinkel des eigenen, alltäglichen Erfahrungshorizonts heraus zu verstehen. Natürlich: Unser Blick auf die Welt war schon immer ‚theoriegeleitet‘; auch wenn das ehedem nicht ‚moderne‘, wissenschaftliche, sondern ‚vormoderne‘, mythologische Theorien waren, die wir gleichsam wie Brillen auf der Nase trugen. Ob die mythologische Brille der grauen Vorzeit dem gesunden Menschenverstand zu mehr oder weniger Durchblick verhalf, darüber kann man trefflich streiten. Anders liegen die Dinge heute. Wir haben keine andere Wahl, als uns eine wissenschaftliche Brille auf die Nase zu setzen, wenn wir so gut als irgend möglich sehen und verstehen wollen, was jenseits des kleinen zeitlichen, räumlichen und sozialen Bildausschnitts passiert, den wir mit unseren bloßen Augen ‚lebensecht‘ einsehen können. Und das müssen wir! Die meisten der Entscheidungen – politische sowieso, aber auch ganz banale Konsum- und Investitionsentscheidungen –, die wir treffen oder die zu treffen wir andere mittels Stimmabgabe und anderer Willensbekundungen ermächtigen, arbeiten mit Hypothesen über das, was jenseits unseres lebensweltlichen Blickfelds liegt: voranschreitende Umweltzerstörung; eine akzelerierende Klimaerwärmung; sich verschärfende Energie-, Trinkwasser- und andere Rohstoffkrisen; zyklisch wiederkehrende regionale und globale Währungs-, Banken- und Wirtschaftskrisen; Hunger und bitterste Armut von Zigmillionen Menschen bei gleichzeitiger Konzentration von mehr und mehr Reichtum in den Händen weniger Superreicher; Abermillionen Kriegs-, Hungers-, Armuts-, Katastrophen- und politische Flüchtlinge weltweit; ‚islamischer Fundamentalismus‘, Failed States, neoimperialistischer War on Terror, die Proliferationsproblema95
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tik, der Nahostkonflikt, die Konflikte in und um Ex-Jugoslawien, Afghanistan, der Konflikt zwischen Pakistan und Indien, kurz, das ganze Arsenal ‚symmetrischer‘ und asymmetrischer Konflikte und kriegerischer Spannungsherde – die Liste ist leicht erweiterbar. Es ist das eine Liste, die einige der besorgniserregendsten Großbrände unserer ‚höchstmodernen‘ Zeiten enthält. Diese ‚Großbrände‘ stellen potentiell eine Bedrohung für uns alle dar. Ihre Natur, ihren Verlauf sowie ihre Ursachen zu verstehen, ist eine wichtige Voraussetzung dafür, unterschiedliche Problemlösungsansätze zu entwickeln und ihre Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen. Ob überhaupt und wenn ja, welche Lösungsstrategien zum Einsatz kommen, das ist eine Angelegenheit von höchster Wichtigkeit – und eine Angelegenheit, die in demokratisch verfassten Gemeinwesen von den wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürgern mit ihrer Stimmabgabe (mit-)entschieden wird. Können wir ohne wissenschaftliche Brille eine ‚vernünftige‘ Wahl zwischen den uns präsentierten Alternativen treffen? Ich wüsste nicht wie. Wie sollte man eine ‚vernünftige‘ Entscheidung treffen können, wenn man die lokalen und globalen Erscheinungsbilder der Probleme, die Mechanismen hinter und die Zusammenhänge zwischen ihnen nicht gründlich studiert? Ein gründliches Studium der Fakten und ein offener Diskurs über die Werte, die unserem Urteil zugrunde liegen, das aber ist, was ich mit einer wissenschaftlichen Brille in erster Linie meine. Summa summarum: Es gibt einen Bedarf an Konstruktionen, die eine Brücke schlagen zwischen platten Stammtischparolen auf der einen Seite und den elaborierten Erörterungen hochspezialisierter, hochdifferenzierter, hochfragmentierter Spezialdiskurse auf der anderen. Orientierungsstudien wie Göran Therborns After Dialectics bieten einen guten Einstieg in eine vertiefte Auseinandersetzung mit einem weiten Spektrum sozialtheoretischer Strömungen. Wer an ‚politischer Bildung‘ – der eigenen und der anderer – interessiert ist, der wird nicht darum herumkommen, mehr als bisher in historisch-vergleichende Orientierungsarbeit à la After Dialectics zu investieren. Das mag vollkommen unverbindlich klingen, ist es aber nicht. Es sollte nicht allzu schwer fallen, aus dieser Einsicht einen konkreten Handlungsbedarf abzuleiten. Auch auf das Risiko hin, in ein altes Horn zu blasen, das schon etwas blechern klingt: Mehr Allgemeinbildung, mehr Brückenkonstruktionen bitte! Die gesellschaftlichen Wissenschaftsund Bildungsinstitutionen (inklusive die meinungsbildenden Institutionen Presse und Fernsehen) und alle die in ihnen wirken, stehen hier in der Schuld. Was sie leisten, reicht nicht. Das liegt an zu geringen Bildungsetats. Das liegt aber auch an falschen Akzentsetzungen bei der Mittelvergabe und auf der organisatorischen Ebene. Forderungen nach einer 96
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Umverteilung finanzieller Mittel und organisatorischer Ressourcen weg von institutionellen ‚Exzellenzproduzentinnen und -produzenten‘ hin zu institutionellen ‚Wissenstransferagentinnen und -agenten‘ haben nichts an Aktualität verloren, im Gegenteil. An Wissen herrscht alles in allem kein Mangel. Nur: Der demokratische Souverän ‚genießt‘ es vielfach bestenfalls in homöopathischer Dosierung. Das mag zum Teil einer allzu menschlichen Vorliebe für seichte Unterhaltung geschuldet sein. Die ganze Wahrheit ist das aber nicht. Anzunehmen, Herrschaftskalküle machten um die Ressource Wissen einen großen Bogen, wäre ziemlich naiv. Es ist schon merkwürdig jedenfalls, dass die menschliche Vorliebe für ‚seifiges‘ Enter- und Infotainment in den unteren sozialen Klassen deutlich öfter anzutreffen zu sein scheint als in den oberen. Nun, der alte Machiavelli hätte sich auf diese Anomalie sicher einen Reim zu machen gewusst. „Schlaue Schafe lassen sich nicht so einfach scheren. Rat an die Hirten aller Länder: Achtet darauf, dass die Schafe nicht zu schlau werden.“ Gewiss, Machiavelli ist längst gestorben. Und sein Ratschlag? Wenn mich nicht alles täuscht, dreht er noch immer munter seine Runden.
Teil 2: Materielle Kritik Hält man sich an die konzeptionellen Überlegungen des ersten Teils, dann hat der Abstieg von den Höhen der Metatheorie in die Niederungen der Detailkritik an Therborns Ausführungen über drei Etappen zu erfolgen. Sie sind das exakte Double der drei analytischen Dimensionen von After Dialectics. Ergo hat man sich auf der ersten Etappe kritisch in die Einzelheiten der therbornschen Rekonstruktion der hervorstechendsten Thematiken und Theorieschulen der ‚radikalen‘ Sozialtheorie der 1990er und 2000er hineinzuarbeiten. Auf der zweiten Etappe geht es um seine Erklärung dafür, warum es zu der von ihm (wie vielen anderen auch) diagnostizierten Neuausrichtung ‚oppositioneller‘ Sozialtheorie kam. Auf der dritten Etappe schließlich ist seine Bewertung der Entwicklung unter die Lupe zu nehmen. Das ist die Marschroute. Sie ist sehr lang. Sie ganz zurückzulegen, das hieße, nicht einen Artikel, sondern ein Buch zu schreiben. Mein Ziel hier ist sehr viel bescheidener. Hier wird es daher ‚nur‘ um eine kursive Erörterung der ersten Etappe gehen. After Dialectics’ ‚Landschaftsvermessung‘ kommt, wie erläutert, in zwei Varianten daher, einer thematischen und einer ‚positionalen‘. Sie unterscheiden sich methodologisch vor allem in der Wahl ihres Werkzeugs. Das präferierte Tool der thematischen Variante ist eine „area road-map“, sprich: eine Karte, welche die ‚Hauptrouten‘ verzeichnet, die 97
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die linke, gesellschaftskritische Sozialtheorie in den 1990ern und 2000ern thematisch ‚befuhr‘. Das präferierte Tool der positionalen Variante ist ein als „heuristic searching device“ vorgestelltes Koordinatensystem, das der nach Orientierung Suchenden Anhaltspunkte gibt, wo sie die bedeutendsten linken Theorieschulen der 1990er/2000er politisch (zwischen ‚linksradikal‘ und ‚leicht links von der Mitte‘) und analytisch (zwischen ‚erzmarxistisch‘ und ‚nonmarxistisch‘) einordnen kann. Konsequenterweise hätte die Kritik der therbornschen ‚Landschaftsvermessung‘ beide Varianten unter die Lupe zu nehmen. Der Aufwand ist jedoch größer, als man auf den ersten Blick denken mag. Aus Platzgründen muss und möchte ich die Kritik auf die „area road-map“ beschränken. Die „area road-map“ hebt sieben ‚Hauptrouten‘ hervor, die für die linke Sozialtheorie ‚post-1989‘ in besonderem Maße charakteristisch sind. Jeder Hauptroute werden ‚vorzügliche Pioniere‘ und ihre ‚wegbereitenden Unternehmungen‘, sprich: maßgebliche Autorinnen bzw. Autoren und Werke zugeordnet. Man kann das natürlich genauer bei Therborn nachlesen. Meine nachfolgend präsentierte Kurzversion kann und soll nicht die Lektüre des Originals ersetzen. Sie soll und kann aber, glaube ich, sehr eindringlich ins Bewusstsein rufen, wie schwierig es ist, den riesigen Berg zu sichten und zu ordnen, zu dem sich die ‚radikale‘ sozialtheoretische Literatur mittlerweile auftürmt. Auf der ersten Route, „Europe’s theological turn“ überschrieben, treten Régis Debray in God: An Itinerary (2004), Alain Badiou in Saint Paul: The Foundation of Universalism (2003), Slavoj iek in On Belief (2001) und Jürgen Habermas in Religion and Rationality (2002) in ein intellektuelles Zwiegespräch mit den ‚Mysterien‘ des Glaubens und der – mancherorts jüngst wiedererstarkten – gesellschaftlichen Bedeutung religiöser Überzeugungen und Praxen. Auf der zweiten Route, „American futurism“ genannt, brechen Fredric Jameson in Archaeologies of the Future (2005), die Autorinnen des ‚Real Utopias Project‘ um den Soziologen Erik Olin Wright, David Harvey in Spaces of Hope (2000), Immanuel Wallerstein in Utopistics (1998), Giovanni Arrighi in The Long Twentieth Century (1994) und zusammen mit Beverly Silver in Chaos and Governance in the Modern World System (1999) sowie Samir Amin in Beyond US Hegemony? (2006) eine Lanze für ‚subversive Imaginationen‘, das ist: das geistige Ausforschen der Wege zu sowie der Formen einer anderen, einer ‚utopischen‘, einer gerechteren, friedlicheren, humaneren Welt. Auf der dritten Route namens „Displacements of Class“ treffen sich Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes Hegemony and Socialist Strategy (1985), Étienne Balibars La crainte des masses (2006 [1997]), Erik Olin Wrights und anderer Approaches to Class Analysis 98
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(2005), Beverly Silvers Forces of Labor (2005 [2003]) und das Socialist Register 2002 zu einer Disputation über den historischen Geltungsbereich, die empirische Validität und die strategische Brauchbarkeit marxistisch-leninistischer ‚Dogmen‘ in Sachen Klasse, Klassenbewusstsein und Klassenkampf. Auf der vierten Route, „Exits from the State“ betitelt, beackern Ulrich Beck in Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter (2002), John Keane in Democracy and Civil Society (1988), die bereits erwähnten Laclau und Mouffe in ihrem Hegemony and Socialist Strategy, der ebenfalls bereits bekannte Etienne Balibar in La crainte des masses, Jürgen Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns (1988), Slavoj iek in der Einleitung zu Revolution at the Gates (2002), Michael Mann in The Sources of Social Power (1993) und Charles Tilly in Coercion, Capital and European States, AD 990-1990 (1995 [1990]) das weite Feld der politischen Philosophie, der Analyse des Nationalstaats, der Zivilgesellschaft und globaler staatlicher und nichtstaatlicher Machtnetzwerke sowie der Diagnose und Historiographie der Quellen und Erscheinungsformen einerseits der Dominanz bevorrechtigter, andererseits des Widerstands benachteiligter sozialer Gruppen. Auf der fünften Route, die Therborn unter dem Label „Return of Sexuality“ führt, konfrontieren Judith Butler in Gender Trouble (1990), verschiedene Autorinnen um Kelly Oliver in French Feminism Reader (2000) und um Ann Oakley in Who’s Afraid of Feminism? (1997) sowie diverse unter dem Banner ‚Queer Theory‘ laufende Autorinnen den Mainstream mit einer neuen ‚postmodernistischen‘ feministischen Theorie, die den Begriff der Sexualität von jedem biologistischen Essenzialismus befreit. Auf der sechsten Route, die „Homage to networks“ heißt, tritt in Michael Manns oben genannten The Sources of Social Power, in Manuel Castells The Information Age (2003 [1999]) und in Michael Hardt und Antonio Negris Empire (2000) und Multitude (2004) das Netzwerkparadigma die Nachfolge älterer Konzepte wie ‚Gesellschaft‘, ‚Gemeinschaft‘, ‚Gruppe‘, ‚Struktur‘ oder ‚Organisation‘ an. Auf der siebten Route, von Therborn auf den Namen „Political economies“ getauft, machen sich Elmar Altvater in Der Preis des Wohlstands oder Umweltplünderung und neue Welt(un)ordnung (1992), Immanuel Wallersteins, Giovanni Arrighis und andere Versionen der ‚Welt-System Analyse‘ (vgl. Wallerstein 2004), Robert Brenner in The Economics of Global Turbulence (2006), Andrew Glyn in Capitalism Unleashed (2006), verschiedene Autorinnen um Pranab Bardhan, Samuel Bowles und Michael Wallerstein in Globalization and Egalitarian Redistribution (2006), John Roemer in Theories of Distributive Justice (1996), Pierre Bourdieu in Les structures sociales de l’économie (2000), Robin Blackburn in Banking on Death (2002) und Age Shock: How Finance is 99
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Failing Us (2006), Michel Aglietta und Antoine Rebérioux in Corporate Governance Adrift (2005), ein Autorinnenkollektiv um Robert Boyer und Yves Saillard in Théorie de la régulation (2002 [1995]) und um Rogers Hollingsworth und Robert Boyer in Contemporary Capitalism: The Embeddedness of Institutions (1997) sowie Geoffrey Hodgson in After Marx and Sraffa (1991) und mit Makoto Itoh und Nobuharu Yokokawa in Capitalism in Evolution (2001) an unterschiedlichen Fronten an eine Erneuerung ehemals marxistisch dominierter Politischer Ökonomie. Zwei Einwände sind es, die ich hier vortragen möchte. Der eine moniert, dass die „area road-map“ unvollständig, der andere, dass sie zu ‚akademisch‘ ist. Einwand 1 – Die sieben ‚Routen‘ der „area road-map“ bilden zwar ein sehr breites thematisches Spektrum ab. Nichtsdestotrotz, oder vielleicht auch gerade deswegen, fallen drei ‚Routen‘ hinten runter, die für die Neuorientierungsversuche ‚radikaler‘ Sozialtheorie in den letzten zwei, drei Dekaden eine große Bedeutung hatten und haben. In Analogie zur Displacements of Class-Route könnte man die hervorstechendste der drei ‚vergessenen‘ Routen Displacements of Productionism betiteln. Auf dieser versammeln sich verschiedene neuere Theorieansätze, deren Fragestellungen, generalisierende Explanationen, Zeitdiagnosen, Sinnstiftungen und politischen Programme in starkem Maße um die Großproblematik namens ‚ökologische Frage‘ kreisen. Zu nennen wären hier unter anderem Ulrich Becks Risikogesellschaft (1986), Anthony Giddens Konsequenzen der Moderne (2008 [1990]) und Jenseits von Links und Rechts (1999 [1994]), Elmar Altvaters schon erwähntes Der Preis des Wohlstands oder Umweltplünderung und neue Welt(un)ordnung (1992) und Christoph Görgs Regulation der Naturverhältnisse (2003). Was diese Autoren und Werke verbindet, ist die Kritik am Wachstumsfetischismus und Fortschrittsoptimismus einer ‚hochmodernen‘ Welt(un)ordnung, die – geistig und strukturell auf Akkumulation geeicht – einem Pursuit of Happiness huldigt, der zwanghaft nach sei es individuellen (sprich: Ich) oder kollektiven (sprich: Wir, das ‚nationale Volk‘ oder was auch immer der Bezugspunkt der kollektiven Aspirationen ist) ökonomischen, technischen, militärischen, sportlichen etc. Superlativen und Leistungsrekorden giert. Die Debatte um die ‚Grenzen des Wachstums‘, um Dennis Meadows Club of Rome-Bestseller zu paraphrasieren, hat zwar weit in die Moderne zurückreichende Wurzeln. Allerdings waren sie im ‚alten‘ Sozialismus nie sehr stark verankert. Beginnend mit der ‚Neuen Linken‘ in den 1960ern und noch einmal verstärkt durch die ‚grüne‘ Umweltbewegung in den 80ern änderte sich das deutlich. Die 100
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Kritik am Produktionismus und Leistungsfetischismus hat sich in den letzten gut 30 Jahren von einem Neben- zu einem Hauptkriegsschauplatz radikaler linker Systemkritik gemausert (eine Systemkritik, nebenbei bemerkt, ebenso an real existierenden kapitalistischen wie ehemals oder immer noch real existierenden kommunistischen Systemen). Die zweite Route, die in Therborns „area road-map“ nicht, oder allenfalls versteckt auftaucht, könnte man unter der Überschrift Media and Ideology verzeichnen. Ausgangspunkt dieser ist die Frage, was die Tatsache, dass wir in einem Informationszeitalter leben, für die überkommenen politischen Strukturen und Prozesse bedeutet. Sind wir auf dem Weg in eine Medio- oder Videokratie, in der die politische Meinungs- und Willensbildung überwiegend nicht mehr durch Face to Face-Kommunikation und das, was wir in unserer Umwelt direkt beobachten und erleben, sondern durch die virtuelle Realität digital aufgezeichneter, informationstechnologisch aufbereiteter und via Presse, Radio, TV, Internet und Mobilphone kommunizierter ‚Contents‘ beeinflusst wird, deren Wahrheitsgehalt eigenhändig nicht zu überprüfen ist? Wenn ja, führt das zu einer Stärkung oder Schwächung der Demokratie? Wie stark ist die Macht der Medien? Wer hat die Macht über die Medien? In der jüngsten Zeit sind einige interessante Arbeiten erschienen, die sich kritisch mit diesen Fragen auseinandersetzen. Wie Noam Chomskys Failed States (2006) oder Media Control (2003 [1991]) sind sie zwar vielfach eher dem Genre des politischen Kommentars als der Sozialtheorie im engeren Sinne zuzurechnen. Einmal abgesehen davon, ob eine harte Abgrenzung der Sozialtheorie vom politischen Kommentar sinnvoll ist, sind daneben aber auch eine ganze Reihe an Publikationen erschienen, die wie John Thompsons The Media and Modernity (1995) oder Ideology and Modern Culture (1990) in einer genuin sozialtheoretischen Tradition stehen. Der letzten der drei Routen, denen Therborns „area road-map“ nicht ausreichend Rechnung trägt, schlage ich vor, den Arbeitstitel Return of Imperialisms zu geben. Auf dieser Route hat die ‚radikale‘ Sozialtheorie erst in jüngster Zeit wieder an Fahrt gewonnen, und das mag ein Grund dafür sein, dass Therborn sie nicht explizit hervorhebt. Ihr Thema, „Kapitalismus, Geopolitik und Staatenkonflikte“, ist in der marxistischen Literatur wohleingeführt. Man griffe aber vollkommen zu kurz, würde man sagen, was in den 1990ern und 2000ern aus der linken Ecke zu diesem Thema geschrieben und gesagt wurde, sei doch nur eine rhetorisch entschärfte Wiederauflage der Imperialismustheorie eines Lenins oder einer Rosa Luxemburg. David Harveys The New Imperialism (2003), Robert Cox’ Production, Power, and World Order (1987), Matt Davies und Magnus Ryners Power, Production and World Order Revisited 101
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(2006) oder die älteren und jüngeren Beiträge der Welt-System-Analyse zu dem Thema, beispielsweise Giovanni Arrighis letzte Buchveröffentlichung Adam Smith in Beijing (2007), haben zwar ‚altmarxistischen‘, darunter neben den genannten besonders Gramscis, Diagnosen der Ursachen und Erscheinungsformen geopolitischer Herrschaftsloci und Konfliktlinien viel zu verdanken, enthalten aber darüber hinaus eine Menge originärer Innovationen. Einwand 2 – After Dialectics’ zentrale These ist, dass es relativ große Unterschiede zwischen einer ‚radikalen‘ Sozialtheorie ‚prä-1989‘ und ‚post-1989‘ gibt. Worin diese genau bestehen, das sagt einem die „area road-map“ aber nicht, oder wenn, dann mehr zwischen als auf den Zeilen. Wenn die Vermessung der Unterschiede ihre Aufgabe ist, so ist sie mangelhaft. Dagegen könnte eingewendet werden, dass dies gar nicht ihre Aufgabe sei, dass die „area road-map“ lediglich das Ziel verfolge, die kritische sozialtheoretische Literatur der letzten 20-30 Jahre zu sichten und thematisch zu ordnen. Genau herauszuarbeiten, worin sich das Who’s Who nach der 1989er-Zeitenwende von dem Who’s Who vor ihr unterscheidet, ist nicht Teil ihrer Aufgabenbeschreibung. Der Einwand hat seine Berechtigung, das ist nicht von der Hand zu weisen. Dies liegt daran, dass After Dialectics gewissermaßen aus zwei ‚Texten‘ besteht, die auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind. Plakativ gesagt: Der eine Text fällt in das Genre des Romans, der andere in das der Reportage. Der ‚Roman‘, das ist der vordere, erste Teil von After Dialectics. Es ist das der ‚Text‘, in dem Therborn zu einer historischen Erzählung des Aufstiegs und Niedergangs der ‚alten‘ Linken ansetzt. Einzelne Sozialtheorieschulen und intellektuelle Richtungen und Lager tauchen in dieser Erzählung nicht auf. Die ‚Reportage‘ dagegen ist der hintere, zweite Teil von After Dialectics. Es ist das der ‚Text‘, in dem Therborn die „area road-map“ und sein „heuristic searching device“ entwickelt. Der modus operandi der Analyse ist hier ein ganz anderer als im ersten Teil: Der Ton ist feiner, ‚akademischer‘, verhaltener und ‚funktioneller‘. Der Unterschied markiert eine programmatische Unstimmigkeit. Die logische Fortsetzung des ersten ‚Texts‘ wäre ein großes historisches Gemälde der Wiederbelebungsversuche einer ‚neuen‘ Linken gewesen. Dieses Gemälde zeichnet der zweite ‚Text‘ aber gerade nicht. Der zweite ‚Text‘ ist eher ein Survey zeitgenössischer ‚radikaler‘ Sozialtheorien. Die großen historischen Linien im Hinblick auf einerseits theoretische, ideologische und politische Kontinuitäten und andererseits Differenzen sind höchstenfalls noch ein Rand-, aber nicht mehr das zentrale Thema. Als Survey ist die „area road-map“ stark. Als historisch-vergleichende Analyse der Unterschiede zwischen einer ‚alten‘, vorgeblich 102
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hauptsächlich marxistischen, und einer ‚neuen‘, mutmaßlich im weitesten Sinne ‚postmarxistischen‘ oppositionellen Sozialtheorie weist sie deutliche Schwächen auf. Wenn ich auf die besagten analytischen Schwächen der „area road-map“ abstelle, dann ipso facto deshalb, weil ich der Meinung bin, dass sich die Fragestellung von After Dialectics mit einem Survey nicht ausreichend beantworten lässt. Für mich, um das noch einmal zu wiederholen, geht es in After Dialectics in letzter Konsequenz darum, sich Klarheit zu verschaffen, zunächst über die Erscheinungsformen, dann die Ursachen, zuletzt die Bewertung der großen politischen, ökonomischen und ideologischen Transformationen der 1980er und 1990er. Sie beendeten eine Phase, in der eine marxistisch inspirierte radikale Linke intellektuell und gesellschaftspolitisch ein Global Player war. Seitdem sind wir teilnehmende Beobachterinnen und Beobachter einer bis heute andauernden Phase der ‚neuen Unübersichtlichkeit‘ (Habermas), in der die radikale Linke aus der intellektuellen und politischen Defensive heraus um eine neue Sprache und eine neue Identität ringt. Dieses Ringen findet an vielen Orten, auf vielen Feldern und in vielen sozialen Kontexten statt. Der Norden; die Sozialtheorie; die scientific community: Diese Auswahl stellt eine spezielle Selektion unter anderen dar. Das ist die Auswahl, für welche die „area road-map“ die Suche nach einer neuen Sprache und einer neuen Identität untersucht. Man kann darüber diskutieren, ob der Norden der Hauptort, die Sozialtheorie das Hauptfeld und die scientific community die Hauptakteurin der Suche ist. Nicht darüber diskutieren kann man, ob es legitim ist, die Analyse auf einen Ort, ein Feld und/oder einen Kontext zu beschränken. Natürlich ist das legitim. Nichtsdestotrotz, die „area roadmap“ greift insgesamt zu kurz. Wieso? Gegenfrage: Weiß man nach der Lektüre der „area road-map“, wodurch (und wodurch nicht) sich die Agenda kritischer Sozialtheorie des 20-Jahre-Zeitraums 1989-2009 von der des vorangegangenen 140-Jahre-Zeitraums seit dem Erscheinen des Manifests der Kommunistischen Partei im Jahr 1848 bis zum Anfang vom Ende der Sowjetunion im Jahr 1988 unterscheidet? Auf diese Frage bleibt die „area road-map“ die Antwort im Großen und Ganzen schuldig. Das ist und bleibt ein Manko. Die Aufgabenstellung von After Dialectics hätte nach einer solchen Antwort verlangt. Wie könnte sich die Agenda linker Sozialtheorie verändert haben? Veränderungen könnten in drei Richtungen stattgefunden haben. Erstens, die alte und die neue Agenda könnte sich in ihren ‚Tagesordnungspunkten‘ unterscheiden. Alte Themen könnten von der Agenda verschwunden und/oder neue Themen auf ihr aufgetaucht sein (wodurch sich gegebenenfalls die Anzahl der ‚Tagesordnungspunkte‘ auf der Agenda ändert). Zweitens, die Agenda könnte sich – gegebenenfalls bei 103
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gleichem Themenspektrum – im Hinblick auf die Rangordnung der Themen unterscheiden. Themen könnten von hinteren auf vordere und von vorderen auf hintere Plätze gerutscht sein. Drittens, die Agenda könnte sich – gegebenenfalls bei gleichem Themenspektrum und gleicher Rangordnung – im Hinblick auf die tonangebenden Diskussionsbeiträge zu den einzelnen ‚Tagesordnungspunkten‘ unterscheiden. Die Meinungen und Ansichten, die heute auf einem Themengebiet den ‚Stand der Forschung‘ definieren, könnten sich signifikant von den Meinungen und Ansichten unterscheiden, die auf demselben Themengebiet früher einmal den Ton angaben. Zur ersten Richtung: Verfolgt man die ‚Routen‘ bis auf ihre grundständigen Problematiken zurück, dann lauten die Tagesordnungspunkte der ‚neuen‘ Agenda wie folgt: • Religion, Glaube („Europe’s Theological Turn“) • Utopie, Futurologie, ‚Neue Welt‘ („American Futurism“) • Klassengesellschaft, Klassenbewusstsein, Klassenkampf („Displacements of Class“) • Staat, politische Systeme, Demokratie, zivile Gesellschaft („Exits from the State“) • Geschlechterrollen, Sexualität, Emanzipation („Return of Sexuality“) • Vereinigungen, Organisationen, (Welt-)Systeme, Netzwerke („Homage to Networks“) • Politische Ökonomie („Political Economies“) • Kritik am ‚Naturverhältnis‘ der modernen Gesellschaft, an ihrem Leistungs-, Reichtums- und Wachstumsfetischismus (Displacements of Productionism) • Ideologie, Massenmedien, Symbole, Propaganda (Media and Ideology) • Finanzkapitalismus, Geopolitik, Nationalismus, Staatenkonkurrenz, Krieg (Return of Imperialism) Vergleicht man nun gedanklich die Grundproblematiken der ‚neuen‘ Agenda mit jenen der ‚alten‘, kommt man unter dem Strich auf ein erstaunliches Ergebnis: Auf dem betrachteten Abstraktionsniveau gibt es bezüglich der Tagesordnungspunkte keinen großen Unterschied zwischen der ‚alten‘ und der ‚neuen‘ Agenda. Zur zweiten Richtung: Was die Rangordnung der Tagesordnungspunkte betrifft, lassen sich dann doch deutliche Unterschiede zwischen der ‚alten‘ und der ‚neuen‘ Agenda aufzeigen. Ob sie so groß sind, dass sie die Rede von einer ‚neuen Zeit‘ rechtfertigen, ist eine Frage der subjektiven Bewertung, nicht der ‚statistischen‘ Registrierung von Differenzen. Ich jedenfalls halte sie für gravierend genug, um sie als Aus104
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druck ernst zu nehmender Landschaftsveränderungen zu interpretieren. Vier Aufstiege von hinteren auf vordere Plätze springen ins Auge. Am eindeutigsten ist die Diagnose einer Aszendenz der Umwelt-, Ökologieund Lebensqualitätsproblematik. Auch eine Bedeutungszunahme der Diskussion um die Rolle von Sexismus für die Konstitution der modernen ‚Weltordnung‘ oder, allgemeiner, der Geschlechter-, Identitäts- und Sexualitätsproblematik lässt sich kaum in Abrede stellen. Kritisch anmerken ließe sich hier allerdings, ob das Timing der Diagnose stimmt. Wenn man nach einem historischen Ereignis sucht, mit dem die ‚neue‘ Agenda ihren Anfang nahm, kommen die Mai-Unruhen des Jahres 1968 sicher nicht weniger infrage als der Fall der Berliner Mauer im November des Jahres 1989. Drittens fällt auf, dass das kritische Nachdenken über den Totalitarismus, Etatismus, Autoritarismus, Nationalismus, Rassismus und Militarismus auf der ‚neuen‘ Agenda weiter oben steht als auf der ‚alten‘. Was das Timing betrifft, gilt aber auch hier, dass der Startschuss für den Aufstieg sicher nicht erst im Jahr 1989 gegeben wurde. Der Aufstieg der genannten Themen innerhalb der Agenda geht wesentlich auf die schrecklichen Erfahrungen mit Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus zurück. Es dürfte folglich nicht schwer fallen, seinen Anfang bis in die 1930er-Jahre zurückzuverfolgen. Viertens lässt sich konstatieren, dass die ‚neue‘ Agenda der Untersuchung der bewusstseinsformenden Macht ‚magischer Kanäle‘ (McLuhan), das ist: der formierenden Macht der sowie der ökonomischen und/oder politischen Macht über Informationssysteme, Kommunikationskanäle, Medienformate und Medieninhalte, eine höhere Bedeutung beimisst als die ‚alte‘ Agenda. Wenn diese vier Thematiken nach vorne gerutscht sind, dann müssen augenscheinlich andere relativ dazu an Bedeutung verloren haben. Und das ist in der Tat so. Die Klassengesellschafts- und Klassenkampfthematik sowie die ‚Disziplin‘ der Politischen Ökonomie hat – grosso modo – relativ zu den eben genannten vier ‚Tagesordnungspunkten‘ an Bedeutung eingebüßt. Zur dritten Richtung: Man ordne einen jeden Diskussionsbeitrag kritischer Sozialtheoretikerinnen und -theoretiker, der zwischen 1848 und heute erschienen ist, einem der zehn oben aufgelisteten ‚Tagesordnungspunkte‘ zu. Man stelle ferner fest, welche der Diskussionsbeiträge den Ton angeben (und welche man, grob gesagt, in den Papierkorb schmeißen kann), und zwar a) im Zeitraum 1848-1988 und b) im Zeitraum 1989-2009. Zuletzt bestimme man, genau welchen Ton sie im ers– ten und welchen im zweiten Zeitraum anschlagen. Wollte man beantworten, ob und wenn ja, wie sich die vorherrschenden Meinungen und Ansichten zu ein und derselben Thematik im Vergleich ‚neue‘ versus 105
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‚alte‘ kritische Sozialtheorie unterscheiden, dann hätte man nach diesem Prozedere zu verfahren. Es bietet sich an, an dieser Stelle noch einmal auf die „area roadmap“ zurückzukommen. Vergleicht man sie mit dieser ‚Bauanleitung‘, kann man relativ leicht zeigen, welche ‚Fertigungsschritte‘ sie erfolgreich abschließt und welche nicht. Die Leerstellen sind offensichtlich: Die „area road-map“ ordnet und benennt tonangebende Diskussionsbeiträge nur für den kleinen Zeitraum 1989-2009. Für den Vergleichszeitraum 1848-1988 macht sie keine auch nur annähernd handfesten Angaben, welche Diskussionsbeiträge auf welchem Gebiet mutmaßlich tonangebend waren. Dasselbe gilt für die Beantwortung der Frage, genau welchen Ton die tonangebenden Beiträge anschlagen. Die Antwort wird nur für die ‚neue‘ Agenda, nicht für die ‚alte‘ gegeben. Summa summarum: Therborns ‚alte‘ kritische Sozialtheorie ist ein Phantom. Stimmt das als Schatten an die Wand geworfene Bild von einem ‚marxistischen Kanon‘, der mutmaßlich einstmals das Feld kritischer Sozialtheorie usurpierte, mit der Wirklichkeit überein? Dominierte zwischen 1848 und 1988 wirklich ein einziger, geschlossener, in sich konsistenter ‚marxistischer Kanon‘ die Landschaft kritischer Sozialtheorie? Oder gab es nicht – man denke nur an Lenin und den ‚Renegat‘ Kautsky – große Auseinandersetzungen darüber, wessen Marxismus der wahre und wessen der falsche sei? Ganz zu schweigen davon, dass radikale Gesellschaftskritik sich noch nie auf einen Generalnenner Marxismus bringen ließ. Oder gab es nicht auch jede Menge radikale Gesellschaftskritiken aus der Feder von ‚bürgerlichen‘ Sozialistinnen und Sozialisten, die mit dem Marxismus relativ wenig verband? Und jenseits des Sozialismus oder Marxismus, hat es da in der ‚alten Zeit‘ keine Gesellschaftskritik gegeben? Ein anderes Problem zeigt sich erst bei näherem Hinsehen. Aus den Tönen, die die wegweisenden Diskussionsbeiträge, die unter den einzelnen ‚Routen‘ der ‚neuen‘ Agenda aufgeführt sind, anschlagen, lässt sich nicht unbedingt ein tonangebender heraushören. Es ist das eher ein vielstimmiges, und manchmal leicht kakophonisches Konzert. Jede der sieben Routen der „area road-map“ einzeln durchzugehen, würde hier zu weit führen. Beispielhaft sei nur kurz die erste genannt. Auf was läuft die „theologische Wendung Europas“ hinaus? Beantwortet man die Frage mit Verweis auf Slavoj iek, landet man bei einer Ode an radikale Überzeugungen und bedingungslosen Glauben, die auch einem militanten Eintreten für seine Überzeugungen – welche auch immer – lobende Worte schenkt. Beantwortet man die Frage mit Verweis auf Jürgen Habermas, gelangt man zwar auch zu einer Ode, diesmal aber auf die christliche Sozialethik und die ‚Sozialleistungen‘ religiöser Glau106
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bensgemeinschaften als unverzichtbare Ressourcen einer ‚zivilisierten‘ sozialen Welt. Das sind zwei verschiedene Töne, und sie harmonieren nur mäßig miteinander. Kann man sie zusammenzählen und dann einen Durchschnittswert bilden? Wenn nein, wohin führt uns dann ‚Europas‘ wiedererwachtes Interesse an der Religion und dem Glauben? Zur Militanz oder zum urchristlichen Bekenntnis zur Nächstenliebe und zur Gewaltfreiheit? Es ist nicht so, dass sich die vorherrschenden Meinungen und Ansichten nicht verändert hätten oder dass man gar nichts darüber sagen könnte, wie sie sich verändert haben. Jedoch muss man sich erheblich weiter aus dem Fenster heraus lehnen, als es die „area road-map“ tut, will man einigermaßen handfeste Aussagen zu Unterschieden zwischen einer alten und einer neuen kritischen Sozialtheorie machen. Was zum Beispiel das Thema der Religion und des Glaubens betrifft, so unterscheidet sich der Tenor radikaler Sozialtheorie(n), gemittelt über das Spektrum der Beiträge hinweg, ‚heute‘ sehr deutlich von ‚früher‘. In diesem Fall ganz im Einklang mit der liberalen Aufklärung hat die ‚alte‘ kritische Sozialtheorie die Religion überwiegend als ihren ‚natürlichen‘ Feind und Gegner betrachtet. Das ist heute nicht mehr der Fall. Das Bild, das sich die kritische Sozialtheorie von der Religion und dem ‚Gottesglauben‘ macht, ist vielschichtiger geworden. Von militanter Gegnerschaft jedenfalls ist weit und breit nichts mehr zu sehen. Im Gegenteil, in Lateinamerika beispielsweise haben die christliche Befreiungstheologie und die radikale Sozialtheorie sogar ansatzweise einen Schulterschluss vollzogen. Das ist nicht unbedingt auf andere Regionen übertragbar, scheint mir aber doch symptomatisch für die allgemeine Richtung zu sein, in die sich die ‚theologische Wendung‘ bewegt hat. Was schließlich die allgemeine Richtungsänderung über die gesamte Agenda hinweg angeht, so gibt bzw. gab es, denn es könnte sein, dass die jüngste Weltwirtschaftskrise zu einer Kehrtwendung führt, meines Erachtens zwei große Tendenzen. Zum einen ist die ‚neue‘ radikale Sozialtheorie weniger militant als die ‚alte‘. Aufrufe, in den Klassenkampf zu ziehen, sind eher selten geworden, und wo es sie noch gibt, scheint unter ‚Kampf‘ etwas deutlich Zahmeres verstanden zu werden, als die frühen Marxistinnen und Marxisten vom Schlage eines Lenin oder einer Rosa Luxemburg dies taten. Man kann das auch anders sagen: Sie ist sehr viel konzilianter, was ihre einstigen Widersacher, den Liberalismus und den Konservatismus betrifft. Konzilianz klingt nach Generosität und Sozialpartnerschaft, ergo positiv. Man kann das aber nicht nur noch anders sagen, sondern auch ganz anders sehen. „Was it mere coincidence that second-wave feminism and neoliberalism prospered in tandem? Or was there some perverse, subterranean elective affinity between them?“ 107
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– Nancy Frasers jüngst geäußerter Verdacht (2009), dass zwischen second-wave feminism und Neoliberalismus eine „perverse, unterirdische Wahlverwandtschaft“ bestehen könnte, berührt eine empfindliche Stelle, nicht nur des ‚gesellschaftskritischen‘ Feminismus, sondern ‚radikaler‘ Theorie und Praxis generell. ‚Co-optation‘, das ist das böse Wort, auf das die New Left Review den Verdacht bringt. Zum anderen ist die ‚neue‘ radikale Sozialtheorie fragmentierter als die ‚alte‘. Die ‚Verteilungskurve‘ der vertretenen Meinungen und Ansichten ist breiter, vor allem aber flacher als in den ‚alten Zeiten‘. Soll heißen: Erstens gibt es mehr Differenzierung, zweitens gibt es weniger paradigmatische ‚Leuchttürme‘, um die sich eine große Zahl überzeugter Gefolgsleute versammelte. Bislang scheint die Suche der radikalen Gesellschaftskritik nach einer neuen Sprache und einer neuen Identität noch keine Kandidatin gefunden zu haben, auf die sich das Gros der ‚radikalen‘ Gesellschaftskritikerinnen und -kritiker hätte einigen können. Aber vielleicht gilt ja auch hier die buddhistische Losung, dass der Weg das Ziel ist. Pluralismus ist die politisch korrekte Bezeichnung für diese Identität von Weg und Ziel. Sie ist die ‚positive‘ Schwester der Konzilianz. – Und was wäre ihre Negation, sprich: der Bruder der ‚Hure‘ Kooptation? Gegenfrage: Was wäre nötig, um die Welt trotz aller verschiedenen ‚philosophischen‘ Interpretationen zum Besseren zu verändern? Ein Mindestmaß an Einigkeit darüber, wo die Reise hingehen soll, wer was und wie viel zum Gelingen der Reise beizusteuern hat und wie man es macht, dass auch die, die freiwillig nicht wollen, ihren gerechten Teil dennoch beisteuern? Und was ist das Gegenteil von Einigkeit? Zwietracht, Spaltung, Eitelkeit oder etwas in der Art vielleicht? Na bitte, da wären wir. Lost in Orientation? Das Orientierungsvermögen der Beobachterin und die ‚Orientierungsbeschaffenheit‘ des Beobachteten, also des Gegenstands, den man beobachtet, hier der ‚radikalen‘ Sozialtheorie gestern und heute: Wir müssen diese beiden Orientierungsqualitäten auseinanderhalten. Sollten wir an unserem Orientierungsvermögen zweifeln, so können wir uns ein wenig trösten: Es geht der ‚radikalen‘ Sozialtheorie, dem beobachteten Sozialen, nicht anders als uns, den sozialen Beobachterinnen und Beobachtern. Wo ein Untersuchungsgegenstand selbst aber sehr undurchsichtig ist, muss man sich des eigenen mangelnden Durchblicks wegen nicht so sehr grämen – auch wenn die Verwirrung hier wie dort sicherlich kein befriedigender Zustand ist.
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Die Soz iologie des s eine r Objektivität nic ht mä c htige n Wisse ns. Eine k ritisc he Sk izze z ur Kons titution des Ge ge nsta nds de r „ Wis se nssoz iologie“ HOLGER HAGEN
Heutzutage, da Wissenschaft nicht mehr nur mehr oder minder zufällig aus individuellem Interesse betrieben wird, sondern Forschung und Lehre in erster Linie staatlich organisiert an Hochschulen stattfinden, ist es sicherlich keine große Einsicht mehr, dass Wissen ein gesellschaftliches Produkt ist. Davon, dass Wissen in gesellschaftlichen Zusammenhängen entsteht, verbreitet und tradiert wird, geht die Wissenssoziologie aus, identifiziert dies aber sogleich mit der Behauptung eines ganz anders gearteten Verhältnisses von Wissen und Gesellschaft: „Wissen, so also die zentrale These der Wissenssoziologie, ist eine Funktion des Sozialen. Anders gesprochen: Die Gesellschaft ist nicht nur ein Gegenstand des Wissens, sie geht konstitutiv in das Wissen mit ein.“ (Knoblauch 2005, 16) Unter ‚Wissenssoziologie‘ wird also nicht jede gesellschaftstheoretische Betrachtung von Wissensbeständen verstanden, sondern eine spezifische Theorie über den Zusammenhang von Wissen und Gesellschaft. Ihre Grundthese, dass Wissen eine „Funktion des Sozialen“ sei, hält nicht nur fest, dass Wissen auf die eine oder andere Weise in gesellschaftliche Verhältnisse eingebettet ist, sondern behauptet, dass die Gesellschaft „in das Wissen“ mit eingehe: Der Inhalt des Wissens werde durch die Gesellschaft bestimmt – ein Urteil, dass keineswegs unmittelbar auf der Hand liegt, sondern vielmehr die Selbstverständlichkeit des 113
HOLGER HAGEN
Alltagsbewusstseins bestreitet, dass Wissen, da es seinen Gegenstand ideell zu erfassen beansprucht, in dessen Bestimmungen auch seine Richtschnur hat. Denn bestimmt sich das Wissen aus der Gesellschaft, dann nicht aus der Objektivität, mit der es sich befasst. Um so mehr muss es verwundern, wenn in nicht wenigen wissenssoziologischen Darstellungen der Eindruck vermittelt wird, dass eine Betrachtung des gesellschaftlichen Charakters von Wissensbeständen selbstverständlich mit dieser Annahme einherginge und auch mit ihr überhaupt nicht übereinstimmende Theorien als ihre Vorläufer oder gar Vertreter behandelt werden: Schon Karl Mannheim stellt seine Theorie als Konsequenz nicht nur von Kant und Hegel, sondern auch der marxschen Ideologiekritik dar (vgl. Mannheim 1969, 62-71), obgleich er sie in „das Gegenteil verkehrt“, wie Horkheimer resümiert (HI, 505). Dasselbe Schicksal widerfährt heute wiederum der Kritischen Theorie, wenn sie (etwa bei Knoblauch 2005, 115-123) in die „moderne Wissenssoziologie“ eingereiht wird – als hätte sie sich nicht ausdrücklich gegen dieses Konzept1 gerichtet2: „Bei Scheler und Mannheim ist aus der Ideologienlehre der akademische Zweig der Wissenssoziologie geworden. Der Name ist bezeichnend genug: alles Bewusstsein, nicht nur das falsche, sondern auch das wahre, eben das ‚Wissen‘, soll dem Nachweis der gesellschaftlichen Bedingtheit unterliegen.“ (AGS 8, 471f.) „Diese Ideologienlehre taugt trefflich selber zur Ideologie […]“ (Ebd., 469)
Entgegen der Selbstverständlichkeit, mit der heute jene „zentrale These“ der Wissenssoziologie vertreten und alle gesellschaftstheoretischen Betrachtungen von Wissensbeständen unter sie subsumiert werden, soll dieser Grundgedanke im Folgenden einer näheren Untersuchung unterzogen werden. Dabei werden an erster Stelle prinzipielle Einwände der Kritischen Theorie aus ihrer Auseinandersetzung mit dem damaligen Stand der noch jungen Forschungsrichtung wieder aufgenommen, da diese allgemeinen Argumente nicht zuletzt beanspruchen, das theoretische Programm der Wissenssoziologie einer Kritik zu unterziehen und nicht nur 1
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Es geht hier nicht um die Bezeichnung ‚Wissenssoziologie‘. Wie die Subsumtion beispielsweise der Kritischen Theorie unter den Terminus zeigt, kommt es darauf an, was jeweils unter diesem Titel vertreten wird. Nichtsdestotrotz hat ‚Wissenssoziologie‘ gemeinhin die Bedeutung, die von Knoblauch oben angegeben wurde und im Sinne dieses von ihm bezeichneten Forschungsprogramms wird der Terminus hier auch im Folgenden verwendet. An dieser Eingemeindung haben offenbar auch gelegentliche gegenteilige Ausführungen nichts ändern können. Siehe z. B. McCarthy 1986.
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KRITIK DER WISSENSSOZIOLOGIE
dessen Durchführung oder Besonderheiten der damaligen Autoren. Es handelt sich bei der Position von Horkheimer und Adorno im „Streit um die Wissenssoziologie“ nicht nur um den von Knoblauch referierten Vorwurf an diese, „zu vage“ zu sein und „die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung zu verfehlen“ (Knoblauch 2005, 111), sondern, wie sich im Zitat oben bereits andeutet, zielt ihre Kritik ganz grundsätzlich darauf, wie in jener „zentralen These“ der Zusammenhang von Wissen und Gesellschaft zum Forschungsobjekt erklärt wird – d. h. es geht ihr um nichts weniger als um die Kritik der Konstitution des Gegenstands der Wissenssoziologie, auf der deren weitere und spätere Forschung aufbaut.3 Neben den Einwänden Horkheimers und Adornos gegen eine so verstandene Soziologie des Wissens rückt durch deren Nähe zu einigen philosophischen Positionen auch die Kritik Hegels an skeptizistischen Positionen ins Blickfeld dieser Untersuchung. Da die aus dem Deutschen Idealismus und der Kritischen Theorie herangezogenen Schriften die Wissenssoziologie teils nicht als solche zum Gegenstand haben, teils sich auf Besonderheiten von deren damaligen Begründern wie Mannheim beziehen, die für die Erläuterung und Kritik ihres Prinzips nicht von Belang sind, bemüht sich der vorliegende Aufsatz um eine systematische Ordnung und Darlegung der sich aus ihnen ergebenden Kritik mit Bezug auf die Konstitution des Gegenstands der Wissenssoziologie. Aufgrund des bescheidenen Umfangs konzentriert sich diese Darstellung auf die Analyse des wissenssoziologischen Grundgedankens und zieht hierzu nur exemplarisch wenige ihrer Repräsentanten heran. Aus diesem Grund stellt diese Untersuchung auch nur eine Skizze dar, in der weder alle Argumente in der wünschenswerten Ausführlichkeit behandelt werden, noch alle ihre Implikationen in Betracht kommen können. Der Verlauf der Untersuchung ist kurz gefasst folgender: Im ersten Teil wendet sie sich zunächst dem Wissen der Wissenssoziologie zu. Die Prüfung jener „zentralen These“ ergibt, dass die Wissenssoziologie den von ihr ausgemachten und dem Anspruch nach erwiesenen Zusammenhang von Wissen und Gesellschaft erst durch die Voraussetzungen ihrer theoretischen Betrachtung selbst schafft, so dass der Gegenstand ihrer 3
Insofern nach Adorno bereits das theoretische Programm der Wissenssoziologie verkehrt ist, weist er darauf hin, dass die in ihm enthaltenen grundsätzlichen Defizite auch nicht durch Korrekturen in seiner Durchführung zu beseitigen sind: Denn „keine Korrektur könnte darüber hinweghelfen, dass die Wahl der Grundkategorien falsch: dass die Welt nicht nach jenen Kategorien eingerichtet ist“ (AGS 10.1, 38). Eine knappe Darstellung der historischen Entwicklung der Wissenssoziologie findet sich z. B. bei Keller 2008, 21-96, eine ausführliche bei Knoblauch 2005, 23-140, und in den Beiträgen zum Handbuch von Schützeichel 2007. 115
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weiteren Forschungen eine Projektion ihrer eigenen Setzungen ist. Der Nachvollzug ihrer weiteren Argumentation, in der sie den Setzungscharakter ihres Wissens selbst bemerkt und seinen Aporien zu entkommen sucht, wird zeigen, dass sie sich durch den Widerspruch des Wissens, das sie selbst zu haben beanspruchen muss, und dem, was sie darin über das Wissen weiß, selbst aufhebt. Allerdings ist das Resultat dieser Bewegung nicht nur das Verschwinden ihres reklamierten Gegenstands, sondern es bleibt ein Residuum zurück, welches das wahre Moment ihres theoretischen Konzepts darstellt, das somit im zweiten Teil dieses Aufsatzes Thema ist: Eine spezifische Gestalt von Wissen, das sich nicht nach seinem Gegenstand, sondern der gesellschaftlichen Praxis richtet, daher sein Objekt verfehlt und somit wirklich ein seiner Objektivität nicht mächtiges Wissen ist, wird mit einigen sich am Fetischismus-Begriff bei Marx orientierenden Überlegungen vorgestellt. Es erweist sich am Beispiel der modernen Wirtschaftskrise, dass die Ohnmacht des Wissens auf der Ohnmacht gegenüber den Resultaten einer dem theoretischen Urteil vorausgesetzten gesellschaftlichen Praxis beruht, und dass somit das aus der wissenssoziologischen Verallgemeinerung herausdestillierte spezifische Wissen selbst wiederum ein in spezifischer gesellschaftlicher Form praktisch konstituiertes ist. In der Reflexion dieses Wissens als besonderer Form des Wissens ist zugleich der Selbstwiderspruch unterlaufen, der sich in der Wissenssoziologie aus seiner Bestimmung als Wissen überhaupt ergab. Insofern jenes daher der sachlich angemessene Gegenstand einer Untersuchung von einem durch die gesellschaftliche Praxis inhaltlich affizierten Wissen darstellt, wirft sich im dritten Teil die Frage auf, wie sich die wissenssoziologische Gegenstandskonstitution zu diesem verhält. Hier wird der historische Übergang von der Ideologiekritik zur Wissenssoziologie und der oben zitierte Ideologie-Vorwurf seitens der Kritischen Theorie erörtert: Der Wissenssoziologie wird in ihrer Selbstverortung innerhalb der Sphäre des inhaltlich gesellschaftlich bestimmten Wissens Recht gegeben, wodurch sie sich jedoch wie diese als eine spezifische historische Gestalt des Wissens darstellt: Soziologie des seiner Objektivität nicht mächtigen Wissens. Abschließend wird noch kurz auf die Folgerichtig- und Widersprüchlichkeit der in der „zentralen These“ unmittelbar eingeschlossenen Umkehrung des Bestimmungsverhältnisses von Gesellschaft und Wissen im gedanklichen Fortschritt der Wissenssoziologie eingegangen, die auch dem Übergang zum Sozialkonstruktivismus zugrunde liegt.
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Vom Wissen der Wissenssoziologie Eine skeptizistische „Rechtfertigung des Interesses der Soziologie“ am Wissen Die soziologische Befassung mit dem Wissen legt großen Wert darauf, dass sie sich von philosophischen bzw. erkenntnistheoretischen Positionen unterscheidet. So grenzen z. B. Berger und Luckmann ihre Theorie des Wissens folgendermaßen ab: „Für den Philosophen ist aus professionellen Gründen gar nichts gewiss. […] Die fundamentale Rechtfertigung des Interesses der Soziologie an der Problematik von ‚Wirklichkeit‘ und ‚Wissen‘ ist die Tatsache der gesellschaftlichen Relativität: was für einen tibetanischen Mönch ‚wirklich‘ ist, braucht für einen amerikanischen Geschäftsmann nicht ‚wirklich‘ zu sein. Das ‚Wissen‘ eines Kriminellen ist anders als das eines Kriminologen. Daraus folgt, dass offenbar spezifische Konglomerate von ‚Wirklichkeit‘ und ‚Wissen‘ zu spezifischen gesellschaftlichen Gebilden gehören und dass diese Zugehörigkeit bei der soziologischen Analyse dieser Gebilde entsprechend berücksichtigt werden muss. […] Wir behaupten also, dass die Wissenssoziologie sich mit allem zu beschäftigen habe, was in einer Gesellschaft als ‚Wissen‘ gilt, ohne Ansehen seiner absoluten Gültigkeit oder Ungültigkeit. […] Die Wissenssoziologie hat die Aufgabe, die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit zu analysieren.“ (Berger/Luckmann 1977, 2f.)
Dass zur Bestimmung des Gegenstands der Wissenssoziologie der philosophische Skeptizismus herangezogen wird, hat nicht nur den historischen Grund, dass sich die Betrachtung des Wissens seit Anbeginn der Moderne im Positiven wie im Negativen in erster Linie um die skeptizistische Frage nach der Objektivität des Wissens drehte. Berger und Luckmann bemühen vielmehr zur Begründung ihrer soziologischen Position selbst eine bereits aus der Antike bekannte skeptizistische Wendung (Tropus). Weil der eine (oder die eine Gesellschaft) dieser Auffassung sei, der andere (oder die andere Gesellschaft) aber jener entgegen gesetzten, ließe sich nicht entscheiden, welche Bestimmung der Wirklichkeit zutreffe. Dieser klassische Tropus der ‚Verschiedenheit der Meinungen‘ wird von Hegel aufschlussreich in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie abgehandelt. Zunächst einmal stellt die beschriebene Erfahrung der Pluralität der Auffassungen oder auch Sitten ein historisches Moment der „Bildung des Menschen“ dar:
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„Dies gilt in seiner Stadt, in seinem Lande; er lebt ganz bewusstlos in dieser Weise, nach dieser Sitte, ohne je daran gedacht zu haben, dass er diese Sitte hat. Er kommt in ein fremdes Land, verwundert sich höchlich, erfährt erst durch den Gegensatz, dass er diese Gewohnheit hat, und gerät zugleich in Ungewissheit, ob das Seinige oder Entgegengesetzte Unrecht sei.“ (HW 19, 377)
Die gegenteiligen Sitten und Auffassungen demonstrieren dem Menschen, dass das für selbstverständlich, quasi natürlich gehaltene ungültig sein und stattdessen etwas anderes gelten kann. Was dem Menschen, der diese Erfahrung macht, auffallen kann, ist, dass er in seinem Herkunftsland Verhältnisse und Gedanken angenommen hat, ohne dass er dafür einen Grund hatte – außer dem, dass sie in seiner Gesellschaft praktische Geltung haben: In ihr hält man es so, handelt und denkt in dieser Weise. „Denn das Entgegengesetzte, was ihm galt, gilt ebenso gut, und weiteren Grund hatte er nicht; – kahle Kategorie der Verschiedenheit.“ (Ebd.) Wenn also nun die Frage aufgeworfen ist, ob man sich an das eine oder das andere halten soll (oder vielleicht auch an keines von beiden), dann hat man unmittelbar keinen Grund, diese Frage zu entscheiden: „Dieser Tropus bezieht sich wieder auf das Unmittelbare; wenn es darum zu tun ist, bloß zu glauben, darauf, dass es andere sagen, so findet freilich nur Widerspruch statt.“ (Ebd.) Über diese Ungewissheit kommt man jedoch leicht hinaus, wenn man sich nicht mehr einfach daran hält, was in der einen oder anderen Gesellschaft gilt, sondern vielmehr anfängt, darüber nachzudenken, was es mit den Sitten und Auffassungen auf sich hat und welche Gründe sie haben. Solange man sich nur danach richtet, was einem gesagt wird, stellt man sich auf etwas ein, ohne zu wissen, worum es dabei geht: „Aber ein solches Glauben, das nur glauben will, ist in der Tat unfähig, das zu vernehmen, was gesagt wird; es ist ein unmittelbares Auffassen eines unmittelbaren Satzes. Denn es wollte nicht den Grund; der Grund ist die Vermittlung erst und der Sinn der Worte des unmittelbaren Satzes.“ (Ebd., 378) Aus der Vielfältigkeit von Sitten und Auffassungen folgt also zwar zunächst in der Tat eine Verunsicherung; bei dieser bleibt es jedoch nur, wenn man es dabei belässt, sich bloß an fremde Vorgaben zu halten, denn ansonsten ist die Ungewissheit der Auftakt zur theoretischen Aneignung der verschiedenen Positionen und damit dazu, sich ein theoretisches Urteil über sie zu bilden. Im Resultat kann man dann schließlich beurteilen, ob und inwiefern eine der Positionen einsichtig ist oder auch nicht und sich von daher für oder gegen dieses oder jenes entscheiden. Soweit der klassische Tropus. Auch für Berger und Luckmann ist diese Kritik treffend, insofern sie dem skeptizistischen Argument zu118
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nächst einmal zustimmen, dass wegen der Verschiedenheit der Auffassungen zwischen und innerhalb von Gesellschaften jedes Wissen bloß subjektiv, nämlich die darin gewusste Wirklichkeit nur „Konstruktion“ sein könne, d. h. ein Wissen, in welchem sich das Subjekt nicht nach dem Objekt richte. – Nun betonen Berger und Luckmann jedoch, dass es ihnen nicht um eine philosophische Theorie zu tun ist. Was näher mit den angeführten Argumenten begründet werden soll, ist eine soziologische Position. Deren Besonderheit gegenüber der skeptizistischen Trennung der Objektivität vom Subjekt und seinem Erkennen besteht in der Art und Weise, wie diese Konstruktion bzw. wie das konstruierende Subjekt gedacht wird, nämlich als „zu spezifischen gesellschaftlichen Gebilden“ gehörig. Weil man vorfindet, dass Menschen aus verschiedenen Gesellschaften unterschiedliche Auffassungen haben, deswegen soll jede Auffassung auch gleich aus der Gesellschaft zu erklären sein.
Das Bedingtsein des Wissens durch die Gesellschaft als sein Bestimmtsein durch sie Der Verschiedenheit der Auffassungen zwischen und innerhalb von Gemeinwesen wird also entnommen, dass sich das Wissen nicht nach der Objektivität, sondern nach der Gesellschaft richte. Dieser behauptete Zusammenhang ist nun allerdings dem Gehalt nach vollkommen leer, weil er aus der bloßen Korrelation der Differenz der Ansichten einerseits und dem Unterschied der Gesellschaften andererseits ‚erschlossen‘ wurde. An dem Denken selbst hat man hier so wenig einen Hinweis auf das gesellschaftliche ‚Sein‘ gefunden, wie umgekehrt eine Notwendigkeit an diesem, dass irgendein Gedanke aus ihm folgen würde. Unmittelbar handelt es sich schließlich nur darum, dass Wissen in einer Gesellschaft vorliegt – und das gilt ebenso für wahres wie für falsches: „Dass aber die Tatsache der ‚Seinsgebundenheit‘ Einfluss auf den Wahrheitsgehalt eines Urteils haben soll, ist gar nicht zu verstehen – warum sollte die Einsicht nicht geradeso gut seinsgebunden sein wie der Irrtum?“ (HI, 518) Genauso verhält es sich, wenn man statt der Vielfältigkeit der Auffassungen die Verschiedenheit der Menschen zum Argument gegen die Objektivität macht: Allein weil jeder Gedanke von einem besonderen Menschen an einem besonderen räumlichen und sozialen Ort zu einer bestimmten Zeit stammt, könne kein Wissen objektiv sein, sondern ergebe sich aus diesem partikularen „Denkstandort“ (Mannheim 1969, 70). Gegen diesen skeptizistischen Verweis auf die Partikularität des Subjekts formuliert Horkheimer folgenden Einwand: „Der Begriff der Partikularität […] bezeichnet nichts anderes als das Verhältnis jedes 119
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Standortes zur ewigen Wahrheit. Er behauptet, dass infolge der Bedingtheit des Sprechenden jede Aussage ihr unangemessen sei.“ (HI, 518) „Er […] beruht auf einem überspannten Wahrheitsbegriff, der die […] Unabhängigkeit vom erkennenden Subjekt behauptet.“ (Ebd., 517) Indem dieser Einwand gegen die Objektivität einfach die Individualität des Menschen gegen die im Denken enthaltene Allgemeinheit richtet, erklärt er dieses nur deshalb für rein subjektiv, weil es nicht unabhängig vom Subjekt ist: Weil es das Subjekt ist, das denkt, könnten seine Gedanken nicht wahr sein. – Es ist der vom Skeptizismus vertretene Zweifel an der Objektivität des Denkens überhaupt, der diesem „überspannten Wahrheitsbegriff“ zugrunde liegt. Nach Hegel ist es die Bestimmung des „skeptischen Grundwesen[s], dass allein darauf reflektiert werden soll, dass die Vorstellung nicht das Ding sei, das vorgestellt wird, und nicht darauf, dass beide identisch sind“ (HW 2, 254), insofern nämlich das Ding in der Vorstellung ist, so dass dann behauptet wird „das Gedachte, weil es ein Gedachtes ist, schließe nicht zugleich ein Sein in sich“ (HW 2, 251). Auf die weiteren Widersprüche des Skeptizismus wird am Ende dieses Abschnitts noch zurückzukommen sein. Bei der wissenssoziologischen Theorie handelt sich um eine Variation seines Arguments: Wo der Skeptizismus die Objektivität des Wissens überhaupt anzweifelt, d. h. die Frage aufwirft, ob das Wissen nicht vielmehr inhaltlich durch das Subjekt bestimmt sei, bloß weil es das Subjekt ist, das denkt, da zeigt die Wissenssoziologie die Tatsache, dass die Träger des Wissens Gesellschaftsmitglieder sind, dass das Wissen durch die Gesellschaft bestimmt sei: „Die alte Erkenntnistheorie stellt sich Erkenntnis als einen Vorgang vor, der sich zwischen der wahrnehmenden, erfahrenden Person (bzw. dem Subjekt oder dessen Geist) und dem Erkenntnisgegenstand abspielt. […] Die wissenssoziologische Betrachtungsweise unterscheidet sich von dieser erkenntnistheoretischen Betrachtungsweise grundlegend: Sie sieht die erkennenden Menschen als Teil eines sozialen Zusammenhangs, der selbst in den Prozess des Erkennens und den Inhalt des Erkannten bzw. Gewussten eingeht.“ „Die Gesellschaft ist nicht nur ein Gegenstand des Wissens, sie geht konstitutiv in das Wissen mit ein.“ (Knoblauch 2005, 13f. und 16)
Wenn die Gesellschaft nicht nur Gegenstand des Wissens ist, sondern in Gestalt der Gesellschaftlichkeit der Wissenden zugleich sein Subjekt, dann soll auch bloß deswegen schon der Inhalt des Wissens gesellschaftlich-subjektiv sein. Die beiden Pole des Verhältnisses, Denken und Sein, werden also nicht etwa bestimmt und aus ihnen die reklamierte 120
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Relation erschlossen, sondern in dieser äußerlichen Betrachtungsweise handelt es sich bei beiden jeweils um einen „inhaltslosen Begriff“ (HI, 526).4 Der Schluss, dass, weil es überhaupt Gesellschaftsmitglieder sind, die etwas wissen, ihr Wissen sich nicht nach der Sache, sondern nach der Gesellschaft richten müsse, setzt daher diese erst zu beweisende Bestimmung des Inhalts durch die Gesellschaft bereits voraus.5
Wie eine ‚soziologische Untersuchung‘ das Wissen betrachtet – so erscheint es ihr Das wird von Mannheim implizit zugestanden, wenn er diesen Zusammenhang nicht als einen seines Gegenstands, sondern seiner Wissenschaft vorträgt: Es werde „doch eine jede soziologische Untersuchung in irgendeiner Form darauf hinauslaufen, die theoretischen Zusammenhänge aus außertheoretischen Konstellationen ableiten zu wollen.“ (Mannheim 1980, 90) Ob ein solcher Zusammenhang besteht, davon macht sich die so verstandene soziologische Betrachtungsweise gar nicht abhängig: Nach Mannheim ist es Programm, ihn sehen zu „wollen“. Erst von diesem unterstellten Urteil her, dass alles Wissen als gesellschaftlich bedingt zu betrachten sei, erscheint die Vielfältigkeit der gesellschaftlichen Auffas4
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Wird hier aus dem Verhältnis der Bedingtheit, dass Wissen Gesellschaft unterstellt, eines der Begründung gemacht, wonach das Gewusste aus der jeweiligen Gesellschaft folgen soll, so ist es übrigens nur konsequent für eine solche allem Inhalt sich äußerlich haltende Betrachtung, dass heutzutage vom Wissen als „Funktion“ der Gesellschaft gesprochen wird (s. Zitat in der Einleitung), insofern hierin selbst noch die formelle Bestimmtheit von Grund und Folge in ein nicht näher bestimmtes Bestimmungsverhältnis aufgelöst ist. Der Vorwurf Horkheimers an die Wissenssoziologie bleibt also nicht einfach dabei stehen, dass ihre Aussagen „zu vage“ (Knoblauch 2005, 111) seien. In der stärkeren Behauptung der Inhaltslosigkeit ihrer grundlegenden Begriffe deutet sich vielmehr an, dass diese nicht Resultat der Untersuchung eines konkreten Gegenstands sind, sondern dieser umgekehrt einer formellen Betrachtung subsumiert wird. Dieselbe Kritik – und nicht nur eine Verfehlung der „Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung“ (ebd.) – ist von Adorno angesprochen, wenn er den Vorwurf klassifikatorischen Denkens erhebt: Angegriffen wird die „Freiheit der abstrahierenden Begriffsbildung“ (AGS 10.1, 38) gegenüber ihrem Objekt, weil sich hier Theorie von ihrem Gegenstand, d. h. seinen Bestimmungen frei macht und diesen „willkürlich“ (ebd.) unter ihre Abstraktionen beugt, die so bloße Setzungen sind! Auch wenn die Voraussetzung darin besteht, alles als Teil des ‚Systems‘ ‚Gesellschaft‘ zu betrachten, entgeht einer solchen Subsumtion, dass „das Material seiner Erfahrung […] ein ‚System‘ im härteren Sinne als je die Philosophie eines erfand“ (ebd., 38f.) ist und vor allem, was es mit ihm auf sich hat. Wie es stattdessen erscheint, ist im letzten Teil dieses Textes Gegenstand. 121
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sungen oder die Verschiedenheit der gesellschaftlichen ‚Standorte‘ als Beleg seiner Existenz. Ähnlich verhält es sich, wenn auf die Resultate der Wissenssoziologie oder verwandter Forschungsprogramme verwiesen wird, um diesen Ausgangspunkt zu begründen: „Gewiss, auf der Ebene eines Urteils innerhalb eines Diskurses ist die Grenzziehung zwischen dem Wahren und dem Falschen weder willkürlich noch veränderbar, weder institutionell noch gewaltsam. Begibt man sich aber auf eine andere Ebene, stellt man die Frage nach jenem Willen zur Wahrheit, der seit Jahrhunderten unsere Diskurse durchdringt, oder fragt man allgemeiner, welche Grenzziehung unseren Willen zum Wissen bestimmt, so wird man vielleicht ein Ausschließungssystem (ein historisches, veränderbares, institutionell zwingendes System) sich abzeichnen sehen.“ (Foucault 1996, 13f.)
Foucault selbst führt an, wieso das Wissen sich der Betrachtungsweise als Produkt gesellschaftlicher Willkür und gesellschaftlichem Zwang zunächst einmal versperrt: Was wahr und was falsch ist, ist keine Frage des Willens. Das hält Foucault auch für nicht widerlegbar; er schlägt vielmehr vor, auf „eine andere Ebene“ zu wechseln und es einfach trotzdem so zu betrachten: Wenn man sich nur nicht auf den Gehalt des Gedachten einlässt, sondern von außerhalb nach Zusammenhängen zu Willkür und Gewalt fragt und diese sucht, dann entdeckt man „vielleicht“ auch solche. Man muss sogar sagen: ganz sicher, wenn man sich nur bemüht. Das liegt allerdings nicht daran, dass sich am Wissen selbst ein Hinweis ergeben hätte, dass es z. B. eine Rechtfertigung von gewissen Machtverhältnissen ist, sondern daran, dass man in einer solch äußerlichen Betrachtung beliebige Zusammenhänge herstellen kann: Das Wissen, wie jeder Gegenstand, steht in vielen Verhältnissen; welche davon ihm äußerlich und welche wesentlich für ihn sind, lässt sich ohne Analyse seiner selbst, seines Inhalts, seiner Bestimmungen nicht erkennen; soll er aber getrennt vom Inhalt, äußerlich bestimmt werden, liegt es an dem/der Betrachtenden, welche Verhältnisse er/sie für wesentlich erklärt.6 – Es ist wie mit der Betrachtung der Geschichte von Philosophie oder Wissenschaft als Ideengeschichte:
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Ein Punkt, der auch Sokal und Bricmont in ihrer Kritik der „postmodernen“ Wissenschaftssoziologie aufgefallen ist: „Hier liegt in der Tat das grundlegende Problem für den Wissenschaftssoziologen Latour. Es genügt nicht, die Allianzen oder Machtverhältnisse zwischen Wissenschaftlern zu untersuchen, so wichtig diese sein mögen. Was einem Soziologen als reines Machtspiel erscheint, mag in Wirklichkeit durch absolut [?] vernünftige Überlegungen motiviert sein, die jedoch nur zu begreifen sind, wenn man ein detailliertes Verständnis der wissenschaftlichen Theorien und Experimente als solcher besitzt.“ (Sokal/Bricmont 1999, 119)
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„Kein philosophisches System kann sich der Möglichkeit einer solchen Aufnahme entziehen; jedes ist fähig, geschichtlich behandelt zu werden. […] Der lebendige Geist, der in einer Philosophie wohnt, verlangt, um sich zu enthüllen, durch einen verwandten Geist geboren zu werden. Er streift vor dem geschichtlichen Benehmen, das aus irgendeinem Interesse auf Kenntnisse von Meinungen auszieht, als ein fremdes Phänomen vorüber und offenbart sein Inneres nicht. […] [E]r selbst ist dem neugierigen Sammeln von Kenntnissen unter den Händen entflohen. Dieses hält sich auf seinem gegen die Wahrheit gleichgültigen Standpunkte fest und behält seine Selbständigkeit, es mag Meinungen annehmen oder verwerfen oder sich nicht entscheiden; es kann philosophischen Systemen kein anderes Verhältnis zu sich geben, als dass sie Meinungen sind, und solche Akzidenzien wie Meinungen können ihm nichts anhaben.“ (HW 2, 15f.)
Im Gegenstand kann dem Willen zu einer solchen Betrachtung kein Hindernis erwachsen: Geht man mit dem fixen Urteil an die Geschichte der Philosophie heran, dass es sich nur um ‚Ideen‘ handele, die sich der Partikularität und Willkür des Subjekts verdanken, dann sammelt man solche Meinungen, reiht sie aneinander, stellt sie in allerlei Verhältnisse zu den Lebensläufen, historischen Ereignissen und gesellschaftlichen Umständen – aber worum es bei ihnen geht, ihr sachlicher, wissenschaftlicher Gehalt entgeht einem. Dabei wäre der behauptete Einfluss außerwissenschaftlicher Bestimmungsgründe gerade an seinem Inhalt zu erkennen, wenn er denn vorhanden ist. So stellen sich die Theorien nur als Meinungen dar. – Genauso verhält es sich mit der Betrachtung des Wissens als Produkt von Willkür und Macht: Entdeckt man diesen Zusammenhang nicht bei der Betrachtung des Wissens selbst, also seines Inhalts, sondern sieht es von vornherein für ein solches an, dann sieht es auch so aus. Allgemein formuliert: Soll die Hypothese erst durch die erst unter ihrer Voraussetzung gewonnenen Resultate begründet sein, handelt es sich um einen Zirkelschluss. Auch dieses Argument fällt mithin darauf zusammen, dass das zu beweisende Urteil über den Zusammenhang von Wissen und Gesellschaft bereits unterstellt ist. – Die letzte Form der ‚Begründung‘ der Wissenssoziologie ist daher das offensive Bekenntnis zum unbegründeten Festhalten an der eigenen Sichtweise: „Meine Damen und Herren, philosophisch betrachtet mögen die Dinge anders liegen, vom Standpunkte der Gesellschaftswissenschaft ist jedes historische, weltanschauliche, soziologische Wissen – auch wenn es die absolute Richtigkeit und Wahrheit selbst sein sollte – eingebettet und getragen vom Machtund Geltungstrieb bestimmter konkreter Gruppen, die ihre Weltauslegung zur öffentlichen Weltauslegung machen wollen.“ (Mannheim 1982, 334)
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Die „Gesellschaftswissenschaft“ habe nun einmal ihre Betrachtungsweise und die Philosophie eine andere. Eine Prüfung auf ihre Stichhaltigkeit scheint hier nicht mehr vorgesehen zu sein. Wenn man den „Standpunkt“ einnehme, erscheine der Gegenstand eben dementsprechend. – Hiermit schließt sich der Kreis: Dass sie die Sache so sehen will, legitimiert die Wissenssoziologie mit dem in ihrer Sichtweise enthaltenen Skeptizismus, dass jedes Wissen nur subjektiv sei. „Weil, der lieben Wahrheit zu Ehren, alle Wahrheiten doch bloß Meinungen seien, weicht die Idee von Wahrheit der Meinung.“ (AGS 10.2, 585)
Die Selbstaufhebung der Wissenssoziologie Einmal abgesehen davon, dass jede Wissenschaft überflüssig wäre, wenn ihr Gegenstand ohnehin nicht zu erkennen und das Forschungsergebnis im Prinzip mit den Voraussetzungen bereits festgelegt wäre (vgl. z. B. HW 3, 68-69), handelt sich diese Position, wie Adorno hier anmerkt, in ihrem Skeptizismus den Widerspruch ein, dass auch die Bestreitung der Objektivität für sich selbst noch Objektivität reklamiert, insofern sie ihren Gegenstand, das Wissen, theoretisch – eben als (gesellschaftlich ‚bedingte‘) Meinung – zu bestimmen beansprucht. Ferner behauptet sie von dem zu wissen, was man gerade nicht wissen könne. „Es ist daher nur Bewusstlosigkeit, nicht einzusehen, dass eben die Bezeichnung von etwas als einem Endlichen oder Beschränkten den Beweis von der wirklichen Gegenwart des Unendlichen, Unbeschränkten enthält, dass das Wissen von Grenze nur sein kann, insofern das Unbegrenzte diesseits im Bewusstsein ist.“ (HW 8, § 60 Anm., 143) Dasselbe gilt drittens auch für die vermeintliche Einsicht in die gesellschaftliche Borniertheit des Wissens: Mit ihr wäre man schon über sie hinaus, so dass sich dieses Urteil ebenfalls selbst revidiert. Dass sich seine Theorie selbst aufhebt, ist auch z. B. Mannheim nicht entgangen. Im Zusammenhang des obigen Zitats heißt es weiter: Wenn „man auch nicht wie Marx die ideologischen Momente letzten Endes stets aus den Produktionsverhältnissen wird ableiten wollen, so […] doch […] die theoretischen Zusammenhänge aus außertheoretischen Konstellationen […]. Dass aus diesem Umstand für den Soziologen der Erkenntnis ein Widerspruch entsteht, kommt daher, dass er sich in diesem Fall zum Gehalt ‚Theorie‘ in einer doppelten Einstellung befindet. Als Soziologe ist er auf die Funktionalität des Denkens eingestellt, und er wird also das Gebiet der Theorie einer nichtimmanenten Betrachtung unterziehen; als Denker und Theoretiker aber, als der
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er selbst seine Sätze aufstellt, ist er auf die theoretische Sphäre immanent eingestellt, ist gezwungen sie selbst zu setzen.“ (Mannheim 1980, 90)
Allerdings begreift er die Selbstwiderlegung nicht als solche, sondern als ein sich bei einem solchen wissenschaftlichen Programm selbstverständlich einstellendes Problem, mit dem man als sein Vertreter oder seine Vertreterin theoretisch fertig werden müsse. – Es sei hier nur nebenbei bemerkt, dass Marxens Theorie sich ihrem Gehalt nach ihrer Vereinnahmung durch die Wissenssoziologie durchaus versperrt. Wie sich noch andeuten wird, kommt deren Problemkonstellation in seiner Theorie gar nicht erst zustande. – Nachdem zunächst also alles Wissen für ‚relativ‘ zu seinen gesellschaftlichen Umständen erklärt wurde, soll es hierbei nun auf einmal doch nicht sein Bewenden haben. „Will man aus diesem Relativismus herauskommen, so muß man zunächst mit Hilfe der wissenssoziologischen Analyse eingesehen haben, dass hier nicht die Erkenntnistheorie ihr Urteil über einen Denktypus spricht, sondern nur ein bestimmter historischer Typus der Erkenntnistheorie.“ (Mannheim 1969, 72) Die Bestreitung der Objektivität des Denkens soll zugleich keine sein, weil es nicht darum ginge, über die Wahrheit des Denkens zu urteilen, wie die Erkenntnistheorie dies tue, sondern nur darum, es historisch (oder gesellschaftlich) zu betrachten. Als würde man kein Urteil über das Denken und seine Objektivität fällen, wenn man es, wie Mannheim sich im Zitat oben ausdrückte, „aus außertheoretischen Konstellationen ableiten“ will. Folgt es diesen, richtet es sich nicht nach jener. Von daher ist der Verweis auf einen unterschiedlichen „Typus“ von Erkenntnistheorie nicht zu halten; wie Adorno bemerkt, zeigt sich hierin „allenfalls die Intention, die Prozeduren einer positivistischen Wissenssoziologie durch methodologische Raisonnements abzuschirmen“ (AGS 8, 472). Adorno insistiert hier zurecht darauf, dass die Wissenssoziologie dem, wie Mannheim es nennt, „Relativismus“ nicht entgeht, sondern ihn mit ihrer Theorie, ob ihr die Konsequenzen zupass sind oder nicht, vertritt – mit der unvermeidlichen Folge, dass ihr von ihrer eigenen Position „der Boden unter den Füßen weggezogen“ wird, weil bei „folgerichtiger Anwendung […] auch die eigenen Theorien […] in Frage gezogen werden“ (HI, 524) müssen, wie Horkheimer feststellt.
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Über das seiner Objektivität nicht mächtige Wissen Wenngleich sich die wissenssoziologische Theorie selbst aufhebt, so bleibt doch zweifellos ein wahres Moment an ihr davon unberührt. Nicht zu bestreiten ist nämlich, dass es Wissen gibt, das seine Objektivität verfehlt und ihr somit theoretisch nicht mächtig ist. Auch lässt sich im einen oder anderen Fall kaum übersehen, dass sich in solchen Formen gesellschaftliche Interessen und Machtverhältnisse geltend machen. Obzwar also die allgemeine Betrachtung von Wissen als inhaltlich nicht durch sein Objekt, sondern durch die Gesellschaft bestimmt nicht zu halten ist, so scheint hiermit doch durchaus eine besondere Art von Wissensbeständen angesprochen zu sein. Im Folgenden soll daher dieses Phänomen kurz etwas näher erläutert werden an einem mustergültigen Beispiel, das Marx in der Theorie des Warenfetischismus analysiert hat – wobei seine Theorie zugleich demonstriert, wie in einer Reflexion dieses Wissens als besonderer Form des Wissens sich gar nicht erst der Selbstwiderspruch ergibt, der zur Selbstaufhebung der Wissenssoziologie führte.
Wenn „das Haus über dem Kopf zusammenpurzelt“ und man weiß nicht warum… In den modernen Gesellschaften mit kapitalistischer Form der Ökonomie gibt es das merkwürdige Phänomen, dass alle Gesellschaftsmitglieder, indem sie ihren jeweiligen wirtschaftlichen Interessen nachgehen, zusammen ein Resultat zustande bringen, das keiner bezweckt hat und das ihre jeweiligen Rechnungen durchkreuzt: Besonders augenfällig wird dies in den periodischen Krisen, in denen den Beteiligten gleichsam „das Haus über dem Kopf zusammenpurzelt“ (MEW 23, 89). Offenbar entgleitet den Gesellschaftsmitgliedern in ihrem ökonomischen Verkehr hinterrücks ihr eigener Zusammenhang; ihr eigenes gemeinsames Resultat tritt ihnen gegenüber wie eine Naturmacht, die sie nicht beherrschen, sondern der sie ausgeliefert sind und die in solchen sozialen „Ungewittern“ (MEW 42, 324) wie eine Naturgewalt über sie herein bricht. Marx vergleicht eine solche Praxis mit dem religiösen „Fetischismus“, in dem sich der Mensch von eingebildeten Mächten beherrscht sieht: „Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand.“ (MEW 23, 86) 126
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Dass die Gesellschaftsmitglieder ihren Zusammenhang praktisch nicht unter Kontrolle haben, schließt ein, dass sie theoretisch nicht durchschauen, was sie tun. Indem die Absichten der Beteiligten und das zustande gebrachte Resultat beständig auseinander fallen, ist nicht nur eine „Bewusstlosigkeit“ (ebd., 89, Fn. 28) über den wirklichen Inhalt ihres Handelns unterstellt, sondern das vorhandene Bewusstsein muss falsch sein: Sie müssen die Resultate ihres Tuns auch für etwas ihnen genauso Fremdes und Vorausgesetztes wie die Natur halten. Dass ihnen ihr eigenes Wirtschaften regelmäßig in die Quere kommt, erscheint ihnen so natürlich wie „das Gesetz der Schwere, wenn einem das Haus über dem Kopf zusammenpurzelt“ (ebd., 89). Diese „verrückten Form[en]“ (ebd., 90) der Ökonomie, „die einer Gesellschaftsformation angehören, worin der Produktionsprozess die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozess bemeistert, gelten […] für ebenso selbstverständliche Naturnotwendigkeit als die produktive Arbeit selbst“ (ebd., 95f.).
…und „die Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen“ Zu einem so gearteten Bewusstsein heißt es an anderer Stelle: „Das Bewusstsein kann nie etwas Andres sein als das bewusste Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozess hervor…“ (MEW 3, 26) Man ist sich der Dinge in der Welt zunächst einmal bewusst, wie sie erscheinen. Bringt die eigene Praxis einen falschen Schein hervor, weil in ihr selbst einiges auf den Kopf gestellt ist, so ist auch das Bewusstsein davon zunächst einmal dementsprechend verkehrt. Insofern den Gesellschaftsmitgliedern das Resultat ihres Wirtschaftens, ihr eigener gesellschaftlicher Zusammenhang, wie eine Naturmacht gegenübertritt, erscheint es ihnen auch genauso „endgültig“ (MEW 23, 88) wie eine solche, so dass sie sich samt ihren Interessen darauf einstellen wie auf die Naturgesetze und die Verhältnisse im Weiteren dann auch von diesen so konstituierten Interessen her betrachten. – Ein Bewusstsein, in dem man freilich nicht befangen bleiben muss; vielmehr hat man in der beständigen Differenz von eigener Absicht und eingetretenem Resultat einen Grund, der Frage nachzugehen, mit was für einem Verhältnis man es hier eigentlich zu tun hat.7 7
Behauptet ist von Marx mit der These, dass die gesellschaftliche Praxis das Bewusstsein bestimme, also keineswegs ein soziales Determinationsverhältnis wie in der Wissenssoziologie, sondern es wird einerseits die 127
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Dazu ist allerdings verlangt, von seinen eigenen Vorstellungen aus der Praxis Abstand zu nehmen für ein „interesseloses Denken“ (ebd., 180, Fn. 37) über die Sache selbst. Betrachtet die Wissenschaft dagegen die gesellschaftlichen Verhältnisse theoretisch von den Interessen her, die durch diese Gesellschaftsform konstituiert sind, wird sie ideologisch. So kommt z. B. die von Marx so genannte Vulgärökonomie dazu, die Vorstellungen der (jeweiligen) Gesellschaftsmitglieder in wissenschaftlicher Form „doktrinär zu verdolmetschen, zu systematisieren und zu apologetisieren“ (MEW 25, 825), deren „Vorstellungen […] von ihrer eignen besten Welt zu systematisieren, pedantisieren und als ewige Wahrheiten zu proklamieren“ (MEW 23, 95, Fn. 32). Ein von Marx in diesem Zusammenhang behandeltes Beispiel besteht darin, dass historisch vorangegangene Gesellschaftsformationen von einer solchen Wissenschaft betrachtet werden „wie etwa von den Kirchenvätern vorchristliche Religionen“ (ebd., 96): An ihnen bemerken sie nicht etwa, dass die heutige so natürlich nicht sein kann, wie sie meinen, sondern sie halten die anderen demgegenüber für der Natur des Menschen nicht gemäß – ungeachtet sowohl dessen, dass „der Mensch“ dann doch offenbar die Freiheit hat, auf verschiedene Weisen zu produzieren und zu leben, als auch der Tatsache, dass sie selbst damit gerade Gründe liefern wollen, warum man sich an diese heutige Gesellschaftsform zu halten habe. Ihrer Ansicht nach handelt es sich bei allen anderen Formationen einfach um Abweichungen, von dem, was sein soll und eigentlich je schon sein müsste.8
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Trivialität festgehalten, dass menschliche Praxis mit Bewusstsein einhergeht, und andererseits erläutert, wie es dann möglich ist, dass die Mitglieder einer Gesellschaft nicht wissen, was sie tun – und mit der Kritik ihres Bewusstseins die theoretische Grundlage dafür geschaffen, die Praxis dem Wissen nicht mehr immer schon vorauszusetzen, sondern vernünftig aus ihm zu bestimmen. Vgl. Iber 2005, 68, Fn. 7. Insofern die Wissenssoziologie daher meint, an Marx anzuknüpfen, bezieht sie sich in Wahrheit allenfalls auf seine ‚vulgärmaterialistische‘ Auslegung im Großteil des ‚Marxismus‘. Es sei nur am Rande darauf verwiesen, dass sich eine solche Sichtweise wie im Beispiel auch in ganz anderen wissenschaftlichen Disziplinen großer Beliebtheit erfreut. Foucault hat schon in Psychologie und Geisteskrankheit beschrieben, dass die „Geisteskrankheit“ in der Psychologie „in bezug auf den Durchschnitt, eine Norm, ein ‚pattern‘ definiert wird und in der Abweichung davon das ganze Wesen des Pathologischen liegt…“ „Die Analysen unserer Psychologen und Soziologen, die aus dem Kranken einen von der Norm Abweichenden machen und den Ursprung des Krankhaften im Anormalen suchen“ (Foucault 1968, 95 und 97f.), sind also zweifelsohne Konstrukte, weil sie darauf beruhen, die Verrücktheit überhaupt nicht positiv zu bestimmen, sondern sie an etwas anderem zu messen, nämlich daran, ob sie der Norm, also dem in der Gesellschaft verlangten üblichen Denken und Tun entspricht. Die Verrücktheit erscheint
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KRITIK DER WISSENSSOZIOLOGIE
Zur Stellung der Wissenssoziologie zu diesem Wissen Ideologie als Paradigma des Wissens Daran, was an derartigem Wissen inhaltlich verkehrt ist und wie sich darin gesellschaftliche Interessen geltend machen, ist die Wissenssoziologie jedoch nicht interessiert: Mannheim als einer ihrer Begründer ist der Auffassung, dass die für ideologisch befundenen Wissensbestände „nicht aus sich heraus, sondern aus der Seinslage des Subjekts her erfasst werden, indem man sie als Funktionen dieser Seinslage interpretiert“ (Mannheim 1969, 54). Wenn man das Wissen aber nicht „aus sich heraus“ erfasst, kann man es auch nicht als eines erkennen, das sich nicht einfach dem Bemühen um Erkenntnis der Verhältnisse, in denen man lebt, verdankt, sondern gesellschaftlichen Interessen: Getrennt vom Inhalt eines falschen Bewusstseins oder einer falschen wissenschaftlichen Theorie ist weder auszumachen, ob hier ein fehlerhaftes Denken vorliegt oder nicht, noch, ob eventuelle Fehler dem geschuldet sind, dass sich in der Theorie die gesellschaftliche Praxis geltend macht. – Unabhängig von der Betrachtung des gedanklichen Gehalts ist die Behauptung, dass dieser aus der gesellschaftlichen „Seinslage“ des Subjekts begriffen werden müsse, eine bloße Unterstellung. – Was als Beweis (etwa von Berger und Luckmann, s.o.) vorgestellt wird, dass nämlich jedes Wissen in einer gesellschaftlichen „Seinslage“ entsteht, also aus ihr zu erklären sein muss, setzt selbst, wie gezeigt, schon voraus, dass der Zusammenhang nur eine Determination des Wissens durch die Gesellschaft sein kann. Dementsprechend handelt es sich bei der Rede vom „Denken“ als „Funktion“ der „Seinslage“ auch nicht um eine etwas zu abstrakt geratene Zusammenfassung davon, dass am Inhalt eines besonderen Wissens bestimmte gesellschaftliche Interessen als sein Movens zu erkennen sind, sondern um nichts als leere Abstraktionen: „inhaltslose Begriffe“, die selbst schon den ganzen Gehalt der Betrachtungsweise bilden. Unter diese leeren Allgemeinbegriffe und ihren behaupteten Zusammenhang lässt sich dann allerdings jedes beliebige Wissen beugen – indem man über seinen Inhalt hinwegsieht. Was konstitutiv ist für ideologisches Wissen, nämlich sich nicht einfach der theoretischen Auseinandersethier überhaupt nur als „etwas Negatives“ (ebd., 95), als Abweichung von dem, was sie nicht ist – aber sein sollte. Die gesellschaftliche Realität als ‚Normalität‘ zum Maßstab zu erheben, ist die unumwundene Parteinahme für diese: Was nicht den geltenden Sitten entspricht, hält man einfach für verrückt! 129
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zung mit der Sache, sondern einer interessierten Betrachtung zu verdanken, wird zum Paradigma für und zur Bestimmung von Wissen überhaupt erklärt. Mannheim sieht daher die Notwendigkeit einer verallgemeinernden Ausweitung des Ideologiebegriffs: „Diese allgemeine Fassung des totalen Ideologiebegriffs, wonach das menschliche Denken bei allen Parteien und in sämtlichen Epochen ideologisch sei, ist schwer zu umgehen. Es gibt kaum einen Denkstandort […], der nicht historisch wandelbar gewesen wäre…“ (Mannheim 1969, 70) Der Ideologiebegriff wird hier „neutralisiert“ (AGS 8, 469), indem er „so ausgeweitet [wird], dass er keine spezifische Differenz mehr enthält“ (ebd., 467): Wenn Wissen per se Ideologie ist, dann ist daran auch nichts mehr zu kritisieren. „Hierbei wird der Ideologiebegriff gründlich von den Resten seiner anklägerischen Bedeutung gesäubert und seine Einbürgerung in die Geistesphilosophie vollendet.“ (HI, 524)
Von der Ideologiekritik zur Wissenssoziologie Mannheim grenzt seine affirmative Wendung des Ideologiebegriffs dementsprechend gerade von der Ideologiekritik ab – indem er seine Unterstellung, dass alles Wissen gesellschaftlich bestimmt sei, auch auf diese anwendet: „Solange man aber bei dieser kritischen Analyse den eigenen Denkstandort als aproblematisch, als absolut setzt und diesem gegenüber alles Gegnerische sozial funktionalisiert, ist der entscheidende Schritt […] nicht getan.“ (Mannheim 1969, 70) Nach Mannheim soll sich dabei allerdings die Ideologiekritik selbst widersprechen, wenn sie sich nicht auch selbst als Ideologie betrachtet. Dem ist allerdings keineswegs so, da sie kein Urteil über Wissen im Allgemeinen trifft, sondern bei der Prüfung bestimmter Wissensbestände auf deren Fehlerhaftigkeit und die dieser zugrunde liegende Interessiertheit der Betrachtung stößt. Mannheim abstrahiert vom Inhalt dieser Untersuchung und dem ihm entsprechenden Verfahren der Ideologiekritik und fasst sie als eine dem Gegenstand erstens vorausgesetzte und damit gegen ihn gleichgültige Methode der Betrachtung, die sich zweitens folglich auf alles anwenden lässt, also auch auf sich selbst. Nicht die Ideologiekritik führt zur Wissenssoziologie, sondern Mannheim unterstellt der Ideologiekritik zunächst einmal sein eigenes, ihr diametral entgegengesetztes theoretisches Programm, um ihr dann dessen mangelhafte Einlösung vorzuwerfen und seine Theorie als Vollendung derselben vorzustellen. „Mit dem Auftauchen der allgemeinen Fassung des totalen Ideologiebegriffs entsteht aus der bloßen Ideologienlehre die Wissenssoziologie. Es wird hierbei […] die allgemeine Richtigkeit von der ‚Seinsgebundenheit‘ eines jeden lebendigen Denkens herausgehoben 130
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und zum Thema einer geistesgeschichtlichen Forschung gemacht.“ (Mannheim 1969, 70f.) Indem der Begriff der Ideologie durch seine Verallgemeinerung zum Wesen von Wissen überhaupt seine Spezifität und die in ihm enthaltene Kritik einbüßt, handelt es sich allerdings nunmehr weder um die Befassung mit falschem Bewusstsein und seinen gesellschaftlichen Gründen noch um ihre Kritik, sondern um „Wissenssoziologie“: „Bei Scheler und Mannheim ist aus der Ideologienlehre der akademische Zweig der Wissenssoziologie geworden. Der Name ist bezeichnend genug: alles Bewusstsein, nicht nur das falsche, sondern auch das wahre, eben das ‚Wissen‘, soll dem Nachweis der gesellschaftlichen Bedingtheit unterliegen.“ (AGS 8, 471f.) „Der Begriff eines ‚falschen‘ Bewusstseins, der in der Ideologienlehre so häufig gebraucht wird, wird daher in der Wissenssoziologie bewusst vermieden.“ (Lieber 1952, 24)9
Die Wissenssoziologie verwandelt daher die Ideologiekritik in etwas vollkommen anderes: ein methodisches Programm, alles Wissen als gesellschaftlich bestimmt zu betrachten – egal was es mit ihm jeweils auf sich hat: So wird es angesehen und so sieht es dann auch aus für sie. Dabei bekennt sich Mannheim beispielsweise, wie oben bereits gesehen, sogar zu dieser voreingenommenen Betrachtungsweise, wenn er seine Ansichten über das Wissen nicht auf dessen Bestimmungen, sondern auf den „Standpunkte der Gesellschaftswissenschaft“ zurückführt.
