Performance: Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst [1. Aufl.] 9783839403792

Die interdisziplinäre Aufsatzsammlung thematisiert Performance als eine spezifische, künstlerische, aber auch soziale In

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German Pages 226 [225] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Performance als soziale und ästhetische Praxis. Zur Einführung
Globalisierung, Migration und die Interkulturalität von Performance
Life-Acts. Die Kunst des Performativen und die Performativität der Künste
Den Körper in den Kampf werfen
Erfahrung, dort, wo ich nicht bin: Die Inszenierung von Abwesenheit im zeitgenössischen Tanz
Product of Circumstances
Spiel-Identitäten und Instant-Biographien. Theorie und Performance bei She She Pop
Theatralität und populäre Kultur
, Verortung' als Konzept: Rimini Protokoll und Gob Squad
Das so genannte Reale. Realitätsspiele im Theater und in der Theaterpädagogik
Spielarten und Ereignisparameter im experimentellen Musiktheater- am Beispiel einer TanzMusikTheater Werkstatt
Stimme ± Körper. Interferenzen zwischen Theater und Performance
... KLANGFLUCHTEN. .. STILLE ... FEEDBACKS ... Zur performativen Polyphonie der LOSE COMBO
Sagen und Zeigen - Der Vortrag als Performance
Autorinnen und Autoren
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Performance: Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst [1. Aufl.]
 9783839403792

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Gabriele Klein, Wolfgang Sting (Hg.) Performance

T an z S c r i p t e I hrsg. von Gabriele Brandsteu er und Gabriele Klein I Band I

GABRIELE KLEIN, WOLFGANG STING (HG. )

Performance Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst

[transcript]

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:j fdnb.ddb.de abrufbar.

©

2005

transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout Kordula Röckenhaus, Sielefeld Lektorat & Satz: Norma Köhler, Friederike Lampert & Pamela Pimpl, Harnburg Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-379-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: http:jjwww.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Performance als soziale und ästhetische Praxis. Zur Einführung

7

ÜABRTELE KLEIN/WOLFGANG STING

Globalisierung, Migration und die Interkulturalität von Performance

25

JOHANNES ÜDENTHAL

Life-Acts. Die Kunst des Performativen und die Performativität der Künste

33

DIETER MERSCH

Den Körper in den Kampf werfen

51

RATMUND HOGHE

Erfahrung, dort, wo ich nicht bin: Die Inszenierung von Abwesenheit im zeitgenössischen Tanz

59

GERALD STEGMUND

Product of Circumstances

77

XA VIER LE ROY

Spiel-Identitäten und Instant-Biographien. Theorie und Performance bei She She Pop

93

MIEKE MA TZKE

Theatralität und populäre Kultur

107

HA.TO KURZENEERGER

5

,Verortung' als Konzept: Rimini Protokoll und Gob Squad

121

KERSTIN EVERT

Das so genannte Reale. Realitätsspiele im Theater und in der Theaterpädagogik

131

ULRIKE HENTSCHEL

Spielarten und Ereignisparameter im experimentellen Musiktheater- am Beispiel einer TanzMusikTheater Werkstatt

147

HELMIVENT

Stimme ± Körper. Interferenzen zwischen Theater und Performance

165

PA TRICK PRIMAVESI

... KLANGFLUCHTEN. .. STILLE... FEEDBACKS... Zur performativen Polyphonie der LOSE COMBO