Eine Betrachtung „vom Standpunkte der Gesellschaftswissenschaft“… Zur Erinnerung noch einmal die entscheidenden oben bereits angeführten Zitatstellen: Es werde „doch eine jede soziologische Untersuchung in irgendeiner Form darauf hinauslaufen, die theoretischen Zusammenhänge aus außertheoretischen Konstellationen ableiten zu wollen“ (Mannheim 1980, 90). Vom „Standpunkte der Gesellschaftswissenschaft ist jedes […] Wissen – auch wenn es die absolute Richtigkeit und Wahrheit selbst sein 9
In den Worten Foucaults: „Der Begriff der Ideologie […] steht […], ob man will oder nicht, in einem potentiellen Gegensatz zu etwas, was Wahrheit wäre. Nun glaube ich aber, dass das Problem nicht darin besteht, Unterscheidungen herzustellen zwischen dem, was in einem Diskurs von der Wissenschaftlichkeit und von der Wahrheit, und dem, was von etwas anderem abhängt, sondern darin, historisch zu sehen, wie Wahrheitswirkungen im Innern von Diskursen entstehen, die in sich weder wahr noch falsch sind.“ (Foucault 1978, 34) 131
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sollte – eingebettet und getragen vom Macht- und Geltungstrieb bestimmter konkreter Gruppen, die ihre Weltauslegung zur öffentlichen Weltauslegung machen wollen“ (Mannheim 1982, 334). „Die wissenssoziologische Betrachtungsweise […] sieht die erkennenden Menschen als Teil eines sozialen Zusammenhangs, der selbst in den Prozess des Erkennens und den Inhalt des Erkannten bzw. Gewussten eingeht.“ (Knoblauch 2005, 14) Die Wissenssoziologie gibt hier als Grund für ihre Urteile einen vorausgesetzten „Standpunkt“ an, der allgemeiner ist als die Wissenssoziologie selbst, nämlich den, was sie überhaupt für eine „soziologische Untersuchung“ hält. Worin aber besteht nun dieser „Standpunkt“, als dessen Anwendung auf das Wissen sich die Wissenssoziologie hier vorstellig macht? Nicht nur das Wissen, sondern alles, was Menschen tun und zuwege bringen, soll offenbar betrachtet werden als gesellschaftlich bestimmt. Einmal abgesehen davon, dass dieses Urteil nicht durch die Untersuchung des Gegenstands gewonnen, sondern in ihr schon unterstellt wird, scheint es sich zunächst zumindest inhaltlich um eine aufklärerische Opposition gegen die ideologische Auffassung von gesellschaftlichen Verhältnissen als natürliche Gegebenheiten zu handeln. So knüpfen Berger und Luckmann etwa auch an Marxens Kritik der kapitalistischen „Verdinglichung“ des arbeitsteiligen Zusammenhangs in Gestalt von Ware-Geld-Beziehungen an: „Verdinglichung ist die Auffassung von menschlichen Produkten, als wären sie etwas anderes als menschliche Produkte: Naturgegebenheiten […] Die entscheidende Frage ist, ob er“ – „der Mensch“ – „sich noch bewusst bleibt, dass die gesellschaftliche Welt, wie auch immer objektiviert, von Menschen gemacht ist. […] Mit anderen Worten: man kann Verdinglichung als äußersten Schritt des Prozesses der Objektivation verstehen, […] durch den die objektivierte Welt ihre Begreifbarkeit als eines menschlichen Unterfangens verliert“ (Berger/Luckmann 1977, 95).
Einmal abgesehen davon, dass „Verdinglichung“ hier nur als eine falsche „Auffassung“ gedacht ist, so als ob nicht wirklich der ökonomische Zusammenhang der Menschen über Ware und Geld vermittelt wäre, ist die Art und Weise bemerkenswert, wie hier über sie nachgedacht wird: Diese formelle Charakterisierung kapitalistischer Produktion, die z. B. beinhaltet, dass die Macht des Geldes nicht die natürliche Eigenschaft eines Dings, sondern das Resultat der Form ist, in der die Menschen ihre Arbeiten aufeinander beziehen, wird nicht als Kritik an der Warenproduktion verstanden, die dieser vorhält, dass sich die Produzenten in ihr 132
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ihrem eigenen Produkt wie einer Naturmacht unterwerfen, sondern „Verdinglichung“ wird gänzlich von seinem spezifischen Inhalt getilgt und abstrakt als gesellschaftliches Phänomen betrachtet, das als solches auch genauso abstrakt aus der Gesellschaft erklärt werden soll. – Es zeigt sich also, dass es sich bei der Voraussetzung, alles gesellschaftlich zu betrachten, nicht bloß um die besagte Zurückweisung von ideologischen Naturalisierungen handelt, sondern damit zugleich der jeweils betrachtete Gegenstand selbst von vornherein verwandelt wird in einen Ausdruck der Gesellschaft. Dementsprechend suchen Berger und Luckmann den Grund für die „Verdinglichung“ darin, dass „der Mensch“ über die „Verobjektivierung“, also die Umsetzung seiner subjektiven Anliegen ins Objektive, wohl noch einen „äußersten Schritt“ hinaus gemacht haben muss, in dem er das Bewusstsein verloren hat, dass es sich bei seinen Produkten (oder den seiner Vorfahren) um menschliche Produkte handelt. Ein ziemlich unerfindlicher Übergang, der sich nur dem Anliegen verdankt, „Verdinglichung“ getrennt von ihrem konkreten ökonomischen Gehalt als gesellschaftliches Phänomen, also als Phänomen der Gesellschaft im Allgemeinen zu konstruieren. Eine solche „soziologische Untersuchung“ hat daher lauter „Oberbegriffe, aber nie solche, welche das Leben der Gesellschaft selber ausdrücken. Die Kategorie ‚arbeitsteilige Gesellschaft überhaupt‘ ist höher, allgemeiner als die ‚kapitalistische Gesellschaft‘, aber nicht wesentlicher, sondern unwesentlicher“ (AGS 8, 198). Solche formellen Oberbegriffe als das Wesentliche zu behaupten, wie es in der Betrachtung von allem als Ausdruck der Gesellschaft geschieht, heißt „Allgemeinbegriffe zu verselbständigen“ (AGS 10.1, 40). Auf der Grundlage der Betrachtung von Phänomenen der heutigen Gesellschaft in solche der Gesellschaftlichkeit (und ähnlicher formeller Abstraktionen) sind umgekehrt die Gesetze des Kapitalismus „bloß noch als subtile Modifikationen“ (ebd., 30) derselben zu denken. Erscheinen daher einerseits spezifische Momente der heutigen Gesellschaft als Ausdruck von Gesellschaft überhaupt, so werden andererseits „der Gesellschaft“ lauter Bestimmungen der heutigen zugedacht: Indem man alles als Ausdruck von „Gesellschaft“ betrachtet, will man den sich darin äußernden Gesetzen der Gesellschaft auf die Schliche kommen, die kein Mensch als solche bezweckt und weiß, obwohl sie nur durch das Handeln aller in Kraft gesetzt würden. Es wird also ganz selbstverständlich unterstellt, dass sich in Gesellschaft Gesetze geltend machen, von denen die Beteiligten keine Ahnung haben. Was bei Marx eine Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft ist, dass nämlich die Gesellschaftsmitglieder in ihrem Wirtschaften ein ihnen fremdes Resultat mit eigenen Gesetzen und Macht über sie schaffen, der sie sich unterwerfen, 133
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auch wenn ihre Berechnungen durchkreuzt werden – ist in dieser Theorie von vornherein zum Wesen von Gesellschaft überhaupt erklärt! Es erscheint als selbstverständliche Eigenart des Sozialen, dass „die Menschen nicht Subjekte der Gesellschaft sind, sondern jene Agenten, deren unwürdigen Stand man heute durch den Begriff der ‚Rolle‘ zu neutralisieren trachtet“ (AGS 8, 237). Damit erweist sich die Beugung von allem und jedem unter das Vorurteil, es sei als durch die Gesellschaft bestimmt zu betrachten, als theoretische „Subsumtion zu ideologischem Behuf“ (AGS 6, 155, Fn.): „Ein Widerspruch etwa wie der zwischen der Bestimmung, die der Einzelne als seine eigene weiß, und der, welche die Gesellschaft ihm aufdrängt, wenn er sein Leben erwerben will, der ‚Rolle‘, ist […] ohne Zwischenschaltung armseliger Oberbegriffe, welche die wesentlichen Differenzen verschwinden machen, unter keine Einheit zu bringen“ (AGS 6, 155) – durch solche abstrakte Begriffe aber wie die ‚der Gesellschaft‘, der ‚Rolle‘, der ‚sozialen Institution‘ etc. wird er versöhnt. Dass die von einem solchen „Standpunkte der Gesellschaftswissenschaft“ theoretisch kon-struierten Gesetze hinter dem Rücken „der Menschen“ in ihrer eigenen Praxis ablaufen, gereicht ihnen nicht zum Schaden, sondern entspricht ihnen, denn es sind die ihnen eigenen Gesetze als gesellschaftliche Menschen. Sie stehen nicht zur Disposition, sondern sind dem Menschen mit seiner Gesellschaft vor- und mitgegeben. So landet die Kritik ideologischer Naturalisierungen, wenn sie von einem solchen „Standpunkte der Gesellschaftswissenschaft“ aus betrieben wird, selbst bei der Präsupposition einer eigentümlichen Menschennatur, der man nicht entkommen können soll: einer Art homo sociologicus.
…widmet sich dem Wissen Die Betrachtung des Wissens in einer derartigen „soziologischen Untersuchung“ folgt der Logik dieses „Standpunkts“. Ideologie erscheint hier überhaupt nur deshalb als ein besonders interessantes Phänomen, weil sich in ihr paradigmatisch zeige, dass wie alles Soziale, so eben auch das Wissen gesellschaftlich bestimmt sei: „Von Marx kommt die Ausgangsvorstellung der Wissenssoziologie: dass das Bewusstsein des Menschen durch sein gesellschaftliches Sein bestimmt wird.“ (Berger/Luckmann 1977, 5) Mit der Betrachtung von Wissen als etwas gesellschaftlich Bestimmtem und aus der Gesellschaft zu Erklärendem entgeht ihr die Besonderheit ihres Gegenstands nach allen Seiten. Ideologie denkt sie als Wissen überhaupt und die kapitalistische Gesellschaft erscheint ihr als Gesellschaft im Allgemeinen. – Im Bemühen zu bestimmen, wie das 134
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„Wissen [!] […] eine Funktion des [!] Sozialen“ (Knoblauch 2005, 16) ist, konstruiert die Wissenssoziologie den von ihr unterstellten Zusammenhang beider Seiten. Sie entdeckt hinter den Phänomenen einer kapitalistischen Gesellschaft viel allgemeinere Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien, die sich auf wunderliche Weise „selbstherrlich installieren und sich schattenhafte Kämpfe liefern“, wie Adorno anmerkt (AGS 10.1, 31). Am Beispiel eines von Mannheim bezeichnenderweise „als letzte Wurzel aller Konflikte im gegenwärtigen Zeitalter“ ausgemachten Konflikts des „Prinzips der Regulierung“ mit einem anderen, weist Adorno darauf hin, wie hier von den wirklichen kapitalistischen Verhältnissen und Konflikten abstrahiert wird – „Als ob nicht alles davon abhinge, wer wen reguliert.“ (AGS 10.1, 31) – zugunsten der Versöhnung mit dem verkehrten gesellschaftlichen Zusammenhang. Insofern scheint es ihr auch nicht weiter problematisch, dass die Menschen nicht wissen, was sie tun: Galt Marx noch das falsche Bewusstsein als ein Skandalon, so ist es für die Wissenssoziologie, die sich in seiner Tradition wähnt, die Qualität von Bewusstsein überhaupt. Mannheims Ideologiebegriff, der mit dem Wissen im Allgemeinen zusammenfallen soll, „betrifft nicht mehr einzelne Theorien und Wertungen […], sondern gleich das gesamte Bewusstsein […]. Unser ganzer Lebenskreis, alles, von dem wir überhaupt in irgendeiner Form etwas wissen, […] soll als ideologisch erklärt werden.“ (HI, 520) – „Aus der gesellschaftlichen Erklärung des falschen Bewusstseins wird die Sabotage von Bewusstsein schlechthin.“ (AGS 8, 467)
Indem jedem Denken die Züge der Ideologie zukommen sollen, „löst [es] sich auf in bloße Rationalisierungen von Interessenlagen, Rechtfertigungen aller erdenklichen gesellschaftlichen Gruppen. Aus der Kritik der Ideologie ist das Dschungelrecht des Geistes geworden: Wahrheit zur bloßen Funktion der je sich durchsetzenden Macht.“ (AGS 8, 468) Dadurch aber erweist sich die Wissenssoziologie in der Tat selbst als Ideologie – nicht, weil Denken per se Ideologie ist, sondern weil sie Bewusstsein und Theorie darauf herunterbringt, sich per se bloß nach den jeweils herrschenden Interessen zu richten und richten zu können, und damit ein praktisches Verhältnis dieser Art rechtfertigt: „Diese Ideologienlehre taugt trefflich selber zur Ideologie […]. Indem sie vorweg alles Geistige dem Propaganda- und Herrschaftszweck subsumiert, bereitet sie dem Zynismus das wissenschaftlich gute Gewissen.“ (AGS 8, 470)
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Gesellschaft als Konstruktion des gesellschaftlich bestimmten Wissens Das Wissen nun, welches die Wissenssoziologie als durch die Gesellschaft bestimmt betrachtet, ist in erster Linie ein Wissen von gesellschaftlichen Zusammenhängen selbst. Durch ihre methodische Voraussetzung der sozialen Determiniertheit des Wissens verwandelt sich ihr das Wissen von der gesellschaftlichen Wirklichkeit, ganz getrennt davon, ob seine Untersuchung es als falsch oder gar ideologisch zeigen würde, von vornherein in ein bloßes Konstrukt10: „Alle […] Nationen und Klassen mit ihren Taten und Schicksalen, die Hungersnöte, Kriege, Wirtschaftskrisen und Revolutionen sind danach nicht das Wirkliche […]. Alles Tatsächliche ist ja bereits durch eine ‚Begriffsapparatur‘ bedingt, die selbst wieder bedingt und vergänglich ist.“ (HI, 514)11 Damit handelt sie sich zum einen den bereits dargestellten Widerspruch ein, dass sie damit auch ihr eigenes Wissen von der Gesellschaft als Bestimmungsgrund allen Wissens in ein nur subjektives Konstrukt verwandelt. Von der Gesellschaft als Determinante des Wissens zu wissen, beinhaltet umgekehrt den Anspruch, die Gesellschaft theoretisch objektiv bestimmt zu haben, und widerspricht daher unmittelbar dem Inhalt dieses vermeinten Wissens. Indem ferner die „menschliche“ wie alle Wirklichkeit nur als Konstrukt des Wissens angesehen wird, ist zum anderen zugleich das dem ersten diametral entgegengesetzte Bestimmungsverhältnis behauptet: Die Gesellschaft richte sich nach dem wissenden Subjekt. – Damit bestreitet die Wissenssoziologie aber selbst ihren Ausgangspunkt, wonach das Wissen als durch die Gesellschaft bestimmt zu betrachten sei. Wir stoßen daher hier wieder auf eine Form der oben bereits dargestellten Selbstaufhebung dieser Theorie. Während einerseits also vom Inhalt des Wissens ab- und zur Gesellschaft hingesehen wird, um es als gesellschaftlich bestimmt zu betrachten – wodurch, wie gezeigt, Ideologie zur Natur des Wissens erklärt wird –, so wird andererseits, wie Horkheimer konstatiert, der Blick von den
10 Diese Umkehrung ist freilich auch unmittelbar zu haben: Genauso gut wie man aus der Korrelation von Gesellschaft und Wissen auf die Bestimmtheit des Wissens durch die Gesellschaft schließen kann, kann man auch den gegenteiligen Schluss daraus ziehen, dass die Gesellschaft durch das Wissen bestimmt sei – eine Folge der bereits kritisierten Inhaltslosigkeit dieser Betrachtungsweise. 11 Bei Berger und Luckmann wird dieses Moment zum zentralen: „Die Wissenssoziologie sieht die menschliche Wirklichkeit als eine gesellschaftliche konstruierte Wirklichkeit“ (Berger/Luckmann 1977, 200f.), d. h. „sie muss auch untersuchen, auf Grund welcher Vorgänge ein bestimmter Vorrat von ‚Wissen‘ gesellschaftliche etablierte ‚Wirklichkeit‘ werden konnte.“ (Ebd., 3) 136
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gesellschaftlichen Verhältnissen, „von den wirklichen Händeln hinauf in die Nebelgefilde“ (HI, 524) der Konstruktionen des Wissens gelenkt, um darin den Schlüssel zur „menschlichen Wirklichkeit“ zu finden. Die Wissenssoziologie bestätigt also nicht nur die Reduktion aller Urteile auf ‚Meinungen‘, die bloß subjektiv sind und daher keinen Anspruch auf theoretische Gültigkeit und praktische Umsetzung erheben können, sondern, indem sie hier nun dazu kommt, „die Bedeutung der Ideologien zu überschätzen gegenüber dem, wofür sie einstehen“ (AGS 10.1, 43), gibt sie in dieser „idealistischen Umdeutung“ (HI, 524) der Gesellschaft in ein Werk des Wissens auch der Macht darin Recht, dass sie sich als Umsetzung von Ansichten darstellt und gar mit Theorien als Grundlage ihrer Entscheidungen schmückt. Sie verwandelt somit die in der Gesellschaft „bestehenden Widersprüche in die Gegensätze von Ideen, ‚Denkstilen‘ und ‚Weltanschauungssystemen‘“ (ebd., 529), so dass die in den gesellschaftlichen Verhältnissen bestimmenden Mächte, von denen zuerst behauptet wurde, dass nicht zuletzt sie auch das Wissen bestimmten, nach dieser Seite nun theoretisch getilgt sind.
Wissenssoziologie: Kritik, Affirmation und Immanenz Entgegen der Selbstdarstellung der Wissenssoziologie als radikal kritische Betrachtungsweise mit Verweis darauf, dass sie das Wissen auf seine gesellschaftlichen Hintergründe befragt und Institutionen als gesellschaftlich gemacht und womöglich nur konstruiert erachtet, insistiert Adorno daher darauf, dass eine solche Infragestellung nicht nur vernünftige „Kritik […] bloß fingiert“ (ebd., 45), da weder dem Wissen noch der Gesellschaft irgendeine Verkehrtheit nachgewiesen wird – „Die von Karl Mannheim vertretene Wissenssoziologie […] stellt […] alles in Frage und greift nichts an[…]“ (ebd., 31) –, sondern vielmehr in ihrer „Begriffswelt […] der realen wohlgesinnt“ (ebd., 32) ist. Die Wissenssoziologie ist gerade dadurch, dass sie sich weder auf den Inhalt des Wissens noch der Gesellschaft einlässt, sondern beides methodisch als durch das jeweils andere bestimmt betrachtet, eine Affirmation des seiner Objektivität nicht mächtigen Wissens und bleibt seiner Sphäre immanent: Die moderne Gesellschaft mit ihren Eigengesetzlichkeiten erscheint ihr als die ‚Natur‘ von Gesellschaft überhaupt, die zu ihr gehörige Ideologie als gesellschaftliche Natur des Wissens im Allgemeinen und schließlich die gesellschaftlichen Verhältnisse zugleich umgekehrt nur als dessen Verobjektivierung.
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Literatur und Siglenverzeichnis AGS: Adorno, Theodor W. (1970 ff.): Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. – Bd. 6: Negative Dialektik. – Bd. 8: Soziologie und empirische Forschung, 196-216. – Bd. 8: Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien, 217-237. – Bd. 8: Beitrag zur Ideologienlehre, 457-477. – Bd. 10.1: Das Bewusstsein der Wissenssoziologie, 31-46. – Bd. 10.2: Meinung – Wahn – Gesellschaft. HI: Horkheimer, Max (1974 [1930]): Ein neuer Ideologiebegriff?, in: Lieber 1974, 505-529. HW: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1969 ff.): Werke in 20 Bänden. Hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/M. – Bd. 2: Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, 9-140. – Bd. 2: Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie. Darstellung seiner verschiedenen Modifikationen und Vergleichung des neuesten mit dem alten, 213-272. Bd. 3: Phänomenologie des Geistes. – Bd. 8: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grund– risse. Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik. – Bd. 19: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II. MEW: Marx, Karl/Engels, Friedrich (1956ff.): Werke, Berlin/DDR. – Bd. 3: Die deutsche Ideologie. – Bd. 23: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Buch I: Der Produktionsprozess des Kapitals. – Bd. 25: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Buch III: Der Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion. Bd. 42: Ökonomische Manuskripte 1857/1858 [= Grundrisse der – Kritik der politischen Ökonomie]. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1977): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. Foucault, Michel (1968): Psychologie und Geisteskrankheit, Frankfurt/M. ders. (1978): Dispositive der Macht: über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin. ders. (1996 [1972]): Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt/M. Iber, Christian (2005): Grundzüge der Marx’schen Kapitalismustheorie, Berlin. 138
KRITIK DER WISSENSSOZIOLOGIE
Keller, Reiner (2008): Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms, Wiesbaden. Knoblauch, Hubert (2005): Wissenssoziologie, Konstanz. Lieber, Hans-Joachim (1952): Wissen und Gesellschaft. Die Probleme der Wissenssoziologie, Tübingen. ders. (1974): Ideologienlehre und Wissenssoziologie, Darmstadt. Mannheim, Karl (1969): Ideologie und Utopie, Frankfurt/M. ders. (1980 [1922]): Über die Eigenart kultursoziologischer Erkenntnis, in: ders.: Strukturen des Denkens, hg. v. David Kettler et al., Frankfurt/M., 33-154. ders. (1982 [1928]): Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen, in: Meja, Volker/Stehr, Nico (Hg.): Der Streit um die Wissenssoziologie. Bd.1, Die Entwicklung der deutschen Wissenssoziologie, Frankfurt/M., 325-370. McCarthy, Thomas (1986): Philosophie und Wissenssoziologie. Zur Aktualität der Kritischen Theorie, in: Honneth, Axel et al. (Hg.): Die Frankfurter Schule und die Folgen, Berlin, 113-127. Schützeichel, Rainer (Hg.) (2007): Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz. Sokal, Alan/Bricmont, Jean (1999): Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften missbrauchen, München.
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E XEMPLARISCHE S TUDIEN
Erkenntnis und Subjekte im Ze italter der Biomedizin VANESSA LUX
Erkenntnis setzt das Erkenntnissubjekt voraus. Dieses epistemologische Grundpostulat beinhaltet ein zentrales Dilemma von Wissenschaft: Wie objektiv kann die durch die forschenden Subjekte gemachte Erkenntnis sein? Die Biomedizin bietet hierfür eine scheinbar streng empirische Lösung: Hirnforschung wie Gentechnologie versprechen den Blick direkt hinein in das Subjekt. Mit den entsprechenden Techniken oder Technologien sei es zukünftig möglich, den subjektiven Faktor objektiv zu erfassen: Gedanken, Träume, Emotionen werden zu berechenbaren Kurven oder farbigen Klecksen auf Bildschirmen, denen ererbte Dispositionen die Variabilität vorgeben. Neuroscience oder Biowissenschaften stehen symbolisch für einen umfassenden Fortschritt in Richtung auf die ‚Objektivierung‘ unseres Innenlebens bis hin zu Gedankeninhalten. Zumindest scheint dies am Horizont auf, wenn etwa in der Debatte um den ‚Freien Willen‘ diskutiert wird, dass dieser nur eine Illusion und letztlich durch vorbewusste physiologische und psychologische Prozesse determiniert sei (so z. B. Wegener 2002).1 Das Subjektive wird durch die Biomedizin nicht aufgelöst, aber es ist eben nicht mehr eine unbekannte Größe oder black box. Der individuelle Faktor des Erkenntnissubjekts wäre am Ende womöglich genau berechenbar und könnte, in die ent-
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Wegner bezieht sich u. a. auf Experimente des Neurophysiologen Benjamin Libet, in denen dieser Aktionspotentiale im Gehirn vor Willensentscheidungen misst. Libet selbst gesteht dem Bewusstsein lediglich eine Vetofunktion zu. Zur Kritik v. a. der Vermischung von physiologischer und Bewusstseinsebene vgl. z. B. Maiers 2008. 143
VANESSA LUX
sprechende Formel gepackt, als ‚Fehler‘ von der Erkenntnis einfach abgezogen werden. Der gläserne Mensch birgt eben keine Geheimnisse. Solche Überlegungen sind natürlich weit von den realen Forschungsergebnissen entfernt. Jede/r seriöse Hirn- oder Genforscher/in würde sich dieser Perspektive verwehren und sie als science fiction abtun. Anders ist es dagegen mit der hinter solchen Gedankenspielereien stehenden Erkenntnistheorie: dem Neopositivismus. Durch den Erfolg der Forschung hat er sich als legitimes Erkenntnismodell neu verfestigt. Mit der Betonung des Beobachtbaren geht es darum, das Subjektive zu objektivieren, was in diesem Zusammenhang heißt, es jenseits subjektiver Eindrücke zu erfassen. Da ist der Schritt zur Berechnung des subjektiven Faktors, eben noch science fiction, zumindest erkenntnistheoretisch schon mitgedacht. Die Psychologie als Wissenschaft von der subjektiven Erfahrung ist von diesen Entwicklungen besonders betroffen. So wurde von einigen Hirnforscherinnen und -forschern bereits ihr Ende prophezeit (vgl. Das Manifest 2004). Gegen die dabei vorgenommene Uminterpretation psychologischer in physiologische Dimensionen wurde sich zwar von Seiten der Psychologie gleich zur Wehr gesetzt. So wurde die Bedeutung psychologischer Theoriebildung für die Vermittlung der unterschiedlichen physiologischen und molekularen Prozesse bei höheren kognitiven Funktionen betont (vgl. Fiedler et al. 2005). Solcherart Zurückweisung eines der Biomedizin inhärenten Reduktionismus2 ist jedoch damit konfrontiert, dass die Verbindungen zwischen den angesprochenen unterschiedlichen Ebenen von Welt- und Selbsterkenntnis nach wie vor weitgehend ungeklärt sind, wie übrigens manchmal sogar psychiatrische Genetiker zu bedenken geben (vgl. Kendler 2008). Die Frage nach der Übersetzbarkeit der unterschiedlichen Erkenntnisebenen ist wiederum eng mit dem Problem des Verhältnisses von Objektivität und Subjektivität verbunden. Im Folgenden möchte ich zunächst der Objektivitätsvorstellung der Biomedizin und einigen Kritiken an ihr nachgehen, um dann im Weiteren zu verdeutlichen, dass erstere wie letztere nicht berücksichtigen, dass in der biomedizinischen Forschung psychologische Dimensionen vielfach involviert sind. Wie zu zeigen sein wird, führt die systematische Berücksichtigung dieser Ebene des Subjektiven das Objektivitätskonzept der Biomedizin notwendig an seine Grenzen. Hieraus folgt nicht nur ein 2
„Wie es nicht sinnvoll wäre zu sagen, biologische Theorien seien nur Hilfskonstruktionen bis man auf der Ebene der Quantentheorie die ‚eigentlichen‘ Erklärungen gefunden habe, so wenig sinnvoll ist es auch, genuin psychologische Fragen auf neurowissenschaftliche reduzieren zu wollen.“ (Fiedler et al. 2005, 59)
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ERKENNTNIS UND SUBJEKTE IM ZEITALTER DER BIOMEDIZIN
Plädoyer für eine reflektierte Interdisziplinarität, sondern auch die Zurückweisung des erkenntnistheoretischen Paradigmas der Biomedizin als Grundmodell der Humanwissenschaften.
Der Neopositivismus als erkenntnistheoretisches Paradigma der Biomedizin Da hier die Biomedizin in Hinsicht auf ihre erkenntnistheoretischen Grundlagen betrachtet werden soll, ist eine Begriffsklärung angebracht. Im Merriam-Webster Online-Dictonary wird ‚Biomedicine‘ im engeren Sinne beschrieben als: „medicine based on the application of the principles of the natural sciences and especially biology and biochemistry“.3 Im deutschsprachigen Raum hat sich der Begriff von dieser engen Definition entfernt und steht eher für die Naturwissenschaften unter den Humanwissenschaften. Auf der Website des Studiengangs „Biomedizin“ an der Universität Würzburg, an der auch das DFG-Forschungszentrum für Experimentelle Biomedizin angesiedelt ist, wird Biomedizin programmatisch als „die Wissenschaft im Grenzbereich von Medizin und Biologie“ gefasst: „Sie ist ein neues, interdisziplinäres Fachgebiet, das die Inhalte und Fragestellungen der experimentellen Medizin mit den Methoden der Molekularbiologie und der Zellbiologie verbindet. Im Mittelpunkt stehen die molekularen und zellbiologischen Grundlagen des Lebens und seiner krankhaften Veränderungen.“4 Zu den beteiligten Teildisziplinen gehören neben der engeren biologischen Forschung zu Krankheitsursachen in der Medizin insbesondere auch die Biowissenschaften, angefangen bei der Biochemie über die Genetik und Embryologie bis hin zur Physiologie (zu der auch die Neurophysiologie gehört) und Mikrobiologie.5 Unter Biomedizin verstehe ich deshalb diejenigen Forschungsbereiche und Teildisziplinen der Humanwissenschaften, die die biologischen Grundlagen des Menschen und seiner Erkrankungen erforschen. In meinen Beispielen beziehe ich mich vor allem auf Genetik und Hirnforschung, zwei Bereiche, die synonym für den ‚Hype‘ in diesem Forschungsfeld stehen. Betrachtet man die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Biomedizin, rückt dies weniger Forschungsstrategien und -methoden im enge3 4 5
Http://search.eb.com/dictionary?va=Biomedicine&query=Biomedicine (24.9.2008). Http://www.zv.uni-wuerzburg.de/studienberatung/biomedizin.htm#Bio medizin (19.8.2008). Http://en.wikipedia.org/wiki/Biomedicine (19.8.2008). 145
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ren Sinne in den Mittelpunkt als deren theoretische Voraussetzungen. Thomas Diekwisch hat herausgearbeitet, dass die „Kultur der modernen biomedizinischen Forschung insbesondere in der anglikanischen Welt […] eng am Neopositivismus des Wiener Kreises angelehnt“ ist, „wonach wissenschaftliche Aussagen nur anhand von Experimenten […] und logischen Schlüssen entwickelt werden können“ (Diekwisch 2004, 243; Herv. V.L.).6 Die zentrale Grundannahme dieses auch als „Logischer Empirismus“ bezeichneten Erkenntnismodells ist die Zurückweisung jeder Metaphysik, d. h. nicht empirisch überprüfbarer Aussagen, und die Zulassung lediglich auf Beobachtung basierender Erkenntnisse. Das Grundmodell der Forschungsstrategie besteht in der Generierung von Hypothesen, die empirisch geprüft – getestet – und entsprechend verifiziert werden müssen, bevor sie als wahr gelten. Karl Popper, dessen Name aufgrund seiner als Positivismusstreit in die Wissenschaftsgeschichte eingegangenen Auseinandersetzung mit T. W. Adorno häufig als der eigentliche Urheber dieser Beschränkung auf Beobachtbares und empirische Prüfung steht, hat dieses Wahrheitskriterium des Wiener Kreises grundlegend kritisiert: Eine empirische Verifikation sei logisch nie abschließbar und daher nur über die Falsifikation von Hypothesen eine Annäherung theoretischer Modelle an die Wirklichkeit möglich (vgl. Popper 1935 [1966], 15).7 Gemeinsam mit dem Logischen Empirismus zielt jedoch auch Poppers Kritischer Rationalismus darauf, wissenschaftliche Theorien auf möglichst wenige Vorannahmen oder Axiome zu reduzieren, die nicht aus empirischer Beobachtung resultierten. „Wir fordern ja nicht, dass jeder Satz tatsächlich nachgeprüft werde, sondern nur, dass jeder Satz nachprüfbar sein soll; anders ausgedrückt: dass es in der Wissenschaft keine Sätze geben soll, die einfach hingenommen werden müssen, weil es aus logischen Gründen nicht möglich ist, sie nachzuprüfen.“ (Ebd., 21) Der Gehalt an empirischer Überprüfung wird so zum Kriterium für die Güte und Objektivität einer Theorie. „In short, for Popper any theory X is better than a ,rival‘ theory Y if X has greater empirical content, and hence greater predictive power, than Y.“ (Thornton 2009) Poppers Überlegungen zur Prüfbarkeit und Hypothesengenerierung sind zum zentralen Bezugspunkt auch für Forschung im Sinne des Logi6 7
Der Wiener Kreis bestand von 1922 bis 1936 unter der Leitung von Moritz Schlick, weitere Mitglieder waren u. a. Rudolf Carnap, Otto Neurath, Kurt Gödel und Herbert Feigl. Später hat Popper sogar die Annahme einer möglichen endgültigen Falsifikation von Theorien wieder zurückgenommen (vgl. Gadenne 2007, 136; siehe Popper 1989, 84f.). Soweit die Biomedizin gemäß dem Neopositivismus jedoch primär auf die Verifikation von Theorien zielt, ist dies hier nicht weiter einschlägig.
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schen Empirismus geworden – und die Biomedizin ist hier keine Ausnahme. Um die Verzerrung von Beobachtung und damit die Einschränkung ihrer Objektivität durch die Subjektivität des Forschenden zu überwinden, sei es notwendig, dass jede Theorie in Form von prüfbaren Hypothesen formuliert werde. Das Kriterium der Prüfbarkeit meint, dass Hypothesen widerspruchsfrei, falsifizierbar und intersubjektiv nachprüfbar sein müssen (Popper 1935 [1966], Kap. 1). Um dies zu erreichen, bedarf es einer hohen (Selbst-)Reflexivität des einzelnen Wissenschaftlers bzw. der einzelnen Wissenschaftlerin wie der scientific community. Mit dieser Art reflexiver Selbstkontrolle sollen die subjektiven Verzerrungen nach bestem Wissen und Gewissen eliminiert werden. Ein weiteres Mittel der Objektivierung sei die Methode. Sie diene dazu, bestmöglich die Unabhängigkeit der Forschungsergebnisse von den einzelnen Forschenden sowie vom jeweiligen Ort bzw. Standpunkt der empirischen Überprüfung zu gewährleisten. Zusätzlich zum Kriterium der empirischen Prüfbarkeit ist dabei auch die Reproduzierbarkeit der Forschungsergebnisse bestimmend für die Objektivität der Erkenntnis. Durch die vollkommene Austauschbarkeit des subjektiven Faktors soll garantiert werden, dass dieser für das Ergebnis nicht relevant und daher vernachlässigbar ist. Der Bezug auf den Neopositivismus ist in der Biomedizin nur selten expliziert. Mit Blick auf die Forschungspraxis zeigt sich jedoch, dass diese fast ausschließlich in der Form stattfindet, theoriegeleitete Hypothesen zu generieren und diese empirisch zu verifizieren. Trotz der in Philosophie und speziell Epistemologie weitgehend anerkannten popperschen Einwände gegen das Verifikationsmodell, spielt Falsifikation für die konkrete Forschungspraxis kaum eine Rolle. Sie „verschwindet vor dem pragmatischen Ansatz der modernen biomedizinischen Forschung […]. Gelegentlich kommt es auch vor, dass eine Hypothese oder eine bis dahin gültige Aussage falsifiziert wird, aber normalerweise wird diese falsifizierte Arbeitshypothese noch in der gleichen Veröffentlichung durch eine neue […] Hypothese ersetzt“ (Diekwisch 2004, 243). Die Vernachlässigbarkeit von Poppers Kritik wird damit begründet, dass für den praktischen Wissenschaftsbetrieb die absolute Verifikation von Aussagen lediglich eine nachgeordnete Rolle spiele. „Es genügt oft, dass ein Zusammenhang zwischen Genen und Genprodukten in einer Reihe von unterschiedlichen Modellsystemen etabliert wird.“ (Ebd., 244) In der Praxis führt dies dazu, dass eine bestätigte, also nicht-widerlegte Hypothese über einen statistischen Zusammenhang häufig einfach als ‚Verifizierung‘ angesehen wird, wie z. B., wenn Wang et al. (2005) ihren Artikel zur Genetik von Nikotinabhängigkeit betiteln mit: „Mapping and
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verification of susceptibility loci for smoking quantity using permutation linkage analysis“ (Herv. V. L.). Die Reproduktion von Forschungsergebnissen wird durch die Überprüfung in verschiedenen Labors8 und die Verwendung von unterschiedlichen Datensätzen realisiert. Für die Humangenetik sind hier ganze Netzwerke von Arbeitsgruppen entstanden, die zu den selben Themen forschen und jeweils die Studien der anderen möglichst zeitnah reproduzieren. Auf eine Studie mit dem Ergebnis, dass ein bestimmtes Allel eines DNS-Abschnitts auf dem menschlichen Chromosom 2 ein Risikofaktor für Schizophrenie sein könnte (O’Donovan et al. 2008), folgte die Reproduktionsstudie innerhalb von wenigen Monaten (Vladimirov et al. 2008). Gerade im Bereich Genforschung lässt sich diese Praxis anhand der einschlägigen Publikationen gut nachvollziehen. Darüber hinaus werden Hypothesen in Kontrollstudien überprüft, etwa indem die angenommene Wirkungsweise im Zusammenspiel mit Molekülen getestet wird, deren Reaktionsweisen gut erforscht sind, wie es Diekwisch für die Immunhistochemie beschreibt: „Zum Beispiel sind in der Immunhistochemie eine Reihe von Kontrollen zur Etablierung glaubwürdiger Ergebnisse notwendig, wie zum Beispiel Antikörperkontrollen, Verdünnungsserien, Gewebekontrollen, und methodische Kontrollen. Diese Kontrollen haben den Zweck darzustellen, dass das Auftreten eines Reaktionsproduktes am Ende des Versuchs nur auf spezifische AntigenAntikörper Reaktionen und nicht auf Artefakte zurückzuführen ist.“ (2004, 242)
Um die Reproduzierbarkeit zu gewährleisten, ist die Standardisierung von Versuchsanordnungen von besonderer Bedeutung, und zwar nicht nur von Laborexperimenten, sondern insbesondere auch von Befragungen. Wenn dies nicht ausreichend möglich ist, wird versucht, die Untersuchungssituation durch die genaue Protokollierung der Versuchsanordnung detailliert festzuhalten, um entsprechende Einflussfaktoren ggf. zu identifizieren und zu kontrollieren. Da unter dieser Perspektive die korrekte methodische Durchführung eines Versuchs besondere Bedeutung erlangt, ist auch die Kritik innerhalb des erkenntnistheoretischen Paradigmas der Biomedizin zumeist Methodenkritik. Selbst der ausbleibende Erfolg von Kopplungs- und Assoziationsstudien, etwa für psychische Störungen in der psychiatrischen Genetik, wird mit solchen methodischen Problemen – wie zu kleine Fallzahlen für die Messung statistischer Effekte oder Differenzen in der 8
Dies ist besonders wichtig für die genetische Forschung, da die Signalstärke bei der Arbeit mit Microarrays stark vom Messgerät abhängt.
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Diagnose der psychischen Störungen und damit Problemen bei der Vergleichbarkeit von Studien – erklärt (vgl. z. B. Ng et al. 2009, 56; Rietschel et al. 2006). Die Auseinandersetzung mit den erkenntnistheoretischen Grundlagen der Biomedizin findet dagegen außerhalb des neopositivistischen Paradigmas statt.
Außerhalb des neopositivistischen Paradigmas: verschiedene Formen von Kritik an der Biomedizin Kritik an der Biomedizin von außerhalb des neopositivistischen Paradigmas kommt insbesondere aus den Reihen sich als ‚kritisch‘ verstehender Wissenschaftsansätze und ist daher oft durch Gesellschaftskritik motiviert. Verschiedene Kritikfiguren dominieren die theoretische Reflexion, wobei ich hier die fünf im Folgenden diskutierten unterscheiden möchte: Funktionskritik, Biologismuskritik, dekonstruktivistische Erkenntniskritik, Historisierung und Konzeptkritik. Sie stellen jeweils unterschiedliche Dimensionen der biomedizinischen Forschung in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Dabei sind sie nicht immer eindeutig einer Theorierichtung zuzuordnen und gehen teilweise ineinander über, so dass eine Trennung oft künstlich erscheinen mag. Die Betonung der Unterschiede dient an dieser Stelle dazu, einen Überblick über die Kritikebenen, die in den Blick genommen werden, zu geben. Die Kritikfigur der Funktionskritik zielt vor allem auf die gesellschaftliche Funktion der Biomedizin und ihrer Forschungsergebnisse. Im Zentrum steht häufig die Kritik an Ausgrenzung oder Diskriminierung sowie an der Fortschreibung gesellschaftlicher Ungleichheit. Im wietesten Sinne lassen sich hierunter auch Teile der in der Bioethik geführten Debatten etwa zum Recht auf Nicht-Wissen (z. B. Mieth 2000; Tolmein 2000/2001) sowie Forschung zur Technikfolgenabschätzung von Bio- und Neurotechnologie (z. B. Kollek/Lemke 2008; Beckert 2007) fassen, allerdings mit mehr oder weniger starkem Bezug auf Gesellschaftskritik. So geben manche bioethische Reflexionen oder Studien zur Technikfolgenabschätzung lediglich einen Überblick über mögliche Entwicklungen, während andere deutlich Stellung beziehen in den gesellschaftlichen Debatten um die Biomedizin. Daher sind hier mit Funktionskritik im engeren Sinne diejenigen Kritiken gemeint, die die gesellschaftlichen Verhältnisse, die diese Form der Forschung hervorbringt oder für die diese zweckmäßig ist, mit einbeziehen. Ein Beispiel für diese Art Kritikfigur ist die Auseinandersetzung von Richard Lewontin, Steven Rose und Leon Kamin (1984) mit der genetischen Forschung zu 149
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Intelligenz und speziell dem Intelligenz-Quotienten (IQ) sowie zu Schizophrenie. Zentraler Ansatzpunkt der Kritik von Lewontin et al. ist die Funktionalität der genetischen Forschungsprogramme wie der ihnen zugrunde liegenden Vererbungstheorien für die Rechtfertigung sozialer Ungleichheit. So z. B. in folgender Passage: „The convergence of the two meanings of inheritance – the social and the biological – legitimizes the passage of the social power from generation to generation. It can still be asserted that we have an equal opportunity society with each individual rising or falling in the social scale according to merit, provided we understand that merit is carried in the genes. The notion of inheritance of human behavior and therefore of social position which so permeated the literature of the nineteenth century can thus be understood not as an intellectual atavism, a throwback to aristocratic ideas in a bourgeois world, but, on the contrary, as a consistently worked out position to explain the facts of bourgeois society.“ (Lewontin et al. 1984, 72)
Die Funktionskritik geht häufig einher mit Biologismuskritik, so auch bei Lewontin et al. beispielsweise in ihrer Auseinandersetzung mit dem Organismus-Umwelt-Verhältnis im biologischen Determinismus (ebd., 272f.). Ein Beispiel für Kritik an Biologismen aus feministischer Forschung ist Sigrid Schmitz’ Auseinandersetzung mit der Hirnforschung zum Thema Zweigeschlechtlichkeit. Im Zentrum der Kritik steht die Naturalisierung von Gesellschaftlichem wie den Geschlechterverhältnissen – im Fall von Schmitz am Beispiel der Unterschiede zwischen Gehirnen von Männern und Frauen. Die Kritik stützt sich häufig auf den Verweis auf unzulässige Verallgemeinerungen und Überinterpretation von Differenzen. So führt Schmitz bspw. für die publizierten Berichte über die Differenzen zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen an, dass die „Variabilität innerhalb der Geschlechtergruppen […] weitaus höher“ ist „als die Unterschiede zwischen ihnen“ (Schmitz 2004). Schmitz stützt ihre, wie sie selbst sagt, „Dekonstruktion“ (ebd.) der Hirnforschung auch mit Elementen der dekonstruktivistischen Erkenntniskritik. Diese Kritikfigur bezieht sich auf eine der Grundannahmen des ‚Sozialkonstruktivismus‘, nämlich dass kein Erkenntnisobjekt unabhängig vom Erkenntnissubjekt selbst existiere. Die erkannten Gegenstände werden als Ergebnis eines Konstruktionsprozesses betrachtet. Was jenseits der Erkenntnis in der Wirklichkeit ist, ist nicht ohne den Erkenntnisprozess und damit nicht ohne den diesem inhärenten Konstruktionsprozess der Erkenntnis zugänglich. In diesem Sinne ist Erkenntnis immer subjektiv, partikular und durch den Standpunkt wie die Perspektive des Erkenntnissubjekts kulturell, zeitlich und örtlich geprägt. 150
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Der Schwerpunkt in der Auseinandersetzung mit der Biomedizin liegt dabei in der Kritik an der Gleichsetzung der Beobachtungsdaten mit der Realität, ohne deren Formierung durch das Erkenntnissubjekt und dessen Konstruktionsprozess, der die Forschung bis hin zu den Methoden prägt, zu berücksichtigen. Schmitz betont diesen Konstruktionsakt bspw. mit dem Argument, dass die Entscheidungen bei der Datenauswahl für den Beleg von Differenzen zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen von „Forscher[n] und Forscherinnen aus einem bestimmten kulturellen Umfeld, geprägt durch bestimmte Vorstellungen von Geschlecht oder Geschlechterdifferenzen“ getroffen werden (ebd.). Entsprechend wird in der Kritik an den Ergebnissen der biomedizinischen Forschung dieser Formierungsprozess rekonstruiert bzw. dekonstruiert und der Objektivitätsanspruch in Frage gestellt. Unterschiede zwischen den verschiedenen Theorieströmungen, die die dekonstruktivistische Erkenntniskritik in den Mittelpunkt stellen, bestehen insbesondere in dem Grad der angenommenen Widerständigkeit der Realität und damit der Bedeutung von Materialität für Erkenntnis (vgl. Wiesner-Steiner 2004 für einen Überblick über diesbezügliche Debatten zur Molekulargenetik). Dabei ist es sicherlich auch dem Gegenstand geschuldet, dass Debatten um die Bedeutung von Materialität im Konstruktivismus gerade in Bezug auf die Naturwissenschaften geführt werden. Die Historisierung ist ein weiteres Mittel, um die Ergebnisse der Biomedizin als nicht objektiv zurückzuweisen. Häufig wird ihr als eigenständiger Kritikform wenig Beachtung geschenkt, da sie sowohl im Rahmen der Biologismuskritik als auch der dekonstruktivistischen Erkenntniskritik Anwendung findet. Dabei wird Historisierung in zweierlei Hinsicht vorgenommen: Einerseits in Bezug auf die Vorstellung vom Gegenstand selbst – hier dient der Verweis auf frühere abweichende Gegenstandsauffassungen der Infragestellung von diesbezüglichen Eindeutigkeiten. Lenny Moss (2003) bspw. zeichnet den Wandel der Vorstellungen zu Vererbungseinheiten über die Zelle bis hin zur DNS nach. Über die historische Rekonstruktion wird aufgewiesen, wie die Vorstellung von diskreten Vererbungseinheiten, die sich wie Moleküle verhalten oder sogar welche sind, sowie ihre Verortung in der DNS erst im Verlauf der Forschung zu Vererbung entstanden ist und andere Vorstellungen verdrängt hat (ebd., 18-20). Die Kritikfigur der Historisierung findet auch Anwendung bei der Rekonstruktion des Prozesses, wie das Einverständnis über die Objektivität eines Ergebnisses in der scientific community hergestellt wird, welche Regeln und Strategien zur Herstellung von Evidenz gelten und wie diese wissenschaftsgeschichtlich entstanden sind und reproduziert werden. In der Regel stehen dabei der Diskurs und dessen Reproduktions151
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mechanismen im Zentrum der Kritik. Eines der prominentesten Beispiele für diese Kritikfigur in Bezug auf die Genomforschung ist das ‚Gen‘ selbst. Evelyn-Fox Keller beschreibt, wie bei aller Spekulation und Unterschiedlichkeit der Vererbungstheorien Ende des 19. Jahrhunderts schließlich über die Annahmen, dass die Vererbungseinheiten einerseits diskret und andererseits stabil sein müssten, Konsens in der scientific community hergestellt war und diese wie Glaubenssätze die weitere Forschung bestimmten (Keller 2000, 18). Ein anderes Beispiel für diese Art der Historisierung sind die Arbeiten von Barbara Duden. Sie nimmt in ihren Rekonstruktionen stärker die Kulturgeschichte des Phänomens ‚Gen‘ und anderer medizinischer Konzepte und ihre Auswirkungen auf das Körperbild in den Blick (z. B. Duden 1993). Die Konzeptkritik unterscheidet sich von einer dekonstruktivistisch orientierten Erkenntniskritik hinsichtlich der Einschätzung über die Möglichkeit der Widerspiegelung von Realität, die Theorie im Allgemeinen und Wissenschaft bzw. in diesem Fall Biomedizin im Besonderen zugebilligt wird. Da beide Kritikformen häufig zusammen mit der Figur der Historisierung auftreten, werden sie oft nicht unterschieden oder scheinen ineinander aufzugehen. Konzeptkritik am Konstrukt ‚Gen‘ betrachtet jedoch nicht nur den Konstruktionsprozess, sondern nimmt Bezug auf empirische Ergebnisse innerhalb der Genomforschung – also innerhalb des neopositivistischen Paradigmas –, die darauf hinweisen, dass es für ‚Gene‘ als unterscheidbare Vererbungseinheiten kein real beobachtbares Pendant gibt. Dies entspricht in etwa Kellers Ansatz. Die Differenz zur dekonstruktivistischen Erkenntniskritik lässt sich dabei am Grad der Objektivität beurteilen, der der empirischen Beobachtung zugesprochen wird. So wird bei der Konzeptkritik darauf verwiesen, wie etwa das Mendelsche Gen-Modell durch die empirischen Beobachtungen aus der Genomforschung abgeändert und neue Gen-Modelle entwickelt wurden. Hierzu gehört Kellers Auseinandersetzung mit der Einführung des Konzepts der Regulatorgene (vgl. Keller 2000, 55). Im Rahmen der Konzeptkritik muss jedoch ein unüberwindbarer Widerspruch zwischen Konzept und Realität in der Aufgabe des Konzeptes resultieren, wie dies bei Keller auch in Bezug auf die Vorstellung von ‚Genen‘ als stabilen Vererbungseinheiten der Fall ist. So z. B. wenn sie schreibt: „In short, the evidence accruing over recent decades obliges us to think of the gene as (at least) two very different kinds of entities: one, a structural entity – maintained by the molecular machinery of the cell to that it can be faithfully transmitted from generation to generation; and the other, a functional entity that emerges only out of the dynamic interaction between and among a great 152
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many players, only one of which is the structural gene from which the original protein sequences are derived. […] The reader will surely have noticed how cumbersome all of this has become. One reason is that the story itself has become so complicated; but another reason may be that the very use of the term gene has become an impediant to its exposition. […] Perhaps it is time we invented some new words.“ (Keller 2000, 72f.)
Dagegen beschränkt sich die dekonstruktivistische Erkenntniskritik auf die Beschreibung der diskursiven Verschiebungen, etwa wenn Thomas Lemke schreibt: „Gerade die von Keller überzeugend herausgearbeitete Unbestimmtheit und Ambivalenz des Genbegriffs und seine ungeheure semantische Flexibilität dürften ihm eine Zukunft in einem modifizierten Modell sichern, das auch der Zellregulation und den Interaktionsprozessen einen größeren Stellenwert einräumt sowie psychologische, ökologische und soziale Faktoren berücksichtigt.“ (2002, 407)
Der reale Gehalt des Konzeptes ‚Gen‘, wie er noch bei Keller zur Diskussion steht, ist bei Lemke nicht mehr zentral. Von den verschiedenen Kritikfiguren nimmt nur die dekonstruktivistische Erkenntniskritik zum Problem von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt Stellung. Sie betont das Partikulare, Subjektive von Erkenntnis und stellt die Möglichkeit einer objektiven Annäherung an die Wirklichkeit grundsätzlich in Frage. Dem Bild vom gläsernen Menschen wird somit ein ‚geht nicht‘ entgegengehalten. Aber ist das wirklich die Antwort auf den Objektivitätsanspruch der Biomedizin?
Das Problem des ‚doppelten Subjekts‘ in Teilen der biomedizinischen Forschung und ein etwas anderes Objektivitätsverständnis Die meisten Forschungsfragen innerhalb der Biomedizin, die über Experimente an Zellmaterial hinausgehen und auf die Erklärung der vielfältigen Fähigkeiten des Menschen zielen, nehmen Elemente des Psychischen oder der Subjektivität der untersuchten Personen mit in den Blick. So werden etwa in Studien zur Genetik psychischer Störungen zwar die DNS-Proben aus Blutzellen gewonnen, die Diagnose der psychischen Störung wird jedoch herkömmlich gemäß psychologisch-psychiatrischer Klassifikationssysteme gestellt (vgl. z. B. Shimabukuro et al. 2007). An die notwendigen Angaben zum Innenleben, die dann mit den biomedizinischen Daten verglichen oder gar verrechnet werden, kommt man nach 153
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wie vor nur über die Befragung der jeweiligen Betroffenen heran, und zwar sowohl, wenn die Diagnose mit einer Selbsteinschätzungsskala gestellt wird, als auch, wenn ein Experte bzw. eine Expertin diese stellt. Dies ist auch bei entsprechenden Studien in der Hirnforschung der Fall wie bspw. bei der Messung neuronaler Reaktionen auf Kinofilme mit Hilfe von funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) (vgl. z. B. Bartles/Zeki 2004). Damit bilden, wenn solche psychologischen Dimensionen involviert sind, in der Regel verbale oder Fragebogendaten von denjenigen mit dem jeweiligen angenommenen psychischen Zustand eine Seite der empirischen Grundlagen der Forschung. Um das Ziel des gläsernen Menschen zu erreichen, ist also der Bezug auf subjektive Aussagedaten von partikularen Subjekten notwendig, und zwar über Zustände, Empfindungen oder Erlebnisse, die nicht unabhängig vom Subjekt beobachtbar sind. Dies ist eine der großen Herausforderungen für die Objektivität der Biomedizin und ihrer Forschungsergebnisse im neopositivistischen Paradigma. Entsprechend haben sich hier die unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Positionen besonders zugespitzt: Entweder werden die subjektiven Aussagen der Einzelnen als Grundlage für die Theoriebildung genommen. Zugleich wird dann jedoch der Geltungsbereich der Theorien massiv eingeschränkt mit dem Argument, dass die empirischen Daten als impressionistisch zu bewerten sind, zumal in psychischen Problemsituationen, die sich durchaus dadurch auszeichnen, dass wir unseren eigenen Eindrücken potentiell nicht mehr ganz trauen können. Oder es werden nur diejenigen empirischen Daten des Psychischen bzw. der Subjektivität der Anderen verwendet, die von außen beobachtbar sind. Damit wird jedoch das Psychische, zumindest soweit es in der Forschung empirisch Eingang findet, auf äußerlich sichtbare Symptome oder durch Messgeräte registrierbare körperliche Reaktionen reduziert. Dieses Dilemma der Biomedizin wird von den angeführten Kritikfiguren nicht berührt. So kann nicht in den Blick kommen, dass gerade im Versuch der Objektivierung subjektiver Aussagedaten ein Großteil des Reduktionismus und Determinismus der Biomedizin verankert ist, deren Problematisierung die Kritikfiguren ja gerade dienen sollen. Sobald psychologische Dimensionen bzw. menschliche Subjektivität die empirische Grundlage für Forschung bilden, befindet sich das Subjektive nämlich nicht mehr nur auf der Seite des/der Forschenden – dem Erkenntnissubjekt –, sondern auch auf der Seite des Forschungsgegenstands – dem Erkenntnisobjekt. Im Sinne des neopositivistischen Erkenntnismodells der Biomedizin ist damit zusätzlich zur Kontrolle der Subjektivität der Versuchsleitung auch die Kontrolle der Subjektivität der Versuchsperson (Vp) notwen154
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dig. Mit der Kontrolle der Subjektivität der Vp ist jedoch die Kontrolle der Bewusstseinsinhalte und damit der die Forschung interessierenden Elemente unmittelbar verbunden. Dies zeigt sich etwa am Problem, den Wahrheitsgehalt der Antworten und Reaktionen der Vp sicherzustellen, also dass die Person nicht über ihr Befinden bewusst falsche Aussagen macht. Schon an etwas anderes zu denken, statt sich auf das Objekt des Versuchs, bspw. die Empfindungen, die ein Film beim fMRT-Versuch hervorbringt, zu konzentrieren, kann zu falschen Ergebnissen führen. In der Forschungspraxis wird die Vp einfach gebeten, sich dem Versuch entsprechend zu verhalten, was der Übertragung der Selbstreflexivität des/der Forschenden auf die Vp gleichkommt. Da jedoch nie vollständig auszuschließen ist, dass die Vp dennoch einfach lügt oder abgelenkt ist, gelten Aussagen über subjektive Befindlichkeiten als weniger harte Daten im Vergleich etwa zu physiologischen Reaktion, die mit physikalischen Messgeräten erfassbar sind. Teilweise werden daher Herzschlag und Hautwiderstand mitgemessen, um zusätzliche Informationen über die Reaktionen der Person zu erhalten (vgl. z. B. zur Messung von Hautwiderstand in fMRT-Studien Pruneti et al. 2008, Shastri et al. 2001). Ein anderer Versuch der Objektivierung der Daten ist die Entwicklung von statistischen Modellen zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit von Falschaussagen in Fragebogendaten (Leung/Yu 2002) – mit dem Ziel, die Fehlerwahrscheinlichkeit entsprechend von der Erkenntnis abziehen zu können. Bei der Erforschung genetischer Grundlagen psychischer Störungen spiegelt sich das Problem der Subjektivität von Aussage- und Fragebogendaten u. a. in der Diskussion um Diagnose und Klassifikation der psychischen Störungen in psychiatrisch-genetischen Studien wider (vgl. z. B. Gorwood 2003). Die im Rahmen des erkenntnistheoretischen Paradigmas der Biomedizin für die Objektivität notwendige Unabhängigkeit und Reproduzierbarkeit der Ergebnisse bedarf also der Kontrolle des Inneren der Vp, entweder in Form einer Prüfung der Wahrhaftigkeit oder in Form einer Wegrechnung ablenkender Daten. Klaus Holzkamp hat eine solche Perspektive in psychologischer Forschung als „kontrollwissenschaftlich“ kritisiert (Holzkamp 1983, 522-528). Die aus der methodologischen Privilegierung objektiver, vom Subjekt unabhängiger Daten über Aussagen des Subjekts resultierende Kontrollnotwendigkeit legt ein Verständnis von menschlicher Subjektivität nahe, in dem Handlungen auf durch Umweltreize bedingte Reaktionen reduziert werden. Entsprechend finden sich Bezüge zum Behaviorismus in Forschungsansätzen, die versuchen, die neuen Biowissenschaften mit psychologischen Theorien zu verbinden (z. B. Petermann et al. 2004).
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Auf der Grundlage der funktional-historischen Kategorialanalyse und unter Bezug auf die Psychophylogenese (Schurig 1976; HolzkampOsterkamp 1975; 1976) rekonstruiert Holzkamp (1983), dass das komplexe Verhältnis des Menschen zu sich und seiner (Um-)Welt mit eben diesem Reiz-Reaktions-Schema des Behaviorismus unterbestimmt ist. Denn die für die menschliche Lebensweise konstitutive gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz ist in diesem theoretisch nicht reflektiert. Diese Vermitteltheit ist jedoch zentrale Grundlage für die gnostische Welt- und Selbstbeziehung und damit für die Form menschlichen Bewusstseins, wie wir es heute kennen (vgl. Holzkamp 1983). Mehr noch: Unsere Erkenntnismöglichkeiten sind von der Einbettung in die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt, ermöglicht wie begrenzt. Diese Einbettung gestaltet sich dabei objektiv als Zusammenhang zwischen individueller und gesellschaftlicher Reproduktion, wobei objektiv hier etwas anderes meint als im Neopositivismus. Es geht weniger um empirische, von den Forschenden unabhängige Beobachtbarkeit, sondern um eine über menschliche Tätigkeit – Praxis – vermittelte Beziehung. Praxis meint hier sowohl gesellschaftliche Praxis, also Produktion und Reproduktion der gesellschaftlichen Bedingungen, als auch individuelle Praxis, also die Beteiligung der Einzelnen darin. Bewusstsein ist dabei jedoch nicht von den gesellschaftlichen Bedingungen determiniert. Das Zentrale der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit ist gerade, dass diese auf der Grundlage eines Möglichkeitsverhältnisses der Einzelnen zur Gesellschaft beruht (ebd., 236, 348, u. ö.). Das Psychische/die Subjektivität ist in dieser Perspektive nicht mehr rein subjektiv, sondern auf einen objektiven gesellschaftlichen Gesamtprozess bezogen, mit welchem Wahrnehmung, Kognition und übrigens auch Emotionen vermittelt sind. Einerseits verweist dies verschärft auf die Partikularität und Perspektivität subjektiver Erkenntnis, eben abhängig von der Eingebundenheit in die gesellschaftlichen Verhältnisse. Andererseits ist der Vermittlungszusammenhang kein rein theoretischer, sondern ein konkret praktischer. Das heißt, in unserem psychischen Erleben muss, wie auch immer verzerrt, die Realität mindestens gut genug widergespiegelt sein, um uns in der Gesellschaft, in der wir leben, reproduzieren zu können. Kurz gesagt: Wenn unsere Wahrnehmung es uns nicht ermöglicht, einer Wand auszuweichen, laufen wir gegen sie. Die subjektive Welt- und Selbsterkenntnis ist demnach sowohl partikular, perspektivisch, als auch objektiv in Bezug auf die Widerspiegelung der Realität. Eine Dimension dieser Spannung zwischen Subjektivem und Objektivem ist die fehlende Anschaulichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse, eine andere die subjektiven Deutungen der unmittelbar anschaulichen Alltagsstruktur, womit hier der Raum für Täuschungen, Falschin156
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terpretationen, Ideologie und Verdrängung angesprochen ist. Hieraus ergibt sich aber auch, dass für die präzisere Bestimmung dessen, was objektiv an subjektivem Erleben ist, eine theoretische Rekonstruktion des gesamtgesellschaftlichen Vermittlungszusammenhangs in seinen jeweils einschlägigen Aspekten notwendig ist, d. h. letztlich Erkenntnistheorie nicht auf Gesellschaftstheorie verzichten kann – und umgekehrt. Damit ist nicht das schlicht unmögliche Unterfangen gemeint, dass dieser Zusammenhang in seiner vollständigen Totalität erfasst werden muss. Gemeint sind die Aspekte des Vermittlungsverhältnisses, die für den jeweiligen Erlebniskontext oder das jeweilige Erkenntnisinteresse einschlägig sind – seien es Arbeitsbedingungen, Familienstrukturen, Geschlechterverhältnisse oder das Gesundheitswesen9. Die Kritische Psychologie hat im Rahmen ihrer funktional-historischen Kategorialanalyse (vgl. Holzkamp 1983) historisch-empirisch fundierte Kategorien entwickelt – insbesondere die Kategorien der Handlungsfähigkeit und der subjektiven Handlungsgründe –, mit denen die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz hin auf ihre psychologischen Dimensionen fassbar wird. Aufgrund der Möglichkeitsbeziehung des Individuums zu den gesellschaftlichen Bedingungen und Bedeutungen sind unsere Handlungen und Empfindungen nicht von diesen bestimmt, sondern eben als in den Lebensbedingungen begründet zu fassen. „Bedingungen“ und „Gründe“ sind hier nicht äußerlich gegenübergestellt, sondern „Begründungszusammenhänge [sind] im ‚Medium‘ von Bedeutungsstrukturen und deren Repräsentanz in Denk- und Sprachformen als ‚subjektiv‘ handlungsrelevanter Aspekt der Bedingungszusammenhänge gefasst“ (ebd., 348; Herv. entf. V. L.). Mit dieser Fassung des Mensch-Welt-Verhältnisses verhält sich die Kritische Psychologie kritisch gegen einen „Bedingtheitsdiskurs“ (vgl. Holzkamp 1993, 41f.), d. h. die Rede von menschlichem Handeln und Erleben als determiniert durch (Um-)Weltbedingungen, wie er auch der Biomedizin inhärent ist. Mit dem Objektivitätsverständnis des Neopositivismus ist diese Spezifik menschlicher Subjektivität als begründet statt bedingt nicht fassbar, schon allein weil Handlungsgründe nicht in ihrem Sinne beobachtbar sind. Das Problem liegt aber nicht nur im Objektivitätsbegriff. Auch das Verständnis vom Subjektiven geht am Kern vorbei, wenn dieses zugleich die Vereindeutigung des Psychischen auf das innerlichsubjektive Erleben unter Ausblendung der gesamtgesellschaftlichen 9
Ich übernehme hier einen Gedanken von Morus Markard zum Verhältnis von Objektivität und Subjektivität in psychischem Erleben. Markard hat die Beschränkung der Rekonstruktion des Vermittlungszusammenhangs auf die für den Erlebniskontext relevanten Dimensionen in seiner Diskussion um psychologische Praxisforschung formuliert (vgl. Markard 2000). 157
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Verhältnisse impliziert (vgl. Holzkamp 1983, 349), wie es bei der Gleichsetzung von psychischen Prozessen mit unzugänglichen inneren Reaktionen, die nur indirekt zu messen seien, geschieht. Die Fassung menschlicher Handlungen/Befindlichkeiten als in gesellschaftlichen Bedingungen/Bedeutungen begründet, impliziert dabei theoretisch wie methodisch den Standpunkt des Subjekts als Forschungs- und Theoriestandpunkt. In Abgrenzung zu einem beliebigen Subjektivismus ist jedoch der verallgemeinerte Standpunkt des Subjekts als wissenschaftlicher Standpunkt von Subjektwissenschaft gemeint (vgl. Markard 2000a). Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die subjektive Erfahrung der Einzelnen (also die Welt, wie das Subjekt sie erfährt) zwar Ausgangspunkt psychologischer Theoriebildung sein muss, aber nicht theoretisch verdoppelt werden darf, womit berücksichtigt ist, dass Ursachen und Zusammenhänge aufgrund der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz dem Individuum eben nicht unmittelbar anschaulich sind und unter Macht- und Herrschaftsverhältnissen ideologischen Denkformen oder/und individuellen Verdrängungsprozessen unterliegen (vgl. Holzkamp 1983, 394402). Trotz solcher Einschränkungen stellen die aus diesem Subjektivitätsverständnis folgenden methodologischen und methodischen Konsequenzen die Art und Weise, wie psychologische Daten in der Biomedizin erhoben werden, fundamental in Frage. Die Selbsteinschätzungsskalen, psychischen Klassifikationen und Messungen von Hautwiderstand müssten durch die Rekonstruktion der Handlungsbegründungen der Einzelnen und der gesellschaftlichen Bedingungs-/Bedeutungsstrukturen, auf die sie sich beziehen, ersetzt werden, soll das psychische Erleben, dem die jeweilige Studie gilt, nicht weiter ausgeblendet werden. Kurz: Das Subjektive ist gerade der Schlüssel zu objektiven Aussagen über Erleben, Gefühle und Wahrnehmung. Dabei wäre ein subjektwissenschaftliches Vorgehen nicht nur forschungspraktisch sehr viel aufwendiger. Es widerspricht auch fundamental den Forschungsprinzipien des Neopositivismus, da subjektive Handlungsgründe wie gesellschaftliche Strukturzusammenhänge eben nicht einfach beobachtbar oder messbar sind. Wie werden jedoch aus einer subjektwissenschaftlichen Perspektive die verschiedenen physiologischen, biochemischen und molekularen Prozesse bewertet, die die Biomedizin erforscht, und wie ist der Zusammenhang zwischen diesen und den psychischen Dimensionen zu fassen bzw. was sind Voraussetzungen für Forschung in diesem Bereich?
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ERKENNTNIS UND SUBJEKTE IM ZEITALTER DER BIOMEDIZIN
Wenn verschiedene Objektivitätsvorstellungen aufeinandertreffen… Probleme interdisziplinärer Forschung am Übergang zwischen Physiologie und Psychologie Mit der Betonung der Funktion der kritisch-psychologischen „Kategorien“ als „Vermittlungskategorien“, „in welchen die Vermittlung zwischen den objektiven (d. h. materiell-ökonomischen etc.) und den psychischen Bestimmungen des gesellschaftlichen Mensch-Welt-Zusammenhangs adäquat begrifflich abgebildet ist“ (Holzkamp 1983, 192), wird zugleich deutlich, dass diese Vermittlung jeweils konkret empirisch zu leisten ist. Dabei ist die biologisch-körperliche Grundlage unseres je individuellen psychischen Erlebens auch ein Teil der objektiven Bestimmung des Mensch-Welt-Zusammenhangs, und genau dieser Teil ist zum Gegenstand der Biomedizin geworden. Allerdings betrachtet diese vor dem Hintergrund des Neopositivismus diesen biologisch-körperlichen Teil isoliert vom Mensch-Welt-Zusammenhang insgesamt, ohne die notwendigen Vermittlungsschritte zu berücksichtigen oder auch nur zu thematisieren. Nun ist ein Problem, dass diese Vermittlung sich nicht unmittelbar durch Beobachtung ergibt, sondern theoretisch geleistet werden muss. Erschwert wird dies zudem dadurch, dass die Vermittlungszusammenhänge, die zu rekonstruieren und in den Konzepten und Theorien als solche abzubilden wären, aus unterschiedlichen Disziplinen mit unterschiedlichen Gegenstandsauffassungen und Konzepten resultieren. Insbesondere das Verhältnis psychologischer Theoriebildung und biologisch-medizinischer Forschungsergebnisse ist im Einzelnen in der Regel ungeklärt. Wie ein spezifischer DNS-Abschnitt oder ein spezifisches kognitives Muster sich zu einer psychiatrischen Krankheitsklassifikation verhält, ist dabei keine rein empirische Frage statistischer Zusammenhänge. Vielmehr ist die Biomedizin mit dem Problem der Vermittlung unterschiedlicher Erkenntnisebenen eines Gegenstands bei abweichenden theoretischen Integrationsniveaus von Konzepten und Gegenstandsbestimmungen in verschiedenen Disziplinen konfrontiert. Entsprechend lohnt ein Blick in die Debatten über interdisziplinäre Forschung. Hier weist beispielsweise Rainer Greshoff darauf hin, dass die „Konzepte verschiedener Disziplinen zur Erforschung eines Themen- bzw. Gegenstandsbereiches […] miteinander in Beziehung gesetzt werden“ (1997, 544) müssten. Es gehe um die „Entwicklung einer ‚konzeptuellen Vermittlungsbasis‘, die die disziplinären Konzepte koordinieren lässt“ (ebd.). Hierzu gehört die Bestimmung des jeweiligen Geltungsbereichs sowie der Bezugsebenen, an die die jeweiligen Disziplinen anknüpfen. Durch die Explikation einer solchen Vermittlungs159
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basis werde möglich, „Begrenzungen, Einseitigkeiten und Blindstellen von Prämissen, Konzepten usw. jeweiliger Disziplinen, in denen zu (zumindest partiell) gleichen Themen bzw. Gegenständen geforscht wird, durch fächerübergreifende Zusammenarbeit zu korrigieren“ (ebd., 543). Allein mit der Berücksichtigung unterschiedlicher Disziplinen und der Zuordnung der aus ihnen entstehenden Teilansichten auf den Gegenstand sind jedoch die Vermittlungsprobleme noch nicht gelöst. Aus den unterschiedlichen Geltungsbereichen, Theorieebenen und Gegenstandsbezügen können Differenzen in Stellung und Funktion der empirischen Daten resultieren. Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass „Methoden ggf. spezielle Reduktionen, Formierungen bzw. Verdinglichungen enthalten, die u. U. noch hinter den Möglichkeiten des Konzepts zurückbleiben, auf das Konzept selber zurückwirken bzw. konzeptuelle Fragen durch empirische Sachverhalte ersetzen“ (Markard 1994, 140). Das ist etwa bei der Vermittlung zweier hier einschlägiger, aber theoretisch auf unterschiedliche Ebenen bezogener Konzepte der Fall: der ‚gesellschaftlichen Natur‘ des Menschen, mit der die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz als Ergebnis naturhistorischer Entwicklung angesprochen ist, und dem ‚Genotyp‘ als Gesamtheit der funktionellen Einheiten der DNS. Mit letzterem werden molekularbiologische und biochemische Prozesse beschrieben, während erstere eine logische Ableitung aus entwicklungstheoretischen Annahmen im Rahmen der Rekonstruktion der Psychophylogenese ist, für die nicht notwendigerweise eine molekulare Entsprechung auf der DNS existiert, auch wenn eine solche im Konzept impliziert ist. Soweit keine direkte Übersetzbarkeit zwischen solchen Ebenen der Erkenntnis besteht, bedarf es einer konzeptionellen Vermittlungsbasis, vor deren Hintergrund diese in ihren unterschiedlichen Geltungsbereichen und jeweils gegenstandsadäquaten Objektivitätsverständnissen ausweisbar werden. Für das Psychische hat Schurig die „Naturgeschichte des Psychischen“ als eine solche „biologische Plattform“ vorgeschlagen, „von der aus die Subjektwissenschaft Psychologie ihre naturwissenschaftlichen Grundlagen je nach dem eigenen Entwicklungsstand neu definieren kann“ (Schurig 2006, 136). Schurigs Plattform lässt sich als gegenstandsorientierte Vermittlungsbasis interpretieren. Für diese gelte „methodologisch eine synthetische Sichtweise und ein genuin interdisziplinäres Wissenschaftsprogramm“ (ebd., 137). In diesem Rahmen könnte beispielsweise die DNS als Teil des materiell-körperlichen Substrats der gesellschaftlichen Natur angesehen werden (vgl. Holzkamp 1983, 179-184), ohne dass zugleich Kausalbeziehungen und Determinationszusammenhänge impliziert sind. Vielmehr wäre die Funktion der DNS selbst als Forschungsgegenstand charakterisierbar, jedoch als einer, der 160
ERKENNTNIS UND SUBJEKTE IM ZEITALTER DER BIOMEDIZIN
unterhalb der Ebene psychologischer Theoriebildung liegt – als eine Art sekundäres oder vermutlich eher tertiäres Element im Rahmen der biologisch-körperlichen Dimensionen von Bewusstsein. Ähnlich lassen sich Ergebnisse der neurophysiologischen Experimente aus der Hirnforschung als sekundäre Daten gegenüber dem Konzept des intentionalen Handelns fassen, die die Ebene der Handlungsgründe nicht berühren, zugleich aber einen Teil des neurologischen Grundgerüsts von Handlungen darstellen (Maiers 2008, 58). Dabei ist jeder inter- wie einzeldisziplinäre Versuch der Vermittlung der unterschiedlichen Ebenen empirisch-biologischer und -gesellschaftlicher Prozesse mit dem Problem konfrontiert, dass diese im Erfahrungsgegenstand ‚Mensch‘ – im so genannten Phänotyp – miteinander vermischt sind. Hier liegt übrigens eine fundamentale Grenze des Erkenntnismodells des Neopositivismus. Da dieser das Primat auf empirische Beobachtung setzt, ist aus seiner Perspektive die Mischung nicht mehr trennbar. Die einzige Möglichkeit besteht darin, den Phänotyp als Summe zu betrachten, von der die jeweiligen Anteile etwa von DNS und Gesellschaft, Kultur, Familie jeweils subtrahiert werden können. Sobald jedoch dieses Modell nicht adäquat ist, wenn komplexe Wechselwirkungen und Entwicklungsprozesse mit zu berücksichtigen und diese nicht eindeutig schematisierbar sind, dann ist dies mit diesem Erkenntnismodell nicht mehr erfassbar. Wenn es zu einer Vermischung verschiedener Ebenen im Erkenntnisobjekt kommt, resultiert dies jedoch in Determinismen. Insbesondere die Rekonstruktion von individueller Entwicklung führt den Neopositivismus an seine erkenntnistheoretischen Grenzen. Das, was eine Vermittlung der verschiedenen Ebenen ermöglicht, und zwar über Disziplingrenzen hinweg, wäre eine historisch-rekonstruktive Perspektive, die den Menschen als Gattung, die Gesellschaft, in der er lebt und die er schafft, wie das jeweils individuelle Subjekt als historisch geworden betrachtet. Auch wenn neuere Ergebnisse in der Genetik darauf hinweisen, dass selbst die einfachsten Zellprozesse nur eingebettet in ein komplexes „Entwicklungssystem“ (Ingold 2000, 242, Herv. V. L.; siehe auch Herbert 2005) verstanden werden können, so sind es insbesondere die psychischen Dimensionen, die die Berücksichtigung der gesellschaftlich-kulturellen Vermittlungszusammenhänge in biomedizinischer Forschung besonders notwendig machen. Subjektwissenschaft kann hier zum Erkenntnisprozess wesentlich beitragen, in dem sie die Mittel zur Verfügung stellt, den individuellen Mensch-Welt-Zusammenhang gedanklich zu erfassen. Dies erfordert jedoch die Überwindung des Neopositivismus und dessen biologischen Determinismus wie psychologischen Reduktionismus.
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Operationalisie rung – Sta nda rdis ierung – Normalisierung. Die Produktion und Visualisierung von Date n in der kognitiv e n Ne urowisse ns c haft LARA HUBER
„To many psychologists and neuroscientists, cognitive neuroscience is equivalent to cognitive neuroimaging“, stellten die Neurowissenschaftler Martha J. Farah und Todd E. Feinberg jüngst lakonisch fest (Farah/Feinberg 2006, 17). Mit dieser Zwischenbilanz rütteln sie, wie anzunehmen wäre, nicht an der Erfolgsgeschichte des jungen Forschungfeldes, einem Amalgam aus kognitiver Psychologie und Neurowissenschaften1, sondern kritisieren eine innerwissenschaftliche Wahrnehmung, die symptomatisch für technologiegetriebene Forschungsbereiche scheint, wozu neben der Genomik als jüngstes Beispiel etwa die Nano-Forschung zu zählen ist. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Genese der kognitiven Neurowissenschaft Mitte der 1980er Jahre wesentlich durch die Kombination physiologischer Messungen mit experimentalpsychologischen Paradigmen angetrieben wurde und nicht zuletzt dadurch eine methodische Neurorientierung notwendig gemacht hat. Dies gilt im Besonderen für computergestützte Verfahren der Bildgebung, dem so genannten Neuroimaging2. Der umgekehrte Schluss, dass alles, was kognitive Neuro1
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Zum Begriff der „kognitiven Neurowissenschaft“ und der zugrunde liegenden metatheoretischen und methodischen Ausrichtung dieses Forschungsfeldes vgl. Kosslyn/König 1992, Schneider/Prinz 2000 sowie Albright/Neville 2001. Unter Neuroimaging werden gewöhnlich neben den morphologischen Verfahren der Bildgebung (Computertomographie, Magnetresonanztomo167
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wissenschaft heute sei, Bildgebung einschließe, ist nicht nur nicht zulässig, er ist schlichtweg falsch. Dennoch kommt man nicht umhin zu konstatieren, dass sich die Erfolgsgeschichte des Forschungsfeldes gerade über die mediale Präsenz technologischer Bilder generiert, die damit bezeichnenderweise auch Aufschluss über den Stellenwert dieser Modalitäten für Fragestellungen der kognitiven Neurowissenschaft offenbart. Auch die Offenheit des Forschungsfeldes für medizinische Fragestellungen wird hierin ersichtlich: Die metatheoretische Wende und die Verfügbarkeit bildgebender Verfahren haben wesentlich zur Rekonstitution medizinischer Forschungsbereiche wie etwa der Neuropsychologie3 beigetragen. Die vermeintlich ‚neue‘ Ästhetik des Bildes, die mit den computergestützten Verfahren des Neuroimaging einhergeht und die Wahrnehmung des Forschungsfelds nach innen wie nach außen prägt, gilt es ins kritische Verhältnis zu den spezifischen Mechanismen der Datenproduktion in diesem Forschungsfeld zu setzen – konkret heißt dies, Strategien der Operationalisierung und Standardisierung in der kognitiven Neurowissenschaft exemplarisch in den Blick nehmen: Wie sind standardisierte Forschungs- und Praxisfelder der kognitiven Neurowissenschaft ‚strukturiert‘? Welches sind die Mechanismen, die die Überführung komplexer, lebensweltlicher Phänomene in diese Wissenschaftsräume anleiten; welches die Kriterien, die hier zur Datenproduktion herangezogen werden? Strategien der Operationalisierung und Standardisierung sind innerhalb medizinischer Forschungs- und Praxisfelder nicht zuletzt Tendenzen der Normalisierung und Normierung unterworfen: Vor dem Hintergrund tradierter Formen der Lokalisierung und Visualisierung psychischer Eigenschaften soll deren Verfügbarmachung entlang metatheoretischer Vorannahmen exemplarisch nachgezeichnet und dabei insbesondere die Rekonzeptualisierung des Mentalen als visuelle Entität in den Blick genommen werden.
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graphie, Diffusionstensorimaging) die funktionellen Darstellungstechniken, die sich auf unterschiedliche zerebrale Stoffwechselvorgänge beziehen, namentlich die Positronen-Emmissions-Tomographie (PET), die Single-Photon-Emissions Computertomographie (SPECT) sowie die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) subsumiert. Zeitlich hoch auflösende Methoden wie die Elektroenzephalographie (EEG) oder die Magnetenzephalographie (MEG) werden traditionell nicht zu den bildgebenden Verfahren gezählt, da sie für sich genommen nicht oder nur kaum Aufschlüsse über zugrunde liegende anatomische Strukturen liefern (Jäncke 2005). Zur Geschichte der Neuropsychologie und der Genese des Begriffs in den 1950er Jahren vgl. Benton 2000.
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OPERATIONALISIERUNG – STANDARDISIERUNG – NORMALISIERUNG
Operationalisierung als Methode der verfahrenstechnologischen Verfügbarmachung Die Überführung von lebensweltlichen Phänomenen in die Experimentalräume der kognitiven Neurowissenschaft und damit in den Erklärungsbereich der Natur- bzw. Lebenswissenschaften geschieht gemeinhin in Form einer ‚Naturalisierung‘. Letztere ist in diesem Zusammenhang als pragmatisches Vorgehen im Sinne der Operationalisierung zu lesen, also als konzeptuelle und verfahrensgeleitete Verfügbarmachung komplexer Alltagsphänomene für Fragestellungen der Natur- bzw. Lebenswissenschaften.4 Der mit der Naturalisierung einhergehende, weitreichende Erklärungsanspruch experimenteller Wissenschaft muss folglich vor dem Hintergrund der spezifischen Produktions-, Manipulations- und Interpretationsbedingungen von Datensätzen innerhalb biomedizinischer Kontexte betrachtet werden. Insbesondere der Aspekt der verfahrenstechnologischen Überformung wissenschaftlicher Objekte, an der sich die Wissenschaftsforschung abarbeitet (Hacking 1983; Latour 1987; Rheinberger 1997), ist hier von Belang.
Das Dogma des „modularen Geistes“ Die innerhalb der kognitiven Neurowissenschaft insgesamt zu beobachtende Praxis, von strukturellen, d. h. morphologischen Eigenschaften des Gehirns auf funktionelle, d. h. konkrete kognitive Fähigkeiten sowie gegebenenfalls auf deren Beeinträchtigung zu schließen, folgt den praktischen Anforderungen der experimentell vorstrukturierten Forschungsfelder, aus denen sich dieser Wissenschaftsbereich Mitte der 1980er Jahre formiert hat. Bis ins 18. Jahrhundert hinein wurde die Hirnsubstanz selbst weitgehend als funktionslos angesehen (Clarke/Dewhurst 1996). Erst der Wiener Arzt Franz Joseph Gall (1758-1828) setzte die kognitiven Fähigkeiten des Menschen mit spezifischen Funktionen der Hirnrinde in Beziehung. Galls funktionsmorphologischer Ansatz der Cranioskopie basierte auf einem Studium von Hirn- und Schädelformen, das er im Rahmen seiner Tätigkeit als Arzt in Wien um 1800 aufnahm: So glaubte er zunächst 27 psychologische Instanzen – wie etwa Weisheit, Moralität oder Reproduktionsinstinkt – die er als „Organe“ oder „Zentren“ bezeichnete, anhand typischer Ausformungen des Schädels 4
Diese Lesart von Naturalisierung schließt an Geert Keil und Herbert Schnädelbach an, die kritisch bemerkt haben, dass „der moderne Naturalismus […] eher ein Ismus der Naturwissenschaften zu sein [scheint] als ein Ismus der Natur“ (Keil/Schnädelbach 2000, 13). 169
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identifizieren zu können. Diese in den folgenden Jahren unter dem Schlagwort der ‚Phrenologie‘ zu gewissem Grad gesellschaftsfähige Lehre war bald schon, angestoßen durch die Forschungsarbeiten des französischen Physiologen Pierre Flourens5, wissenschaftlicher Kritik ausgesetzt und blieb bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in wissenschaftlichen Kreisen diskreditiert (Franz 1912; Hagner 1997). Die modulare Konzeption der Organisation kognitiver Fähigkeiten und deren funktioneller Repräsentation im menschlichen Gehirn, die in der zeitgenössischen Forschung den Rang einer Leitkonzeption inne hat, geht auf den Philosophen Jerry Fodor zurück, der Anfang der 1980er Jahre anknüpfend an die komputationale Theorie des Geistes eine funktionelle Taxonomie kognitiver Mechanismen vorstellte – übrigens in enger Auseinandersetzung mit Noam Chomskys linguistischen Spekulationen zum so genannten „Sprachorgan“ (language organ; Fodor 1983, 7): Kognitive Module sind demnach, kurz gesagt, spezialisierte und informationell geschlossene „Eingangssysteme“ (input systems), die je nach ihrer funktionalen Rolle unterschiedliche Typen von Information verarbeiten (Fodor 1983, 64). Die These von der „Modularität des Geistes“, die sich im Bereich der kognitiven Neurowissenschaft ‚verselbständigt‘ und namentlich von der strikten Lesart Fodors (2001) entfernt hat, prägt gerade aufgrund der Assoziation der spezialisierten Module mit neuronaler Architektur6 bis heute populäre neurowissenschaftliche Strategien der Operationalisierung. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Lokalisierung psychischer Fähigkeiten über Verfahren der funktionellen Bildgebung. Experimentelle Designs dieses Forschungsbereichs basieren bis heute in der Mehrheit auf einem linear-kausalen Verständnis funktionaler Organisation.
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Die wissenschaftliche Widerlegung erfolgte, wie Susan Leigh Star (1989, 4) nachgezeichnet hat, auf „eigentümliche“ Weise: „The influential work of the French physiologist Pierre Flourens had demonstrated that the cerebral hemispheres did not have areas associated with particular functions. His primary experimental animals had been pigeons; he generalized these animal findings to human brains. He believed the hemispheres to be insensible to stimulation and to operate as indivisible wholes.“ Fodor selbst (1983, 99) ist in diesem Punkt relativ zurückhaltend: „Neural architecture is, I’m suggesting, the natural concomitant of informational encapsulation. Anyhow, we do find neurological structure associated with the perceptual systems and with language. Whatever the right interpretation of this finding may be, it provides yet another reason to believe that the input systems constitute a natural kind.“
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OPERATIONALISIERUNG – STANDARDISIERUNG – NORMALISIERUNG
Das Dogma der „linearen Kausalität“ Als hypothetisches Fundament der „mentalen Chronometrie“ des niederländischen Physiologen F. C. Donders (1969) hielt die lineare Kausalität bereits im ersten psychologischen Labor (Wilhelm Wundt, Leipzig) im ausgehenden 19. Jahrhundert als operationale Strategie der „Zergliederung mentaler Fähigkeiten“ Einzug in die experimentalpsychologische Forschung (Boring 1958). Die so genannte „Subtraktionslogik“ beruht auf einem linear kausalen Verständnis psychischer Organisation, indem sie davon ausgeht, dass sich psychische Fähigkeiten additiv aus verschiedenen elementaren psychischen Vorgängen zusammensetzen und durch Subtraktion voneinander nach wissenschaftlichen Maßstäben (z. B. über Reaktionszeitmessungen) erfassen lassen. Bis heute wird diese operationale Strategie vor allem durch die pragmatische Ausblendung möglicher Interaktionen zwischen den vermeintlich elementaren psychischen Vorgängen kritisiert. In epistemologischer Hinsicht werden zudem die damit verbundenen Mechanismen der Segmentierung komplexer Fähigkeiten diskutiert (Donald 1995; Siditis et al. 1999). Trotz der Entwicklung alternativer Designs kommt der Subtraktionslogik in den experimentellen Settings der kognitiven Neurowissenschaft sowie als Auswertungsschema im Rahmen funktioneller Bildgebung eine herausragende Bedeutung zu (Jäncke 2005). Eine grundsätzliche Schwierigkeit bei dieser operationalen Strategie stellt die valide Bestimmung der jeweiligen Kontrollbedingung (baseline condition) dar, die die Basis für die Auswertung der Testkondition (test condition) bildet (Donald 1995). Ein wichtiger Fokus moderner experimentalpsychologischer Forschung liegt nicht zuletzt auf der Frage, inwiefern von einer engen Korrelation zwischen psychischer Fähigkeit und Hirnstruktur ausgegangen werden kann. Der psychologischen Forschung kommt bei der Validierung operationaler Strategien, die psychische Fähigkeiten im Rahmen experimenteller Settings der kognitiven Neurowissenschaft verfügbar machen, ein besonderer Stellenwert zu. Gleichzeitig sieht sich die Psychologie mit dem Verweis auf eine Simplifizierung psychologischer Sachverhalte bzw. auf eine Versachlichung psychologischer Merkmale grundsätzlich durch die Übertragung naturwissenschaftlicher Paradigmen im Allgemeinen (Tent 1992) und den Import von Technologien zur Messung und Darstellung im Speziellen herausgefordert (Hardcastle/Stewart 2005).
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Standardisierung über operationale Strategien innerhalb von Experimentalräumen Mit der Operationalisierung, der Überführung komplexer, lebensweltlicher Phänomene in die Experimentalräume der kognitiven Neurowissenschaften, werden diese in neuer Weise ‚verfügbar‘, d. h. überhaupt, und zwar verfahrenstechnologisch überformt, zu Objekten der wissenschaftlichen Forschung und Praxis. Dies geschieht in standardisierten Räumen des empirischen Wissens. Als klassischer Ort naturwissenschaftlicher Erkenntnisproduktion gilt gemeinhin das ‚Labor‘: Bis heute symbolisiere es, so die Wissenschaftssoziologin Karin Knorr Cetina (2002), die Produktivität naturwissenschaftlicher Forschung, auch wenn streng genommen nicht jedes naturwissenschaftliche Wissen Laboratorien entstamme. Gerade die kognitive Neurowissenschaft operiert aufgrund ihrer multidisziplinären Ausrichtung in methodisch und instrumentell divergenten Räumen, deren Strukturen nicht nur durch spezifische Strategien der Standardisierung bestimmt werden, sondern auch zunehmend durch Großtechnologien der Messung und Darstellung. Insbesondere die Nutzung von Verfahren des funktionellen Neuroimaging (PET, fMRT) innerhalb wie außerhalb der medizinischen Forschung und Praxis hat zu einer teilweisen, aber nachhaltigen Veränderung von neurowissenschaftlichen und kognitionspsychologischen Forschungfeldern geführt (Huber 2008). Bis heute trägt diese Entwicklung innerhalb der Medizin auch zu einer Umstrukturierung von Praxisräumen bei. Dies lässt sich nicht nur an spezifischen Erwartungshaltungen von Patienten ablesen, die an die Medizin herangetragen werden, sondern gerade auch an impliziten Formen der technologischen Vermittlung von Körper- und Krankheitskonzepten. Dies haben neben wissenschaftshistorischen Studien vor allem auch kulturanthropologische und soziologische, darunter vor allem ethnographische Feldforschungen im Bereich der Science and Technology Studies beispielhaft nachgezeichnet.7 Ähnliche Auswirkungen auf Forschungs- und Praxisfelder lassen sich zwar allgemein für Strategien der Visualisierung und deren Nutzbarmachung im medizinischen Kontext aufzeigen, die computergestützten Verfahren der strukturellen wie funktionellen Bildgebung bergen jedoch in sich das Potential einer weitreichenden Verfügbarmachung von Patienten- und Probandendaten über die Räume ihrer Erzeugung hinaus. Dies ist ein Ergebnis der nachhaltigen Transformation von Experimentalräumen, die im Folgenden exemplarisch vor dem Hintergrund der Genese der Psychologie
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Zu nennen sind hier u. a. Kevles 1998, Treichler et al. 1998, Waldby 2000, Dumit 2004 sowie van Dijck 2005.
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als eine auf Beobachtung und Experiment begründete Einzelwissenschaft betrachtet werden soll: In der Forschung ist man sich weitgehend darüber einig8, dass die Geburtsstunde der experimentellen Psycholgie mit der Einrichtung des ersten Instituts für Psychologie in Leipzig 1879 durch Wilhelm Wundt zusammenfällt, wenige Jahre nach seiner Berufung auf den Lehrstuhl für Philosophie.9 Schon früh, zu Beginn der 1860er Jahre, noch als Assistent Hermann von Helmholtz’ in Heidelberg, hatte Wundt die Metaphysik als Basis der Psychologie grundsätzlich abgelehnt und damit ihre Verortung als Teil der Philosophie in Zweifel gezogen. Psychologie war für Wundt Erfahrungswissenschaft, da ihr Objekt, die unmittelbare Erfahrung und ihre Ergebnisse, „anschaulich“ seien. Auch das Bewusstsein müsse als natürlicher Vorgang betrachtet werden, der eine grundlegende, unmittelbare Realität besitze. Im Gegensatz zu manchem Zeitgenossen war Wundt davon überzeugt, auch rein psychologische Phänomene seien grundsätzlich experimentell erforschbar: Die Psychologie sei überhaupt auf experimentelle Verfahren angewiesen, habe sie doch gerade nicht mit „dauernden Objekten“, sondern mit psychischen Vorgängen bzw. „flüchtigen Ereignissen“ zu tun (Wundt 1914, 25f.). Diese Ansicht bedingte die Etablierung einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin, der so genannten Experimentalpsychologie. Die Besonderheit der experimentellen Methode in der Psychologie bestehe nach Wundt, wie er in seinem einflussreichen Werk Grundzüge der physiologischen Psychologie entsprechend hervorhob, „nicht bloß darin, dass sie, ähnlich wie auf physischem Gebiete, die Bedingungen der Beobachtung willkürlich variirbar macht, sondern wesentlich noch darin, dass durch sie eine exacte Beobachtung zu Stande kommt, deren Ergebnisse dann auch für solche seelische Erscheinungen, die ihrer Natur nach eine directe experimentelle Beeinflussung nicht gestatten, fruchtbar sind“ (1893, 4f.).
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Die experimentelle Psychologie besitzt in dieser Hinsicht sicherlich eine „doppelte Gründungsgeschichte“. Verwiesen sei hier auf physio-physikalische Forschungen zur sinnlichen Wahrnehmung, die seit Gustav Fechner (Elemente der Psychophysik, 1860) unter dem Begriff der „Psychophysik“ subsumiert werden. Wundt gründete das erste Laboratorium für Experimentalpsychologie zunächst als private Einrichtung, die einige Jahre später in die Leipziger Universität übernommen wurde (Hiebsch 1977). Eine nicht unwesentliche Rolle für die Etablierung der Psychologie als Experimentalwissenschaft war die Gründung der ersten psychologischen Fachzeitschrift, der Philosophischen Studien, dem Publikationsorgan experimentalpsychologischer Leipziger Forschung (von 1881 bis 1903), später abgelöst durch die Psychologischen Studien. 173
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Die Experimentalpsychologie umfasste nach den theoretischen Überlegungen Wundts im Vergleich zur zeitgenössischen Psychologie allerdings einen sehr engen Gegenstandsbereich, insbesondere Wahrnehmungs- und Empfindungsprozesse. Psychische Fähigkeiten wie Gedächtnis, Denken oder Kreativität ordnete Wundt der „Völkerpsychologie“ zu und schloss sie folglich als Gegenstände der experimentalpsychologischen Forschung, der so genannten Individualpsychologie, systematisch aus.10 Rund 100 Jahre nach den ersten wundtschen Schriften zum Entwurf der Psychologie als Experimentalwissenschaft wird die wissenschaftliche Psychologie von einer metatheoretischen Diskussion eingeholt, die in der Literatur als „kognitive Wende“ bezeichnet wird: Als Gegenprogramm zu den mechanistischen Auffassungen des Behaviorismus, der insbesondere die amerikanische Psychologie bis in die 1960er Jahre hinein beherrscht hat, ist die kognitive Psychologie Anzeige eines wachsenden Interesses an der wissenschaftlichen Untersuchung psychischer Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit, Erkennen und Bewusstsein. Ulric Neissers Cognitive Psychology von 1967 markiert mit der Übernahme des Modells der Informationsverarbeitung die metatheoretische Wende innerhalb der Psychologie und das Ende des Behaviorismus – als Leittheorie der experimentellen Psychologie. Die sich in den 1960er Jahren konstituierende kognitive Psychologie bezeichnet zunächst dasjenige Teilgebiet der Psychologie, dessen eigenständiges und hauptsächliches Forschungsgebiet psychische Fähigkeiten der Aufmerksamkeit, des (semantischen) Gedächtnisses oder der Sprache sind. Erst Forschungsverbünde wie die kognitive Neurowissenschaft haben in den 1980er und 1990er Jahren die klassische Unterscheidung, an der sich die kognitive Psychologie abarbeitete, nämlich zwischen Kognition und Emotion bzw. deren Lesart als bewusste und nichtbewusste Prozesse, systematisch in Frage gestellt.11 Bei dem gemeinsamen Gegenstandsbereich der ‚Kognition‘ handelt es sich folglich selbst um einen rekonzeptualisierten Begriff, der metatheoretisch dem Dogma der Informationsverarbeitung folgt sowie mittlerweile durch Forschungsergebnisse der kognitiven Psychologie und der Neurowissenschaften eine neue Ausrichtung erfahren hat. Auch die Entwicklung standardisierter Werkzeuge (wie etwa psychologische Testverfahren) haben For10 Wundts Konzeption einer zweigeteilten wissenschaftlichen Psychologie gründet nach Hans Hiebsch (1977, 20) auf einer „falsche[n], aber unausgesprochene[n] Prämisse […], daß nur die Resultate des psychischen Lebens der Menschen (wie Sprache, Mythos und Sitte) sozial determiniert seien, dahingegen nicht die psychische Tätigkeit selbst.“ 11 Als wegweisend für diese Entwicklung gelten die Forschungsarbeiten des Neurologen Antonio R. Damasio 1994, 1999. Zur Rekonzeptualisierung nichtbewusster Prozesse vgl. Hassin et al. 2005. 174
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schungsfelder der kognitiven Neurowissenschaft nachhaltig beeinflusst. Dies ist deshalb zu betonen, da Verfahren der quantitativen Messung bzw. qualitativen Erfassung grundsätzlich operationale Definitionen (Konzeptualisierungen) psychischer Fähigkeiten voraussetzen.12 Gleichzeitig sind Letztere wiederum metatheoretisch vermittelt, d. h. an spezifische Vorannahmen (z. B. Informationsverarbeitung) gebunden. Im Fall des so genannten „d2 Aufmerksamkeits-Belastungs-Tests“ (Brickenkamp 1994), der standardmäßig zur individuellen Messung von Aufmerksamkeitsleistung unter Zeitdruck herangezogen wird13, bedeutet dies, „Aufmerksamkeit“ als selektiven Prozess zu bestimmen. Gleichzeitig wird eine qualitative Nähe zwischen Aufmerksamkeit und Konzentration angenommen. Insofern kommt man nicht umhin, zu konstatieren, dass gerade auch die theoretische Kontextualisierung der Testverfahren strukturierend auf die besagten psychologischen Experimentalräume einwirken (Huber 2008).14 Der Einfluss psychologischer Verfahren auf die Ausbildung bzw. methodische Transformation von Forschungs- und Praxisräumen innerhalb der Kognitionswissenschaften einerseits und der kognitiven Neurowissenschaft andererseits hat vor allem vor dem Hintergrund funktioneller Verfahren der Bildgebung (Neuroimaging) an neuer Bedeutung gewonnen. Überhaupt darf die Rolle der funktionalen Bildgebung bei der Genese der kognitiven Neurowissenschaft insgesamt nicht unterschätzt werden. Die Entwicklung leistungsfähiger bildgebender Verfahren zur nicht-invasiven Diagnostik hat auch dazu beigetragen, medizinische Forschungs- und Praxisfelder wie die Neuropsychologie methodisch-technologisch neu auszurichten. Gleiches gilt für die experimentelle Psychologie insgesamt: Die Aufwertung von Basistechnologien der Bildgebung hat hier bereits zu einer veränderten Wahrnehmung über die Standards des Forschungsfelds geführt, was sich am aktuellen Verhältnis von psychologischen Testverfahren einerseits und Apparaturen der Bildgebung andererseits ablesen lässt. Ferner darf nicht übersehen werden, dass mit der Technisierung der kognitiven Psychologie auch eine Transformation des Methoden- und 12 Sie stützten sich damit auf die Prämisse, dass sich komplexe lebensweltliche Phänomene über Strategien der Operationalisierung angemessen „abbilden“ bzw. beschreiben lassen (Erneling/Johnson 2005). 13 Hierbei handelt es sich um einen Paper & Pencil-Test: Das Testblatt ist vierzehnzeilig und zeigt jeweils 47 Zeichen, die Buchstaben d und p in unregelmäßiger Folge inklusive deren Markierungen (ein bis vier Unterbzw. Oberstriche), an. Der Proband soll nun unter Zeitdruck (pro Zeile 20 Sekunden) möglichst viele der mit zwei Strichen markierten d durchstreichen und dabei keine Auslassungs- oder Verwechslungsfehler machen. 14 Zur epistemologischen Rolle operationaler Strategien und zur epistemischen Funktion von Konzepten in der Psychologie siehe auch Uljana Feest 2005 u. 2008. 175
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Fragepools einhergegangen ist und sie Strategien wie der Modularisierung oder Dekomposition neuen Auftrieb gegeben hat. Der Transfer von Verfahren der funktionellen Bildgebung in nicht medizinische Forschungsbereiche, d. h. die simple Tatsache der Verfügbarkeit technologischer Plattformen, wird auf der anderen Seite durch den Reimport von experimentellen Protokollen und psychologischen Testverfahren, die im Rahmen der Bildgebung heute Verwendung finden, in medizinische Forschungs- und Praxisfelder begleitet. Auch deshalb lässt sich in gewisser Weise von einer „Harmonisierung“ von Studiendesigns innerhalb der kognitiven Neurowissenschaft sprechen (Bechtel 2001). Deutlich wird diese Entwicklung zum Beispiel in spezifischen Forschungs- und Praxisbereichen der Neurochirurgie, die etwa im Bereich der Tumorlokalisation durch die Einbindung funktioneller Verfahren der Bildgebung zunehmend auch auf psychologische Tests rekurriert und gleichzeitig die Etablierung neuer Protokolle vorantreibt (Huber 2009a; Huber/Gharabaghi 2008). Vor dem Hintergrund der computergestützten Datenproduktion ist zu fragen, inwiefern für Forschungsverbünde wie die kognitive Neurowissenschaft etablierte Modelle der Wissensproduktion und damit auch klassische Räume der Experimentalwissenschaften wie das Labor noch Gültigkeit besitzen. Letzteres „markiert“, wie Nicole Karafyllis (2008, 2) jüngst hervorhob, „nicht nur eine Grenze des Wissens, sondern es hat im Allgemeinen einen Ort, an dem es steht“. Die Programmatik des Forschungsverbundes scheint seit den 1990er Jahren durch die Kombination von experimentellen Verfahren der kognitiven Psychologie einerseits mit technologisch gestützten Messungs- und Darstellungsmodalitäten der medizinischen Neurowissenschaften andererseits doch gerade darauf angelegt zu sein, die topologisch sowie qualitativ vorliegende Begrenzung zu überwinden. Zumindest lässt sich konstatieren, dass das ‚Labor‘ zunehmend durch das Modell des digitalen Netzwerks herausgefordert wird. Dies zeigt sich etwa in den Debatten um die Etablierung eines gemeinsamen Datenpools der kognitiven Neurowissenschaft – ein Anliegen, das durch das Human Brain Project (HBP) neuen Auftrieb gewonnen hat.15 Eine Herausforderung für die Vergleichbarkeit von Datensätzen innerhalb eines multi-disziplinären Feldes stellen somit nicht nur rein formale Aspekte des Studiendesigns dar, wie Zusammensetzung und Größe der Patienten- bzw. Probandengruppen, Wahl der Protokolle oder Testverfahren, die in den Studiendesigns Verwendung finden. Hinzu kommen ferner methodische Bedenken, etwa, inwiefern diese tech15 Zur digitalen Verfügbarmachung von Forschungsdaten siehe Gibbons 1992 und Koslow 2000, zur epistemischen und ethischen Einordnung dieser Vorhaben siehe Huber 2008. 176
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nologisch gestützte Vielfalt, die als Experimentalapparaturen bzw. Basistechnologien einerseits und Strategien der Operationalisierung andererseits vorliegt, innerhalb der kognitiven Neurowissenschaft im Rahmen gemeinsamer Strategien aufeinander ausgerichtet werden kann (Bechtel 2002).
Die Genese „normaler Bilder“ und Tendenzen der Normierung Diese Fragen besitzen insbesondere vor dem Hintergrund von Prozessen der Normalisierung, die auf unterschiedlichen Ebenen auszumachen sind, eine herausragende Bedeutung. Auf der Ebene gesellschaftlicher Reliabilität lässt sich von der Normalisierung von Techniken und Verfahren sowie ferner von der Normalisierung von Produkten dieser Techniken und Verfahren sprechen. Die Wissenschaftshistoriker David Gugerli und Barbara Orland haben in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Normalisierung, diskutiert am Beispiel von Produkten von Visualisierungstechniken in Medizin und Wissenschaft, nichts anderes meint als die Überführung in gesellschaftliche Akzeptanz und insofern als „Herstellung von gesellschaftlicher und kommunikativer Selbstverständlichkeit” zu lesen ist (Gugerli/Orland 2002, 10). Von der Normalisierung ist es nach Orland und Gugerli nicht weit zur Kategorie der „Natürlichkeit“.16 Im Anschluss an Hans Blumenberg heben sie hervor, dass Prozesse der Normalisierung nicht nur zur Institutionalisierung von Techniken und Verfahren sowie der auf dieser Basis erzeugten Produkte beitragen, sondern dass die Überführung in den Raum des Alltäglichen und Selbstverständlichen unmittelbar mit dem „Unsichtbarwerden“ der Techniken und Verfahren einhergeht. Gelungene Normalisierungen, und in der Folge „normale“ Gegenstände, zeichnen sich dadurch aus, „ihre instrumentellen Voraussetzungen zum Verschwinden“ gebracht zu haben (ebd.). Die zweite Ebene der Normalisierung ist der Ebene der gesellschaftlichen Reliablität vorgeschaltet und Kriterien wie der Standardisierung bzw. Sicherung verfahrenstechnologischer Validität untergeordnet. Normalisierung meint hier nicht die Herstellung von kommunikativer Selbstverständlichkeit, also Fragen der gesell16 Diese Herstellung von Selbstverständlichkeit als Natürlichkeit entspricht folglich dem Prozess der „Naturalisierung“, den Anthropologen im Anschluss an Bruno Latour als Resultat wissenschaftlicher Praxis bezeichnen. Vgl. dazu Bowker/Star 2000, 294 und 299. Dieses Verständnis von Naturalisierung ist freilich nicht mit der philosophischen Definition von Naturalisierung, im Sinne der Überführung lebensweltlicher Entitäten in den Erklärungsbereich der Natur- und Lebenswissenschaften, identisch. 177
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schaftlichen Akzeptanz, sondern die Etablierung wissenschaftlicher Standards über uniforme Prozesse der Datenproduktion (Urbina 2004) bzw. über so genannte Referenzsysteme. Im Rahmen bildgebender Verfahren kommt digitalisierten Klassifikationssystemen, die an die Tradition der Läsionsanalyse auf der Basis von Hirngewebspräparaten anschließen, eine bedeutende Rolle zu.
Von Gehirnbanken zum „Visual Human Project“ Die Nutzung von Hirngewebspräparaten hat im Zuge der Gründung privater Anatomieschulen im ausgehenden 18. Jahrhundert in die medizinische Forschung Einzug gehalten. Auf diesem Wege entstanden nicht zuletzt anatomische Sammlungen zu medizinischen Ausbildungszwecken, die im 19. Jahrhundert durch pathologische Sammlungen ergänzt wurden, wie das nach dem Chirurgen Guillaume Dupuytren benannte und 1834 gegründete Musée Dupuytren in Paris (Gere 2003). Die Verfügbarkeit von Hirngewebspräparaten im ausgehenden 19. Jahrhundert sowie die spezifischen Methoden der Präparation und Konservierung17 waren wichtige Voraussetzungen für so genannte Läsionsstudien, wozu namentlich die Arbeiten des französischen Neurologen Paul Brocas zählen. Brocas’ Forschung zur Aphasie-Störung stand in der Tradition der Funktionsmorphologie, stützte sie sich doch auf die Annahme, Beeinträchtigungen mentaler Fähigkeiten anhand umschriebener Schädigungen am Gehirn, so genannter Läsionen, ausweisen zu können. Im 20. Jahrhundert entstanden schließlich zunehmend spezialisierte Gewebebanken, die auf ausgewählte Krankheitsbilder zugeschnitten waren, wie etwa die Tumordatenbank des Neurochirurgen Harvey Cushing. Die systematische Archivierung von Gehirnpräparaten im Rahmen so genannter „Gehirnbanken“ seit den 1970er Jahren hat, wie Anne Beaulieu nachgezeichnet hat, sehr zur Konsolidierung und Professionalisierung der Neuroanatomie beigetragen. Gehirnbanken unterscheiden sich nicht nur organisatorisch, durch ihre multi-disziplinäre Ausrichtung und durch die Tatsache, dass sie oftmals auf nationaler Ebene angesiedelt sind, vom Modell einer lokalen neuropathologischen Sammlung. Der Einrichtung von Gehirnbanken folgten vor allem auch neue Standards bei der Gewebeentnahme und -präparation (Beaulieu 2004). Mit der Verfügbarkeit digitaler Methoden der Datenerhebung erhält die verfahrenstechnologische Normalisierung insgesamt eine neue Di17 Dass diese Methoden mit spezifischen Gewebeveränderungen der Präparate einhergingen, was wiederum das Verständnis der Grundbeschaffenheit von Hirngewebe nachhaltig beeinflusst hat, zeigt Breidbach 1997. 178
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mension. Die computergestützten Verfahren der „Bildgebung“, die klassische Läsionsstudien am Präparat mittlerweile um morphometrische Studien in vivo ergänzen, konstituieren, wie der Medizinhistoriker Cornelius Borck betont hat, „eine komplexe, räumlich differenzierte Wirklichkeit des Gehirns“ (2005, 20). Diese geht nicht erst mit der ästhetischen Wirkung farbkodierter statistischer Signifikanzkarten einher, sondern ist bereits unmittelbar an die Erstellung digitaler Repräsentations- und Referenzräume, so genannter standardisierter Atlanten des menschlichen Körpers, gebunden.
Vom „Visual Human Project“ zum „Virtual Brain“ Um Datensätze verschiedener Probandinnen und Probanden bzw. Patientinnen und Patienten, die auf der Basis einer bestimmten Technologie (z. B. PET) erzeugt wurden, miteinander zu vergleichen, ist eine Transformation der individuellen Datensätze in einen standardisierten anatomischen Raum erforderlich, dem so genannten „Referenzgehirn“. An die räumliche Transformation bzw. „Normalisierung“ auf dieses Standardhirn schließt sich in der Regel zudem eine räumliche „Glättung“ der Datensätze an, um verbleibende interindividuelle Unterschiede auszugleichen (Roland/Zilles 1994; Jäncke 2005). Die Normalisierung nach Maßstäben der verfahrenstechnologischen Qualitätssicherung zeichnet sich im Gegensatz zur Normalisierung der ersten Ebene dadurch aus, dass die Referenzsysteme, auf die hierbei rekurriert wird, selbst experimentellen Räumen entstammen und als deren Produkte ebenfalls den Mechanismen wissenschaftlicher Standardisierung unterworfen sind. Referenzsysteme beruhen folglich entweder auf Erhebungen statistischer „Normalität“ oder haben wie im Falle der „Standardgehirne“ über die Bereitstellung von uniformer Referenzialität Anteil an der Erzeugung von „Normalität“. Dies ist im Wesentlichen der Praxis der verfahrenstechnologischen Erstellung von Referenzgehirnen selbst geschuldet, betrachtet man etwa den Wandel innerhalb der Erstellung anatomischer Referenzräume: Der erste vollständige und bis heute populäre digitale Referenzraum des menschlichen Gehirns geht zurück auf den französischen Neurochirurgen Jean Talairach, der diesen ursprünglich anhand eines postmortalen Organs, genauer einer einzelnen Hemisphäre einer sechzigjährigen Frau, erstellte (Talairach/Tournoux 1988). Neuere Atlanten, wie etwa der des Neurologischen Instituts in Montréal (MNI),
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basieren auf über 300 Datensätzen junger und vermeintlich „gesunder“18 Individuen (Collins et al. 1994). Durch lineare Normalisierung und Mittelung dieser Datensätze auf der Ebene dreidimensionaler Bildelemente (Voxel) entstand einer der wichtigsten Referenzräume aktueller Bildgebung (Jäncke 2005). So genannte probabilistische, architektonische Kartierungen des Gehirns (probability atlases) eignen sich wiederum insbesondere für Struktur-Funktions-Vergleiche. Dieses Kartierungsverfahren betritt gerade im Hinblick auf die Berücksichtigung interindividueller Varianz in der Gehirnanatomie Neuland, indem Aussagen über eine wahrscheinliche Verteilung und Lokalisierung spezifischer anatomischer Landmarken möglich werden (Abbott 2003). Die Praxis der stereotaktischen Normalisierung, die sich vor allem auf eine makroanatomische Anpassung individualisierter Datensätze an das jeweilig zugrunde gelegte Referenzhirn beschränkt, hat insbesondere die PETBildgebung, aber auch die MRI-Bildgebung, nachhaltig beeinflusst. Die verfahrenstechnologische Normalisierung ist folglich in all ihren Abstufungen ebenfalls „kommunikativ“ vermittelt. Den Ausschlag hierfür gibt etwa die Akzeptanz von Referenzsystemen und/oder Testverfahren, die sich über den Rekurs auf diese Systeme durch die wissenschaftlichen Peers, wenn auch nur zu einem gewissen Grad, bestimmen lässt.19 Die Psychologen Stephen M. Kosslyn und Oliver König haben zu Beginn der 1990er Jahre die methodische Differenz zwischen kognitiven Neurowissenschaften einerseits und computationaler Kognitionswissenschaft andererseits auf die plakative Formel vom „wet mind“- bzw. „dry mind“-Ansatz gebracht. Demnach geht die kognitive Neurowissenschaft von der Vorannahme aus, dass mentale Fähigkeiten bzw. Dispositionen auf das Gehirn und seine Verarbeitungsprozesse verweisen, während andere Forschungsbereiche innerhalb der Kognitionswissenschaften, namentlich das Feld der künstlichen Intelligenzforschung, computationale
18 Es handelt sich hierbei um eine negative Definition von Gesundheit. Besonders deutlich wird dies bei der Definition „gesunder“ Kontrollgruppen im Rahmen klinischer Studien. Die Individuen dieser Gruppe weisen im Gegensatz zu den Individuen der Patientengruppe die mit dem spezifischen Krankheitsbild assoziierten physischen und/oder psychischen Zustände nicht auf (Beaulieu 2001; Huber 2009). 19 Bowker und Star haben unlängst darauf hingewiesen, dass der Rekurs auf Referenz- oder Klassifikationssysteme nicht immer mit der Akzeptanz dieser Systeme einhergehen muss (2000, 4): „Allan Young […] makes the complicating observation that psychiatrists increasingly use the language of the DSM to communicate with each other and their accounting departments, although they frequently do not believe in the categories they are using.“ 180
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Prozesse in den Vordergrund rücken.20 Dass kognitive Fähigkeiten unabhängig vom materiellen Substrat Gehirn – also in Gestalt der computionalen Informationsverarbeitung – „materialisiert“ sein können, wird auch unter dem Stichwort der „Multirealisierbarkeit“ in der Philosophie des Geistes diskutiert. Herausgefordert wird der „wet mind“-Ansatz bezeichnenderweise weniger durch komplementäre Erklärungsversuche als vielmehr durch Tendenzen der Virtualisierung physischer Prozesse, die an Modalitäten der visuellen Verfügbarmachung auf der Basis digitaler Datenbanken unmittelbar anschließen. Die computergestützten Verfahren der Bildgebung haben nicht zuletzt wesentlichen Anteil an der digitalen Rekonfiguration körperlicher Strukturen und Prozesse auf dieser Grundlage: Ihre verfahrenstechnologische Verfügbarmachung geht unmittelbar mit neuen Möglichkeiten der Modulation von Datensätzen einher, die als animierte Visualisierung oder interaktive Simulation auf der Basis digitaler anatomischer Atlanten, wie etwa dem „Visual Human Project“21, bereits vorliegen (Waldby 2000). Am virtuellen Modell lassen sich Dynamiken bei der Applikation von Flüssigkeiten simulieren oder die Planung chirurgischer Eingriffe verfeinern. Im Rahmen der virtuellen Endoskopie oder der Neuronavigation kann dies zudem anhand virtueller Avatare, die auf der Basis individueller Patientendaten erhoben wurden, geschehen. Mit der Virtualisierung, das heißt der digitalen Verfügbarmachung, geht aber bezeichnenderweise durch die Fokussierung auf Animation und Simulation zugleich eine „Distanzierung“ einher, die der Wahrnehmung vom menschlichen Körper als funktionale und lebensweltliche Einheit gegenüber gestellt ist. Die Überblendung des Körpers durch anatomische Details und die Etablierung neuer Elemente der Manipulation und Kontrolle haben somit wesentlichen Anteil an der Eliminierung körperlicher Präsenz (Cartwright 1998; Beaulieu 2001; Baudrillard 2008).
20 Vgl. Kosslyn/König 1995, 4: „Just as information processing operations in a computer can be analyzed without regard to the physical machine itself, mental events can be examined without regard for the brain.“ 21 Hierbei wurden auf der Basis struktureller Bildgebungsdaten, die anhand zweier Körperspenden erhoben wurden, digitale Referenzräume eines männlichen und eines weiblichen Körpers erstellt – vgl. URL: http://www. nlm.nih.gov/research/visible/visible_human.html, 11.8.2008. Zu Unterschieden der Verfügbarkeit des männlichen im Vergleich zum weiblichen digitalen Atlanten als anatomische Norm vgl. Cartwright 1998. 181
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Erstellung kognitiver Profile: Normierung durch Typologisierung In der klinischen Forschung sind heute konkrete Hoffnungen an die Ausweitung des Anwendungsbereichs der Neurobildgebung gebunden. Neben den strukturellen Verfahren, die etwa die Schizophrenie-Forschung22 maßgeblich beeinflusst haben, sollen in naher Zukunft auch funktionelle Modalitäten der Bildgebung in Neurologie und Psychiatrie zum therapeutischen Monitoring und insbesondere zur Früh- und Differenzialdiagnostik eingesetzt werden können. Einen Durchbruch bei der Alzheimer-Diagnostik vermeldeten in dieser Hinsicht 2004 die amerikanischen Neurowissenschaftler William Klunk und Chester Mathis (Klunk et al. 2004): Sei man heute noch darauf angewiesen, erst nach dem Tod des Patienten oder der Patientin über eine Autopsie anhand des histologischen Befundes zweifelsfrei die Diagnose Alzheimer stellen zu können, böten verfeinerte Verfahren auf der Basis funktioneller Bildgebung, genauer der Positronen-Emissions-Tomographie (PET), bald schon die Möglichkeit, differenzialdiagnostische Aussagen in vivo zu treffen. Dadurch wäre es ferner auch prinzipiell möglich, der Patientin oder dem Patienten frühzeitig eine Behandlung anzubieten, die auf das Krankheitsbild Alzheimer zugeschnitten sei.23 Beim Alzheimer-Test per PET-Scan macht man sich die Tatsache zunutze, dass das demenzielle Syndrom mit der Bildung so genannter „Plaques“ im Hirngewebe einhergeht, die mit der Überproduktion eines Proteins (Amyloid-beta Protein) in Verbindung gebracht wird. Das neuartige Testverfahren zielt – wie dies Daniel Pendick im Newsletter Memory Loss and the Brain plakativ auf die Formel bringt – auf die Sichtbarmachung dieser signifikanten Überproduktion: „The precise role that the plaques play in Alzheimer’s disease is not yet fully proven, but one thing is certain: All people with Alzheimer’s have plaques in their brains. If you can see amyloid-beta, you may also be seeing the disease itself“ (Pendick 2007). Der Anspruch der Visualisierung von Krankheitsentitäten ist grundsätzlich an die Notwendigkeit gebunden, im Vorfeld signifikante strukturelle oder funktionelle Typologien von Gehirnzuständen zu bestim22 In der Schizophrenie-Forschung wurde auf der Basis struktureller Bildgebungsbefunde eine spezifische Unterfunktion des dorsalen präfrontalen Kortex mit dem Vorliegen schizophrener Störungen in Verbindung gebracht, die als „Hypofrontality hypothesis“ in die Literatur einging (McCarley et al. 1999). 23 Die Brisanz, die sich aus dem Missverhältnis zwischen der Verfügbarkeit diagnostischer Verfahren und dem fehlenden therapeutischen Angebot ergeben kann, wurde in der ethischen Debatte im Fall der Genetik unter dem Schlagwort „therapeutic gap“ problematisiert. 182
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men, die einer Erkrankung bzw. einem spezifischen Krankheitsstadium zweifelsfrei zugeordnet werden können. Hier kann es durchaus angezeigt sein, wie erste Ergebnisse der funktionellen Bildgebung im Rahmen der Schizophrenie-Forschung nahelegen, je nach Darstellungsverfahren unterschiedliche Typologien24 zu definieren (Weinberger et al. 1996; Callicott et al. 2003). Die klinische Erhebung charakteristischer visueller Typologien ist entsprechend als eine Form wissenschaftlicher Repräsentation zu verstehen und von der Erstellung idealer oder individueller Typologien zu unterscheiden (Daston/Galison 2007). Durch die Ausrichtung der Datensätze an standardisierten „Referenzgehirnen“ und der damit einhergehenden Anpassung geht der normierende Charakter dieser Referenzräume auf die erhobenen Daten über, kurz gesagt, die makroanatomische Anpassung schlägt um in eine „räumliche Normierung“ (Amunts/Zilles 2007). Die verfahrenstechnologische Normalisierung ist folglich über Strategien der Standardisierung auch Tendenzen der Normierung unterworfen.25 Exemplarisch gilt dies für die Orientierung von generierten Datensätzen an ‚Normwerten‘, die entweder zugeschnitten auf das jeweilige Verfahren erhoben werden, und zwar in der Regel während der Entwicklungsphase eines Tests anhand von Testteilnehmerinnen und -teilnehmern26, oder, wie im Fall von Studien an Patientinnen und Patienten – je nach Fragestellung und Patientenkollektiv auf der Basis spezifischer Kriterien –, anhand einer alterskorrelierten (und gegebenenfalls bildungsadjustierten) ‚gesunden‘ Kontrollgruppe. Die Visualisierung von Krankheitsentitäten ist über die Schaffung digitaler Referenzräume des menschlichen Gehirns27 etablierten wissenschaftlichen Strategien der Sichtbarmachung und Repräsentation im 24 Zu problematisieren ist hier insbesondere die Annahme, die computergestützten Visualisierungstechniken könnten auf der Basis der Typologisierung gleich „Differenzierungsmaschinen“ die Krankheit selbst sichtbar machen (Dumit 2004). 25 Zum Verhältnis zwischen Normierung und Normalisierung und insbesondere dem Diktum der Normalisierung durch Normierung im Anschluss an Michel Foucault vgl. Volker Hess 1997 und Jürgen Link 2006. 26 Susana Urbina spricht vom „normative“ bzw. „standardization sample“ (2004, 2f.): „The collective performance of the standardization group or groups, both in terms of averages and variability, is tabulated and becomes the standard against which the performance of other individuals who take the test after it is standardized will be gauged.“ Zur Umbenennung der umstrittenen Bezeichnung „Normwert“ in den 1980er Jahren in „Referenzwert“ vgl. Büttner 1997. 27 Dies gilt für die zerebrale Kartographie insgesamt – insbesondere populäre schematische Darstellungen wie etwa Korbinian Brodmanns zytoarchitektonischer Atlas des menschlichen Gehirns von 1909 oder Wilder Penfields und Edwin Boldreys Anzeige motorischer und sensorischer Areale der Hirnrinde von 1937. 183
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Sinne der illustrativen Darstellung unterworfen. Sie muss folglich vor dem Hintergrund der Erstellung wissenschaftlicher Atlanten, die selbst Standards setzen, wie Gegenstände und Phänomene dargestellt und wahrgenommen werden (Daston/Galison 2007), insgesamt betrachtet werden. Zudem ist die Lesart von Visualisierung als Repräsentation zu hinterfragen. Der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger hat am Beispiel molekularbiologischer Forschung auf ein Bedeutungskontinuum hingewiesen, das das Verständnis der Repräsentation als Darstellung bzw. Vergegenwärtigung innerhalb der Wissenschaften umgibt (Rheinberger 1997a). Von Repräsentation als Stellvertretung könne man im Sinne eines hypothetischen Konstrukts, von Repräsentation als darstellende Verkörperung im Sinne eines Modells sprechen. Eine spezifische Form von wissenschaftlicher Repräsentation sieht Rheinberger ferner in der Repräsentation als dinglicher Realisierung wie etwa im Falle eines experimentell realisierten Sachverhalts oder „epistemischen Objekts“ (ebd., 266). Als Verfügbarmachung, als dingliche Realisierung, gehe Repräsentation in den Wissenschaften folglich nicht mehr konform mit dem Verständnis von Repräsentation als Abbild (ebd., 274). Die Realisierung ist hier nicht nur als Materialisierung zu verstehen, sondern bleibt zudem den spezifischen Bedingungen experimenteller Settings unterworfen: Im Falle der Visualisierung via bildgebender Verfahren betrifft dies neben der Datengenerierung und -manipulation (z. B. Schwellenwertbestimmung) natürlich insbesondere auch die Dateninterpretation (z. B. Farbkodierung, Kontextualisierung der generierten Daten). Technologisch kokonstruiert werden Mechanismen der Visualisierung zudem über die spezifischen Bedingungen experimenteller Designs im Allgemeinen. Bei den Objekten neurowissenschaftlicher Forschung und Praxis handelt es sich folglich um konzeptuell (gemessen an den zugrunde liegenden metatheoretischen Annahmen) ‚verkürzte‘ und technologisch vermittelte Gegenstandsbereiche28, die in Abhängigkeit zu den jeweiligen Verfahren, Technologien und Fragestellungen entstehen und durch ihre jeweiligen Herstellungsprozesse ‚überformt‘ werden. Die Produktionsbedingungen innerhalb experimenteller Räume haben den Soziologen Bruno Latour in den 1980er Jahren veranlasst, von so genannten Inskriptionsprozessen (Einschreibeprozesse) zu sprechen (Latour/Woolgar 1986; Latour 1990). Damit ist nicht zuletzt auf die Prägung wissenschaftlicher Wahrnehmung von Forschungsgegenständen einerseits und Körperkonzepten andererseits anhand apparativ geleiteter Beobachtungsverfahren angespielt (Breidbach 2005; Hagner 2006). 28 Zur experimentellen Verortung und Translokation von Gegenstandsbereichen in hybriden Forschungsfeldern wie der kognitiven Neurowissenschaft vgl. Huber 2008. 184
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Vor dem Hintergrund, dass die in wissenschaftlichen Kontexten erzeugten Bilder selbst essenziellen Anteil an der Strukturierung von Forschungs- und Praxisfeldern haben können (Borck 2001), sieht man sich mit der Frage konfrontiert, ob Bilder und insbesondere vermeintliche Visualisierungen von Krankheitsentitäten über kognitive Profile oder strukturell-funktionelle Typologien an sich einen epistemischen Mehrwert besitzen – und zwar im Vergleich zur bloß statischen Erhebung oder anderen wissenschaftlichen Methoden der Repräsentation. Die vermeintlich „neue“ Ästhetik des Bildes freilich ist schon deshalb nicht neu, weil sie an traditionelle Sehkonzepte der Kunst, zum Beispiel über die Farbkodierung, anschließt (Weigel 2004) oder aber Sehkonzepte vorangegangener wissenschaftlicher Strategien der Sichtbarmachung aufgreift (Kevles 1998; Orland 2002). Auch für die Verfahren des Neuroimaging gilt folglich, was Volker Hess am ästhetischen Mehrwert der Fieberkurve gezeigt hat: dass sie in der Lage sind, „eine außerhalb des ursprünglichen Herstellungsverfahrens liegende Bildtradition zu assoziieren“ (Hess 2002, 178). Dies erklärt die „visuelle Autorität“ der per Neuroimaging generierten Bildprodukte nachdrücklich (Burri 2008). Gleichfalls kann die Diskussion, die um die spezifische Qualität von farbkodierten „Bildern in Echtzeit“ im Vergleich zu statischen Repräsentationsformen oder kurvenbasierten Aufschreibetechniken wie dem EEG entbrannt ist, nicht darüber hinweg täuschen, dass auch die Bildprodukte des Neuroimaging trotz multidimensionaler Auflösung epistemisch flach bleiben. Die Rede von der epistemischen Flachheit oder Eindimensionalität meint dabei keine sensorische Dimensionalität, also die Tatsache, dass diese Modalitäten im Gegensatz etwa zur lebensweltlichen Erfahrung allein und vordringlich den Gesichtssinn ansprechen.29 Hiermit ist eine qualitative Eigenschaft angesprochen, die unmittelbar an die technologische Ko-Konstruktion von Bilden anschließt und für Strategien der Sichtbarmachung in Wissenschaften und Medizin insgesamt gültig ist. Der Anspruch der Visualisierung von Krankheitsentitäten wird auf der Basis bildgebener Verfahren des Neuroimaging aus epistemischer Sicht nicht eingeholt, sondern gemessen an den zugrunde gelegten Strategien der Operationalisierung, Standardisierung und Normalisierung ad absurdum geführt: Bildprodukte wie die PET-Scans des Alzheimer-Tests zeigen etwas, indem sie strukturell-funktionelle Typologien technologisch verfügbar machen. Weder ist damit epistemisch 29 Herausgefordert wäre diese weite Lesart epistemischer Flachheit nicht zuletzt durch die Tatsache, dass multidimensionale Modellierungen virtueller Welten auch neue (simulierte) Wirklichkeiten der sensorischen Erfahrung eröffnen können, und zum Teil, wie etwa in Gestalt des haptischen Feedbacks in der Chirurgie, bereits zur Anwendung kommen. 185
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geklärt, wie sich die strukturell-funktionelle Typologie zum indiviudellen Krankeitszustand verhält, noch, inwiefern das Visualisierte eine Referenz aufweist, die über die zugegeben komplexe technologische „Spur“30 hinauszureichen vermag.
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30 Zum epistemischen Status der „Spur“ vgl. insbesondere Rheinberger 2007 bzw. den Sammelband von Krämer et al. 2007. 186
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Rechtsformanalyse jenseits der Befehlstheorie. Eine Alternative zur reduktionistischen Konze ption v on ‚juridisc h-disk ursiver‘ Macht INGO ELBE
Michel Foucaults Kritik der Repressionshypothese bzw. der juridischdiskursiven Machtkonzeption ist inzwischen ein klassischer Topos des akademischen Mainstreams. Foucault versteht unter der Repressionshypothese eine spezifische Auffassung der Wirkungsweise von Macht, in der diese auf den zentralistischen Gewaltapparat und dessen ‚VerbotsRegime‘ reduziert wird, das den Beherrschten äußerlich als beschränkende und Ohnmacht generierende Instanz gegenübersteht.1 Er betont gegen diese zentralistische und negative Machtkonzeption die Produktivität der Macht, d. h. die Tatsache, dass Herrschaft auch Unterwerfung in Form von Selbsttätigkeit generiert. Zudem seien die Praktiken, die dies bewirken, dezentral und im Alltag der Akteure verortet. Unterhalb der Unterwerfung durch Zwangsnormen identifiziert Foucault Techniken der Macht, die eine Produktion gehorsamer Handlungsfähigkeit durch Kontrolle individueller Körper (Disziplin), des ‚Gattungs‘- bzw.
1
Es handelt sich um „eine Macht, deren Mächtigkeit sich darin erschöpfte, nein zu sagen, außerstande etwas zu produzieren, nur fähig Grenzen zu ziehen, wesenhaft Anti-Energie […], eine Macht, deren Modell wesentlich juridisch ist, einzig und allein auf die Verkündung des Gesetzes und das Funktionieren des Verbotes ausgerichtet“ (Foucault 1983, 106). 193
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‚Volkskörpers‘ (Biomacht) sowie der öffentlichen Meinung und Reichtumsproduktion (Regierung) bewirken.2 Während es Foucaults Verdienst ist, die Konstitution der Individuen zu Subjekten in nichtjuridischen Machttechniken analysiert zu haben, also die Konstitution des Subjekts, das dann als Rechtsperson konstituiert wird, so verfehlt sein Ansatz doch die spezifischen Gehalte einer juridischen Machtstruktur, die nicht auf den zentralgewaltgestützten Befehl zu reduzieren sind (vgl. Lindner 2008). D. h., Foucault teilt mit der von ihm kritisierten Repressionshypothese die Befehlstheorie des Rechts, der zufolge Rechtsnormen Befehle einer überlegenen Macht darstellen, die für die Missachtung ihrer Befehle negative Sanktionen androht (vgl. Austin 2005). Er kann daher die Verknüpfungen von Recht und Herrschaft nicht analysieren, weil er Recht auf einen bestimmten Typus von Herrschaft reduziert. Die Befehlstheorie verfehlt aber die Spezifik des Rechts vollends3: 1) Der Topos der Zwangsandrohung bei Rechtsübertretung lässt eine Unterscheidung rechtlicher von moralischen Sanktionen oder gar blanker Gewalt nicht mehr zu. Die Rede von juridischer Macht ist damit sinnlos. 2) Der rechtseigentümliche Formzwang, der bei Nichteinhaltung der Verfahrensvorschriften Nichtigkeit des Rechtsakts statt Strafe hervorruft, wird nicht berücksichtigt. 3) Die Zwangsbefugnis wird nicht thematisiert, damit wird unklar, wem man im Falle konkurrierender Zwangsandrohungen gleichstarker Instanzen überhaupt gehorchen soll. 4) Die These vom Recht als zwangsbewährtes Müssen ignoriert nicht nur den Aspekt des autorisierten Sollens, sondern auch den entscheidenden Aspekt der Bindung der Rechtsform an das ‚freie‘ Wollen der Rechtssubjekte und der Rechtsgeltung an ein überpositives (freilich nicht naturrechtliches!) inhaltliches Kriterium – die wechselseitige Versicherung der Privatautonomie von Warenbesitzern (vgl. Tuschling 1976, 78f., 94f.). Demzufolge kann eben nicht „jeder beliebige Inhalt Recht sein“ (Kelsen 2005, 30), wie es der Rechtspositivismus behauptet.
Eugen Paschukanis’ Versuch einer Rechtsformanalyse Im Folgenden soll nun ein alternativer Ansatz skizziert werden, der einen keineswegs auf staatliche Zentralgewalt allein beschränkten Rechts-
2 3
Vgl. den instruktiven Überblick bei Buckel 2007, 165-210. Zur Kritik der Befehlstheorie vgl. Höffe 2002, Kap. 6.
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begriff formuliert und dennoch dessen Verknüpfung mit ökonomischer und politischer Herrschaft erkennen lässt. Dieser Ansatz wurde zuerst von Eugen Paschukanis, einem Vertreter der frühen sowjetischen Rechtstheorie, formuliert. In seinem zuerst 1924 veröffentlichten Werk Allgemeine Rechtslehre und Marxismus beansprucht Paschukanis, den paradigmatischen Bruch des marxschen praktischkritischen oder gesellschaftstheoretischen Materialismus mit fetischistischen Deutungsmustern auf rechtstheoretischem Gebiet herauszuarbeiten. Analog zur Differenz zwischen politischer Ökonomie und Kritik derselben lasse sich zeigen, dass Marx, im Gegensatz zur Rechts- bzw. politischen Philosophie, die Phänomene Recht und Staat selbst zum Gegenstand einer ‚kritisch-genetischen‘ Wissenschaft gemacht habe, sie als gesellschaftliche Verhältnisse unter bestimmten Bedingungen dechiffriere, statt sie zu enthistorisieren: Gehe es jenem um die Klärung der Frage, „kraft welcher Ursachen sich der Mensch als zoologisches Individuum in ein juristisches Subjekt verwandelt“, so gehe diese „vom Rechtsverkehr als von einer fertigen, von vornherein gegebenen Form aus“ (Paschukanis 1969, 89). Im ahistorischen kategorialen Rahmen der bürgerlichen Ansätze könne sich Rechtskritik zudem nur als Konfrontation positiven Rechts mit dem (in der Vernunft oder Natur fundierten) Rechtsbegriff vollziehen. Der Rechtsbegriff selbst sei dort kein Objekt der Rechtskritik. Rechts- und politische Philosophie sind also, Paschukanis zufolge, als Theorien sozialer Verhältnisse in bestimmten Formen dem historischen Materialismus als Theorie dieser Formen als (historisch-spezifischer) Formen selbst radikal entgegengesetzt. Der Untertitel von Paschukanis’ Werk, „Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe“, ist bewusst an den des Kapitals von Marx angelehnt. Kritik bedeutet für ihn Dechiffrierung und Kontextualisierung der rechtlichen Form, die juristischen „Kategorien analysierend, ihre wirkliche Bedeutung dartun, d. h. […], die historische Bedingtheit der Rechtsform aufdecken“ (ebd., 37). Paschukanis will sich aber nicht mit der Dechiffrierung des Rechts als historisch-spezifischer Vergesellschaftungsweise zufrieden geben. Wie Marx intendiert er zugleich die Beantwortung der Frage, wie diese Form ihre Verkennung als Form, ihre Deutung als allgemein-menschlich und natürlich, selbst spontan hervorbringt. Doch auch das traditionsmarxistisch-rechtssoziologische Paradigma verfällt Paschukanis’ Kritik. So wendet er explizit gegen Stutschkas Rechtsdefinition ein, diese „deck[e] zwar den in den juristischen Formen beschlossenen Klasseninhalt auf, erklär[e] […] aber nicht, warum dieser Inhalt eine solche Form annimmt“ (ebd., 59). Im bisherigen marxisti-
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schen Rechtsdenken bleibt also „die rechtliche Regelung selbst […] als Norm unanalysiert“ (ebd., 26). Aber nicht nur methodisch, auch inhaltlich knüpft Paschukanis an die Kritik der politischen Ökonomie an. Er versteht seine Darlegungen als Rekonstruktion der marxschen Thesen über den Zusammenhang von Warenform und Rechtsform (vgl. ebd., 10). Ausgangspunkt seiner Bestimmung des Rechtsbegriffes ist weder, wie z. B. bei Hans Kelsen, der „Begriff der Norm als äußeren autoritativen Gebots“ (ebd., 72), noch, wie bei Petr Stutschka, der Begriff des gesellschaftlichen Verhältnisses überhaupt.4 Auch die isolierte Charakterisierung als Willensverhältnis reicht ihm zur Erfassung des Rechts nicht aus.5 Erst unter historischspezifischen Vergesellschaftungsbedingungen der Arbeit nehmen gesellschaftliche Verhältnisse rechtlichen Charakter an, so Paschukanis (vgl. Paschukanis 1969, 53). Die Willensverhältnisse der Akteure erhielten eine juristische Form nur unter der Bedingung des Austauschs von Waren. So werde nicht das (Klassen-)Verhältnis zwischen Sklavenhalter und Sklave, sondern erst das zwischen Kapitalist und doppelt freiem Lohnarbeiter in der rechtlichen Form des Vertrags geregelt (vgl. ebd., 88). Der gesellschaftliche Zusammenhang stelle sich unter privat-arbeitsteiligen Produktionsverhältnissen zugleich im Wert (der ‚Werteigenschaft‘ der Produkte) und im Recht (der ‚Subjekteigenschaft‘ der Individuen) dar, der ‚ungeheuren Warensammlung‘, als welche der Reichtum im Kapitalismus erscheine, entspreche eine „unendliche Kette von Rechtsverhältnissen“ (ebd., 60). Dieses Prinzip der Rechtssubjektivität, der freien, gleichen und zurechnungsfähigen Persönlichkeit (vgl. ebd., 11f.), sei kein bloßes ideologisches Betrugsmanöver der Bourgeoisie, als welches es bei Lenin meist erscheint (vgl. Lenin 1963, 478), sondern reales Prinzip der Verrechtlichung menschlicher Beziehungen in der auf universalisiertem Warentausch beruhenden kapitalistischen Produktionsweise (vgl. Paschukanis 1969, 12). Deren ökonomische Verhältnisse stellten sich unter dem Aspekt der Übereinstimmung der Willen, der wechselseitigen Anerkennung als Freie und Gleiche dar, die nötig sei, um ihre Produkte als Waren auszutauschen (und nicht etwa als Güter 4
5
Vgl. ebd., 58. Recht wird von Stutschka begriffen als „System […] gesellschaftlicher Verhältnisse, das den Interessen der herrschenden Klasse entspricht und von ihrer organisierten Gewalt aufrechterhalten wird“ (Stutschka 1969, 65). Vgl. Paschukanis 1969, 57. Dieser Ausgang der Rechtsbestimmung von Willen schlechthin findet sich z. B. bei Hegel 1989, 46: „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt ist der Wille.“
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bloß gewaltsam anzueignen), also als Rechtsverhältnisse.6 Wie in solchen Ware-Geld-Beziehungen faktisch vom Gebrauchswert der Waren abstrahiert werde, trete in ihnen an die Stelle des konkreten Individuums mit seinen mannigfaltigen Eigenschaften die „Abstraktion des Menschen überhaupt“ (ebd., 91), das Rechtssubjekt als „Wertform des Menschen“ (Bruhn 1994, 96). Das Recht nehme auf dieser Grundlage seine spezifische abstraktallgemeine Form der universellen Anwendbarkeit und Geltung ohne Ansehen der (konkreten) Person an (vgl. Paschukanis 1969, 100). In der zivilrechtlich fundierten Rechtsauffassung von Paschukanis fallen damit die Form Recht und die bürgerliche Rechtsform zusammen: Nur der Kapitalismus bringe „die am höchsten entwickelte, allseitigste und vollendetste rechtliche Vermittlung“ (ebd., 16) hervor. Nur „unentwickelte und rudimentäre Formen“ (ebd.) derselben seien in vorkapitalistischen Produktionsweisen zu finden. Im Feudalismus beispielsweise „wird jedes Recht nur als Zubehör eines gegebenen konkreten Subjekts oder einer begrenzten Gruppe von Subjekten gedacht“ (ebd., 98). Es existiere kein Recht im modernen Sinne, sondern nur ein ‚Vorrecht‘, ein Privileg, das Mitgliedern einer ständischen oder Verwandtschafts-Gruppe gegenüber denen anderer Gruppen zuteil werde. Hier gebe es nur Stadtbürger, Leibeigene, Belehnte, Grundherren usw., nicht ‚den Staatsbürger‘ oder gar ‚den Menschen‘ als Träger von Freiheiten und Adressaten von Pflichten.7 Das Rechtsverhältnis bringe nun aber, wie das Tauschverhältnis, zugleich seine eigene Verkennung hervor. Die Notwendigkeit, mit der der Mensch im Kapitalismus zum Rechtssubjekt werde, könne der bereits im Warenfetischismus befangenen Vorstellung nur als Naturnotwendigkeit erscheinen (vgl. Paschukanis 1969, 41). „Von diesem Standpunkte aus ist es dem Menschen als beseeltem und mit einem vernünftigen Willen ausgestatteten Wesen eigen, Rechtssubjekt zu sein.“ (Ebd., 95) Das gesellschaftliche Phänomen der „Herrschaftssphäre, die die Form des subjektiven Rechts angenommen hat“ (ebd., 96), also Privatautonomie, exklusive Verfügung über Gegenstände als Eigentum und Gleichheit der Akteure, erscheine als Eigenschaft der Individuen als (‚zoologischer‘) Individuen, wie der Wert als Sacheigenschaft der Waren erscheine, womit der „Warenfetischismus […] durch den Rechtsfeti6 7
Vgl. ebd., 132: „Damit sich menschliche Arbeitsprodukte zueinander verhalten können wie Werte, müssen sich Menschen zueinander verhalten wie unabhängige und gleiche Persönlichkeiten.“ Vgl. ebd., 98f.; vgl. Kittsteiner 1980, 199: „‚Recht‘ ist im Feudalismus […] nicht das Recht einer formalen Gleichheit vor dem Gesetz, sondern Recht ist ein konkretes Anrecht auf etwas, auf ein Privileg, einen Vorrang, eine Revenue, eine Nutzung.“ 197
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schismus ergänzt“ (ebd., 60) werde. Von dieser fehlenden Reflexion auf die historische Spezifität warengesellschaftlicher Fundiertheit des Menschen als Verträge schließendes, privatautonomes Willenssubjekt schließt Paschukanis auf eine „allen bürgerlichen Rechtstheorien bewusst oder unbewusst […] [zugrundeliegende] naturrechtliche Doktrin.“8 Er intendiert dagegen eine Ideologiekritik der Rechtsvorstellungen durch Vermittlung der klassischen Rechtskategorien mit der Totalität warenförmiger Vergesellschaftung. Diese Kritik impliziert nicht nur den Versuch einer Historisierung der Rechtsform, sondern auch eine Reflexion auf den Zusammenhang derselben mit gesellschaftlicher Unfreiheit. Bereits auf der begrifflichen Ebene der einfachen Zirkulation sei die Konstituierung des Individuums zum Rechtssubjekt durch die eigentümliche Dialektik privatautonomer Freiheit gekennzeichnet: Der Herrschaft des Menschen über die Sache, dem privatautonomen Eigentumsverhältnis, liege die Herrschaft der Ware über den Menschen zugrunde: „Nachdem er in eine sklavische Abhängigkeit von den hinter seinem Rücken in der Gestalt des Wertgesetzes entstehenden ökonomischen Verhältnissen geraten ist, erhält das wirtschaftende Subjekt, sozusagen als Entschädigung, nunmehr als juristisches Subjekt eine seltene Gabe: den juristisch unterstellten Willen, der ihn unter den anderen Warenbesitzern […] frei und gleich macht.“ (Paschukanis 1969, 92)
Dieses Ineinander von Freiheit und Unfreiheit werde nun perpetuiert und durch das von Gleichheit und Ungleichheit erweitert, wenn staatlich regulierte Klassenverhältnisse in die Betrachtung einbezogen werden. Auch auf staatstheoretischem Gebiet formuliert Paschukanis als erster Marxist, gegen die auf den bloßen Klasseninhalt des (bürgerlichen) Staates abzielenden, instrumentalistischen Positionen Lenins, die Grundfrage einer Formanalyse des Staates: „[…] warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“ (Ebd., 120) Nach Marx mache der Widerspruch zwischen Eigen- und Allgemeininteresse im Prozess der Wertvergesellschaftung eine besondere Instanz notwendig, die das gemeinsame Interesse der Tauschenden repräsentiere und eventuell auch gewaltsam durchsetze. Ausgehend vom Warentausch lässt sich auch Paschukanis zufolge auf die Notwendigkeit einer außerökonomischen, 8
Ebd., 42. Diese sich auf die Verdinglichung des subjektiven Rechts beziehende Fetischismus-Diagnose kann allerdings den Ansatz Hans Kelsens nur bedingt treffen. Vgl. dazu Harms 2000, 88f., 171.
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Recht setzenden/fixierenden (legislative Funktion) und garantierenden (exekutive Funktion) Zwangsgewalt schließen. Er konstatiert, dass „von zwei Tauschern auf dem Markte keiner das Tauschverhältnis eigenmächtig regeln kann, sondern dass hierfür eine dritte Partei erforderlich ist, die die von den Warenbesitzern als Eigentümer einander gegenseitig zu gewährende Garantie verkörpert und dementsprechend die Regeln des Verkehrs zwischen den Warenbesitzern personifiziert“ (ebd., 130). Außerökonomisch sei die Gewalt, weil der Zwang, den sie auf die Rechtssubjekte ausübt, außerhalb der sachlichen Zwänge der Zirkulation (wechselseitige Abhängigkeit der Akteure in arbeitsteiliger Privatproduktion, objektive Reduktion von individuell-konkreter Arbeit auf das gesellschaftliche Durchschnittsmaß abstrakter Arbeit, Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft usw.) situiert sei und sein müsse, damit von Zirkulation noch die Rede sein könne. Denn der „Tauschwert hört auf, Tauschwert zu sein, die Ware hört auf Ware zu sein, wenn die Tauschproportionen von einer außerhalb der immanenten Gesetze des Marktes stehenden Autorität bestimmt werden.“9 Die Aneignung dürfe also nicht selbst gewaltvermittelt verlaufen, die Gewalt müsse sich jenseits des Verfügungsbereichs der einzelnen Warenhüter in einer gesonderten Instanz monopolisieren und die Gewaltsubstitution in der Ökonomie notfalls gewaltsam erzwingen. Die generelle Norm, das allgemeine Gesetz (im Gegensatz zum Privileg im Feudalismus), fungiere dabei als staatliches, den anonymen faktischen Rechtsverhältnissen der Zirkulationssphäre, in der sich die Individuen nur als Repräsentanten gleichwertiger Waren aufeinander beziehen, adäquates Formprinzip: Staatliche Maßnahmen und Regeln müssen eine abstrakt-allgemeine Form annehmen, Gesetze ohne Ansehen der Person gelten.10 Erst eine solche, durch Enteignung personalen Herrschaftsbesitzes (vgl. Gerstenberger 1990, 525f.) gekennzeichnete, mittels abstrakt-allgemeiner Normen sich vollziehende Staatsmacht könne ‚öffentliche Gewalt‘ genannt werden, „d. h. eine[…] Gewalt, die keinem im besonderen gehört, über allen steht und sich an alle richtet“ (Paschukanis 1969, 126). Der konsequent öffentliche Charakter der Staatsgewalt – und damit die vollständige Diremtion von Politik und Ökonomie – ist daher aber auch an ein allgemeines Wahlrecht gebunden.11 9 Ebd., 123; vgl. auch Blanke et al. 1975, 479 (Anm. 13). 10 Vgl. Paschukanis 1969, 97, 124 u. a.; vgl. auch Blanke et al. 1975, 421. 11 Vgl. auch Marx in seiner Schrift Zur Judenfrage (MEW 1, 353): „Der Zensus ist die letzte politische Form, das Privateigentum anzuerkennen. Dennoch ist mit der politischen Annullation des Privateigentums das Privateigentum nicht nur nicht aufgehoben, sondern sogar vorausgesetzt. Der Staat hebt den Unterschied der Geburt, des Standes, der Bildung, der 199
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So wie Freiheit und Gleichheit (das Prinzip der Rechtssubjektivität) in der einfachen Zirkulation reale Bestimmungen menschlichen Handelns darstellten, garantiere auch der Rechtsstaat12 tatsächlich „im Interesse aller am Rechtsverkehr Beteiligten“ mittels „einer objektiven unparteiischen Norm“ (Paschukanis 1969, 124) die faktischen Anerkennungsverhältnisse der Warenbesitzer. Das moderne Klassenverhältnis impliziere diese rechtsstaatliche Form notwendig: „Insoweit das Ausbeutungsverhältnis formell als Verhältnis zwischen zwei ‚unabhängigen‘ und ‚gleichen‘ Warenbesitzern verwirklicht wird […], kann die politische Klassengewalt die Form einer öffentlichen Gewalt annehmen.“ (Ebd., 121) Da sich die einfache Zirkulation als abstrakte Sphäre der kapitalistischen Produktionsverhältnisse entpuppe, Rechtsgleichheit und ‚freier Wille‘, die spezifische Handlungsfreiheit der Vertragsschließenden, sich als Vollzugsform von Ausbeutung und strukturellen Zwängen erwiesen, lasse sich leicht einsehen, wie die staatliche Garantie der faktischen Rechtsverhältnisse der einfachen Zirkulation zugleich eine Garantie der Reproduktion der kapitalistischen Produktionsbedingung schlechthin, des Klassenverhältnisses an der Arbeit, darstelle. Der Klassencharakter des bürgerlichen Staates erweise sich also prinzipiell nicht zuerst an der gewaltvermittelten Repression der Arbeiter und ihrer Organisationen oder an der Einflussnahme von Kapitalisten und ihren Verbänden auf die Politikformulierung, sondern an der Garantie des Privateigentums, der Sicherung der Rechtsgleichheit und Wahlfreiheit aller Individuen, der Verhinderung physischer Gewalt im Tauschakt. Der „bürgerliche Staat kann gerade als eine ‚neutrale‘ Anstalt ein bestimmtes Klassen- und Herrschaftsverhältnis sichern“ (Heinrich 1999, 266). Trotz dieser Hervorhebung der Form und Funktion bürgerlicher Staatsgewalt äußert Paschukanis fundamentale Bedenken gegen eine Repressionstheorie des Rechts, die den Aspekt der äußeren Zwangsnorm als dessen Grundzug unterstellt. Paschukanis behauptet dagegen ein Primat der Rechtsverhältnisse bzw. implizit im Alltagsleben praktizierten Rechtsnorm vor der als Staatsgesetz kodifizierten, mit Zwangsandrohung versehenen Rechtsordnung. Ein formelles Gesetz bzw. die Rechtsnorm als Beschäftigung in seiner Weise auf, wenn er Geburt, Stand, Bildung, Beschäftigung für unpolitische Unterschiede erklärt, wenn er ohne Rücksicht auf diese Unterschiede jedes Glied des Volkes zum gleichmäßigen Teilnehmer der Volkssouveränität ausruft“. Vgl. auch MEW 1, 326: „In der unbeschränkten sowohl aktiven als passiven Wahl hat die bürgerliche Gesellschaft sich erst wirklich zu der Abstraktion von sich selbst, zu dem politischen Dasein als ihrem wahren allgemeinen wesentlichen Dasein erhoben.“ 12 ‚Rechtsstaat‘ bedeutet hier keinesfalls ‚parlamentarische Demokratie‘. Diese ist aus der Warenform nicht ableitbar. 200
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ausdifferenzierte, reflexiv organisierte Ordnung ist demnach noch lange kein wirkliches Recht: „Haben sich gewisse Verhältnisse tatsächlich gebildet, so heißt das, dass ein entsprechendes Recht entstanden ist; ist aber nur ein Gesetz oder Dekret erlassen worden, aber kein entsprechendes Verhältnis in der Praxis entstanden, so ist wohl ein Versuch zur Schaffung eines Rechts gemacht worden, aber ohne Erfolg“ (Paschukanis 1969, 63). Im Verhältnis von objektivem („äußere[…] autoritäre[…] Regelung“) und subjektivem Recht („private[…] Autonomie“) (ebd., 73) gebühre letzterem der Vorrang, da es im, von der staatlichen Regulation unabhängigen, „materiellen Interesse“ (ebd., 75) gründe. Die rechtliche Verpflichtung unterscheide sich zwar von der moralischen dadurch, dass sie als äußere Forderung an das Subjekt herantrete, diese stelle aber zuerst eine „von einem konkreten Subjekt, das zugleich […] auch Träger eines entsprechenden materiellen Interesses ist, ausgehende Forderung“13 dar. Die „Idee der unbedingten Unterwerfung unter eine äußere normsetzende Autorität“ (ebd., 78) ist Paschukanis zufolge dem Begriff der Rechtsform zunächst äußerlich. Der rechtliche Charakter von Normen werde einzig durch ihren Bezug auf privat-isolierte Akteure hergestellt, die sich nur indirekt, über gesellschaftliche Sachen (Waren) aufeinander beziehen und dabei ausschließlich ihren eigenen Bedürfnissen folgen (vgl. ebd., 77). Je weiter sich ein soziales Verhältnis von diesen Bestimmungen entferne, desto weniger könne ihm ein Rechtscharakter zugebilligt werden: Sei z. B. das Verhältnis zwischen Arbeiter und Kapitalist ein nur vertraglich herzustellendes zwischen privatautonomen Warenbesitzern, so könne das durch eine Zwangsnorm geregelte Verhältnis zwischen Sklavenhalter und Sklave kaum als Rechtsverhältnis bezeichnet werden. Hier hätten wir es nicht mit der wechselseitigen, freiwilligen Anerkennung, sondern der gewaltvermittelten Unterordnung eines Willens unter einen anderen zu tun. Ja, der Sklave gelte seinem Herrn als Werkzeug seiner Willkür, als „belebtes Besitztum“ (Aristoteles 1989, 1254a). Je konsequenter also „das Prinzip der autoritären, jeden Hinweis auf einen gesonderten autonomen Willen ausschließenden Regelung durchgeführt ist, desto weniger Boden [bleibt] für die Anwendung der Kategorie des Rechts“ (Paschukanis 1969, 78). Unklar bleibt, welchen darstellungsstrategischen Status Paschukanis’ Äußerungen über ein ‚vorstaatliches‘ Recht haben. Man kann ihm diesen Mangel an metatheoretischer Reflexion unter dem Gesichtspunk historischer Fairness zwar nicht vorwerfen, doch bleibt damit die Frage offen, wie eine Darstellung
13 Ebd., 145. Von daher stellt sich ihm auch das Privatrecht als „Prototyp der Rechtsform überhaupt“ dar (ebd.). 201
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des Rechts aussehen mag, die sich analog zur dialektischen Darstellung von Reichtumsformen positioniert.14 Paschukanis zufolge offenbart sich nun eine grundlegende Differenz zwischen Recht und technischer Regel. Bestehe ersteres in der Übereinstimmung der ‚autonomen‘ Willen von privat-isolierten Warensubjekten, so unterstelle letztere eine vorab koordinierte Einheit des Zwecks oder die (repressive) Unterordnung unter einen einzigen Willen (Paschukanis 1969, 55f., 78). Die technische Regel diene in Form der Anweisung oder Anleitung der Verwirklichung einer Zwecksetzung ohne Berücksichtigung eines anderen Willens. Sie beziehe sich entweder manipulativ auf andere Akteure oder auf Sachen bzw. gegenständliche Prozesse. Sie sei „kein Gesetz im formellen Sinne. Paschukanis begreift sie vielmehr als Wissen um Gesetzmäßigkeiten, die sich aus der Struktur technischer und sozialer Institutionen ergeben, und dessen Transformation zu Zweck-Mittel-Empfehlungen.“ (Harms 2000, 146)
14 Lars Meyer versucht die Problematik Paschukanis’, den Rechtsbegriff vorstaatlich zu bestimmen, zugleich aber die Garantie des Rechts durch staatliche Zwangsgewalt einbeziehen zu müssen, durch eine Parallelisierung mit der begrifflichen Entfaltung einfacher zu komplexen, unselbständiger zu selbständigen Formen des Werts in der dialektischen Darstellung kapitalistischer Reichtumsformen anzugehen. Damit wird eine objekttheoretische Lücke gefüllt, die bei Paschukanis aus einer methodologischen Unklarheit über den Charakter dialektischer Darstellung von Reichtumsund Rechtsformen resultierte. Hier wie dort müsste dann der Begriff des Anfangs als Einfachem im Sinne eines Unterbestimmten und auf seine notwendigen Voraussetzungen hin zu Befragenden konzeptualisiert werden. Das „Prinzip des Rechts“ (Meyer 2004, 340) wird von Meyer analog zu Marx und Paschukanis als im Austausch gesetztes privatautonomes Willensverhältnis begriffen. Dieses gemeinsame Willensverhältnis nimmt die ‚faktische‘ Rechtsform des Vertrages an, als Bindung der besonderen Willen. Dieser Begriff des abstrakten Rechts kann aber aufgrund der besonderen Interessenkonstellation der privatautonomen Produktionseinheiten die Forderung der allgemeinen Geltung nicht einlösen. Das Rechtsprinzip kann hier zwar „ohne Kodifizierung formuliert werden, existiert damit jedoch notwendig bloß verschwindend“ (356), wie der Wert jenseits der Geldform und Kapitalform nur verschwindend existiert. Daher ist die dem Rechtsprinzip angemessene Form, die der „Wirklichkeit der Allgemeinheit des Begriffs“ (342) entspricht, nur durch gesetzliche Kodifizierung und staatliche Zwangsandrohung gegeben. Erst in der staatlichen generellen Norm des Gesetzes entspricht damit die Rechtsform dem Rechtsbegriff: „Unter welchen Bedingungen ist es möglich, daß Verträge dauerhaft gehalten werden, daß also der identische Wille wirklich gilt? Analog dem Problem der Wertabstraktion und deren Vereinheitlichung in der Preisform existiert das Problem der Rechtsabstraktion und deren Vereinheitlichung in der Rechtsform“ (342). Zur Wirklichkeit des Rechts kommt es „in den Akten der Kodifizierung“ (343). 202
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Auch der Sozialismus zeichnet sich nach Paschukanis durch das Absterben von Recht und Staat zugunsten der technischen Regelung von Produktionsprozessen gemäß einem einheitlichen sozial definierten Ziel aus. Grundlage dafür ist die Aufhebung antagonistischer ökonomischer Interessen und der selbstzweckhaften Kapitalverwertung (Paschukanis 1969, u. a. 34, 111f.). In der sozialistischen Übergangsepoche existiert allerdings noch die rechtliche Form der Koordination gesellschaftlicher Produktionsprozesse.15 Eine Charakterisierung dieser Rechtsverhältnisse als ‚proletarische‘ oder genuin sozialistische lehnt Paschukanis jedoch kategorisch ab. Gemäß seiner radikalen Rechtsformkritik und Identifizierung von Recht mit bürgerlichem Recht konstatiert er gegen einen adjektivischen Sozialismus, der mittels einer positiven proletarischen Rechtslehre naturalisierte soziale Formen alternativ in Dienst nehmen will, dass das „Absterben gewisser Kategorien […] des bürgerlichen Rechts […] keineswegs ihre Ersetzung durch neue Kategorien des proletarischen Rechts [bedeutet], genau so wie das Absterben der Kategorien des Wertes, Kapitals, Profits usw. bei dem Übergang zum entfalteten Sozialismus nicht das Auftauchen neuer proletarischer Kategorien des Werts, Kapitals usw. bedeuten wird.“ (Ebd., 33)
Zur Kritik an Paschukanis Im Folgenden soll ein kursorischer Blick auf zwei charakteristische Kritikpunkte an Paschukanis’ Rechtsbegriff geworfen werden.16 1) Der Vorwurf einer ‚Reduktion des Rechtsbegriffs‘: Der sozialdemokratische Rechtstheoretiker Gustav Radbruch würdigt zunächst Paschukanis’ Bestreben, entgegen den traditionsmarxistischen Versuchen, „den Rechtsinhalt auf das Interesse der herrschenden Klassen oder den Rechtszwang auf bestehende Machtverhältnisse zurückzuführen“, die „ökonomisch-soziale Bedingtheit der Rechtsform selber“ (Radbruch 1930, 617-619) auszuweisen. Auch der Entwicklung des Prinzips der Rechtssubjektivität aus dem Warentausch folgt Radbruch zunächst weitgehend (vgl. ebd., 618). Dennoch zeichne sich Paschukanis’ Ansatz 15 Paschukanis folgt in deren Begründung Marx’ Kritik des Gothaer Programms. Vgl. Paschukanis 1969, 34-36. 16 Dabei kann nicht ansatzweise das gesamte Spektrum der Kritiken an Paschukanis’ Werk berücksichtigt werden. Dennoch kreist eine Reihe von Stellungnahmen, wenn auch vor dem Hintergrund verschiedenster Rechtskonzeptionen, um die hier skizzierten Kritikpunkte ‚Rechtsnihilismus‘, ‚zivilrechtlicher Reduktionismus‘ und ‚Zirkulationismus‘. Eine Übersicht über die Paschukanis-Rezeption bietet Harms 2000. 203
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durch eine folgenschwere Reduktion des Rechtsbegriffs auf das individualistische Privatrecht der bürgerlichen Epoche aus: Recht entsteht nach Radbruch grundlegend qua Erfassung „aus der ökonomischen Sphäre emporsteigende[r]“ Interessen durch die universalhistorische „Kulturform der Allgemeinheit und Gleichheit“ (Radbruch 1929, 77). Diese Transformation bewirke zugleich eine sich verselbständigende Eigendynamik des Rechts, das damit zum relativ autonomen Machtfaktor und Gestaltungsinstrument gesellschaftlicher Verhältnisse werde, schließlich durch seine Mediatisierung von Interesse und Gewalt in der (abstrakt-)allgemeinen Form als Stützpunkt und Schutzfunktion gerade für die Subalternen wirken könne (vgl. ebd., 76f.). Werde eine partikulare Forderung der Herrschenden in Form eines Rechtsanspruchs formuliert, könne dessen universelle Form zugleich von den Beherrschten gegen den partikularen Inhalt in Anschlag gebracht werden. Diese könnten damit ein rationales Interesse an der Verwirklichung eines von jenen gesetzten Rechts haben, womit dem Klassenkampf eine juristische Form gegeben werde. Die politischen Vertreter der Bourgeoisie unterlägen sogar einer List der juristischen Vernunft, denn „wer sich im eigenen Interesse auf eine [Rechts-]Idee berufen hat, [ist] genötigt […], sie zu verwirklichen, auch wenn sie aufhört, ihm zu dienen“ (ebd., 77).17 Obwohl Radbruch Recht als Einheit verschiedenster Elemente begreift, die zueinander in einem widersprüchlichen Verhältnis stehen (generalisierende Gerechtigkeit vs. individualisierende Zweckmäßigkeit; Relativismus der Zwecksetzung vs. universelle Geltung der Norm; positive Setzung mittels Willkür und Macht vs. überpositive Gleichheitsidee) (vgl. Radbruch 1993b, 462-465), gilt ihm der unableitbare, „absolute[…] Wert“ (ebd., 461) der Gerechtigkeit als Gleichheit als „artbestimmende Idee des Rechts“, denn „Recht ist nur, was der Gerechtigkeit zu dienen wenigstens bezweckt“ (ebd., 462).18 Gerechtigkeit fungiere als formbestimmendes Element, als alleiniges Abgrenzungskriterium zwischen Recht und Nicht-/Unrecht, während über den Charakter der Rechtsinhalte Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit mitentscheiden sollen (vgl. Radbruch 1993b, 465). Im Gegensatz zu Paschukanis versteht Radbruch die Rechtsform als überhistorische, transzendentale Rechtsidee (vgl. 1993a, 453). Paschu17 Es ist allerdings bereits jetzt darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmungen ausschließlich für bürgerliches, abstrakt-allgemeines Recht gelten und von Radbruchs späterer Ausweitung des Rechtsbegriffs konterkariert werden, ohne dass er diese generalisierenden Äußerungen zurücknähme. 18 Vgl. auch die bei Harms 2000, 73, Fn. 345, zitierte ‚Radbruch’sche Formel‘: „‚[…] wo die Gleichheit […] bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.‘“ 204
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kanis gelinge es nur, die historische Formung der Rechtsidee in der ‚liberalkapitalistischen‘ Epoche zu erfassen. Er glaube aber, damit die Rechtsform als solche soziologisch abgeleitet zu haben, was ein Irrtum sei. Paschukanis’ zivilrechtlicher Reduktionismus blendet demzufolge das Phänomen des öffentlichen Rechts aus, sein ‚Rechtsnihilismus‘ behaupte mit dem Untergang der abstrakt-allgemeinen Rechtsform des „individualistischen Zeitalters“ (ebd., 455) zu Unrecht ein Absterben der Rechtsform überhaupt (vgl. Radbruch 1930, 619). Das individualistische Recht entspreche der ‚liberalen Phase‘ des Kapitalismus, manifestiere sich im Zivilrecht und repräsentiere den ‚bürgerlichen Rechtshorizont‘. Vorherrschend sei darin die Vorstellung des Privateigentums als Naturrecht und das reale Prinzip der exklusiven Verfügungsgewalt, der Abtrennung des Einzelnen von der Gesellschaft. Das Individuum als unterschiedsloser, egoistischer, isolierter Eigentümer gelte als Objekt rechtlicher Regelungen wie als Subjekt von Rechtsansprüchen. Das Rechtsverhältnis nehme die abstrakt-allgemeine Form der Geltung ohne Ansehen der Person an und abstrahiere von weiteren sozialen Bestimmungen als der des Wareneigners, damit auch von sozialer Ungleichheit (vgl. Radbruch 1993a, 445; 1993d, 486f.). Es herrsche das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit (vgl. Radbruch 1993b, 462). Paschukanis blende nun aber die Rechtsform des „soziale[n] Rechtszeitalter[s]“ (Radbruch 1993c, 472) aus, die sich bereits im ‚organisierten‘ Kapitalismus und dessen öffentlichem Recht bzw. als Tendenz zur „Publizierung des Privatrechts“ (Radbruch 1930, 619) ankündige. Diese Form, deren Paradigmen das Arbeits- (‚Stützung sozial Ohnmächtiger‘) und Wirtschaftsrecht (‚Beschränkung sozialer Übermacht‘) (vgl. Radbruch 1993d, 490) seien, vertrete die Vorstellung der Sozialpflichtigkeit des Eigentums und verstehe Rechte prinzipiell als staatlich verliehene Rechte auf Widerruf. Gegenstand rechtlicher Regelungen sei das Individuum als ‚Kollektivmensch‘: Das Recht „kennt […] nicht mehr nur Personen, sondern Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Arbeiter und Angestellte“ (ebd., 488), es vollziehe eine Angleichung an den Rechtsinhalt, indem es das ‚Klassenschicksal‘ der Akteure berücksichtige. Die Gerechtigkeitsidee des ‚sozialen Rechts‘ sei keine begriffliche Abstraktion des äquivalenten Tauschs19, sei nicht kommutative, sondern distributive Gerechtigkeit: „Ausgleichende Gerechtigkeit bedeutet die Forderung absoluter Gleichheit beim Austausch von Leistungen, z. B. Gleichheit zwischen Arbeit und Lohn, Schaden und Ersatz, […]; austeilende Gerechtigkeit bedeutet die Forderung
19 Wie Paschukanis 1969, 143, für die Gerechtigkeit schlechthin unterstellt. 205
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relativer Gleichheit in der Behandlung von Personen, Verteilung von Lasten und Vorteilen nach Tragfähigkeit und Bedürfnis, nach Schuld und Verdienst. Dort ein Verhältnis zwischen zwei Personen, unter denen ein Austausch stattfindet, hier ein Verhältnis mindestens zweier Personen zu einer dritten, die unter ihnen eine Verteilung vornimmt. Die ausgleichende Gerechtigkeit gilt für den Verkehr zwischen rechtlich gleichgeordneten, d. h. für das Privatrecht, die austeilende Gerechtigkeit dagegen im Verhältnis der Über- und Unterordnung: im öffentlichen Recht“ (Radbruch 1993b, 462).
Als gleiche Behandlung von Gleichen, ungleiche Behandlung von Ungleichen, ist die ‚soziale‘ Rechtsform für Radbruch nun geradezu das Spezifikum entwickelter sozialistischer Vergesellschaftung (vgl. Radbruch 1929, 79), die damit immer auch als staatlich regulierte gedacht werden muss. Radbruchs Kritik am zivilrechtlichen Reduktionismus Paschukanis’ trifft ein zentrales Problem in dessen Werk. Nicht nur bleibt in diesem der zunehmende Maßnahmecharakter von Gesetzen im ‚organisierten‘ Kapitalismus unterbelichtet, es wird auch die Frage nach dem Rechtscharakter dieser Gesetze nicht gestellt, da Recht primär als Willlensverhältnis privatautonomer Warensubjekte aufgefasst wird. Paschukanis scheint sogar wesentliche Aspekte des öffentlichen Rechts mittels der Kategorie der technischen Regel per se aus dem Rechtsbegriff auszuschließen (vgl. Harms 2000, 148). Dennoch ist Radbruchs Kritikmodus nicht unfragwürdig. Zunächst wirft seine Ausweitung des Rechtsbegriffs immanente Probleme auf: Der überpositive Rechtsbegriff, den er gegen die Rechtspositivisten ins Feld führt (vgl. Radbruch 1993c, 460, 466), konterkariert seine Äußerungen über das Recht als Stützpunkt und Appellationsinstanz der Subalternen, weil er sich weitgehend vom ‚individualistischen‘ Recht und seiner abstrakt-allgemeinen Form der Geltung ohne Ansehen der Person abgrenzt. Das distributive Gerechtigkeit („jedem das Seine“, ebd., 462) in den Mittelpunkt stellende Rechtskonzept kann für die vom öffentlichen Recht als ‚Ungleiche‘ Eingeteilten durchaus zynische Konsequenzen haben und möglicherweise nicht mehr gegen einen partikularen Inhalt gewendet werden, weil es diesem ja gerade juristische Weihen verleiht. Schließlich kann auch distributive Gerechtigkeit das Prinzip äquivalenter Leistung und Gegenleistung, das Radbruch einseitig der kommutativen Gerechtigkeit zuordnet, zum (freilich staatlichen) Verteilungsprinzip erheben. Genau gegen diese Form eines radikalisierten Leistungsprinzips, wie gegen den Gedanken staatlicher Zuteilung über-
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haupt, richtet sich z. B. Marx’ Kritik in den Randglossen zum Gothaer Programm. Nicht nur vor diesem Hintergrund wirken Radbruchs Assoziationsketten ‚Privatrecht – ausgleichende Gerechtigkeit – bürgerlicher Rechtshorizont‘ vs. ‚öffentliches Recht – austeilende Gerechtigkeit – sozialistische Rechtsform‘ naiv. Er geht sogar so weit, die zunehmende ‚Publizierung des Privatrechts‘ und die Tendenzen eines fortschreitenden Staatsinterventionismus als „auf dem Wege vom Kapitalismus zum Sozialismus“ (Radbruch 1930, 619) liegend zu betrachten. Drei klassische Denkfehler der traditionellen Sozialdemokratie liegen dieser Haltung zugrunde: 1. Die etatistische Tendenz der Identifizierung von Verstaatlichung und Sozialisierung der Eigentumsordnung.20 2. Der vulgäre Evolutionismus, der damit bereits den Sozialismus im Kapitalismus ‚heranreifen‘ sieht. So folgert Radbruch, „dass Sozialismus und Kapitalismus nicht durch eine revolutionäre Kluft voneinander unterschiedene Gesellschaftszustände, sondern Bewegungen innerhalb der Gesellschaft sind, die als sozialistische Aufwärtsbewegung und kapitalistische Abwärtsbewegung untrennbar ineinandergeflochten sind“ (Radbruch 1930, 619f.). Diese Entwicklung gilt ihm als geschichtsphilosophisch verbürgte „Selbstverwirklichung einer überbewussten geschichtlichen Notwendigkeit“ (Radbruch 1993d, 495). 3. Die „undurchschaute Ambivalenz der [proletarischen, Anm. I. E.] Rechtsforderungen und der Gesetzgebung des bürgerlichen Staates“ (Negt 1975, 58), die die Erfolge der Arbeiterbewegung bei Erkämpfung sozialer Rechte (z. B. des Normalarbeitstages, des Tarifsystems usw.) nicht in ihrer systemstabilisierenden Funktion durchschaut und sie stattdessen als Schritt zur Überwindung des ‚bürgerlichen Rechtshorizonts‘ feiert. Die Einsicht in die juristische Form des Klassenkampfs wird damit zur Illusion der graduellen rechtsförmigen Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise. In diesem Zusammenhang lässt sich auch Radbruchs Stadienmodell kapitalistischer Entwicklung bezweifeln. Von einer zunehmenden Substituierung des privaten durch das öffentliche Recht kann keine Rede sein. Vielmehr setzen auch die von ihm als Paradigmen ‚sozialen Rechts‘ angeführten arbeits- und wirtschaftsrechtlichen Maßnahmen das Privatrecht ebenso voraus, wie sozialstaatliche Eingriffe das Privateigentum nicht grundlegend in Frage stellen können21, sondern gerade als konstitutiv für dessen Bestandssicherung gelten müssen.
20 Vgl. Radbruchs Andeutungen (1993d, 488f.). 21 Vgl. Blanke et al. 1975, 429-431, 434-438 sowie – gegen Abendroth – Preuß 1973, 96-99. 207
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2) Der Vorwurf der ‚Zirkulationsfixiertheit‘: Nicht der Vorwurf des Absehens vom öffentlichen Recht, sondern der der Nichtberücksichtigung der Produktionssphäre bei der Rechtsbestimmung steht im Mittelpunkt von Oskar Negts und Burkhard Tuschlings Auseinandersetzung mit Paschukanis. Dieser Kritik zufolge verortet Paschukanis den Gegenstand und die Quelle des Rechts „ausschließlich in der Zirkulation“ (Tuschling 1976, 12). Seine Rechtstheorie sei damit nicht nur unfähig, den rechtlichen Überbau in seiner relativen Autonomie zu erfassen22, sie verfange sich auch in ein ‚krypto-naturrechtliches‘ Argumentationsmuster, indem sie das Recht von Verträge schließenden Einzelnen aus konzipiere, sein Wesen im freien Vertrag zwischen unabhängigen Subjekten verorte.23 Paschukanis erkläre nicht die Differenz zwischen bürgerlichen und vorbürgerlichen Rechtsverhältnissen, weil er unterschiedslos von der „Warenform für sich genommen“ (Tuschling 1976, 14) ausgehe. Diese existiere aber als marginales Verhältnis schon vor der kapitalistischen Produktionsweise. Die Begründung für die Universalisierung der Warenform und damit die „Ausbildung der Rechtsform zu einer allgemeinen und notwendigen Form“ (ebd.) gesellschaftlicher Verhältnisse bleibe Paschukanis schuldig. Dies beruht Negt zufolge auf einem Missverständnis des systematischen Stellenwerts der ersten drei Kapitel des Kapital, denen die Warenform-Rechtsform-Theorie wesentlich entnommen ist. Paschukanis isoliere die Bestimmungen der Warenbesitzer als freie und gleiche Eigentümer von ihren weiteren sozialen Formbestimmungen als klassenspezifische Produktionsagenten. Würden diese berücksichtigt, werde nicht nur deutlich, dass sich erst auf Grundlage des kapitalistischen Klassenverhältnisses die Warenform zum charakteristischen Sozialverhältnis entwickle, es lasse sich nur noch der „produktionsvermittelte[…] Austausch“ (Negt 1975, 50) zwischen Lohnarbeitern und Kapitalisten als Grund der Rechtskonstitution angeben: „Nicht alle Waren, auch nicht der durch Verträge vermittelte Warenverkehr, sondern ausschließlich die Ware Arbeitskraft ist deshalb Bezugspunkt der […] Erklärung des Rechts“ (ebd., 52; vgl. auch ebd., 48). Demgemäß sei auch der Rechtsfetischismus nicht so sehr vom Warenfetisch, als vielmehr vom Fetischismus der Lohnform her zu begreifen (vgl. Negt 1975, 54f.). Im Gegensatz zum quasi-‚naturrechtlichen‘ Bezugssystem von Paschukanis würden so die „wechsel22 Vgl. Negt 1975, 47, Korsch 1969, Xf. sowie Poulantzas 1972, 181f. 23 Damit wiederholt sich aus marxistischer Perspektive eine Kritik, die schon Hans Kelsen an Paschukanis geübt hat (vgl. Kelsen 1931, 486ff.). Freilich geht es Negt et al. nicht, wie Kelsen, primär um die Betonung des staatlichen Zwangscharakters des Rechts, als vielmehr um dessen Klassenspezifik und Beziehung auf ökonomische Zwänge. 208
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seitigen Bedingungs- und Abhängigkeitsbeziehungen zwischen kapitalistisch organisierter Produktion und Recht“ (Tuschling 1976, 14), die Vermitteltheit der Rechtsverhältnisse durch die Totalität kapitalistischer Produktionsverhältnisse wie die systematische Kontamination des Rechts durch Herrschaft und strukturelle Zwänge berücksichtigt. Im Unterschied zu Radbruchs Kritik steht hinter den Vorwürfen Negts und Tuschlings kein konkurrierendes Rechtsverständnis, sondern eine bestimmte Deutung von Paschukanis’ Methodenverständnis. Dem Warenform-Rechtsform-Theorem wird eine historizistische oder empiristische Reduktion auf ein Modell zweier Tauschender im Sinne der Fiktion ‚einfacher Warenproduktion‘ unterstellt (vgl. Harms 2000, 121), damit eine naive Konzeptualisierung von Ware und Recht unter Absehung von deren repressiven Konstitutionsbedingungen. Tatsächlich kann sich eine solche Interpretation auf uneindeutige methodologische Bemerkungen in Allgemeine Rechtslehre und Marxismus beziehen, so, wenn dort von der Skizzierung der „Grundzüge der historischen und dialektischen Entwicklung der Rechtsform“ (Paschukanis 1969, 18; vgl. auch ebd., 31) die Rede ist. Dennoch ist Andreas Harms gegen Negt zuzustimmen, dass bei Paschukanis der Begriff der „Rechtssubjektivität und der produktionsvermittelte Austausch […] implizit zusammen[fallen]“ (Harms 2000, 121). Trotz historizistischer Andeutungen lässt sich Allgemeine Rechtslehre und Marxismus nämlich in methodologischer Hinsicht als ‚verschwiegene Heterodoxie‘ kennzeichnen: Eine logische Rekonstruktion der Rechtsform aus der Warenform ist hier Programm. Demnach geht Paschukanis auch nicht von der ‚einfachen Warenproduktion‘ aus, sondern legt seiner Analyse „die voll entwickelte Rechtsform zugrunde“ (Paschukanis 1969, 45) und blendet deren Zusammenhang mit kapitalistischen Produktionsverhältnissen, wie oben gezeigt, folglich keineswegs aus: Der „praktische Zweck der rechtlichen Vermittlung“ bestehe, so Paschukanis, im „ungehinderte[n] Gang“ der kapitalistischen „Produktion und Reproduktion“.24 Gegen den Vorwurf der Zirkulationsfixiertheit lässt sich mit Harms zusammenfassend vorbringen: „Wenn die Rechtsbegriffe als Begriffe der Zirkulation erscheinen, ist dies die spezifische Zirkulation der kapitalistischen Warenproduktion, nicht jedoch einer einfachen […]. Dies gilt ebenso für die Begriffe Rechtssubjekt und Rechtsverhältnis. Er [Paschukanis, Anm. I. E.] versteht diese nicht als apriorische Begriffe, welche durch eine spezifische Denkform des Rechts vorgegeben sind, sondern als Begriffe, die sich nur in der Totalität des gesellschaftlichen Zusammenhangs klären“ (Harms 2000, 122). 24 Alle Zitate: ebd., 16.; vgl. auch ebd., 10, 91f., 121, 123, 160. 209
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Schließlich fügt die Kritik der Zirkulationsfixiertheit Paschukanis’ Rechtsbegriff nichts hinzu. Auch sie muss die Zirkulationssphäre als spezifischen Ort der Rechtsgenese verstehen, da sie kein etatistisches Zwangskonzept des Rechts vertritt. Eine Verortung des Rechts im unmittelbaren Produktionsprozess dagegen liefe auf eine Theorie der „personal gebundene[n] Funktionalität des Rechts“ (ebd., 123) hinaus, die dieses ohne Betrachtung seiner spezifischen Form „auf das Partikularinteresse der Kapitaleigner“ (ebd., 124) zurückführen müsste.