181

JÖRG LAUE

Sagen und Zeigen - Der Vortrag als Performance

197

SIBYLLE PETERS

Autorinnen und Autoren

6

219

GABRIELE KLEIN/WOLFGANG STING

Performance als soziale und ästhetische Praxis. Zur Einführung

I. Performances sind ein wesentlicher Bestandteil der Gewohnheiten, Praktiken und Rituale von Kulturen. Es waren mit dem Ethnologen Milton Singer, dem Kulturanthropologen Victor Turner und dem Theateranthropologen Richard Schechner vor allem Sozial- und Kulturwissenschaftler, die diese Ansicht formuliert und einer lebhaften Forschung über die verschiedenen sozialen, kulturellen und ästhetischen Erscheinungsformen von Performances den Weg geebnet haben. Ihr Thema waren vor allem die ,cultural performances' (Singer): Wie Kleidung getragen, Körperpflege betrieben, Feste gefeiert oder Demonstrationen durchgeführt werden, wie Hochzeiten vollzogen werden oder Beerdigungen stattfinden, schon immer waren Performances ein integraler Bestandteil des alltäglichen Lebens und der alltagskulturellen Erfahrung. Performances sind kulturell kontextualisiert und werden in den verschiedenen Kulturen unterschiedlich definiert. Sie sind, so Victor Turner, eine Praxis, in der eine Kultur sich selbst erkennt: "Cultures are most fully expressed in and made conscious of themselves in their ritual und theatrical performances [... ]. A performance is a dialectic ,flow', that is, spontaneous movement in which action and awareness are one, and ,reflexivity', in which the central meanings, values and goals of a culture are seen ,in action', as they shape and explain behaviour. A performance is declarative of our shared hu-

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manity, yet it utters the uniqueness ofparticular cultures. We will know one another better by entering one another's performances and learning their grammars and vocabularies."1 Während aus kulturanthropologischer Perspektive Performances als grundlegendes Kennzeichen menschlicher Kulturen gedacht und in Zusammenhang mit Ritualen thematisiert werden, beleuchtet eine kultursoziologische Sicht die spezifische Bedeutung der Performance in der jüngeren Geschichte der Modeme. Mit dem radikalen Umbau der Gesellschaft seit den 1970er Jahren haben demnach Performances für das Herstellen und Ausagieren von Wissen und Tradition, von ,Inhalt' und Text an Bedeutung gewonnen; gesellschaftliche Transformationen haben die Rolle des Performativen in Kultur und Gesellschaft gestärkt. Diese sind gekennzeichnet durch zum Teil widersprüchlich wirkende Vorgänge: durch Globalisierung und gleichzeitige kulturelle, soziale und politische Fragmentierungen, durch Informatisierung, Virtualisierung und Medialisierung und gleichzeitige Eventisierung, Theatralisierung und Musealisierung des Sozialen, durch neoliberale, postkoloniale Politiken und eine gleichzeitige Reaktualisierung nationalstaatlicher Politik, durch neue Formen der Wissensproduktion, eine neue symbolische Macht der Bilder, Codes und Zeichen und das gleichzeitige ,Implodieren von Bedeutungen', durch Vorbehalte gegen Metaerzählungen (Lyotard) und das gleichzeitige Wiedererstarken von Machtachsen, durch den Kollaps kultureller Hierarchien und neue Distinktionslinien zwischen kulturellen Praktiken. Mit diesen Transformationen habe sich ein anderes Gesellschaftskonzept etabliert: Die "performative society"2 favorisiere Flexibilität vor Fixiertheit, setze Fragmentierung der Kohäsion entgegen, stelle Pluralität vor Einheit und etabliere kulturelle Vielfalt anstelle einer homogenen Kultur. Die zunehmende Bedeutung des Performativen zeigt sich in allen gesellschaftlichen Bereichen, in Wirtschaft, Politik, Kultur, Wissenschaft und Sport. Ob Sportveranstaltungen oder öffentliche Gerichtsverhandlungen, Polittalks, Parteitage oder Aktionärsversammlungen, viele öffentliche Veranstaltungen, die anders als der Karnevae beispielsweise bislang noch nicht als öffentliche Spektakel4 inszeniert wurden, sind demnach in postindustrialisierten Gesellschaften, medial unterstützt, zu kulturellen Performances eventisiert worden. Aber auch im Alltag manifestiert sich die zunehmende Bedeutung

Victor Turner, zit. n.: Richard Schechner/Willa Appel: Introduction, in: ders./dies. (Hg.), By means of performance. Intercultural studies of theatre and ritual, Cambridge: University Press 1991, S. 1. 2 Baz Kershaw: The Radical in Performance. Between Brecht and Baudrillard, London/NewYork: Routledge 1999, S. 13. 3 Vgl. Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval, Frankfurt/M.: Fischer 2000. 4 Vgl. Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, Hamburg: Nautilus 1978.