Schluss Zwar weist Paschukanis’ Rechtsformanalyse charakteristische Leerstellen auf. Das öffentliche Recht und der Maßnahmecharakter moderner Staatlichkeit bleiben unterbestimmt oder werden tendenziell aus dem Rechtsbegriff ausgeschlossen. Doch muss berücksichtigt werden, dass sein Buch aus dem Jahr 1924 eine Skizze bzw. einen Versuch darstellt. Dieser Versuch wurde aufgrund politischer Legitimationsbedürfnisse des staatsoffiziellen Marxismus im Osten jahrzehntelang als ‚Rechtsnihilismus‘ abqualifiziert oder totgeschwiegen. Erst die so genannte Staatsableitungsdebatte im Westdeutschland der 1970er Jahre hat Paschukanis’ Ansatz wiederbelebt und fortgeführt (vgl. dazu Elbe 2008, Teil 2). Doch bereits Paschukanis weist auf die enormen theoretischen Ressourcen eines kritischen Marxismus für das Verständnis eines so zentralen Vergesellschaftungsmediums wie des Rechts hin. Ein Denken im Anschluss an Marx kann, wie sein ‚Versuch‘ zeigt, sowohl die Spezifik des modernen Rechts als privatautonomes Willensverhältnis fassen als auch dessen strukturell-ökonomische und manifest-politische Voraussetzungen und Herrschaftseffekte erhellen. Recht verweist nicht nur auf eine staatliche Zwangsnorm, sondern auch auf reziproke Anerkennungsverhältnisse. Doch, und hier wird der Gefahr eines idealistischen Kantianismus in der Rechtstheorie25 vorgebeugt, sind diese Anerkennungsverhältnisse keineswegs aus reiner praktischer Vernunft deduzierbar, sondern unter historisch-spezifischen, privat-arbeitsteiligen, ökonomisch vermachteten Vergesellschaftungsbedingungen anzutreffen und bezeugen Recht als abstraktes Einheitsprinzip privat-dissoziierter Individuen – als Synthesis der Willen unter der Bedingung und mit der Folge ihrer systematischen Dissoziation in privat-isolierte und klassengeteilte.
25 Vgl. als Beispiel eines solchen erfahrungsunfähigen Rechtsidealismus: Kersting 2007, u. a. 257f. 210
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INGO ELBE
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212
Das Normale und der We rt. Zur Kritik der Normalismustheorie DEVI DUMBADZE
In den Debatten zu einer materialistischen Medientheorie – entlang der Linie Gramsci-Althusser-Foucault – ist über die vielfältigen Bestimmungsversuche der eigentümlichen Funktionalität der Medien im Anschluss an Althussers Konzeption der „ideologischen Staatsapparate“ („relative Autonomie“ kultureller Praxis; vgl. Althusser 1977) die Frage nach ihrer formgenetischen Bedingtheit durch die spezifisch modernen, kapitalistischen sozialen Formen gänzlich aus dem Blick geraten. Suggerieren etwa die theoretischen Ansätze Foucaults zu einer politischen Pragmatik des Selbst bzw. den „Selbstpraktiken“ (vgl. Foucault 1989, 10-40) ein ‚historisierendes‘ Korrektiv zum universalistischen Entwurf eines wesentlich als geschichtslos aufgefassten Unbewussten in Althussers Anrufungstheorie1 – wobei unter dem Begriff einer Regierungstechnologie (vgl. Foucault 2004, 42-70) die Konstituierung der ideologisierten Praktiken des Alltags in ihrer Wechselwirkung mit den medialen Technologien subsumiert werden soll –, so blenden sie zugleich die Herausarbeitung historisch-spezifischer Formbestimmtheit der bürgerlichen Gesellschaft vollends aus. In der Fixiertheit auf die besonderen Realisierungsformen einzelner, in verschiedenen Epochen entstandener Kommunikationsmedien verwässert sich die, durch die historisch spezifischen ökonomischen Formen konstituierte, strukturelle Differenz der Epochen selbst. Zugleich wird in Konsequenz auch der affirmativen Verklärung der historisch besonderen Form von Herrschaftsverhältnissen moderner Gesellschaften die Tür geöffnet. Besonders prägnant lässt sich dies 1
Vgl. kritisch dazu Borchers/Hohenberger 1981, 43, 58, 65. 213
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anhand solcher Kulturtheorien zeigen, die sich das Attribut „materialistisch“ auf die Fahnen schreiben. Im Folgenden soll es um die kritische Darstellung der Methodologie einer solchen Kulturtheorie gehen, die exemplarisch für viele gängige kulturtheoretische Entwürfe einen ‚Spagat‘ zwischen Marx und Foucault versprach und unter dem Namen „Normalismustheorie“ von Jürgen Link u. a. entwickelt wurde. Ihr Kennzeichen ist das Postulieren des gesellschaftlich vermittelten Normalen (und Anormalen) als der fundamentalen kulturell-‚hegemoniellen‘ Bezugsgröße moderner Gesellschaften (vgl. Link 1999). Von zwei wesentlichen kulturellen Praxisformen, „Protonormalismus“ und „flexiblem Normalismus“, ausgehend, ist die Normalismustheorie – darin eher unintendiert – dem abstrakten Charakter des gesellschaftlichen Vermittlungs- und Herrschaftsverhältnisses moderner Gesellschaft und ihrer Medien auf der Spur. Inwiefern jedoch ihr Anspruch, den schwer zu fassenden Gegenstand „Kultur“ „materialistisch“ (Link/Link-Heer 1980, 19) zu begreifen, auch eingelöst wird, soll in drei Schritten untersucht werden. Der Erörterung der literatursoziologischen methodologischen Grundlage der Normalismustheorie in der „Interdiskurstheorie“ Jürgen Links (1) folgt die Darstellung der zentralen normalismustheoretischen Begriffe des Proto- und flexiblen Normalismus (2), die schließlich zu einer Kritik an ihrem reduktionistischen Verständnis von Ideologie und ökonomischen Formen führt (3). Dabei geht es keineswegs um eine erschöpfende Darstellung dieser Theorie, sondern um die Erörterung ihrer grundlegenden Begriffe im Hinblick auf ihre Tragfähigkeit für die materialistische Medien- und Sozialtheorie spezifisch moderner Vergesellschaftung.
„Interdiskurstheorie“: Die methodologische Grundlage der Normalismustheorie Die Normalismustheorie geht von den so genannten „Normalismus-Dispositiven“ aus, die sie als ein neuzeitliches, mit Industrialisierung, Standardisierung von Produktion und Konsumtion („Normung“) sowie Verallgemeinerung statistischer Messverfahren aufkommendes Phänomen charakterisiert (Link 1999, 15-49). Bevor auf die fundierende „Interdiskurstheorie“ eingegangen wird, sei eine Anmerkung zum schillernden Begriff des Dispositivs vorausgeschickt (vgl. Schanze 2002, 65f.; Stauff 2004, 109-159), welchen auch Link ausgiebig benutzt. Von der Vielzahl existierender Verwendungen erweist sich jene noch am plausibelsten, die – ausgehend von dem durch Foucault so bezeichneten „Sexualitätsdispotiv“ (vgl. Foucault 1983) und seine Methode von diesem Untersu214
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chungsgegenstand abstrahierend – die Medien als Netzwerke von relationalen Elementen begreiflich zu machen beabsichtigt. Statt die Medien auf eine vermeintliche technische Wesensstruktur zu reduzieren, seien sie als historisch wandelbare Komplexe aus variablen Konstituenten, wie technische Apparatur, kulturell-ästhetische Formen, institutionelle Organisationsweisen und ökonomische Verwertungsstrukturen, zu analysieren (vgl. Stauff 2004, 159-179). Wissenschaftstheoretisch soll hierbei das empirizistische Modell passiver Zuschauerschaft überwunden werden, womit implizit eine Kritik der Abbildtheorie der Erkenntnis vorgetragen wird, indem die die kulturellen Sinnzusammenhänge konstituierende Bewusstseinsaktivität der Rezipierenden sowie ihre Wechselwirkung mit den einschlägigen medial vermittelten institutionellen Praxisformen hervorgehoben werden (‚konstruktivistischer Aspekt‘). Dieser ‚konstruktivistische‘ Aspekt ist allerdings zwar eine notwendige, keineswegs jedoch hinreichende Bedingung, um die besondere Funktionsweise der Medien im Reproduktionsprozess von Produktions- und Herrschaftsverhältnissen moderner Gesellschaften zu bestimmen, welche die Medien qua weitgehend zwangloser Anpassung des Bewusstseins und des Unbewussten an das gesellschaftliche Subjekt des Kapitals und des Staats erfüllen: Denn unklar bliebe dabei, was genau jene grundlegenden Kategorien sind, wonach sich diese Anpassung richtet (Horkheimer/Adorno 1988, 128-176, hier: 176). Derart allgemein konzipiert, schrumpft der Dispositivbegriff lediglich auf ein abstraktes Netzwerkmodell, das zwar den relationalen Charakter eines sozialen Objekts wie beispielsweise Fernsehen zu reflektieren vermag, aber nicht mehr imstande ist, die differentia specifica der neuzeitlichen Medien gegenüber etwa den vor-neuzeitlichen oder jenen der antiken Gesellschaften anzugeben: Sie teilen alle nämlich die allgemeine formale Eigenschaft, aus einem relationalen Geflecht von variablen Elementen ihre jeweils spezifische historische Bestimmtheit zu erlangen.2 Diesem Spezifizierungsdesiderat kommt nun die Normalismustheorie auf der empirisch-analytischen Ebene durchaus eher nach, indem sie die Verankerung kultureller Praxisformen des „Normalismus“ an die Entwicklung einer historisch besonderen, industriekapitalistischen Vergesellschaftung ‚koppelt‘. Allerdings bleibt der Charakter dieser ‚Kopplung‘ (vgl. Link 1999, 235) nur abstrakt angedeutet. Die strukturelle Dominanz der für die „relativ autonomen“ Institutionen der Ideologiereproduktion in „letzter Instanz“ bestimmenden ökonomischen Verhältnisse – entsprechend einer selbst problematischen These Althussers
2
Vgl. zur Relationalität als grundlegendes Merkmal sozialer Ontologie Bhaskar 2005, 28-31. 215
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(vgl. kritisch dazu Elbe 2008, 402)3 –, wird zugunsten eines Modells verschiedener autonomer sozialer Teilbereiche suspendiert. Sie werden einerseits als faktisch ineinander greifende anerkannt, bleiben jedoch andererseits theoretisch vermittlungslos nebeneinander stehen. Die Kultur – als die Gesamtheit von „totalisierenden“ (d. h., weltanschauungsstiftenden) „Interdiskursen“ definiert – soll in Analogie zum Begriff des sozialen Systems luhmannscher Prägung als ein strukturell geschlossenes, selbstreproduzierendes System konzipiert werden (vgl. Link und Link-Heer 1980, 52f.). Link erweitert und überträgt dafür die für die neuzeitlichen Humanwissenschaften entwickelte „Diskursanalyse“ Foucaults auf die nichtwissenschaftlichen Praxisbereiche der Literatur und Medien, indem er eine spezifische „Operativität“, d. h. praktische Anwendung, der kulturellen „Diskurse“4 postuliert, um damit die Kultur als ein soziales System sui generis behandeln zu können. Diese eigentümliche „Operativität“ der modernen kulturellen Praxisformen wird in ihrer gesellschaftliche Komplexität reduzierenden Leistung, einer Art Dolmetscher- oder Popularisierungsfunktion, begründet (ebd., 55; Link 1990). Die moderne Gesellschaft wird hierbei zwar durch 3 4
Für die frühen Arbeiten Links ist sie noch ein expliziter Bezugspunkt (vgl. Link/Link-Heer 1980, 79-100, 193; dies., 1983), später wird von ihr als einem Gemeinplatz ausgegangen. Auf die Diskussionen um den Begriff des Diskurses, um dessen verschiedene Fassungen (bei Habermas, Foucault etc.) in den vergangenen Jahren viel Aufhebens gemacht wurde, soll hier nicht weiter eingegangen werden. Angeführt sei nur Link/Link-Heers Definition, die einen Unterschied meint, ohne ihn hinreichend zu begründen: „(1) zum einen wurde unter D. [Diskurs, Anm. D. D.] ein Argument und Gegenargument wägender, logisch fortschreitender, rationaler Text verstanden (so noch bei Habermas); (2) zum anderen meint D. (Diksursart, Diskursform) heute im Anschluß an Foucault u. a. die Menge aller Texte, die innerhalb einer bestimmten institutionalisierten Praxis nach bestimmten Regeln produziert werden“ (Link/Link-Heer 1980, 523; vgl. auch ebd., 377). Will man eine Regel weder zu einer natürlichen Entität verklären, noch zu einer übernatürlichen hypostasieren, muss davon ausgegangen werden, dass sie, welcher Herkunft auch immer – ob auf natürliche, gesellschaftliche oder andere Gesetzmäßigkeit bezogen – rational rekonstruierbar zu sein hat: Die Ablesbarkeit einer Regel in der „Menge aller Texte“ muss argumentativ nachvollziehbar sein. Auch nach Foucault muss sich das Vorhandensein von diskursiven Regeln (wie auch immer allgemeinen), die sich quer durch unterschiedlichste humanwissenschaftliche Disziplinen als gemeinsame entpuppen (Foucault 1976, 48-60) und damit ein „Episteme“ (bzw. ein „theoretisches Feld“, Althusser) konstituieren, durchaus erst argumentativ erweisen lassen. Damit geht dem Unterschied zwischen der ersten und zweiten Definition einiges an Trennschärfe verlustig. Das Bestehen gegensätzlicher Aussagen innerhalb eines Diskurses (Link/Link-Heer 1980, ebd.) setzt bereits Gemeinsames, anhand dessen diese erst als solche erkennbar werden, voraus.
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die funktional differenzierte Arbeitsteilung charakterisiert (Link/LinkHeer 1980, 101), ihre kapitalistische Formbestimmtheit jedoch, welche sich in der mit dem entwickelten Kapitalverhältnis sich durchsetzenden Notwendigkeit manifestiert, Güter privatarbeitsteilig-dissoziiert produzieren und sie, mitsamt einzelnen Privatarbeiten, durch ihre Inbezugund Gleichsetzung im Tausch gesellschaftlich erst vermitteln zu müssen, bleibt weitgehend ausgeblendet. Unter der Hand verwandelt sich damit die Arbeitsteilung zu einem im historischen Prozess der Moderne letztendlich kontingenten, d. h.: mit eiserner Notwendigkeit eines quasinatürlichen Prozesses sich formierenden Faktum (ebd., 281). Die Arbeitsteilung als solche und nicht die sachlich verselbständigte Form der Vergesellschaftung schafft dann auch nach Link erst jenes strukturelle „Integrations“-Problem, welches die medialen „Interdiskurse“ funktional zu lösen hätten: Das primär auf Denotation, Experiment und technische Verfügung gerichtete, für Laien unzugängliche wie unanwendbare wissenschaftliche speziale Fachwissen der „Spezialdiskurse“ werde in den „Interdiskursen“ mithilfe der stereotypen, genre- und formatübergreifend rekurrenten Kollektivsymbole und narrativen Schemata in einer entspezialisierten, allgemein verständlichen – und dadurch im Alltag „applizierbaren“ – Form dargestellt. Die tatsächliche Wirksamkeit der „Interdiskurse“, im Sinne der Korrespondenz des konkreten menschlichen Verhaltens zu den rezipierten Texten oder Sendungen, ist damit jedoch nicht bereits begründet. Die Annahme, die Kulturprodukte der Literatur oder des Fernsehens, welche die Wissenselemente aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen verarbeiten, könnten isoliert, für sich genommen, das menschliche Verhalten regulieren, wäre auch angesichts ihrer – für die Interdiskurstheorie gerade tragenden – Verflechtungen mit den wissenschaftlichen sowie in den anderen sozialen Bereichen institutionalisierten, durch und durch auch kontradiktorischen Diskursen kaum nachvollziehbar. (Warum ‚folgen‘ die Rezipierenden den „Diskursen“? Warum „applizieren“ sie genau diese, und nicht vielmehr andere?). Nur so wäre aber eine spezifische, von keinen anderen sozialen Bereichen beeinflusste ‚Eigenoperationalität‘ der Kultur bestimmbar. Unbestimmt bleibt überdies ebenso, auf welche Art und Weise die kulturellen Produkte wirksam sein sollen. Hierzu begegnet man lediglich unsystematischen Hinweisen auf die Rolle des Unbewussten, der Identifikation, der Introjektion usw. (vgl. Link 1999, 157; Link/LinkHeer 1980, 182). Die Begründung des ‚Dass‘ aussparend, beschreibt Link unmittelbar das ‚Wie‘ der gesellschaftlichen Wirkung der Kulturprodukte, welche als gegebene vorausgesetzt wird. Im medialen Repräsentationsvorgang gingen die Wissenselemente aus heterogenen Spezialdisziplinen in die 217
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genre- und formatkonventionell geformten Kulturprodukte (Romane, Sendungen usw.) in symbolisch und konnotativ angereicherter – und dadurch emotionalisierter – Form ein. Indem sich diese Formen dann nach den sich einspielenden Mustern institutionalisierter Rezeptionspraktiken „zyklisch“ reproduzieren, verdichten sie sich zu einem nicht nur im Imaginären der rezipierenden Subjekte, sondern vermeintlich zugleich auch wirklich „integrierenden (totalisierenden)“ „Wissen“ eines „hegemoniellen“ „sozialhistorischen Blocks“ (ebd., 139, 281). Erst die formalästhetische Gestaltung dieses „Wissens“ mithilfe eines bestimmten „synchronen Systems der Kollektivsymbole“ (Link 1982) soll dabei die verallgemeinerten „Applikations-Vorgaben“ (Link 1999, 157, 92) für das Verhalten der Akteure schaffen.5 Derart symbolisch-ästhetisch verarbeitet, werde das hegemoniale „Wissen“ sowohl für den Einzelnen individuell adjustier- und applizierbar, als auch zugleich für eine vorgestellte Wir-Gemeinschaft identitätsstiftend. Der Konsumprozess kultureller Güter wird also einerseits als ein nichtintentional-automatisierter, institutionell geleiteter und von objektiven Strukturen abhängiger, andererseits als individuell-bewusster, ‚selbstapplizierter‘ aufgefasst. Dieser Konsumprozess wird nun anschließend nach den funktionalen Gesichtspunkten gemäß der Zugehörigkeit konsumierter Produkte zu den verschiedenen „sozialen Trägern“ differenziert. Diese werden unterschiedslos wahlweise mit dem Klassen-, Schicht- oder Gruppenbegriff beschrieben (Link/Link-Heer 1980, 63-70). Damit bleibt aber der formanalytische Stellenwert des Klassenbegriffs (vgl. etwa Ellmers 2009), den Link und Link-Heer nominell von Marx übernehmen, unberücksichtigt und dieser entsprechend mit den zwei letztgenannten Begriffen weitgehend austauschbar verwendet. Die spezifisch moderne kapitalistische Form von Klassenherrschaft findet demnach keine qualitative Abgrenzung von jener der unmittelbar-personellen der prämodernen Gesellschaften. Die Klassenherrschaft reproduziert sich, so Link/Link-Heer, qua „Dominanz einer Klasse bzw. einer bestimmten Klassenkombination“, stets und unabhängig vom Charakter spezifischer gesellschaftlicher Formation durch die hegemoniellen institutionalisierten Praktiken (Link/LinkHeer 1980, 194). Die spezifisch moderne Formbestimmung, die Vermittlung der Beziehungen zwischen den Akteuren im Kapitalverhältnis 5
Ebd., 346-367; Link 1990: Für die Repräsentation „flexibelnormalistischer Strategien“ in Literatur und Medien sei beispielsweise der dominante Symbolkomplex des „High-Tech-Vehikel-Körpers“ ausschlaggebend: Der individuelle wie kollektive ‚Lebensweg‘ werde wie eine ‚exponentielle Kurve‘ mit Normalisierung/Denormalisierung darstellenden Auf-/AbschwungPhasen durch verschiedene picturas (Infografiken, ‚Kurvenlandschaften‘ usw.) symbolisiert, deren Konotate zumeist dem „Komplex“ des (vor- oder industriellen) Verkehrs angehören.
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durch die Beziehungen zwischen den Dingen, welche die gesellschaftliche Form des Privateigentums (auf Produktionsmittel und Arbeitskraft) als das klassendifferenzierende Merkmal begründet (und zu ihrer Durchsetzung und Aufrechterhaltung durch das staatliche Gewaltmonopol führt), fällt somit unter den Tisch. In Konsequenz halten Link und LinkHeer auch die Umänderung einer „Hegemonie“ durch die „gegenkulturellen“ und „kulturrevolutionären“ Kulturproduktionen – die sich beispielsweise stilistischer Mittel wie ironischer Umdeutung von eingespielten Kollektivsymboliken bedienen (vgl. Link 1982) und bereits als solche, jedoch auf eine ungeklärte Art und Weise, auch „rein kulturelle Praxis überschreiten sollen“ (Link/Link-Heer 1980, 339) – nicht nur für wünschenswert, sondern auch für entsprechend einer bestimmten Intentionalität realisierbar. Auf diese Weise könne und solle eine neue (‚nachkapitalistische‘?), nicht nur imaginär vorgestellte, sondern eben auch real gebildete „As-Sociation“, d. h. ein massenhaftes Kollektiv geschaffen werden (vgl. zuletzt Link 2008, 445). Weder der gewagte Sprung von der Rezeptionspraxis in den Köpfen der Individuen auf die „sozialen Bewegungen“ (Link/Link-Heer 1980, 337), unter denkwürdiger Ausblendung der Staatsfunktion als einer außerökonomischen, die gesamtkapitalistischen Interessen durchsetzenden Instanz, die die institutionalisierten Rezeptionspraktiken doch formal-rechtlich reguliert, will dabei auffallen. Noch wird die Affirmation eines neuen Kollektivs qua Masse gegenüber der „Illusion“ „bürgerlicher Individualität“ (ebd., 196, 186, 201) als ein zumindest impliziter Appell an eine autoritäre sozialpsychologische Struktur problematisiert. Das Manko, nicht zwischen einem formanalytischen Ideologiebegriff, wie bei Marx im Kapital anzutreffen, und einem letztendlich wissenssoziologischen zu differenzieren, der lediglich die Gesamtheit von bestimmten emotional-symbolisch geformten Gehalten des Alltagsbewusstseins meint, führt im Ergebnis zur Universalisierung einer Ideologieform, die jedoch wesentlich mit der kapitalistischen Vergesellschaftung verbunden ist.
Protonormalismus vs. flexibler Normalismus? Diese methodologischen Schwierigkeiten der Interdiskurstheorie werden nun in der Normalismustheorie, die Link im Versuch über den Normalismus entwickelt, virulent. Mit dieser Theorie wird der Versuch unternommen, das gesellschaftlich Normale als die fundamentale Bezugs-
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größe der Kultur moderner Gesellschaft zu begründen6, indem dabei eine „protonormalistische Strategie“ von der „flexibelnormalistischen“, durch ihre jeweilige Form der Normbestimmung, abgegrenzt wird (Link 1999, 75-82). Hier drängt sich freilich ebenfalls ein vorgreifendes Korrektiv auf, welches aus der bereits oben erwähnten Unbestimmtheit der „Operativität“ der Kulturprodukte folgt. Auf den ersten Blick verwirft Link nämlich, als die Krux seiner Normalismustheorie, expressis verbis die Identifizierung von Norm bzw. Normativität mit der „Normalität“: Die Normativität wird als „(juridoforme, binäre) Erfüllungsnorm“, „präskriptiv“ und „Norm (bezüglich individuellen Handelns)“ definiert, die Normalität hingegen als „Orientierungskarte (für Manövrieren/Adjustieren) (=Orientierungs-‚Norm‘ [sic.])“, „de-skriptiv“ und „Tendenz (kollektiven Handelns)“ (ebd., 444, 15-26). Aber auch eine statistisch ermittelte und dann kulturell in verschiedenen Formen repräsentierte „Normalität“ konstituiert kaum etwas anderes als eine sozialpsychologisch zu internalisierende Regel, die ihre verhaltensregulierende Wirkung doch irgendwie zu entfalten hat (ohne auf eine rechtliche Vorschrift beschränkt sein zu müssen) – anders hätte die Rede von der Verhaltensregulierung keinen Sinn. Da die „Normalität“ demnach ebenso als durch jenen inner- wie außerpsychischen Konformitätsdruck wirkende zu denken sein müsste, welcher seinen sozialobjektiv institutionalisierten Ausdruck in dem für die bürgerliche Gesellschaft konstitutiven rechtlich vermittelten Verzicht auf Gewalt (ihrer staatlichen Monopolisierung) sowei seine sozialpsychologische Einprägung in der unbewussten Über-Ich-Instanz (‚Gewissen‘, ‚Selbst‘) findet, ist auch eine „Normalitäts“-Regel nichts weiter als eine Präskription und damit als eine Norm zu begreifen – und zwar auch dann, wenn ihr Inhalt sich ganz deskriptiv präsentieren möchte. Auffälligerweise benennt Link die „Normen“ dann auch nicht als moralische, obwohl seine Kulturtheorie von nichts weiter als kulturell-medialer Reproduktion, Strukturierung, Vereinheitlichung und Zirkulation moralischer Regelkomplexe für verschiedene spezifische Handlungsbereiche, mitsamt dem entsprechenden praktischen ‚Wissen‘, handelt. Dieses Vermeiden, die Dinge beim Namen zu nennen, ist auch kaum durch eine mutmaßliche Intention zu rechtfertigen, der inhaltlichen Reduktion von Normen auf derartige Weltanschauungen – und die sie tragenden institutionalisierten Praxisformen – vorzubeugen, welche sich, wie beispielsweise die traditionell-religiösen, auf eine 6
Argumentativ ist dies u. a. gegen das Programm expliziter „Ableitung“ kulturindustriell reproduzierter sinnlich-ästhetischer Formen aus den ökonomischen Formzusammenhängen gerichtet. Vgl. Haug 1971, der seinerseits ausschließlich eine der Verwertbarkeit unterworfene „Technokratie der Sinnlichkeit“ kennt (11, 178).
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transzendente Begründungsinstanz stützen. Nur nolens volens trägt die Normalismustheorie jedenfalls damit dem Phänomen der verwaltenden Rationalisierung und Verselbständigung moralischer Regelgenerierung in moderner Gesellschaft Rechnung, welche nicht mehr in den Institutionen personaler Herrschaft verankert sein muss7: Anders als solche „Diskurse“ nämlich, so Link, welche ihre Normalität bestimmenden Orientierungsgrößen „ex ante“ gewinnen und diese tendenziell den Individuen durch Disziplin und Autorität auch repressiv aufzwingen („protonormalistische“), seien die „flexiblen Normalitäten“ durch ihre Ermittlung „ex post“ – d. h. in etwa: immanent und empirisch, anhand wirklicher Bevölkerungsbewegungen – gekennzeichnet und damit auch dadurch, dass sie die je individuelle „Selbstapplikation“ freier ermöglichten (ebd., 92). Auch wenn die analytische Unterscheidung der verschiedenen Bestimmungsformen des allgemeingesellschaftlich – und nicht nur jeweils „spezialdiskursiv“, beispielsweise biologisch, medizinisch, therapeutisch usw. – Normalen/Anormalen einleuchtet, die ihre Grundlage in den historischen, mit der bürgerlichen Gesellschaft einhergehenden allgemeinen Rationalisierungs- und Standardisierungsprozessen sowie der Verallgemeinerung quantitativer statistischer Messverfahren in Wissenschaft, Ökonomie und Staat im Besonderen hat, spart die Normalismustheorie die dabei durchdringende Funktion der staatlichen Gewalt bzw. der repressiven Staatsapparate in ihren Analysen aus. Ohne diese könnte die spezifisch bürgerliche allgemeine Rechtsform sich nicht durchsetzen (vgl. Blanke u. a. 1974, 69-82), für welche wiederum das kulturelle, flexible wie unflexible, Normale/Anormale den Ausgangspunkt und zugleich das Objekt und Betätigungsfeld der rechtlichen Regulierung darstellt. Der wechselseitigen Verquickung der bürgerlichen Rechtsform mit dem gesellschaftlich Normalen misst Link keine substanzielle Bedeutung bei, sondern identifiziert stattdessen lediglich den „Protonormalismus“ mit der „juridoformen“ Praxis, die zudem ausschließlich als repressive gedacht wird. Diese Funktionalität der modernen Rechtsform und der sie aufrechterhaltenden Staatsapparate ausklammernd, analysiert Link den flexiblen Normalismus, welcher sich auf die ‚Autonormalisierung‘ der Individuen durch die „Selbstadjustierung“ ihres Verhaltens anhand von Normalitäten, die statistisch ermittelten Durchschnittswerten entsprechen, richtet,
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Darin steht die Normalismustheorie dem Begriff der durch das abstraktanonyme Wertverhältnis „verwalteten Welt“ der Kritischen Theorie viel näher, als sie dies zugeben möchte. Vgl. zur brüsken Apostrophierung der Kritischen Theorie als „Vulgärmaterialismus“ Link/Link-Heer 1980, 21. 221
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als einen abstrakten Prozess, eine anonyme „Strategie“.8 Darunter soll ein Normalisierungsvorgang verstanden werden, der die „engen“ protonormalistischen Grenzen des entweder allgemeingesellschaftlichen oder für ein „sektorielles“ Handlungsfeld Normalen sprengt, indem er jene ‚fixen‘ ‚jenseitigen‘ Normen durch die „flexiblen“, realen, statistisch ermittelten Formen ersetzt und damit auch im Resultat die soziale Akzeptanz des darunter Subsumierten „tendenziell“ ausweitet (weil mehr ursprünglich ‚Abweichendes‘ nun Eingang in die Sphäre des ausgeweiteten Normalen fände). Obwohl es sich dabei nach Link plausiblerweise nicht um zwei zeitlich aufeinander folgende historische Formationen handelt, die etwa der Vormoderne und der Moderne zuzurechnen wären, vielmehr beide konfrontative „Strategien“ innerhalb moderner Gesellschaft koexistierten und in einem Verhältnis „aporetisch siamesischer Bifurkation“ (Link 1999, 81f.) zueinander stünden – eine protonormalistische „Strategie“ könne auch in die flexibelnormalistische umschlagen und umgekehrt –, bleibt in der Normalismustheorie der Grund solchen Umschlagens ungeklärt. Diese Ungeklärtheit entspringt dem grundsätzlichen Problem einer funktionalistischen Reduktion von kulturellen Praxisformen, d. h. letztendlich einem problematischen gesellschaftstheoretischen Rahmen. Entspricht nämlich dem „flexiblen Normalismus“ auf der Ebene kultureller Praxisformen eine (durch die Rechtsform vermittelte) ‚Liberalisierungsbewegung‘, so ist zunächst unklar, welche verborgene Kraft eine Gesellschaft zu jener Dynamik des permanenten Wechselspiels und Oszillierens zwischen den „protonormalistischen“ und den „flexibelnormalistischen“ Praxisformen zwingen mag. Der Grund dafür könnte weder in einem (geschichtsphilosophisch fundierten) menschlichen Wesen angenommen werden – gleichsam einem metaphysischen ‚Hang zum Normalen‘ –, noch im intentionalen Handeln der Akteure, da die Formbestimmtheit dieses Handelns selbst erst zu klären wäre. Obwohl demnach auch Link einerseits den geschichts- und sozialtheoretischen „Interaktionismus“ oder den methodologischen Individualismus verwirft, be-
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Die äquivoke Definition der „Strategie“ ist charakteristisch: „Ich benutze den Begriff der (diskursiven) ‚Strategie‘ dabei im Sinne einer ‚gerichteten‘ Kombination einzelner ‚Taktiken‘, wobei die ‚Richtung‘ in der Regel nicht teleologisch, subjektiv-intentional und gänzlich bewußt vorgegeben ist, sondern sich im Verlaufe der ‚taktischen‘ Prozesse wie eine durch die Struktur von Milieus und ökologischen Nischen ‚tendenziell provozierte Evolution‘ transsubjektiv unter Schwankungen ‚einstellt‘“ (Link 1999, 77). Einerseits ist von der Taktik die Rede, was eine bewusst zielsetzende Tätigkeit voraussetzt, andererseits wird ihr „subjektiv-intentionaler“ Charakter „in der Regel“ doch verworfen: eine Unbestimmtheit, die auf die naturalisierende Auffassung von verselbständigten „Strategien“ hinausläuft.
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stimmt er andererseits den gesellschaftlichen Bewegungsprozess als einen nach dem „Modell des Homöostats“ verlaufenden automatisierten Vorgang. Die normalistischen Praxisformen sollen als selbstorganisierende Rückkopplungsprozesse erklärbar sein: Sie „versichern“ die Akteure emotional und zugleich „operativ“ gegen jene „Denormalisierungsangst“, die von der modernen abstrakt-anonymen Vergesellschaftung strukturell erzeugt wird, und von Link als eine Gleichgewichtsstörung aufgefasst wird (ebd., 76-77). Das vorgestellte kulturtheoretische Modell mündet damit in die Verselbständigung kultureller Formen zu einem in den „zyklischen Kreisläufen“ reproduzierten, automatischen funktionalen Prozess, welcher als Gesamtheit anonymer, quer zueinander laufender „Strategien“ der Macht vorgestellt wird. (Der im Literatursoziologischen Propädeutikum noch vorhandene Bezug auf die Klassentheorie wird in der Normalismustheorie obsolet). Diese funktionalistische Reduktion9 ist dabei der Nichtunterscheidung von untersuchungslogischen Abstraktionsstufen in der Darstellung ökonomischer Formen bei Marx geschuldet (vgl. Wolf 2004, 18) – dessen Kritik der politischen Ökonomie Link jedoch sein „materialistisches“ Modell abgewonnen haben möchte. Link unterstellt dort ein „zyklologisches Denken“ bei Marx, um dieses sogleich auch auf die „allgemeine[n] historische[n] Prozesse“ zu übertragen (Link 2008, 454; vgl. Link 1983). Die methodologische Defizienz lässt sich am prägnantesten anhand der spärlichen, über Jahrzehnte hinweg beinahe identisch bleibenden Interpretationen des marxschen Kritikprogramms darstellen, die vom einschlägigen methodologischen Diskussionsniveau unberührt geblieben sind (vgl. zum Überblick Elbe 2008).10 Marx sehe, so Link in nuce, die ökonomische „Tiefenstruktur“ nach dem
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Sie deutet sich bereits in Link/Link-Heer 1980 an: „Das Individuum als soziales Subjekt ist bei Marx deutlich sichtbar eine sekundäre, abgeleitete Instanz. Nicht das Individuum konstituiert durch ‚sinnvolle Interaktion‘ mit anderen Individuen ein Produktionsverhältnis, vielmehr wird es durch dieses Verhältnis erst als spezifisches historisches Individuum konstituiert“ (64). Nach Marx sind aber die Produktionsverhältnisse die Gesamtheit der historisch bestimmten sozialen Formen, innerhalb welcher die Individuen handeln, ohne auf diese Formen reduzierbar zu sein (MEW 23, 16): Zum einen, weil sie natürliche und d. h. materiell-differente Wesen sind, zum anderen, so könnte man ergänzen, weil sie eine je individuelle Psyche haben, die zwar durch die sozialen Formen und die ihnen entspringende Sozialisation geformt wird, diese Formen sich jedoch auch begreiflich machen kann und daher in ihnen nicht aufgeht. Link missinterpretiert Marx als einen Funktionalisten und muss damit die Eigentümlichkeit der von ihm untersuchten historisch-spezifischen sozialen Formen verfehlen. 10 Zuletzt Link 2008; vgl. Link 1996; Link 1999, 232f.; Link 2005. 223
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„Modellsymbol des ‚Stoffwechsels‘, als einer algorithmusähnlichen Folge von ‚Metamorphosen‘ des Ausgangsobjektes Kapital, kondensiert: Es handelt sich um das Modell zyklischer Reproduktion, die zwischen identischer (‚einfacher‘) und variierender (‚erweiterter‘) Reproduktion wechselt“ (Link 2008, 454; vgl. Link/Link-Heer 1980, 52, Herv. D. D.).
Die von Marx dargestellten Realabstraktionen des Kapitalverhältnisses, die sich wechselseitig voraussetzenden ökonomischen Kategorien Ware, Geld, Kapital usw., die dem wirklichen Handeln privat-dissoziierter Warenproduzenten als soziale Formen zugrunde liegen, ohne dass diese in ihrer Intentionalität bewusst oder unbewusst auf sie Bezug nehmen würden (MEW 23, 88; vgl. Wolf 2004, 31; Wolf 2005, 21), konfundiert Link mit den „algorithmusähnlichen“ Ereignisfolgen wirklicher Kreisläufe der Ökonomie selbst. Als „Musterfall der Rekonstruktion eines Reproduktionszyklus aus geregelten Transformationen“ dient ihm dabei „der ontogenetische biologische“ Kreislauf (Link 2008, 454). In seiner Kritik an der foucaultschen Marx-Lesart wird zwar zu Recht hervorgehoben, Marx’ „Integration der ‚Tiefe in die Oberfläche‘“ und sein „zyklologisches Denken“ entziehe sich der von Foucault vorgeworfenen „empirisch-transzendentalen Doublette“, welche die „schöpferische Energeia der ‚Arbeit‘“ als den transhistorischen Movens des historischen Prozesses annimmt (ebd.). Diese Kritik an Foucaults geschichtsphilosophischer Verkürzung von Marx in Die Ordnung der Dinge ist jedoch nicht deshalb zutreffend, weil Marx seinerseits biologistisch ökonomische Zyklen als tatsächlich algorithmisch verfasste und daher inhaltlich vorhersehbare analysiert hätte. Marx geht hingegen von einer historischspezifischen sozialen Ordnung mit einer Tiefenstruktur aus, die in ihren Instanziierungen im intentionalen Handeln der Akteure aufgrund ihrer sachlichen Vermitteltheit für diese selbst unerkannt bleibt. Er erfasst kein dem biologischen System ähnliches natürliches System, welches bei Link seinerseits mathematisch reifiziert wird. Unter dem kapitalistischen Produktionsprozess wird vielmehr ein gesellschaftliches System verstanden, das zwar die eigenen Voraussetzungen, nachdem sie einmal historisch durch die Trennung der Arbeitskraftbesitzer von den Produktionsmitteln gebildet wurden („ursprüngliche Akkumulation“), systematisch reproduziert, jedoch nicht allein unter den objektiven (physischen, biologischen usw.), oder den subjektiven (psychischen), sondern auch und spezifisch unter sozialen und damit historisch endlichen Systembedingungen (vgl. Wolf 2005, 8). Diese Spezifizität drückt sich beispielsweise darin aus, dass bereits die notwendige Geldvermitteltheit des Tauschs im Kapitalverhältnis und das Auseinanderfallen von Kauf und Verkauf die permanente Möglichkeit des Abreißens der Zirkulations224
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kette, der Unterbrechung des Wertschöpfungsprozesses und somit die Möglichkeit einer Krise enthalten. Warum hingegen die historisch spezifischen gesellschaftlichen Verhältnisse sich mit einem abstrakten und entdifferenzierten Modell zyklischer Kreisläufe überhaupt adäquat begreifen ließen, ist nicht einleuchtend, müsste dieses doch dafür derart allgemein konzipiert sein, dass die Eigentümlichkeit sozial-ökonomischer Formen gerade verkannt werden müsste – damit es beispielsweise auch für die biologischen Phänomene wie DNS-Informationsübertragungen (vgl. Link 2008, 454) gelten könnte. Das Homöostaten- oder Gleichgewichtsmodell, das Link erst bei Marx unterstellt, um es anschließend auf die „Denormalisierungs-“ und „Renormalisierungsprozesse“ der Kultur zu übertragen, lässt sich in seiner Triftigkeit jedenfalls bereits aufgrund der marxschen Auffassung über die ökonomischen Krisen selbst in Zweifel ziehen. Die Gerichtetheit der Kreisläufe des kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsprozesses auf ein Gleichgewicht ist in der Tat eine Grundannahme neoklassischer Ökonomietheorien (vgl. Conert 2004, 277), die Link somit trotz der epistemologischen Kluft zwischen ihr und der marxschen Kritik unproblematisiert teilt. Sie bedürfte allerdings selbst erst eines Nachweises (vgl. Heinrich 1999, 311-315). Die von Marx als Bewegungsprozess des sich selbst verwertenden Werts analysierte kapitalistische Produktion besitzt hingegen kein immanentes Maß ausreichender Verwertung; sie ist vielmehr „maßlos und endlos“ (ebd., 314) und kann kein Kriterium für einen Gleichgewichtszustand liefern. Ebenso wenig begründet Marx eine Theorie der Zusammenbruchskrise, deren Unterstellung durch Foucault Link wiederum legitimerweise bemängelt. Marx’ krisentheoretische Ansätze entwickeln freilich dennoch neben dem Begriff der zyklischen (periodischen) Krisen auch einen allgemeinen, auf die überzyklischen Dynamiken bezogenen Krisenbegriff, der als eine Eigenschaft des Kapitalverhältnisses in seinem „ideellen Durchschnitt“ (MEW 25, 839) zu denken ist. Die ökonomischen Krisen sind demnach zwar die Widersprüche lösenden Bewegungen. Sie sind jedoch nicht auf die Beseitigung von Ungleichgewichten zu reduzieren.11 Der Verdienst von Links Theoriebildung bestünde somit darin, mit dem Begriff einer flexiblen Normalisierung auf der Ebene kultureller Formen dem nicht-personellen, anonymen Herrschaftsverhältnis spezi11 Nach Heinrich (1999, 369) spricht Marx „eine inhärent krisenhafte Form kapitalistischer Dynamik“ an, „die der Dichotomie von Gleichgewicht und Ungleichgewicht, die in der herrschenden ökonomischen Theorie ganz selbstverständlich vorausgesetzt wird, den Boden entzieht“. Marx hinterfrage eine Gleichgewichtstheorie, ohne die empirische Tatsache der Existenz von Gleichgewichten zu bestreiten. 225
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fisch kapitalistischer, durch ökonomische Krisen gekennzeichneter Vergesellschaftung auf der Spur zu sein. Die protonormalistische Form korrespondiert ihrerseits offenkundig mit dem formgenetisch vorkapitalistischen, personellen Herrschaftsverhältnis – welches in den modernen Gesellschaften keineswegs spurlos verschwindet, sondern die ebenso sehr präsente wie destruktive Reaktionsform auf jene darstellt. Dieser Zusammenhang wird von Link jedoch nirgends explizit hergestellt. Stattdessen operiert er ähnlich zu Foucault und Althusser mit einem abstrakten Machtbegriff, der keinerlei sozialformationsspezifische Bestimmungen kennt (vgl. Lindner 2006). Fragwürdig ist deshalb auch besonders der in der Normalismustheorie angewandte, im krassen Gegensatz zu der eigenen expliziten Intention stehende universelle Ideologiebegriff, der im Ergebnis sogar dazu führt, gerade in den als selbstregulierend und verselbständigt konzipierten kulturellen ‚Dispositiven‘ eine Möglichkeit der Aufhebung verselbständigter kapitalistischer Vergesellschaftung zu erblicken. Mit einer Arglosigkeit gepanzert mit Affirmation wird die Bedeutung der systematischen Schranke ökonomischer Formen ausgeklammert, welche jedoch einer, bei Link gänzlich fehlenden, methodologischen Klärung bedürfte. Denn diese Formen wären nicht als positive (auch nicht als mathematisch-probabilistisch gedachte) kausale Determinanten von wirklichen Ereignissen ‚in letzter Instanz‘, sondern als den wirklichen Ereignissequenzen zugrunde liegende spezifische historische soziale Formen zu denken und damit in einem als „offen“ zu charakterisierenden sozialen System notwendig wirkende „reale Strukturen“ (Bhaskar 2008, 13; vgl. Bhaskar 2005, 34-38).12
Verkannter Wert, verabsolutiertes Normales: Ideologieverständnis der Normalismustheorie Statt einer derartigen methodologischen Reflexion nivelliert Link in seinen zahlreichen Marx-Darstellungen durchgehend die Besonderheit der durch ein historisch-spezifisches, sachlich vermitteltes Verhältnis konstituierten sozialen Formen kapitalistischer Vergesellschaftung: den eigentlichen epistemologischen Erkenntnisgewinn Marx’ gegenüber der klassischen wie neoklassischen politischen Ökonomie und damit moderner Gesellschaftstheorie. Dies erklärt sich daraus, dass Link den Gehalt des Forschungsprogramms der Kritik der politischen Ökonomie nicht hinreichend klärt. Der sonst um ‚diskursive Brüche‘ durchaus bemühte, 12 Vgl. ebd. zu der epistemologischen Unterscheidung des Realen (soziale Verhältnisse) vom Wirklichen (Ereignissequenzen) und dem Empirischen (Bewusstseinsgehalte). 226
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die Einheit des Autors fortwährend ‚diskursanalytisch‘ auflösende Link interpretiert ausgerechnet beim Autor Marx eine monolithische, entwicklungsenthobene Kontinuität hinein, die in den verschiedenen Phasen marxscher Theoriebildung, bis hin zu den maßgeblichen, späten ökonomiekritischen Schriften, ungewandelt bestanden haben soll.13 Obwohl Link dabei nominell den Ideologiebegriff von Marx von seinem Fetischismusbegriff trennt, wirft bereits seine Analyse des Ideologiebegiffs ihren Schatten auf das verkürzte Verständnis der für die Ideologie- und Gesellschaftskritik spezifisch moderner Gesellschaften grundlegenden Kategorie des Warenfetischismus voraus. Den Ideologiebegriff erörtert Link bezeichnenderweise hauptsächlich anhand der Frühschriften Marx’, etwa der zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Deutschen Ideologie (1845/46), wobei er, darin in keineswegs origineller Manier, Marx einen mangelnden Materialismus bei der Auffassung kultureller Formen unterstellt.14 Die Ideologie sei für Marx lediglich eine „Interesse-funktionale“ Verschleierung, wovon auch die Verwendung entsprechender Metaphorik quer durch seine Werke, einschließlich des Kapital, zeuge (Link 2008, 445f.): „Ein Ensemble optischer Modelle von Illusionen und Halluzinationen wie täuschende bzw. deformierende Reflexe in Spiegeln oder auf Nebeln, verschleierte Körper, verkehrte Bilder in der Camera obscura, gespenstische Erscheinungen der Fata Morgana usw. suggerieren die ‚Ideologie‘ als irreführendes, illusionäres Abbild der jeweiligen zugrunde liegenden ‚materiellen‘ Wirklichkeit.“ (Ebd., 449)
13 Link übernimmt zwar die These vom „Einschnitt“ zwischen den „ideologischen“ und den „wissenschaftlichen“ Werken von Marx von Althusser (Link 2008, 442-445), hält aber am Fortbestehen einer identischen Ideologielehre in den beiden Phasen dennoch fest, womit die Behauptung eines fundamentalen Einschnitts auch wieder in Frage gestellt wird. Links Marx-Analyse entspricht demnach der des traditionellen Marxismus (vgl. Elbe 2006). – Die Schwäche der „Einschnitts“-These verdeutlicht auch Heinrichs (1999, 25, 82) Kritik an Althusser. Marx vollziehe zwar durchaus eine „wissenschaftliche Revolution“ auf dem „theoretischen Feld“ der politischen Ökonomie, so Heinrich, indem er die epistemologischen Grundannahmen von diesem: den Anthropologismus, den Individualismus, den Empirismus und den Ahistorismus, überwindet. Allerdings könne sich Marx auch in seinem entwickelten ökonomiekritischen Werk des Kapital hinsichtlich einzelner Theoriepartien selbst nicht vom theoretischen Feld der klassischen Ökonomie lösen. Die Theorie des Warenfetischismus ist freilich die grundlegende Theorie, mit der Marx die besagte Überwindung vollzieht. (Vgl. zu den verschiedenen Kritikbegriffen bei Marx auch Heinrichs Beitrag in diesem Band). 14 Link 2008, 445; Link 2005. Vgl. ähnlich für die Cultural Studies: Williams 1986. 227
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Die Metaphorik der Vernebelung, Verschleierung usw. mag zwar die Wirkung eines ideologisierten Sachverhalts auf das Bewusstsein der Akteure bildhaft veranschaulichen: Sie ist dem mit ihr veranschaulichten Gegenstand äußerlich.15 In der Tatsache jedoch, dass Marx etwa von der „gespenstigen Gegenständlichkeit“ des Werts spricht, sieht Link bereits einen Beleg dafür, der damit bezeichnete Sachverhalt, der Warenfetischismus selbst, sei gespenstig, ‚idealistisch‘ und daher eigentlich gar nicht materialistisch begründet. Mit der Metapherndeutung ist nun keineswegs bereits ausgemacht, worin, und vor allem aus welchem Grund, der Sachverhalt der ‚Verschleierung‘, d. h. des falschen Bewusstseins der Akteure warenproduzierender Gesellschaft, besteht. Formallogisch kann eine ideologische ‚Verschleierung‘ als eine dreistellige Relation beschrieben werden, wonach etwas (die Referenzebene) als etwas (die Erscheinungsebene) für etwas (die Bewusstseinsebene) dargestellt wird bzw. erscheint. Um sie adäquat zu fassen, müssten demnach alle drei Relata bestimmt werden. Marx’ pointierteste Metapher für die Struktur des falschen Bewusstseins ist dabei wohl die der Camera obscura, weil sie die Verkennung der menschlichen Vermitteltheit einer vermeintlich unmittelbaren, gleichsam mechanisch-apparativen Abbildung, sowie den besonderen epistemischen Charakter der ‚Verschleierung‘, nämlich das Auf-dem-KopfStehen der „verrückten Formen“ (MEW 23, 90), in einem symbolisiert: Die Erscheinungsebene der Warenwelt ist nicht nur etwas von der Referenzebene Verschiedenes. Das Erscheinende ist vielmehr zugleich der Gegensatz des darin Erscheinenden. In der Deutschen Ideologie kritisieren Marx und Engels den Junghegelianer Bruno Bauer sowie Max Stirner und Ludwig Feuerbach, deren gemeinsame Eigenschaft sie nun darin ausmachen, die gesellschaftlichmateriellen Verhältnisse statt aus ihnen selbst aus den nur in den Köpfen von Theoretikern angesiedelten „Ideen“ erklären zu wollen (MEW 3, 167, 405). Sie werden deshalb als „Ideologen“ verspottet, weil sie verkennen, dass die „herrschenden Gedanken […] weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse“ sind (ebd., 46). Dass es besonders die „deutschen“ sind, die sich als spekulative „Ideologen“ hervortun, erklären Marx und Engels dort mit den unentwickelten bürgerlichen Verhältnissen im zeitgenössischen Deutschland; anders als deutsche spekulative Philosophen bezögen sich die englischen und französischen Theoretiker, wenn auch einseitig aus dem Gesichts15 Diese Symbolik ist auch keineswegs nur für die marxsche Ideologietheorie spezifisch, über die Tatsache des falschen Bewusstseins wird erkenntnistheoretisch bereits in Bacons Idolenkritik gesprochen, vgl. Schnädelbach 1969. 228
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punkt politischer Ideologie, durchaus auch auf die materiell-gesellschaftliche Grundlage historischer Prozesse (ebd., 28, 46). Diesen spezifischen Kritikmodus an „deutscher Ideologie“ verallgemeinert nun Link nicht nur zu dem marxschen, sondern sogar zu dem „marxistischen“ Ideologiebegriff überhaupt16: Eine Ideologie sei demnach ein Theoriekomplex, der durch einen „Überhang“ von metaphorischer Sprachverwendung charakterisiert sei, deren Funktion darin liege, „die theoretischen Defizite im Wortsinne zu ‚verschleiern‘“ (Link 2008, 449). Nimmt man allerdings die späten ökonomiekritischen Schriften Marx’ als Maßstab, ist die theoretische Defizienz allein keineswegs hinreichendes Merkmal des falschen Bewusstseins der Akteure bürgerlicher Gesellschaft. Defizienz ist in jeder Theorie möglich, und Wissenslücken können durch gelungene oder weniger gelungene Metaphern zu schließen versucht werden. Hingegen ist nach Marx die ideologische Verschleierung in der Warenwirtschaft nicht durch diesen oder jenen zufälligen theoretischen Irrtum oder durch eine Defizienz bedingt, die sich dem subjektiven Verfehlen Einzelner oder objektiver Unzugänglichkeit eines Sachverhaltes für die Erkenntnis verdankte, sondern sie ist, durch die spezifisch sachlich vermittelten ökonomischen Verhältnisse bedingt, notwendig. Auch die „allen bisherigen Marxismen“ als „neuralgischer Schwachpunkt“ (ebd., 445) unterschobene Auffassung instrumentellintentionaler Verschleierung besonderer Interessen durch eine bestimmte Klasse (also „Priestertrugstheorie“; vgl. Schnädelbach 1969, 77), die in der Deutschen Ideologie noch figuriert, verwirft Marx demnach in Konsequenz seiner ausgearbeiteten Kritik am methodologischen Individualismus und kommt auf sie später nicht mehr zurück. Das Kapital handelt hingegen vom notwendigen Schein, welcher eine allgemeingesellschaftliche, und keine gruppen- oder klassenspezifische, Grundlage hat, demnach auch nicht auf eine Manipulation durch diese oder jene soziale Gruppe zurückzuführen ist, ohne dabei die Möglichkeit und die Wirklichkeit faktischer Manipulation ausschließen zu müssen. Folgerichtig taucht dort auch der Ideologiebegriff nicht mehr auf. Marx’ Untersuchungsgegenstand im Kapital sind nicht die verschiedenen empirisch anzutreffenden Ideologien des Alltagsbewusstseins, sondern die Darstellung des systematischen Zusammenhangs von fetischisierten Formen kapitalistischer Vergesellschaftung sowie ihrer Reflexion in den Lehren der klassischen politischen Ökonomie. Diese grundlegende for16 Schmieder verweist hingegen auf die doppelte Kritikabsicht der Deutschen Ideologie, die neben der „deutschen“ im Besonderen zwar durchaus auch auf die Kritik der Ideologie im Allgemeinen gerichtet ist, sich allerdings dort kaum noch von dem von Marx und Engels kritisierten anthropologischen Materialismus Feuerbachs unterscheidet (2004, 239-243). 229
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schungsprogrammatische Tatsache verdreht Link zur Unterstellung, bei Marx „signalisiere“ „der Komplex ‚Ideologie‘ […] ein paradoxes Defizit an Materialismus der Diskurse und Subjektivitäten“ (ebd., 449), gleichsam als ob die Tatsache der Abwesenheit von Abhandlungen über biochemische Gesetze ein paradoxes Defizit der Berücksichtigung chemischer Prozesse in der Theorie kapitalistisch-ökonomischer Formen ‚signalisierte‘. Dabei reduziert Link selbst die von Marx untersuchten ökonomischen Kategorien auf ein abstraktes und allgemeines Modell zyklischer Kreisläufe in Gestalt einer unbestimmten Systemtheorie. Seine unbegründete Annahme bildet die Rechtfertigungsgrundlage für die Kulturtheorie als Theorie eines autonomen sozialen Teilbereichs. Link kann jedoch dabei weder angeben, worin die Relation zwischen den „relativ autonomen“ kulturellen und ökonomischen Formen bestehen soll; noch ihre Autonomie aufzeigen, d. h. eine ähnlich der von Marx für die kapitalistischen ökonomischen Formen dargestellte „eigentümliche Logik eines eigentümlichen Gegenstandes“ (MEW 1, 296) begründen. Das Missverständnis kulminiert in den bloß supplementären Ausführungen zur Theorie des Warenfetischismus. Den „Fetisch“, der etwas von der Ideologie „recht Verschiedenes“ sei (Link 2008, 450), analysiert Link mit der expliziten Intention, das Normale als eine kulturelle Form analog zu ökonomischen fetischisierten Formen zu erklären. Nur einige wenige Zitate aus dem Kapital sollen dabei sein Verständnis explizieren: Bei den „Fetischen“ handele es sich „[…] um ‚Formen des menschlichen Lebens‘, und zwar ‚sachliche Formen‘ (MEW 23, 94), um ‚Naturformen des gesellschaftlichen Lebens‘, und zwar ‚gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen‘ (ebd., 90), die lediglich nicht ‚durchsichtig‘ sind […]“ (ebd., 451). Die unmittelbar anschließenden Aussagen lassen seine Verkürzung manifest werden: „Der ‚mystische Nebelschleier‘ (ebd.: 94) steht hier also bloß für die mangelnde Transparenz eines ansonsten ‚gesellschaftlichen Verhältnisses von Gegenständen‘, von ‚gesellschaftlichen Dingen‘ (ebd., 86), d. h. für die Tatsache, dass eine gesellschaftliche Gegenständlichkeit als bloße, und deshalb dann in falscher Interpretation als natürliche, also transhistorische Gegenständlichkeit und eben nicht als gesellschaftliche, mithin historische Gegenständlichkeit erscheint“.17
17 Das steht allerdings im Widerspruch zum Versuch über den Normalismus, in dem festgehalten wird: „Dabei [bei dem Fetisch, Anm. D. D.] ist der Akzent auf das ‚Imaginäre‘, ‚Fiktive‘ und ‚Illusionäre‘ gelegt. Für Marx besitzt der Fetisch der archaischen Religionen nach gut aufgeklärter Weise keine ‚Realität‘, ist bloße (wenn auch historisch ‚notwendige‘) ‚Illusion‘“, Link 1999, 232. 230
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Allerdings besteht die Besonderheit des Warenfetischismus nach Marx keineswegs allein darin, dass eine historisch spezifische Gegenständlichkeit als eine natürliche im Bewusstsein oder Unbewussten der Menschen abgebildet wird. Nach Marx werden vielmehr in der warenproduzierenden Gesellschaft die materiell verschiedenen, konkret-nützlichen Arbeiten durch ihre Inbezugsetzung zueinander als allgemein-menschliche, von den Besonderheiten der Einzelarbeiten losgelöste Arbeiten gleichgesetzt. Durch diese Gleichsetzung konstituiert die abstrakt-menschliche Arbeit eine von dem Gebrauchswert der Arbeitsprodukte unabhängige und zu ihm im Widerspruch stehende, weil gegensätzliche Verwendung bzw. Bewegungsform implizierende, „Wertgegenständlichkeit“ (MEW 23, 62). Weil diese Wertgegenständlichkeit nichts ist, was durch die menschliche Absicht oder auch ein unbewusstes Begehren erzeugt wird, vielmehr ein gesellschaftliches Darstellungs- und Geltungsverhältnis des Werts einer Ware im Gebrauchswert einer anderen, in welchem die Produkte menschlicher Arbeit zueinander wirklich stehen und das das menschliche Verhalten als Warenbesitzer erst ermöglicht, ist sie in der Tat eine historisch-besondere Gegenständlichkeit: In jeder menschlichen Gesellschaft existieren Arbeitsprodukte, nicht jedoch die Gegenständlichkeit des Werts. Diese ist aber spezifisch eine solche gesellschaftliche Gegenständlichkeit, die sich keiner „falschen Interpretation“, sondern der wirklichen Inbezugsetzung und Gleichsetzung der Arbeitsprodukte als Träger abstrakt-menschlicher Arbeit, vor jeder intentionalen Bezugnahme auf sie durch die Akteure, verdankt. Auch eine Sprache ist beispielsweise eine historisch-besondere gesellschaftliche Gegenständlichkeit im vergleichbaren Sinn. Ihre gesellschaftliche Geltung, die Tatsache, dass die hervorgebrachten Töne die von ihnen verschiedene Bedeutung haben, wird allerdings durch die Beziehungen zwischen den (als materielle Phänomene vergänglichen) Lautkomplexen, nicht durch eine Beziehung zwischen den von den Menschen veräußerten Arbeitsprodukten, konstituiert (Wolf 2005, 18). Die Wertgegenständlichkeit existiert im Unterschied dazu, weil die von den Menschen produzierten und von ihnen materiell unabhängigen Arbeitsprodukte in einem gesellschaftlichen Darstellungsverhältnis zueinander stehen und als solche die Grundlage ihres Handelns als „Warenhüter“ (MEW 23, 99) bilden. Mithin sind auch die „objektive[n] Gedankenformen“ (ebd., 90) von Wert, Geld, Kapital usw., die Marx deshalb so bezeichnet, weil sie die Reflexionen der durch die Sachen vermittelten Verhältnisse im Bewusstsein und Unbewussten von Menschen sind, keineswegs „lediglich nicht ‚durchsichtig‘“. Vielmehr sind sie die notwendigen Erscheinungsweisen dessen, was die Sachen im gesellschaftlichen Geltungsverhältnis als Wa231
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ren wirklich sind: Die „objektiven Gedankenformen“ reflektieren im Bewusstsein und Unbewussten nur die durch die Verhältnisse der Sachen (Waren) zueinander konstituierten Verhältnisse zwischen den Personen, wobei dieser Reflexionsvorgang statt als eine mechanische Abbildung als ein Repräsentations- bzw. ‚Konstruktions‘-Vorgang zu denken ist: Die Formbestimmtheit der Waren verschwindet nämlich im Reflexionsvorgang und ist im Alltagsbewusstsein unsichtbar. Der Warenfetischismus ist damit keineswegs bloß „imaginär“, „fiktiv“ und „illusionär“. Vielmehr ist er real, im Sinne eines historisch-spezifischen, endlichen, gesellschaftlichen Verhältnisses, welches aufgrund des besonderen gesellschaftlichen Geltungsverhältnisses der Arbeitsprodukte als Waren besteht. Im Unbewussten wie Bewusstsein der Akteure bürgerlicher Gesellschaft hingegen sowie in ihren kulturellen Produkten, und entsprechenden institutionalisierten Praxisformen, sind nur die Erscheinungsweisen dieser sozialen Verhältnisse bzw. realen Strukturen anzutreffen. Die Menschen erkennen beispielsweise im Geld keine notwendig aus der Warenform der Arbeitsprodukte sich ergebende Wertform des allgemeinen Äquivalents, sondern betrachten es als ein Ding unter anderen, das in ihren fetischisierten Plausibilisierungsversuchen dann entweder naturalisiert oder auf ein konventionelles Zeichen reduziert wird (ebd., 105). Daher verfehlt auch jene ‚Kritik‘ gänzlich ihren Gegenstand, Marx hätte „konsequenterweise“ – d. h., weil Link ihm einen Ökonomismus der Herleitung aller gesellschaftlichen Phänomene aus den ökonomischen Formen unterstellt – auch die Kategorie des Normalen ökonomisch ableiten und als „Fetisch“ begreifen müssen (Link 2008, 451). Die ‚Ableitbarkeit‘ des Normalen bzw. seine Begründung als ein fetischisiertes Phänomen ist indes überhaupt fragwürdig, weil dafür erst der systematische Zusammenhang zwischen dieser ‚Kategorie‘ und jenen ökonomischen Formen nachzuweisen wäre, die Marx als die für die kapitalistische Vergesellschaftung notwendigen ausmacht. Jede von diesen Formen wird dabei als eine eigenständige durch das Aufweisen der logisch-systematischen, d. h. real-handlungsermöglichenden Mängel bzw. Widersprüche der vorhergehenden begründet: So löst die Wertform des allgemeinen Äquivalents als die notwendige Bewegungsform die Widersprüche der einfachen Wertform und lässt sie somit zugleich, als prozessierenden Widerspruch, bestehen. Gleichzeitig sind die ökonomischen Kategorien, die in ihrer konsekutiven theoretischen Darstellung als Resultate erscheinen, in ihrem logisch-systematischen Nebeneinander selbst die Voraussetzungen von den darstellungstechnisch vorhergehenden Kategorien: Der Wert kann beispielsweise ohne das gesellschaftlich entfaltete Verhältnis des Kapitals nicht als solcher begriffen werden 232
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(Wolf 2004, 23-26). Die ökonomischen Kategorien des Kapitalismus sind somit die notwendigen Bewegungsformen von Widersprüchen einzelner ökonomischer Formen, die einen systematischen Zusammenhang bilden.18 Die Normalität ist hingegen gerade keine ökonomische Kategorie in diesem Sinn! Dafür, dass etwas die soziale Form des Werts annimmt und damit zur Ware wird, ist es unerheblich, ob dieses etwas normal oder anormal, oder weder das eine, noch das andere ist. Eine präzise Bestimmung des systematischen Stellenwerts des Normalen als einer kulturell-gesellschaftlichen Größe bleibt bei Link aus. Einerseits bekräftigt er die Entstehung des Normalismus mit dem Kapitalismus (Link 1999, 235), andererseits aber auch die Unabhängigkeit jenes „Komplexes“ von diesem und nennt dafür als historische Beispiele die Sowjetunion und den Nationalsozialismus, in welchen gleichermaßen protonormalistische Praxisformen vorgeherrscht hätten. Damit unterstellt er nicht nur groteskerweise die Überwindung des Kapitalismus im ‚real existierenden Sozialismus‘ der Sowjetunion19; und wird zugleich mit seiner implizierten Formel ‚Kapitalismus plus „durchgedrehter Protonormalismus“‘ der historischen Einmaligkeit des nationalsozialistischen Deutschlands, in dessen Struktur und Praxis der Vernichtungsantisemitismus die wesentliche Rolle gespielt hat, nicht gerecht.20 Die Normalismustheorie verabsolutiert überhaupt das Normale/Anormale zu einer für die modernen Gesellschaften fundamentalen Kategorie, als welche sie aber diese nur postulieren kann, ohne ihren systembildenden Charakter nachzuweisen. Gleichzeitig führt sie mit dem Begriff des flexiblen, quantitativ-statistisch bestimmten Normalen einen wesentlichen Aspekt des Abstrakt- und Selbständigwerdens der formgenetisch kapitalistisch bestimmten Produktion gesellschaftlicher Moralregeln sowie ihrer Reproduktion, Systematisierung, d. h. Serialisierung und Verbreitung durch die modernen Medien vor Augen, ohne freilich diesen Aspekt in den eigenen Materialanalysen auf den Begriff zu bringen. Das flexible Normale/Anormale wäre indes als die Form zu begreifen, in welcher das empirisch unsichtbare abstrakt-anonyme Wert- und Kapitalverhältnis in den konkreten kulturellen Bildern und Narrativen in fetischisierter Gestalt, und d. h. notwendig falsch, sinnlich fassbar gemacht 18 Wolf bezeichnet sie deshalb als „Problem lösende Strukturen“ oder „processing complexities“, 2005, 15, 9. 19 Er missversteht den monetären Charakter marxscher Werttheorie und redet durch eine bloße definitorische Setzung des „bloßen Produktentauschs“ die Existenz des Geldes und der Warenform in der sowjetischen „sozialistischen Produktionsweise“ klein, Link/Link-Heer 1980, 148-150. 20 Vgl. dazu Neumann 1993, der freilich dem antisemitischen Ressentiment keine zentrale Bedeutung zuspricht. Vgl. Links Behandlung beider Formationen in Link 1999, 298, 309-311. 233
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wird – sowie das unflexible, „Proto“-Normale als die zwar strukturell vormoderne, aber in der Moderne perennierende, regressive Reaktionsform auf jenes Verhältnis.
Schlussbemerkung Ein anderer Zugang zur Bestimmung des Wechselverhältnisses von Wert und Normalem erscheint somit sinnvoll, der hier abschließend lediglich skizzenartig, anhand eines fernsehanalytischen Beispiels, angedeutet werden soll. Eine Reality-Show wie Dsheobari des georgischen Fernsehens21 etwa gibt ein gutes Exempel für die Form von konfrontativer Wechselbeziehung der „flexiblen“ und der „protonormalistischen“ Normalität ab. Ihre zwölf Kandidatinnen bzw. Kandidaten selbst repräsentieren die breite ‚Mitte‘ des differenziellen flexiblen Normalen. Im dramaturgisch und narrativ tragenden wirtschaftlichen Wettbewerb, der Arbeit in einer Bar, und im nicht minder zentralen Wettkampf in der Privatsphäre, im Bilden von kleinen ‚Cliquen‘ und ‚Teams‘, in der Attraktion/Abstoßung von Symphatien/Antipathien seitens der Spielerinnen und Spieler, anderer Telefiguren wie der Moderatorin, der Prominenten usw. – sowie der Zuschauerinnen und Zuschauer –, müssen die Kandidatinnen und Kandidaten sich stets gegenseitig als formell Freie und Gleiche: als unter den Charaktermasken privater Warenproduzenten um ihren Gewinn konkurrierende Personen anerkennen. Konflikte entstehen dann auch zumeist aufgrund der Problematisierung des Verhaltens entsprechend den ‚herkömmlichen‘, d. h. patriarchalen, sexistischen, rassistischen: der Form personaler Herrschaft unterworfenen („protonormalen“) Regeln sowie – kaum paradox – gegenläufig dazu auch des normativen Einforderns desselben als dem ‚georgischen nationalen Kollektiv‘ angemessenen Moralverhaltens. Es handelt sich hierbei um keinen Konflikt zwischen ‚Individualismus‘ und ‚Kollektivismus‘. Vielmehr wird der „vereinzelte Einzelne“ (Marx 1974, 6) als Teil eines „modernen“ Kollektivs privat-dissoziierter Warenproduzenten, und umgekehrt die „protonormalistisch“ Handelnden zugleich als individuelle Mitglieder der traditionellen ‚georgischen Kollektivgemeinschaft‘ repräsentiert.
21 In Dsheobari (Georgische Bar), Rustavi 2, 2005-2007, konkurrieren zwölf in einem geschlossenen Haus wohnende und rund um die Uhr durch Fernsehkameras beobachtete Spielerinnen und Spieler um einen Geldpreis, indem sie eine Bar betreiben; durch Zuschauervoting werden wöchentlich Kandidatinnen und Kandidaten aus dem Spiel herausgewählt. 234
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Die Konstituierung des flexiblen Normalen/Anormalen in dieser Sendung prozessiert nun folgendermaßen: Die Gewinnerermittlung erfolgt zum einen auf der Basis quantitativer Indizien, wie den wöchentlich in den so genannten „Barrings“ erwirtschafteten Geldsummen. Zusammen mit anderen quantitativen Daten, wie beispielsweise den Zuschauerstimmen, ermöglichen diese quantitativen Größen verschiedene statistische Ratings und Leistungsvergleiche. Diese werden in der Sendung durch Infografiken, andere grafische Visualisierungen sowie in den thematisierenden Dialogen oder Monologen der Figuren selbst, im televisuellen Modus der confessional shots, inszeniert. Die quantitativen Größen zeigen somit unmittelbar den von den besonderen ‚Teams‘ bzw. individuellen Kandidatinnen und Kandidaten verdienten Tauschwert oder das, was man ‚indirekten Preis‘ nennen könnte, an. Zum anderen erfolgt auch eine sekundäre oder Pseudo-Quantifizierung und Bemessung der qualitativen Bestimmungen von Menschen: anhand ihrer persönlichen Eigenschaften. So wie in der MTV-Sendung Next22 die Menge der Minuten, die mit einem Date verbracht werden, unmittelbar der Menge des durch eine Kandidatin oder einen Kandidaten gewonnenen Geldes korrespondiert, indem die Geldsumme ihren ‚Gebrauchswert‘ als passende/unpassende Beziehungspartnerinnen oder -partner ausdrückt, verwendet Dsheobari ähnliche simple Verfahren, um den persönlichen Eigenschaften der Spielenden pseudo-quantitative Äquivalente bzw. Wertausdrücke (‚indirekte Preise‘) zu verschaffen. Diese dienen als Vergleichskriterien für ihr Abschneiden in ihrer ökonomischen wie außer-ökonomischen Konkurrenz gleichermaßen. Alle Kandidatinnen und Kandidaten geben gegenseitig auch ihre Stimmen füreinander ab, eine Art Kopfnote, die sie in den wöchentlichen „Plus-MinusPunkte-Treffen“ vor den Kameras erläutern und rechtfertigen. Die abgegebenen Zuschauerstimmen dienen zugleich auch zur Pseudo-Quantifizierung, Messung und Bewertung ihrer persönlichen Qualitäten. Für welche je besondere Kombinationen persönlicher Eigenschaften (Vertrauenswürdigkeit, Führungsstärke, Sensibilität, Klugheit etc.) die höhere oder niedrigere Stimmenzahl erhalten wird, ist dabei beliebig und situativ. Umgekehrt dient auch der jeweils besondere ‚Gebrauchswert‘ (Eigenschaften wie das Aussehen, die Ausdrucksweise, die spezifischen Fähigkeiten usw.) der Kandidatinnen und Kandidaten dazu, ihren jeweiligen ‚Wert‘ oder ‚indirekten Preis‘ darzustellen. Dieser ‚indirekte Preis‘ der Kandidatinnen und Kandidaten kann nicht rein quantitativökonomisch erfasst werden23: In der Sendung sind sie keine Lohn22 MTV, seit 2005. 23 Die Begriffe des kulturellen, sozialen und symbolischen Kapitals von Bourdieu (vgl. etwa Bourdieu 1998, 20f.) werden bewusst vermieden, da 235
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arbeiterinnen und -arbeiter, deren Arbeitskraft-Marktpreis tatsächlich in Proportion zum gesellschaftlichen Durchschnitt zu ermessen wäre, obwohl sie faktisch auch Geld verdienen. Vielmehr geht es nur um die televisuelle Repräsentation der Fähigkeiten und Eigenschaften, die als für den Erfolg auf dem Arbeitsmarkt in einer bestimmten Branche (hier des Dienstleistungssektors) notwendige dargestellt werden. Die Dynamik der Sendung basiert somit auf der kontinuierlichen Einschätzung des ‚Werts‘ bzw. des begehrten Gebrauchswerts oder der Attraktivität und Unattraktivität der Arbeitskraft sowie der Persönlichkeit der Figuren. Diese Attraktivität/Unattraktivität besitzt kein direktes quantitatives und ökonomisches Äquivalent; ihre direkte Abbildung, im Sinne expliziter Preisbestimmung, würde auch den Spielcharakter der Sendung prekär werden lassen. Vielmehr wird sie durch jene symbolischen, konnotativen und emotionalisierten Bilder und Narrative zum Ausdruck gebracht, die, je nach dem Erfolg/Misserfolg einzelner Kandidatinnen und Kandidaten, zur Projektionsfläche für die positiven/negativen Wunschbesetzungen durch das Publikum werden. Die Sendung reagiert somit – und reguliert zugleich in einer Art statistischem Verfahren, unter anderem mit Hilfe der Rückkopplung der Zuschauerabstimmung – darauf, was als jeweils begehrt bzw. erwünscht oder unerwünscht und damit als gesellschaftlich normal/anormal konstituiert wird – ist doch das gesellschaftlich Normale und Anormale keine bloß abstrakte, dynamische Durchschnittsgröße, sondern fungiert zugleich als ein in den televisuellen Inszenierungen verkörpertes differenzielles Objekt von Identifikation und Begehren seitens der Zuschauenden. Die Sendung stellt damit also andauernd jene von Link gemeinte „Gaussoide Verteilungskurve“ der Mitte und der Extreme des Normalen/Anormalen dar, wobei das gesellschaftlich Anormale, so unter den zwölf Kandidatinnen und Kandidaten von Dsheobari, entweder von vornherein außerhalb des Sichtbaren bleibt oder als Unattraktives in erster Linie ‚ausgesiebt‘, d. h. stigmatisiert und negativ konnotiert inszeniert wird. (Beispielsweise wurde in der 4. Staffel der Sendung ein Kandidat nach dem Bekanntwerden seiner Homosexualität live vorzeitig aus dem Spiel entlassen. Diese persönliche Eigenschaft, obwohl aus der Perspektive des Kapital- und Wertverhältnisses neutral, passte nicht in die Grenzen des gesellschaftlich Normalen des ‚georgischen nationalen Kollektivs‘: ein Fall des „protonormalistischen“ Eingriffs). Das ProzesBourdieus Kapitalbegriff zu einer problematischen Äquivokation führt: Der systematische Aspekt des Kapitalverhältnisses, seine Selbstreproduktion unter endlichen gesellschaftlichen Bedingungen, wird mit jenem bloß evoziert. Überdies ist besonders seine Unbewusstheit im Alltagsbewusstsein gerade mit den symbolischen Semantiken des Habitus inkongruent. 236
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sieren dieser Sendung hin zu Gewinnerin oder Gewinner ermittelt somit jeweils den Kern des Normalen, das empirisch zwar immer wieder durch eine neue Kandidatur/Größe verkörpert werden kann, funktional jedoch stets die ‚Mitte‘ des Normalen repräsentiert, um die ‚herum‘ seine Gradationen sich gruppieren. – Mit den kulturellen Verfahren solcher Form erhält das empirisch unsichtbare Wertverhältnis im ‚indirekten Preis‘, dargestellt als begehrtes oder unbegehrtes Normales/Anormales, seine alltägliche Sichtbarkeit und bleibt zugleich in seiner gesellschaftlichen Genese unkenntlich und unsichtbar.
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Soziologisc he Aufklärung zwischen Kritik, Affirmation und Normativität: Implikatione n de r Theorie sozialer Sy steme für das Projekt einer Fortschreibung de r Kritischen The orie HANNO PAHL
Vorbemerkung Unter dem Titel „ErkenntnisArbeit“ wurden auf der Promovierendentagung der Hans-Böckler-Stiftung verschiedene Zugänge u. a. zur Frage der Selbstreflexion wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion gesucht. In diesem Zuge war ein Panel der materialistischen Staatstheorie von und im Anschluss an Marx gewidmet, wobei Berührungs- und Abgrenzungspunkte zur poststrukturalistischen Machtkritik (Foucault) ebenso wie zur systemtheoretischen Gesellschaftstheorie der Politik (Luhmann) ausgelotet wurden, sekundiert durch Bezugnahmen auf diverse neomarxistische Theorieangebote (siehe dazu auch die Beiträge von Ingo Elbe und Devi Dumbadze in diesem Band). Mein eigenes Referat hat in selektiver Weise versucht, einige instruktive Implikationen oder Irritationen zu eruieren, die die Auseinandersetzung mit der Theorie sozialer Systeme bei dem Versuch ergibt, sich um eine Fortschreibung der Kritischen Theorie zu bemühen. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass sowohl die Kritische Theorie (in ihren diversen Varianten) wie auch die Theorie sozialer Systeme dezidiert das Anliegen einer Gesellschaftstheorie vertreten. Für den Fall einer Theorie des Politischen impliziert eine solche Zugriffsweise die Annahme, dass normative Strukturmuster und 241
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Semantiken (wie das Recht oder die Politik und ihre einschlägigen Reflexionstheorien) nicht aus sich selbst heraus zureichend zu begreifen sind, sondern nur vermittelst eines Rekurses auf die Struktur der modernen Gesellschaft. Dass beide Theorietraditionen im Einzelnen dann zu doch recht konträren Einschätzungen bezüglich der Struktur und Funktion des Politischen in der Moderne kommen, hat demnach nicht zuletzt mit den jeweils zugrunde gelegten, unterschiedlichen Gesellschaftsbegriffen zu tun. Der vorliegende Text soll einige Kernaspekte der Motorik der luhmannschen Theorie der Gesellschaft rekonstruieren, um von dieser Warte aus tentative Anregungen und Fragen für die Fortschreibung einer Kritischen Theorie im Anschluss an Marx abzudestillieren.1 Insgesamt hat man es an dieser Baustelle mit ebenso verwaisten wie verhärteten Fronten zu tun, was einen Ausdruck u. a. in der weitverbreiteten, konsequenten Weigerung findet, jeweils konkurrierende Theorieunternehmen überhaupt in ihrer Binnenlogik ernst bzw. zur Kenntnis zu nehmen. Das mag den einen oder anderen Zweck erfüllen (vor allem: Komplexitätsreduktion), eine sinnvolle Verständigung über Konstruktionsprobleme soziologischer Gesellschaftstheorien dürfte dadurch allerdings desavouiert werden. Das Unterfangen, so soll hier ebenfalls gleich eingangs vermerkt werden, sich ernsthaft auf die Argumente und den Kategorienapparat der Theorie sozialer Systeme einzulassen, ohne ihnen gleichzeitig kritiklos zu verfallen, ist und bleibt ein schwieriges. Es handelt sich – wenn man sich so ausdrücken möchte – um eine Art ‚BorgTheorie‘ oder jedenfalls um einen Sirenengesang. Wer nicht gleich präventiv die Ohren verschließt, gerät in Gefahr, früher oder später ‚assimiliert‘ zu werden, zumal wenn – das hat der kritische Theoretiker heute mit den antiken Seefahrern gemein – weit und breit kein sicherer Hafen in Sicht ist (oder dies jedenfalls die Ansage ist, die uns die Software unserer einschlägigen Navigationsgeräte liefert). Ziel der folgenden Überlegungen ist es nicht, Übernahmeangebote hinsichtlich einzelner Theoreme zu machen, die sich beispielsweise dem Korpus der Systemtheorie entnehmen und der materialistischen Staatstheorie injizieren ließen (siehe dazu aber die instruktiven Überlegungen bei Jessop 2008). Im Zentrum steht viel mehr eine an ausgewählten Problemkomplexen exemplifizierte (und insofern wiederum selektive) Verständigung über den grundlegenden Theorietypus der Theorie sozialer Systeme in Relation zur Kritischen Theorie. Der erste Abschnitt 1
Aus Platzgründen müssen die entsprechenden Ausführungen zur Theoriearchitektur bei Marx und in der Kritischen Theorie im vorliegenden Text äußerst knapp ausfallen. Pauschal kann hier auf den Diskursstrang zur „Neuen Marx Lektüre“ verwiesen werden (vgl. Backhaus 1997; Heinrich 2001; Reichelt 2008).
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steckt das Terrain oder den Hintergrund ab, auf bzw. vor dem sich die folgenden Ausführungen bewegen. Es wird die Rezeptionsgeschichte der Systemtheorie in punktueller Weise beleuchtet, nicht um irgendwie geartete Gewissheiten zu verbreiten, sondern um das Diskussionsfeld zu öffnen. Der zweite Abschnitt diskutiert daraufhin, welche fundamentalen Differenzen schon in der Konzeption des Gegenstandes ‚Gesellschaft‘ mögliche Begegnungsweisen von Kritischer Theorie und Systemtheorie erschweren. Zwar konvergieren beide Theorietraditionen in der Annahme einer Eigenständigkeit oder Emergenz des Sozialen, zugleich divergieren sie fast vollständig sowohl in der Konzeptualisierung dieses Befundes als auch in den theoretischen wie praktischen Perspektiven, die hieraus zu ziehen sind. Dies kann zunächst einmal lediglich zur Kenntnis genommen werden. Abschnitt drei dient der Irritation der Kritischen Theorie: Es wird diskutiert, welche Motorik der systemtheoretischen Theorie sozialer Evolution zugrunde liegt und der Kritischen Theorie wird vor diesem Hintergrund empfohlen, sich auf die im medientheoretischen Diskurs der letzten Jahrzehnte generierten Fragen nach der Strukturprägekraft von Medien (Sprache, Schrift, Buchdruck etc.) einzulassen. Der letzte Abschnitt schließlich kommt noch einmal explizit auf das bei Luhmann in Anschlag gebrachte Verfahren soziologischer Aufklärung zu sprechen und setzt es in Beziehung zu Verfahren der Gesellschaftskritik.
Zwischen Wechselwirkungslosigkeit und Vereinnahmung: Verlautbarungen an den Schnittstellen von Kritischer Theorie und Systemtheorie In den 1970er Jahren war die Welt noch in Ordnung und die Diskurslandschaft schien vergleichsweise übersichtlich strukturiert: Auch wenn sich keiner der an der so genannten Habermas/Luhmann-Kontroverse direkt Beteiligten das Label der ‚Sozialtechnologie‘ als Kennzeichnung der eigenen theoretischen Reflexionsmanöver auf die Fahnen schreiben lassen wollte, so hatte es sich in der Folge in weiten Kreisen der Kritischen Theorie eingebürgert, Habermas auf der Seite der Gesellschaftstheorie zu platzieren, Luhmann hingegen als prototypischen Sozialtechnologen einzustufen. Das konnte zumeist geschehen, ohne sich im Detail auf den Theoriekorpus der Systemtheorie überhaupt einzulassen. Zu deutlich schien die von Luhmann weitergeführte funktionalistische Analyse in der Tradition des parsonsschen Strukturfunktionalismus zu stehen, der seinerseits bereits im Zuge der 1960er Jahre als ein um gesell243
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schaftliche Bestandserhaltung zentriertes, konservatives Denken charakterisiert wurde. Für den Fortgang lässt sich allerdings ein gehöriges Maß an Diskursverwirrung verzeichnen, an dem sich wiederum die (heutige) theoretische Reflexion entzünden könnte. Spätestens seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre haben sich explizite Stellungnahmen aufgehäuft, die von der vormaligen Leitunterscheidung ‚Gesellschaftstheorie versus Sozialtechnologie‘ abgerückt sind und das Diskursuniversum auf neue Weise zu strukturieren versucht haben. Stichweh (1999, 207) beispielsweise stellt mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte der Systemtheorie fest: „Wenn man diese Zusammenhänge sieht, wird deutlich, wie sehr die Rezeptionsgeschichte von Luhmanns Werk mit der Studentenbewegung um und nach 1968 und mit der gleichzeitigen Renaissance der Kritischen Theorie und des Marxismus verknüpft ist. Luhmann stand diesen politischen und intellektuellen Bewegungen zwar so fremd gegenüber, wie dies nur denkbar ist. Gleichwohl bestand sein Publikum für lange Zeit zu großen Teilen aus Lesern, die vom Marxismus oder der kritischen Theorie her die Erwartung auf eine systematische und gesamtgesellschaftliche Theorie mitbrachten, eine Erwartung, die diese Denkrichtungen selbst nicht mehr zu erfüllen vermochten. Auch wenn gelegentlich die Meinung vertreten wird, das Luhmannsche Unternehmen sei (politisch) konservativ, so hat seine Theorie in Kreisen der BRD, die sich selbst als konservativ verstehen, doch nie ein Interesse gefunden. Sofern man konsequent rezeptionsgeschichtlich denkt, liegt eher die Vermutung nahe, dass sie das Erbe des Marxismus angetreten hat“.
Ganz ähnlich auf rezeptionsgeschichtliche Sachverhalte abhebend argumentiert auch Diederichsen (2001, 12), einer der „Cheftheoretiker“ der deutschen „Poplinken“, mit der Feststellung: „Die empirischen 68er sind in Deutschland im Verlauf der 80er Jahre Luhmannianer geworden. […] Nur Luhmann stellte ein theoretisches Angebot dar, mit 68 zu brechen, ohne sich zu fühlen, als sei man hinter 68 zurückgegangen oder gar vollständig reaktionär geworden“. Ein drittes Beispiel findet sich schließlich bei Baecker (1998, 11, Herv. H. P.), der in einem Nachruf auf Niklas Luhmann folgende pointierte Kurzzusammenfassung von dessen Theorieunternehmen angeboten hat: „Die Welt ist nicht in Systeme geordnet, sondern sie zerfällt in Systeme, die alle ihre eigene Umwelt haben. In diesen Systemen arbeiten selbstreferentielle Mechanismen, die nur eine Sorge haben: die Fortsetzung des Systems zu sichern. Mit Rationalität hat das nichts zu tun, mit Fortschritt auch nichts. Diese Beobachtungsform überträgt die marxsche Analyse der Ökonomie auf die gesamte Gesellschaft, korrigiert dementsprechend die Überschätzung der Öko-
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nomie (die bei Marx, wie man inzwischen weiß, auch eine Unterschätzung war) und findet keine Ansätze mehr für die Erwartung einer Revolution“.
Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, all jene Umbaumaßnahmen im Einzelnen zu diskutieren, die Luhmann über die Jahre am zunächst maßgeblich von Parsons übernommenen Kategorienapparat vorgenommen hat, und die nicht zuletzt dafür verantwortlich zeichnen dürften, dass die Theorie sozialer Systeme mittlerweile auch in linken Kreisen anschlussfähig geworden ist. Stellvertretend kann allerdings darauf rekurriert werden, in welch unterschiedlicher Weise ein sich durchhaltendes Zentralmotiv – die These von der funktionalen Primärdifferenzierung der modernen Gesellschaft – bei Parsons und bei Luhmann orchestriert bzw. moduliert wurde. So finden wir bei Nassehi (2003, 166) die wissenssoziologisch akzentuierte Einschätzung, nach der die parsonssche Theorie aus heutiger Perspektive im Kern als „differenzierungstheoretische Modernisierungstheorie“ und als „Reflexionstheorie des Westens“ verstanden werden müsse. Die tendenziell harmonische Anlage der Theoriearchitektonik mit dem in ihr analytisch festgeschriebenen unproblematischen Wechselspiel von Differenzierung und Integration sei nicht zuletzt das Resultat der als evolutionäre Universalie aufgefassten „Integrationsfähigkeit des modernen, liberalen Staatsmodells“. Es sei, so Nassehi, „der moderne Nationalstaat [gewesen], der die widerstreitenden Logiken des Modernisierungsprozesses – Recht und Politik, Ökonomie und Religion, Bildung und Kunst, Massenmedien und Wissenschaft – gebündelt hat. […] Und auf dem Boden dieser historischen Erfahrung wird dann auch deutlich, dass die Selbstbeschreibung der Gesellschaft als differenzierter Einheit die Integrationsfunktion durch die politische Segmentierung der Welt vergleichsweise unproblematisch voraussetzen konnte.“ (Ebd., 164; ähnliche Argumente finden sich bei Willke 1998 und 2001)
Parsons – so könnte man auch formulieren – liefert die Differenzierungstheorie des fordistischen Sicherheits- und Sozialstaats: Die setzkastenartig anmutende Beschreibung verschiedener Funktionslogiken ist immer schon eingehegt durch eine politisch gedachte Zentralintegration. Ganz anders ist der Bias hinsichtlich der Diagnose funktionaler Differenzierung beim (späten) Luhmann. Retrospektiv heißt es in der Gesellschaft der Gesellschaft mit Blick auf die materialen Implikationen des Theorems, man müsse „die Vorstellung aufgeben, die die Modernisierungsforschung nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst beherrscht hatte, die Vorstellung nämlich, dass 245
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die Modernisierungstrends in den einzelnen Funktionssystemen, sprich: politische Demokratie, marktorientierte Geldwirtschaft, Rechtsstaat, dogmatisch unbehinderte wissenschaftliche Forschung, unzensierte Massenmedien, Schulbesuch der gesamten Bevölkerung nach Maßgabe ihrer individuellen Fähigkeiten etc., einen Entwicklungsschub auslösen würde, in dem die Errungenschaften der einzelnen Funktionssysteme einander wechselseitig stützen und bestätigen würden. Eher ist das Gegenteil wahrscheinlich“ (Luhmann 1997, 568).
Eine ähnliche Einschätzung lässt sich auch im Buch zu den Protestbewegungen finden: „Die gegenwärtige Krisen- und Katastrophenstimmung bringt […] zum Ausdruck, dass dieses Prinzip der Systemdifferenzierung nicht so problemlos ist, wie die Fortschrittsideologen der Modernität vom 17. bis zum 19. Jahrhundert zunächst meinten“ (Luhmann in Luhmann/Hellmann 1997, 52). Mit dem Verweis auf diese semantischen Verschiebungen ist zwar kein Argument geliefert, inwieweit die Theorie sozialer Systeme nun (und nach welchen Kriterien) als eine kritische Theorie der Gesellschaft gelten könnte. Aber die jeweils unterschiedlichen Konnotationen, die im Begriff funktionaler Differenzierung mitschwingen, sind doch aufschlussreich: Der späte Luhmann zeichnet ein Bild von der modernen Gesellschaft, das nur noch wenig mit dem traditionellen modernisierungstheoretischen Gestus gemein hat, stattdessen wird die Moderne als ein durch Risiko, Unsicherheit und Selbstgefährdung gekennzeichneter sozialer Zusammenhang akzentuiert.2
2
Oder in den Worten einer differenzierungstheoretisch ausbuchstabierten Theorie reflexiver Modernisierung: „[F]unktionale Differenzierung wird nicht als Lösung, sondern als eine Ursache gesellschaftlicher Steuerungsund Integrationsprobleme identifiziert: Gesellschaftliche Teilsysteme produzieren Risiken, die durch das Raster der Spezialisierungen fallen und damit einen teilsystemübergreifenden Bezug aufweisen. Grundlegend ist dabei die Annahme, dass auf Mechanismen funktionaler Differenzierung fussende Rationalisierungsgewinne nicht unbegrenzt steigerbar sind. […] Im Zentrum der Analyse stehen bei diesem Ansatz dann nicht mehr eine technisch vermittelte Steigerung der Kommunikation, sondern durch (Nicht)Wissen vermittelte (Neben)Folgen der Steigerung“ (Degele 2002, 171).
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SOZIOLOGISCHE AUFKLÄRUNG
Die Eigenständigkeit des Sozialen als Kernproblem soziologischer Gesellschaftstheorie, oder: Die Stellung des Gedankens zur gesellschaftlichen Objektivität Die Kritische Theorie kennt das Motiv der Eigenständigkeit des Sozialen gegenüber den Intentionen und Handlungen der Menschen. Einschlägige Konzepte sind u. a. ‚Entfremdung‘, ‚Verselbständigung‘, ‚Opazität‘, ‚Überhang an gesellschaftlicher Objektivität‘ für die Seite des Sozialen, denen – als gleichsam inbegriffener Gegenpol auf der Seite menschlicher Subjektivität – vor allem das Konzept der ‚Charaktermaske‘ entspricht: Die Menschen werden unter den Bedingungen einer kapitalistischen Ökonomie (bis zu welchem Grad?) genötigt, als Funktionsträger respektive als Personifikationen ökonomischer Kategorien zu agieren (‚Formbestimmtheit des Handelns‘ als Kapitalistinnen und Kapitalisten, Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeiter, Geldbesitzerinnen und Geldbesitzer etc.). Eine intermediäre Stellung nehmen die ökonomischen Kategorien ein, die Marx pointiert nicht nur als heuristische Artefakte begreift, die als analytische Begrifflichkeiten Verwendung finden in den diversen wissenschaftlich-theoretischen Selbstbeschreibungen (Ideologien, Reflexionstheorien) der modernen Gesellschaft und ihrer Ökonomie, sondern die er bestimmt als „Daseinsformen, Existenzbestimmungen“ (MEW 42, 40) einer bestimmten Gesellschaftsformation. Unter methodologischen Gesichtspunkten besteht das Verfahren der marxschen Kritik der politischen Ökonomie nicht zuletzt darin, die Objektivität des kapitalistischen Systemzusammenhangs genetisch nachzuzeichnen und damit analytisch aufzuschließen (vgl. Reichelt 2008, Pahl 2008, Meyer 2005). Ihr theoretisches Ziel ist der Einblick in das Gewordensein und somit auch die Kontingenz der sich als verhärtete Faktizität präsentierenden sozialen Welt, woraus sich als praktische Konsequenz die Möglichkeit einer herzustellenden, grundlegend anders gearteten Gesellschaftsstruktur ergibt. Die Chiffre dafür lautet Kommunismus, oder – vorsichtiger ausgedrückt – postkapitalistische Vergesellschaftungsweise. Anvisiert wird eine Form der Vergesellschaftung, die sich vom Joch transintentional generierter ökonomischer Wertverhältnisse befreit und die Idiotie von auf Personen zugeschriebener arbeitsteiliger Spezialisierung ein für alle mal hinter sich gelassen hat (vgl. grundsätzlich zur Relation von Intentionalität und Verselbständigung Peters 1993). Dies alles hat in der gegenwärtigen Soziologie kaum noch Konjunktur. Schimank (2001, 271) dürfte für die Mehrheitsmeinung des Fachs sprechen, wenn er – in systemtheoretischen Kategorien – lapidar 247
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feststellt: „Keiner der teilsystemischen Codes steht ernsthaft zur Disposition, nicht einmal im ohnehin immer spärlicher werdenden utopischen Denken. Was allenfalls veränderbar erscheint und auch immer wieder verändert wird, sind die teilsystemischen Programmstrukturen“. In dieser Richtung hat sich auch Luhmann (1988, 41) geäußert, beispielsweise mit der Bemerkung, die „Absicht, das Geld als solches zu kritisieren“, greife allemal zu weit, weil dies zu einer „Rearchaisierung des Gesellschaftssystems“ führen würde, die niemand ernstlich wollen könne. Sehen wir kurz nach, wie in der Theorie sozialer Systeme die Eigenständigkeit des Sozialen konzeptualisiert wird, um dann vor diesem Hintergrund die divergierenden Perspektiven bezüglich einer Analyse der Gegenwartsgesellschaft erklären zu können. Als erstes fällt auf, dass Luhmann die Nicht-Identität von Gesellschaft/Sozialität und Menschen/Leuten/Personen nicht primär an der Genese des modernen, industriellen Kapitalismus festmacht, sondern – auch dies ist soziologische Tradition (von Durkheim bis zur Ethnomethodologie) – weitaus niedrigschwelliger ansetzt. Das Soziale wird immer schon als emergente Realität sui generis begriffen, denn sobald psychische Systeme Kommunikationsversuche starten, entsteht dadurch ein soziales System der Kommunikation, das zwar durch psychische Systeme in Gang gehalten wird, aber gerade nicht als Summe von als prä-sozial generierten Intentionen gedacht werden darf (vgl. Wagner 2005, 40).3 Eine solche Perspektive erfordert mehrfache Brüche mit dem überlieferten Gedankengut: Gegenüber den klassischen Fragerichtungen phänomenologischer und subjektphilosophischer Ansätze, deren Erkenntnisinteresse darin bestand, wie Intersubjektivität, gemeinsame Welterfahrung und soziale Koordination überhaupt möglich sind, wenn man es mit einer Mehrzahl füreinander intransparenter Bewusstseine zu tun hat, zeichnet sich die Systemtheorie durch eine Umkehrung der Bedingungsverhältnisse aus: „Nicht obwohl, sondern weil Bewusstseine füreinander radikal intransparent sind, entsteht so etwas wie die funktionale Notwendigkeit für die Emergenz von sozialen Operationen, von Kommunikationen. […] Die Emergenz von Kommunikation, so könnte man sagen, ist die funktionale Folge der radikalen Individualität psychischer Systeme, die ihre schon physiologisch bedingte ope-
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Um ein Bonmot von Luhmann zu bemühen: „Arsen im Blut oder Wut im Bauch sind als solche noch keine gesellschaftlichen Tatsachen: Sie werden erst gesellschaftlich, wenn sie in Kommunikationen umgesetzt werden; und ob und wie das möglich ist, regelt das Gesellschaftssystem selbst“ (Luhmann in Luhmann/Hellmann 1997, 51, Herv. H. P.).
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SOZIOLOGISCHE AUFKLÄRUNG
rative Unabhängigkeit voneinander nur in Form einer emergenten Operationsebene des Sozialen überleben können“ (Nassehi 2003, 25).
Und gegenüber konkurrierenden Theorieunternehmen etwa hermeneutischer oder handlungstheoretischer Provenienz wird geltend gemacht, es sei „prinzipiell falsch anzunehmen, Individuen seien besser oder jedenfalls direkter beobachtbar als soziale Systeme“. Denn wenn, so Luhmann (1984, 347) weiter, „ein Beobachter Verhalten auf Individuen zurechnet und nicht auf soziale Systeme, ist das seine Entscheidung. Sie bringt keinen ontologischen Primat von menschlicher Individualität zum Ausdruck, sondern nur Strukturen des selbstreferentiellen Systems der Beobachtung, gegebenenfalls also auch individuelle Präferenzen für Individuen, die sich dann politisch, ideologisch und moralisch vertreten lassen, aber nicht in den Gegenstand projiziert werden dürfen“.
Handlungen werden nicht länger, wie etwa bei Weber oder Schütz, mit kausalen Implikationen auf die Psyche von Subjekten zurückgeführt, sondern – in Anlehnung an Mead – als Produkte kommunikativer Zuschreibungen verortet: „Ontogenetisch geht die kommunikative Zuschreibung von Handlungen der Bildung von Handlungsintentionen voraus. Die Entwicklung der Fähigkeit zu intentionalem Handeln entsteht gleichsam als psychischer Rückschlageffekt des Einbezogenseins in Kommunikation, in der ein neugeborener Organismus von Anbeginn als Adresse angesteuert und sein Verhalten mit der Zuschreibung von Intentionen überzogen wird“ (Schneider 2003, 49f.).
Aus diesem Grund sucht die Systemtheorie kein Fundament und keinen Außenhalt im Rekurs auf Menschen/Subjekte, sondern verbleibt konsequent auf der Referenzebene der Gesellschaft. Von dort aus betrachtet handelt es sich z. B. bei Personen nicht um ganze Menschen oder Subjekte, sondern um „Strukturen der Autopoiesis sozialer Systeme“ (Luhmann 1990, 33). Diese konträren Ausgangslagen oder auch Stellungen des Gedankens zur gesellschaftlichen Objektivität haben den Fortgang der jeweiligen Theorieproduktionen determiniert: In Verlängerung des feuerbachschen Linkshegelianismus und der marxschen Kritik der politischen Ökonomie beschreiben die diversen neomarxistischen Forschungsansätze die Gegenwartsgesellschaft als im Wesentlichen bestimmt durch das Fortwuchern einer stetig weiter ins Irrationale umschlagenden Wertvergesellschaftung (Produktion um der Produktion willen, Konsumtion um 249
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der Konsumtion willen), die ausgehend von der kapitalistischen Ökonomie auch zunehmend außerökonomische Sphären penetriert. Für die Vertreter der Systemtheorie ist die Emergenz des Sozialen als solche kein kritisierbarer Tatbestand: „Irgendwie müssen wir lernen, mit dieser Gesellschaft zurechtzukommen. Es ist keine andere in Sicht“ (Luhmann in Luhmann/Hellmann 1997, 52). Die in ihrer Eigenlogik wesentlich durch ihre funktionale Primärdifferenzierungsform gekennzeichnete Dynamik der modernen Gesellschaft wird mit Blick auf die Entfaltungschancen und Entfaltungsblockaden von Individuen konstitutiv doppeldeutig bewertet: „Und wie man schon im 18. Jahrhundert zu ahnen begann, bringt ihre eigentümliche Dynamik mehr Vorteile und mehr Nachteile mit sich als jede frühere Gesellschaftsformation.“ (Ebd.) Einerseits bietet die spezifisch neuzeitliche Form der „Exklusionsindividualität“ mannigfache Chancen – von der „Befreiung vom Gemeinschaftsterror des dörflichen Zusammenlebens“ (Luhmann 1997, 813f.) bis hin zur „Ausarbeitung der Eigenlogik von Intimität“ (ebd., 814) – andererseits sieht auch die Systemtheorie die negativen Aspekte der modernen Gesellschaft überdeutlich: „Offensichtlich ist die Individualisierung, die ich dem Geld verdanke, zugleich eine äußerst restriktive Form der Sozialisierung. Sie unterwirft mich der Gesellschaft, auf deren Angebote ich nur zu deren Bedingungen Zugriff habe“ (Baecker 2003, 13). Unter methodologischen Gesichtspunkten scheint das Verfahren einer Relationierung beider Theorietraditionen nur bis zum Punkt der Feststellung nicht weiter aufzulösender Divergenzen zu führen. Beide Paradigmen dürften sich in letzter Konsequenz als ebenso unvereinbar wie nicht-reduzierbar erweisen: Auf der einen Seite haben wir es mit einer handlungstheoretischen Tradition zu tun, die einen Ankerpunkt findet (oder zu finden meint) im Rekurs auf binnenperspektivische Zustände von Individuen und das Phänomen der Emergenz des Sozialen über den Weg einer Thematisierung nicht-intentionaler Handlungsfolgen (Weber, Esser) bzw. einer Strukturtheorie (Marx, Adorno, Habermas) einholt. Auf der anderen Seite logiert die Systemtheorie, die seit Whiteheads Grundlagenkritik am subjektphilosophischen Denken (vgl. dazu Schwinn 2005, 2) Modalitäten wie Beobachten und Unterscheiden nicht mehr auf Bewusstseinsakte engführt, sondern als Grundoperationen jeglicher selbstreferentieller Systeme betrachtet (so Nassehi 1992, 50).
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Gesellschaftstheorie als Medientheorie: Zur Frage der evolutionären Dynamik der Moderne Es gehört zu den ungelösten Problemen der Fortschreibung der Kritischen Theorie, mit welchen Mitteln und entlang welcher Kriterien die weitere Entwicklung der modernen kapitalistischen Gesellschaft analysiert werden sollte. Herrschte bis in die 1970er Jahre hinein die Perspektive vor, recht unmittelbar von der Abstraktionsebene des allgemeinen Begriffs des Kapitals in die Empirie zu springen – und die Weiterentwicklung der gegenwärtigen Gesellschaft oftmals schlicht als eine Art asymptotische Annäherung an die Implikationen eben jenes allgemeinen Begriffs des Kapitals zu begreifen – so wird das Feld seitdem mehrheitlich von Theorien mittlerer Reichweite beherrscht.4 Diesen gelingt es zwar, die lineare Begründungslogik, die einer allzu konkretistischen „Anwendung“ formanalytischer Kategorien zumeist eigen ist (dazu Holz 1993), zu unterbrechen und den Blick für Diskontinuitäten und Kontingenzen kapitalistischer Vergesellschaftung zu schärfen. Allerdings scheint diese Kompetenz in Sachen Gegenwartsanalyse durch zunehmend eklektischere Verfahren der Theoriekonstruktion erkauft zu werden: Über den epistemologischen und ontologischen Status der diversen in Stellung gebrachten intermediären Konzepte in Relation zum Abstraktionsgrad der marxschen Formanalyse lässt sich zumeist nur noch rätseln, dem Anspruch einer einheitlichen Theorie der Gesellschaft werden die neomarxistischen Theorieprogramme jedenfalls derzeit nicht gerecht. Man wird vermuten können, dass sich ein Großteil der genannten Schwierigkeiten nicht zuletzt auch aus dem Problem ergibt, dass die marxsche Kritik der politischen Ökonomie als Theorie der Kernstruktur moderner Vergesellschaftung ein Stück weit in der Luft hängt. Dass Marxens frühe und tentative Programmatik zu einer materialistischen Geschichtstheorie – in der Orthodoxie in fahrlässiger Weise zum vermeintlich geschlossenen Theoriegebäude eines historischen Materialismus verdichtet – dafür keine zureichende Grundlage darstellt, haben die 4
Um nur das prominenteste Beispiel zu nennen: Die Regulationstheorie hat das ursprünglich bereits bei Gramsci verwendete Konzept des Fordismus zu einer typologischen Heuristik verdichtet, die es – mehr oder minder aufschlussreich – ermöglicht, gegenwärtige Transformationsprozesse in Relation zu setzen zur rückblickend betrachtet vergleichsweise übersichtlichen und kohärenten Formation kapitalistischer Vergesellschaftung der Nachkriegsjahrzehnte. In das Blickfeld gerieten damit zunächst vor allem Veränderungen in der Sphäre der Produktion (Toyotismus etc., vgl. Hirsch 1990) später dann in der Sphäre der Zirkulation (finanzgetriebenes Akkumulationsregime, vgl. Boyer 2000; Aglietta 2000). 251
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Diskussionen im westlichen Marxismus seit den späten 1960er Jahren aufgezeigt. Wenn man sich dieser Diagnose anschließt, dürfte es sich lohnen, einen Blick darauf zu werfen, wie in der Theorie sozialer Systeme die Theorie der Gegenwartsgesellschaft mit einer allgemeinen Theorie sozialer Evolution verknüpft ist. Weil hierbei medientheoretisches Gelände betreten wird, kann im Anschluss nachgesehen werden, wo mögliche Begegnungsweisen von marxscher Kritik der politischen Ökonomie und neuerem ‚Medienmaterialismus‘ einsetzen könnten. Nimmt man mit Luhmann an, dass die Gesellschaft ein auf Basis von Kommunikation operativ geschlossenes Sozialsystem ist, dann muss davon ausgegangen werden, dass die Evolution von Gesellschaft im Wesentlichen „den Problemen der Autopoiesis von Kommunikation folgt“ und dass andererseits die Kommunikation „in ihren Bedingungen durch die Evolution selbst laufend verändert“ wird (Luhmann 1997, 205). Auch hierbei referiert die Theorie sozialer Systeme wieder, die Begriffswahl deutet dies bereits an, konsequent auf das Bezugssystem Gesellschaft: Sprache und andere Medien der Kommunikation werden nicht als Mittel zur Senkung der Transaktionskosten menschlicher Verständigung verstanden (sei es instrumentell oder im Sinne des habermasschen kommunikativen Handelns), sondern es wird davon ausgegangen, dass es durch das Emergieren neuer Verbreitungsmedien jeweils zu einer medialen Produktion von Sinnüberschuss bzw. Überschusssinn kommt, der die Gesellschaft zwingt, mit gravierenden Strukturänderungen zur Reduktion dieses Sinnüberschusses zu reagieren (vgl. Baecker 2008, 6). Im Rahmen einer Theorie sozialer Evolution geht die Systemtheorie – in Einklang mit Teilen der medientheoretischen Forschung des 20. Jahrhunderts – von der Hypothese aus, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Durchsetzung jeweils neuartiger Verbreitungsmedien (Sprache, Schrift, Buchdruck, Computer) und der Abfolge primärer gesellschaftlicher Differenzierungsformen (segmentär, hierarchisch, funktional). Dazu heißt es bei Baecker (2004, 136): „Alle drei Einführungen, die der Schrift, die des Buchdrucks und die des Computers, stellt man sich am besten als ‚Katastrophen‘ im mathematischen Sinne vor, das heißt als ‚brutale Sprünge‘ (Rene Thom), die es einem System ermöglichen zu überleben, wenn es eigentlich aufhören müßte zu existieren. Das System reagiert auf das Auftreten einer Störung, die alle seine Parameter überfordert, indem es auf eine neue Zustandsebene springt“.5 5
Für den Fall der Genese der modernen Gesellschaft rekurriert die Theorie sozialer Systeme entsprechend – und wiederum in Übereinstimmung mit den wesentlichen medientheoretischen Strömungen (vgl. etwa Giesecke 1991) – vor allem auf die Erfindung und Durchsetzung des Buchdrucks.
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Zeitdiagnostisch ist aber mit diesen Theoriefiguren noch nicht das letzte Wort gesprochen. Einer Interpretation Baeckers (2004, 142f.) folgend musste Luhmann zunächst einmal die durch den Buchdruck ausgelösten Wandlungsprozesse begrifflich durcharbeiten – und es damit riskieren, „als Theoretiker der Funktionssysteme in die Geschichte der Soziologie einzugehen, obwohl diese, wie er wußte, nun wirklich nichts Neues in der Soziologie sind“ – obwohl es ihm doch eigentlich um ein viel grundsätzlicheres Phänomen gegangen sei: „Tatsächlich geht es Luhmann“, so Baecker (ebd.) weiter, „auch in den Büchern zur Geschichte von Gesellschaftsstruktur und Semantik nicht darum, zu beweisen, dass diese Funktionssysteme im 17. und 18. Jahrhundert entstehen, sondern darum, der Art und Weise nachzuspüren, wie die Gesellschaft die Katastrophe des Buchdrucks überstand. Nur so glaubt er, die Fragestellungen und begrifflichen Mittel bereitstellen zu können, die es ermöglichen, die Katastrophe zu beobachten, die die Einführung des Computers im 20. Jahrhundert darstellt.“ (Ebd.)
Man muss sich dem Verfahren personenzentrierter Ursachenforschung nicht unbedingt anschließen, also vermeintlichen Intentionen Luhmanns nachforschen, um den heuristischen Wert dieser Interpretation einzusehen. Theoriearchitektonisch ist ein Doppeltes bemerkenswert: Erstens erlaubt es die – zunächst einmal rein deduktiv gewonnene Hypothese des computerinduzierten, in seinen Konsequenzen noch ausstehenden Bruchs mit der gegenwärtigen Form gesellschaftlicher Primärdifferenzierung – Gegenwartsanalysen nicht an einem Gesellschaftsbegriff zu orientieren, sondern gleichsam im Spannungsfeld zweier Gesellschaftsbegriffe zu positionieren: Indem das Theorem funktionaler Differenzierung mit der Hypothese verkoppelt wird, wonach die Erfindung und Durchsetzung computerbasierter Kommunikationsformen über kurz oder lang zu einer andersgearteten gesellschaftlichen Primärdifferenzierung führen wird, nimmt die empirische Analyse zugleich die Form einer Suchbewegung zwischen zwei Polen an. Auf diesem Wege können zweitens jene kurzschluss- bzw. kulminationspunktartigen Prämissen abgefedert werden, die in weiten Teilen einer gesellschaftstheoretisch Stärker noch als die Schrift ermöglicht der Buchdruck die Herauslösung von Kommunikationen aus Interaktions- und Organisationskontexten. Es sind nicht zuletzt die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien (Geld, Wahrheit, Macht etc.), die an dieser Stelle exorbitanten Sinnüberschusses mit ihrem Potential einrasten, reduzierte unreduzierte Komplexität übertragbar zu machen, und die damit zugleich den Umbau von den stratifizierten Feudalgesellschaften des spätmittelalterlichen Europas hin zur funktional differenzierten Gesellschaft der Moderne vorantreiben. 253
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weitgehend unterinformierten Medientheorie vorgebracht werden (vgl. dazu die interessante, insgesamt aber überzogene Polemik bei Hesse 2002).6 Es soll hier nicht dafür geworben werden, qua direkter Übernahme obig skizzierter Annahmen in den Korpus der Kritischen Theorie einen letztlich unverdaulichen Theoriemix zu produzieren. Bedenkenswert erscheint aber der Grundgedanke einer Verkopplung von Gesellschaftstheorie/Kapitalismusanalyse und evolutionstheoretisch fokussierter Medientheorie. Dies lässt sich auch völlig unabhängig von der systemtheoretischen Variante der Medientheorie ‚anplausibilisieren‘. Der medienmaterialistische Diskurs von und im Anschluss an Kittler (vgl. zum Überblick Kloock/Spahr 2007) lässt sich – bei aller Aversion seiner Protagonisten gegenüber der Kritischen Theorie – als Verlängerung und Aktualisierung von Fragestellungen lesen, die sich sowohl im Forschungsprogramm einer materialistischen Theorie sozialer Evolution wie in der Formanalyse der Kritik der politischen Ökonomie finden: Hat die von Marx nur skizzenhaft dargelegte materialistische Geschichtstheorie gegenüber den Geistkonzepten idealistischer Geschichtsphilosophien auf die Bedeutung von materieller Reproduktion und technischer Entwicklung gepocht, so der neuere „Medienmaterialismus“ gegenüber dem sinnzentrierten hermeneutischen Idealismus der klassischen Literaturwissenschaft auf die Bedeutung informationstechnischer Voraussetzungen des Prozessierens von Sinn (vgl. Kittler 1985, 501f.). In beiden Fällen wird von den inhaltlichen Aussagen (i. w. S.) philosophischer Selbstbeschreibungen Abstand genommen und das Augenmerk auf jene verborgenen Mechanismen gelegt, die Sinnzusammenhänge überhaupt erst konstituieren (vgl. für die Medientheorie dazu Kloock/Spahr 2007, 168). Mit der Formtheorie eint die neuere Medientheorie der Verweis auf die soziale und psychische Strukturprägekraft von Medien: Ist es schon eine Pointe bei Marx, dass das Geld nicht als neutrales Medium verstanden werden darf, das lediglich als monetärer Schleier eine vermeintlich konkrete Ebene der Güterproduktion verdeckt, so verallgemeinert die neuere Medientheorie eine solche Frageperspektive in Verlängerung des linguistic turn: Nicht nur das Geld (wie bei Marx) und die Sprache (wie in der Philosophie spätestens seit der sprachphilo6
Hesse kritisiert völlig zurecht einen im medientheoretischen Diskurs weitverbreiteten Technikdeterminismus, der – sofern mit evolutionstheoretischen Konnotationen versehen – wie eine Neuauflage der älteren Produktivkraftmetaphysik anmutet, wie sie seitens des orthodoxen Marxismus vertreten wurde. Unterbelichtet bleibt aber, dass seitens der Medientheorie eine ganze Reihe von Theoriestücken entwickelt wurden, denen ein eigenes kritisches Potential zukommt und deren Verwendbarkeit im Rahmen einer Kritischen Theorie mindestens angetestet werden sollte.
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sophischen Wende), sondern alle Medien (zuvorderst: Schrift, Buchdruck, Computer) gelten nicht länger als abbildende Werkzeuge, sondern als darstellungs-konstitutiv, als „bildende Organe“ (Humboldt, zitiert nach Jäger 2002, 49), was die Frage nach der Medialität unserer Weltverhältnisse in eine Schlüsselposition aufrücken lässt (vgl. Krämer 1998, 14).7 Für das Projekt einer Fortschreibung der Kritik der politischen Ökonomie als Gesellschaftstheorie ergibt sich daraus die Minimalforderung, das Moment der monetären Strukturprägekraft zu vermitteln mit dem performativen Potential anderer Medien (erste Gehversuche in dieser Richtung liefert der Media Marx-Sammelband von Schröter et al. 2006). Dies könnte zu einer Analyse gegenwärtiger Transformationsprozesse führen, die zwar weiterhin um den selbstzweckhaften Nexus kapitalistischer Expansionsdynamiken zentriert ist, ohne dabei aber dem bekannten formanalytischen Monismus verhaftet zu bleiben, den Wert zur alleinigen Schlüsselkategorie moderner Vergesellschaftung zu erheben.
Resümee und Ausblick: Soziologische Aufklärung und soziologische Kritik Selbst wenn man sich der Diagnose anschließt, die im letzten Abschnitt gestellt wurde, so scheint doch Luhmanns vehemente Ablehnung von (einem wie auch immer gearteten Verfahren der) Gesellschaftskritik einen weiteren Punkt zu markieren, an dem Kritische Theorie und Systemtheorie nicht auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Im Folgenden soll es – wiederum exemplifizierend verfahrend – nur darum gehen, den Kern der entsprechenden Differenzen auf den Punkt zu bringen. Zunächst kann festgehalten werden, dass Luhmann selbst explizit von jeglicher normativen Fundierung seiner Theoriearbeit Abstand genommen hat: „Wenn es Zwänge gibt, sich für das Gute und gegen das Schlechte einzusetzen“, so heißt es resümierend in der Gesellschaft der Gesellschaft (Luhmann 1997, 1130f.), „ergeben sie sich jedenfalls nicht aus dem Wahrheitsprogramm der Theorie, sondern aus dem Selektionsmodus der Massenmedien, besonders 7
In aller Knappheit wird das Erkenntnisinteresse der Medientheorie bei Winthrop-Young (2005, 109) wiedergegeben: „Erste, französische Stufe: Wir entdecken, dass wir von der Sprache gesprochen werde. Zweite, ebenfalls französische Stufe: Wir entdecken, dass wir Subjekte historisch datierbarer, kontingenter diskursiver Praktiken und psychischer Einschreibungen sind. Dritte, deutsche Stufe: Wir verstehen, dass diese Praktiken wiederum Medien aufsitzen.“ 255
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aus der Fernsehkultur, in der jeder, der Moral zugleich hörbar und sichtbar ablehnt, als ‚Zyniker‘ erscheint.“
Trotzdem wird die Theorie sozialer Systeme keinesfalls als rein deskriptives Unternehmen eingestuft: Insofern sie eine Wiederbeschreibung von vorliegenden gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen leistet, also Sinnkondensate kritisch zu analysieren und gegebenenfalls zu destruieren vermag, kann sie ihrem eigenen Selbstverständnis nach doch einen Beitrag zu einer adäquateren Selbsteinschätzung der modernen Gesellschaft leisten. Luhmann (1997, 1129, Herv. H. P.) spricht hier allgemein von soziologischer Aufklärung, und – wohl spezifischer auf seinen eigenen Theoriegestus abstellend – von der „Reflexionsform der (romantischen) Ironie […], die das Verwickeltsein in die Angelegenheiten malgré tout als Distanz zum Ausdruck bringt“. Um diese eher abstrakt bleibende Schilderung des Verfahrens soziologischer Aufklärung zu verdeutlichen, kann ein (nahezu beliebiges) Beispiel aus dem Textkorpus der materialen Analysen herausgegriffen werden. Wie, so lautet die Frage, sieht jenes Verfahren soziologischer Aufklärung aus, das für sich reklamiert, jenseits von gut und böse zu operieren, also keinen normativen Maßstab der Bewertung ins Feld zu führen? Die Studie über Die Politik der Gesellschaft enthält einen der regelmäßig in Luhmanns Texten anzutreffenden Seitenhiebe auf Habermas, wenn zur Wiederaufnahme des ursprünglich in der Antike entstandenen Zivilgesellschaftskonzepts in der gegenwärtigen (normativen) politischen Theorie vermerkt wird: „Die heutige Wiederaufnahme dieses Begriffs auf Grund historischer Rekonstruktionen hat so deutlich schwärmerische Züge, dass man, wenn man fragt, was dadurch ausgeschlossen wird, die Antwort erhalten wird: die Wirklichkeit. Zivilgesellschaft – das ist jetzt die alte Zwänge abwerfende, sich nur durch freien Austausch von Argumenten bestimmende Vereinigung aller Menschen – mit besonderer Berücksichtigung der Frauen. Es ist die (und man wird hinzufügen müssen: akademische) ‚Reflexionsform eines sittlichen Zusammenhangs‘“ (Luhmann 2005, 12f., Herv. H. P.).
In dieser kurzen Textstelle sind alle wesentlichen Elemente versammelt, die den Modus dessen kennzeichnen, was Luhmann als soziologische Aufklärung verstanden wissen möchte: Bei dem kursiv gesetzten Schlusssatz der Textpassage handelt es sich um ein Zitat von Habermas. Dessen Einschätzung des Zivilgesellschaftsdiskurses als Reflexionsform eines sittlichen Zusammenhangs fügt Luhmann das Attribut „akademisch“ hinzu, um darauf hinzuweisen, dass das entsprechende Räson256
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nieren im Wesentlichen in einem disziplinären Subsystem des gesellschaftlichen Subsystems „Wissenschaft“ stattfindet, aber gerade nicht für sich beanspruchen kann, als eine Art Einheit oder ein höherstufiges Selbstbewusstsein der modernen Gesamtgesellschaft zu sprechen. Argumentiert wird mit Diskrepanzen zwischen faktischen Gesellschaftsstrukturen und – mit Blick auf diese Gesellschaftsstruktur – defizienten theoretischen Reflexionsformen (Semantik). Für Luhmann ist der gesamte kategoriale Rahmen des Zivilgesellschaftsdiskurses, seine Unterscheidungs- und Beobachtungspraxen, hinfällig geworden anlässlich einer Gesellschaft, die er selbst als hoch differenziertes, polykontexturales Ensemble eigenlogisch operierender Funktionssysteme beschreibt. Von der Warte der (alten) Kritischen Theorie aus betrachtet führt dies wohl zu einer grundsätzlich ambivalenten Einschätzung der Systemtheorie: Die geäußerten Vorbehalte gegen Vorstellungen eines Primats der Politik, wie sie im Zivilgesellschaftsdiskurs aktualisiert wurden, wird man teilen können, wenn auch auf Basis andersgearteter gesellschaftstheoretischer Prämissen. Schwierigkeiten bzw. Bauchschmerzen bereiten wird hingegen Luhmanns umstandsloses respektive abstandsloses Referieren auf faktische Gesellschaftsstrukturen (funktionale Differenzierung). Zum einen wäre zu berücksichtigen, dass Verweisen auf Gesetzmäßigkeiten in der Sphäre des Sozialen nicht jene Dignität zukommt, die entsprechende Aussagetypen auf dem Feld der Naturwissenschaften für sich verbuchen können (trotz der einschlägigen Befunde der konstruktivistischen Wissenschaftstheorie). Davon abgesehen darf aber auch grundsätzlich gefragt werden, mit welchem Recht soziale Faktizitäten als Maßstab der Kritik fungieren sollten, bzw. ob sich nicht ein solches Verfahren selbst wiederum auf eine letztlich normative Entscheidung zurückführen lässt. Erschwert wird eine Verständigung auch durch die Frage, ob auf dem Feld der Sozialtheorie eine glasklare Trennung von deskriptiven Seinsaussagen und normativen Sollensaussagen durchzuhalten ist. Man denke z. B. an die Begriffe ‚Verselbständigung‘ aus dem Kontext der Kritischen Theorie und ‚Ausdifferenzierung‘ aus dem Kontext der Theorie sozialer Systeme: Beide Konzepte werden im jeweiligen wissenschaftlichen Selbstverständnis als analytisch-deskriptive Begrifflichkeiten verstanden, zugleich scheinen sie uno actu bestimmte normative Konnotationen bzw. evaluative Aufladungen zu enthalten. Im Konzept der Verselbständigung ist, im Falle der Ökonomie, implizit die Möglichkeit einer Zurücknahme monetärer Eigenlogik in Richtung auf die intentionale Kontrolle von Wirtschaftsvorgängen als emanzipatorisches Moment mitgedacht, während ‚Entdifferenzierung‘ als Gegenbegriff von sozialer/funktionaler Differenzierung deutlich negative Konnotationen zu beinhalten scheint. Luhmann sprach – 257
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dies wurde bereits oben zitiert – von einer Rearchisierung des Gesellschaftssystems als drohender Konsequenz einer zu weit getriebenen Kritik des Geldes.8 Abschließend soll festgehalten werden, dass der punktuelle Charakter der vorliegenden Ausführungen wohl am ehesten ein Zeichen dafür ist, dass an den Theorieschnittstellen von Kritischer Theorie und Systemtheorie die eigentliche Grundlagenarbeit noch zu leisten ist. Die gängige Praxis seitens der Kritischen Theorie, die Systemtheorie in Bausch und Bogen als ideologische Reflexionsform abzukanzeln, dürfte sich eher als hinderlich erweisen bei dem Versuch, Leistungen und Grenzen der eigenen Theorie wie die konkurrierender Selbstbeschreibungen realistisch einzuschätzen. Die Neigung vieler Systemtheoretiker, den Diskurs des kritischen Marxismus umstandslos mit dem Weltanschauungsmarxismus der vormaligen Altmännerregime des Ostens zu identifizieren, ist ähnlich sinnvoll.
Literatur Aglietta, Michel (2000): Ein neues Akkumulationsregime. Die Regulationstheorie auf dem Prüfstand, Hamburg. Backhaus, Hans-Georg (Hg.) (1997): Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur marxschen Ökonomiekritik, Freiburg. Baecker, Dirk (1998): Guter Geist ist trocken – und Systeme sind unzuverlässig. Nachruf auf Niklas Luhmann (8.12.1927 – 6.11.1998), in: Berliner Zeitung, H. 264, 12. November 1998, 11. ders. (2003): Geldfunktionen und Medienkonkurrenz, in: Baecker, Dirk (Hg.): Viele Gelder, Berlin, 12-30. ders. (2004): Wozu Soziologie? Berlin.
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Um ein weiteres Beispiel für die Verschlungenheit von deskriptiven und normativen Aussagen zu liefern: Luhmann hat sich in verschiedenen Schriften mit dem Problemkomplex von Ethik und Moral auseinandergesetzt (vgl. etwa Luhmann 1990a). Der Grundtenor seiner Überlegungen bestand jeweils darin, faktische Moralkommunikationen in der modernen Gesellschaft angesichts undurchsichtiger Problemlagen als mehr oder minder diffuse und unterkomplexe Reaktionsweisen zu kritisieren. Dies beobachtend wurde allerdings bei Krohn (1999, 4f., Herv. H. P.) darauf aufmerksam gemacht, dass Luhmanns sich als wertfrei verstehende Äußerungen wiederum selbst als spezifische Form der Moralität einzuschätzen sind: „Die mehrfachen Plädoyers Luhmanns gegen Remoralisierungen und sein Essay über die Risiken der Moral […] weisen allerdings darauf hin, wie der Wiedereintritt der moralischen Haltung in seine Theorie der Moral stattfindet: als eine moderne Tugendlehre der moralischen Restriktion gegenüber dem wertfreudigen Gutmenschentum“.
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SOZIOLOGISCHE AUFKLÄRUNG
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Pa rise r Ma i im Dunkeln: Godards fröhliche Wissenschaft CHRISTOPH HESSE
Während Studenten die Sorbonne besetzen, Kämpfe im Quartier Latin toben, in mehreren Straßen Barrikaden errichtet werden und sogar die Schauspielergewerkschaft sich mit den Protestierenden solidarisiert, zieht Godard sich ins Studio zurück, um einen Film zu drehen, und zwar einen, der nichts von den politischen Ereignissen aufnimmt, sondern vor spärlicher Kulisse zwei Figuren zeigt, die sich über die Beziehungen von Film und Wirklichkeit unterhalten. So könnte eine sympathische Legende lauten, die von der wahren Geschichte auch nicht viel weiter entfernt läge als die handelsüblichen Seifenopern, in denen Minister, Redakteure und Professoren stolz kundtun, sie seien dabei gewesen damals. Tatsächlich wurde der Film Le Gai savoir1, von dem hier die Rede ist, bereits im Dezember 1967 und Januar 1968 im Studio der Organisation de Radio et Télévision Française gedreht und nach dem Pariser Mai lediglich noch einmal neu geschnitten. Jean-Luc Godard nahm selbst an den Ereignissen teil. Am 18. Mai zum Beispiel, bei den Filmfestspielen in Cannes, erklärte er sich zusammen mit den Jurymitgliedern Louis Malle und Roman Polaski sowie einigen anderen mit den protestierenden Studenten solidarisch und forderte den Abbruch des Festivals (das auch tatsächlich am nächsten Tag beendet wurde). Politischem Aktivismus stand er auch als Filmemacher keineswegs fern. Als solcher war er zwischen 1968 und 1972 1
Die fröhliche Wissenschaft (Frankreich 1968). Regie und Drehbuch: JeanLuc Godard. Kamera: Georges Leclerc. Darsteller: Juliet Berto, JeanPierre Léaud. 95 Min. 263
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ungefähr jedem damals bedeutsamen Thema auf der Spur, mochte es sich um den Krieg in Vietnam oder den Prager Frühling, die Palästinenser oder die Rolling Stones handeln. Und nicht immer war er dabei mit seinen filmischen Beobachtungen den Beteiligten an politischer Einsicht überlegen, so wie noch in La Chinoise2: Die Inszenierung einer maoistischen Sommerferien-Wohngemeinschaft, deren zur Schau gestellter Radikalismus viel mit Autosuggestion und Gruppenpsychologie und nur wenig mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Frankreich zu tun hat, erweist sich rückblickend als eine verblüffende Voraussicht auf den Niedergang einer Protestbewegung, die eben erst im Entstehen begriffen war. „Il faut confronter des idées vagues avec des images claires“3 ist in diesem Film auf einer Wand zu lesen. Noch bevor und während sie sich ereigneten, hatte Godard von den Ereignissen bereits erstaunlich klare Bilder entworfen. Zehn Jahre später stellte er fest: „Heute haben alle ehemaligen Maoisten ihre Selbstkritik geübt, die einen sind Gurus in Indien geworden oder machen Musik, und andere sind ziemlich allein. Aber die Filme, mit denen es hätte weitergehen müssen, sind nicht gemacht worden“ (1984, 220). Die Filme, mit denen Godard selbst damals weitermachte, waren nicht mehr Filme im herkömmlichen Sinne, sondern Ciné-tracts4 oder Essays. Mit einem inzwischen etwas schal klingenden deutschen Ausdruck könnte man sie auch als Lehrfilme bezeichnen, die allerdings den Autor dieser Filme mindestens ebenso viel lehren sollten wie das Publikum. Le Gai savoir stellt in dieser Hinsicht einen Neubeginn dar, insofern hier ein Modell erprobt wird, an dem Godard in den folgenden Jahren weiter experimentieren sollte; das Modell eines essayistisch interrogativen Films, das heißt eines Films, der nicht Geschichten erzählt, sondern Fragen stellt über die Wirklichkeit sowie über die Möglichkeiten des Films, sie zu fassen. Man könnte ihn zugleich betrachten als eine zusammenfassende Reflexion dessen, was Godard zuvor im und mit dem Film zu machen versucht hat. Seiner eigenen Aussage gemäß handelte es sich dabei um Filmkritik, so wie es sich in den fünfziger Jahren, da er selbst noch als Filmkritiker für die Cahiers du Cinéma arbeitete, um Kino gehandelt habe. „Écrire, c’était déjà faire du cinéma“, erklärte er 1962 gegenüber jener Zeitschrift. „En tant que critique, je me consi-
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Die Chinesin (1967). „Man muss unklaren Ideen klare Bilder gegenüberstellen.“ Godard hat 1968, in Kooperation mit anderen Filmemachern, zahlreiche solcher Ciné-tracts („Filmflugblätter“) auf 16mm-Schwarzweißfilm gedreht.
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dérais déjà comme cinéaste. Aujourd’hui je me considère toujours comme critique, et, en un sens, je le suis plus encore qu’avant.“5 Kritik, schrieb Walter Benjamin mit Bezug auf den Begriff der Kunstkritik der deutschen Romantik, sei nichts dem Kunstwerk Entgegengesetztes oder gar Minderwertiges, sondern dessen notwendige Ergänzung. Bevor auch die Filmkritik zu der belanglosen „Meinungsäußerung über ein Werk“ (Benjamin 1974, 108) und schließlich zur PRMaßnahme herabsank, hatte sie in ihren besten Augenblicken genau das im Sinn, oder jedenfalls zur Folge: Dem Filmkritiker André Bazin war es gelungen, sogar Filme, die niemand ernsthaft als Kunstwerke in Betracht gezogen hätte, etwa einen so genannten B-Western von Budd Boetticher (Bazin 2004, 279-286), kraft seiner Kritik in den Rang eines solchen Werks zu erheben. Bazin hatte es darüber hinaus fertiggebracht, eine Gruppe junger Kritiker mit der Kunst des Films, das heißt zunächst des Film-Sehens, vertraut zu machen, die den von ihm mitgegründeten Cahiers du Cinéma in den fünfziger Jahren einen inzwischen legendären Ruf erwarben und der Filmkritik binnen kurzem eine Bedeutung erfochten, die sie ebenso rasch wieder verlor. Vor allem Claude Chabrol, Eric Rohmer und François Truffaut war es zu verdanken, dass Alfred Hitchcock nunmehr als Filmkünstler oder ‚Autor‘, nicht nur als kommerziell erfolgreicher Regisseur wahrgenommen wurde. Die aus jener Art Filmkritik hervorgegangene Nouvelle Vague lieferte bald den sichtbaren Beweis dafür, dass die Kritik ein Teil des Werks ist – oder dass Kritiker als Künstler bisweilen mehr vermögen als jene, die ihr Können einer ingeniösen Intuition, also einem zuverlässigen Lehrbuch verdanken, das sie womöglich nie gelesen, aber unter der Hand auswendig gelernt haben. Der vormals unbedeutendste Kritiker dieser Gruppe, nämlich Godard, wurde schließlich ihr bedeutendster Filmemacher. Während Truffaut vor allem bessere Filme machen wollte, als sie das französische ‚Cinéma de qualité‘ der Nachkriegszeit hervorgebracht hatte (was ihm zweifellos auch gelang), avancierte bei Godard das Objekt der Kritik zu deren eigenem Medium. Keine der Kritiken, die er früher verfasst hatte, konnte es mehr mit derjenigen aufnehmen, die er nun mit den Mitteln des Films formulierte, und zwar formulierte im präzisen Sinn des Wortes. Denn eine Form musste, in Auseinandersetzung mit den überlieferten Formgesetzen des Films, erst gefunden werden. „Wenn man gesagt bekommt: Wasch dir die Hände, ehe du… Im Film habe ich mir die 5
Godard 1985, 215. „Schreiben bedeutete bereits Filmemachen. Als Kritiker betrachtete ich mich schon als Filmemacher. Heute betrachte ich mich nach wie vor als Kritiker, und in gewisser Weise bin ich das noch mehr als früher.“ 265
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Hände dann gerade nicht gewaschen. Und mir erst einmal angeschaut, was eine Hand ist und was Seife“ (Godard 1984, 298). In seinen frühen Filmen, die man gemeinhin der Nouvelle Vague zurechnet (z. B. À bout de souffle, Le Mépris, Bande à part6), schaute er sich an, was eine Filmerzählung, ein Genre, eine Figur, ein Schnitt ist und wie man ein filmisches Sujet konstruiert. Bald begann er, ausgehend von der Reflexion auf die ästhetischen Traditionen des Films, auch die gesellschaftliche Wirklichkeit genauer zu beobachten, die der Film seinerseits reflektieren, nicht widerspiegeln, sondern aufnehmen sollte. Man hat die Entwicklung von den scheinbar unbekümmerten, in ästhetischer sowohl wie politischer Hinsicht recht frivolen Filmen der Nouvelle Vague hin zu den in eben jener Hinsicht radikalen Filmen der späteren sechziger Jahre häufig als Übergang zu einem materialistischen Kino bezeichnet. Das ist legitim, solange man darüber nicht vergisst, dass auch Godards frühe Filme natürlich weitaus mehr zu bieten haben als scheinbar arglose Verstöße gegen geltende Konventionen; erinnert sei an die Brechtischen Versuche in Vivre sa vie, Les Carabiniers und Une Femme mariée.7 Der Übergang, zu dem Godard spätestens 1961 ansetzte, wäre also zunächst ernster zu nehmen als der Bruch, der frühestens 1967 stattfand. In Masculin-féminin oder Pierrot le fou8, beide Mitte der sechziger Jahre entstanden, liegen Anfang und Ende der Entwicklung gleichsam überkreuz. Im Übrigen verlief diese Entwicklung vielleicht konsequent, aber nicht kontinuierlich. Der oben erwähnte Film La Chinoise ist ohne Zweifel ein politisch radikales Pamphlet; formal bleibt er jedoch hinter der viel weitergehenden Desintegration der fiktionalen Erzählform, wie sie zuvor schon in Deux ou trois choses que je sais d’elle9 vorgeführt wurde, zurück. Im Nachhinein scheint allerdings der Rückzug eher ein wohlüberlegtes Ausholen zu neuen Schlägen gewesen zu sein. Den bis dahin spektakulärsten führte Godard noch im selben Jahr. Week-end blieb sein vorerst letzter „Spielfilm“, mit dem er die überkommene Erzählform von innen heraus sprengte. „Fin de conte, fin de cinéma“10, bekam der Zuschauer am Schluss des Films zu lesen, nachdem er in der letzten Einstellung gesehen hatte, wie die Protagonistin Corinne ihren Ehemann Roland verspeist. „With Week-end Godard demonstrated that he was ready for revolution. He even told his crew he had worked with for
Außer Atem (1959), Die Verachtung (1963), Die Außenseiterbande (1964). Die Geschichte der Nana S. (1961), Die Karabinieri (1962), Eine verheiratete Frau (1964). 8 Masculin-Feminin oder: Die Kinder von Marx und Coca-Cola (1965), Elf Uhr nachts (1965). 9 Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß (1966). 10 „Ende der Erzählung, Ende des Films.“ 6 7
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almost a decade that they should seek other employment“ (MacCabe 2005, 200). Im Unterschied aber zum Beispiel zu Ché Guevara, der berichtete, er habe im Verlauf der kubanischen Revolution den Medikamentenkoffer gegen die Munitionskiste getauscht, beging Godard seinerseits nicht den Fehler, seinen bisherigen Beruf aufzugeben. Und das nicht nur aus dem naheliegenden Grund, dass die Revolte in Frankreich 1968 einem Filmemacher wenig Aussicht bot, einen lukrativeren zu finden. Wenn er auch später erklärte, das Kino könne „uns nur noch interessieren in dem Maß, wie es uns gelingt, es zu zertrümmern“ (1975, 423), so bestand doch kein Zweifel daran, dass die Zertrümmerung selbst mit den Mitteln des Kinos zu bewerkstelligen sei. Ebenso klar war aber, dass dazu die Werkzeuge neu justiert und einige neu erfunden oder wiedergefunden werden mussten und dass die bereitstehenden Mittel der Institution Kino, von deren Persistenz man sich auch lange nach der Einführung neuerer audiovisueller Medien noch überzeugen kann, nicht zulangten. Ein politisch radikaler Spielfilm bleibt zunächst und vor allem ein Spielfilm. Die Mittel selbst sollten, ähnlich wie Brecht es in Bezug auf das Theater unternommen und in Bezug auf das Radio zumindest vorgeschlagen hatte, umfunktioniert werden. Dazu wiederum musste man sich über die Funktionen der filmischen Ausdrucksmittel erst einmal klar werden. Godard forderte, man solle nicht politische Filme machen, sondern politisch Filme machen (1971, 187).11 Wenn ein solches Vorhaben materialistisch genannt werden kann, dann nicht in erster Linie der gewählten Stoffe wegen, die gemäß der Lehre vom Klassenkampf als politisch brisant aufgefasst werden könnten. Die Forderung, politisch Filme zu machen, erstreckt sich vielmehr auch auf die Produktions- und Distributionsweise eines Films sowie auf die besondere Materialität des Mediums, die mit dessen eigenen Mitteln untersucht werden sollte. Das entspricht der Idee der Avantgarde, die einerseits eine bewusste Verfügung über die künstlerischen Mittel anstrebte und damit andererseits aus dem Funktionsbereich der Kunst, wie er sich in der bürgerlichen Gesellschaft unterdessen institutionalisiert hatte, ausbrechen wollte (Bürger 1974, 24-35). Es entspricht zudem einer ganz bestimmten avantgardistischen Idee – oder Tradition, wie man mittlerweile sagen dürfte, und zwar einer Tradition, die im Unterschied zu einer im strengen Sinne des Wortes künstlerischen Bewegung, wie sie etwa im französischen Kino der zwanziger Jahre anzutreffen war, als politische bezeichnet werden kann (Wollen 1982, 92-104). Daran schloss Godard selbst ex-
11 Der Text erschien 1970 unter dem von Lenin erborgten Titel What is to be Done? in der britischen Filmzeitschrift Afterimage. 267
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plizit an, indem er die von ihm 1968 gegründete Filmgruppe nach dem sowjetischen Avantgardisten Dziga Vertov benannte. Ähnlich wie dieser legte er fortan eine Verachtung für die „bourgeoisen Märchenszenarien“ (Vertov 1973, 44) an den Tag und nahm zugleich für sich in Anspruch, seine politisch gemachten Filme auch den Arbeitern nahezubringen, die der so genannten höheren bürgerlichen Kultur noch immer ausgeschlossen waren und nach Feierabend vornehmlich nach jenen Märchenszenarien verlangten. Godard hat seine Filmkunst in der programmatischen Forderung, „die Klassengegensätze mit Bildern und Tönen zu studieren“ (1971, 187), prägnant beschrieben. Indessen blieben die Filme, mit denen er die Klassengegensätze sowohl wie das Hören und Sehen selbst studieren wollte, weithin unsichtbar.12 Wie so oft lief nicht die politische Avantgardekunst dem Publikum voraus, sondern dieses ihr davon. Auch der für das Fernsehen produzierte Film Le Gai savoir wurde vom auftraggebenden Sender sogleich zurückgezogen und war zunächst nur auf Festivals und in einschlägigen Kinos zu sehen, wo er ebenfalls nicht sehr wohlwollend aufgenommen wurde. Dass es ohnehin unrealistisch war, ein größeres Publikum aufrütteln zu können, hatte Godard offenbar darin bestärkt, endlich auch dem eigenen kleinen Publikum vor den Kopf zu stoßen. Die Gelegenheit, erstmals einen Film fürs Fernsehen abliefern zu dürfen, nahm er zum Anlass, einen Film zu machen, von dem selbst Filmleute behaupten konnten: „Was Sie machen, das ist kein Film“ (Godard 1984, 229). Den gleichen Vorwurf hatte Godard selbst knapp zehn Jahre zuvor gegen die Filmleute erhoben: „Eure Kamerabewegungen sind häßlich, weil eure Sujets falsch sind, eure Schauspieler spielen schlecht, weil eure Dialoge nichts taugen, mit einem Wort, ihr könnt keine Filme machen, weil ihr nicht mehr wißt, was das ist“ (1971, 145). Um seinerseits herauszufinden, was das ist, machte Godard nun einen Film, den man mit Wohlwollen auch als Theorie begreifen könnte, sofern man als Theorie auch solche Reflexionen gelten lässt, die diese Metapher bis zu ihrer buchstäblichen Bedeutung zurückverfolgen. Eine Filmchronik Dziga Vertovs aus dem Jahr 1926 trägt den Titel agaj, Sovet! („Vorwärts, Sowjet!“). Um vorwärtszukommen, wenn nicht in der Weltgeschichte, so immerhin in der Entwicklung der filmischen Produktivkräfte, ging Godard jedoch zunächst einmal zurück. Le Gai savoir ist der Versuch einer Rückkehr zum Nullpunkt, „[a] mythic return to zero“ (Morrey 2005, 84). Mythisch deshalb, weil es einen Nullpunkt des Films nicht gibt oder er zumindest unerreichbar bleibt.
12 „Kino nannten wir die Filme, die wir nicht sehen konnten“ (Godard 2003, 15). 268
GODARDS FRÖHLICHE WISSENSCHAFT
Denn gemeint ist nicht der historische Ausgangspunkt des Films, sondern jener sagenhafte Anfang, den die Reflexion auf dem Wege des radikalen Zweifels erreichen soll. Für Descartes war es das Selbstbewusstsein, das Zweifel an seiner eigenen Gewissheit schlechterdings nicht zulasse. Aber ein Selbstbewusstsein hat der Film nicht. Er ist bloßes Objekt, dessen sich ein Subjekt mehr oder weniger bewusst bemächtigt (wobei freilich die Qualität des Objekts eine entscheidende Rolle spielt). Wenn ein Film als selbstreflexiv bezeichnet wird, so bedeutet das nichts weiter, als dass er eine möglichst genaue oder umfassende Vorstellung von sich selbst vermittelt, sei es als Kunstwerk oder als Kommunikationsmittel. Dies geschieht üblicherweise (oder besser: unüblicherweise) dadurch, dass der Filmemacher auf die Verfahren, deren er sich im Produktionsprozess bedient, reflektiert und den Zuschauer an seinen Reflexionen teilhaben lässt, indem er jene Verfahren in besonderer Weise exponiert. In wechselndem Maße hatte Godard das in allen seinen Filmen bereits getan. In Le Gai savoir allerdings – und insofern erscheint es gerechtfertigt, hier von einem Bruch oder Neubeginn zu sprechen – hat er zu diesem Zweck so etwas wie eine eigene Versuchsanordnung entworfen. Sie besteht aus zwei Figuren, Émile Rousseau (Jean-Pierre Léaud) und Patricia Lumumba (Juliet Berto), sowie einem Regenschirm, der als „Bewusstseinsreflektor“ vorgestellt wird. Außer den beiden Figuren und diesem Gegenstand reflektiert buchstäblich nichts, die Kulisse ist schwarz. In jäher Regelmäßigkeit unterbrochen wird die Szene durch Einstellungen unterschiedlicher Art und Herkunft, von denen man nicht angeben kann, ob es sich um Illustrationen oder um Gedankenbilder der Figuren handelt. Ergänzt beziehungsweise ersetzt wird der auch über jene Einstellungen sich erstreckende Dialog durch einen Off-Kommentar (den Godard selbst spricht, vielleicht um zu zeigen, dass der Autor zwar möglicherweise tot, aber beileibe nicht unbeteiligt ist). In diesem Film geht es um Beziehungen: nicht vorzugsweise solche zwischen Mann und Frau, wie der erfahrene Filmzuschauer angesichts der geschilderten Konstellation erwarten dürfte, sondern um Beziehungen zwischen Menschen und Sprache, Zeichen und Bezeichnetem, Bildern und Tönen. Um solchen Beziehungen nachzugehen, treffen Émile und Patricia Nacht für Nacht zusammen: „on étudie des rapports, des relations, des différences“.13 Zu Beginn entwerfen sie einen Studienplan über drei Jahre, der jedoch im Verlauf des Films nie mehr zur Sprache 13 „Wir untersuchen Verhältnisse, Beziehungen, Unterschiede“ (Zitat aus Le Gai savoir). – Eine detaillierte Interpretation des Films kann bei Kaja Silverman und Harun Farocki nachgelesen werden. Wie Patricia und Émile entwickeln die beiden ihre Gedanken im Dialog, und bisweilen tun sie das auch genauso frei assoziativ. 269
CHRISTOPH HESSE
kommt; „der Film erzählt von sieben Nächten, in denen Émile und Patricia ihre Studien betreiben, wobei oft nicht zu unterscheiden ist, ob sie Material sammeln, es kritisieren oder bereits Modelle einer künftigen Praxis errichten“ (Silverman/Farocki 1998, 135). Dass der Film „erzählt“, ist nicht leichtfertig dahingesagt. Denn obgleich Le Gai savoir weiter als alle vorangegangenen Filme Godards aus der Tradition des Erzählfilms ausschert, werden zumindest zwei Prinzipien filmischer Narration aufrechterhalten: Es gibt eine Inszenierung (zwei Charaktere in Interaktion), und es gibt einen dramaturgischen Verlauf (sieben Nächte). Funktionstüchtig im narrativen Sinne ist aber weder das eine noch das andere. Denn man kann keine Entwicklung erkennen, weder eine dramaturgische noch eine psychologische, von einer Fabel gar nicht zu reden. Die siebte Nacht ist so schwarz wie die erste, und wenn die Figuren, die man ernstlich kaum als Charaktere bezeichnen würde, eine Entwicklung durchmachen, dann allenfalls eine intellektuelle, wobei es dem Urteil des Zuschauers überlassen bleibt, ob Émile und Patricia am Ende wirklich schlauer geworden sind. Es kommt vielmehr darauf an, dass der Zuschauer, statt sich von Émile und Patricia belehren oder gar mitreißen zu lassen (was bei diesem Film ausgesprochen schwer fällt), auch aus den Irrtümern und Albernheiten, die die beiden bisweilen aufführen, seine Schlüsse zieht. Von der Nötigung suspendiert, über die Bilder hinweg eine Geschichte zu konstruieren, wird er aufgefordert zu beobachten, was der Film, der zunächst nichts anderes ist als eine Serie von Einstellungen, ein Ensemble von Bildern und Tönen, ihm vorstellt. „Nous n’acceptons plus aucune sorte de vérité évidente“, wird in Zwischentiteln wiederholt erklärt. „Les vérités évidentes appartiennent à la philosophie bourgeoise“.14 Diese Haltung, zu der Émile und Patricia sich verpflichten (und die der Film implizit auch dem Zuschauer abverlangt), ist derjenigen Descartes’ durchaus ähnlich. Als einer der Stammväter bürgerlicher Philosophie gilt Descartes nicht zuletzt deshalb, weil er den überlieferten Wahrheiten der Scholastik misstraute und dem göttlichen ordo das denkende Subjekt entgegensetzte. Er war schließlich bei der Selbstgewissheit des eigenen Bewusstseins angelangt, um von dort wiederum zum allmächtigen Gott sich zu erheben. Émile und Patricia stoßen im Verlauf ihrer Untersuchungen auf vergleichsweise profane und scheinbar banale Dinge, auf allerlei optische Eindrücke, die sich erst allmählich zu Bildern verdichten (oder auch nicht), sowie auf Buchstaben und Laute, deren Bedeutung mitunter unkenntlich bleibt wie das Rauschen, das die gesprochenen Worte häufig verdeckt. Um etwas über
14 „Wir akzeptieren keinerlei evidente Wahrheit mehr. Die evidenten Wahrheiten gehören der bürgerlichen Philosophie“. 270
GODARDS FRÖHLICHE WISSENSCHAFT
Beziehungen herauszufinden, reißen Émile und Patricia die aufeinander bezogenen Elemente auseinander. Das Verfahren der Wissenschaften, erklärt Émile, ist Auflösung („dissolution“). Das kann man im Sinne Brechts verstehen, der seinen Philosophen Me-ti sagen ließ: „Sätze von Systemen hängen aneinander wie Mitglieder von Verbrecherbanden. Einzeln überwältigt man sie leichter. Man muß sie also voneinander trennen“ (1995, 95). Im Besonderen verweist die Auflösung der Beziehungen hier auf das semiotische Verfahren, „jedes Faktum der Natur auf Faktum der Kultur, […] jeden Gegenstand auf Zeichen, jeden Referenten auf Bedeutung und damit Wirklichkeit auf Gesellschaft zu reduzieren“ (Eco 1971, 71). Von der verführerischen Ausstrahlung der Semiotik, die in den sechziger Jahren eine Mathematik der Kulturwissenschaften zu werden versprach, kann man sich auch in den damaligen Jahrgängen der Cahiers du Cinéma überzeugen. Mit Hilfe einer Wissenschaft der Zeichen sollte der Film als Phänomen in seine Einzelteile zerlegt und damit jedwede Illusion aufgelöst werden. Einem solchen Vorhaben hatte sich auch Godard verschrieben. Den Theoretikern gegenüber befand er sich jedoch in der misslichen oder glücklichen Situation, dass er zu diesem Zweck weiter Illusionen, nämlich Filme, produzieren musste. Kaja Silverman geht so weit zu behaupten, Le Gai savoir, den sie als „filmische Version des Mai ‘68“ bezeichnet, entspreche „weniger den Geschehnissen auf den Pariser Straßen als den Ereignissen zwischen den Buchdeckeln von Althussers Für Marx, Foucaults Archäologie des Wissens oder Derridas Grammatologie“ (Silverman/Farocki 1998, 135). Dass die Pariser Straßen in diesem Film nur beiläufig und politische Demonstrationen lediglich auf der Tonspur vorkommen, ist ebenso wahr wie, dass in einer Einstellung der Buchdeckel von Derridas Grammatologie zu sehen ist. Inwiefern aber Godard mit solchen Theorien wirklich vertraut war, bleibt den Vermutungen des Zuschauers (oder -hörers) anheimgestellt: „While it would always be a mistake to assume that Godard had read a particular book, it is clear that Le Gai savoir is an attempt to deconstruct the conventional relations between sound and image“ (MacCabe 2005, 207). Sicherlich hatte Godard kein Interesse an akademischen Fragen, etwa ob es möglich sei, den Film als Zeichensystem streng nach linguistischen Kriterien zu konzipieren. Glaubt man Christian Metz, einem der Protagonisten der Filmsemiotik der sechziger Jahre, war das auch keineswegs das einzige oder vorrangige Interesse der Theoretiker: „from the beginning on“, urteilte er später, „semiotics was an endeavour to de-mystify dominant cinema. […] Experimental cinema on the one hand and semiotics on the other are both different modes of challenging dominant cinema“ (1980, 168). 271
CHRISTOPH HESSE
Godards spielerischer Umgang mit semiotischen Begriffen, die er zur Kommentierung des im Film Gezeigten einsetzt und mit denen er selbst filmisch experimentiert, wird wissenschaftlichen Ansprüchen schwerlich gerecht. Was dies betrifft, hat er den Titel seines Films an der richtigen Adresse entliehen: Nietzsche waren akademische Gepflogenheiten gerade so zuwider wie die von ihm abschätzig so genannten modernen politischen Ideen, die Godard mit seiner fröhlichen Wissenschaft zu aktualisieren versuchte. Nietzsche sprach von einer „Trunkenheit der Genesung“ (1988, 345) und von „Abgründen“, aus denen er „neugeboren“ (351) zurückgekehrt sei. An so etwas wie eine Neugeburt des Films, oder zumindest eine Genesung von schlechten Gewohnheiten, die in diesem Metier ein jeder unweigerlich anzunehmen scheint, dachte wohl auch Godard. Nur stand ihm diese Kur noch bevor. Wie am Ende des Films mitgeteilt wird, sollte Le Gai savoir erst ein Anfang sein. Auch Nietzsche übrigens hat fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern verfasst. „Le gai savoir était un peu infantile, provocant“15, urteilte Godard später. Tatsächlich erscheinen einem manche Einstellungen unreif, an Godards eigenen Maßstäben gemessen, und manche Dialoge übermütig und albern. Als unfertiges Modell betrachtet, erscheint jedoch Le Gai savoir weitaus radikaler als die Film-Pamphlete, die Godard in den darauffolgenden Jahren an unterschiedlichen Orten der Welt produzierte. Die plakativen politischen Botschaften, die in diesen Filmen zu sehen und zu hören sind, wirken blass im Vergleich zu den filmischen Interventionen, an denen Godard sich mit Le Gai savoir wie in einem Labor versuchte. Komisch mutet der Film das Publikum wohl nicht zuletzt deshalb an, weil er Antworten zu formulieren sucht auf Fragen, die im Kino bei Strafe äußerster Unlust nicht gestellt werden. Allen voran die Frage, was man sieht, wenn man einen Film „sieht“. Die geduldige Demontage einzelner Film-Zeichen wirkt mitunter geradezu pedantisch. Wer demgegenüber aber nicht stur auf seinem Filmerfahrungswissen beharrt und sich auf die Auseinandersetzung einlässt, wird daran vielleicht sogar Freude finden. Wenn Godard von dem Wunsch beseelt gewesen sein sollte, „böse Objekte“ herzustellen, die das Missfallen des Publikums erregen (vgl. Silverman/Farocki 1998, 134), könnte der Zuschauer sich den Wunsch erfüllen, genau diese Erwartung zu enttäuschen; es gibt schließlich kein Gesetz, das vorschreibt, dass die Lektüre eines Romans von Joyce weniger Vergnügen bereiten soll als die
15 Godard 1985, 404. „Le Gai savoir war ein bisschen infantil, provozierend“. 272
GODARDS FRÖHLICHE WISSENSCHAFT
Rezeption eines so genannten Realismus, der manch einen nur mehr seiner erstaunlichen Unwirklichkeit wegen verblüfft. Der Film hat in seiner Entwicklung „optische Begriffe“ (Balázs 1972, 154) hervorgebracht, die mit der sichtbaren Wirklichkeit nicht unmittelbar verwechselt, jedoch als angemessener, wenn nicht allein zulässiger Ausdruck von Wirklichkeit im Film gehandelt werden. Im Zuge dessen hat er seine eigene Sprache und eigene Regeln produziert, und nicht zuletzt auch ein Publikum geschaffen, das diese Weltsprache versteht. So nimmt man jedenfalls an. Godard war der Auffassung, dass es sich dabei vielmehr um ein routiniertes Missverstehen handle: „Sans doute ne sait-on pas encore écouter et voir un film. Et là est notre premier travail aujourd’hui. Par exemple, les personnes formées politiquement le sont rarement cinématographiquement, et vice versa.“16 Den Kampf an zwei Fronten, den er demgemäß in seinem ,Manifest‘ gefordert hatte (1971, 180), nahm Godard selbst an einer einzigen auf. Brechts Auskunft, dass, wer nichts von der Wirklichkeit versteht, auch nichts von Kunst verstehen könne (1992, 468), ließ sich ohne weiteres umkehren: Wer nichts von Film versteht, kann auch die Wirklichkeit nicht erkennen. Godard zufolge sollte die Erkenntnis der Bedingungen und Möglichkeiten einer Filmaufnahme einhergehen mit der Erkenntnis der Wirklichkeit, die der Film aufnimmt. „Sozialismus“, meinte er noch lange nach dem Pariser Mai, „wäre, wenn es die Leute schaffen würden, sich aufgrund dessen zu verständigen, was sie gesehen haben“ (1984, 188). „Denn ich bin der Meinung, wenn das Kino sich verändert, dann verändert sich alles, da ist Veränderung am leichtesten möglich und deshalb ändert sich da auch am wenigsten.“ (Ebd., 177)17 Es darf dahingestellt bleiben, wie ernst oder ironisch er das gemeint hat. Der Befund, dass sich in der Filmgeschichte eigentlich erstaunlich wenig verändert hat, wäre, allen Veränderungen und den sie begleitenden Beteuerungen der Reklamefachleute (einschließlich der in dieser Rolle auftretenden Filmkritiker) zum Trotz, allerdings sehr ernst zu nehmen. Und die Idee: „wenn man da etwas veränderte, folgte alles andere nach, weil unsere Art zu sehen verändert würde“ (ebd.), verrät zumindest einen respektablen Wunsch. Nachdem alle bisherigen Versuche, einer auf Emanzipation zielenden Veränderung der Welt eine zulängliche und vermeint16 Godard 1985, 305. „Zweifellos versteht man es noch nicht, einen Film zu hören und zu sehen. Und dort liegt unsere wichtigste Aufgabe heute. Diejenigen zum Beispiel, die politisch gebildet sind, sind es selten filmisch, und umgekehrt.“ 17 Das hat er unlängst noch einmal bekräftigt: „Ich beharre auf der Idee, dass die Welt sich nicht wirklich ändern oder verbessern kann, wenn die Filme nicht besser werden. […] Ich habe aber leider den Eindruck, dass der Film der Ort der geringsten Veränderungen sein wird“ (Godard 2003, 39). 273
CHRISTOPH HESSE
lich zwingende Begründung zu verschaffen, erfolglos geblieben sind, warum sollte einer seine Hoffnungen, statt sie fahrenzulassen, nicht in die Filmkunst setzen? Ob und inwiefern es aber dem Film gelingt, ein „Bild der Welt“ (Godard 2003, 31) zu zeigen, lässt sich nicht vorab theoretisch bestimmen, etwa mit Rekurs auf die realistischen Abbild-Qualitäten des Mediums. Man müsste zum einen die Verfahren beurteilen, die ein Film zu diesem Zweck einsetzt, und zum anderen Zuschauer in Rechnung stellen, die das Gezeigte zu sehen und ihrerseits zu beurteilen haben. Godard hat darauf aufmerksam gemacht, dass man, um ein Bild der Welt herzustellen, nicht nur Filme, sondern auch „das Sehen der Filme produzieren“ (1984, 166) müsste. Denn was Menschen erkennen und für wirklich halten, ist abhängig von geschichtlichen Bedingungen, im Film insbesondere auch von filmgeschichtlich produzierten Gewohnheiten und Vorurteilen. Um ein solches Sehen produzieren zu können, müsste man allerdings Filme produzieren, die aus den genannten Gründen womöglich nicht gesehen würden. Und deshalb werden sie wohl auch gar nicht erst gemacht. Einige der Filme, die in den sechziger und siebziger Jahren gemacht wurden in der Hoffnung, jene Gewohnheiten zu verändern, werden heute aber durchaus noch gezeigt. Technologie und ökonomisches Interesse, die beide in erheblichem Maße mitverantwortlich sein dürften dafür, dass solche Filme nicht mehr produziert werden, sorgen immerhin dafür, dass sie in digital konservierter Form wieder zu sehen sind. Le Gai savoir wurde soeben auf DVD veröffentlicht. Die Filmgeschichte, die vor geraumer Zeit schon beendet schien, könnte also wiederaufgenommen werden. Zumindest vonseiten der Zuschauer, die zuzuschauen bereit sind und sich nicht daran stören, dass die Zukunft des Films vierzig Jahre zurückliegt. Die Filme, mit denen es hätte weitergehen müssen, sind leider bisher nicht gemacht worden.
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GODARDS FRÖHLICHE WISSENSCHAFT
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A RBEIT
Verwissenschaftlichung von Arbeit. Reflex ione n zu einem Umbruch gesellschaftlicher Arbeits- und Technikverhältnisse INES LANGEMEYER UND CHRISTOF OHM „Die wissenschaftliche Erfahrung ist die erste Zelle der neuen Produktionsmethode, der neuen Form tätiger Einheit zwischen Mensch und Natur. Der Wissenschaftler-Experimentator ist [auch] ein Arbeiter, kein reiner Denker, und sein Denken wird fortwährend durch die Praxis kontrolliert und umgekehrt, bis sich die vollendete Einheit von Theorie und Praxis bildet.“ (Gramsci, Gefängnishefte Bd. 6, H. 11, §34)
Einleitung: Vom Problem der Alltagskategorie des ‚Wissens‘ Die allgemeine Erfahrung, dass in zukunftsträchtigen Sektoren der heutigen Arbeitswelt ‚Wissen‘ eine herausragende Rolle spielt, schlug sich in Begriffen wie „Wissens- oder Informationsgesellschaft“ (Daniel Bell), „Informationszeitalter“ (Manuel Castells) und der „wissensbasierten Ökonomie“ (Bob Jessop) nieder.1 1
Aber schon 1968 „schrieb der ‚Guru aller Managementgurus‘ Peter F. Drucker“ (Dankbaar 2006, 252), dass „knowledge worker“ im Zentrum der US-amerikanischen Erwerbsbevölkerung stünden und Fließbandarbeit sowie Maschinenbedienung durch Angelernte sich im Rückzug befände. 279
INES LANGEMEYER UND CHRISTOF OHM
„Wissensarbeit“ gilt heute als Schlüsselkategorie für neue Forschungsfragestellungen (vgl. z. B. Konrad/Schumm 1999). Im Diskurs um Industriestandorte und Wettbewerbsfähigkeit wird ‚Wissen‘ gar als neuer Rohstoff oder als Ressource für neue Wertschöpfungsketten gehandelt (für einen kritischen Überblick zum Begriff der Informationsbzw. Wissensgesellschaft vgl. Schilcher 2006). Diese Sichtweisen erscheinen vor dem Hintergrund überaus plausibel, dass sich in Produktion und Verwaltung Technologien durchgesetzt haben, die im Alltag anthropomorphisierend „intelligent“ genannt werden, da sie den Menschen Operationen des Rechnens und der Informationsverarbeitung abnehmen und ihre Nutzung – die Interpretation und die Anwendung der Daten – den Arbeitenden Klugheit abverlangt. Doch es bleibt ein Allgemeinplatz, dass Menschen ein bestimmtes gesellschaftliches Wissen zur Reproduktion der eigenen Existenzweise benötigen; und bezogen auf das ‚moderne Wissen‘, die Naturwissenschaften, gilt: auf ihrer Anwendung fußte schon in der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts die Entwicklung immer produktiverer Maschinen. Woraus ergibt sich also die historische Trennschärfe, um die veränderten gesellschaftlichen Technikverhältnisse zu verstehen? Im derzeitigen Hype ums ‚Wissen‘ spiegelt sich nur die Ahnung, dass es eine neue Qualität erhalten hat. Die Vorstellung beispielsweise, es sei damit die Epoche von ‚immaterieller‘ Arbeit und ‚immaterieller‘ Ökonomie (z. B. Negri/Hardt) angebrochen, ist irrig. Einige beflügelten solche Vorstellungen zur Annahme, dass nun alle Klassengegensätze überwunden seien (vgl. die Kritik von F. Haug 2000); andere versprachen sich von einer ‚new economy‘ immateriellen Produzierens grenzenlose Gewinne auf den Finanzmärkten – eine Hoffnung, die die Börsencrashs im letzten Jahrzehnt und die aktuelle Finanzkrise Lügen straft – weshalb der Verdacht nahe liegt, dass heute „der Aberglaube vornehmlich über Naturwissenschaft und Technik in den Alltagsverstand einzudringen“ scheint (W. F. Haug 2003, 97). Wie wäre die Frage nach dem ‚Wissen‘ zu formulieren, um Aufschlüsse über die Spezifik heutiger Arbeits- und Technikverhältnisse zu gewinnen? Wir prüfen die Überlegungen, inwieweit sich die neue Rolle des Wissens über das Verhältnis von Theorie und Praxis im Vollzug alltäglicher Arbeit erschließen lässt, und rechnen damit, auf diesem Weg auch Einblicke in die Entwicklung neuer Formen betrieblicher Herrschafts- und Kontrollstrukturen zu gewinnen. Mit dem breiten, ja geradezu schillernden Bedeutungsspektrum der Alltagskategorie „Wissen“, die sowohl auf gesellschaftliche und individuelle Erfahrungen als auch auf Bücher oder Archive und ‚intelligente‘ technologische Entwicklungen wie die des Computers, der Softwareprogramme oder des Internets bezogen wird, lässt sich dadurch kontrollierter umgehen. Präziser gesagt 280
VERWISSENSCHAFTLICHUNG VON ARBEIT
möchten wir die Aufmerksamkeit auf den historischen Umbruch in der Produktionsweise lenken, für den nicht Wissen an sich, sondern Prozesse der Verwissenschaftlichung von Arbeit ein Schlüssel sind. Wir gehen davon aus, dass wissenschaftliches Wissen nicht mehr nur für einige wenige Berufe relevant ist, sondern dass die Arbeitstätigkeiten im HighTech-Kapitalismus auf breiter Front von einer Dynamik der Verwissenschaftlichung ergriffen worden sind. Da sie elementaren Antagonismen der Gesellschaft, die auf der Trennung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit beruhen, den Boden entziehen – was freilich nicht das Ende antagonistischer Verhältnisse ist –, ist auch mit neuen Konkurrenzverhältnissen und Antagonismen zwischen den Arbeitenden insgesamt (auf Ebene der Gesellschaft und der Betriebe) zu rechnen. Insbesondere für Gewerkschaften bedeutet dies, dass sie sich nicht nur auf einen neuen Typ von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, sondern auch auf neue Konfliktfelder und Kämpfe einstellen müssen. Der aktuelle Stand der Forschung zeigt, dass derartige Fragen bereits aufgeworfen und bearbeitet wurden. Wir greifen daher im Folgenden exemplarisch einen Ansatz heraus, der wie unser Ansatz versucht, mit einigen wenigen Grundbegriffen Arbeit historisch-perspektivisch auf den Begriff zu bringen, und gehen ihn kritisch-prüfend durch.
Paradoxien des Informatisierungsbegriffs Nicht der von uns vorgeschlagene Begriff der Verwissenschaftlichung, sondern „Informatisierung“ der Arbeit steht im Mittelpunkt arbeits- und industriesoziologischer Forschung. Der Term „Informatisierung“ erhielt ab 1977 in Frankreich enorme Publizität, nachdem Alain Minc und Simon Nora ihren berühmten Bericht L’Informatisation de la société fertig gestellt und der französischen Regierung überreicht hatten. Im deutschen Sprachraum gewann er vor allem durch die – auf Gewerkschaften hin orientierten – Arbeiten von Rudi Schmiede, Andrea Baukrowitz (TU Darmstadt) und Andreas Boes u. a. am ISF München Einfluss. Es handelt sich, wie deren Arbeiten im Tagungsband Informatisierung der Arbeit von 2006 zeigen, um einen gemeinsamen, wenn auch von unterschiedlichen Generationen und Forschungsarbeiten geprägten und damit nicht ganz homogenen Ansatz. Er soll im Weiteren der Gegenstand unserer Untersuchung sein. Da der Ansatz den historisch neuen Stellenwert von Wissen zu bestimmen sucht, grenzt er sich von der Alltagskategorie des ‚Wissens‘ ab:
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INES LANGEMEYER UND CHRISTOF OHM
„Unseren Überlegungen zufolge besteht das Neue im Prozess der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion von Wissen nicht darin, dass Wissen nun erstmals ins Zentrum der gesellschaftlichen Entwicklung tritt (in dieser Hinsicht ist die Rede von der neuen Zentralität des Wissens in der Gesellschaft irreführend). Neu ist vielmehr, dass die Erzeugung, Dokumentation und Aneignung von Wissen einem grundlegenden Wandel unterliegt“ (Boes et al. 2006, 499).
Mit dem Begriff der „Informatisierung“ wird jener Wandel gefasst. Für Schmiede (1999, 135) ist dieser Prozess „im unmittelbaren Sinn die Umwandlung der vielfältigen, in zahlreichen Formen vorhandenen Informationsbestände in digitale Form“, so dass sie „im Prinzip universell verfügbar“ gemacht werden. Boes geht über diese an den technologischen Umbruch gekoppelte Bestimmung hinaus und wendet sich gegen die „gängigen Vorstellungen“, die „technische Entwicklungen in den Mittelpunkt“ rücken und gegen eine „Diktion“, die Informatisierung „vorrangig als Ausbreitung von Informations- und Kommunikationstechnologien ‚übersetzt‘“ (Boes 2005, 213). Damit grenzt dieser Ansatz an unsere Fragestellung an, wie die neue „postfordistische“ im Unterschied zur fordistischen Produktionsweise zu denken ist, ein qualitativer Umschlag, den wir mit dem Begriff der hochtechnologischen Produktionsweise fassen (vgl. W. F. Haug 2003; F. Haug/Ohm 2004). Boes und Pfeiffer begreifen Informatisierung als langfristigen Prozess: „Was wir heute erleben, ist der aktuelle Ausdruck und vorläufige Höhepunkt einer historischen Entwicklung, die lange vor dem ersten Computer begann.“ (2006, 20) Die theoretische Anlage enthält – wie sich hier zugleich abzeichnet – einige Dilemmata, auf die wir im Folgenden zunächst immanent eingehen. Der ‚Ursprung‘ der Informatisierung wird in vorindustrielle Zeiten bzw. in die Anfänge industrieller Produktion zurückverlegt, da er historisch-empirisch schon in der „doppelten Buchführung, Stücklisten und Arbeitsplanung“ zu beobachten gewesen wäre und sich allgemein auf die „Verschriftlichung betrieblicher Kommunikationsvorgänge“ beziehe (ebd.). Von diesen schmalen Anfängen fächert sich für Pfeiffer und Boes jedoch eine immer noch Informatisierung genannte Dynamik aus, welche die Entwicklung von Arbeit, Produktionsweise und Produktionsverhältnissen ergreift und in die „Internationalisierung der Produktionsstrukturen“, die „Reorganisation internationaler Wertschöpfungsketten“, die „Logik der Finanzmärkte“ sowie „globale Konzern-“ und „Rationalisierungsstrategien“ (ebd.) hineinwirkt. Deutlicher noch wird das paradoxe Verhältnis von der historischen Perspektive und ihrer theoretischen Einordnung bei Baukrowitz (2006). Sie betont, dass die ‚Informatisie282
VERWISSENSCHAFTLICHUNG VON ARBEIT
rung der Arbeit‘ einerseits „als ‚Universalie‘ der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise“ zu verstehen sei, andererseits aber – wie schon Boes und Pfeiffer betonten – „mit dem verstärkten Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechnologien und deren Integration zu weltweiten Netzen ihren vorläufigen Höhepunkt erfährt“ (101), wodurch „sich gegenwärtig tief greifende qualitative Veränderungen in den Produktivkräften“ (112) vollziehen würden. „Informatisierung“ soll also sowohl als „Universalie“ permanent existieren, als auch sich zu einem Höhepunkt steigern können und damit nicht nur eine quantitative, sondern zugleich eine qualitative Entwicklung in der Produktionsweise beschreiben. Eine weitere Paradoxie ergibt sich daraus, dass „Informatisierung“ als begriffliche Verknüpfung von Technologieentwicklung und Veränderung von Formen betrieblicher Arbeitsteilung und Organisation angelegt ist. Um nicht in den Verdacht eines Technikdeterminismus zu geraten und nicht „das Feld den Ingenieuren, Informatikern und Betriebswirten“ zu überlassen, versuchen Boes und Pfeiffer einen Ansatz „jenseits technizistischer Verengungen vorzulegen“, der die „vielfältigen sozialen Aspekte der Entwicklung von Unternehmen und Arbeit“ im Blick hat (2006, 22). „Informatisierung“ soll daher als ein „sozialer Prozess“ erscheinen, der „in gesellschaftliche Verhältnisse, Strukturen und Handlungsmuster [eingebettet ist]“ (Boes/Kämpf 2006, 324).2 Einerseits handele es sich also um „einen sozialen Prozess der systematischen Erzeugung und Nutzung von Informationen, um daraus weitere Informationen erzeugen zu können“ (Boes 2005, 215). Andererseits sei Informatisierung aber „die Materialisierung des Informationsgebrauchs“, ja ihr „Wesen“ bestünde darin, „Informationen als ein an sich ideelles und damit der Tätigkeit bestimmter Subjekte zuzurechnendes Moment in einen materiellen Gegenstand kooperativer menschlicher Tätigkeit zu überführen“ (21; Hervorhebungen von uns). Hier wird Informatisierung als Merkmal von Arbeit schlechthin begriffen. Boes’ oben zitierte Bestimmung gilt seit Entstehung der Sprache: Das gesprochene Wort war immer schon Moment spezifisch menschlicher Kooperation – bei gemeinsamer Jagd oder Werkzeugherstellung. Und was sollte in diesem Kontext anderes damit bezweckt werden, als „Informationen“ zu erzeugen und zu nutzen? Boes und Pfeiffer 2
Dies schließt an die Frankfurter Technikforschung an, die „Technikgestaltungsprozesse […] nicht mit technischen Argumenten“ erklären will, „sondern mit Hilfe sozio-ökonomischer Variablen wie Unternehmenszielen, Technologieschwerpunkten, Nutzergruppen, Marktzugängen und der Entscheidungsprozesse der beteiligten Akteure“ den „Institutionalisierungsprozess“ in den Mittelpunkt rückt (Schumm 2003, 194). 283
INES LANGEMEYER UND CHRISTOF OHM
räumen in der Tat ein, dass der Informationsgebrauch eine „anthropologische Konstante“ sei (ebd.). Ziel dieser Konzeption ist es, mit „Informatisierung“ aktuelle Arbeits- und Produktionsverhältnisse zu analysieren. Nutzt es da, wenn sie ontologische Bestimmungen ins Spiel bringen, wonach den Informationen an sich eine ideelle und den Arbeitsgegenständen eine materielle Gestalt zuzurechnen sei? Im Informatisierungsbegriff scheint so der alte philosophische Dualismus von Geist und Materie wiederbelebt zu werden, so dass, obwohl zugleich der „soziale Prozess“ betont wird, Zweifel aufkommen, ob hier nicht der Begriff des Materiellen mit der „sozialen Seite“ verwechselt wird (vgl. W. F. Haug 2003, 4. Kap.). Auf diese Weise wird als stoffliche Eigenschaft eines Gegenstands interpretiert, was in der Praxis ein Verhältnis darstellte. Ausgeklammert wird beim Gegeneinandersetzen von Ideellem und Materiellem nämlich die sinnliche Tätigkeit, in der Werkzeuge selbst Resultat ‚lebendiger Arbeit‘ sind und für die Arbeitenden immer auch als Gegenstände des Denkens und nicht bloß als etwas Objekt- oder Dinghaftes existieren. In der ontologischen Interpretation des Informatisierungsbegriffs erscheint dieses Mensch-TechnikVerhältnis jedoch als eine Verwandlung einer Substanz, als eine Metamorphose von etwas ursprünglich Ideellem zu etwas Objekthaftem, eben als: „Materialisierung von Informationen“ (= Informatisierung). So zeichnet sich hier ein Technikverständnis ab, welches an sich noch nicht einer sozialen Praxis entspricht, sondern erst nachträglich mit dieser Dimension konfrontiert wird. Bleiben wir aber noch kurz bei der philosophischen Entgegensetzung von Ideellem und Materiellem, auf die Boes u. a. bei der Bestimmung der Informatisierung abheben. Stellen wir uns den Handlungskontext vor, in dem Menschen ihre lebensnotwendigen Güter herstellen: Etwas rein Ideelles existiert hier nicht an und für sich, das ideelle Moment existiert in diesem Handlungskontext als herzustellendes Ding bzw. als Plan einer Kette von Handlungen. Für das Produktionsdenken gilt seit den Anfängen der Menschheit, dass es Probehandeln ist, das mit Herstellungshandlungen verknüpft ist. Solche Gedankenleistungen sind immer von bestimmten sozio-kulturellen Bedingungen abhängig, und ab einem bestimmten Grad der Entwicklung der materiell-technischen Produktivkräfte – z. B. im Kontext der Eindämmung von Flüssen – gibt es in Gestalt von Plänen symbolische Repräsentationen der geplanten Produktionshandlungen und ohne die Entwicklung entsprechender Kulturtechniken des abstrahierenden Denkens wäre die Weiterentwicklung von Technik nicht möglich gewesen. Insofern entstehen auch „Informationen“ grundsätzlich in der sozialen Praxis nur aus einem „Verhältnis zwischen Sender und Empfänger“; sie liegen also nie als Substanz (an sich) 284
VERWISSENSCHAFTLICHUNG VON ARBEIT
vor (Fuchs-Kittowski 2004, 1036), sei sie ideell oder materiell gedacht. Es handelt sich um Bedeutungseinheiten oder -strukturen, die aufgrund eines Kommunikationsprozesses existieren und nur durch diesen sozialen Sachverhalt verstehbar sind. Informationen sind dabei immer an einen materiellen Träger gebunden, sei es z. B. die Luft beim gesprochenen oder das Papier beim geschriebenen Wort. Nicht der Vorgang, dass sie materialisiert werden, ist daher interessant, sondern in welcher konkreten Form bzw. in welcher Materialität sie existieren. Während der Schall der Worte nur in einem Moment des Sprechens gehört werden kann und wechselseitige körperliche Präsenz der Sprechenden voraussetzt, können geschriebene Worte über Jahrhunderte auf Papier festgehalten und so einer Vielzahl von nicht-anwesenden Personen zugänglich werden. Bereits auf Grundlage der Telekommunikation lassen sich Distanzen zwischen den an der Kommunikation Beteiligten im ‚globalen‘ Maßstab überbrücken; mit der Digitalisierung wird es möglich, das Geschriebene nahezu unbegrenzt zu vervielfältigen und mit Hilfe des Internets in Sekundenschnelle um den Planeten zu schicken. Dass Arbeitende ihr Wissen als Digitalisat speichern und der Welt derer, die das Internet nutzen, zugänglich machen können, ermöglicht die Globalisierung von lokal verfügbarem Wissen sowie einen relativ mobilen und flexiblen Umgang damit. Die Simulation von Produktions- oder Arbeitsvorgängen ist eine erweiterte Grundlage für die Produktionsmethode des wissenschaftlichen Experimentierens, welche direkt von den Arbeitenden genutzt werden kann. Durch diese technologische Verallgemeinerungsmöglichkeit erhält die Arbeit des Problemlösens eine neue Grundlage. Aber dazu später mehr. Wenn Boes u. a. als konstitutive Elemente von Informatisierung herausarbeiten, dass Informationen von einer ideellen in eine materiell-objekthafte Seinsform gebracht werden müssen,3 um sie zu erzeugen und zu nutzen, dann abstrahieren sie von gesellschaftlich-kooperativen Formen: Das Erzeugen und Nutzen von Informationen wäre, wenn man sich auf den unspezifischen Begriff der Informationsarbeit einlässt, sinnvol-
3
Boes bestimmt die „Materialisierung von Informationen“ auf „drei Ebenen“: „Auf erster Ebene über die […] weitgehend subjektunspezifische Bestimmung des Inhalts von Informationen. […] Die zweite Ebene […] besteht in der Festlegung von Verfahren ihrer Erzeugung und Bearbeitung. Und die dritte Ebene […] betrifft die Bindung von Informationen an materielle Medien, welche einen subjektunabhängigen Gebrauch der Informationen ermöglichen. Das bedeutet: Auch wenn Informationen als Momente des allgemeinen Informationsgebrauchs ‚immateriell‘ (besser ideell) sind, können sie als Moment der Informatisierung nur existieren, weil sie materiell sind. Diese materielle Bestimmtheit von Informationen ist konstitutives Moment der Informatisierung.“ (2005, 215) 285
INES LANGEMEYER UND CHRISTOF OHM
ler als Veränderung des Aggregatzustandes von Informationsarbeit zu deuten: Wertschöpfende, lebendige Arbeit kristallisiert sich zum Wert eines Produkts, dessen Gebrauchswert darin besteht, dass es neue Informationen enthält. Im Gegensatz dazu lassen Boes u. a. bei dem Gang ihrer weiteren Theoretisierung der Arbeits- und Produktionsprozesse die Informatisierung neben dem Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur als weitere Ebene des Arbeitsprozesses hinzutreten; sie übernehme auf dem heutigen Stand der Entwicklung gegenüber den ursprünglichen ‚materiellen‘ Prozessen/Tätigkeiten die Hauptrolle: „[M]it der schnellen Verbreitung der Computertechnik“ habe sich „neben der materiell-stofflichen Ebene, über die nach wie vor der ‚Stoffwechsel mit der Natur‘ (Marx) bewerkstelligt wird, […] eine zweite Bezugsebene der Produktionsprozesse entwickelt, die der informatisierten Informationen. Letztere wiederum bildet den Ort, wo die Verwissenschaftlichung der Arbeitsprozesse vorangetrieben wird (Braverman 1977; Hack/Hack 1985), um deren Steuerung und Kontrolle von hier aus mit zunehmender Effizienz bewerkstelligen zu können. So werden Informationen für eine Anzahl von Beschäftigten zum eigentlichen Gegenstand ihrer Arbeit.“ (Ebd., 21)
Die „immaterielle“ bzw. „ideelle“ Ebene wird so zum Schlüssel für die Verwissenschaftlichung durch Computertechnologien. Die Frage, was dies im Einzelnen bedeutet, müssen wir hier noch zurückstellen. An dieser Stelle ist vielmehr interessant, dass Boes u. a. analog zu ihrer ontologischen Unterscheidung von Ideellem und Materiellem auch die Ebene des eigentlichen Produktionsprozesses und eine Ebene der Informationsverarbeitung entkoppeln. Vor diesem Hintergrund taucht die materiell-stoffliche Ebene von Produktions- und Arbeitsprozessen als eine eigenständige, für sich stehende auf, als hätte sie bis zu einem gewissen Punkt unabhängig von der „Informatisierungsebene“, das heißt, ohne die „abstrakte Abbildung realer Prozesse“ (Boes/Pfeiffer 2006, 20) funktioniert. Da aber für geistige Tätigkeiten wie Planung, Steuerung und Koordination immer schon Abstraktionen der Realität nötig waren, stellt sich die Frage, ob der Informatisierungsansatz annimmt, dass der Produktions- bzw. der gesamte Arbeitsprozess ohne geistige Tätigkeiten, ohne den Umgang mit Informationen auskommen konnte. Wenn ja, wäre dies eine weitere Spielart des Ökonomismus, den Antonio Gramsci einen „primitiven Infantilismus“ nannte (Gefängnishefte, Bd. 4, H. 7, §24, 878), der die „Einheit des Prozesses des Wirklichen“ ignoriert (Bd. 6, H. 10.II, §41.I, 1309). An anderer Stelle erfahren wir bei Boes u. a., dass die „Organisation und die Steuerung von menschlicher Kooperation 286
VERWISSENSCHAFTLICHUNG VON ARBEIT
im ‚Stoffwechsel mit der Natur‘ […] ohne eine systematische Erzeugung, Nutzung und Weitergabe von Informationen nicht denkbar“ sei (Boes/Kämpf 2006, 325).4 Dem lässt sich zwar spontan zustimmen. Dennoch übergeht diese Präzisierung, dass Marxens Rede vom Stoffwechsel mit der Natur ja gerade nicht auf einen Seinsunterschied zwischen (geistig-)ideeller und (körperlich-)materieller Tätigkeit/Arbeit zielt, wie nahe gelegt wird, sondern die Einsicht schafft, Produktionsverhältnisse nicht nur als Mensch-Technik-Beziehung, sondern auch als gesellschaftliche Naturverhältnisse, einschließlich des historisch-subjektiven Verhältnisses der Menschen zur eigenen Natur zu denken (vgl. MEW 23, 192). Ferner erscheint es sinnvoller, Marx auch dort zu folgen, wo er zeigt, dass sich erst aufgrund der spezifischen Teilung von körperlicher und geistiger Arbeit das Bewusstsein der Menschen einbilden konnte, das Andere der Natur bzw. das Andere der praktischen Verhältnisse zu sein (MEW 3, 31), so dass das Ideelle als etwas Eigenständiges, vom Materiellen Getrenntes erscheinen konnte. Die Arbeitsteilung ist aber keine natürliche oder ontologische, sondern eine historische Tatsache. Die Formel, dass Informatisierung ein „Prozess der systematischen Erzeugung und Nutzung von Informationen“ sei, „um daraus weitere Informationen erzeugen zu können“ (Boes 2005, 215), wäre – ohne die ontologischen Wendungen – kapitalismusspezifisch deutbar als „Informationskapital“ (vorhandener Grundstock an Informationen), das als Produktionsmittel von Informationsarbeiterinnen und Informationsarbeitern genutzt wird, die Wert schöpfen, d.h. „weitere“, genauer: neue Informationen erzeugen, deren Wert ausreicht, um ihre Arbeitskraft zu reproduzieren und dem eingesetzten „Informationskapital“ Mehrwert hinzuzusetzen. In dieser Sicht wäre es zweckmäßig, den Begriff „Informationskapitalismus“ in seiner Spezifik zu analysieren und mit der Informatisierung konzeptionell zu verknüpfen. Um die aufgezeigten Paradoxien des Informatisierungsansatzes zu überwinden, plädieren wir dafür, die Veränderung in den Arbeitsprozessen nicht auf Ebenen zu verorten, die eine immateriell-ideelle Dimension von Arbeit von einer materiellen abtrennen – auch wenn sie in Beziehung zueinander gedacht werden –, sondern innerhalb der Arbeitsteilung zwischen intellektuellen und körperlichen bzw. auch zwischen 4
Diese Formel scheint an Castells angelehnt zu sein: „Das Charakteristische der gegenwärtigen technologischen Revolution ist nicht die zentrale Bedeutung von Wissen und Information, sondern die Anwendung dieses Wissens und dieser Information zur Erzeugung neuen Wissens und zur Entwicklung von Geräten zur Informationsverarbeitung und zur Kommunikation, wobei es zu einer kumulativen Rückkopplungsspirale zwischen der Innovation und ihrem Einsatz kommt.“ (Castells 2001, 34) 287
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planenden bzw. dispositiven und durchführenden Tätigkeiten. Denn sie strukturiert die Arbeitsverhältnisse als soziale Praxis und verändert sich historisch mit den Technologien und der Gesellschaft, die jene nutzt. Auf diese Weise lassen sich die historische und die systematische Perspektive in einer kohärenten Theorie zusammenbringen.