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des Performativen; in Körper- und Selbstinszenierungen, in der Aufführung von Alltagsritualen und der Flüchtigkeit posttraditionaler Gemeinschaften. Performances können aus sozialen Ritualen bestehen, sie können als bewusste oder unbewusste Übernahme von Rollen erfolgen, Protest oder Konvention sein, profitversprechendes Business, reines Entertainment oder avantgardistische Kunst - in all ihren ,Inhalten' und Formen sind Performances kulturelle Praktiken, die erst in der Bezugnahme auf das soziale Feld, in dem sie stattfinden, verstehbar werden. Als performative Praxis der Aufführung sind sie Bestandteil einer nicht-repräsentativen Wissenskultur; Eigenschaften wie Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit, Körperlichkeit und Flüchtigkeit machen sie zu einem anderen Medium der Wissensproduktion. 5 Gerade weil sie Produkte und Produzenten, aber auch Effekte von gesellschaftlichen Transformationsprozessen sind, erlangen kulturelle Performances auch besondere Bedeutung für die Sozial- und Kulturwissenschaften. Hier werden sie relevant vor allem für jene Theorien, die sich im Zuge des ,cultural turn' als Theorien der sozialen Praxis formulieren und Kultur weder als Text, Mentalität, Normen- und Wertsystem noch als Bedeutungsgeflecht verstehen wollen. Wie das etwa zeitgleich in den Kultur- und Sprachwissenschaften entwickelte Performanzkonzept6 richten sie ihr Augenmerk vielmehr auf den praktischen Vollzug, auf die praktisch hergestellte Materialität von Kultur und fragen nach der Tradierung und Transformation kultureller Regeln, Normen und Werte in der Praxis. 7 Theorien des Performativen und der performativen Praxis leisten einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis des alltäglichen Lebens, seiner Mythen, Rituale und Dramen in den verschiedenen Kulturen. Eine interkulturelle und eine gesellschaftstheoretische Perspektive sind von daher notwendige Bestandteile von Performance-Studien. 8 5 Vgl. Jon McKenzie: Perform or Else: From Discipline to Performance, New York: Routledge 2001. 6 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004; Uwe Wirth: Performanz. Zwischen Sprachwissenschaft und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002; Christoph Wulf/Michael Göhlich/Jörg Zirfas (Hg.): Grundlagen des Performativen. Eine Einführung in Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln, Weinheim/München: Juventa 2001; Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch (Hg.): Kulturen des Performativen. Bd.7, Heft 1 (1998); dies./Christoph Wulf (Hg.): Theorien des Performativen, Paragrana- Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Bd.1 0, Heft 1 (2001 ); dies./ders. (Hg.): Praktiken des Performativen, Paragrana - Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Bd.13, Heft 1 (2004). 7 Vgl. Karl-Heinz Hörning/Julia Reuter (Hg.): Doing culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld: Transcript 2004; Jens Kertscher/Dieter Mersch (Hg.): Performativität und Praxis, München: Fink 2003; Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32, Heft 4 (2003), S. 282-301. 8 Vgl. z.B. R. Schechner/W. Appel (Hg.): By means ofperformance.