Qualitative Veränderungen: Von „Informationssystemen“ zum Informationsraum Eine Plausibilität erhält Boes’ Argumentation, wo deutlich wird, dass der Informatisierungsansatz letztlich die besondere Codifizierung von Informationen im Sinn hat, die in betrieblichen Prozessen mit dem Einsatz von „Informationssystemen“ entwickelt werden: „Während die Verschriftlichung ihre Anwendung bei Informationsarten findet, welche ‚nicht-codifiziert‘ (Pirker 1962) sind, d. h. nur ‚sinnbezogen‘ (Luhmann 1987) gehandhabt werden können, werden Informationssysteme dann anwendbar, wenn die Informationen ‚codifiziert‘ sind und dementsprechend ‚regelhaft‘ (ebd.) zu handhaben sind.“ (Boes 2005, 216)
Eine solche Codifizierung wird als „eine ‚strukturelle Verdoppelung‘ (Schmiede 1996) der materiellen Wirklichkeit der Produktionsprozesse“ begriffen, damit „zentrale Momente des Unternehmens einer Steuerung und Kontrolle über die Informationsebene zugänglich“ werden (Boes 2005, 217). Die „Erstellung und Nutzung hochgradig formalisierter Informationen“ seien deshalb ein Schlüssel dafür, dass „vielfältige Formen der Verwissenschaftlichung der Produktionsprozesse (vgl. Hack/Hack 1985)“ stattfinden konnten und eine „Entscheidungsgrundlage dafür [liefern], die Produktionsprozesse ‚rationell‘ umzugestalten“ (ebd.). Hier wird der Anschluss an Webers Bürokratietheorie gesucht, wonach die „Rationalität der modernen ‚rational-kapitalistischen Organisation‘ […] wesenhaft bedingt [ist] durch Berechenbarkeit der technisch entscheidenden Faktoren‘ (Weber 1920, 7)“ und insofern „in hohem Maße auf einem systematischen Umgang mit Informationen“ basiere (ebd.). Verwissenschaftlichung und „Rationalisierung des Informationsgebrauchs“ werden so als zentrale Faktoren der „Durchsetzung des ‚organisierten Kapitalismus‘“ interpretiert (215). Mit dieser Engführung von technologischer Entwicklung und der Kapitalisierung von Produktionsprozessen gibt man allerdings die Denkmöglichkeit preis, die Entwicklung des Mensch-Technik-Verhältnisses 288
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als widersprüchlich determinierten Prozess zu untersuchen, der auf verschiedene andere (betriebliche, kulturell-soziale, demographische etc.) Prozesse trifft, die durch Kapitalseite und Arbeitende beeinflusst sind, so dass Beziehungen antagonistischer Interdependenz entstehen. Verwissenschaftlichung ist aus dieser widerspruchsanalytischen Forschungsperspektive als Dimension des in der Produktion lebensnotwendiger Güter und Dienstleistungen sich artikulierenden Mensch-Maschine-Verhältnisses, d. h. als ein Moment gesellschaftlicher Veränderungen zu begreifen, welches über die bestehenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse hinausweisen bzw. nicht darin aufgehen kann. Marx, für den diese Denkmöglichkeit eine Hauptquelle kritischen Denkens darstellte, betonte aus diesem Grund den Widerspruch zwischen Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen (MEW 13, 9). Seine Analyse der Produktivkraftentwicklung hat so nicht nur die Verwertungsfrage kapitalistisch produzierter Waren, sondern auch die Entwicklung der „allgemeinen Arbeit“ bzw. die „Arbeit am Allgemeinen“ im Blick (vgl. Haug 2003, 45). Produktivkraftentwicklung umfasst entsprechend eine Reihe von Aspekten, die keineswegs rein technikfixiert oder technikbegrenzt sind: die „quantitative Ausdehnung der bisher schon bekannten Produktivkräfte“, die „Teilung der Arbeit und den inneren Verkehr“ (MEW 3, 21f.), den „Durchschnittsgrad des Geschickes der Arbeiter, die Entwicklungsstufe der Wissenschaft und ihrer technologischen Anwendbarkeit, die gesellschaftliche Kombination des Produktionsprozesses, den Umfang und die Wirkungsfähigkeit der Produktionsmittel“ und die Naturverhältnisse (MEW 23, 54). Schließlich hängt die Entwicklung der Produktivkräfte für Marx auch von den Verkehrsverhältnissen, also der Dichte und der Verbreitung wirtschaftlicher Beziehungen, ab: „Erst wenn der Verkehr zum Weltverkehr geworden ist und die große Industrie zur Basis hat, alle Nationen in den Konkurrenzkampf hereingezogen sind, ist die Dauer der gewonnenen Produktivkräfte gesichert.“ (MEW 3, 54) Diese Denkmöglichkeiten lässt der Informatisierungsansatz außer Acht; es scheint, als versuche er aufzuzeigen, dass Informationen der substanzielle Kern bzw. die entscheidende Determinante kapitalistischer Entwicklungsprozesse sind, weshalb der Verdacht aufkommt, dass mit dem Informationsbegriff eine ähnliche Reduktion angelegt wird, wie dies beim Technizismus der Fall ist, der die unterschiedlichen Dimensionen der Produktivkraftentwicklung auf Technik einengt und sie allein als maßgebliche Kraft begreift. Die Logik der Überlegung des niederländischen Informatikpioniers Edsger Dijkstra, dass es „in der Informatik […] genauso wenig um
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Computer [geht] wie in der Astronomie um Teleskope“5, gilt auch für die Frage, ob sich der Bruch mit der fordistischen Produktionsweise mit dem von Boes u. a. ausgearbeiteten Konzept der Informatisierung bestimmen lässt. Wenn sie aber mehr bedeuten soll als das Vordringen von Computern in alle Lebenssphären, stellt sich Dijkstras Frage nach dem neuen Universum von Erkenntnis- und Eingriffsmöglichkeiten, die durch das Instrument Computer erschließbar werden. In welche Richtung denken Boes u. a. diese Veränderung weiter? Wenden wir uns zunächst ihrem Ansatz zu und prüfen anschließend seinen Gehalt. Aufbauend auf der Bürokratisierungsthese Max Webers bilden nach Boes die „Verstetigung des Informationsgebrauchs durch Verschriftlichung und die Schaffung von Informationssystemen […] die beiden Schlüsselprozesse der Informatisierung“ (2005, 216). Dies ist zugleich die Grundlage für Boes’ Verständnis für die Verwissenschaftlichung der Arbeit. Für den historischen Umbruch unterscheidet er dabei zwei Modi: Im Fordismus herrsche (noch) der Modus, in dem „die betrieblichen Prozesse möglichst weitgehend in Form von ‚objektiven‘ Informationen abzubilden“ sind, um „die so gewonnenen Informationen durch wissenschaftliche Verfahren zu ‚veredeln‘ und für die wertbezogene und sachliche Steuerung der Produktionsprozesse zu verwenden“ (ebd., 218). Selbst die „in den 40er Jahren einsetzende Computerisierung bildet in gewisser Weise die Vollendung dieses Informatisierungsmodus und zugleich eine wichtige Grundlage für dessen Überwindung in dem Sinne, dass sich mit dem Computer eine neue Leittechnologie der Informatisierung entwickelt, welche historisch in einem engen Zusammenhang mit der Durchsetzung des Fordismus steht und zugleich als Moment der Informatisierung zur Überwindung des ihn bestimmenden Typs tayloristischer Produktion beiträgt“ (ebd.).
Der neue Modus lässt sich allerdings nur dann verstehen, wenn man den Informationsgebrauch im Kontext von Informationssystemen (betrieblichen Nutzungs- und Verarbeitungssystemen wie Buchführung und Verwaltungsstrukturen) betrachtet: Für den Taylorismus zeige sich dabei eine „Informationsform“, die durch einen vertikalen Informationsfluss, also eine hierarchische Steuerung geprägt war. Sie zeichne sich dadurch aus, dass sie „den gesamten Produktionsprozess bis in den geringsten Handlungsvollzug hinein bestimmt“ (Baukrowitz 2006, 101). Da dieser Modus sich im ersten Schritt zur computerisierten Datenverarbeitung nicht wesentlich verändert, geht der Informatisierungsansatz davon aus, dass der „Prozess der Etablierung einer fordistisch-tayloristischen In5
Siehe Stichwort „Informatik“ bei Wikipedia (10.10.2008).
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formationsform […] mit dem Computer zunächst lediglich einen quantitativen Sprung“ erlebt (ebd.). Die Datenverarbeitung habe sich also mit der Computerisierung zunächst nur zu einer massenhaften Datenverarbeitung entwickelt (102). Die Frage, was dies für die Arbeitenden oder für die Arbeitsteilung in der Produktion bedeutet, wird an dieser Stelle nicht aufgeworfen. Eine qualitativ neue Stufe werde erst mit der Erfindung des Internets erreicht (Boes/Pfeiffer 2006, 24). Damit erhalten die „organisationsspezifischen Informationssysteme […] nun eine gemeinsame Bezugsebene mit internationalen Dimensionen, über die sie sich aneinander anschlussfähig machen lassen“ (ebd.). Sie fließen zusammen in einem „grundsätzlich verwendungsoffenen ‚Informationsraum‘“, dem Internet. Da die „Wirklichkeit dieses sozialen Raums […] nicht ‚vorprogrammiert‘“ sei, handele es sich nicht mehr nur um eine „Infrastruktur zum ‚Transport‘ von Informationen, sondern [um einen] offenen Raum, der sich erst durch das soziale Handeln seiner Nutzer konstituiert“. Eben daraus ergebe sich der „qualitative Sprung in der Informatisierung der Gesellschaft“ (25). Das Internet sei damit das Medium einer „Weltgesellschaft“, welches die „bis dahin“ existierenden Informationssysteme, die wie „unzählige kleine ‚Inseln‘ […] unter dem Zugriff von Unternehmen oder Behörden entstanden waren“, zusammenführt und so das gesamte „Verhältnis von Arbeitswelt und Lebenswelt“ verändert (24). Aus betrieblicher Perspektive könne ein Unternehmen nun nicht mehr „Herr ‚seiner‘ Rationalisierungsstrategien“ sein, d. h. keine „autonomen (einzel-)betriebliche[n] Strategien zur Beherrschung des unmittelbaren Produktionsprozesses“ mehr verfolgen. „Im Zentrum dieses Umbruchs“ stehe so „die Wirtschaft und deren [ihr!] Bestreben, mit dem entstehenden Informationsraum eine Umgestaltung der Ökonomie zu erreichen.“ (Ebd., 25) Beginnen wir mit dem letzten Gedanken. In seiner Ausführung erscheint „die Wirtschaft“ in Gestalt eines Subjekts, mit eigens identifizierbarem „Bestreben“, das wie ein Puzzle-Spieler Teilchen zu einem sinnvollen Ganzen zusammensetzt. Diese Abbildungsweise blendet aus, dass der auf der Internet-Technologie basierende Prozess weltweiter Verflechtung von Produktionsprozessen in chaotischer, eben nicht zentral organisierter Form verläuft und dazu führt, dass die Arbeiterklassen der verschiedenen Nationen zersplittert und in Konkurrenz gegeneinander gesetzt werden. Und warum sollte man annehmen, dass der Betrieb einmal eine Art autonomes Gebilde dargestellt hätte, welches souverän über die eigenen Marktstrategien entscheiden konnte, und dass die Konkurrenzverhältnisse, in denen er steht, erst durch die technologische Entwicklung des Internets eine internationale Stufe erreicht 291
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hätten? Schon Marx spricht ja von einem „Weltverkehr“ (s. o.), welcher freilich ohne die heutigen Informations- und Kommunikationstechnologien existierte. Sowie er aus diesem eher anarchischen Geschehen die Fetischisierung der Arbeitsprodukte, der Waren herleitet, so auch eine „naturwüchsige“ (also nicht bewusst eingegangene) Abhängigkeit und Unfreiheit der Produzierenden: Denn die Arbeitsprodukte „wechseln beständig, unabhängig vom Willen, Vorwissen und Tun der Austauschenden“, so dass „ihre eigne gesellschaftliche Bewegung […] für sie [die Produzenten] die Form einer Bewegung von Sachen [besitzt], unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.“ Vor dem Hintergrund einer „vollständig entwickelten Warenproduktion“ sind sie also lediglich „naturwüchsige Glieder der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit“, wobei ihre „allseitig voneinander abhängigen Privatarbeiten fortwährend auf ihr gesellschaftlich proportionelles Maß reduziert werden, weil sich in den zufälligen und stets schwankenden Austauschverhältnissen ihrer Produkte die zu deren Produktion gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit als regelndes Naturgesetz gewaltsam durchsetzt, wie etwa das Gesetz der Schwere, wenn einem das Haus über dem Kopf zusammenpurzelt“ (MEW 23, 89).
Der Informatisierungsansatz wirft also mehr Fragen auf, als er zu klären vermag. Die Aussage, dass mittels Internet Beschränkungen der lokalen und analogen Datenverarbeitung überwunden werden, leuchtet ein. Wie aber hängt diese eher auf Verwaltungsarbeiten bezogene Veränderung genau mit den Produktionsabläufen zusammen? Wie kann diese Entwicklung von lokalen Informationssystemen hin zu einer global vernetzten Infrastruktur zugleich die Produktionsweise betreffen? Ist dazu die Erklärung hinreichend, dass „Waren und Bauteile […] heutzutage einen unverzichtbaren ‚Datenschatten‘“ besäßen (Boes/Pfeiffer 2006, 25)? Bei Baukrowitz werden Produktions- und Organisationstechnologien explizit unterschieden, d. h. jene Arbeitsmittel, die auf „die Manipulation stofflicher Gegebenheiten der Produktion gerichtet“ sind, und solche, die „eine Vergegenständlichung von Arbeitsorganisation“ darstellen (Baukrowitz 2006, 99). Diese Trennung ist nicht nur fragwürdig (welches Werkzeug und welche Technologie hat denn in der Arbeitspraxis keinen Einfluss auf die Arbeitsorganisation?), unter diesen Vorzeichen schleichen sich auch leicht wieder technikdeterministische Thesen ein, wie die, dass das Internet die Internationalisierung der Arbeitsprozesse bedingt habe.
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Versuchen wir also alternativ, die technologische Entwicklung selbst genauer zu betrachten und in einem Verhältnis von Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen und der Veränderung der Arbeitsteilung zu verorten, wobei weder die Technik noch betriebliche Organisationskonzepte zur alleinigen Determinante stilisiert werden. Verwissenschaftlichungsprozesse in der Arbeit würden so leicht auf Rationalisierungsstrategien verkürzt. Die Erläuterung, dass sie sich darauf bezögen, die „Steuerung und Kontrolle“ von Arbeitsprozessen „mit zunehmender Effizienz bewerkstelligen zu können“ (Boes/Pfeiffer 2006, 23), erweist sich daher als zu eng.
Das Verhältnis von Technologieentwicklung, Rationalisierung und Verwissenschaftlichung von Arbeit Mit dem Übergang von der fordistischen zur hochtechnologischen Produktionsweise werden Rationalisierungsprozesse nicht einfach in gleicher Richtung fortgesetzt. Es findet vielmehr ein qualitativer Umschlag der Verwissenschaftlichung von Arbeit statt. Unter fordistischen Bedingungen ist sie das Werk einer Minderheit, es dominiert eine Dynamik der Entkopplung von Kopf- und Handarbeit, von kreativer bzw. planender und durchführender Arbeit. Automation und ihre Weiterentwicklung zu computerintegrierter Automation setzen eine Dynamik in Gang, die bewirkt, dass viele Arbeitstätigkeiten in vorgelagerten Bereichen von Planung und Entwicklung in den ‚eigentlichen‘ Arbeitsprozess verlagert werden. Was aber tun die Arbeitenden? Das Online-Lexikon Wikipedia legt z. B. dar: „In der Leitwarte eines modernen Kraftwerkes“ werden „mehrere tausend Antriebe an Armaturen und sonstigen Maschinen mit ihren zugehörigen Messstellen überwacht, gesteuert und geregelt“. Die dies tun, nennt das Lexikon „Bedienpersonal“, als gäbe das komplexe automatische System eindeutige Handlungsmaximen vor. Diese neuen Technologien generieren aber keine fertigen Handlungsmodelle, sondern eröffnen ein Spektrum von Handlungsmöglichkeiten. Analog zur epistemischen Rolle des Fernrohrs in der Astronomie erschließen sich die Arbeitenden heute mit den IKT neue Wirklichkeiten, Eingriffs- und Handlungszusammenhänge. Damit entstehen auch neue Machtverhältnisse. Michel Foucaults Begriff des „Dispositivs“, einer Anordnung von Verfügungsmöglichkeiten, die zugleich über den Handelnden verfügt, ist dafür ein treffender Ausdruck. Unter kapitalistischen Verhältnissen interessieren sich die mit der Aufrechterhaltung von Herrschaft Befassten 293
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für das technologische Potential nicht nur unter dem Aspekt, Profite bzw. Extraprofite durch Verringerung des Arbeitsaufwands pro Produkt und Herstellung neuer Produkte zu erzielen, eine wichtige Rolle spielt auch die Entwicklung und Nutzung von Technologien, die filigrane Verhaltens- und Leistungskontrollen ermöglichen. Unter kapitalistischen Bedingungen führen Umbrüche in der Produktionsweise immer auch zu Umbrüchen betrieblicher Kontrolldispositive. Wie die Elektrifizierung physische Arbeitshandlungen ins helle Licht der Kontrolle gerückt hat, so erzeugt „Informatisierung“ nicht nur „Datenschatten“ computerbasierter Arbeitshandlungen, sondern leuchtet sie mit Hilfe von Auswertungsprogrammen aus, die unternehmerischem Machterhalt dienen. Das bedeutet nicht, dass es vom Belieben betrieblicher Machtinstanzen abhängt, was die Nutzung neuer Technologien dem menschlichen Arbeitsvermögen abverlangt. Es entstehen zugleich Einbruchstellen für neue Kontrolldispositive und Konfliktfelder. Ihrer Analyse ist die Bestimmung von Umbruchdynamiken der hochtechnologischen Produktionsweise vorgelagert. Entscheidend ist, wie das Ineinandergreifen von Technologieentwicklung und Verwissenschaftlichung der Arbeit und das Verhältnis von Theorie und Praxis bestimmt werden. Bei der industriellen Entwicklung von Maschinen und Produktionsanlagen war Wissenschaft zunächst für die Konstruktion und Planung des Produktionsprozesses zentral. Zu berechnen und experimentell zu erforschen, bezog sich auf Fragen, wie die Maschinen ein bestimmtes Werkzeug an einen Arbeitsgegenstand mit größerer Präzision heranfahren, die Produktivität erhöhen und einen Großteil von körperlicher Arbeitskraft und Geschick ersetzen können. Solche intellektuellen Aufgaben waren vor allem Ingenieurpersonal bzw. sonstigem aus der Masse der Arbeitenden herausgehobenem hochqualifizierten Personal vorbehalten, während in den Fabriken massenhaft Arbeitsplätze mit einfachen ausführenden Tätigkeiten entstanden. Im Unterschied zur Maschinenepoche und der fordistisch-tayloristischen Industrialisierung ergeben sich seit Beginn der Automatisierung Ende der 1960er Jahre mit dem Einsatz von Mikroelektronik, digitaler Steuerungssoftware und den mikroelektronischen Sensoren und Stellgliedern sowohl ein neuer Technisierungs- als auch Rationalisierungsmodus: Mit der Integration von informationstechnologischen Steuerungsfunktionen in die Gesamtmaschinerie wird Wissenschaft nicht nur in den Phasen der technischen Planung und Entwicklung, sondern auch auf der Ebene des Arbeitshandelns selbst bedeutsam. Einerseits werden den Körper verschleißende einseitige und sich ständig wiederholende Tätigkeiten durch Automation im gesamten Arbeitsprozess zusehends überflüssig (denn sie werden ja maschinell ersetzt), andererseits wird menschliche Arbeitskraft, die im294
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mer komplexer werdender Maschinerie – wie schon von Marx in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie antizipiert – als „Wächter und Regulator“ gegenübertritt, nun vorwiegend intellektuell gefordert (vgl. Zimmer 2005). Zum einen müssen heute eine Fülle nichttechnischer Vorgänge und Sachverhalte in informationstechnologische Daten übersetzt, mit anderen Datenströmen vernetzt und als solche bearbeitet und verwaltet werden; zum anderen sind in den informationstechnologisch gestützten Abläufen immer wieder Störungen und Fehler zu beheben, Prozesse bzw. Programme müssen angepasst und optimiert, Ziele präzisiert oder überhaupt erst gefunden werden. Wissenschaft wird dadurch aber nicht direkt Gegenstand des Arbeitshandelns, vielmehr geht es darum, dass Informationen wissenschaftsförmig geliefert werden oder dass der Umgang damit voraussetzt, dass man sie bis zu einem gewissen Grade durchdenken, selbständig Handlungsbedarfe oder Probleme erkennen und mit den Technologien teilweise forschend bzw. auch experimentell umgehen kann. Ein solches wissenschaftsförmiges Lernen muss folglich ein integraler Bestandteil des Arbeitshandelns werden. Anders gesagt, wird die Arbeit selbst wissenschafts- und lernförmig. Theorie/Wissen ist der Praxis nicht länger nur vorgeschaltet, sondern wird im Vollzug der Arbeit entwickelt und weiterentwickelt. Aus diesem Grund müssen die Beschäftigten einen strategisch zentralen Platz im Arbeitsprozess einnehmen, d. h. sie sind darin nicht länger nur ausführende Organe, sondern übernehmen – im Rahmen der weiterhin existierenden Fremdbestimmung – Arbeiten der Entwicklung und Gestaltung. Sie werden mit der Zusammenführung von planenden, ausführenden und kontrollierenden Tätigkeiten zu „kollektiven Anwendern, Beurteilern und Veränderern“ ihrer Arbeit und sind zur „Verallgemeinerung ihrer Standorte“ herausgefordert (PAQ 1981, 476f). Dieser qualitative Umbruch zeigte sich bereits mit der Einführung der Automationstechnologien und findet eine Fortsetzung in der IT-Arbeit. Die eigene Praxis ist dabei von unterschiedlichen Standpunkten aus zu beobachten, zu beforschen und schließlich zu bewerten, um neue Lösungen zu finden. Das eigene Handeln muss so immer wieder zum Gegenstand einer Lernerfahrung gemacht werden, indem es vor dem Hintergrund der Erfahrung anderer, die neue Produkte/Dienstleistungen entwickeln bzw. diese Entwicklungsarbeit nutzen, problematisiert und durchdacht wird. Arbeit wird in dieser Weise, wie dargelegt, lernförmig, was jedoch nicht bedeutet, dass bloß zwischendurch Lernphasen eingelegt würden, sondern dass die Arbeitenden immer wieder systematisch Strategien des Vorgehens entwickeln müssen und sich dabei quasi-experimentell und forschend zu ihren Arbeitsaufgaben verhalten. Insofern steht auch weniger das Ziel im Vordergrund, dass sie sich schrittweise 295
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einen vorher feststehenden Wissensstand erarbeiten – dies ist natürlich nicht ganz irrelevant –, aber häufig brechen sie pragmatisch Lernhandlungen an der Stelle ab, wo eine gewisse Funktionalität in der Programmierung erreicht, ein bestimmter Fehler behoben oder ein Problem gelöst ist. Dieser Arbeitsweise entspricht auch die mittlerweile erreichte Funktionalität von objektorientierten Programmiersprachen und Entwicklungsumgebungen, in denen Programmierbausteine modulartig benutzt werden können und Software-Werkzeuge helfen, Fehler zu finden und zu beheben (Langemeyer 2005, Kap. 6.1.4). Die Programmiertätigkeit zeigt so die Verwissenschaftlichung und die Lernförmigkeit von Arbeit exemplarisch auf. Übertragbar sind diese Erkenntnisse auch auf sämtliche Bereiche, die durch die Nutzung von Computern und anderen Informations- und Kommunikationstechnologien umstrukturiert werden (Produktion, Dienstleistungen, Verwaltung etc.). Denn grundsätzlich erfordert es eine umfassende Zusammenarbeit von verschiedenen Abteilungen in einem Betrieb oder verschiedener Betriebe sowie den Nutzerinnen und Nutzern, damit das Potential dieser Technologien sinnvoll und produktiv ausgeschöpft werden kann (ebd., Kap. 6.2.3). Die Kooperation wird umso komplexer, je mehr Instanzen dabei involviert sind und Kontexte miteinander in Beziehung gesetzt werden. Wenn beispielsweise auf internationaler Ebene durch „off- und nearshoring“ bestimmte Arbeitsprozesse ausgelagert werden, müssen auch sie wieder miteinander abgestimmt und verzahnt werden. Aufgrund der Digitalisierung ist zwar die technische Kompatibilität von Informationsverarbeitungsprozessen prinzipiell herstellbar (teilweise bereitet dies aber auch selbst Probleme etwa aufgrund zur Vermarktung geschützter Software), aber welche Informationen überhaupt relevant sind und wie sie zur allgemeinen Nutzung zur Verfügung gestellt werden müssen, sind Fragen, die Arbeitende erst durch experimentelles Handeln und eine Art Forschungsaustausch lösen können. Solche Arbeitsprozesse verlangen also ein Einlassen auf die wissenschaftsförmige Arbeitsweise, durch die sich die neue von den bisherigen Produktionsweisen unterscheidet. Kommunikationstechnologien ermöglichen dabei, dass sich neue Kooperationsformen entwickeln, was – wie Boes u. a. durch ihre empirische Forschung z. B. im Export-IT-Projekt (2007) erhellend zeigen – mit der Internationalisierung der Produktion und den globalisierten Konkurrenzverhältnissen mittlerweile sogar eine stärkere Orientierung auf bestimmte Standards notwendig macht. Hiermit geht allerdings keineswegs eine Standardisierung sämtlicher Arbeitsschritte einher, wie sie in der Taylorisierung durchgesetzt wurde, um das menschliche Arbeitsvermögen einem „dressierten Gorilla“ (Taylor) anzugleichen. Sicherlich beschränkten Standards der Programmierarbeit, die sich schon 296
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in den Anfängen der IT-Industrie durchsetzten, die Handlungsfähigkeit derer, die sich als halbkünstlerische Handwerker begriffen, die mit ihrer Programmierarbeit fehlerlos funktionierende Produkte schufen, deren Funktionsweise aber nur sie begriffen. Im Rahmen von Programmierungsbzw. Entwicklungsprojekten, an denen viele teilnehmen, bedingen sich Standardisierung und individuell schöpferische Arbeit wechselseitig, – nicht zuletzt deswegen, weil letztere neue Standards, z.B. neue Konstrukte einer Programmiersprache, schafft. Aus der Einführung von Standards abzuleiten, dass auch Kopfarbeit von einer „formellen“ zur „reellen Lohnarbeit“ wird6, bleibt jedoch vordergründig. Wir streiten nicht ab, dass es um eine „effiziente und systematische Nutzung/Integration der geistigen Produktivkraft“ (Boes/Kämpf 2008, 51) geht, sehen aber einen Widerspruch darin, dabei von „geronnenen Lernprozessen“ (ebd.) zu sprechen. Vielmehr ist die Verwissenschaftlichung, die mit den Automationstechnologien begann und sich mit den Informations- und Kommunikationstechnologien fortsetzt, eine Bedingung für die Intellektualisierung der Lohnarbeit, die per se schon von der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital geprägt ist, also von den jeweiligen historisch dominanten Rationalisierungserfordernissen und bestimmten antagonistischen Produktionsverhältnissen. Anders gesagt, sind sowohl die subjektbezogene, also die Arbeitskräfte betreffende, und technische Produktivkraftentwicklung immer schon von den Widersprüchen von kapitalistischen Macht- und Herrschaftsverhältnissen gezeichnet, wenn auch in neuen Artikulationen. Die Erfahrung der gegenwärtigen Entwertung intellektueller Arbeit verweist nicht auf eine Tendenz zur Standardisierung geistiger Tätigkeiten (ebd., 49), sondern lediglich darauf, dass bestimmte Qualifikationen ihre Anerkennung und damit ihren (einst höheren) Preis in globalen Konkurrenzverhältnissen verlieren. Das heißt aber nicht, dass die Subjektleistung damit auch tatsächlich inhaltlich gesehen entwertet wird. Die programmiertechnischen Standardisierungen sind kein Bruch, sondern eine Fortsetzung der Verwissenschaftlichung und Intellektualisierung von Arbeit unter kapitalistischen Verhältnissen. Denn anders als bei dem historischen Umbruch von handwerklicher zu industrieller Arbeit, basiert die heutige Arbeit durch Informations- und Kommunikationstechnologien nicht auf den exklusiven Fähigkeiten und Fertigkeiten derer, die sich auf Meister-Ebene bewegen,
6
Die These stellte Boes auf der Tagung der Sektion Arbeits- und Industriesoziologie 2008 vor, Folie 7, http://www.isf-muenchen.de/pdf/080411Vortrag-Sektionssitzung-BoesKaempf.pdf (28.2.2009). 297
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sondern auf dem – prinzipiell7 – allgemein verfügbaren mathematischnaturwissenschaftlichen Wissen.
Perspektiven der Intellektualisierung der Arbeit Der Bruch mit dem tayloristisch-fordistischen Paradigma lässt sich also im Wesentlichen mit der neuen Form der Verwissenschaftlichung begreifen, bei der die systematische Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse auf die Gestaltung von Produktionsmitteln und im Arbeitsprozess dazu führt, dass die Arbeitenden selber Pläne entwickeln und schöpferisch tätig werden müssen. So fällt die wissenschaftlich-experimentelle bzw. „wissenschaftsförmige“ (vgl. PAQ 1987, 44) Erfahrung nicht länger einer Minderheit wissenschaftlich Gebildeter zu, sondern wird Bestandteil der Arbeit der überwiegenden Mehrzahl derer, die mit High-Tech-Produktionsmitteln arbeiten. Bereits Marx betonte, dass die allgemeine Arbeit, also die Entwicklung des allgemeinen Verstandes bzw. der „allgemeinen wissenschaftlichen Arbeit“ (596), in der industriellen Produktionsweise immer bedeutender werde und führte dafür den Begriff des general intellect (MEW 42, 602) ein. Dieser „allgemeine Verstand“, also nicht bloß das Wissen des Einzelnen, sondern das gesellschaftliche Wissen, welches die Arbeitenden zur Produktivkraft werden lässt und so den Produktionsprozess „in einen wissenschaftlichen Prozess“ verwandelt, ist von entscheidender Bedeutung (vgl. ebd.). Welche neuen Perspektiven gewinnen wir damit? Vor diesem Hintergrund erhält die Frage eine neue Relevanz, inwiefern sich mit dem Umbruch von der fordistischen zur hochtechnologischen Produktionsweise auch ein neuer Typ von Vergesellschaftung und somit ein Typ „neuer Arbeitnehmer“ (Vester et al. 2007) herausgebildet hat. Anders gesagt, ergibt sich als eine zukunftsträchtige Fragestellung, inwiefern in den Arbeitsverhältnissen eine neue Art von Intellektuellen entstanden ist, die sich nicht mehr in die traditionelle Kategorie des besonders „gelehrten“ Personals, d. h. der ‚technischen Intelligenz‘ einordnen lässt. Sicherlich sind sie weder freie „umherschweifende Produzenten“ (Negri et al. 1998), noch besitzen sie durch ihre Arbeit schon automatisch das kollektive Bewusstsein einer neuen Arbeiterklasse, auf das gewerkschaftlich zurückgegriffen werden könnte. Gegen solch vorschnelle Urteile sind empirische Untersuchungen ihres berufli7
Der Einschub muss hier gemacht werden, weil hier davon abgesehen wird, dass Eigentums- und Verwertungsrechte die Verfügbarkeit dieses Wissens wieder einschränken können. Wo solche Rechte jedoch greifen und wo nicht, ist bekanntlich umkämpft.
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chen Selbstverständnisses, ihrer Selbst- und Fremdbestimmung in der Arbeit sowie ihrer möglichen Kollektivierung und Politisierung als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erforderlich. Dies ist eine neue Aufgabe der Gewerkschaften und kritischer Wissenschaft. Ähnliches gilt für das Potential neuer Technologien. Deren Entwicklung ist widersprüchlich determiniert. Betrachten wir es als wesentlichen Aspekt der in anthropomorpher Sichtweise „intelligent“ genannten Technologien, dass sie interaktive Technologien sind, d. h. Mensch-Maschinen-Systeme, in denen Mensch-Maschine-Interaktion vermittels eines Softwareprogramms über eine Bildschirmschnittstelle erfolgt. Die Konkurrenz zwischen kapitalistischen Unternehmen wirkt auf eine Steigerung von Produktivität und Intensität der Bildschirmarbeiten hin, wobei die Arbeitenden etwa über Visualisierungstechnologien immer komplexere Abläufe steuern und gefordert sind, Störungen durch effiziente Konfliktbewältigung zu verhindern, so dass keine Produktionsmittel und Produkte geschädigt werden oder Dienstleistungen ausfallen. Neue Technologien entwickeln zu lassen und „in Betrieb“ zu nehmen, die das intellektuelle Potential der Arbeitenden nutzen, liegt insofern im Interesse der herrschenden Akteurinnen und Akteure; es nützt ihnen aber auch, dass – wie oben dargelegt – in die neuen Technologien Formen elektronischer Verhaltens- und Leistungskontrolle eingebaut werden und der technisch mögliche Zugriff auf ökonomische Daten verhindert wird. Die Antagonismen und Widersprüche der ökonomisch-politischen Verhältnisse sind in die technischen Systeme quasi „eingebaut“. Sie sind so flexibel gestaltbar, dass in sie auch Nutzungssperren eingebaut werden können, die zwar vom Standpunkt effizienten Produzierens dysfunktional, aber vom Standpunkt der Herrschaftsstabilisierung funktional sind. Die unter Bedingungen fremdbestimmter Produktion vorangetriebene Informatisierung impliziert insofern immer zugleich Desinformation. Die hochtechnologische Produktionsweise basiert jedoch auf kollektiver Aneignung und Weiterentwicklung von Technowissen durch die Arbeitenden selbst. Für dieses Feld erweist sich allerdings Marx’ Erkenntnis als veraltet, die „gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit“ erscheine, weil sie „dem Kapital nichts kostet, weil sie andrerseits nicht von dem Arbeiter entwickelt wird, bevor seine Arbeit selbst dem Kapital gehört, […] als Produktivkraft, die das Kapital von Natur besitzt, als seine immanente Produktivkraft“ (MEW 23, 353). In der neuen Produktionsweise stecken das Potential und eine gewisse Notwendigkeit einer wissenschaftlich-technologischen Entwicklung „von unten“. Diese Einsicht in den eigentlichen Kern der heutigen „Wissensgesellschaft“ könnte gewerkschaftliches Handeln in den Arbeitskonflikten eine neue Stärke verleihen. 299
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Wissenschaft in der betrieblichen Praxis und für die betriebliche Praxis INTERVIEW MIT WALTER FABIAN
Vorbemerkung: Walter Fabian ist 53 Jahre alt, Werkzeugmacher und seit 38 Jahren bei Volkswagen Nutzfahrzeuge in Hannover beschäftigt. Seine politischen Wurzeln liegen in der gewerkschaftlichen Jugendarbeit. Er war Jugendvertreter, leistete antimilitaristische Arbeit als Wehrpflichtiger, war aktiv in der Friedensbewegung und ist Vertrauensmann der IG Metall (IGM). Seit 1991 ist Walter Fabian freigestelltes Mitglied der IGM Vertrauenskörperleitung1 bei Volkswagen Nutzfahrzeuge und seit 2002 Sprecher der rund 700 IGM Vertrauensleute. Daneben ist er Mitglied der IGM Verhandlungskommission bei Volkswagen und des IGM Ortsvorstandes Hannover. Das Interview führten Johannes Geffers und Arne Klöpper. Von ihnen wurden auch die Anmerkungen hinzugefügt.
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„Vertrauenskörperleitungen“ koordinieren die Aktivitäten der von den gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten gewählten Vertreterinnen und Vertreter (Vertrauensleute) im Betrieb. Zu deren Tätigkeiten zählen u. a. die Beratung von Gewerkschaftsmitgliedern, die Information über Ziele und Aufgaben der Gewerkschaft und die Interessenvertretung am Arbeitsplatz und im Betrieb. Auch bereiten sie Tarifauseinandersetzungen vor und nehmen eine vermittelnde Position zwischen der Gewerkschaft, ihren Mitgliedern und den (formal) von den Gewerkschaften unabhängigen Betriebsräten ein. 303
INTERVIEW MIT WALTER FABIAN
Wissenschaft in der Praxis und für die Praxis Lieber Kollege Fabian, in den letzten Jahren ist die Rede von der ‚Wissensgesellschaft‘ zu einem Allgemeinplatz geworden und es wird von der ‚Verwissenschaftlichung der Arbeit‘ gesprochen. Kannst du das aus Sicht deiner betrieblichen Praxis nachvollziehen, was hat sich verändert und welche Folgen ergeben sich zum Beispiel aus der Bedeutungszunahme höherer Qualifikationen und komplexerer Anforderungen für die Beschäftigtengruppen in deinem Betrieb? Walter Fabian: Wer Volkswagen Nutzfahrzeuge Hannover einen Besuch in den Produktionshallen abstattet, wird bei oberflächlicher Betrachtung kaum Indizien für die Wissensgesellschaft finden. Natürlich hat der Grad der Automatisierung in Presswerk, Karosseriebau und Lackiererei noch zugenommen und genau dies wird den Besuchergruppen auch mit Stolz präsentiert. Aber wer in der Fahrzeugmontage im Akkord Fahrzeugteile verschraubt, spürt am Abend sicherlich nicht die Wissensgesellschaft im Kreuz. Gravierende Veränderungen im Fahrzeugbau sind weniger in der Technik zu suchen, sondern vor allem in der Arbeitsorganisation und in den Abläufen. Dem Trend zu immer individuelleren Autos kann nicht mit technischen Lösungen begegnet werden, sondern nur mit hochflexiblen Produktionsteams mit einem hohen Grad an Einarbeitung. Ihre Arbeitsabläufe kann kein Ingenieur und keine Ingenieurin allein am grünen Tisch planen, das Unternehmen ist auf das Erfahrungswissen und die Ideen der Beschäftigten angewiesen. Vorbei scheint auch die Zeit, in der designverliebte Vorstände und Ingenieurinnen und Ingenieure Autos entwarfen, die nur mit hohem technischen Aufwand und ausufernden Kosten produziert werden konnten. Dass sich zu dieser Zeit auch keine Gedanken gemacht wurden, wie die Kolleginnen und Kollegen das Auto montieren, verstand sich aus dieser Logik heraus fast von selbst. Hier hat der ökonomische Druck Veränderungen erzwungen. Das Bauen von Fahrzeugen im 21. Jahrhundert erfordert also schon aus seiner individuellen Komplexität heraus ein ganz anderes Maß an Kooperation, Wissensaustausch und Lernbereitschaft unterschiedlicher Beschäftigtengruppen, als wir das in der Vergangenheit gewohnt waren. Das Zusammenrücken von Planung und Produktion, „Lernstätten“ und „Gruppenräume“ sind bauliche Veränderungen dieses Prozesses.
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WISSENSCHAFT IN DER BETRIEBLICHEN PRAXIS
Teamarbeit, KVP-Workshops2, Gruppengespräche, Jobrotation, die Integration indirekter Tätigkeiten in die Produktion und das betriebliche Intranet sind Kennzeichen einer Wissensgesellschaft in der industriellen Produktion. Diese Prozesse sind nicht frei von Widersprüchen, Interessenkonflikten und Ängsten. Als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter sind wir seit vielen Jahrzehnten für das Selbstbestimmungsrecht der Beschäftigten in der Produktion eingetreten. Die vom Unternehmen gewollte Teamarbeit entspricht nicht idealerweise dem Gedanken der Gruppenarbeit. Regelmäßige Teamgespräche während der Arbeitszeit mussten durchgesetzt werden. Der bei uns frei gewählte – und gleichbezahlte – Gruppensprecher bzw. die Gruppensprecherin musste der bzw. dem im gegenseitigen Einvernehmen bestellten – und besserbezahlten – Teamsprecherin bzw. Teamsprecher mit erweiterten Funktionen weichen. Auch mehr als zehn Jahre nach der schrittweisen Einführung von Gruppenarbeit im Werk haben einzelne Beschäftigte Schwierigkeiten mit ihrer Rolle als Teammitglieder. Sie wollen am liebsten immer ‚ihre Arbeit‘ machen. Sie empfinden Diskussionsprozesse als anstrengend. Die Wissensgesellschaft löst auch nicht automatisch die Probleme von Bürokratismen, betrieblichen Hierarchien und unternehmerischer Interessenslage. Allerdings werden Wahrnehmung und Widerspruch für solche Probleme bei einem Teil der Beschäftigten geschärft. Wahrscheinlich ist dies auch ein Grund für die Distanz zum Veränderungsprozess oder gar seiner Verweigerung durch einzelne Beschäftigte. Anforderungen und Erwartungen des Unternehmens steigen – zum Teil bis an die Grenze des körperlich Leistbaren – als Kompensation winken der sichere Arbeitsplatz und eine eventuelle Erfolgsprämie. Das ist vielen Beschäftigten zu wenig. Welche Themen haben dich in betrieblichen und politischen Auseinandersetzungen in den letzten Jahren am stärksten beschäftigt und hast du in deinen Argumentationen auf ‚wissenschaftliche Erkenntnisse‘ zurückgegriffen? Die Automobilindustrie ist und bleibt eine Krisenbranche. Die Sicherung der Arbeitsplätze und des tariflichen Standards haben deshalb Priorität. Wir haben dabei – ob wir es wollen oder nicht – eine Leitbildfunktion für die industrielle Fertigung und deren Bedingungen in der Bundesrepublik Deutschland. Außerdem können wir uns politischen
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KVP = Kontinuierlicher Verbesserungsprozess unter Beteiligung der Beschäftigten, bezogen auf die Produkt-, Prozess- und/oder Servicequalität. 305
INTERVIEW MIT WALTER FABIAN
Diskussionen, wie zum Beispiel über den Klimawandel, nicht entziehen. Gewerkschaftliche Arbeit in der Automobilindustrie hat also viele Facetten, die keine einfachen Antworten zulassen. Auch das Erfahrungswissen reicht sicherlich nicht. Gewerkschaften brauchen deshalb das Bündnis mit der Wissenschaft, wenn sie weiterhin Träger gesellschaftlichen Fortschritts sein wollen. Die Sanierungstarifverträge 1994, 2004 und 2006 bei Volkswagen haben gezeigt, dass wir tarifpolitisch noch eine Menge bewegen können, um Beschäftigte zu schützen. Aber ohne eine Veränderung der Prozesse im Automobilbau werden Gewerkschaften zu „Krisen-Feuerwehren“ degradiert, die nur noch mit Abwehrschlachten beschäftigt sind. Wo aber bleibt dann die gewerkschaftliche Gestaltungskraft? Ich will an einem Beispiel – das mich in den letzten Jahren sehr bewegt hat – verdeutlichen, wie mich wissenschaftliche Erkenntnisse beeinflusst haben: Als Gewerkschafter kämpfe ich mit den Kolleginnen und Kollegen gegen die Rente mit 67. Gerade Gespräche mit Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern über die Feinheiten der Demografie haben mich gelehrt, nicht jedem politischen Argument auf den Leim zu gehen. Trotzdem lässt sich damit ein Gesetz nicht ungeschehen machen. Mein Erfahrungswissen sagt mir: „… das werden meine Kolleginnen und Kollegen in der Produktion nicht durchhalten“. Mein Herz sagt mir: „… wer mit 15, 16 Jahren mit der Ausbildung begonnen hat – hat ein moralisches Recht vor dem Siebenundsechzigsten zu gehen!“ Mein Verstand sagt mir: „… warum zur Hölle lassen wir es zu, dass sich Menschen im Produktionsprozess so vorzeitig verschleißen!“ Aber warum quält sich ein Teil der Kolleginnen und Kollegen in den Ruhestand, während andere vor Vitalität nur so strotzen? Sicherlich gibt es Unterschiede in der Lebensführung und Veranlagung. Eine wissenschaftliche Befragung der ‚vitalen‘ sowie der ‚angeschlagenen‘ Beschäftigten in Altersteilzeit durch den Betriebsrat – mit sozialwissenschaftlicher Unterstützung – brachte bemerkenswerte Erkenntnisse ans Tageslicht. Nach ihrer Arbeitsbiografie befragt, war ein häufiges Kennzeichen der ‚Angeschlagenen‘ ein recht gleichförmig, monoton, mit immer den gleichen Belastungen empfundenes Arbeitsleben. Die Kolleginnen und Kollegen waren damit nicht unzufrieden, sprachen mit Stolz von „ihrer Abteilung“ und „ihrer Arbeit“ – auch wenn die Gesundheit dabei auf der Strecke blieb. Die ‚Vitalen‘ hatten häufig eine ganz andere Arbeitsbiografie. Häufig hatten sie ihre ‚Einsatzorte‘ verändert. Mal waren sie Opfer einer Umstrukturierung, mal brauchten sie selbst dringend einen ‚Tapetenwechsel‘. Auch wenn diese Veränderungsprozesse als nicht immer leicht beschrieben wurden, wurden sie im Nachhinein auch aus gesundheitlichen Aspekten als richtig erkannt. 306
WISSENSCHAFT IN DER BETRIEBLICHEN PRAXIS
Dieses Wissen hat unsere Diskussion mit dem Unternehmen beeinflusst. Bis unsere Kolleginnen und Kollegen wirklich eine faire Chance haben, ‚gesund in die Rente‘ zu gehen, haben wir aber noch einen steinigen Weg vor uns. Das Unternehmen zeigt sich zwar offen und bemüht, scheut aber zusätzliche Qualifizierungskosten durch dann notwendige Arbeitsplatzwechsel. Und meine Kolleginnen und Kollegen haben natürlich Ängste, ihre gewohnte Arbeitsumgebung zu wechseln. Umso wichtiger sind uns die Ergebnisse der Befragung. Sie erzeugen Nachdenklichkeit. Welche Bedeutung haben aktuelle Forschungsergebnisse für deine gewerkschaftliche Arbeit, wo und wie erfährst du davon? In einem industriellen Großbetrieb gibt es naturgemäß auch eine arbeitsteilige Spezialisierung der Interessenvertretung. Da ich ein freigestellter Vertrauenskörperleiter ohne Betriebsratsfunktion bin, versuche ich mir ein gewerkschaftliches ‚Überblickswissen‘ anzueignen. Auf die Frage bezogen bedeutet dies, dass ich mich für jede sozialwissenschaftliche Forschung interessiere, die mir hilft, Fragen zu stellen oder Antworten zu entwickeln. Ich bin neugierig, aber ich bin naturgemäß auch stark tagespolitisch geprägt. Bei den vielen Diskussionen mit meinen Kolleginnen und Kollegen – ich gehe gerne für zwei Stunden in gewerkschaftliche Bildungsurlaubsseminare von Arbeit und Leben – merke ich genau, dass differenzierte Antworten gefragt sind. Es gibt in unserer Gesellschaft zwar den Hang zur schnellen und platten Antwort, aber bei den Themen der Arbeitswelt sind meine Kolleginnen und Kollegen selber Expertinnen und Experten. Meine Informationen versuche ich aus der gewerkschaftlichen Literatur, Büchern und der regelmäßigen Teilnahme an Tagesveranstaltungen und Symposien zu ziehen. Oft habe ich das Gefühl, dass ich dazu noch mehr wissen möchte. Aber häufig fehlt einfach die Zeit oder das Wissen, wer dazu was veröffentlicht hat. Zu welchen Themen würdest du dir verstärkt Forschung wünschen, sowohl bezüglich der konkreten Diskussionen und Konflikte in deinem Betrieb als auch hinsichtlich erweiterter Fragestellungen, die z. B. allgemeinere gesellschaftliche Entwicklungen betreffen? Ich bin nur rudimentär mit Milieustudien vertraut, aber nach 38 Jahren VW bleiben mir Veränderungen bei den heutigen Beschäftigten nicht verborgen. Das Grundvertrauen in die Arbeit von Gewerkschaften ist häufig einer kritischen Distanz gewichen. Die Überzeugungsarbeit der IG Metall ist schwieriger geworden. Wir sind aber darauf angewiesen, 307
INTERVIEW MIT WALTER FABIAN
immer wieder aufs Neue die Köpfe und Herzen unserer Mitglieder für ein gemeinsames Ziel zu gewinnen – auch wenn bei Volkswagen Nutzfahrzeuge ca. 97% der Beschäftigten in der IG Metall organisiert sind. Insofern bin ich sehr an Forschung interessiert, die mir Denkweisen und Werteorientierungen meiner Kolleginnen und Kollegen näher bringen kann. Wer sind diese Menschen wirklich, die mich zu einem bundesweiten Generalstreik wie in Frankreich auffordern und mich zwei Minuten später fragen, ob der Verdienstausfall für einen einstündigen Warnstreik von der IG Metall auch bezahlt wird? Sie sind genauso liebenswert, chaotisch und voller Widersprüche wie diese Welt – soviel ist schon mal klar –, aber das reicht mir nicht. Im Werk haben immer viele Kolleginnen und Kollegen mit Migrationshintergrund gearbeitet, bei uns überwiegend türkischer Herkunft. Früher waren Sprachprobleme an der Tagesordnung. Heute, bei den Söhnen und Töchtern der ersten Generation, ist das längst kein Thema mehr. Sie sind im Vertrauenskörper und Betriebsrat integriert und auch das berufliche Fortkommen schreitet bei der jungen Generation voran. Trotzdem sehe ich Tendenzen zu Parallelgesellschaften im Betrieb, die ich schwer verstehe. Man sitzt in der Pause oft getrennt. Deutsche Kolleginnen und Kollegen fühlen sich ausgegrenzt, weil um sie herum nur türkisch geredet wird. Insbesondere in Bereichen mit sehr hohen Anteilen von Beschäftigten mit Migrationshintergrund schwelt hier ein Konfliktthema. In der gesellschaftlichen Diskussion wird ein „Generationskonflikt“ aufgebaut, den ich im Betrieb bisher nicht wahrgenommen habe. Verändern sich hier Sichtweisen? Die Freizeitorientierung gerade von Auszubildenden ist sehr ausgeprägt. Gerade in diesem Alter habe ich mich für betriebliche und gesellschaftliche Entwicklungen begeistert oder mich darüber empört. Diese Jugend ist nicht unpolitischer – ich halte das für Blödsinn –, trotzdem fällt es mir, aber auch den Jugendvertreterinnen und -vertretern, schwer, die Azubis mitzureißen. Welche Antworten bietet die Soziologie? Besonders interessieren mich Themen zum Umgang mit unserer Demokratie. Wir haben zwar in den Betrieben immer noch recht hohe Wahlbeteiligungen, leiden aber auch an einer geringen Bereitschaft, sich aktiv und kontinuierlich einzubringen. Es ist möglich, die eigenen Interessen kampagnenartig zu wecken – das können wir sogar gut – aber danach gleitet uns ein Thema auch wieder ab. Wie können wir Menschen nachhaltiger an ihre eigenen politischen Interessen heranführen, die ein gewisses regelmäßiges Engagement als normalen Bestandteil ihres Lebens empfinden? Ich glaube, dies ist ein ganz elementares Thema unserer Gesellschaft, zu dem ich sozialwissenschaftliche Beiträge erwarte. 308
WISSENSCHAFT IN DER BETRIEBLICHEN PRAXIS
Praktische Aneignung wissenschaftlicher Erkenntnisse, Wünsche und Anforderungen an Wissenschaft und Kooperationen Die Auseinandersetzung mit Wissenschaft ist für uns, Stipendiatinnen und Stipendiaten der Hans-Böckler-Stiftung, Alltag. Wir würden daher gerne wissen, wie du dir wissenschaftliche Erkenntnisse aneignest und wie du sie ‚übersetzst‘, so dass du sie in Seminaren, Diskussionen oder eurer Betriebszeitung an deine Kolleginnen und Kollegen weitergeben kannst? Auf welche Probleme stößt du dabei? Walter Fabian: Am liebsten höre ich mir Vorträge an, bei denen ich mir reichlich Notizen mache und die Möglichkeit der Verständigungs- oder Streitfrage habe. Das hat bei mir einen hohen Wirkungsgrad der Aufnahme und der praktischen Anwendung im Gespräch. Für das ‚Übersetzen‘ gibt es keine Faustformel. Zunächst einmal werden viele Kolleginnen und Kollegen schnell ungeduldig, wenn man ihrer Meinung nach nicht ‚auf den Punkt kommt‘. Auf der anderen Seite gucke ich in motivierte Gesichter, wenn es mir gelingt, ein Thema so runter zu brechen, dass sie mit dem Gesagten etwas anfangen können, oder wenn sie die Erfahrung machen, dass sich ihre individuellen Probleme oder Bedürfnisse mit denen der anderen decken. Am besten geht das sicherlich immer im Seminar. In einer Vertrauensleute-Sitzung oder im Gruppengespräch gibt es dann nur noch die ‚Light‘-Version. In einem Betriebszeitungsartikel zählt nur noch die Prozentzahl. Das Problem in allen Varianten ist der Mut zur Lücke. Was sind zentrale Aussagen – was soll hängen bleiben? Das muss jeder ernst zu nehmenden Sozialwissenschaftlerin und jedem ernst zu nehmenden Sozialwissenschaftler den Magen umdrehen – sorry –, ihr wisst ja, mit wem wir es zu tun haben. Welche Anforderungen stellst du an wissenschaftliche Ergebnisse und ihre Darstellung? Diese Frage zu beantworten, fällt mir schwer. Den Ergebnissen liegt ein Prozess zugrunde und das mag mit meinen Anforderungen kollidieren. Ich fordere nicht, ich wünsche mir Ergebnisse, die Menschen berühren, neugierig machen, zur gesellschaftlichen Veränderung auffordern und ermutigen. Die Menschen reden unentwegt über Menschen und menschliche Verhaltensweisen. Die Soziologie sollte einen Spiegel vorhalten, an dem möglichst viele Menschen interessiert sind hinein zu schauen. 309
INTERVIEW MIT WALTER FABIAN
Mit weniger gebe ich mich nicht zufrieden. Ich gebe mir neben dem Inhalt sehr viel Mühe, mich so auszudrücken, dass ich verstanden werde und dass das Zuhören möglichst keine Arbeit, sondern ein Vergnügen ist. Das fällt mir als altem Hauptschüler manchmal wirklich nicht leicht. Aber das ist der Anspruch, dem ich mich stelle. Welche Formen von Kooperation zwischen wissenschaftlichen und betrieblichen Akteuren kannst du dir vorstellen? Bei welchen Themen wäre das aus deiner Sicht sinnvoll und wie viel Unabhängigkeit benötigen beide Seiten, um erfolgreich arbeiten zu können? Um beurteilen zu können, wo Kooperationen zwischen betrieblichen und wissenschaftlichen Akteuren sinnvoll und machbar sind, fehlt mir die praktische Erfahrung. Genau das ist es doch. Wir reden zu wenig miteinander. In meiner gelebten Realität kommt ihr nicht so häufig vor. Und dabei will ich nicht unter den Tisch fallen lassen, dass es im Rahmen von Veranstaltungen und IG Metall Ortsvorstands-Klausuren gelegentlich Kontakte gibt. Diese Kontakte sind dann aber doch sehr stark auf die Darstellung konkreter Projekte fixiert. Wäre es nicht schön, wenn es regional lockere Zusammenkünfte geben würde, wo sich Beteiligte aus Wissenschaft und Betrieb locker austauschen würden? Den Willen einiger der Verantwortlichen vorausgesetzt, könnte dies Ideenschmiede oder eine Basis für Verständigung und Projekte sein. Ich bin mir sicher, dass es irgendwo schon so etwas gibt oder gegeben hat. Manches muss halt immer wieder belebt werden. So eine Basis des Austausches erleichtert auch die Beantwortung des weiteren Teils der Frage. Je besser wir einander verstehen und durch die Brille des anderen in der Lage sind, Probleme wahrzunehmen, umso einfacher fällt es uns, die Unabhängigkeit des anderen zu akzeptieren. Wissenschaft braucht Unabhängigkeit, sonst kann ich ihre Ergebnisse nicht ernst nehmen. Natürlich bricht sich der Gebrauchswert wissenschaftlicher Studien häufig an den Unzulänglichkeiten meiner täglichen Praxis (z. B. wenn es um die Wahrnehmung von Gewerkschaften in den Betrieben geht). Aber ich brauche den Spiegel. Ihr habt die Distanz, den mir meine Kolleginnen und Kollegen erst nach Erreichung der Rente zubilligen. Sollten wir euch allerdings mit unseren betrieblichen Erfahrungswerten behilflich sein können, dann zögert keinen Moment, uns zu ‚quälen‘ – wir mögen Menschen, die sich für abhängig Beschäftigte interessieren! Vielen Dank!
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Arbeit erkennen JULIKA BÜRGIN
Von der Homepage der IG Metall gelangt man zu einem unerwarteten Thema: Computerspiele. Es geht dort nicht um die Freizeitbeschäftigung von Gewerkschaftsmitgliedern, sondern um Personalführungsstrategien des globalen Unternehmens IBM. Experten der IBM für Personalwesen (Human Resources, HR) beschäftigen sich seit dem Jahr 2005 mit so genannten „massiv parallelen Online-Rollenspielen“ (massively multiplayer online role-playing games), wie etwa World of Warcraft. Die IBM erforscht, wie Millionen Menschen in diesen Computerspielen interagieren, um Leadership, also Führungsverhalten, in der IBM von morgen zu optimieren. Der Betriebsratsvorsitzende von IBM Düsseldorf, Wilfried Glißmann, schaltete sich im Oktober 2007 mit einer Veröffentlichung in die Diskussion ein. In der Broschüre Denkanstöße der IG Metallerinnen und IG Metaller in der IBM informierte er unter dem Titel „Online Spiele als Laborversuch“ über die Strategien der Konzernzentrale und unterzog diese einer Analyse aus der Beschäftigtenperspektive. „Das fesselt die HR-Professionals: Bei diesen Online-Spielen interagieren tausende von Menschen unter sehr virtuellen Bedingungen. Im Spiel übernehmen sie wechselnde Rollen und Verantwortungen, sie schließen sich zusammen und verfolgen gemeinsame Ziele, obwohl sie sich noch nie gesehen haben und räumlich und kulturell getrennt sind. Die Human-Resource-Leute fragen sich: Wie kommt diese Zusammenarbeit und diese Motivation zustande? Welche Rahmenbedingungen führen dazu, dass Menschen im Spiel selber die Führung übernehmen, eine Kampfgruppe zusammenstellen und diese wirksam zusammenhalten? Und: Wie kann das auf die Arbeitswelt übertragen werden?“ (Glißmann 2007) 311
JULIKA BÜRGIN
Glißmann stellt den IBM-Beschäftigten kein Geheimwissen zur Verfügung, denn die IBM betreibt ein eigenes unternehmensstrategisches Internetportal, genannt Global Innovation Outlook (ibm.com/gio). Dort kann man auch erfahren, dass die IBM mit Hilfe der Software-Firma Seriosity individuelles Verhalten von Online-Spielerinnen und -spielern mitgeschnitten hat. Die IBM interessiert vor allem das Leadership-Handeln der besten (Level-60) Spieler. Die Erkenntnisse werden durch das Massachusetts Institute of Technology (MIT) und die Stanford University wissenschaftlich ausgewertet. Der zentrale Akteur dieser arbeitsbezogenen Erkenntnisproduktion ist das Unternehmen IBM. Es kauft die Expertise eines weiteren Unternehmens hinzu und übergibt die eigene unternehmerische Frage zur Beantwortung an zwei renommierte private Universitäten. Die OnlineSpielerinnen und -Spieler sind Material zur Erkenntnisproduktion. Es ist nichts darüber bekannt, ob sie jemals erfahren, dass ihr Verhalten beobachtet, mitgeschnitten und wissenschaftlich ausgewertet wird. (In einem derartigen Forschungsdesign dürfte die Validität der Daten von der Ahnungslosigkeit der Beteiligten abhängen.) Sie sind Objekte der Forschung, aber gleichzeitig die Subjekte dessen, worum es geht. Was sie tun, interessiert die IBM. Ihre Praxis ist durch die IBM weder kontrolliert noch gesteuert, sondern provoziert umgekehrt unternehmerische und wissenschaftliche Erkenntnisproduktion.
Fische und Subjekte Wilfried Glißmann bringt das Subjekt doppelt ins Spiel. Erstens reklamiert er mit seiner Intervention mindestens für sich selbst, Subjekt und nicht Objekt der Produktion, Interpretation und Verwendung von Erkenntnissen zu sein. Er stört damit das Feld der (wissenschaftlichen) Erkenntnisproduktion, auf dem Menschen dominant als Objekte von Forschung behandelt werden.1 Zweitens sieht er sich und die anderen Beschäftigten von IBM als Subjekte des Nachdenkens darüber, was sie selber wollen. Diese Frage ist entscheidend (und unterstellt nicht, dass neue Formen der Unternehmensorganisation grundsätzlich abzulehnen seien). Die IBM interessiert sich für Online-Spiele im Kontext eines viel weiter reichenden Umbaus von Unternehmenssteuerung. Glißmann diskutiert in einer anderen Ausgabe der Denkanstöße, wie die IBM im Global Innovation Outlook 2.0 die Zukunft der Unternehmen visioniert: als
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Für eine Kritik aus subjektwissenschaftlicher Perspektive siehe Markard 1993.
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ARBEIT ERKENNEN
Netzwerk von Individuen nach dem Leitbild sich „selbst-organisierender und selbst-aggregierender Einheiten“, „vergleichbar mit Insektenvölkern, Vögel- und Fischschwärmen, die sich in einem Prozess der Selbstorganisation in bestimmten Formationen zusammenfinden, um sich auf dynamische und effiziente Weise fortzubewegen.“2 „Wer bin ich?“ – Vor diese Frage stelle ihn das Selbstorganisations-Konzept der IBM. „Bin ich ein Fisch im Fischschwarm, an dem sich irgendwelche Organisationsprinzipien vollziehen? Oder bin ich ein Individuum mit Selbstbewusstsein, eigenem Willen, und der Fähigkeit, meine Interessen selber zu bestimmen und wenn nötig auch gegen die allgemeine Richtung zu schwimmen?“ (Glißmann 2007a) Die IBM geht davon aus, dass Beschäftigte als Spielerinnen oder Spieler bewusst interagieren, aber zu diesem Handeln keine reflexive Distanz einnehmen. Wie immer mehr Unternehmen will die IBM die Beschäftigten über das Arrangement der Rahmenbedingungen der Arbeit zu einem Handeln veranlassen, das selbständig auf das unternehmerische Ziel gerichtet ist. Glißmann stellt die angenommene blinde Wirkungsweise praktisch in Frage und geht dabei nicht von einer privilegierten Erkenntnisposition als freigestellter Betriebsrat aus. Im Gegenteil stellten sich die neuen Verhältnisse aus der Perspektive eines Betriebsrates oder Gewerkschafters als ein „Paradoxon“ dar, da die Beschäftigten „die Regelungen unterlaufen und ignorieren, die doch zu ihrem Schutz vereinbart worden sind“ (Glißmann 2002, Abschnitt 1). Glißmann hält es für entscheidend zu fragen, warum die Kolleginnen und Kollegen das tun. „Die Antwort auf diese Frage werden wir nur finden, wenn wir aus der Perspektive der Beschäftigten die praktischen Probleme in der Arbeit zu begreifen versuchen. Im betrieblichen Kontext gilt es, Fragestellungen aus der Ich-Perspektive anzustoßen: ‚Was macht mir Druck? Was treibt mich an?‘. Diese praktische Erfahrung muss aber auch Konsequenzen für eine begreifende Theorie haben.“ (Ebd.)
Die Kritische Psychologie lehrt, dass Milch bedingt überkocht (bei 85 Grad), aber Menschen immer begründet handeln (Markard 2000, Abs. 10). Noch so ausgeklügelte Arrangements von Rahmenbedingungen setzen nicht außer Kraft, dass Menschen keine trivialen Maschinen sind. Rahmenbedingungen wirken nicht einfach, sondern sie bedeuten etwas 2
Zitiert nach Glißmann 2007. Der englischsprachige Report Global Innovation Outlook 2.0 findet sich hier: http://domino.research.ibm.com/comm/ www_innovate.nsf/images/gio/$FILE/GIO_2005_for-printing.pdf (27.06.2009). 313
JULIKA BÜRGIN
für die Individuen. So unterschiedlich die individuellen Subjekte situiert sind, so unterschiedlich können auch Bedeutungen und Handlungsgründe sein. Mehrere Ingenieure im Technologiezentrum von Renault im französischen Guyancourt zogen es in den Jahren 2006 und 2007 vor, ihr Leben zu beenden, statt zu versuchen, ihre Performance noch weiter zu verbessern. Auch Krankheit, Präsentismus3 und Fake führen nicht zum unternehmerischen Ziel. Wenn also Erfolg nicht (alleine) durch ein Arrangement der Rahmenbedingungen bedingt werden kann, weil die Rechnung nicht ohne die Handlungsgründe der Subjekte zu machen ist, erfordert dann eine auf Erfolg gerichtete Rationalisierungsdynamik des gegenwärtigen Kapitalismus, in einen Begründungsdiskurs über Arbeit einzutreten? Das Cogito-Institut für Autonomieforschung, dem auch Wilfried Glißmann angehört, sieht das System der indirekten Steuerung als Grenzfall von Herrschaft (Peters/Sauer 2006). Das System von Command & Control hat im Bereich qualifizierter Arbeit seine produktiven Potentiale erschöpft. Nicht die Unterbindung, sondern die Freisetzung von auf das unternehmerische Ziel gerichteter Selbständigkeit ist Quelle von Produktivitätssteigerung. Die Rahmenbedingungen der Arbeit werden auf eine Art arrangiert, dass die Beschäftigten, angetrieben durch den eigenen Willen, ein unternehmerisches Ziel verfolgen sollen. Derart indirekt gesteuert tun sie, „was zu tun ist“ (Glißmann 2007) – wenn sie nicht auf die eine oder andere Weise aussteigen und alle damit verbundenen Konsequenzen tragen. Die berufliche Existenz hängt am individuellen Erfolg, der sich in der Verwertung der eigenen Leistung auf dem kapitalistischen Markt erweist – gleiches gilt für die imitierten Märkte etwa im Bildungs- und Hochschulbereich. So reflektiert ein Nachwuchswissenschaftler in einer Gruppendiskussion über seine Arbeitssituation an einer Hochschule: „würde mir glaub ich AUCH mal ganz gut tun, zu sagen, wo gibts proBLEME, weil (.) wie (.) wer stellt sich denn HIN und sagt vor den kollegen (-) also im moMENT klappt einfach GAR nix, ich hab jetzt grad mal ne woche oder ZWEI nicht wirklich was HINgekriegt. ich hab so vor mich HINgewurschtelt, aber is irgendwie nicht wirklich was RAUSgekommen. das SAGT doch keiner, weil (.) wir sind in das spiel schon VOLL eingestiegen (.) was DU sagst, das FAKEN (.) was die machen mit ihren PROJEKTanträgen, wo da nur (.) n teil geMACHT wird. da sind wir doch AUCH schon bei uns (.) muss es doch AUCH schon so untereinander AUSsehen. guck mal überleg mal 3
Präsentismus, die Anwesenheit bei der Arbeit trotz Krankheit, Urlaub oder Wochenende, hat in einigen Bereichen der Arbeitswelt den Absentismus, das Fernbleiben von der Arbeit, als unternehmerisches Problem abgelöst.
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ARBEIT ERKENNEN
in der mensa würde man SITZEN und einer von uns würde sagen (--) phh, also, irgendwie heute LÄUFTS bei mir nicht, ich glaub ich hab n bisschen im INTERnet gesurft, hab noch mal telefonNIERT und (-) also mehr als fünf seiten hab ich heut nicht geLESEN. hat nicht geKLAPPT heute. das würd keiner SAgen. man sagt halt eher so die sache (-) ha ja, is heut nicht so mein BESter tag, ich sitz grad DA und da dran. aber so geNAUER, das MACHT eigentlich keiner.“4
Am Arbeitsplatz Hochschule müssen Projekte akquiriert werden, die aber nicht das halten können, was sie versprechen (müssen). Projektergebnisse zu faken gilt als illegitime Strategie, die der Nachwuchswissenschaftler zunächst anderen zuschreibt. Dass es sich um eine verbreitete Praxis handelt, erlaubt ihm festzustellen, dass Arbeitsergebnisse auch im eigenen Umfeld vorgetäuscht werden. Das Personalpronomen „wir“ legt zunächst nahe, dass es sich um eine kollektive Praxis handele. Im Fortgang beschreibt er Fake jedoch als Verhältnis untereinander. Die Einzelnen lassen es für die Anderen so aussehen, als würden sie die projektierten Ziele erreichen und als würden sie dies problemlos hinkriegen. Die eigene berufliche Laufbahn erfordert es, Erfolg herzustellen und glaubwürdig zu repräsentieren. Diese performative Doppelstrategie ist riskant und legt ein taktisches Verhältnis zu den anderen nahe. Das existenzielle Problem des Erfolgs muss ausgeklammert werden, weil an ihm die Einzelnen in Konkurrenz zueinander stehen. Das systematische Problem wird zum individuellen Problem, als das es sich nicht lösen lässt. Das Fake-Management richtet sich nicht nur gegen Mittelgeber oder Anspruchsberechtigte von (Projekt-) Ergebnissen, sondern gegen sich selbst. Der Nachwuchswissenschaftler weiß, dass ihm das Spiel nicht gut tut, in das er schon voll eingestiegen ist. Lohnabhängige müssen sich erstmals in der Geschichte des Kapitalismus direkt zu dessen Gesetzmäßigkeiten und nicht nur zu den Kapitalisten verhalten. Als „Arbeitskraftunternehmer“5 müssen sie ihre Ar4
5
(H7/M2, Transkript S. 62, Z. 9-31; Punkte und Striche in Klammern stehen für Pausen beim Sprechen.) Die Gruppendiskussion fand im Rahmen meines Dissertationsvorhabens statt, das folgender Frage nachgeht: Wie ist eine kritisch-emanzipatorische gewerkschaftliche Bildung unter Bedingungen von Vermarktlichung und Selbststeuerung denkbar? Ich verwende hier die einprägsame Begriffsschöpfung von G. Günter Voß und Hans J. Pongratz 1998, ohne mich an ihr Konzept des Arbeitskraftunternehmers anzuschließen. Ich teile die Kritik von Jörg Stadlinger 2002 an der anthropologischen Annahme der beiden Arbeitssoziologen, erst das Kapital erwecke menschliches Arbeitsvermögen zum Leben. Ihre Verneinung menschlicher Selbsttätigkeit ist Teil eines reduzierten Subjektverständnisses, das in der Perspektive eines totalen Arbeitskraftunternehmertums als Ende der Geschichte mündet. Den Arbeitskraftunternehmern 315
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beitskraft reproduzieren und gleichzeitig ihre produktiven Kräfte kapitalisieren. Sobald das unternehmerische Wollen mit dem reproduktiven oder sonstwie menschlichen Wollen in Konflikt gerät, stellt sich die Frage: Was will ich? (vgl. Glißmann/Peters 2001, insb. 99ff.) Wie innovativ und perfekt auch immer Unternehmensleitungen die Rahmenbedingungen der Arbeit arrangieren, sie können nicht verhindern, dass sich Beschäftigte fragen, ob das, was sie unternehmerisch wollen, auch das ist, was sie als Individuen wollen. Die Frage rührt an den Kern kapitalistischer Verwertung, die Arbeitsverhältnisse, Sozialverhältnisse und Selbstverhältnisse strukturiert. Vielleicht ergeht es den Managementtheoretikern wie Goethes Zauberlehrling: Den Willen, den ich rief, den werd ich nicht mehr los.
„ W i e d i e G e s e l l s c h a f t s e l b s t d e n Me n s c h e n a l s Me n s c h e n p r o d u z i e r t , s o i s t s i e d u r c h i h n p r o d u z i e r t “ ( K a r l M a r x 6) Die gegenwärtige wissenschaftliche Diskussion über unternehmerische Lohnarbeit wird nicht nur durch die Arbeits- und Industriesoziologie geprägt, sondern auch interdisziplinär durch Theoretikerinnen und Theoretiker der Gouvernementalität. Außerhalb der Soziologie sowie als Theorie zur Selbsterkenntnis eigener, auch wissenschaftlicher Arbeitsverhältnisse hat sie möglicherweise sogar den größeren Einfluss. Die Theorie der Regierungsweisen geht auf den französischen Philosophen Michel Foucault zurück und wird im deutschsprachigen Raum u. a. durch den Soziologen Ulrich Bröckling verfolgt. Sein Buch Das unternehmerische Selbst (Bröckling 2007) ist ein kritisches Kompendium unternehmerischer Rationalität und ihrer Programme. Am Ende der Lektüre ist schwer zu sagen, ob man sich im „Sog der unternehmerischen (Selbst-)Mobilisierung“ oder im Sog einer Theorie befindet, die nur noch diesen kennt. In der Tradition von Foucault setzt Bröckling das Subjekt als „unterworfen“ (ebd., 10). Menschliches Verhalten wird „modelliert“ und „fabriziert“ (ebd., 12). Alles Handeln steht bei Bröckling im „Bann“ der Anrufung durch das „unternehmerische Subjektivierungsregime“ (ebd., 285). Veränderndes Handeln ist danach nur als Negativ zu diesem totalen Regime zu denken: als „Absetzbewegung“, „Verweigerung“, „Außerkraftsetzen“ (ebd., 286), als „Trägheitsmomente, Turbulenzen und Widerstandskräfte“ (ebd., 288). Weil die unter-
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bleibt nichts als sich durch Ich-Stabilisierung und Kompetenzentwicklung zu arrangieren (vgl. Voß/Pongratz 1998, Abschnitt V2b). Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW 40, 537.
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nehmerische Anrufung einer Logik der Entgrenzung folge, müsse das Kraftfeld des unternehmerischen Selbst aus der Immanenz heraus vermessen werden (ebd., 288). Der philosophische Streit um den Subjektbegriff wird hier praktisch relevant. Aus der fulminanten Kritik am Programm des unternehmerischen Selbst wird die Omnipotenzierung des Programms, wenn die Subjekte nur auf der Achse der Unterwerfung und nur im Kraftfeld des unternehmerischen Selbst gedacht werden. Das Subjekt ist damit nicht als tot gedacht, aber amputiert um seinen Charakter als Wesen, das seine Verhältnisse zwar nicht aus freien Stücken, aber doch selbst herstellt.
Impact ohne Impact-Punkte Die wenigsten der genannten Produzentinnen und Produzenten von Erkenntnis sind in der Wissenschaft etabliert. Die Firma IBM und der Betriebsrat von IBM gehören zur Unternehmenswelt, das Cogito-Institut für Autonomieforschung arbeitet wissenschaftlich, aber ohne universitäre Verankerung. Die Kritische Psychologie hatte ein Institut an der Freien Universität Berlin, bevor dieses zum Jahrtausendwechsel abgewickelt wurde. Auch die Modi der Erkenntnisproduktion unterscheiden sich (außer bei der Auftragsforschung für IBM) vom Kanon der Hochschulen. Der Betriebsrat von IBM analysiert Unternehmensstrategien dialogisch mit den Beschäftigten. Cogito entwickelt Theorie im Austausch von betrieblichen Praktikerinnen und Praktikern sowie Philosophen7 und wiederbelebt damit eine institutionell unabhängige TheoriePraxis-Forschung über Arbeit im Kapitalismus, zu der in den 1960er Jahren die „Sozialwissenschaftliche Vereinigung e.V.“ entscheidend beitrug (siehe z. B. Frielinghaus et al. 1963). Die Kritische Psychologie8 erforscht als Subjektwissenschaft keine Menschen, sondern mit ihnen die Welt (was ihr wohl zum Verhängnis wurde). Eine andere Perspektive auf die Transformation des Kapitalismus nehmen die Assoziationen Keimform9 und Kritische Informatik10 ein. Sie verfolgen, ob sich mit Freier Software, Freien Informationsgütern und Lizenzen sowie damit verbundenen Peer-to-Peer-Kooperationen „strukturell Neues bereits im Alten“ entwickelt, also der Rückbau der Warenform im Kapitalismus. Sie sind Erkenntnisproduzentinnen und Aktivisten gleichermaßen, denn sie beobachten und analysieren die Veränderungen und 7 8 9 10
Siehe dazu www.cogito-institut.de und Glißmann/Peters 2001. Siehe dazu www.kritische-psychologie.de. www.keimform.de. www.kritische-informatik.de. 317
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greifen u. a. durch Beteiligung an freier Software- und Informationsproduktion selbst in den Prozess ein. Sie alle produzieren wissenschaftliche bzw. wissenschaftlich relevante Erkenntnisse vorbei an den Indices, die den Erkenntniswert wissenschaftlicher Arbeit für die Karrierepfade an den Hochschulen messen, wie z. B. die Impact-Punkte von Veröffentlichungen gemäß Science Citation Index. Die Produktion von Erkenntnis über Arbeit im Kapitalismus könnte sich weiter von den Institutionen der Erkenntnisproduktion emanzipieren. IBM, Cogito oder die kritischen Informatiker und Informatikerinnen erforschen und theoretisieren ihre eigene Praxis und sind, wissenschaftlich ausgebildet und selbst-organisiert, dazu auf Forschungsinstitute nicht angewiesen. Statt darauf zu warten, ob der Wissenschaftsbetrieb ihre Erkenntnisinteressen und sie als Mitforscherinnen und Mitforscher akzeptieren würden, forschen sie selbst. Es ist unklar, ob Erkenntnisse über die neuen Arbeitsverhältnisse dazu beitragen, diese zu transformieren. Keine konkrete Utopie weist über die gegenwärtigen (Arbeits-)Verhältnisse hinaus. Nicht individualisiertes Leiden, das sich im sprunghaften Anstieg psychosomatischer arbeitsbedingter Erkrankungen zeigt11, nicht die globale „Krise“ der Jahre 2008ff. hat Alternativen zur kapitalistischen Arbeits- und Akkumulationsform vorstellbar(er) werden lassen. Vielleicht können Erkenntnisse über Arbeit gegenwärtig nicht mehr bewirken als möglichst wenig Schaden an Verhältnissen zu nehmen, deren grundsätzliche Transformation notwendig, aber nicht absehbar ist. Es wäre aufschlussreich, (wissenschaftlich) zu untersuchen, ob und, wenn ja, wie sich (Arbeits-)Verhältnisse durch ihre Erkenntnis verändern lassen. Interessant wäre etwa eine Langzeituntersuchung des Verständigungs- und Theoriebildungsprozesses von Betriebsräten, Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern sowie Beschäftigten zur Reorganisation von IBM, die allerdings diese Akteure in einem zu entwickelnden Ansatz subjektwissenschaftlicher Aktionsforschung12 von Grund auf als Forschende mit Praxisinteressen 11 Unter den Mitgliedern der AOK stiegen die Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen von 1995 bis 2009 um 90% (Wissenschaftliches Institut der AOK 2009, 1). Unter den männlichen Mitgliedern der DAK stiegen diese Fehlzeiten von 2000 bis 2007 um 18,4%, unter den weiblichen Mitgliedern um 26,8% (DAK 2008, 98). Bei 15% der männlichen und 32,1% der weiblichen Mitglieder der Techniker Krankenkasse wurde im Jahr 2006 eine psychische Störung diagnostiziert (Techniker Krankenkasse 2008, 20). 12 Die in den 1970er und 1980er Jahren international mit emanzipatorischem Anspruch entwickelte Aktionsforschung bzw. action research geht von einer Verbindung von Aktion und Forschung aus, wobei die Rollen von Aktivistinnen und Aktivisten einerseits und Forscherinnen und Forschern andererseits weitgehend unangetastet bleiben. Die subjektwissenschaftli318
ARBEIT ERKENNEN
jenseits der Forschung ansehen müsste. Verändert sich das Kraftfeld kapitalistischer Arbeit, wenn wir uns als seine widersprüchlichen Subjekte (besser) begreifen? Was ist jenseits der Erkenntnis Not-wendig?
Literatur Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt/M. DAK (2008): DAK Gesundheitsreport 2008, Hamburg; www.dak.de/ content/filesopen/Gesundheitsreport_2008.pdf (07.03.2009). Frielinghaus, Konrad et al. (1963): Belegschaftskooperation und gewerkschaftliche Betriebspolitik, in: Sozialwissenschaftliche Vereinigung e.V. (Hg.): Arbeitshefte, Jg. 2, Nr. 6/7, 1. September 1963 (Sonderheft), 1-41. Glißmann, Wilfried (2002): Der neue Zugriff auf das ganze Individuum. Wie kann ich mein Interesse behaupten?, in: Moldaschl, Manfred/Voß, G. Günter (Hg.): Subjektivierung von Arbeit. München/Mering, 241-259; http://cogito-institut.de/texte/glissmanndocs /WG%20ZUGRIFF.htm (26.11.2008). ders. (2007): Online Spiele als Laborversuch – eine IBM Studie, in: Denkanstöße. IGMetaller/innen in der IBM, Nr. 34, Oktober 2007, 12. Jg., 4; www.igmetall.de/cps/rde/xbcr/internet/Denkanstoesse_ 10_07_0028704.pdf (15.7.2009). ders. (2007a): Wie ein Fisch im Wasser. IBM über die Zukunft der Unternehmen, in: Denkanstöße. IGMetaller/innen in der IBM, Nr. 33, Juni 2007, 12. Jg., 3; http://www.igmetall.de/cps/rde/xbcr/internet/ Denkanstoesse Juni 2007_0026252.pdf (15.7.2009). Glißmann, Wilfried/Peters, Klaus (2001): Mehr Druck durch mehr Freiheit. Die neue Autonomie in der Arbeit und ihre paradoxen Folgen, Hamburg. IG Metaller in der IBM (1999): Denkanstöße. Dokumentation Meine Zeit ist mein Leben. Neue betriebspolitische Erfahrungen zur Arbeitszeit, hg. vom Vorstand der IG Metall, Frankfurt/M.
che Forschung sieht die Subjekte als Mitforschende (Markard 1993), allerdings kann nicht unbedingt ein (Mit-)Forschungsinteresse vorausgesetzt werden, wo die eigenen Lebens- und Arbeitsbedingungen problematisch werden. Das Referenzprojekt „Subjektentwicklung in der frühen Kindheit“ (Markard 1985) ist insofern eher außergewöhnlich als beispielhaft. Wie die Verbindung von Forschungsinteressen und professionellen Praxisproblemen misslingen kann, dokumentieren Fallbeispiele in Markard/Ausbildungsprojekt Subjektwissenschaftliche Berufspraxis 2000). 319
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Markard, Morus (1985): Konzepte der methodischen Entwicklung des Projekts Subjektentwicklung in der frühen Kindheit, in: Forum Kritische Psychologie 17, 101-120. ders. (1993): Methodik subjektwissenschaftlicher Forschung: Jenseits des Streits um quantitative und qualitative Verfahren, Hamburg. ders. (2000): Kritische Psychologie: Methodik vom Standpunkt des Subjekts [31 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung 1(2), Art. 19, http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/ 1088/2382 (23.10.2008). Markard, Morus/Ausbildungsprojekt Subjektwissenschaftliche Berufspraxis (2000): Kritische Psychologie und studentische Praxisforschung. Wider Mainstream und Psychoboom – Konzepte und Erfahrungen des Ausbildungsprojekts Subjektwissenschaftliche Berufspraxis an der FU Berlin, Hamburg. Marx, Karl/Engels, Friedrich (1956ff.): Werke (MEW), Berlin. Peters, Klaus/Sauer, Dieter (2006): Epochenbruch und Herrschaft. Indirekte Steuerung und die Dialektik des Übergangs, in: Scholz, Dieter et al. (Hg.): Turnaround? Strategien für eine neue Politik der Arbeit – Herausforderungen an Gewerkschaften und Wissenschaft, Münster, 98-125; www.cogito-institut.de (08.10.2008). Stadlinger, Jörg (2002): Individuelle Autonomie und unternehmerische Selbständigkeit. Freiheitstheoretische Anmerkungen zur Bestimmung des Formwandels betrieblicher Herrschaft und zur Kategorie des ‚Arbeitskraftunternehmers‘ bei G. G. Voß und H. Pongratz, Cogito-Arbeitsheft Juli 2002, Köln, 17-35; www.cogito-institut.de (08.10.2008). Techniker Krankenkasse (2008): Gesundheitsreport 2008. Hamburg; www.tk-online.de/centaurus/servlet/contentblob/48834/Datei/1776 (07.03.2009). Voß, G. Günter/Pongratz, Hans J. (1998): Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 50, H. 1, 131-158; www. arbeitenundleben.de/downloads/AKUKZfSStxt.pdf (02.04.2008). Wissenschaftliches Institut der AOK (2009): Steigender Krankenstand: Psychische Erkrankungen weiterhin auf dem Vormarsch. Pressemitteilung vom 25.02.2009, Berlin.
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„ Die Fotografie eine r Fa brik sa gt noc h nichts über das We se n einer Fa brik aus.“ 1 – Ein Beitra g z u Erke nntnis , Lite ratur und Subjek tiv ität ASTRID HENNING2
Erkenntnis und Subjektivität Voraussetzend, dass Erkenntnis nicht die Frage danach ist, was ‚wirklich‘ ist, sondern was der Mensch mittels seiner Sprache erkennen kann, möchte ich mich auf den nächsten Seiten mit der menschlichen Erkenntnis seiner Identität befassen – und mit der Strukturierung derselben Identität durch Literatur, Film und Kunst. Seit den wissenschaftsphilosophischen und politischen Direktiven der Aufklärung ist das wissenschaftliche Wesen nicht mehr jenes, das Gott erkennt, sondern eines, das sich und seine Umwelt als Subjekt erfährt und auf der Basis seiner eigenen Identität erklärt. Die Kritik dieses aufklärerischen Pathos führte dazu, die spezifischen subjektiven Lebensverhältnisse und subjektiven Identitätskategorien wie Geschlecht, Nation, Hautfarbe oder Klasse zu hinterfragen und als bildend für Fragestellungen, Forschungsinstrumente und oft auch für die Forschungsergebnisse der Fragenden anzuerkennen. Diese spezifischen Lebensver1 2
Brecht 1973. Dieser Artikel entstand durch intensive Diskussionen im Kolloquium von Dr. Jan Hans an der Uni Hamburg, dessen Mitgliedern ich an dieser Stelle danken möchte. Insbesondere ist er auch das Resultat einer szenischen Lesung „Literatur, Film und Arbeit“, die ich mit Hanno Willkomm und Albert Zecheru konzipieren durfte. 321
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hältnisse sind demnach nichts ‚von Gott gestiftetes‘, sondern selbst historisch variabel. Sie produzieren nicht nur Wissen und Erkenntnis, sie werden auch ihrerseits durch ein sprachlich-historisches Wissen produziert. Dabei handelt es sich um das (sprachlich erfahrbare) Wissen, wie die Subjekte sind, die ihre Umwelt erkennen und handelnd auf sie einwirken, und welcher Art diese Umwelt ist, in welcher sich eben jene Subjekte bewegen. Wenn also der Mensch, nur indem er etwas über eine Sache sagt, erkennt; wenn nichts außerhalb von Sprache erfahrbar ist, also auch das Subjekt selbst seine eigene Erkenntnisidentität nur durch Sprache erhält – wieso erscheint dann Literatur und Kunst im Alltagsverständnis, besonders im politischen, als etwas, das sich außerhalb von Erkenntnis bewegt? Insbesondere die sprachlichen Formen der Kunst (Theater, Performances, Literatur oder Film) erweisen sich durch ihre unmittelbare Textlichkeit als besonders tauglich, spezifische sprachliche Erkenntnisund Wissensformen zu erfahren. (Ich werde diese Wissensformen im Folgenden, dem poststrukturalen Sprachgebrauch entsprechend, Diskurse nennen.) Literatur und Kunst als Instrument der Erkenntnis über das Wissen der Subjekte und damit über die Identität der Subjekte ernst zu nehmen, bedeutet, Emotion als die menschliche Erfahrung, als Erkenntniskategorie anzuerkennen. In den Emotionen und den ihnen vorgelagerten Erfahrungen manifestiert sich das Wissen der historischen politischen Diskurse, das ansonsten nur abstrakt und oberflächlich bleibt. In der Analyse der spezifisch künstlerischen Sprache und ihrer Emotionalität findet sich Aufschluss darüber, ob das Wissen darüber, wie ein Ding, wie eine Gesellschaft, wie ein anderer Mensch und wie man selber zu sein hat, tatsächlich zur Grundlage allen Beurteilens, Wertens und Handelns des jeweiligen Subjekts geworden ist – und damit zur Identität des erkennenden Subjekts selbst. Aber Literatur ist nicht nur ein Instrument, in welchem sich eine ‚verblendende‘ Konstruktion der Subjekte ablesen ließe. Das „spezifisch Künstlerische“ (Anna Seghers), welches die Ästhetik, die Dramatik, die Personalisierung, die schillernde kaleidoskopartige Verbindung von wissenschaftlichen und Alltagsdiskursen in Metaphern und Allegorien verknüpft, ermöglicht eine emotionale Anerkennung oder eine Ablehnung dieser Diskurse – und bildet damit die Grundlage für die Identität der Leserinnen und Leser, eine subjektive Identität, die sich das Individuum selbst durch Unterwerfung und Widerstand entlang der hier derart vermittelten Wissenspraktiken gibt. Kunst und Literatur ermöglichen also zweierlei Pole der Erkenntnis: einmal, mit welchen Diskursen das Subjekt Wissen über sich, seine Identität und seine Umwelt erzählt bekommt, also durch die 322
EIN BEITRAG ZU ERKENNTNIS, LITERATUR UND SUBJEKTIVITÄT
Autorin oder den Autor angerufen wird, und zum zweiten, qua welcher (künstlerisch angerufener) Emotion und Erfahrung das Subjekt, der Rezipient bzw. die Rezipientin, diese Strukturen des Wissens und der Erfahrung als ihm eigene anerkennt. Im Folgenden will ich mich auf den ersten Teil dieser benannten Erkenntnismöglichkeit durch Literatur konzentrieren. Um der (vielleicht bisher so erfahrenen) Abstraktion dieses wissenschaftlichen Gegenstandes entgegen zu wirken, möchte ich mich der Erkenntnis von diskursiver Subjektkonstruktion anhand der Kategorie ‚Arbeit‘ nähern. (Lohn-)Arbeit als identitätsstiftendes Konstrukt erweist sich als besonders tauglich für diese Untersuchung, weil sie in den kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen Menschen auf unterschiedlichste Weise subjektiviert. Nicht unabhängig von Geschlecht, Klasse, Nation und Hautfarbe, aber diese Identitätskategorien übergreifend, ist Arbeit, das Wissen über sie, ihre Bewertung und ihre emotionale Adaption das Phantasma, welches jedem dieser Subjekte zum Begehren geworden ist. Eine literaturwissenschaftliche Untersuchung dieses Begehrens ermöglicht eine politische Erkenntnis über das historische Wissen und die Definition von Arbeit und darüber hinaus über die Art und Weise, wie Subjekte dieses spezifische Wissen als wahr, als richtig und als begehrenswert erachten und ihre eigenen Handlungen und Wünsche auf ein Sein als Arbeitssubjekt richten. Ich beziehe mich dabei auf die Subjekttheorien Michel Foucaults. Die Analysen zur veränderten Arbeitswelt entnehme ich als Nicht-Sozialwissenschaftlerin den soziologischen Gouvernementalitätsstudien zu den neuen Arbeitssubjekten (vgl. Pieper/Gutierrez-Rodriguez 2003).
Totale Arbeit – totale Arbeitssubjekte Das Grundprinzip der bürgerlichen3 Gesellschaft in ihrer Entstehung aus der Abgrenzung zur Gesellschaft des Adels ist die Trennung von Arbeit und Privatsphäre und die Besetzung der Letzteren mit dem Prinzip der Moral und einem ethischen ‚Recht auf Freiheit‘.4 Aus diesem Grundprinzip entstand in den letzten zwei Jahrhunderten ein kulturell hegemoniales Idealsubjekt, eine ideale subjektive Selbstverortung des Bürgers, der mit allen anderen die gleiche Gesetzlichkeit ‚genießt‘, der bei Woolworth mit ‚mein Herr‘ betitelt werden will und seine Privatsphäre 3 4
Ich verwende „bürgerlich“ im Sinne Gramscis hier als die Kultur, den Überbau des bürgerlichen Subjektes und seiner Gesellschaft betreffend. Insbesondere zur feministischen Diskussion dieser bürgerlichen Selbstkonstitution (die eine erhebliche Rolle bei der Konstituierung dieser Unterscheidung innehat) siehe: Bovenschen 2003. 323
ASTRID HENNING
als Freiheit von den Mühen der Arbeit getrennt, aber doch von ihr gewährleistet sehen will. Seit den 1970er Jahren erfährt diese bürgerliche Idealgesellschaft mit ihren Idealsubjekten einen strukturellen Wandel5: zum einen durch eine neue Form der staatlichen Regierung der Bevölkerung, zum zweiten durch eine Verlagerung der kapitalistischen Arbeitsanforderungen an die arbeitenden Subjekte weg vom Vollzeit-Alleinernährer, und zum dritten durch die politischen Kämpfe der Frauen, die ihre ökonomische Unabhängigkeit vom Mann dadurch ermöglichten, dass sie bisher unbezahlte Reproduktionsarbeiten nun durch Bezahlung an migrantische oder ökonomisch schlechter gestellte Frauen weitergeben. Der Staat löst sein Wohlstandsversprechen von nun an nicht mehr darüber ein, dass jedes bürgerliche Individuum einen Schutz seiner naturalisierten Freiheit zugesichert bekommt und dadurch seinen und den gesellschaftlichen Wohlstand mehren könne, sondern darüber, dass er das bürgerliche Individuum zu dieser Freiheit hin aktiviert. „Im Gegensatz zum Frühliberalismus ist es nicht mehr eine als natürlich unterstellte Freiheit der Individuen, die es zu sichern gilt. Neoliberale Regierungsrationalität operiert nicht über das schlichte ‚laisser faire‘, sondern über eine artifizielle, ‚arrangierte Freiheit‘ des autonomen, unternehmerischen Selbst, das sich an Maximen einer ökonomischen Rationalität orientiert. […] Der weiße, männliche, gesunde Arbeitnehmer wird zu einem Unternehmer seiner selbst. […] Er taucht als autonom kalkulierendes ‚rational-choice‘-Subjekt auf, das aufgrund seiner Wahl- und Handlungsfreiheiten in der Lage ist, seine Integration in den Arbeitsmarkt als Selbstverhältnis zu organisieren.“ (Pieper 2003, 146, 150)
Seitdem wird das bürgerliche Individuum (will es seiner drohenden oder realen Armut entgehen) (selbst)verpflichtet, seine gesamte Subjektivität – bis hinein in die Privatsphäre und in seinen Körper – der Optimierung seiner eigenen marktunternehmerischen Voraussetzungen zu widmen. Es optimiert seine Charaktereigenschaften und individuelle Begehren bezüglich einer markttauglichen Flexibilität, Mobilität und Kommunikations- und Vernetzungsfreude. Es leistet vehemente Beziehungsarbeit und bearbeitet seinen markttauglichen Körper im Fitnessstudio. Diese staatliche Umkodierung ehemals emanzipativer Vorstellungen von einem autonomen und freien Individuum in einen Kontrollmodus der Hartz-Gesetze und der Umstrukturierungen der Arbeitsämter und ih5
Wie weit diese Debatte im hegemonialen Wissenschaftsverständnis verankert ist, zeigt u. a. Habermas 2001 oder Arbeiten aus poststrukturaler Perspektive, u. a. Pühl 2003.
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EIN BEITRAG ZU ERKENNTNIS, LITERATUR UND SUBJEKTIVITÄT
rer Zuständigkeiten6 wird ergänzt durch sich verändernde Anforderungen an das arbeitende Subjekt in der kapitalistischen Produktion. Die wachsende Bedeutung des dritten Sektors verändert nicht nur die konkrete, manuelle Arbeit selbst, sondern auch ihre idealtypische Vorstellung und ihre Bedeutung für die Identität der arbeitenden Subjekte in den beiden anderen Sektoren. Die Tendenz zum Netzwerk in den Arbeiten des Dienstleistungssektors und der expandierenden IT-Branche erklärt spezifische Anforderungen nach Kommunikation, Flexibilität, Mobilität, Wissen, Emotionen, Beziehungen, aber auch Prekarität zum Standard für ein modernes Subjekt in allen anderen Arbeitsbereichen. Damit transformiert neben dem Staat auch die kapitalistische Produktionsrationalität die emanzipativen Forderungen der politischen Kämpfe der 1960er und 1970er Jahre in Kontrollinstanzen. „Der Wunsch nach freier Arbeitszeiteinteilung wird zur flexiblen Arbeitszeit, der Wunsch nach Selbstverwaltung wird zur Selbstorganisation in Projektarbeit, die Kontrolle durch MeisterInnen und VorarbeiterInnen wird in kontrollierte Teamarbeit umgewandelt. Der Wunsch nach Selbstverwirklichung von Kollektiven und Individuen hat sich in ‚freies‘ UnternehmerInnentum umgewandelt.“ (Foltin 2008, 9)
Die kapitalistischen Anforderungen an das optimale Arbeitssubjekt verbinden sich mit den neuen staatlichen Vorstellungen und Vorgaben als (mit steigenden Sanktionen unterfütterte) Anrufung an ein ideales bürgerliches Subjekt – als ein „künstliches, behavioristisch formbares Wesen, das permanenter Stimulation und Kontrolle bedarf, die keine Instanz effizienter leisten kann, als der Markt selbst“ (Bröckling 2002, 180). Die charakterlichen, das heißt: die subjektiven Vorteile, die dem Individuum einen Erfolg auf dem Arbeitsmarkt verschaffen sollen, werden nun zur allumfassenden Arbeit für das Individuum – zum permanenten Kampf gegen sich selbst. Die Arbeit weitet sich auf alle gesellschaftlichen Bereiche aus, der ‚selbstregulierende Markt‘ gewinnt Zugriff auf alle Lebensbereiche, löst die ehemalige bürgerliche Trennung von Arbeit und freiheitlicher Privatsphäre auf und erhält über die Reproduktionstechnologie sogar einen Zugriff auf die Körper (besonders der Frauen). 6
Hierzu zählt auch die Kontrolle von Bedarfsgemeinschaften und die damit verbundene faktische Aufhebung der Unverletzlichkeit der Wohnung (und damit der staatlichen Garantie von einem Reich der Freiheit, welches der Staat schütze) für Nichtarbeitende; ebenso wie die Umkehrung der Beweislast für Hartz-4-Beziehende das grundlegende Versprechen des bürgerlichen Staates auflöst, wonach alle vor dem Gesetz gleich behandelt werden müssen. 325
ASTRID HENNING
Es entsteht ein diskursives neues Idealsubjekt, welches, obwohl in keiner Fabrik, in keiner Beziehung, in keinem Büro und in keinem Sportstudio anzutreffen, zur Norm und zum Begehren aller anderen Subjekte wird und damit ihre (Selbst-)Führungen durch einen aktivierenden Staat und eine totale Kapitalwelt sichert. Seine Normativität besteht aus der Selbstverständlichkeit des eigenen Begehrens nach lebenslangem Lernen, nach markttauglicher charakterlicher „Vervollkommnung“ innerhalb von diskontinuierlichen Lebensbiografien (vgl. Friebe 2008) und nach einer umfassenden Flexibilität bezüglich der „Erfordernisse des Marktes“. Diese Totalisierung von Arbeit glättet auf geschmeidige Weise gegenläufige Diskurse in den Alltagstexten, weil sie auf ein Grundbegehren des bürgerlichen Subjekts zurückgreift – das Begehren nach individueller und ökonomischer Erfüllung durch Arbeit und mit ihr verbundenem privatem und sozialem Glück. Ich fasse also zusammen: Die staatliche und kapitalistische Verschiebung des idealen Arbeitssubjekts von einem festen Familienernährer hin zu einem Unternehmer seiner selbst, dessen marktflexible Selbstoptimierung all seine Lebensbereiche durchdringt, erfordert gänzlich neue Lebensentwürfe und Lebensstrategien. Durch permanente Erzählungen, durch wissenschaftlich beteuerte Notwendigkeit, durch Ratgeberliteratur und performative Erfolgsstories wird diese normative Subjektivität zur diskursiven Hegemonie. Es scheint kein Entkommen zu geben, ein außerhalb Leben scheint noch schwieriger als ein außerhalb Denken.
Literatur, Film, Fernsehen und das neue Arbeitssubjekt Wie verhalten sich aber Literatur, Kunst oder Film zu dieser diskursiven Subjektivierung eines (neuen, idealen) Arbeitssubjekts? Zu Recht beschrieben die Herausgeber von Literaturen noch 2001, dass Arbeit in der klassischen Literatur entweder fehlt oder als Behinderung des eigentlichen bürgerlichen Reichs der Freiheit auftaucht – so zum Beispiel im Werther bei Goethe. Das bürgerliche Subjekt konstituiert sich im klassischen bürgerlichen Drama insbesondere über seine Moral im Privaten. Die tragische Verführung der Bürgerstochter durch den Adelssohn ist ein wiederkehrendes Motiv in den Werken des Sturm und Drang und des bürgerlichen Trauerspiels, z. B. Kabale und Liebe, Emilia Galotti und auch Faust. Arbeit ist in diesen konstitutiven Bürgererzählungen das Äußere, das Nichtbesprochene, dasjenige, was dem bürgerlichen männlichen Subjekt die ökonomische Basis für seine moralische Privatsphäre 326
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und damit für seine Autonomie sichert, der Autonomie und der Freiheit des bürgerlichen Subjektes aber nicht entspricht. Die sozialen Kämpfe des 19. Jahrhunderts, in denen sich das bürgerliche Subjekt entwickelt, führten zu einer literarischen Beschreibung der proletarischen Arbeitswelt. Dem bürgerlichen Subjekt, welches sich über die Moral des Privatlebens definiert, wurde ein proletarisches Subjekt entgegengehalten, welches nicht nur seinen Lebensbereich (den Arbeitsplatz), sondern auch seine Moral, sein Handeln, sein Denken, seine Bestimmung dessen, was es ist und was es nicht ist, durch Arbeit erhält. Nach Emile Zola (Die Bestie im Menschen), Victor Hugo oder Heinrich Heine (Die Schlesischen Weber) als bürgerliche Sozialisten folgen spätestens in den 1920er Jahren die sozialistischen Realisten wie Anna Seghers oder Willy Bredel – bis hin zu den Erzählungen des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt in den 1970er Jahren der BRD. Die – manchmal fotografische – künstlerische Abbildung der Arbeitswelt war dabei nicht nur eine Beschreibung, die dem bürgerlichen Subjekt ein proletarisches entgegensetzte. Denn neben der (fotografischen) Abbildung dieser Arbeitswelt sollte die sozialistisch-realistische Arbeitsweltliteratur gleichzeitig die Struktur der Gesellschaft, die teleologische Entwicklung der Menschheitsgeschichte und damit die naturalisierte Entwicklung und Seinsweise des proletarischen Subjektes mitbestimmen. Zusammenfassend findet sich in der Literatur und Kunst bis in die 1970er Jahre eine klassische Trennung von der Privatheit des bürgerlichen und der Arbeitsamkeit des proletarischen Subjektes – und sie (be-)schreibt bis dahin eine Trennung zweier Identitäten an gegensätzlichen Polen der Arbeit. Die derzeitige Diskursverschiebung bezüglich Arbeit hat aber die klassische Trennungslinie zwischen dem freiheitlichen Privatraum des bürgerlichen Subjektes und dem kämpferischen und Identität stiftenden Arbeitsraum (der Fabrik) des Proletariers brüchig gemacht. Literarische Beschreibungen der Arbeitswelt existieren kaum, und wenn, verharren sie weiterhin in einer dichotomischen Trennung eines (unfreien) Arbeitssubjektes und eines (freien, oder um Freiheit ringenden) Privatsubjektes. Dabei wird entweder eine romantisierte Welt beschrieben, in welcher alle Menschen am Besten zu Schafhirten würden (vgl. Zeh 2007; Goettle 2007) und in welcher zwar nicht die Arbeit fehlt aber der Warenhandel mit ihr. Oder man beschreibt eine feindliche Arbeitswelt, deren kapitalistische Struktur nur zerstört werden müsse, um alle Menschen in ein aurea aetas zu führen (Hochhuth 2003). Was bei der Lektüre solcher belletristischen Arbeitsbeschreibungen nur noch zu tun bleibt, ist – neben einem stummen Bittgebet an Anna Seghers Einforderung des „spezifisch künstlerischen“ – die Konstatierung einer literari327
ASTRID HENNING
schen Untauglichkeit, Erkenntnis über derzeitige Subjekte in aktuellen historischen Arbeits- und Lebensverhältnissen zu geben. Ist mit dem Ende der bürgerlichen Trennung von Arbeit und Privatsphäre damit auch das Ende einer Aktualität der literarischen Identitätskonstruktionen entlang einer bürgerlichen Identität zu verzeichnen? Das hieße, konsequent zu Ende gedacht, die Verbannung des Werthers aus dem Schulunterricht. Die Untauglichkeit dieser Trennung im Sujet und in der Beschreibung der Protagonistinnen und Protagonisten scheint für eine Identitätsstiftung bei modernen Subjekten offensichtlich – und angesichts der Gestalt dieses kulturellen, bürgerlichen, männlichen Idealsubjektes mag man auch getrost „Danke“ rufen. Auch das Widerstandspotential der fotografischen Abbildung eines proletarisch-bürgerlichen Subjektes, das sich durch pure Aneignung der Fabriken und Büros politisch und sozial befreit, und somit zu seiner genuinen Bestimmung eines politisch und sozial befreiten Bourgeois gefunden hätte, ist fraglich und brüchig geworden. Bedeutet dies das Ende von Literatur und Kunst für individuelle und kollektive Identitätsstiftung, die sich zwischen Unterwerfung und Widerstand bezüglich der dargebotenen Identitäten für die Leserinnen und Leser ergeben? Vielleicht muss hier nicht die Frage gestellt werden, ob Kunst dieses Potential immer noch besitzt. Nein, vielmehr muss die Frage lauten, ob die Suchenden nach dem neuen Arbeitssubjekt und seinen Idealen, Begehren und Emotionen nicht den Blick von der ‚schönen‘ Literatur abwenden und sich den Spezifika des gesellschaftlichen Mediengefüges zuwenden müssten. Demnach wird ein solches ideales, marktflexibles und sich permanent optimierendes Subjekt in den klassischen bürgerlichen Erzählungen von getrennter Privat- und Arbeitssphäre ebenso wenig zu finden sein wie in den marxistischen und sozialistischen Arbeitswelterzählungen. Vielmehr scheint das Format der Fernsehserie, ihre permanente Wiederholung des Erzählstrangs, ihre leichte Integrierbarkeit in den Alltag und vor allem die gecastete Präsentation aller Schichten mit ihren Begehren und Wissenskomplexen wesentlich besser geeignet als das Medium Buch, die Vorstellungen eines idealen marktflexiblen Subjekts zur Begehrensstruktur seiner Zuschauerinnen und Zuschauer zu machen. Nehmen wir zum Beispiel die Anwaltsserie Ally McBeal. Sie scheint mir prototypisch dafür, wie die Totalität von Arbeit als attraktive und begehrenswerte Struktur erscheint und dabei an bestehende Glücksbedürfnisse der Zuschauerinnen und Zuschauer anknüpft, die bis dato nur außerhalb der Arbeit – im Freiheitsreich der Privatsphäre – erfüllbar schienen. Die Protagonistinnen dieser Serie leben, lieben, arbeiten in ihrer Kanzlei – ihre zwischenmenschlichen Beziehungen entstehen und zerbrechen in der Kanzlei und bei den gemeinsamen Tanzabenden nach 328
EIN BEITRAG ZU ERKENNTNIS, LITERATUR UND SUBJEKTIVITÄT
Feierabend (den es de facto nicht gibt). Das Glück des Privaten – Freundinnen und Liebesbeziehungen zu haben, Wohlbefinden, etc. braucht die Trennung von Arbeit und Privatem nicht mehr –, es erfüllt sich über die Optimierung des Selbst auf dem Arbeitsplatz und webt neue Bestimmungen eines (weiblichen) Seins. Diese Verknüpfung von privaten Glücksvorstellungen (der Zuschauerin) mit der Darstellung eines totalen Arbeitslebens und einer totalen (hier weiblichen) Arbeitssubjektivität gipfelt in dem Satz der Protagonistin Ally McBeal: „Wir Frauen haben die Kraft, die Welt zu verändern. Aber vorher möchte ich heiraten.“7 Die Darstellung der Totalität der Arbeit verharrt aber nicht nur in der Verknüpfung von Glücksvorstellungen und Verwirklichungsszenarien. Sie liefert auch gleich die passende Antwort mit, wie dieses Glück nun im Arbeitsleben erreicht werden könne: Indem die individuellen und lebenspraktischen Erfahrungen der Figuren in permanentem Zusammenhang mit den juristischen Fällen der Protagonistinnen gebracht werden und von ihnen der Ausgang eben jener Prozesse abhängt, werden sie einmal entlang ihrer charakterlichen ‚softskills‘ ‚gebraucht‘ und erfahren über sie soziale Anerkennung. Zum anderen können diese softskills, diese Charaktereigenschaften, aber auch entlang der jeweiligen juristischen Fälle individuell be- und ausgearbeitet, also optimiert werden. Ob die – in der Kanzlei geknüpfte – Liebes- oder Freundschaftsbeziehung hält, ist demnach auch abhängig davon, ob die entsprechenden softskills optimiert werden. Die subjektive (Lebens-)Entwicklung und die Glücksgarantie vollziehen sich daher entlang der Anforderungen, welche die Arbeit an das Individuum stellt. Die neue Totalität von Arbeit und die damit verbundene Neukonstruktion von Identität muss aber gar nicht nur solcherart beschrieben werden, um ihre Diskursivität zu erkennen. Die literarische Diskursivierung einer totalen Arbeitsidentität ermöglicht für die meisten Rezipientinnen und Rezipienten auch eine Erkenntnis des Widerstands, und das nicht nur deshalb, weil sich Subjektivität/Identität zwischen Unterwerfung und Widerstand gegen einen hegemonialen Diskurs herstellt (Foucault 1983, 1989a, 1989b). Hierbei scheinen Buch und Film als Medien wiederum tauglicher als das flexible Medium Fernsehserie. Um sich beidem zu widmen, um ein Buch lesen, einen Film sehen zu können, benötigt es den Rückzug aus dem Alltag und das Bedürfnis ‚glücklich werden zu wollen‘. Das bedeutet wiederum, dass ein Gefühl des Unglücks, des Unbehagens im 7
http://www.faz.net/s/Rub0E9EEF84AC1E4A389A8DC6C23161FE44/ Doc~E8AFFBA18D3EA43CEB05B6A6DF3DB289D~ATpl~Ecommon~ Sspezial.html (19.06.2009). 329
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Alltag vorhanden sein muss. Wird dann in Buch oder Film ein Plot entwickelt, der dem unbehaglichen Leben der Leserin oder des Zuschauers einen Gegenentwurf zeigt, so kann den Vernunft- und Wissenskomplexen, in welchen die Leserin sich selbst regiert und dabei ihr eigenes Unbehagen reproduziert, ein Gegendiskurs geäußert werden – ein Gegendiskurs, der es ermöglicht, ein Begehren zu entwickeln, sich aus dem hegemonialen Diskurs und seinen Vernunft- und Wissenskomplexen hinaus zu begeben. Ein solcher Gegendiskurs kann in Bezug auf die Totalität der Arbeit eine Beschreibung eines schönen Lebens ohne Arbeit sein. Er findet sich in den großen Erzählungen über die Schönheit der Faulheit wie in Douglas Adams’ Per Anhalter durch die Galaxis oder in den „Faulenzerfilmen“ wie zum Beispiel Fellinis Die Müßiggänger (1953) oder bei der Figur des Martins in Zur Sache Schätzchen (1968). Insbesondere in den letzten beiden Beispielen wird gezeigt, dass die Verweigerung von Handlung, von einer vita activa, möglich ist, jedoch auch sanktioniert wird. Die ‚Bereitschaft‘ zur Arbeit wird also hier durch Sanktionen erzeugt – ist also nichts genuin Anthropologisches. In Alexandre der Lebenskünstler (1968) und Zur Sache Schätzchen (1968) setzen die Regisseure auf Faulheit als eine Lebensform und aktivieren damit einen Gegendiskurs zur Arbeitsgesellschaft und zu einer Identität, die ihre Begehren, ihre Lebensstrategien und ihre gewünschte Eigen- und Fremddefinition an Arbeit, Leistung und einer permanenten viva activa ausrichtet. Sie aktivieren einen Diskurs, der seit Paul Lafargue (Das Recht auf Faulheit) stets von einem unbedingten Willen zur Arbeit marginalisiert wurde. Der Zuschauer oder die Zuschauerin, der Leser oder die Leserin erfährt sich hier im ‚Knotenpunkt der Diskurse‘ als Individuum, welches in der Entscheidung oder in der Glättung zweier oder mehrerer widersprechender Diskurse zum Subjekt wird. Dem ‚Knirschen‘ im hegemonialen Arbeitsdiskurs der Realität, dem Unbehagen ob der Totalität und deren Durchdringung der eigenen Seele und des Körpers wird ein Bild geboten. Allerdings setzt gerade diese Bebilderung eines Begehrens außerhalb des hegemonialen Diskurses und damit außerhalb der totalen Arbeitsidentität bereits ein Unbehagen der Leserinnen und Leser mit eben dieser Identität als Arbeitende voraus. Dieses Unbehagen kann aber ebenso gut auch durch Literatur erzeugt werden. Ihr künstlerisches Mittel dabei ist die Verwirrung. Insbesondere das Wechselspiel der Szenen und Bilder in Filmen nötigen den Zuschauenden eine Interpretation ab, die weniger auf das konkrete Detail setzt, als auf einen Entwurf eines Bildes, welches Assoziationen abverlangt, die über den (historischen) Diskurs der eigenen Erfahrung hinausgehen. Szenische Lesungen oder szenische Filme setzen auf ein Nebeneinander, auf eine schnelle Abfolge von Diskursen, 330
EIN BEITRAG ZU ERKENNTNIS, LITERATUR UND SUBJEKTIVITÄT
und dekonstruieren dabei den jeweiligen hegemonialen Diskurs in seiner Vernunft und seiner scheinbaren Ausweglosigkeit. So beschreibt Westend (2001) den permanenten Zugriff des Staates und seine Aktivierungsmaßnahmen auf zwei jugendliche Langzeitarbeitslose in der Gestalt, dass die beiden Hauptprotagonisten sich zwar einer permanenten Selbstoptimierung unterziehen müssen, um ein Leben in, entlang und mit Arbeit führen zu können. Angesichts der Tatsache, dass weder Mike noch Alfred Lohnarbeit bekommen werden, geschweige denn die geforderte Identifizierung mit ihrer Arbeit als ‚Waldmeister‘, die Müll aufsammeln, aufbringen und ihr Selbst entsprechend optimieren wollen, wird die (immer wieder fragmentarische) Unterwerfung unter die geforderte Selbstoptimierung zur Farce. Mike und Alfred sind nicht außerhalb der geforderten Anrufung zur totalen Aufgabe ihrer selbst in einer Arbeitswelt – die Selbstverständlichkeit, mit der Frauen, Fußball oder Bier trinken dennoch wichtiger sind und die einzelnen Szenen miteinander verbinden, zeigt aber ebenso wie die andauernd misslingende Eingliederung in ein totales Arbeitsleben die Unvernunft dieses Arbeitsdiskurses. Selbst wenn der Zuschauer oder die Zuschauerin sich hier nicht mit den Protagonisten identifiziert – so kann doch eine solidarische Energie entstehen, die erkennen lässt, dass jene Totalität des individuellen Lebens in und mit Arbeit eben nicht immer aufgehen kann, eben nicht immer vernünftig ist, eben nur für bestimmte Menschen Vorteile bringt, und nicht für alle. Die Selbstverständlichkeit, den hegemonialen Diskurs ob der Totalität von Arbeit vernünftig zu finden und ihn mit Glücksvorstellungen in Einklang zu bringen, bekommt haarfeine Risse. Eine ähnliche Verwirrung findet statt, wenn Gebrauchstexte des hegemonialen Diskurses mit literarischen Texten der Gegendiskursivität verbunden werden. Die parallele Darstellung einer Anleitung an Manager zur Führung ‚ihrer‘ Untergebenen und damit zur Optimierung ‚ihres Menschenmaterials‘ mit der redundanten Wiederholung des Angestellten Bartleby aus Bartleby der Schreiber von Herman Melville „I would prefer not to“ lässt Sinn, Logik, Vernunft und Wahrheitsgehalt der hegemonialen Erzählung ins Wanken geraten. Wenn die gleichen Handlungen, die der Managementtext als erfolgversprechend ausgibt, durch einfache Verweigerung des Angestellten untergraben werden können – dann schwindet der unbedingte und unhinterfragbare Wahrheitsgehalt des hegemonialen Textes. Die Totalität der Arbeit, die Selbstverständlichkeit der Selbstoptimierung, das Glücksversprechen in der Verbindung von Selbstoptimierung und Arbeit – das alles wird plötzlich morsch, wird hintergehbar und ermöglicht einen subjektiven Eigensinn. Einen Eigensinn, der dem hegemonialen Diskurs die Hoheit über die eigene Seele, über das eigene Begehren, über die eigenen Wünsche abspricht. 331
ASTRID HENNING
Unterwerfung und Widerstand Literatur, Film, szenische oder serielle Erzählungen sind Teil der aktuellen (Gegen-)Diskurse um die neue Totalität von Arbeit. Sie zeichnen ein Subjekt, dessen Seele und Begehrensstruktur entweder in diesen diskursiven Wissenskomplexen aufgeht – oder nicht. Sie fungieren dabei als Interdiskurse, die andere Diskurse erzählerisch zusammenbringen, die anderenfalls kategorial getrennt blieben. In ihrer Funktion zu personalisieren, zu dramatisieren und zusammenzufassen sind Literatur und Film Vergegenwärtigungsmedien, welche verschiedene Diskurse zur Arbeit (Privatsphäre, Antiarbeitsbewegungen, juridische, architektonische, politische, ökonomische) wie ein Kaleidoskop zu neuen Bildern formen und bestehende Bilder permanent auflösen. Egal ob diskursbejahend, ob einen Gegendiskurs ins Spiel bringend oder ob verwirrend durch die Dekonstruktion des hegemonialen Diskurses – am Ende des Textes steht immer ein Subjekt – ein Leser, eine Zuschauerin – das sich selbst als Subjekt in diesen Diskursen verortet, erkennt und mit einer Identität ausstattet. Bei dieser Identitätsanrufung haben die verschiedenen Kunstgenres eine unterschiedliche Bedeutung, bzw. sie sind auf unterschiedliche Art und Weise dazu geeignet, den hegemonialen Identität-Arbeit-Diskurs an das Individuum heranzutragen bzw. ihn zu unterlaufen. Die literarische Bearbeitung des bürgerlichen Themas vom Reich der privaten Freiheit, dem die Arbeit außen vor steht, ist dabei kaum geeignet, den zeitgenössischen Leserinnen und Lesern eine Erkenntnis über ihre Identität als umfassendes Arbeitswesen zu geben. Es bleibt höchstens im Schulunterricht die Bearbeitung der ‚Klassiker‘ und damit die Erfahrung der jungen Leserinnen und Leser eines in Privatleben und Arbeit getrennten bürgerlichen Idealsubjekts – mit seiner gesamten patriarchalischen Struktur. Serie, Film und szenische Literatur (vor allem Kurzgeschichten im Gegensatz zum Roman) hingegen bieten im neuen Arbeitsdiskurs die gesamte Spannbreite einer diskursiven Subjektanrufung. Von der Darstellung der gelungenen Verbindung des Privaten und der Arbeit in einer marktflexiblen totalen Arbeitsidentität über die Bebilderung eines bereits bei der Zuschauerin vorhandenen Unbehagens ob dieser Totalität in Gegendiskursen bis hin zur Verwirrung stiftenden Assoziation: Subjekte werden durch Film, Serie oder szenische Darstellungen mit Diskursen zur Arbeit angerufen, unterwerfen sich ihnen, erkennen ihre Begehren, Wünsche, Emotionen in ihnen wieder und entwerfen entlang ihrer Aussagen ihre eigene Identität. Das, was sie meinen zu sein, das, was sie wünschen zu sein oder zu werden, wie sie sich ihre Umwelt und ihren eigenen Platz in ihr vorstellen, ihn als vernünftig, selbstverständlich oder 332
EIN BEITRAG ZU ERKENNTNIS, LITERATUR UND SUBJEKTIVITÄT
ablehnungswürdig betrachten – stellt sich ihnen in den diskursiven Bearbeitungen einer neuen Totalität in Film und Fernsehen dar. Wenn ich eingangs fragte, ob Literatur, Film oder Kunst dem Individuum Erkenntnis über sich und seine Umwelt liefern können, so muss diese Frage abschließend erweitert beantwortet werden: In den Diskursen der Fernsehserien und der Filme und in den fragmentarischen Spielarten der Kurzgeschichte8, selbst im Schweigen der Romane ist die Verschiebung des Arbeitsdiskurses hin zu einer Totalität des Subjektes, ist die Auflösung des bürgerlichen Subjektes mit seiner Trennung von Privatem und Arbeit erkennbar. Darüber hinaus spricht aber das Schweigen der bürgerlichen Romane und das Reden der Serien und Filme und Kurzgeschichten von einem Begehren seiner Zuschauer und Leserinnen, auf welches diese totale Arbeitsidentität zurückgreifen kann, bzw. welches sein Unterlaufen, den Widerstand dagegen ermöglicht. Die hier angerufenen Leser und Zuschauerinnen sind keine willenlosen Opfer. Ihre Wünsche und Utopien von Selbstverwaltung, Glück oder Autonomie ermöglichen eine Unterwerfung unter den hegemonialen Arbeitsdiskurs, eben weil er diese so scheinbar perfekt integriert. Ihre Wünsche, Utopien und ihr Begehren sind aber auch der Schlüssel dafür, sich mit Diskursen und bebilderten Lebensstrategien von Protagonisten und Protagonistinnen zu identifizieren, die eine Totalität von Arbeit als unvernünftig, unsinnig und für die eigene Lebensplanung untauglich definieren. „Pure Vernunft darf niemals siegen / wir brauchen dringend neue Lügen / Die unsre Schönheit uns erhalten / uns aber tief im Inneren spalten / Vielmehr noch, die uns fragmentieren / Und danach zärtlich uns berühren“ (Tocotronic)
Literatur Atzert, Thomas (2008): Umherschweifende Produzenten. http://www. labournet.de/diskussion/arbeit/Atzert (9.11.2008). Brecht, Bertold (1973): Arbeitsjournal, Frankfurt/M. Bröckling, Ulrich (2002): Das unternehmerische Selbst und seine Geschlechter. Genderkonstruktion in Erfolgsratgebern, in: Leviathan. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Jg 48, Heft 2, 2002, 175194.
8
Für eine gelungene Fragmentierung dieses totalen Arbeitssubjektes beispielhaft Köhler 2007. 333
ASTRID HENNING
Bovenschen, Sylvia (2003): Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt/M. Foltin, Robert (2008): Immaterielle Arbeit, Empire, Multitude. Neue Begrifflichkeiten in der linken Diskussion zu Hardt/Negris Empire, http://www.projektwerkstatt.de/topaktuell/utopie/empire_vorstellunggrundrisse2.pdf (9.11.2008). Foucault, Michel (1983): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt/M. ders. (1989a): Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit, Bd. 2, Frankfurt/M. ders. (1989b): Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit, Bd. 3, Frankfurt/M. Friebe, Holm (2008): Wir nennen es Arbeit. Die digitale Boheme oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung, München. Goettle, Gabriele (2007): Das ewige Lamm. Aus dem Leben eines Ziegenhirten, in: Ullmaier, Johannes (Hg.) (2007): Schicht. Arbeitsreportagen für die Endzeit, Frankfurt/M., 189-212. Gramsci, Antonio (1987): Marxismus und Kultur. Ideologie, Alltag und Literatur, hg. v. Sabine Kebir und mit einem Nachwort von Guiliano Manacorda, Hamburg. Habermas, Jürgen (2001): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M. Hochhuth, Ralf (2003): McKinsey kommt, München. Köhler, Harriet (2007): L’apprenti sorcier. Als Lehrling in der Spitzengastronomie, in: Ullmaier, Johannes (Hg.): Schicht. Arbeitsreportagen für die Endzeit, 164-188. Literaturen (2002): Wem die Arbeit lacht, Heft 2/2002, Berlin. Pieper, Marianne (2003): Regierung der Armen oder die Regierung der Armut als Selbstsorge, in: dies./Gutierrez-Rodriguez, Encarnacion (Hg.): Gouvernementalität. Ein sozialwissenschaftliches Konzept im Anschluss an Foucault, Frankfurt/M./New York, 136-160. dies./Gutierrez-Rodriguez, Encarnacion (Hg.) (2003): Gouvernementalität. Ein sozialwissenschaftliches Konzept im Anschluss an Foucault, Frankfurt/M./New York. Pühl, Katharina (2003): Der Bericht der Hartz-Kommission und die ‚Unternehmerin ihrer selbst‘: Geschlechterverhältnisse, Gouvernementalität und Neoliberalismus, in: Pieper, Marianne/Gutierrez-Rodriguez, Encarnacion (Hg.), 111-135. Zeh, Juli (2007): Joe Happy, in: Ullmaier, Johannes (Hg.): Schicht. Arbeitsreportagen für die Endzeit, 1-23. 334
P OLITIK
Essay: Soll ma n erkenne n, was die Welt im Innersten zusammenhält? – Ein 100. Ge burtsta g, die Vera ntwortung der Naturwis se nsc haft und Promovieren 2008 TORSTEN STEIDTEN
Vorbemerkungen Die Ethik der Wissenschaft war schon in der Antike Thema, wie der bekannte Eid des Hippokrates für die Ärzte belegt. Auch wenn dieser heute nicht mehr in Gänze aktuell ist, finden sich doch Teile darin, die noch heute Gültigkeit besitzen (wie das Gebot, Kranken nicht zu schaden) und durchaus auf andere Disziplinen übertragbar sind. Wenn man sich mit der Geschichte der Forschung beschäftigt, tauchen immer wieder ganz bestimmte Fragen auf, Fragen, die mich zum Teil schon seit dem Studium beschäftigen: • Worin besteht die Verantwortung der Wissenschaftlerin/des Wissenschaftlers für die Gesellschaft und wie nimmt sie/er diese wahr? • Wo und wie entstehen Konflikte zwischen Wissenschaft und Obrigkeit oder herrschender Religion und wie werden diese gelöst? • Wie steht es um die Verwertbarkeit von Wissen? • Welche gesellschaftlichen Bedingungen existieren für die Wissenschaft? Auch in der Literatur wurde diese Thematik wiederholt aufgegriffen – erinnert sei hier nur an Bertolt Brecht und sein 1938 entstandenes Theaterstück Leben des Galilei. Anlass für den Autor, gerade 2008 hierauf 337
TORSTEN STEIDTEN
einzugehen, waren zunächst einmal zwei Jubiläen in diesem Jahr – der 150. Geburtstag von Max Planck und der 100. Geburtstag von Edward Teller. Hinzu kommt, dass das Jahr 2008 in der Bundesrepublik auf Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der Wissenschaftsjahre zum Jahr der Mathematik erklärt worden ist.
Anmerkungen zu Max Planck Max Planck wurde 1858 als Sohn eines Rechtsprofessors geboren – diese Herkunft mag ein Teil der Erklärung für sein späteres Agieren sein – und zeigte übrigens großes Talent u. a. auch für Musik. Nach dem Abitur studierte er Mathematik und Physik. Bereits 1889 erhielt er einen Lehrstuhl in Berlin, 1894 wurde er in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Bekanntheit erlangte er nicht zuletzt durch die Begründung der Quantentheorie. 1912 wurde Planck ‚beständiger Sekretär‘ der Akademie, 1919 erhielt er den Physik-Nobelpreis (für das Jahr 1918). In der Weimarer Republik war er dann vor allem in der Forschungsorganisation tätig, ab 1930 an der Spitze der Kaiser-WilhelmGesellschaft. Nach Kriegsende setzte er sich für deren Neuaufbau ein. Am 11.9.1946 erfolgte die Neugründung als Max-Planck-Gesellschaft, am 4.10.1947 starb Max Planck in Göttingen. Von Interesse für das hier betrachtete Thema sind einige politische Aktivitäten. So war er 1914 Mitunterzeichner des ‚Aufrufs an die Kulturwelt‘, mit dem sich am 4. Oktober in Deutschland 93 Intellektuelle zu Wort meldeten und mit der deutschen Kriegsführung solidarisierten – von Karl Kraus wurde dies später als „geistiger Kriegsbeginn“ bezeichnet (DLR Berlin 2004). 1933 schrieb Planck in einem Brief an das Reichsinnenministerium, die (Kaiser-Wilhelm-)Gesellschaft beabsichtige, „sich systematisch in den Dienst des Reiches hinsichtlich der rassenhygienischen Forschung zu stellen“ (nach Monning 2008), im Mai 1933 traf er sich mit Adolf Hitler. Albert Einstein meinte einmal, Planck verstehe „von der Politik soviel wie die Katze vom Vaterunser“ (nach Koch 2008b). Bezeichnend für die deutsche Wissenschaftsentwicklung ist leider, dass die diesbezügliche Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft – wie viele andere Aspekte – lange nicht aufgearbeitet worden ist. Erst 1997 (1996 war die MPG 50 Jahre alt geworden) wurde die Präsidentenkommission ‚Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus‘ eingesetzt, die dann bis zum 31.12.2005 arbeitete. 2008 erschien als ein Ergebnis dieser Forschungstätigkeit der Band Schicksale 338
SOLL MAN ERKENNEN, WAS DIE WELT IM INNERSTEN ZUSAMMENHÄLT?
und Karrieren. Gedenkbuch für die von den Nationalsozialisten aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vertriebenen Forscherinnen und Forscher (Rürup et al. 2008).
Edward Teller Edward Teller wurde am 15.1.1908 als Sohn eines jüdischen Anwalts in Budapest geboren. Ab 1926 studierte er Chemieingenieurwesen in Karlsruhe und ab 1928 Physik in München. 1930 promovierte Teller bei dem Physiker (und Nobelpreisträger 1932) Werner Heisenberg in Leipzig. Anschließend forschte er an der Universität Göttingen und publizierte an verschiedenen Universitäten Arbeiten über Quantenmechanik. 1934 emigrierte Teller nach Dänemark. Dort arbeitete er bei dem dänischen Physiker Niels Bohr (Nobelpreisträger 1922), und er begegnete George Gamow, einem der Begründer der Theorie des Urknalls und des sich ausdehnenden Weltalls. Nach kurzer Tätigkeit in London wurde Teller schließlich 1935 Physikprofessor an der George Washington University. Seit 1941 ‚naturalized U.S. citizen‘ wurde er 1942 von Robert Oppenheimer, einem deutschstämmigen US-amerikanischen Physiker, in das Atombombenprojekt der USA integriert, auf das im nächsten Abschnitt etwas näher eingegangen werden soll.
Exkurs: Das ‚Manhattan-Projekt‘ 1938 entdeckte Otto Hahn die Kernspaltung. Aufgrund der zunehmend aggressiven Politik Hitlerdeutschlands gab es unter den Physikern große Befürchtungen, dass die Nationalsozialisten diese militärisch nutzen könnten. U. a. auf Drängen Tellers wurde daher am 2.8.1939 von Albert Einstein und dem Physiker und Molekularbiologen Leo Szilard ein Brief an den damaligen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt gesandt, in dem auf diese Gefahr hingewiesen wurde. 1941 kam es zu einem Gespräch zwischen Werner Heisenberg (der in Deutschland geblieben war und dann von 1942 bis 1945 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in BerlinDahlem leitete) und Niels Bohr in Kopenhagen. Heisenberg sagte hierzu später: „Bohr […] nahm offensichtlich an, ich wolle ihm zu verstehen geben, daß Deutschland auf dem Wege zur Herstellung von Atomwaffen große Fortschritte gemacht habe“ (Zitat nach Hermann 1976, 69). Nach ersten Vorarbeiten u. a. mit dem italienischen Physiker Enrico Fermi in Chicago wurde 1942 ein Forschungssommer durch J. Robert Oppenheimer in Berkeley durchgeführt. Die eigentlichen Arbeiten innerhalb des als ‚Manhattan-Projekt‘ unheilvoll bekannt gewordenen US339
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amerikanischen Atombombenprogramms fanden unter Leitung Oppenheimers bei Los Alamos statt; zeitweilig waren über 100.000 Menschen daran beteiligt. Am 16.7.1945 fand der ‚Trinity-Test‘ in Alamogordo statt, es folgte am 6.8.1945 der erste Atombombeneinsatz über Hiroshima. Einige Reaktionen hierauf bedürfen keines Kommentars: USPräsident Truman sprach vom „größten Tag in der Geschichte“ (zitiert nach Dambeck 2005), für Max von der Laue war es die „glänzende Bestätigung einer kühnen, von der Überzeugung der objektiven Wahrheit der Physik getragenen Vorhersage“ (zitiert nach Geisler 1995). Von Oppenheimer ist folgender Satz überliefert: „Es war technologisch so süß.“ (Ebd.) Am 9.8.1945 wurde auch Nagasaki durch eine Atombombe ausgelöscht. Insgesamt forderten die beiden Abwürfe bereits bis 1950 rund 350.000 Tote, und noch immer sterben Menschen an den Spätfolgen… Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zogen hieraus deutliche Konsequenzen, andere Menschen blieben leider unbeeindruckt. Bekannt geworden als Russell-Einstein-Manifest ist die gemeinsame Erklärung von Albert Einstein und dem Philosophen Bertrand Russell am 9.7.1955: „Die breite Öffentlichkeit, ja sogar viele Personen in verantwortlichen Positionen haben nicht begriffen, was in einem Krieg mit nuklearen Bomben auf dem Spiele steht“ (Einstein/Russell 1955). An dieser Stelle soll ganz kurz auf die Rolle der Mathematik eingegangen werden. Nachdem die Mathematikerinnen und Mathematiker sich lange als neutral betrachtet hatten – was sie real in Bezug auf die Nutzung ihrer Erkenntnisse auch früher schon nicht immer waren –, kam es während des 2. Weltkriegs erstmals zur systematischen Nutzung neuester mathematischer Ideen für militärische Anwendungen. Bekannt geworden ist die Entschlüsselung der Codierung für die in der deutschen U-Boot-Flotte eingesetzte Chiffriermaschine Enigma. Am ManhattanProjekt waren ebenfalls Mathematikerinnen und Mathematiker beteiligt, anfangs im Übrigen vor allem Frauen. U. a. ging es um Berechnungen zur ‚inneren Ballistik‘ der Atombombe und um die Auswahl der Abwurfplätze. Der vielleicht aus der Geschichte der Rechentechnik bekannte John von Neumann arbeitete ab September 1943 in Los Alamos. Im Unterschied zu anderen Physikerinnen und Physikern engagierte sich Edward Teller, der 1946 eine Professur in Chicago erhielt, weiter in der Forschung zu militärischen Zwecken. So gilt er als ‚Vater‘ der am 1.11.1952 erfolgreich getesteten Wasserstoffbombe ‚Mike‘. Mathematiker und Mathematikerinnen, u. a. von Neumann – der im Februar 1957 mit 53 Jahren durch Krebs an den Folgen seiner Forschung zugrunde ging – und vor allem Stanislav Ulam, waren wieder intensiv beteiligt. In der McCarthy-Zeit sagte Teller vor der Atomenergiekommission aus. Er 340
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bewertete Oppenheimer, der sich gegen ein Wettrüsten ausgesprochen hatte, dabei als „Sicherheitsrisiko“ – Heinar Kipphardt verarbeitete den Prozess im 1964 uraufgeführten Schauspiel In der Sache J. Robert Oppenheimer. Edward Teller war Initiator und Mitbegründer des Lawrence Livermore National Laboratory; 1958 bis 1960 war er dessen Direktor und später stellvertretender Direktor. Mehr oder weniger erfolglos blieben u. a. seine Forschungen zur so genannten ‚friedlichen‘ Anwendung von Kernwaffen (PNE, peaceful nuclear explosions). Christa Wolf schreibt in ihrem unmittelbar nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl entstanden Buch Störfall. Nachrichten eine Tages (Wolf 1987) u. a. über die Problematik der Forschungen in Livermore. Als 1981 Ronald Reagan US-Präsident wurde und das Weltraumrüstungsprogramm ‚Strategic Defense Initiative‘ (SDI) verkündete, gehörte Teller zu den ersten Befürwortern, und er warb auch für die Neutronenbombe. 1991 wurde ihm der so genannte ‚Ig-Nobelpreis‘ (engl. ignoble = unwürdig, schäbig, schändlich) für Frieden zuerkannt – für seinen „lebenslangen Einsatz, die Bedeutung des Wortes ‚Frieden‘ zu verändern“. Er blieb auch weiter in der Beratung der US-Regierung in Fragen der atomaren Verteidigung aktiv und erhielt 2003 die ‚Freiheits-Medaille‘ der USA durch Präsident George W. Bush. Am 9.9.2003 starb Teller in Stanford. Edward Teller äußerte einmal in einer Rede: „Ich bin der festen Überzeugung, dass wir Wissenschaftler Wissenschaft treiben müssen. Wir müssen ausfindig machen, was geht und was nicht geht. Die Entscheidungen muss das Volk treffen und besonders die Politiker, die das Volk repräsentieren. Das ist der Sinn der Demokratie. Und wir müssen dem Volke und den Repräsentanten des Volkes, den Politikern, eine Wahl darbieten“ (Teller 1995).
Das Lawrence Livermore National Laboratory verkündete aus Anlass seines 100. Geburtstages 2008: „This year marks the 100th anniversary of his birth, prompting the celebration and reflection of one of the giants of the Golden Age of Physics who was an inspiration for countless researchers“ (Heller 2008, 4). Eine Reihe seiner Kolleginnen und Kollegen dürfte zumindest eine sehr viel differenziertere Einschätzung über den Physiker haben…
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Wissenschaft und Ethik Welche Bedeutung hat das gewählte Thema für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler 2008, vor allem auch für den wissenschaftlichen Nachwuchs und speziell für Promovierende? Verwiesen sei hierzu zunächst auf die eingangs genannten Punkte. Es seien nur einige Gedanken als Anregung zum Nachdenken hinzugefügt: • Bei der (immer stärker zunehmenden) Projektforschung gilt es oftmals abzuwägen zwischen guter Ausstattung und (gewisser) finanzieller Sicherheit einerseits sowie rein kommerzieller Nutzung von Ergebnissen – mit der Gefahr des Missbrauchs – und eventueller Geheimhaltungspflicht andererseits. Initiativen wie ‚Open Access‘ gelingt es hier, erfreulicherweise mit wachsendem Erfolg, gegenzusteuern. • Geldgebende versuchen teilweise, Einfluss auf Forschungsresultate zu nehmen – der bekannte Spruch „Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast“ enthält leider mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. • An Bedeutung gewonnen hat auch die Frage der wissenschaftlichen Ehrlichkeit – so ist unter dem Stichwort ‚Krebsmaus‘ das Fälschen ganzer Versuchsreihen publik geworden, und auch bei der Nennung von (Mit-)Autorinnen und Autoren bei Publikationen gibt es Probleme, die gerade vielen Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern bekannt sein dürften. • Eine ganz andere, hier aber genauso erwähnenswerte Thematik ist die von verschiedenen Seiten geäußerte Befürchtung, dass sich ‚wissenschaftliche Exzellenz‘ aus Zeitgründen nicht mit gesellschaftlichem Engagement vereinbaren lässt – der Autor war an zahlreichen Diskussionen zu dieser Frage beteiligt und hat dabei immer die Auffassung vertreten, dass beides zugleich möglich sein muss.1 • Auch die Wahl des Forschungsgegenstandes kann schon mit Gewissenskonflikten verbunden sein – es seien hier nur die Stichworte Rüstungsforschung und Gentechnologie genannt. Insgesamt muss festgestellt werden, dass das Thema lange Zeit wenig beachtet worden ist – und zum Teil noch immer zu wenig Aufmerksam1
Um die Vereinbarkeit von wissenschaftlicher ‚Exzellenz‘ und gesellschaftlichem Engagement gab es, insbesondere im Kontext der Promotionsförderung und im Zuge der mit dem Bologna-Prozess verbundenen Reformen der Studiengänge, Diskussionen in verschiedenen Gremien der Hans-Böckler-Stiftung und an anderen Stellen, an denen sich der Autor als stipendiatischer Vertreter bzw. als Gewerkschafter beteiligt hat.
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keit findet. Immerhin gibt es in jüngster Zeit einige sehr positive Beispiele. So existiert an der Leibniz Universität Hannover die Zentrale Einrichtung für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik (ZEWW), an der Universität Tübingen ein Interfakultäres Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW). Die Deutsche Sporthochschule Köln bot im Sommersemester 2008 einen Workshop für eingeschriebene Promotionsstudierende zur Wissenschaftsethik an. Im Veranstaltungsverzeichnis hieß es dazu: „Da ‚gute Forschung‘ ohne moralische Qualität nicht auskommt, steht im Mittelpunkt dieses Workshops die Frage nach wissenschaftsethischen Gütekriterien, die exemplarisch in Abgrenzung zu Möglichkeiten und Formen wissenschaftlichen Fehlverhaltens erörtert werden“ (zitiert nach DSHS 2008).
Schlussbemerkungen Ein insgesamt sehr facettenreiches, nach wie vor hochaktuelles Thema konnte hier nur ansatzweise dargestellt werden. Das schon erwähnte Buch Störfall. Nachrichten eines Tages (Wolf 1987) beginnt mit Worten von Carl Sagan (u. a. Astronom und Schriftsteller): „Die Verbindung zwischen Töten und Erfinden hat uns nie verlassen. Beide entstammen dem Ackerbau und der Zivilisation“ (englischer Originaltext: Sagan 1977, 94). Bereits 1933 hatte auch Friedrich Wolf in Professor Mamlock über die Thematik geschrieben. Für den Autor dieses Beitrags steht fest: Die Wissenschaft und damit die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben eine Verantwortung für die Gesellschaft und müssen dieser gerecht werden. Übrigens wird 2009 aus Anlass des Jahres der Astronomie der UNO eine MarmorStatue von Galilei in den vatikanischen Gärten aufgestellt – wohl auch eine verspätete Entschuldigung für das Verhalten der katholischen Kirche gegenüber den Naturwissenschaftlern im Mittelalter… An den Schluss gestellt seien Auszüge aus einem Beitrag des deutschen Physikers Hans-Peter Dürr. Dürr, der 1953 bis 1957 in Berkeley mit Teller gearbeitet und 1956 bei ihm promoviert hatte (1958 bis 1976 war er dann übrigens Mitarbeiter von Werner Heisenberg und 1978 bis 1997 als dessen Nachfolger Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik (Werner-Heisenberg-Institut) in München), äußerte sich wie folgt: „Im Herbst 1953 war damals gerade im Schatten des Oppenheimer-Teller Disputs Edward Teller mit einer großen Schar von Kernphysikern des ManhattanProjekts von Los Alamos nach Kalifornien übergesiedelt, um in Livermoor ein neues Laboratorium für Wasserstoffbomben aufzubauen. Ich hatte selbstver343
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ständlich von diesem Hintergrund keine Ahnung, als ich nach einem geeigneten Doktorvater suchte und ihn in Edward Teller fand, der Anfang der dreißiger Jahre bei Heisenberg promoviert hatte. So sah ich mich intellektuell auf einmal voll mit der prinzipiellen Ambivalenz der Wissenschaft konfrontiert: Ich war ausgezogen, ‚zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält‘, und war dabei notwendig bei der aufregend neuen Atomphysik von Heisenberg, die der Physik einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel beschert hatte, gelandet und wurde nun im Kreise meines neuen Lehrers und meiner Kollegen täglich mehr gewahr, zu welch schrecklicher Massenvernichtungswaffe diese tieferen Einsichten geführt hatten. Und es war nicht nur ich, der darüber erschrak und sich ernsthafte Gedanken darüber machte. Die Universität in Berkeley brodelte damals vor Kraft, Intelligenz und Engagement, die sich auf eine Vielzahl von Themen erstreckten […]. Dürfen wir alles tun, was wir können? fragen sich heute viele angesichts dieser bedrohlichen Entwicklung. Dieses Unbehagen spitzt sich bei manchen in der Forderung zu, dass den Forschern künftig ihr Handwerk gelegt werden müsse, um der Menschheit eine Überlebenschance zu geben. Sie sehen den Naturwissenschaftler in der Situation des Zauberlehrlings, der die Geister, die er rief, nun nicht mehr bändigen kann. Diese Vorstellung hat einen wahren Kern. Sie charakterisiert aber die Lage der Naturwissenschaftler nur ungenügend, da die meisten von ihnen es gar nicht als ihre Aufgabe ansehen, die von ihnen entfesselten Kräfte selbst zu bändigen. Ihre Aufgabe, so meinen sie in ihrer ‚Bescheidenheit‘, war ja nur zu rufen, die Bändigung muss den Menschen in ihrer Gesamtheit gelingen und den von ihnen beauftragten Vertretern, den Politikern, überlassen bleiben. Edward Teller hat diesen Standpunkt immer stark vertreten und auch die Meinung, dass wir trotz aller Gefahren alles tun müssen, was wir können, und dies sogar so schnell wie möglich, um keinen anderen zuvorkommen zu lassen. Hierbei hat er implizit immer angenommen, dass die Schnelleren auch die Besseren und diese selbstverständlich die USA sind. Eine noble Zurückhaltung führt, so meinte er, wegen der immer schwelenden Gefahr des Ausbrechens nur zu Instabilität. Ich bin hier dezidiert anderer Meinung. Seine Vermutung mag ohne zusätzliche Stabilisierungsmaßnahmen richtig sein. Doch warum sollten wir auf solche verzichten? Auch menschliches Zusammenleben ist in hohem Grade ein Plus-Summenspiel und benötigt dieses als notwendige Grundlage. Andererseits ist doch auch offensichtlich, dass dieser von Teller als unvermeidlich angenommene unerbittliche Wettlauf zu einer Eskalation und damit zu einem nicht minder gefährlichen, instabilen ‚Gleichgewicht des Schreckens‘ führt“ (Dürr 1995).
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SOLL MAN ERKENNEN, WAS DIE WELT IM INNERSTEN ZUSAMMENHÄLT?
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Die theoretischen Grundlagen der Standortdebatte MARTIN SAUBER
Die Diskussion über die internationale Wettbewerbsfähigkeit, auch bekannt als die ‚Standortdebatte‘, erscheint regelmäßig auf der politischen Tagesordnung und in den Medien.1 In Deutschland wird ab 2001 unter dem Motto ‚Schlusslicht Deutschland‘ die schlechte Wettbewerbsfähigkeit des Standortes beklagt und ‚Modernisierung‘ ist nun das Stichwort der Reformen. Im Prinzip wird die Doktrin des ‚Gürtel enger Schnallens‘ und ‚Nicht über die Verhältnisse Lebens‘ weitergeführt. Um die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands weiter zu steigern, wurden im Jahre 2008 erneut die Unternehmenssteuern gesenkt. Die Standortdebatte ist ein prägnantes Beispiel dafür, wie eng teilweise der Zusammenhang von Wissenschaft und Politik ist, wie mit wissenschaftlichen Analysen politische Entscheidungen begründet werden. Sie ist jedoch zudem ein Beispiel dafür, wie wissenschaftliche Aussagen in der Sphäre der Politik nicht mehr überprüft werden, wie sie ihre Umstrittenheit verlieren, sind sie einmal aus dem wissenschaftlichen Diskurs herausgelöst. Widersprüche, Grenzen, Ungereimtheiten der jeweiligen Theorien verschwinden hinter der Funktion zur Legitimierung politischer Forderungen, konkurrierende Ansätze – selbst wenn sie präzisere Erklärungen für die untersuchten Phänomene bieten – werden ausgeblendet. 1
In deutschsprachigen Printmedien wurde der Begriff „internationale Wettbewerbsfähigkeit“ in den letzten Jahren immer häufiger verwendet. In wissenschaftlichen Arbeiten dagegen ist die Verwendung „internationale Wettbewerbsfähigkeit“ seit dem Jahr 2000 rückläufig. Eine empirische Übersicht hierzu bei Heilemann et al. 2006, 14. 347
MARTIN SAUBER
Dies ist besonders ausgeprägt, wenn es um ökonomische Analysen geht, da diese allgemein unübersichtlich und schwer verständlich scheinen. Entsprechend groß ist die Autorität wissenschaftlicher Argumente im Feld der Ökonomie – und es ist erstaunlich, wie einheitlich die Wirtschaftswissenschaften im politischen Diskurs erscheinen. In diesem Beitrag werde ich den Prozess von Wissensproduktion und -umsetzung in der Debatte um die internationale Wettbewerbsfähigkeit aufarbeiten. Hierzu werde ich zunächst auf einige Annahmen zur Ursache der weiten Verbreitung und großen Beliebtheit der standortorientierten Methoden eingehen, und dann vor allem die in der Debatte präsenten verschiedenartigen theoretischen Ansätze in ihren Unterschieden, Indikatoren und paradigmatischen Grundlagen darstellen. Daraufhin, einen Schritt hinab vom Elfenbeinturm, erfolgt eine Verdeutlichung der politischen Konsequenzen der Ansätze anhand der Beispiele Arbeitslosigkeit und Unternehmenssteuern. Abschließend werden im Kontrast zu den betriebswirtschaftlichen Folgerungen politische Alternativen für eine gewerkschaftliche Perspektive angeführt sowie wirtschaftspolitische und methodologische Konsequenzen dargestellt.
Erklärungsansätze zur Popularität der Standortkonkurrenz-Ansätze Wolfgang Schoeller beobachtet seit Ende der 1970er Jahre eine Zunahme mikroökonomischer und betriebswirtschaftlicher Analysen außenwirtschaftlicher Probleme und somit eine verstärkte Diskussion um die Standortkonkurrenz (Schoeller 2006, 9). Als Erklärung hierfür können vier wesentliche Aspekte genannt werden. Erstens: Die gesetzlichen und technischen Rahmenbedingungen (Liberalisierung, Informations- und Kommunikationstechnologie) haben sich geändert, so dass die Mobilität von Kapital tatsächlich zugenommen hat. Der wirtschaftliche Strukturwandel wird dadurch sicherlich beeinflusst und wird in gewissen Bereichen soziale Kosten mit sich bringen. Zudem wächst in vielen industrialisierten Ländern zeitgleich die Arbeitslosigkeit und es entstehen globale Außenhandelsungleichgewichte. Deshalb besteht ein grundsätzlicher Bedarf an wissenschaftlichen Methoden zur Erklärung dieser ökonomischen und sozialen Phänomene. Zweitens: Seit den 1970ern fanden neoliberale Ideologien immer mehr Anhänger. Die theoretische Fundierung liegt in der neoklassischen Schule, welche, vor allem in Deutschland, vorherrschend ist (Heise 2007; Schoeller 2006, 4). Selbst innerhalb der Deutschen Gewerkschaften fand die Neoklassik immer mehr Akzeptanz. Die in den 1970er 348
DIE THEORETSICHEN GRUNDLAGEN DER STANDORTDEBATTE
Jahren vorherrschende Kaufkrafttheorie des Lohnes wurde durch eine ‚Solidaritätstheorie‘ abgelöst. Indem man Lohneinbußen und eine funktionale Umverteilung zu Lasten der Arbeit hinnehme, glaubt man, die Beschäftigung erhöhen zu können (Flassbeck/Spiecker 2000). Auch die Rot-Grüne Bundesregierung folgte mit der Agenda 2010 dieser Logik (Hein et al. 2003, 331). Das politisch neoliberale und wissenschaftlich neoklassische Paradigma trug maßgeblich dazu bei, dass makroökonomische Außenhandelstheorien durch mikroökonomische Standortdebatten verdrängt wurden. Drittens: Nach Paul Krugman ist internationale Standortkonkurrenz bei Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, deshalb so beliebt, weil z. B. Autorinnen oder Autoren und Journalistinnen oder Journalisten ihre Texte populistisch und werbewirksam gestalten, reißerische Überschriften finden und mit vielen Metaphern arbeiten. Geschäftsleute lassen sich gerne davon überzeugen, da es sie glauben lässt, dass sie etwas von der Thematik verstünden (Krugman 1994).2 Zudem lässt sich mit der Erstellung von Rankings und Ratings Geld verdienen, ohne für die Konsequenzen zu haften oder bestimmten Zertifizierungsvorschriften folgen zu müssen (Heilemann et al. 2007). Diesem Verhalten kommt zu Gute, dass es keine eindeutige Definition von internationaler Wettbewerbsfähigkeit gibt (Trabold 1995, 169). Viertens: Standortkonkurrenz ist ein geeignetes politisches Hilfsmittel (Krugman 1994), um über die Diskussion interessengeleitete Ziele zu verfolgen (Ahlers et al. 2007, 36; Trabold 1995, 182). Für die Gegner politischer Regulation sind Kapitalmobilität und Standortkonkurrenz willkommene Argumente (Apolte 1999). Durch die Betonung von Standortkonkurrenz lässt sich scheinbar die Komplexität der Realität reduzieren. Im Verhältnis z. B. von der Bestimmung der Arbeitsproduktivität lässt sich das Problem und die Lösung von Standortkonkurrenz einfach beschreiben (Krugman 1994). Die Politik macht die Globalisierung für die Arbeitslosigkeit verantwortlich (Ahlers et al. 2007, 36) und mittels Untergangsszenarien wird versucht, sich Zustimmung für ihre Agenda zu beschaffen (Rau 2004)3. Lösungsvorschläge und politische Unter2
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Ahlers et al. (2007, 48) verweisen hinsichtlich der Standortdebatte in Nordamerika auf Parallelen zu der emotionalen Diskussion über die Wirtschaftsentwicklung Japans, die NAFTA und die WTO Uruguay Handelsrunde. „Untergangsszenarien und Apokalypsen sind ja eigentlich Mittel von politischen Außenseitern, die gesellschaftliche Veränderungen erzwingen wollen. Heute kommen solche Beschreibungen oft auch von Verantwortlichen aus der Mitte von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Das Ziel ist das Gleiche: Untergangsszenarien sollen mithelfen, bestimmte Ziele durchzusetzen und dafür Mehrheiten zu gewinnen.“ (Rau 2004) 349
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stützung kommen passend und wie abgestimmt von Seiten der Unternehmen, wenn es gilt, das Kapital zu entlasten (Heise et al. 2000, 340; Flassbeck 2007). Mit der Drohung, Arbeitsplätze abzubauen, üben sie so gleichzeitig politischen Druck auf die Beschäftigten aus und erzielen damit Arbeitszeiterhöhungen, Lohnsenkungen oder anderweitige Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen (Ahlers et al. 2007, 36, 59). Außerdem unterstützen die neoklassischen Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler die liberalen politischen Vorschläge selbst dann, wenn deren zugrunde liegende Studien dies wissenschaftlich nicht rechtfertigen. So werden theoretische Annahmen zu normativen Aussagen gemacht. Politikempfehlungen werden hier rein aus den neoklassischen Annahmen abgeleitet, um die Realität den nicht gegebenen Axiomen anzupassen. So kommen beispielsweise Ralf Fendel und Michael Frenkel nach einer Untersuchung von verschiedenen Standortrankings zu folgendem Ergebnis: „Trotz ihrer Unzulänglichkeiten sind Studien zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit als sinnvoll zu erachten. Die Chancen, damit gerade in Deutschland eine konstruktive Diskussion hinsichtlich Politikoptionen auszulösen und dabei vielleicht von alternativen Modellen zu lernen, sind größer, als die Risiken solcher Studien“ (Fendel/Frenkel 2005). Durch die interessengeleitete Diskussion in Wirtschaft und Politik erscheinen mikroökonomische Standortdebatten als unbezweifelbar und notwendig, wobei alternative makroökonomische Ansätze diskreditiert werden (Hein et al. 2003).
Theoretische Grundannahmen zu „ i n t e r n a t i o n a l e r W e t t b ew e r b s f ä h i g k e i t “ : ability to sell, ability to earn, ability to attract und ability to adjust Der einzige Konsens in der aktuellen Wettbewerbsdebatte ist, dass es keine allgemein anerkannte Bewertung der zu verwendenden Methoden oder Konzepte gibt (Bofinger 1995, 467). Mehrheitlich werden aber, neben betriebwirtschaftlichen Theorien zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, auf die ich nachstehend eingehe, die folgenden vier unterschiedlichen Ansätze dargestellt, die kurz als ability to sell, ability to earn, ability to attract und ability to adjust bezeichnet werden. Der ability to sell-Ansatz ist ein außenhandelstheoretischer Ansatz, der die Außenwirtschaftsposition des Wirtschaftsstandortes ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Im Kern wird untersucht, ob die Unterneh350
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men eines Landes Produkte auf dem Weltmarkt aufgrund einer preislichen oder nichtpreislichen Wettbewerbsfähigkeit anbieten können. Als Indikatoren für eine preisliche Wettbewerbsfähigkeit gelten der Leistungsbilanzsaldo und der reale Wechselkurs. Der reale Wechselkurs beinhaltet zum einen den nominalen Wechselkurs (Tauschverhältnis zweier Währungen) und zum anderen die Preisniveaus bzw. die nominalen Lohnstückkosten der zu vergleichenden Länder. Die Berechnung des realen Wechselkurses erfolgt meist auf Basis von nominalen Lohnstückkosten. Sie werden als Quotient aus den Lohnkosten (je Beschäftigtem) dividiert durch die Produktivität (je Beschäftigtem) berechnet (Fritsche et al. 2005, 54). Die Aussagekraft der nominalen Lohnkosten hinsichtlich Wettbewerbsfähigkeit beruht auf dem Argument, dass Unternehmen die Preise erhöhen, wenn die Löhne stärker wachsen als die Produktivität. Die Preiserhöhnung reduziert ceteris paribus die preisliche Wettbewerbsfähigkeit. Auch die Veränderung des nominalen Wechselkurses wirkt sich auf die Preise der im Inland produzierten Güter aus, wenn sie in einem anderen Währungsraum verkauft werden sollen (Mitschke 2000; Trabold 1995, 170; Fritsche et al. 2005, 54). Die Leistungsbilanz umfasst die Handels- und Dienstleistungsbilanz. Sie wird als ein Maßstab für die Wettbewerbsfähigkeit verwendet, da in ihr die internationalen Güterströme (Waren und Dienstleistungen) als Exporte und Importe verbucht werden. Bei hoher Wettbewerbsfähigkeit ist die Nachfrage aus dem Ausland groß. Übersteigen die Güterexporte die Güterimporte, ist die Handels- und Dienstleistungsbilanz positiv. Je größer die Exporte und je kleiner die Importe, desto positiver die Leistungsbilanz. Bei einer Leistungsbilanz von Null wird von einem ausgeglichenen Außenbeitrag gesprochen. Dies wird oft als ein Anzeichen für ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht verwendet. Im Gegensatz dazu hält z. B. Harald Trabold (1995) den Leistungsbilanzsaldo gerade wegen der Vielzahl an Einflüssen zur Messung von Wettbewerbsfähigkeit für inadäquat. Denn zum einen spiegeln sich konjunkturelle Einflüsse in der Leistungsbilanz. Sinkt das Einkommen im Inland relativ zum Ausland, werden dessen Nachfrage und Importe zurückgehen und so die Leistungsbilanz verbessern. Eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit hat jedoch nicht stattgefunden. Zum anderen führt eine reale Abwertung zu einer Leistungsbilanzverbesserung. Sie wird über Zinsdifferenzen, Kapitaltransfers und nominale Wechselkurse oder Preisniveaustabilisierung herbeigeführt. ‚Inflationsbekämpfung‘ und Zinspolitik finden daher auch im Leistungsbilanzsaldo einen Ausdruck. Schließlich ist ein Leistungsbilanzdefizit gleich der Summe aus Budgetdefizit und Nettoersparnis, und da die Kausalität zwischen diesen 351
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beiden Größen nicht einseitig und das Sparverhalten und Staatsbudget kein reines Residuum ist, wird die Leistungsbilanz zu sehr von den makroökonomischen Aggregaten bestimmt, so Trabold (1995, 170). Diese Argumentation ist jedoch auch nicht befriedigend. Die saldenmechanischen Gleichungen der Zahlungsbilanz4 beruhen auf reinen expost Identitäten. D. h., im Nachhinein muss einem Defizit in der Leistungsbilanz ein Überschuss in der Kapitalbilanz gegenüberstehen. So kann nach Ablauf einer Wirtschaftsperiode festgestellt werden, dass die Höhe des Staatsdefizits sich mechanisch im Wert des Nettoimports widerspiegelt. Für die Annahme, dass dies auch der ökonomische Wirkungsmechanismus sei, fehlt jedoch jegliche Erklärung, wie die Staatsausgaben im Zusammenwirken mit den Haushalten und Unternehmen über mehrere Perioden tatsächlich auf die Leistungsbilanz wirken. Dies ist eine theoretische Problematik, welche bisher ungelöst ist. Beim ability to sell-Ansatz geht es im Kern um die Fähigkeit eines Landes, seine Importe durch Exporte finanzieren zu können. Es werden in Folge dessen nicht nur „unternehmensspezifische Faktoren und produktbezogene Nachfragebedingungen“ als Ursache (preislicher) Wettbewerbsfähigkeit herangezogen, sondern auch die relevanten makroökonomischen Größen wie Preisniveau und nominaler Wechselkurs. Hinsichtlich der mikroökonomischen Bestandteile wird zudem die relative Bedeutung der absoluten Lohnkosten deutlich. Denn nur im Zusammenhang mit der Arbeitsproduktivität und nach Umrechnung in eine einheitliche Währung lassen sich Aussagen über die preisliche Wettbewerbsfähigkeit treffen (Heise et al. 2000, 340; Fendel/Frenkel 2005; Mitschke 2000). Eine ausgeglichene Handelsbilanz oder ein Außenhandelsüberschuss ist jedoch nicht unbedingt ein Zeichen für eine starke Wirtschaft. Deshalb mag, wie Krugman (1994) richtig feststellte, ein Land vielleicht mit einer bestimmten außenwirtschaftlichen Situation glücklich oder unglücklich sein, aber eine erfolgreiche Wirtschaft kann sowohl einen Netto-Export als auch -Import aufweisen. Zudem ist die Produktion für den ausländischen Markt im Verhältnis zur gesamten Wirtschaft, und somit die internationale Abhängigkeit, gar nicht so groß, wie oftmals dargestellt. Der Wert der Exporte im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt von entwickelten großen Ländern oder Regionen (z. B. USA, Japan, EU) beträgt gewöhnlich nur 10%. Daher wird der Lebensstandard in einem Land maßgeblich durch nationale Faktoren beeinflusst (Krugman 1994). 4
Identitätsgleichung der Leistungsbilanz (ohne Transfers): X-M = (S-I) + (T-G); X = Exporte, M = Importe, S-I = Saldo der Ersparnisse und Investitionen des privaten Sektors, T-G = Budgetsaldo des Staates.
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Vor diesem Hintergrund wird die zweite theoretische Grundannahme, das so genannte ability to earn, für die Beurteilung der Wettbewerbsfähigkeit herangezogen. Das Konzept des ability to earn basiert auf Indikatoren, welche die außenwirtschaftliche Situation nicht direkt berücksichtigen. Im Mittelpunkt steht das Realeinkommen des Wirtschaftsstandortes, und als relevante Größen gelten das Pro-Kopf-Einkommen und die Produktivität (Mitschke 2000). Kombiniert man z. B. die Arbeitslosenquote, als Indikator für die Auslastung des Faktors Arbeit, mit der Produktivität, als Effizienzkriterium, lässt sich die Leistungsfähigkeit einer Wirtschaft international vergleichen (Heise et al. 2000, 340; Apolte 1999). Eine Erklärung der Höhe und Entwicklung der Realeinkommen liefert dieser Ansatz jedoch nicht. Er gewinnt aber gerade dann an Aussagekraft, wenn auch die Ursache des Wohlstandes berücksichtigt wird. Das Realeinkommen hat eine unterschiedliche Qualität, je nachdem, ob es aus Invention und Innovation oder Rohstoffen kommt. Bereits Friedrich List betonte diese Unterscheidung von Wohlstand: „Die Kraft Reichtümer zu schaffen ist demnach unendlich wichtiger, als der Reichtum selbst; sie verbürgt nicht nur den Besitz und die Vermehrung des Erworbenen, sondern auch den Ersatz des Verlorenen.“ (List 1841, 173; zitiert in Trabold 1995, 179) Für den internationalen Vergleich, vor allem zwischen Ländern mit unterschiedlichem Entwicklungsstand, ist das ability to earn-Konzept eine sinnvolle Ergänzung. Die ability to sell-Methode lässt keine absolute Beurteilung von gleichgewichtigen oder normativ wünschenswerten Wechselkursen zu. Im Gegensatz dazu können wirtschaftliche Nachholprozesse und merkantilistische Politik mit ability to earn berücksichtigt werden. In der Standortdebatte bilden jedoch vor allem diejenigen Konzepte die theoretischen Grundlagen, die den Wettbewerb über den Zufluss von Kapital in das Zentrum ihrer Untersuchung stellen (Trabold 1995). Entsprechend steht beim ability to attract-Ansatz der internationale Wettbewerb des immobilen Faktors Arbeit um das mobile Kapital im Mittelpunkt (Apolte, 1999). Ein Wettbewerbsvorteil eines Landes besteht demnach darin, möglichst viel Kapital importieren zu können. Als Beleg für Wettbewerbsfähigkeit gilt ein Nettozufluss an ausländischen Direktinvestitionen (Mitschke 2000; Heilemann et al. 2006). Die Ursachen und primären Faktoren für diese Attraktivität eines Wirtschaftsstandorts werden jedoch sehr unterschiedlich erklärt. Die neoklassische Schule bspw. diskutiert die Auswirkungen gestiegener Kapitalmobilität als Ergebnis der Integration von Entwicklungsländern in den Weltmarkt. Diese erhöhe die relative Knappheit von Kapital. Aufgrund der hohen Löhne in den Industriestaaten fließt das Kapital in die ertragreichen Ent353
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wicklungsländer. Die Reduzierung der Investitionen in den Industrieländern führe dort schließlich zu Arbeitslosigkeit, welche nur durch Lohnsenkungen vermieden werden könne (Flassbeck 2007). In der Presse wird die Kapitalmobilität meist als Kapitalflucht oder „Exit-Option“ bezeichnet und als Ursache für die Arbeitslosigkeit ausgemacht. Wie sich Direktinvestitionen auf die Beschäftigung auswirken, ist jedoch vom Motiv abhängig. Da für Unternehmen in Deutschland die Markterschließung das zentrale Argument ist, hat dieser Kapitaltransfer, zumindest Netto, keinen Abbau von Arbeitsplätzen zur Folge. Die internationalen Fusionen von Konzernen müssen differenziert betrachtet werden. Eine schlechte internationale Wettbewerbsposition Deutschlands kann daraus aber auch nicht abgeleitet werden (Heise et al. 2000, 340; Ahlers et al. 2007, 75; Flassbeck 1992a).5 Aus der Betriebsrätebefragung des Wirtschaft- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) aus dem Jahr 2005 geht hervor, dass solche Unternehmen verlagerten, welche sich in einer wirtschaftlich guten Position befanden. Deshalb ist eine Standortverlagerung nicht einmal aus betriebswirtschaftlicher Sicht ein geeigneter Indikator für mangelnde Wettbewerbsfähigkeit (Schäfer 2005). Ob ein positiver oder negativer Saldo eine Standortstärke anzeigt, bleibt unklar. Schließlich gehen Nettoauslandsinvestitionen in der Leistungsbilanz mit Exportüberschüssen einher und sprechen in diesem Fall für eine gute Wettbewerbsposition (Trabold 1995, 177; SVR 2004, 349). Für den ability to attract-Ansatz gibt es zudem weder eine valide empirische Untermauerung noch eine Falsifikation. Denn hinsichtlich der Beschäftigungswirkung von Unternehmensrestrukturierungen wird weder eine öffentliche Statistik geführt, noch existieren nationale oder internationale repräsentative Statistiken oder Indikatoren. In der Regel vertrauen Untersuchungen zur Standortverlagerung auf Prognosen und Schätzungen, welche aber angesichts der theoretischen und empirischen Probleme der Indikatoren nicht zu überprüfen sind. Die öffentliche Diskussion beschränkt sich zudem weitgehend auf Kosten- und, im Besonderen, auf Lohnkostenaspekte (Ahlers et al. 2007, 42, 75). Deshalb sind die politischen Entscheidungen, welche sich auf den ability to attractAnsatz berufen, alleine schon wegen der vagen Datenlage unzuverlässig. Es sei denn, man betrachtet Unternehmensverlagerung als einen in einer Marktwirtschaft gängigen Strukturwandel und möchte die wirtschaftli5
Da die Zahlungsbilanz auf Stromgrößen basiert, liefert sie keine Aussage über den Bestand an Direktinvestitionsvermögen im Ausland. Aus der Kapitalverflechtungsstatistik ergibt sich, dass 2002 93,3% des deutschen Direktinvestitionsvermögens in EU-Ländern und anderen Industrieländern investiert wurde (SVR 2004, 367, 380).
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chen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gestalten, anstatt auf heilende Marktkräfte zu vertrauen (ebd., 36, 69). In einem solchen Fall wird die Anpassungsfähigkeit eines Wirtschaftsstandortes zum wichtigen Kriterium, wie dies beim ability to adjust-Ansatz der Fall ist. Ähnlich wie der ability to earn-Ansatz definiert dieser als normatives Ziel im internationalen Wettbewerb einen möglichst hohen Lebensstandard und ein großes Realeinkommen. Die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes sei demnach um so größer, je schneller und effizienter sich eine Volkswirtschaft anpassen kann. Im Gegensatz zum ability to earn-Ansatz steht hierbei das konkrete Umfeld von Unternehmen als produktivitätsbestimmend im Zentrum der Untersuchung (Mitschke 2000). Mit dem Blick auf ability to adjust können somit die produktivitäts- und wohlstandsbestimmenden Faktoren analysiert werden. Welche makro- und mikroökonomischen Faktoren im Unternehmerumfeld als Produkt- und Prozessinnovation bestimmend angesehen werden, wird jedoch je nach ökonomischer und politischer Überzeugung und empirischer Messbarkeit und daher ohne konsistente Prinzipien oder Theorien ausgewählt. Für die Analyse werden Daten z. B. über Infrastruktur, Abgaben, Qualität des Bildungssystems, Innovationstätigkeit, Innovationsfähigkeit, Außenhandel, ausländische Direktinvestitionen und Steuern verwendet (Fendel/Frenkel 2005). Die Datengrundlage der Studien ist somit subjektiv und wenig transparent. Das Ergebnis des ability to adjust-Konzeptes ist gewöhnlich eine Länder- oder Standortrangliste. Die Rankings hängen jeweils stark von der Indikatorwahl ab. Bekannt sind z. B. die Studien des International Institute for Management Development (IMD, Lausanne), der Bertelsmann-Stiftung (Gütersloh) und des World Economic Forums (WEF, Genf) (Fendel/Frenkel 2005; Heilemann et al. 2006).6 Hinsichtlich eines internationalen Vergleichs kommt einschränkend hinzu, dass die Indikatoren aufgrund länderspezifischer institutioneller Rahmenbedingungen, wirtschaftsstruktureller Faktoren7 und konjunktureller Situation unterschiedlich auf die Wettbewerbsfähigkeit wirken. Selbst ein intertemporärer Vergleich ist aufgrund von Inkonsistenz in der Methodenwahl und den statistischen Grundlagen unzuverlässig. Politische Empfehlungen können somit auch nur Aspekte betreffen, welche bereits a priori als Indikator festgelegt wurden. Dies ermöglicht den He6
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Hinsichtlich der Studien siehe: Institute for Management Development 2008; Bertelsmann Stiftung 2007, 2008; Porter et al. 2007; World Economic Forum 2008. Eine Gegenüberstellung von sechs Ranglisten der drei Organisationen ist bei Heilemann et al. 2007, 482 zu finden. Z. B. relative Größe des Dienstleistungs- oder Industriesektors. 355
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rausgebern der Studien, deren Organisationen offensichtlich politische Motive8 haben, durch die Wahl der Kriterien das Ergebnis zu bestimmen. Deshalb kommen Ulrich Heilemann et al. zum Schluss, dass die Studien sich nicht für politische Empfehlungen eignen, sondern nur „propagandistisch verwerten“ lassen (Heilemann et al. 2006, 2007).9 An dieser Stelle wird der doppelte Vorteil des ability to sell-Ansatzes mit dem realen Wechselkurs deutlich. Denn zum einen wirken sich die meisten Einzelindikatoren des ability to adjust (wie z. B. Forschung, Entwicklung, Gewinn, Investition etc.) in der Arbeitsproduktivität und somit den Lohnstückkosten aus. Zum anderen müssen aber zusätzlich die Lohnentwicklung und das Währungsregime es zulassen, dass sich die Einzelfaktoren auch in internationale Wettbewerbsfähigkeit übertragen können (Flassbeck 1992, 19).
Übertragung betriebswirtschaftlicher Ansätze auf die Gesamtwirtschaft Neben den bisher dargestellten Ansätzen, welche alle mehr oder weniger gesamtwirtschaftliche Aspekte berücksichtigen, werden auch betriebswirtschaftliche Methoden angewandt, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen zu beurteilen. Messen lässt sich diese am Marktanteil der jeweiligen Unternehmen. Gelingt es einem Unternehmen, seinen Marktanteil zu vergrößern, ist dies ein Zeichen für eine gestiegene internationale Wettbewerbsfähigkeit. Fällt der Marktanteil dagegen, ist die internationale Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens zurückgegangen. Diese Aussage muss konsequenterweise auch dann richtig sein, wenn trotz fallendem Marktanteil aufgrund eines wachsenden Marktes die Produktion und der Absatz gestiegen sind. Bei dem betriebswirtschaftlichen Konzept der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ist der Wettbewerb um Marktanteile ein Nullsummenspiel (Fendel/Frenkel 2005). Die Messung der Wettbewerbsfähigkeit zwischen einzelnen Unternehmen anhand der Marktanteile eines bestimmten Marktsegments ist dann sinnvoll, wenn alle Unternehmen den gleichen Zugang zu Ressourcen und Technologie haben (Flassbeck 1992, 6). Gegen eine Übertragung des betriebswirtschaftlichen Ansatzes auf die gesamtwirtschaftliche Ebene wird in der Literatur auf die besondere 8 9
Siehe beispielsweise zum politischen Einfluss und zur Funktion der Bertelsmann-Stiftung für den Konzern Böckelmann/Fischler 2004. Für einen Widerspruch zur Kritik von Heilemann et al. 2006, 2007 siehe Gundel/van Suntum 2007.
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Eigenart des Außenhandels zwischen Nationen verwiesen. Wie bereits oben beim Thema Binnenhandel dargestellt, werden Unternehmen bei mangelnder Wettbewerbsfähigkeit vom Markt verdrängt und gehen z. B. Konkurs. Eine Verdrängung von ganzen Volkswirtschaften ist jedoch nicht möglich. Als Begründung dafür werden dann wie bei Fendel und Frenkel (2005) die normativen Aussagen der klassischen Außenhandelstheorie herangezogen.10 Krugmann (1994) argumentiert, dass die Dualität zwischen wettbewerbsfähig und nicht wettbewerbsfähig nur bei Unternehmen und eben nicht bei Ländern existiert und deshalb betriebswirtschaftliche Konzepte internationaler Wettbewerbsfähigkeit, übertragen auf Länder, unbrauchbar sind. Manche Autoren folgern daraus, dass der Begriff internationale Wettbewerbsfähigkeit von Ländern völlig bedeutungslos ist (Krugman 1994; Straubhaar 1994, 534).11 Eine Anwendung der betriebswirtschaftlichen Logik auf die Gesamtwirtschaft ist tatsächlich unangebracht. Welche Aussage hat eine Veränderung von Marktanteilen von Ländern? Fällt z. B. der Marktanteil, weil die Weltwirtschaft durch hohes Wachstum in anderen Regionen (z. B. Schwellenländern) absolut größer geworden ist, ist dies kein Anzeichen mangelnder Wettbewerbsfähigkeit eines Landes, sondern ein Zeichen für eine dynamische Weltwirtschaft und ökonomische Entwicklung, von welcher auch das Land mit fallenden Marktanteilen profitieren kann (Trabold 1995, 171). Andererseits muss auch berücksichtigt werden, dass zwar nicht ganze Länder verdrängt werden können, aber aufgrund von Außenhandel sehr wohl negative reale Effekte entstehen können. Denn ein steigendes Außenhandelsdefizit führt nur dann nicht zu einem Rückgang der Produktion, Beschäftigung und Einkommen im Inland, wenn der negative Außenhandelseffekt entweder durch Anpassungsprozesse oder hohes Wirtschaftswachstum kompensiert wird. Das heißt, die Verdrängungseffekte durch Außenhandel können entweder durch hohes Wirtschaftswachstum ausgeglichen werden, oder die Leistungsbilanz gleicht sich durch Anpassungsmechanismen an. Bei 10 „Während es auf Unternehmensebene um Marktanteile geht, bei denen ein Unternehmen auf dem Absatzmarkt hinzugewinnt, während das andere verliert, ist dies beim Außenhandel zwischen Nationen nicht der Fall: Gemäß der klassischen Sichtweise des internationalen Handels profitieren alle am Handel beteiligten Volkswirtschaften aufgrund der internationalen Spezialisierung gemäß ihrer komparativen Vorteile. Auf Unternehmensebene handelt es sich dagegen um ein Nullsummenspiel“ (Fendel/Frenkel 2005). 11 „Wettbewerbsfähigkeit ist ein Wort ohne jede Bedeutung, wenn man es nur auf die Wirtschaft eines einzelnen Landes anwendet. Und die Besessenheit, mit der der Begriff Wettbewerbsfähigkeit benutzt wird, ist sowohl falsch als auch gefährlich.“ (Krugman 1994, 42, zitiert auf Deutsch in Bofinger 1995, 469). 357
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Letzterem kann es aber durch eine Veränderung der Terms of Trade12 tatsächlich zu einem Wohlstandsverlust kommen. Dieser Wohlstandsverlust ist jedoch nur dann möglich, wenn das Land zuvor durch den Außenhandel seinen Wohlstand steigern konnte. Nichtsdestotrotz können Teile inländischer Produktion aufgrund von Änderungen des nominalen Wechselkurses verdrängt werden, obwohl sich die realwirtschaftlichen Größen nicht verändert haben. Zudem können ganze Länder ähnlich wie Unternehmen bei Überschuldung in Liquiditätsprobleme geraten (Trabold 1995, 181). Auch wenn im Ergebnis an dieser Stelle eine Übertragung der betriebswirtschaftlichen Logik auf die Volkswirtschaft abgelehnt wird, so erfolgt dies nicht auf Grundlage neoklassischer Außenhandelstheorie. Der Komplexität der Thematik und einer angemessenen Beurteilung politischer Empfehlungen wird nur eine makroökonomische Betrachtung gerecht. Aus diesem Grund sind die ability to sell- und ability to earnAnsätze eher geeignet, Aussagen über die Wettbewerbsfähigkeit von Ländern zu treffen. Dies soll hier an zwei Beispielen – Arbeitslosigkeit und Unternehmenssteuern – verdeutlicht werden.
Die Beispiele Arbeitslosigkeit und Unternehmenssteuern Aufgrund der theoretischen Probleme der Wettbewerbstheorie empfiehlt Thomas Apolte (1999) die Diskussion um die Standortkonkurrenz ausgehend von praktischen Themen zu führen. Hieran ist grundsätzlich nichts auszusetzen. Am konkreten Beispiel Arbeitslosigkeit wird dann aber offensichtlich, mit welcher Intention ein solcher methodologischer Vorschlag erfolgt. Das Beispiel Arbeitslosigkeit im Zusammenhang mit der Standortdebatte bietet sich besonders an, da bei den letzten drei Ansätzen der Arbeitsmarkt im Zentrum der Problemanalyse und der Lösungsansätze steht. Apolte argumentiert, wie die Mehrheit in den Wirtschaftswissenschaften, im Sinne neoklassischer Theorien ausgehend vom Arbeitsmarkt und macht die kollektiven Tarifverträge in Deutschland für die Arbeitslosigkeit verantwortlich. Durch Tarifverträge ergäben sich Löhne 12 Mit Terms of Trade wird das reale Austauschverhältnis zwischen Exporten und Importen bezeichnet. Verschlechtern sich die Terms of Trade können für die gleiche Menge an Exporten weniger Güter importiert werden. Dies ist der Fall, wenn beispielsweise die Importgüterpreise stärker steigen als die Preise der Exportgüter oder die Währung des importierenden Landes abwertet. 358
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über dem markträumenden Gleichgewichtslohn, was eine für Vollbeschäftigung zu geringe Arbeitsnachfrage zur Folge habe. Um Einkommens- und Beschäftigungsverluste zu vermeiden, müssten sich die Beschäftigen, vor allem aufgrund der Kapitalmobilität, zunehmend wie „Preisnehmer“ verhalten, so Apolte (1999; s. auch Siebert 1997). Neben dem bereits oben erörterten methodologischen Mangel, welcher aus der Trennung zwischen realer und nominaler Sphäre entsteht, ist diese Argumentation weder empirisch noch theoretisch fundiert (Hein et al. 2003) und geht völlig am Problem vorbei. Denn erstens wies Deutschland seit Jahren steigende Exportüberschüsse aus. Das konkrete Problem Deutschlands ist nicht ein Handelsdefizit, sondern Arbeitslosigkeit. Zweitens sind innerhalb Europas durch die massiven und anhaltenden Ungleichgewichte die Konsequenzen einer falsch verstandenen Wettbewerbspolitik in der Vergangenheit bereits offensichtlich (siehe unten). Und drittens ist entweder bei stark zentralen (Tarifverträge) oder stark dezentralen Lohnverhandlungen die Reallohnstarrheit am geringsten und in Folge dessen unter diesen Bedingungen eher ein makroökonomisch optimaler Lohn erreichbar. Das heißt, eine Schwächung der Tarifparteien mit dem Ergebnis eines mittleren Zentralitätsgrades13 führt keineswegs zu einer Angleichung der Löhne nach unten hin zu einem Vollbeschäftigungslohn (Willms 1995, 208; Hein et al. 2003, 341).14 Ein weiteres oft genanntes Standortproblem sind die Steuern – ein oft verwendeter Indikator im Länderranking. Erst durch den Wettbewerb zwischen den Ländern wird sich eine optimale Besteuerung ergeben, folgern die Neoliberalen. Da Deutschland im Steuerwettbewerb mit Irland und der Slowakei stehe, müssen die Rahmenbedingungen für die Unternehmen verbessert werden. Deshalb wurden in Deutschland im Jahre 2008 die Unternehmenssteuern weiter gesenkt, worauf Frankreich reagierte und ebenfalls auf Steuereinnahmen verzichtete. Neben der Steuerhöhe kann außerdem die Struktur der Steuern die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Exportgüter beeinflussen. Durch eine Umschichtung von Unternehmenssteuern hin zu Verbrauchssteuern haben sich die Kosten für Betriebe in Deutschland verringert, während sich der Preiseffekt der Mehrwertsteuererhöhung nur auf dem inländischen Markt auswirkt. 13 Die Gewerkschaften versuchen dann durch hohe Nominallohnsteigerungen Mitglieder zu gewinnen und werden weniger die Inflations- und Beschäftigungswirkung berücksichtigen (Willms 1995, 208). Als Anzeichen für einen reduzierten Zentralitätsgrad der Lohnverhandlungen in Deutschland können die Tarifrunden der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer, Cockpit und des Marburger Bunds gedeutet werden. 14 Zur Kritik neoklassischer Arbeitsmarktmodelle und deren Anwendung auf europäische Probleme siehe z. B. Fritsche et al. 2005, 34. 359
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An dem Beispiel Unternehmenssteuer wird der Unterschied zwischen dem betriebswirtschaftlichen Wettbewerb und dem volkswirtschaftlichen Ansatz anschaulich. Bei ersterem geht es im Prinzip darum, durch Invention und Innovation die Produktion und Produkte zu verbessern, d. h. das gleiche Produkt besser oder billiger herzustellen. Die effizientere Verwendung der Produktivkräfte resultiert in einer Produktivitäts- und Einkommenssteigerung. Der Steuerwettbewerb zwischen den Ländern führt bei Steuersenkung beim Staat zu Einnahmeausfällen und in den Unternehmen dazu, dass in der Produktion nur ein Kostenbestandteil wegfällt (Flassbeck 2007a). Findet die Steuersenkung in allen Ländern statt, verändert sich nicht einmal die betriebswirtschaftliche Wettbewerbsposition.15 Deshalb greift Thomas Straubhaars Maxime zu kurz, dass im internationalen Vergleich nationale Politik dem Kapital die attraktivsten Bedingungen zu schaffen und Arbeit dem Kapital den höchsten Profit zu ermöglichen hat (Straubhaar 1994, 540). Wenn nachhaltige Wohlstandssteigerung durch Wettbewerb auf Inventionen und Innovationen beruhen, muss durch Regulation gewährleistet sein, dass einzelne Unternehmen oder Länder diesen Prozess nicht untergraben, indem sie z. B. die Preise der Vorleistungen und somit auch Löhne drücken.
Außenhandelstheorien und internationale Wettbewerbsfähigkeit In den meisten wissenschaftlichen Artikeln über internationale Wettbewerbsfähigkeit werden die herkömmlichen Außenhandelstheorien nicht angesprochen. Deshalb soll an dieser Stelle überprüft werden, welche Aussagen die Heckscher-Ohlins und die ricardianische Außenhandelstheorie hinsichtlich Wettbewerbsfähigkeit zulassen. Für die HeckscherOhlin-Theorie mit international einheitlicher Produktionsfunktion ist der internationale Standortwettbewerb bei vollständiger Faktorwanderung nicht relevant, da einzelne Volkswirtschaften gar nicht um Kapital konkurrieren können (Bofinger 1995, 471). Wird die ricardianische Außenhandelstheorie, wie in der StandardLehrbuchform, rein statisch betrachtet, ausschließlich die reale Theorie 15 Wie sich die deutsche Debatte in anderen Ländern Europas auswirkt, wird beispielhaft an folgendem Zitat aus der Zeitschrift Schweizerzeit (7.5.2004, 5) deutlich: „Wobei dem Schweizer Leser in Erinnerung zu rufen ist, dass Deutschland – das im Mittelpunkt von Professor Sinns Ausführungen steht – auf die Schweiz vielleicht etwa fünf Jahre ‚Vorsprung‘ hat auf dem Weg zum Kollaps des Sozialstaats.“ 360
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angewandt und somit die monetäre Ebene ausgeblendet, ist der Wechselkurs exogen und annahmegemäß im Gleichgewicht. Werden so die Wechselkurse, z. B. mit Verweis auf den „monetären Schleier“, unterschlagen und zusätzlich perfekte Preis- und Lohnflexibilität sowie Vollbeschäftigung angenommen, ist die internationale Wettbewerbsfähigkeit wiederum kein Thema. Denn, wie bereits beschrieben, können unter diesen Annahmen, sobald komparative Vorteile bestehen, internationale Produktivitätsnachteile durch korrespondierende Lohnunterschiede ausgeglichen werden. Jedes Land wäre dann zu jeder Zeit international wettbewerbsfähig (Bofinger 1995, 470). Die reale Theorie ist für die Erklärung von Handel und somit auch für dessen Struktur unzureichend. Dies gilt ebenfalls für die Beurteilung von internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Denn die Wechselkurse transferieren nur im Idealfall die komparativen in Wettbewerbsvorteile. Die Flucht in eine mikroökonomische und betriebswirtschaftliche Analyse ist jedoch eine wenig hilfreiche Reaktion. Dagegen bietet aber die monetäre Außenwirtschaftstheorie mit dem realen Wechselkurs16 das fehlende theoretische Element zur Bestimmung der Wechselkurse in der realen Theorie. Dies ist dann entscheidend dafür, ob Produkte mit dem komparativen Vorteil auch preislich wettbewerbsfähig sind. Das Zusammenwirken von realem Wechselkurs und komparativem Vorteil ergibt dann folgendes Bild: Die Leistungsbilanz insgesamt wird vom realen Wechselkurs bestimmt. Neben dem nominalen Wechselkurs sind somit die aggregierten Lohnstückkosten entscheidend. Innerhalb der Leistungsbilanz können einzelne Produkte, Sektoren oder Branchen entweder Exportdefizite oder Überschüsse aufweisen. Bestimmend hierfür ist der komparative Vorteil. Diejenigen Produkte, Sektoren oder Branchen, welche im Verhältnis zum Ausland einen relativ größeren Vorteil gegenüber anderen Produkten, Sektoren oder Branchen aufweisen, werden – bei ausgeglichener Handelsbilanz – tendenziell Exportüberschüsse aufweisen. Produkte mit einem komparativen Nachteil werden dagegen im Saldo importiert. Da die Leistungsbilanz insgesamt sich aus den Überschüssen und Defiziten der sektoralen Bilanzen ergibt, wirkt der reale Wechselkurs auch hier. Eine Aufwertung verringert die preisliche Wettbewerbsfähigkeit, sodass die sektoralen Überschüsse aus der Produktion mit komparativen Vorteilen zurückgehen und die Defizite aus der Produktion mit dem komparativen Nachteil sich ausweiten (Globus 1994). Des Weiteren wird an dieser Stelle auch die Bedeutung des ability to earn-Ansatzes deutlich. Komparative Kostenvorteile werden durch das 16 Obwohl der reale Wechselkurs ein nominales Konzept ist, werden durch ihn auch reale Schocks abgebildet, da z. B. Produktivitätssteigerungen über die Lohstückkosten sich im Preisniveau spiegeln. 361
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entsprechende (Real-)Lohn-Produktivitätsverhältnis in preisliche Wettbewerbsfähigkeit transferiert. Das heißt, dass aus Unterschieden in der Produktivitätsentwicklung entsprechende Reallohnniveaus resultieren. Die absoluten Reallöhne und somit die Pro-Kopf-Einkommen divergieren international. Dieses Phänomen ist besonders im Vergleich zwischen Industrie- und Entwicklungsländern von Bedeutung, wird aber durch den ability to sell-Ansatz nicht berücksichtigt. Aus dem ability to earnAnsatz entsteht dann auch die Legitimation für Maßnahmen, welche die Produktivität und somit die wirtschaftliche Entwicklung fördern. Diesen müssen sich dann unter Umständen auch normative Allokationsziele (Paretooptimalität) unterordnen. Es lohnt sich, einen Blick auf mögliche Gründe darauf zu werfen, warum die Außenhandelstheorie und im Speziellen das Theorem komparativer Vorteile immer weniger zur Analyse internationaler ökonomischer Probleme verwendet werden. Zum einen ist der komparative Vorteil ein theoretisch umfangreiches und kompliziertes Konstrukt, welches auf den ersten Blick nicht offensichtlich ist (Baron/Kemp 2004). Der internationalen preislichen Wettbewerbsfähigkeit von Gütern wird gewissermaßen ein internationaler Vergleich nationaler relativer Kosten vorangestellt. Für die Ursachen komparativer Vorteile gibt es die unterschiedlichsten Begründungen. Zudem wird das Theorem in die unterschiedlichsten Theorien eingebettet. Des Weiteren kann der aggregierte komparative Vorteil gegenüber einem betriebswirtschaftlichen Einzelphänomen widersprüchlich erscheinen, wenn ein einzelnes Unternehmen trotz komparativen Vorteils in einer Branche nicht preislich wettbewerbsfähig ist. Hinzu kommt, dass ein empirischer Nachweis schwierig zu erbringen ist. Erschwerend kommt die methodologische Trennung zwischen realer und monetärer Außenwirtschaftstheorie hinzu. Der güterwirtschaftliche gleichgewichtige Wechselkurs ist jedoch nicht nur eine theoretische Herausforderung, sondern in der Realität eine Ausnahme. Aufgrund von Kapitalmobilität ist die Wahrscheinlichkeit gleichgewichtiger Wechselkurse eher gering. Auf die Marktmechanismen hinsichtlich gleichgewichtiger Wechselkurse ist offensichtlich kein Verlass. Schließlich beruht das Potential für eine Steigerung des Wohlstands auf normativen Annahmen, und ein reines Potential für Handel ist im wirtschaftspolitischen Kontext keine brauchbare Größe. Das Theorem komparativer Vorteile – als politisches Hilfsmittel für die Durchsetzung von Freihandel – hat mit der europäischen Integration und den WTOVereinbarungen weitgehend diesen Zweck erfüllt. Die Liberalisierungsgewinne sind zum Teil eingefahren. Nun gilt es für die Unternehmen, innerhalb des gemeinsamen Marktes den Profit zu erhöhen. Dies bedarf 362
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einer Strategieänderung. Kurz- wie mittelfristig lassen sich die Gewinne einzelner Unternehmen oder Länder auf Kosten der anderen erhöhen. Und da so lokal und greifbar Arbeitsplätze gesichert werden, erscheint die gesamtwirtschaftliche Wohlstandsfrage a priori unwichtig. Um dies theoretisch zu untermauern ist jedoch das Theorem komparativer Vorteile sowohl als positives Analyseinstrument als auch in seinem normativen Gewande ungeeignet. Im Gegensatz hierzu bieten sich für profitorientierte Interessengruppen mikroökonomisch-betriebswirtschaftliche Methoden an, da aus ihnen die gewünschten politischen Empfehlungen, wie niedrigere Löhne, geringer Sozialstandard und schlechte Arbeitsbedingungen resultieren.
Alternativen in den Blick nehmen Die ausbleibenden positiven Ergebnisse der aus der Standortdebatte folgenden ‚Reformpolitik‘ und ‚Lohnzurückhaltung‘ in Deutschland werden von den Anhängern unterschiedlicher Schulen widersprüchlich erklärt. Dem neoliberalen Paradigma zufolge waren das Ausmaß und die Tiefe nicht ausreichend. Um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können, müssten die Löhne weiter gesenkt, die sozialen Leistungen stärker eingeschränkt, und die Strukturen des Arbeitsmarktes verändert werden (Sinn 2003). Die neoklassische Argumentation befindet sich in ihrer Logik in einem endlosen Regress. Aus makroökonomisch-keynesianischer Sicht dagegen ist die ‚Reformpolitik‘ für die wirtschaftlichen und sozialen Probleme mit verantwortlich. Dies wird am Beispiel der Europäischen Währungsunion deutlich. Durch die Europäische Währungsunion besteht die Möglichkeit der Anpassung über nominale Wechselkurse nicht mehr. Entgegen der Vereinbarung hat Deutschland die Zielinflationsrate jedoch mehrere Jahre unterschritten.17 Ursächlich dafür war u. a. die deutsche Fiskal- und Einkommenspolitik. Im Ergebnis weist Deutschland eine Lohnstückkostenentwicklung auf, welche seine Wettbewerbssituation innerhalb Europas über Jahre hinweg kontinuierlich verbessert. Hierbei kumulieren sich die Inflations- bzw. Lohnstückkostenunterschiede Jahr für Jahr seit der Euroeinführung, auch wenn sie im Zeitvergleich relativ gering sind. In Deutschland wachsen so die Außenhandelsüberschüsse und bei den
17 Eine Literaturübersicht über Studien hinsichtlich divergierender Inflationsraten in Europa und deren theoretischer Grundlagen findet sich bei Fritsche et al. 2005. 363
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europäischen Handelspartnern die Defizite.18 Der Anpassungsmechanismus über das Preisniveau ist gestört und führt zu anhaltenden Ungleichgewichten, welche die ganze Wirtschaftsregion destabilisieren können (Flassbeck/Spiecker 2005; UNCTAD 2007, 137; Bundesbank 2007, 35; Fritsche et al. 2005, 47). Als Außenhandelsdefizitländer sind vor allem Griechenland, Italien, Portugal und Spanien betroffen, welche bereits über ca. zehn Jahre hinweg gegenüber den Überschussländern, vor allem Deutschland, an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Die Konsequenz des anhaltenden Leistungsbilanzdefizits ist ein durch Kapitaltransfer wachsender Schuldenberg. Wird die Entwicklung anhalten, werden die Defizitländer weiter an Wettbewerbsfähigkeit einbüßen, die Produktion und Beschäftigung wird zurückgehen, damit sinkt auch die Kreditwürdigkeit und sie verlieren letztendlich die ökonomische Grundlage, die akkumulierten Kapitaltransfers zurückzuzahlen. Dieses Krisenszenario beinhaltet wiederum für die Überschussländer den Verlust von Exportmärkten und durch die einhergehende Banken- und Finanzkrise weiterführende negative Effekte (UNCTAD 2007; Bundesbank 2007).19 Es ist somit unter den beschriebenen Umständen möglich, in fixen Wechselkurssystemen oder in einer Währungsunion eine Anpassung der realen Wechselkurse aufzuschieben. Die sich bilanztechnisch ausgleichenden Stromgrößen in der Leistungs- und Kapitalbilanz (bzw. Devisenbilanz) verursachen eine Veränderung der Bestandsgrößen in der internationalen Vermögensstruktur. Bleiben die Leistungsbilanzdefizite bestehen, kann es durch die Geldkapitalmobilität und einen unbegrenzten Anstieg der Nettoauslandsverschuldung letztendlich zu einer krisenhaften außenwirtschaftlichen Anpassung kommen. Ein Marktmechanismus, der dies und die damit einhergehenden realen Kosten verhindert, existiert nicht. Der Abstand in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Ländern in Europa hat sich seit der Währungsunion so stark vergrößert, dass eine Anpassung des realen Wechselkurses kurzfristig unmöglich und mittelfristig unwahrscheinlich erscheint. Die Defizitländer müssten hierzu bei äußerst niedrigen Nominallohnsteigerungsraten im Vergleich zu den Überschussländern möglichst hohe Produktivitäts18 „So wiesen Griechenland, Portugal und Spanien zuletzt (2006) Defizite von über 8% in Relation zum nationalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) auf. Ihnen stehen vier Länder mit hohen Überschüssen gegenüber (Angaben in Relation zum BIP): Deutschland (5%), Finnland (knapp 6%), Luxemburg (knapp 10,5 %) und die Niederlande (8,5%).“ (Bundesbank 2007, 36) 19 Für eine Analyse möglicher politischer und ökonomischer Kosten eines Ausstiegs aus der Europäischen Währungsunion und mögliche politische Alternativen siehe Eichengreen 2007. 364
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wachstumsraten erzielen. Dabei stellt sich zum einen die Frage, wie das technisch zu erreichen wäre und wie der Produktivitätsabstand zu den Überschussländern gewahrt werden könnte. Gleichzeitig müssten für eine europäische Konvergenz der Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland die Nominallöhne massiv steigen. Eine notwendige politische Flankierung ist hierzu nicht gegeben. Außerdem sind dabei von der EZB, als Reaktion auf die zu erwartenden Preissteigerungen, Zinssatzerhöhungen zu erwarten. Die besondere Schwierigkeit liegt darin, dass Defizit- und Überschussländer dabei nicht nur das politisch vereinbarte 2% Inflationsziel erreichen müssten. Durch die über Jahre hinweg uneinheitliche Lohnstückkostenentwicklung ohne nominale Anpassung haben sich die Wettbewerbsunterschiede akkumuliert. Die verlorenen Marktanteile müssen auch wieder zurückgewonnen werden, um das Ziel einer ausgeglichenen Leistungsbilanz zu erreichen. Das heißt, Überschussländer müssten über einen längeren Zeitraum das 2% Inflationsziel überschreiten und das von Defizitländern unterschreiten. Für Deutschland hieße das zudem eine vollkommene Umkehr der wirtschaftspolitischen merkantilistischen Strategie und eine Abkehr von den zugrunde liegenden neoklassischen Arbeitsmarkttheorien und neoliberalen Ideologien. Eine keynesianische Politik, welche die derzeitige Nachfrage aus dem Ausland durch Binnennachfrage ersetzt, würde nicht nur Deutschlands Wirtschaft voran bringen, sondern die wirtschaftliche und politische Entwicklung Europas stabilisieren und die Wahrscheinlichkeit internationaler Finanzkrisen reduzieren (Memorandum 2007; Huffschmid 2000; Collignon 2007). Eine Ursache der hier geschilderten politischen Kontroverse und der abweichenden Positionen zur Bestimmung gleichgewichtiger, oder normativ wünschenswerter, Wechselkurse liegt in dem unterschiedlichen Verständnis von internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Bei der Analyse der nun eingetretenen Finanz- und Wirtschaftskrise dürfen die Außenhandelsungleichgewichte als eine Ursache nicht unterschlagen werden. In vielen südeuropäischen Ländern stiegen die Zinsaufschläge auf Staatsanleihen. Dies ist ein deutliches Anzeichen fallender Kreditwürdigkeit. Der Nachfragerückgang in diesen Ländern wird Deutschland aufgrund seiner Exportabhängigkeit besonders stark treffen. Die politische Reaktion auf die Krise in Deutschland macht deutlich, dass die Politik an ihrer bisherigen merkantilistischen außenwirtschaftlichen Strategie festhält. Die wirtschaftspolitischen Maßahmen zielen darauf ab, den Standort Deutschland für den Aufschwung wettbewerbsfähig zu machen. Ein Beitrag zur Krisenbekämpfung ist mit dieser Strategie nicht zu erwarten. „Germany keeps dancing as the iceberg
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looms.“ (Collignon 2009)20 Auch die wissenschaftlichen Beiträge der großen Wirtschaftsinstitute lassen bisher keinen Paradigmenwechsel erkennen (Flassbeck/Spiecker 2009; Horn et al. 2005). Folgt man den oben beschriebenen ability to sell- und ability to earnAnsätzen, kommt man im Gegensatz zu den neoliberalen Vorschlägen zu einem anderen politischen Ergebnis. Heiner Flassbeck zum Beispiel schlägt eine einfache Regel vor: Ausgehend von der Logik, dass wenn normativ kein Land über seine Verhältnisse leben soll, auch kein Land unter seinen Verhältnissen leben kann, ist es konsequent, dass jedes Land sich wirtschaftlich an seine Verhältnisse anpassen soll. Das heißt, die Einkommen müssen der Produktivität entsprechen, bzw. einer realen Produktivitätssteigerung muss ein gleichgroßer Anstieg des realen ProKopf-Einkommens folgen. Dies ist im Prinzip dann gegeben, wenn das Nominallohnwachstum gleich der Summe aus dem Produktivitätswachstum plus Zielinflationsrate ist. Im Ergebnis ist eine wirtschaftliche Entwicklung ohne Wettbewerbsprobleme möglich, selbst wenn sie länderspezifisch unterschiedlich verläuft. Bei Freihandel hieße das, dass ein Land im Außenhandelsgleichgewicht seine Wettbewerbsfähigkeit nicht steigern dürfte, wenn es dabei die Wettbewerbsfähigkeit eines anderen Landes verringere. Ansonsten würde sich im Laufe der Zeit der Schuldenstand verändern und die Wechselkurse würden sich anpassen (Flassbeck 2007; Flassbeck 1992, 17; Fritsche et al. 2005, 54).21 Um Flassbecks Regel umzusetzen, bedarf es einer Geldpolitik, welche neben Preisstabilität auch eine hohe Beschäftigung als Ziel hat, einer flankierenden Fiskalpolitik, einer Lohnpolitik, welche ihren verteilungsneutralen Spielraum ausschöpft und einer Regulierung der internationalen Finanz- und Währungsmärkte (Flassbeck/Spiecker, 2007). Auf diesem Wege ist es möglich, Arbeitslosigkeit abzubauen, ohne gleichzeitig
20 „The gleeful policy consensus in Berlin (‚We are world champions in exports‘) resembles the last dance on The Titanic, moments before it hit the iceberg.“ (Collignon 2009) 21 Diese Lohnformel wäre im Einklang mit der angestrebten europäischen Tarifpolitik der Gewerkschaften. 1998 hat der Europäische Gewerkschaftsbund mit der „Doorn-Initiative“ und 2002 haben die Metallgewerkschaften als Ziel vereinbart, wenn möglich, die Tariflöhne um den Verteilungsspielraum (Summe aus Preise- und Produktivitätsentwicklung) zu erhöhen, um einen Lohnsenkungswettbewerb in Europa abzuwenden (Fritsche et al. 2005, 41). Auf diesem Wege lassen sich zudem nominale Wechselkurse bewerten. Bei Einhaltung der Regel ist die wirtschaftliche Entwicklung lohnstückkostenneutral. D. h., der reale Wechselkurs wird nicht durch reale Schocks beeinflusst. Verändert sich der reale Wechselkurs dennoch, ist dies auf den nominalen Wechselkurs zurückzuführen, und wäre normativ unerwünscht (Bofinger 1995, 488). 366
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die außenwirtschaftliche Situation durch Beeinflussung der Wechselkurse und Lohnstückkosten zu Lasten anderer („Beggar my Neighbour“) zu verbessern. Auf europäischer Ebene muss zukünftig auch Finanzpolitik zur wirtschaftlichen Stabilisierung beitragen (Dullien/Schwarzer 2007). Das marktliberale Paradigma muss durch ein gleichberechtigtes, kooperatives Leitbild abgelöst und ein europäisches Sozialmodell entwickelt werden (Gerlach/Ziegler 2007). Sollen die wirtschaftspolitischen Anstrengungen Erfolg zeigen, bedarf es auch einer Reform der europäischen Institutionen. Durch die Beseitigung des herrschenden Demokratiedefizits können Kollektivhandlungsprobleme überwunden und eine Beschäftigung fördernde koordinierte Makropolitik umgesetzt werden (Collignon 2007). Für die Gewerkschaften heißt das, dass ihre Tarifabschlüsse eine europäische Dimension haben. Die vermeintliche Solidaritätslogik, wie z. B. im Bündnis für Arbeit, hat sich auf europäischer Ebene destabilisierend ausgewirkt und wird auf die deutsche Wirtschaft zurückfallen. Nicht nur zu hohe, sondern auch zu niedrige Lohnsteigerungen rufen soziale Kosten hervor. Somit befinden sich die Gewerkschaften in einem Dilemma. Denn auf betrieblicher Ebene kann zumindest kurzfristig die Wettbewerbsfähigkeit durch Lohnsenkung verbessert und Arbeitsplätze können womöglich gesichert werden. Deshalb ist für die gewerkschaftliche Handlungsfähigkeit ein funktionierendes Sozialsystem, welches die negativen Auswirkungen eines Strukturwandels auffangen kann, essenziell. Aufbauend auf diesen Folgerungen müssen politische Forderungen an die Parteien gestellt werden. Auch in der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise wird die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Tarifabschlüsse und der Sozial- und Finanzpolitik im Kontext internationaler Wettbewerbsfähigkeit deutlich. Denn können die Beschäftigten und Gewerkschaften dem Druck auf die Löhne nicht standhalten, steigt die Gefahr einer Deflation bzw. Stagflation. Da eine Deflation den realen Wert von Schulden erhöht und die Kaufzurückhaltung der Konsumenten verstärkt, treibt sie die betroffenen Länder weiter in die Krise. Die Rahmenbedingungen für wirtschaftspolitische Intervention werden dadurch verschlechtert und der Zerfall der Europäische Währungsunion noch wahrscheinlicher (Flassbeck/Spiecker 2009; Horn 2009; IWF 2009).
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Wiss e nsc ha ft, Ge werks c haft, Politik, Ideologie 1 DETLEF HENSCHE UND ARNE KLÖPPER
Wissenschaft und von ihr produzierte Erkenntnisse sind für Gewerkschaften wichtig und notwendig. Einerseits gilt dies zweifelsohne für Untersuchungen und Beschreibungen der Kernbereiche gewerkschaftlicher Politik. Beispiele sind Studien zur Einkommens-, Arbeitszeit- und Beschäftigungsentwicklung oder (betriebliche) Arbeits- und Gesundheitsforschung – etwa zur Wirkung technischer und arbeitsorganisatorischer Neuerungen. Hier finden Gewerkschaften Informationen und Argumente für ihre Positionen sowie Orientierungen für ihre Strategien. Andererseits ist gesellschaftskritische Forschung, die an Emanzipation und den Interessen der abhängig Beschäftigten orientiert ist oder sich der Beschreibung der Ursachen sozialer Ungleichheit und Polarisierung widmet, für die Arbeit der Gewerkschaften unerlässlich. Gewerkschaftspolitik beschränkt sich nicht auf die Gestaltung konkreter Arbeitsbedingungen, sondern behält die gesamte Gesellschaft – und hierbei vornehmlich die Interessen der Unterprivilegierten – im Auge. Wichtiger als diese plakative Darstellung, die das Verhältnis von Wissenschaft zu Gewerkschaften unzulänglich erklärt, ist die Auseinandersetzung mit den Problemen und Grenzen der gegenseitigen Befruchtung und Zusammenarbeit. Brüche zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und interessengeleiteter Gewerkschaftspolitik können leicht auftreten, wie folgende Beispiele verdeutlichen:
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Dieser Text ist eine überarbeitete und deutlich erweiterte Fassung des 2006 erschienen Beitrags Wissenschaft, Politik, Ideologie (Hensche 2006). 373
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Würde die IG Metall eine von ihr in Auftrag gegebene Studie zur Entwicklung des Automobilverkehrs veröffentlichen, die zu dem Ergebnis käme, dass zur notwendigen Reduzierung des CO2-Ausstoßes die Anzahl der PKW erheblich verringert, das Dienstwagenprivileg abgeschafft und die Zulassung klimaunfreundlicher – im Gegensatz zu mit anderer Technologie überwiegend in Japan gefertigter – Fahrzeuge verboten werden müsste? Wie hätten die Gewerkschaften vor vierzig Jahren – mit einem damals noch viel deutlicheren ‚Männerüberhang‘ in der Mitgliedschaft – auf ein Gutachten reagiert, dass die Einkommen von Männern und Frauen aufgrund von Verfassungsgeboten angeglichen werden müssten und daher der verteilungspolitische Spielraum für eine Umverteilung ‚in den eigenen Reihen‘ zu nutzen wäre? Wie wären gutachterliche Empfehlungen an die europäischen Gewerkschaften über eine sozial orientierte Regionalpolitik im erweiterten Europa kommentiert worden, die industrielle Ansiedlungen in Rumänien zu Ungunsten des Fortbestandes von Werken in Deutschland vorgeschlagen hätten? Wie gehen Gewerkschaften mit – den aus verschiedenen Gründen zu kritisierenden – Forderungen nach einem Umbau der arbeitsorientierten Grundsicherung in eine bürgerschaftsorientierte Grundsicherung um, beispielsweise durch die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens (vgl. Hensche 2008)? Diese Gedankenspiele zeigen, trotz aller Notwendigkeit einer permanenten wissenschaftlichen Unterstützung der gewerkschaftlichen Arbeit, dass das Verhältnis nicht widerspruchs- und konfliktfrei ist. Das Spannungsverhältnis zwischen interessengeleiteten gesellschaftlichen Gruppen und Wissenschaft resultiert aus dem Konstitutionsprinzip der Wissenschaft als frei und autonom. Daher ist es notwendig, sich näher mit dem Begriff und den methodischen Grundlagen der Wissenschaftsfreiheit auseinander zu setzen.
Freiheit der Wissenschaft: Zwischen Verfassungsauftrag und professioneller Selbstüberschätzung Auf der Suche nach den Bedingungen wissenschaftlicher Autonomie stoßen wir auf ein widersprüchliches Bild. Das berufliche Selbstverständnis hebt die bekannten Elemente professioneller Unbestechlichkeit hervor, wie die Freiheit von Eingriffen und fremdgesteuerten Erwartungen, von Dogmen und Konventionen, und die Verpflichtung auf die Ei374
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gengesetzlichkeit der wissenschaftlichen Disziplin. Im Hintergrund steht immer noch das Bild der öffentlich besoldeten deutschen Professorinnen und Professoren; nicht zufällig erfreuen sie sich auch heute noch eines beachtlichen gesellschaftlichen Prestiges. Von dieser Warte aus verfällt denn auch gewerkschaftlich orientierte Forschung allzu leicht der naserümpfenden Abwertung als ideologische Büchsenspannerei. Wie tief sich jenes Bild wissenschaftlicher Autonomie ins öffentliche Bewusstsein eingegraben hat, kann man dem schmückenden Attribut der und des ‚unabhängigen‘ Sachverständigen entnehmen, das nie fehlt, wenn die herrschende Meinung oder die Politik wissenschaftliche Kronzeugen präsentieren; ein Gütesiegel, das zudem, unreflektiert verliehen, unter der Hand die Norm zur Wirklichkeit erhebt. Der unverstellte Blick auf den wissenschaftlichen Alltag zeigt uns dagegen ein anderes, ein durchaus irdisches Bild. Zum Beispiel: Die Forschung an staatlichen Hochschulen und öffentlichen Instituten ist im Begriff, im Sog der Privatisierung ihre Selbstbestimmung zu verlieren. Die Förderung der Auftragsforschung ist politisches Programm. Doch das Ethos sagt, die Wissenschaft sei unabhängig! Speziell die Wirtschaftswissenschaft hat sich einer – neoliberal genannten – Dogmatisierung unterworfen, die andere Sichtweisen kaum noch zulässt. Wirtschaftswissenschaften und beachtliche Teile der Sozialwissenschaften zeigen sich resistent gegen die Versuchungen der Empirie. Doch das Ethos sagt, die Wissenschaft sei unabhängig! Medien und Politik tun ein Übriges, die Wissenschaft für ihre kurzatmigen Inszenierungen, neuerdings ‚Jahrhundert-Reformen‘ genannt, zu vereinnahmen. Medien delegieren Recherche, Analyse und Gedächtnis auf externe Sachverständige; Politik bedient sich in inflationärer Weise so genannter Expertinnen-/Expertenkommissionen, deren abgerufene Ergebnisse unter Umgehung politischer Auseinandersetzungen vom Parlament in Hochgeschwindigkeitsgesetzgebung eins zu eins umgesetzt werden; unerwünschte Ergebnisse verschwinden in der Schublade. Große Teile der Wissenschaft spielen mit. Doch das Ethos sagt, die Wissenschaft sei unabhängig! Im medialen Getriebe verschlägt es nichts, wenn sich Historikerinnen zu Fragen der Sozialversicherung, Juristen zur demografischen Entwicklung, Ökonominnen zur Psychologie der Arbeitslosen, Sozialwissenschaftler zur Globalisierung und Politologinnen zu allen Rätseln der Welt äußern. Auch nimmt niemand Anstoß, wenn sich – zumeist zufällig – herausstellt, dass die Arbeit der omnipräsenten Expertinnen und Experten, die die These vom Ruin der gesetzlichen Sozialversicherung regelmäßig untermauern, von der privaten Versicherungswirtschaft finanziert wird, und wenn der oder die Sachverständige für Volkswirt375
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schaft und Standortfragen im Sold der deutschen Banken steht.2 Doch das Ethos sagt, die Wissenschaft sei unabhängig! Der frühere Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Hans-Olaf Henkel, wechselte fast nahtlos ins Präsidentenamt der Leibniz-Gemeinschaft, einer der vier großen Wissenschaftsvereinigungen; man stelle sich vor, der DGB-Vorsitzende würde Präsident der Max-Planck-Gesellschaft! Die Leibniz-Gemeinschaft hat unter anderem die Arbeit der wirtschaftswissenschaftlichen Institute zu evaluieren und liefert damit die Grundlagen für deren öffentliche Finanzierung; wen wundert’s, dass das IFO-Institut unter der Leitung von Hans-Werner Sinn, dem Mann fürs Grobe, nach dem Entzug der Bundesmittel jüngst wieder ein positives Testat erhalten hat? Doch das Ethos sagt, die Wissenschaft sei unabhängig!
Freiheit für und gegen wen? Es lohnt sich daher, die Konstruktionsprinzipien wissenschaftlicher Autonomie näher zu beleuchten. Das rechtliche Unterpfand liegt in der Verfassung; Art. 5 GG gewährleistet die Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre. Das Grundrecht ist in seinem Ursprung staatsgerichtet; es verbietet obrigkeitliche Eingriffe in die wissenschaftliche Arbeit, etwa durch Bestimmung des Forschungsgegenstandes, der wissenschaftlichen Methode oder gar der Ergebnisse. Dies schließt gleichwohl einen gesetzlichen Rahmen und Grenzsetzungen nicht aus, wenn sich etwa Konflikte mit anderen Grundrechten ergeben; die Auseinandersetzungen über die Stammzellenforschung unter Verwertung embryonaler Zellen ist ein Beispiel. Dass die Abwehr staatlicher Übergriffe nicht obsolet ist, zeigt sich nicht nur beim Blick auf faschistische und realsozialistische Repressionen, die ja wahrlich nicht weit zurück liegen. Auch heute, da sich hier und da religiöser Fundamentalismus des Staates bemächtigt, droht eine ähnliche Einschnürung; selbst die USA, das Mutterland von Demokratie und Freiheit, sind nicht davor gefeit, wie der Umgang einzelner Bundesstaaten mit der Evolutionslehre zeigt. Doch erschöpft sich die grundrechtlich verbürgte Wissenschaftsfreiheit nicht in der Abwehr staatlicher Gängelung. Der Staat ist zugleich gehalten, Bedingungen zu schaffen, die der wissenschaftlichen Arbeit den notwendigen Freiraum garantieren. Denn Gefahr droht auch von so2
Es ist das Verdienst von Albrecht Müller, jüngst einige besonders unappetitliche Fälle wissenschaftlicher Korrumpierung offen gelegt zu haben (vgl. Müller 2006, 263-338, insb. 289f., 308-315 u. passim).
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zialen Mächten jenseits und unterhalb staatlicher Autorität. Die Kirchen blicken diesbezüglich auf eine lange illiberale Geschichte zurück. Die akademische Lehre etwa an die Kirchen zurückzudelegieren, wäre dem Staat verwehrt. Wer solches hierzulande für ein abseitiges Beispiel hält, sei daran erinnert, dass bestehende Konkordate die Erteilung der Lehrbefugnis an theologischen, in Bayern gar an erziehungswissenschaftlichen Fakultäten an die Zustimmung kirchlicher Instanzen binden; vollends fragwürdig ist der – vertraglich gegebene – Anspruch der Kirchen, die ungehorsame Hochschullehrerin oder den ungehorsamen Hochschullehrer vom anvertrauten Lehrstuhl abzuberufen! Ein anderes Beispiel bieten Stiftungsprofessuren, in Zeiten unterfinanzierter Hochschulen ein willkommener, wenngleich problematischer Ausgleich. Immerhin wird im Namen der Wissenschaftsfreiheit aus gutem Grund ein Mindestmaß an Selbstverwaltung eingefordert. Die Autonomie der Hochschule gehört zu den Bedingungen, die der Staat zur Ermöglichung freier Forschung und Lehre bereitzustellen hat. Geht es dann jedoch an, dass die Hochschule sich des Rechts begibt, autonom über die Berufung auf einen Lehrstuhl und über dessen fachliche Ausrichtung zu entscheiden? Hier werden die Stimmen, die sonst weithin hörbar für akademische Selbstverwaltung eintreten, oft bemerkenswert leise. Mehr noch als Konkordats- und Stiftungsprofessuren ist die Drittmittel-Forschung zu einem Einfallstor wissenschaftsfremden Einflusses geworden. Wenn Unternehmen, wirtschaftsnahe oder andere interessengeleitete Stiftungen in die Forschung an Hochschulen oder öffentlichen Forschungsinstituten investieren, verfolgen sie eigene Interessen und betreiben nicht etwa selbstlose Förderung. Nun geht die Verfassung nicht so weit und verbietet es Einzelnen in der Wissenschaft, Drittmittel anzunehmen. Doch verfassungsrechtlich problematisch wird die Fremdfinanzierung, wenn der Staat selbst durch System-Entscheidungen öffentliche Forschungseinrichtungen in fremde Abhängigkeit drängt. Solches zeichnet sich derzeit ab: Nicht nur, dass die – politisch gesetzte – Auszehrung der öffentlichen Haushalte auch die Hochschulfinanzierung in Mitleidenschaft zieht, mit der Folge, dass die Hochschulen je länger, je mehr auf Drittmittel-Einwerbung angewiesen sind; nicht nur, dass dies Zeit und Energie bindet – ein nicht immer produktiver Ressourcen-Einsatz. Wichtiger noch, der Staat prämiert die erfolgreiche Drittmittel-Einwerbung: unmittelbar durch einen entsprechenden Bonus bei der Vergabe öffentlicher Mittel, der nach einem Koalitionsbeschluss vom 20. Juni 2006 als „Forschungsprämie“ die eingeworbenen Fremdmittel um ein Viertel aufstocken soll, um die „Forschung in Universitä-
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ten und Instituten besser mit den Unternehmen zu verbinden“3; mittelbar durch die immanente Bevorzugung der besser situierten Hochschulen im Rahmen der staatlich in Gang gesetzten Konkurrenz, etwa des Exzellenz-Wettbewerbs; zwangsläufig machen die das Rennen, die ohnehin schon über die besseren Ausgangsbedingungen, vor allem über die bessere Ausstattung verfügen – mit der ebenfalls unvermeidlichen Folge, dass die Schwachen weiter abgehängt werden.4 Ob solche staatlich verantworteten Systementscheidungen nicht die notwendigen Grundlagen einer freien Wissenschaft und Forschung angreifen, wäre verfassungsrechtlicher Prüfung wert. Immerhin setzt diese Entwicklung eine Spirale in Gang, die die benachteiligten Hochschulen, Institute und wissenschaftlich Forschenden in ihrer Forschungskapazität kontinuierlich zurückfallen lässt und deren Arbeit ungebührlich einengt. Bestimmen überdies ökonomische Interessen, am Ende gar unter der Erwartung kurzfristiger Verwertung, die forschungsrelevante Fragestellung, bleibt für andere Themen wenig Raum; Aufmerksamkeit, Energie, Karrierechancen konzentrieren sich auf die Sektoren, die sich komfortabler Bedingungen erfreuen. An den Rand gedrängte Themen sind selten attraktiv; die Geisteswissenschaften leiden schon heute darunter. Leidtragende sind zugleich die Studierenden, die einem Zweiklassensystem von Hochschulen ausgeliefert werden. So wird das Fundament für eine gesellschaftliche Polarisierung gelegt, neuerdings als Elitebildung politisches Programm; vergessen ist das Recht auf freie und gleiche Teilhabe an einem öffentlichen Gut. Hier trifft sich die Kritik mit der sozialstaatlichen Interpretation der Grundrechte, nach der sich Demokratie und Grundfreiheiten nicht in formalen Organisationsprinzipien und in der Abgrenzung einer autonom gedachten Gesellschaft gegen den Staat erschöpfen; vielmehr enthält das Sozialstaatspostulat den Auftrag, die sozialen Grundlagen zu schaffen, damit Grundrechte und -freiheiten sich überhaupt real entfalten können. Eine politische Privilegierung der fremdfinanzierten Forschung bei gleichzeitiger Auszehrung öffentlich finanzierter, autonomer Forschung überantwortet dagegen ein öffentliches Gut den Rendite- und Marktstrategien wissenschaftsfremder Kräfte.
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So die Begründung der Bundesforschungsministerin Schavan bei Erläuterung der Koalitionsvorlage, FAZ, 24.6.2006, sowie Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vom 20.6.2006, 111/2006. Dies alles wird seit langen Jahren von der Bertelsmann Stiftung mit bewundernswerter Effizienz vorbereitet und begleitet. Ein Narr, der in diesem Wissenschafts-Darwinismus Rationalität sucht!
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Wissenschaftlicher Zweifel und Kritik Die vorstehenden Überlegungen beschränkten sich auf die rechtliche Einbettung, also die strukturellen Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Autonomie. Wichtiger für die Gedanken zur Wissenschaftsfreiheit sind die inhaltlichen, fachlichen wie methodischen Anforderungen, die an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie die von ihnen produzierten Erkenntnisse gestellt werden. Spätestens seit Descartes, wenn nicht seit Augustin, wissen wir um die Bedeutung des methodischen Zweifels als Movens der Wissenschaft. Nichts darf als gesichert gelten. Alles kann, ja muss in Frage gestellt werden können. Und: Das eigene Verfahren der Wahrnehmung und Deutung der Wirklichkeit ist offenzulegen. Das richtet sich insbesondere gegen herrschende Meinungen und Dogmen. Das sind nicht zufällig Lehren, die zugleich staatliche, kirchliche oder gesellschaftliche Macht legitimieren. Kritik ist unbequem und provoziert Abwehrreaktionen nicht nur der um ihre Legitimation bangenden Macht. Vielmehr wird regelmäßig auch die Mehrheit der Wissenschaftsgemeinde auf den Plan gerufen, die sich in ihrem Konsens gestört fühlt. Die großen historischen Beispiele und Vorbilder kritischer Wissenschaft sind bekannt. Sie bestätigen im Übrigen das demokratische Fundament der Wissenschaftsfreiheit. Wissenschaft ist, wenn sie ihrem Auftrag treu bleibt, demokratisch, mitunter subversiv. Das unterscheidet kritische Wissenschaft von Legitimationslehre. Wer misst den argumentativen Aufwand, wer zählt die Ketten theoretischer Ableitungen, wer überschaut die unzähligen, über die Jahrhunderte unternommenen Versuche, gesellschaftliche, religiöse und politische Grundannahmen gedanklich zu unterfüttern, um kirchliche, staatliche und soziale Herrschaft zu rechtfertigen und das Einverständnis der Unterworfenen herzustellen? Lange Zeit erfüllte die Theologie diese Aufgabe. Später, als die kirchliche Autorität verblasste, sprang die Jurisprudenz in die Bresche; das Arbeitsrecht bietet immer noch handfeste Beispiele. Heute haben die Wirtschaftswissenschaften die Kanzel besetzt. Die dominierende marktradikale Orthodoxie erweist sich als trefflich geeignete Bewahrerin der bestehenden Besitz- und Machtverhältnisse. Die Entfesselung der Marktkräfte durch Deregulierung – wie Abbau von Kündigungsschutz, Förderung prekärer Beschäftigung, Auflösung des Tarifvertrages etc. – stärkt die Position des Arbeitgebers, indem sie ihn von rechtlichen Bindungen freistellt. Grenzüberschreitendes Lohndumping und der Druck auf Arbeitslose, jede Arbeit anzunehmen, schwächt die Gewerkschaften, erschwert kollektive Gegenwehr und stärkt den Arbeitgeber. Das Leitbild vom schlanken Staat entlastet Unternehmen und 379
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hohe Einkommen von Steuern und öffnet zugleich die Tore für die Privatisierung, also die renditekräftige Anlage privaten Kapitals. Eng und willkürlich gezogene Grenzen der öffentlichen Verschuldung und die Verpflichtung des europäischen Zentralbankensystems auf Geldwertstabilität dienen vornehmlich denjenigen, die große Geldvermögen besitzen und verwalten. Genug der Beispiele. Allgemein läuft eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik darauf hinaus, die Faktoren unternehmerischen Handelns zu verbilligen und von hemmender Rücksichtnahme auf andere Interessen zu befreien. Das aber ist die – noch dazu kurzatmige und zukunftsblinde – Sicht des Arbeitgebers, dessen Rolle im Verhältnis zur sozialen, rechtlichen und natürlichen Umwelt absolut gesetzt wird. Nicht, dass wir damit eine willfährige Vollstreckung unternehmerischer Interessen behaupten wollen. Die Unterstellung wissenschaftlicher Handlangerdienste ist genauso Unfug wie jede Form von Drahtziehertheorie. Immerhin ist das neoliberale Gedankengebäude in sich schlüssig – solange man es vor Berührung mit der Realität schützt. Was sich die marktliberale Interpretation der Wirtschaft jedoch vorhalten lassen muss, sind die Weigerung, das eigene Verfahren zur Vermessung der Wirklichkeit zu hinterfragen, und die Blindheit gegenüber den Folgen für andere wie für die Zukunft der Wirtschaft selbst. Die alte, ursprünglich auch liberale Einsicht, dass der Markt unfähig ist, von sich heraus sozialen Ausgleich, die Bewahrung der Umwelt, die Entwicklung einer gemeinsamen Infrastruktur und die Erfordernisse nachhaltigen Wirtschaftens sicherzustellen, scheint vergessen. Spätestens seit sich inzwischen über den Zeitraum einer ganzen Generation Arbeitslosigkeit, Armut und Perspektivlosigkeit ausgebreitet haben, wundert es, dass die herrschende Meinung noch nicht einmal die Frage stellt, ob ihre Grundannahmen stimmen.
Testfall Empirie Damit sind wir beim anderen Vorwurf: der Resistenz, die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Es mag ja sein, dass die Gegenmeinung: das Plädoyer für eine nachfragegesteuerte Wirtschaftspolitik, in Zeiten offener Grenzen ihre Schwächen hat. Doch die Abschottung der herrschenden Meinung gegenüber den jährlich aufs Neue präsentierten Fehlschlägen ihrer eigenen Empfehlungen ist einzigartig! Wissenschaftliche Erkenntnisprozesse bedürfen der kontinuierlichen Konfrontation mit der Wirklichkeit; das schließt die Bereitschaft, ja die Neugier ein, die Fakten sprechen zu lassen. Nun sind die Fakten seit Jahren zu besichtigen, 380
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gleichsam in Gestalt eines volkswirtschaftlichen Großlabors. Nicht eine der wissenschaftlich begründeten Verheißungen ist aufgegangen; im Gegenteil, Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Stagnation, Wohlstandsverluste, krisenhafte Entwicklung der von der Binnennachfrage abhängigen Wirtschaftszweige haben zugenommen. Wem der Blick aufs nationale Experimentierfeld nicht genügt, mag über die Grenzen schauen. Wie kommt es, dass Länder, deren Regierungen andere wirtschaftspolitische Akzente setzen, besser abschneiden? Wie ist es möglich, dass Staaten mit deutlich höherer Staatsquote nicht nur über eine bessere öffentliche Infrastruktur und damit eine höhere Zukunftsfähigkeit verfügen, sondern auch eine bessere Beschäftigungsbilanz vorweisen, ohne ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit aufs Spiel gesetzt zu haben? Fragen über Fragen, die von der nicht im Mainstream liegenden wirtschaftswissenschaftlichen Minderheit wiederholt gestellt wurden, freilich ohne durchschlagende Resonanz und ohne dass die herrschende Meinung bisher bereit wäre, die eigenen Hypothesen zu überprüfen. Wer die Wirklichkeit derart ausblendet, muss sich beinahe zwangsläufig durch Dogmatisierung gegen Kritik abzuschirmen versuchen. Genau dies erleben wir derzeit nach allen Regeln der Zunft: in der Nachwuchspflege und universitären Berufungspolitik, in der Publizistik und der Politikberatung dominiert neoliberale Orthodoxie. Wer gegen den Strom schwimmt, hat kaum eine Chance, sich Gehör zu verschaffen, geschweige denn, in Politik und Medien den herrschenden Konformitätsdruck aufzubrechen. Mitunter treibt dies skurrile Blüten. In der Auseinandersetzung mit sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit – von der Verfassung geboten und, sehr zum Leidwesen neoklassischer Wirtschaftspolitik, immer noch von der Bevölkerungsmehrheit positiv besetzt – müssen gar Evolutionslehre und Paläoanthropologie herhalten, um Freiheit gegen Gleichheit auszuspielen. Jüngst beschwor Frau Noelle-Neumann als Festrednerin auf den Hayek-Tagen die These des Patrons und „Kirchenvaters“, dass freie Gesellschaften „glücklicher und erfolgreicher“ seien und sich „im Verlauf der kulturellen Evolution als die überlegenen erwiesen“ hätten. Der Ökonom P. Schwartz von der Universität San Pablo in Madrid setzte eins drauf und identifizierte Phänomene wie „Sozialneid“, Furcht vor Wettbewerb und Ablehnung der Globalisierung allesamt als „atavistische Rückfälle der egoistischen genetischen Disposition des Menschen hinter die Errungenschaften der kulturellen Evolution“5. Merke: Kapitalismuskritik und sozialer Ausgleich sind Relikte aus Zeiten der „Jäger und Sammler“.
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Kritische Reflexivität Das Stichwort vom Sozialneid lädt zu einer weiteren Betrachtung ein. Keine Wissenschaft ist frei von außerwissenschaftlichen Voreinstellungen, Prägungen etc. Voraussetzungslose Erkenntnisprozesse gibt es nicht. Schon die Auswahl des Gegenstandes und die Bestimmung der relevanten Fragestellung sind zumindest auch von vorwissenschaftlichen Interessen und Wertungen geprägt. Vielfach ist das erkenntnisleitende Interesse ökonomischer Natur. Anwendungsorientierte Forschung, ein großer Teil der Naturwissenschaften, auch der Medizin verdanken ihre Impulse häufig wirtschaftlichen Interessen. Das muss nicht sündhaft sein. Es sollte nur in einer demokratischen Gesellschaft offengelegt werden. Und es gehört zur wissenschaftlichen Redlichkeit, sich der jeweiligen außerwissenschaftlichen Interessen bewusst zu sein. Im Falle der Auftragsforschung ist dies nicht schwer; das Interesse liegt zumeist offen zu Tage. Ungleich schwieriger ist Transparenz herzustellen, soweit persönliche Wertungen und soziale Prägungen die wissenschaftliche Arbeit bestimmen. Und dies ist regelmäßig der Fall. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind Teil der Gesellschaft. Sie gehören einer sozialen Schicht an, sind dadurch in Habitus, Weltsicht und Wertung geprägt. Beinahe zwangsläufig bestimmen diese Prägungen auch die wissenschaftliche Arbeit, von der relevanten Fragestellung bis zur Interpretation der sozialen Wirklichkeit. Wenn daher von wissenschaftlicher Unabhängigkeit die Rede ist, geht es darum, diese Unabhängigkeit täglich aufs Neue durch kritische Reflexion der subjektiven und sozialen Voraussetzungen der eigenen Arbeit herzustellen. Seit Bourdieu sollte über Notwendigkeit und Rüstzeug dieser Selbstvergewisserung kein Zweifel bestehen. Doch die Praxis der herrschenden Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ist eine andere. Um dies am Beispiel der ‚Reform‘ der Arbeitslosenunterstützung deutlich zu machen: Bisher hatte auch dieser Zweig der Sozialversicherung den Rechtsanspruch auf eine Unterstützung begründet, die sich am erarbeiteten Lebensstandard orientiert. Seit den so genannten Hartz-Reformen wird dieses Prinzip – nach Ablauf der verkürzten ALG I-Bezugsdauer – durch ein System der Armenfürsorge zugunsten der ‚wirklich Bedürftigen‘ abgelöst. Der Paradigmenwechsel soll im Zeichen der Eigenverantwortung für weitere Schritte des sozialstaatlichen Umbaus Pate stehen; die Mahnungen des Bundespräsidenten sind jedem im Ohr. Zur Eigenverantwortung muss erzogen werden; auch dies wissen wir aus der Geschichte der Armenfürsorge. Folglich zeigt sich der Staat im Verhältnis zu den wirklich Bedürftigen in seiner ganzen Härte rigider 382
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Bedürftigkeitskontrollen, des vorrangigen Verzehrs von Ersparnissen, der Zumutbarkeit jedweder Arbeit ohne Rücksicht auf Beruf, früheres Einkommen und Tarif; andernfalls droht Leistungskürzung. Der so vollzogene Ausbau des kontrollierenden und disziplinierenden Staates straft nicht nur die täglichen Freiheitsverheißungen und die Bekenntnisse zum schlanken Staat Lügen. Er steht auch in diametralem Gegensatz zum liberalen Umgang mit den oberen 20% der Gesellschaft. Sollen Unternehmerinnen und Unternehmer und Bezieherinnen und Bezieher hoher Einkommen, also die ‚Leistungsträgerinnen und Leistungsträger‘, zu einem erwünschten Verhalten in Geschäft und Kapitalanlage, in Familie, Haushalt oder Ehebett stimuliert werden, winken Belohnung, Entlastung und Prämien. Unten dagegen drohen Entzug, Druck und Sanktionen. Oben wird Freiheit vermehrt, unten wird sie beschränkt. Man stelle sich einmal vor, der Gesetzgeber würde die Unternehmerinnen und Unternehmer verpflichten, jährlich mindestens 60% der Erträge zu investieren – bei Strafe ansonsten einsetzender konfiskatorischer Abgaben. „Polizeiund Zwangsstaat“ wären wohl noch die mildesten Vorwürfe; und dabei ginge es noch nicht einmal um höchstpersönliches Verhalten, sondern um den Einsatz erwirtschafteter Mittel. Die Verwirklichung derart gegensätzlicher Paradigmen staatlichen Handelns im Verhältnis zu seinen Bürgerinnen und Bürgern – hier Liberalität, dort Repression – bei im Übrigen vergleichbaren Tatbeständen zeichnet den Klassenstaat aus. Nun wurde Hartz IV nicht erst durch die Agenda 2010 grundgelegt. Die Reform hat viele Patinnen und Paten, nicht zuletzt aus dem Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, darunter mehr oder minder erlauchte Namen wie Arnulf Baring, Anthony Giddens oder Meinhard Miegel. Auch die Lehre vom Ende der Erwerbsarbeit hat – zumeist ungewollt – Hebammen-Dienste geleistet. Nicht zufällig haben Sachverständigenrat, Beiräte, wirtschaftswissenschaftliche Institute Beifall gespendet und treiben unvermindert zu weiteren Schritten der Umsetzung an. Die Einstimmung auf den aktivierenden Staat besorgen die seit einiger Zeit verbreiteten Klagen über den Sittenverfall, zu dem der Sozialstaat verführe, wie ‚Anspruchs- und Besitzstandsdenken‘, ‚Selbstbedienungs‘- bzw. ‚Vollkasko-Mentalität‘, ‚soziale Hängematte‘, ‚Egoismus‘, ‚Abzockerei‘ und ähnliche Versatzstücke; sämtlich Umschreibungen bequemen Zurücklehnens und hedonistischer Lebensauffassung, wahrgenommen aus der Perspektive harter Herrenmoral. Kann man solche Larmoyanz noch als beliebten, doch irgendwann verstummenden Grundton wöchentlicher Talkshows abtun, wird man die wissenschaftlich begründeten Vorlagen ernst nehmen müssen. Mit dem Anspruch sozialwissenschaftlicher Seriosität werden Arbeitslosen Antriebsschwäche und Initiativlosigkeit attestiert. Dies sei vor allem Er383
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gebnis eines staatlichen Wohlfahrtssystems, das dazu einlade, ein Leben des passiven Leistungsbezugs den Anstrengungen von Jobsuche und Erwerbsarbeit vorzuziehen; Sozialtransfer erziehe zur Passivität, erst recht, wenn sich aufgrund der komfortablen Ausstattung die Mühe der Arbeit nicht rechne. Damit wird ein Menschenbild erneuert, das bereits der calvinistischen Armenpolitik zugrunde gelegen hatte. Es ist der typische Blick der Oberschicht aufs Volk, den Pöbel. Die Angehörigen der unteren Stände sind faul und bequem, genusssüchtig, ja zügellos und dumpfen Trieben hingegeben, zu Fleiß, Sparfreude, Aufstiegswillen und Strebsamkeit von Natur aus nicht befähigt; die Antwort puritanischer Selbstgerechtigkeit lautete, sie entweder in Zuchtanstalten zu den vermissten Arbeitstugenden zu erziehen oder aber sie ihrem gottgewollten Schicksal zu überlassen. Dasselbe undifferenzierte Menschenbild begegnet uns in der neoliberalen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Diskussion wieder. Ein Bild – fernab von der Realität. Man muss noch nicht einmal umfangreiche empirische Studien zur Hand nehmen (vgl. z. B. Schultheis/Schulz 2005), um zu wissen: Wer arbeitslos ist, sucht Arbeit, fast um jeden Preis, unabhängig von der Dauer der Arbeitslosigkeit; Erwerbsarbeit ist nach wie vor die Brücke zur Gesellschaft, zu sozialen Kontakten, zur Selbstbestätigung und zur weiteren Entwicklung; dies zählt mehr als die Höhe des Einkommens. Überdies haben Arbeitslose ihre je eigene Individualität, leben in unterschiedlichen sozialen Bezügen, pflegen Nachbarschaft und Freundschaften, entwickeln Solidarität etc. Sie verfügen im Prinzip über die gleiche Energie, Ausbildung, Kompetenz, Fähigkeit und Bereitschaft, mit schwierigen Situationen fertig zu werden, kurz: ihr Leben zu meistern, wie die Angehörigen der oberen Schichten (vgl. Vester 2005, 22-24, 27f.). Das Einzige, was sie von denen, die über sie schreiben und bestimmen, unterscheidet, ist das Schicksal, mit der Blindheit ökonomischer Prozesse aus der Arbeitsgesellschaft herausgeworfen zu sein. Ein Schicksal, das sie im Regelfall mit aller Energie zu wenden versuchen. Natürlich schließt dies auch die Fälle ein, dass – junge wie alte – Menschen an die Grenzen ihrer Kräfte stoßen, resignieren oder gar aus der Bahn gestoßen werden. Das neoliberale Bild der konturenlosen, der Passivität ergebenen Masse der Arbeitslosen ist nicht nur empirisch widerlegt. Es ist die Reproduktion schichtspezifischer Vorurteile des bildungsbürgerlichen Milieus. Die unteren ‚Volksmassen‘ auf diese undifferenzierte Weise – wie eine fremde Welt – wahrzunehmen, entspricht durchaus dem Alltagsbewusstsein der oberen 20 Prozent. Diese Sicht der Dinge bildet den Humus für das politische Feuilleton, in dem aus sozialwissenschaftlicher, 384
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theologischer und historischer Perspektive über die vermeintlichen Ursachen der ökonomischen Krise und deren Behebung räsoniert wird. Vorurteilsbeladene Expertisen solcherart vorzulegen, verstößt in eklatanter Weise gegen Mindestbedingungen an kritischer Reflexivität. Das Ergebnis kann man getrost als wissenschaftliche Falschmünzerei bezeichnen. Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt: Ein ähnliches Zerrbild der sozialen Wirklichkeit steckt hinter dem – gleichfalls wissenschaftlich untermauerten – Programm eines bedingungslosen Mindesteinkommens. Zwar bedeutet Bedingungslosigkeit den Verzicht auf staatliche Repression. Doch die den Arbeitslosen zuerkannte Rolle freier Selbstverwirklichung beruht zum einen auf der nicht hinterfragten Unterstellung, der Gesellschaft gehe die Arbeit aus; selbst wenn dies so wäre, könnte und müsste sie umverteilt werden. Zum anderen missachtet sie die realen Bedürfnisse der Betroffenen, nämlich ihren Anspruch, am gesellschaftlichen Prozess der (Erwerbs-)Arbeit teilzunehmen. Oder wollen Wissenschaftler, Politikerinnen und Unternehmer6, selbst im Übermaß in die Erwerbsarbeit integriert, mehreren Millionen Menschen ein Programm der zwangsweisen Umerziehung verordnen? Die Realitätsblindheit erinnert, mit Verlaub, an die Spiele, mit denen die französische Aristokratie des 18. Jahrhunderts das reale Elend der Landbevölkerung zur bukolischen Idylle unbeschwerten Hirtenlebens verklärte.
Erweckungs- und Kampfwissenschaft Der alltägliche Alarmismus Ein anderes Beispiel verzerrter Wahrnehmung bietet die wissenschaftliche Beteiligung an unterschiedlichen Bedrohungsszenarien. Die Wirtschaftswissenschaften blicken hier auf eine ungute Tradition zurück. Wann immer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Verteilungskampf – in der Tarif- wie in der Steuerpolitik – Partei für die Unternehmen und Vermögenden ergriffen haben, wurden Legenden über den vermeintlich gefährdeten Standort entwickelt und wissenschaftlich fundiert. Mal war und ist es der Technologievorsprung der USA, Japans oder Indiens; mal und immer wieder sind es die bescheidenen und fleißigen japanischen, südostasiatischen, osteuropäischen, irischen und gegenwärtig chinesischen Werktätigen. Nur fragt man sich von Mal zu
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Der Chef der Drogeriemarkt-Kette ‚dm‘, Werner, engagiert sich seit einiger Zeit für ein bedingungsloses Grundeinkommen. 385
DETLEF HENSCHE UND ARNE KLÖPPER
Mal verdutzt, woher die jährlichen Rekordüberschüsse der Außenhandelsbilanz kommen. Auf sozialwissenschaftlichem Feld werden wir neuerdings mit der vermeintlich bedrohlichen demografischen Entwicklung in Angst und Schrecken versetzt, jüngst um die Variante der Geburtenarmut der deutschen Frauen im Allgemeinen und der Akademikerinnen im Besonderen angereichert. Nicht nur, dass mit weit, über mehrere Jahrzehnte ausgreifenden statistischen Prognosen jongliert wird, ohne Rücksicht auf wissenschaftliche Seriosität. Verschwiegen wird auch, dass die weitaus dramatischere Entwicklung der Alterspyramide über das vergangene Jahrhundert mühelos von der Entwicklung der Produktivität überkompensiert worden ist und dass selbst bescheidenes Produktivitätswachstum ausreicht, den Anstieg der Lebenserwartung, eigentlich ein Geschenk, so zu finanzieren, dass ein Altern in Würde möglich ist. Die Beispiele ließen sich fortsetzen, etwa um Überfremdungsszenarien, um den Krieg der Kulturen und Religionen etc. Gemeinsam ist solchem – wissenschaftlich unterfütterten – Alarmismus, dass nicht Aufklärung betrieben wird und auch nicht betrieben werden soll. Bedrohungsängste sollen vielmehr Gehorsam erzeugen. Katastrophenrhetorik vermittelt – gleich der Legende von der Alternativlosigkeit der herrschenden Politik – eben nicht diskursfähige Einsicht, sondern suggeriert Ausweglosigkeit, um auf diese Weise Akzeptanz zu bewirken, etwa mit verschlechterten Arbeitsbedingungen, Abschlägen bei den Renten oder gar dem Wechsel zur privaten Lebensversicherung, kurz: mit dem Umbau des Staates zum Spar- und Schrumpfstaat. Akzeptanz-Management dieser Art blickt auf eine lange Tradition zurück und kann sich großer Vorbilder rühmen. Die Kirchen haben über die Jahrhunderte durch Höllenfeuer und apokalyptische Schreckbilder Gehorsam erzeugt und Herrschaft gesichert. Mitunter haben sich auch Gegenbewegungen der gleichen Methode bedient, wie manches Ketzertum, Buß- und Erweckungspredigten. Ja, auch die Gewerkschaften pflegen nicht selten eine alarmierende Rhetorik, die gleichfalls darauf angelegt ist, Folgebereitschaft zu erzeugen und Autorität zu sichern, statt Einsicht zu vermitteln. Auf solchen Wegen Fügsamkeit zu erzeugen, widerspricht wissenschaftlichem Selbstverständnis, das der Rationalität, der Argumentation, dem aufgeklärten Diskurs verpflichtet ist. Untergangs-Theologie, Flagellantentum oder linke Katastrophenrhetorik sind Agitation, schlechte noch dazu, und das Gegenteil von Wissenschaft. Alarmismus verdunkelt den Blick für die Differenziertheit und Widersprüchlichkeit der Realität. Eine ernst zu nehmende Wissenschaft hat sich dem zu widersetzen. Gerade weil auch in der Arbeiterbewegung der agitatorische Gaul bis386
WISSENSCHAFT, GEWERKSCHAFT, POLITIK, IDEOLOGIE
weilen durchgeht – wie viel Untergang, Weltenende, Kladderadatsch wurde nicht schon prophezeit?7 – ist wissenschaftliche Beratung für Gewerkschaften so wichtig, um auf dem Boden von Empirie und Rationalität zu bleiben.
Wissenschaftliche Intervention Zurück zur Ausgangsfrage. Wissenschaftliche Unabhängigkeit ist jenseits der notwendigen rechtlichen Abschirmung vor außerwissenschaftlicher Gängelung täglich aufs Neue herzustellen: unter anderem durch Infragestellung von vermeintlichen Gewissheiten, durch kontinuierliche Überprüfung an der Realität, durch kritische Reflexivität, die auch den eigenen sozialen Standort mit einbezieht, durch Aufklärung statt durch Bedrohungsagitation. Wenn es um veritable Fehlleistungen in der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Forschung und Politikberatung geht, sehen wir nicht etwa emanzipatorische und arbeitnehmer/innenorientierte Wissenschaft, sondern wiederholt die Hüter des Status Quo straucheln. Zufall? Wohl nicht. Legitimationslehren sind in dem Maße anfällig für Dogmatisierung und Realitätsverleugnung, in dem die verteidigten Verhältnisse Risse und Widersprüche aufweisen (was bekanntlich nicht zu der Hoffnung auf ihre schnelle Ablösung berechtigt). Gerade angesichts neoliberaler Orthodoxie tut Widerspruch not. Da sind die Stimmen unabhängiger, kritischer, an den Fragen und Interessen der abhängig Beschäftigten orientierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als Gegensicht unverzichtbar. Auch wer den Gewerkschaften nicht nahe steht, sollte für die andere Sicht der Dinge dankbar sein. Was aber macht nun umgekehrt den Anspruch der gewerkschaftlich orientierten Wissenschaft aus? Er kann sich nicht darin erschöpfen, die Gewerkschaftsvorstände in ihrer Alltagsarbeit zu beraten und Auftragsarbeiten abzuliefern. Dazu haben die Gewerkschaften ihre eigenen Stäbe und Abteilungen. Dazu bedarf es keines zusätzlichen Instituts oder zusätzlicher Forschungsförderung. Damit stellt sich erst recht und zugespitzt die Frage nach Inhalt und Legitimation einer ‚gewerkschaftsorientierten Wissenschaft‘. Es scheint paradox: Wer zur Inhaltsbestimmung dieses Begriffs politische, moralische, syndikalistische, kurz: außerwissenschaftliche Maximen erwartet, geht fehl. Der Schritt zur – linken – Instrumentalisierung wissenschaftli7
Was freilich das Gegenteil, die Verharmlosung oder Unterschätzung bevorstehender Katastrophen, nicht ausschließt und z. B. am Ende der Weimarer Demokratie verheerende Folgen hatte. 387
DETLEF HENSCHE UND ARNE KLÖPPER
cher Arbeit wäre nicht weit. Allgemein gehört es zu den Prinzipien und Erfolgsbedingungen wissenschaftlicher Intervention, dass sie sich wissenschaftlicher Mittel und Methoden bedient und ihre Autonomie wahrt. Der politische Aufruf, Resolutionen, Solidaritätserklärungen und Unterschriftenlisten sind sicher wichtig und mögen dem jeweiligen Anliegen dienen und die Bekennenden schmücken, doch es bleiben Manifestationen politischen Engagements, auch wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich beteiligen. Geht es dagegen um wissenschaftliche Intervention, also um eingreifende Wissenschaft, sind die fachliche Kompetenz und die allein darauf fußende und sich verwirklichende Autorität gefragt. Die erste Antwort zur Bestimmung der gewerkschaftlichen Orientierung lautet daher: Erhaltung und tägliche Erneuerung der Autonomie. Unabhängigkeit heißt notwendig, Dogmen hinterfragen, die Indienstnahme für ökonomische oder politische, also vorwissenschaftliche Interessen durchleuchten, die Täuschungsmanöver symbolischer Herrschaft aufdecken, die oftmals tabuisierten Folgen und Implikationen wissenschaftlich begründeter Handlungsempfehlungen herausarbeiten, mit anderen Worten: interessengeleiteter Verdunkelung kritische Aufklärung entgegenzusetzen. Das ist ein anspruchsvolles Programm. Auch gewerkschaftsorientierte Forschung muss die eigenen beruflich und sozial bedingten Prägungen hinterfragen. So kann sich beispielsweise der Rückbezug auf die Lage und Interessen der Gewerkschaftsmitglieder, der etwa bei einem Projekt der arbeitnehmer/innenorientierten Einzelwirtschaftslehre des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in den 1970er Jahren Pate gestanden hat, für andere Arbeiten als zu eng erweisen. In Zeiten der Prekarisierung wuchert soziale Not vornehmlich am Rand, wenn nicht außerhalb des gewerkschaftlichen Organisationsfeldes. Wirtschaftliche, ökologische und gesellschaftliche Fehlentwicklungen, die dadurch bewirkten Zerstörungen, die Verfestigung inhumaner Lebensbedingungen finden nicht immer im Zentrum gewerkschaftlicher Aufmerksamkeit statt, von gültiger Beschlusslage ganz zu schweigen. Gleichwohl und erst recht müssen sie Gegenstand gewerkschaftsorientierter wissenschaftlicher Fragestellung sein. Dies alles verträgt sich freilich nicht mit einem Begriff wissenschaftlicher Wertfreiheit, der die Augen vor den gesellschaftlichen Voraussetzungen und Folgen wissenschaftlicher Arbeit verschließt; so verstandene „axiologische Neutralität“ (Bourdieu) wird gern in Stellung gebracht, um Kritik verstummen und das Deutungsmonopol der wirtschaftlichen und politischen Eliten unangefochten zu lassen. Zugespitzt: Gegenüber ökologischer, wirtschaftlicher und sozialer Destruktion gibt 388
WISSENSCHAFT, GEWERKSCHAFT, POLITIK, IDEOLOGIE
es keine Neutralität. Für diese Feststellung bedarf es noch nicht einmal einer spezifisch gewerkschaftlichen Verankerung. Es genügt die allgemeine normative Grundlage jeder kritischen Wissenschaft: die der Humanität. Wenn, wie dargelegt, die Wissenschaftsfreiheit verfassungsrechtlich verbürgt ist, so verweist dies auf den demokratischen Gehalt des geschützten Gutes; sonst bedurfte es der verfassungsrechtlichen Garantie wohl kaum. Namentlich die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften standen in wichtigen historischen Etappen in Opposition zu überkommenen Machtstrukturen. Wir zögern heute aus gutem Grund, in der geschichtlichen Entwicklung mit schnellem Blick Fortschritte festzumachen; dazu ist der Fortschrittsbegriff in jüngster Zeit zu oft missbraucht worden. Doch es gab in der Geschichte Phasen, in denen die Rationalität der Aufklärung und die Freiheit der Person ein Stück weiter bewegt wurden; beides gehört zusammen. Sei es die Ablösung von kirchlicher Bevormundung, sei es die Überwindung feudaler Unterwerfung – Delegitimation undemokratischer Macht und persönliche Autonomie gingen Hand in Hand. Es waren konfliktgeladene Entwicklungen, da sie die individuelle Freiheit beförderten. Wir würden heute von Menschenwürde und Emanzipation sprechen. Nicht zufällig handelt es sich dabei um die unveräußerlichen menschenrechtlichen Fundamente unserer Verfassung. Sie zu wahren, unter ökonomischen und sozialen Veränderungen vor Auszehrung zu schützen und ihnen im sozialen Raum Geltung zu verschaffen, sollte auch Auftrag wissenschaftlicher Forschung sein. Nicht dass damit in behender Ableitungslogik aus Grundrechten und Sozialstaatspostulat des Grundgesetzes wissenschaftliche Fragestellungen und Forschungsgegenstände hervorgehen würden! Doch wenn es darum geht, gewerkschaftlich orientierte Wissenschaft zu definieren, liegt hier der Schlüssel zur Legitimation wissenschaftlicher Autonomie. Dass dies mitunter zu Konflikten mit den Gewerkschaftsvorständen führen kann, ist unvermeidlich. Es zeichnet die an gewerkschaftlichen Themen und Positionen interessierte Forschung aus, nicht selten der gewerkschaftlichen Beschlusslage voraus zu sein. Wenn es beispielsweise erkennbar ist, dass unter dem Druck anhaltender Arbeitslosigkeit, defizitären Organisationsgrades und von Tarifflucht-Tendenzen der Arbeitgeber die kollektive Festlegung der Arbeitsbedingungen nur noch begrenzte Reichweite hat, ist es notwendig, nach ebenbürtigen Instrumenten zu suchen, um der Spirale der Niedriglohnentwicklung Einhalt zu gebieten. Vergleichende Untersuchungen über Niedriglöhne und gesetzliche Mindestlöhne als Problemlösung wurden bereits zu einer Zeit vorgelegt, als das Thema unter den Tarifpolitikerinnen und -politikern des DGB noch nicht mehrheitsfähig war. Andere Reizthemen 389
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waren Vermögensbildung oder die Mitbestimmung am Arbeitsplatz, um nur einige Beispiele zu nennen. Nimmt man die Ansprüche einer an Emanzipation und Würde der Person orientierten Forschung ernst, ist allen arbeitnehmer/innenorientierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu wünschen, den Blick von unten nicht preiszugeben. Dies drängt sich nicht zuletzt deshalb auf, da sich die soziale Polarisierung nicht notwendig in der Mitgliedschaft und vollends nicht unter den Funktionären der Gewerkschaften abbildet. Doch die gewerkschaftliche Orientierung hat sich nicht zuletzt daran zu messen, was im Rahmen des von den deutschen Gewerkschaften stets in Anspruch genommenen politischen Mandats über die Vertretung allein arbeitsmarktbezogener Verbandsinteressen hinausweist. Wenn die Anleihe aus unserer ‚Leitkultur‘ erlaubt ist: Der Satz des Evangeliums, „Was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan“ (Math. 25, 40), ist zugleich eine urgewerkschaftliche Maxime, fast ein kategorischer Imperativ. In Zeiten einer Politik der Mitte, die um so genannte Leistungsträger wirbt und primär die im Blick hat, die drin sind, die anderen dagegen aufzugeben bereit ist, ist der Rückbezug des gewerkschaftlichen Mandats auf die, die unten stehen, existenznotwendig. Auch hier Forschung zu betreiben, gehört zur gewerkschaftlichen Orientierung.
Literatur Hensche, Detlef (2006): Wissenschaft, Politik, Ideologie, in: Schäfer, Claus/Seifert, Hartmut (Hg.): Kein bisschen leise: 60 Jahre WSI, Hamburg, 13-31. Hensche, Detlef (2008): Befreiung von der Arbeit oder in der Arbeit?, in: Neuendorff, Hartmut et al. (Hg.): Arbeit und Freiheit im Widerspruch? Bedingungsloses Grundeinkommen – ein Modell im Meinungsstreit, Hamburg, 210-213. Müller, Albrecht (2006): Machtwahn. Wie eine mittelmäßige Führungselite uns zugrunde richtet, München. Schultheis, Franz/Schulz, Kristina (Hg.) (2005), Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag, Konstanz. Vester, Michael (2005): Der Wohlfahrtsstaat in der Krise. Die Politik der Zumutungen und der Eigensinn der Alltagsmenschen, in: Schultheis, Franz/Schulz, Kristina (Hg.): Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag, Konstanz, 21-33.
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Autorinne n und Autore n
Braunstein, Dirk: Studium der Philosophie, Anglistik und Pädagogik, promoviert in Berlin über das Ökonomieverständnis bei Adorno, Arbeitsschwerpunkt: Kritische Theorie. Bürgin, Julika: Politikwissenschaftlerin, promoviert in Hamburg über gewerkschaftliche Erwachsenenbildung. Dumbadze, Devi: Studium der Philosophie und Film- und Fernsehwissenschaft, promoviert in Bochum über die Kritik der Fernseh- und Medientheorien. Elbe, Ingo: Philosoph, Assistent am Institut für Philosophie der Universität Oldenburg. Promotion zum Thema Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965 (Berlin 2008), Veröffentlichungen zur Kritik der politischen Ökonomie, Rechts- und Staatskritik. Fabian, Walter: Werkzeugmacher, Sprecher der IG Metall-Vertrauensleute bei Volkswagen Nutzfahrzeuge und Mitglied des IG Metall Ortsvorstandes in Hannover. Hagen, Holger: Studium der Germanistik und Politologie, promoviert in Tübingen über Philosophie und Psychologie der Neurowissenschaft mit Bezug auf die Kritik Hegels an der „Naturalisierung des Geistes“. Heinrich, Michael: Politologe und Mathematiker in Berlin, Mitglied in der Redaktion von PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft; Arbeitsschwerpunkte: marxsche Kritik der politischen Ökonomie 391
ERKENNTNIS UND KRITIK
und der gegenwärtige Kapitalismus. Er veröffentlichte 2008 Wie das Marxsche Kapital lesen? Leseanleitung und Kommentar zum Anfang des ‚Kapital‘, Stuttgart. Henning, Astrid: Studium der Literatur- und Geschichtswissenschaft, promoviert in Hamburg zum Thema: „Literatur und soziale Herrschaft. Die Konstruktion des Subjektes des Nationalen durch die Heinrich Heine-Rezeption in der DDR“. Hensche, Detlef: Rechtsanwalt in Berlin, ehemals wissenschaftlicher Referent am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der HansBöckler-Stiftung, Leiter der Abteilung Gesellschaftspolitik beim Deutschen Gewerkschaftsbund, Vorstandsmitglied der Industriegewerkschaft Druck und Papier und von 1992 bis zur ver.di-Gründung 2001 Vorsitzender der IG Medien. Hess, Jörg: Diplom-Volkswirt, promoviert an der TU Chemnitz zum Thema „Die Theorie der radikalisierten Moderne Anthony Giddens’. Eine progressive Kritik“. Hesse, Christoph: Studium der Film- und Fernsehwissenschaft, Germanistik und Philosophie, Mitarbeiter am Institut für Kommunikationsgeschichte und angewandte Kulturwissenschaften der FU Berlin, veröffentlichte 2006 Filmform und Fetisch, Bielefeld. Huber, Lara: Philosophin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universitätsmedizin der Universität Mainz; Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftstheorie und Ethik der Neurowissenschaften, theoretischer und praktischer Autonomiebegriff, Epistemologie und Phänomenologie von Wissensräumen in der kognitiven Neurowissenschaft; Ästhetik und Bildwissenschaft; veröffentlichte 2004 Der Philosoph und der Künstler. Das ästhetische Fundament der ontologischen Neuorientierung Maurice Merleau-Pontys, Tübingen. Klöpper, Arne: Studium der Soziologie sowie European Labour Studies, promoviert in Bremen am Institut Arbeit und Wirtschaft zu gewerkschaftlichen Mitgliedergewinnungsstrategien. Langemeyer, Ines: Diplom-Psychologin, Mitarbeiterin im Bereich Soziologie an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus; Forschungsschwerpunkte: Subjektivierung und Verwissenschaftlichung 392
AUTORINNEN UND AUTOREN
von Arbeit, Neue Lernverhältnisse, Soziale Ungleichheit sowie Tätigkeitstheorie und Subjektwissenschaft. Sie veröffentlichte 2005 Kompetenzentwicklung zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Arbeitsprozessintegriertes Lernen in der Fachinformatik. Eine Fallstudie, Münster. Laufenberg, Mike: Studium der Sozialwissenschaften, promoviert an der Technischen Universität Berlin zum Thema „Die Regierung der Sexualität – Subjektivität und Wahrheit im Zeitalter der Biologie“. Lux, Vanessa: Diplom-Psychologin, promoviert an der FU Berlin zur Bedeutung der modernen Genetik für die psychologische Praxis aus der Perspektive der Kritischen Psychologie. Ohm, Christof: Diplom-Psychologe, Datenschutzbeauftragter, Mitglied der Redaktion des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus (HKWM); Arbeitsschwerpunkte: Automationsforschung, Arbeits- und Industriesoziologie. Pahl, Hanno: Studium der Politikwissenschaften und Soziologie, Forschungsassistent am Universitären Forschungsschwerpunkt Ethik der Universität Zürich. Promotion über Das Geld in der modernen Wirtschaft. Marx und Luhmann im Vergleich (Frankfurt/M. 2008); Arbeitsschwerpunkte: Theorie der Gesellschaft, Geldtheorie, Medientheorie. Pühl, Katharina: Studium der Philosophie und Sozialwissenschaften, derzeit tätig als Studiengangskoordinatorin im Bereich „Gender und Diversity“ an der Freien Universität Berlin; Arbeitsschwerpunkte: Politische Theorie, Gesellschaftstheorie und Genderperspektiven, Ökonomie und Gender, Neoliberalismus und Sozialstaat, Queer Theory. Sauber, Martin: Diplomvolkswirt, MSc Int. Econ., Promotionsstudent am Fachbereich Sozialökonomie, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Universität Hamburg; Forschungsschwerpunkt: Komparativer Vorteil und internationale Währungshierarchie; veröffentlichte 2007 The agricultural productivity gap. Comparative advantage concerning agriculture in developing countries, Saarbrücken. Stapelfeldt, Gerhard: Professor am Institut für Soziologie der Universität Hamburg, Arbeitsschwerpunkte: Kritik der politischen Ökonomie, Kritische Theorie der Gesellschaft sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Neuzeit, jüngste Veröffentlichung: Kritik der ökonomischen
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ERKENNTNIS UND KRITIK
Rationalität. Kapitalistische Weltökonomie. Vom Staatsinterventionismus zum Neoliberalismus. Bd. 4, 1. Buch, Hamburg 2009. Steidten, Torsten: Diplom-Mathematiker, promoviert an der Technischen Universität Chemnitz im Bereich Schweißtechnik.
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Herausgeberinnen und Herausgeber
Devi Dumbadze, Philosoph, promoviert in Bochum über die Kritik der Fernseh- und Medientheorien. Johannes Geffers ist Diplom-Psychologe und promoviert in Berlin zu Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Berufsverläufen hochqualifizierter Beschäftigter. Jan Haut, Sozialwissenschaftler, promoviert in Saarbrücken über soziale Ungleichheit in sportlicher und kultureller Praxis. Arne Klöpper studierte Soziologie sowie European Labour Studies und promoviert in Bremen am Institut Arbeit und Wirtschaft zu gewerkschaftlichen Mitgliedergewinnungsstrategien. Vanessa Lux, Psychologin, promoviert an der Freien Universität Berlin zur Bedeutung der modernen Genetik für die psychologische Praxis aus der Perspektive der Kritischen Psychologie. Irene Pimminger ist Soziologin und promoviert an der Humboldt-Universität zu Berlin über die Konzeptualisierung von Geschlechtergerechtigkeit.
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Sozialtheorie Ulrich Bröckling, Robert Feustel (Hg.) Das Politische denken Zeitgenössische Positionen September 2009, ca. 300 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1160-1
Andrea D. Bührmann, Werner Schneider Vom Diskurs zum Dispositiv Eine Einführung in die Dispositivanalyse 2008, 180 Seiten, kart., 15,80 €, ISBN 978-3-89942-818-6
Georg Glasze, Annika Mattissek (Hg.) Handbuch Diskurs und Raum Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung September 2009, 338 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1155-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
2009-09-04 13-44-43 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 02f4219965409726|(S.
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3) ANZ1285.p 219965409734
Sozialtheorie Kay Junge, Daniel Suber, Gerold Gerber (Hg.) Erleben, Erleiden, Erfahren Die Konstitution sozialen Sinns jenseits instrumenteller Vernunft 2008, 514 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-829-2
Andreas Reckwitz Unscharfe Grenzen Perspektiven der Kultursoziologie 2008, 358 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-917-6
Gabriele Winker, Nina Degele Intersektionalität Zur Analyse sozialer Ungleichheiten Juni 2009, 166 Seiten, kart., 13,80 €, ISBN 978-3-8376-1149-6
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Sozialtheorie Claudio Altenhain, Anja Danilina, Erik Hildebrandt, Stefan Kausch, Annekathrin Müller, Tobias Roscher (Hg.) Von »Neuer Unterschicht« und Prekariat Gesellschaftliche Verhältnisse und Kategorien im Umbruch. Kritische Perspektiven auf aktuelle Debatten
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Dirk Baecker, Matthias Kettner, Dirk Rustemeyer (Hg.) Über Kultur Theorie und Praxis der Kulturreflexion
Daniel Hechler, Axel Philipps (Hg.) Widerstand denken Michel Foucault und die Grenzen der Macht
2008, 278 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-965-7
Gregor Bongaerts Verdrängungen des Ökonomischen Bourdieus Theorie der Moderne 2008, 386 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-934-3
Michael Busch, Jan Jeskow, Rüdiger Stutz (Hg.) Zwischen Prekarisierung und Protest Die Lebenslagen und Generationsbilder von Jugendlichen in Ost und West Oktober 2009, ca. 450 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1203-5
2008, 282 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-830-8
Lutz Hieber, Stephan Moebius (Hg.) Avantgarden und Politik Künstlerischer Aktivismus von Dada bis zur Postmoderne August 2009, 254 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1167-0
Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze Januar 2010, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-89942-703-5
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