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II. Performances etablieren sich in der westlichen Modeme nicht nur als Aufführungspraxis einer medialen Öffentlichkeit, sondern auch als eine szenische Kunstpraxis. Performances destabilisieren die Grenzen zwischen populärer Kultur und Kunst und sie stellen aufgrund ihrer multimedialen Inszenierungsstile die Festschreibung der Künste nach Gattungen in Frage. Zwar lässt sich keine Definition für Performance finden, Hans-Thies Lehmann aber beschreibt einen kleinen gemeinsamen Nenner, wenn er sie kennzeichnet als das, "was von denen, die es zeigen, als solche angekündigt wird." 9 Performances weisen, unabhängig davon, ob sie aus der Kunst oder aus der populären Kultur stammen, eine Anzahl gemeinsamer Charakteristika auf: Sie sind eher durch ihren ,Modus', denn durch ihre ,Form' beschreibbar. Sie stellen Gemeinschaften des Augenblicks her und sind deshalb zentral für das Verstehen von posttraditionalen Vergemeinschaftungsformen und bedeutend zur Erkenntnis (inter-)kultureller Alltagspraktiken. Performances intensivieren die Face-ta-Face-Kommunikation und provozieren damit ein anderes Verhältnis von Akteur und Zuschauer; nicht die Akteure allein, sondern die Zuschauer sind es, die die Performance als solche legitimieren und über das Gelingen oder Scheitern der Performance entscheiden. Der Erfolg und die Qualität der Performance lassen sich also nicht an einem festgelegten Kriterienkatalog messen, sondern zeigen sich in der erfolgreichen Interaktion. Diese Verwiesenheit auf eine gelungene Kommunikationssituation, die allen Performances gemeinsam ist, gibt der künstlerischen Performance einen ambivalenten Charakter: Auf der einen Seite erweitert dies den Fundus der Inszenierungsstile, zum anderen aber schafft es auch eine neue Nähe der Kunst zur populären Kultur und eröffnet damit die Möglichkeit neuer Vereinnahmungsstrategien. Denn gerade die Vereinnahmung durch Medien, Ökonomie und kommunale Politik hat den populären, öffentlichen Performances den Charakter von Shows oder Entertainment verliehen. Auf finanziellen Erfolg ausgerichtet, sind sie marktstrategisch inszenierte Events, die profitables Business versprechen und auf eine besondere Weise die Strukturen des Begehrens in neoliberalen Konsumgesellschaften bedienen, indem sie als einzigartig und unwiederholbar, neu und geschichtslos und als exklusive Mangelware mit Authentizitätsversprechen vorgestellt werden. Zugleich sind populäre Performances Aufführungen des Sozialen: Ob Rassismus durch den schwarzen Boxer 10 oder

Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt/M.: Verlag der Autoren 2001, S. 245. 10 Vgl. Bemth Lindfors: Ethnological Show Business: Footlighting the Dark Continent, in: Erin Striff (Hg.), Performance Studies. Houndsmills: Pa1grave MacMillan 2003, S. 29-40.

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Gender im Striptease 11 , ob Klassendifferenz in Fußballstadien oder Alter und Schönheit bei Modenschauen, populäre Performances inszenieren soziale Strukturkategorien und produzieren in der Performanz der aufgeführten Rituale, Mythen und Dramen soziale Ein- und Ausgrenzung und normalisierte und marginalisierte Subjekte und Körper. Als Aufführungen des Sozialen leisten sie einen wesentlichen Beitrag zur Konservierung und Tradierung, aber auch zur Aktualisierung und Transformation von Konvention. Gerade die Aufführungen im Sport zeigen den sozialen Ernst des performativen Spiels in besonderer Weise, war doch der moderne Sport schon immer ein Feldpar excellence für die Inszenierung des Wertekanons der Leistungsgesellschaft. Die zunehmende Bedeutung von Sportveranstaltungen als kulturellen Ereignissen, die Aufwertung des Sportstars zum Medienstar, die Prominenz und flexible Einsatzfähigkeit von Sportjournalisten oder schließlich die gesellschaftliche Symbolkraft von Sieg und Niederlage im sportlichen Wettkampf zum Beispiel einer Nationalmannschaft lassen sich als Indizien für die umfassende Transformation innerhalb der Kultur 12 heranziehen, die innerhalb der Kulturwissenschaften als ,performative turn' beschrieben wird.

II I. Es ist nicht verwunderlich, dass Performance eine emblematische Kunstform in einer Zeit geworden ist, in der Selbst-Bewusstheit und Reflexivität, Simulation und Theatralität in allen Bereichen des Lebens so wichtig geworden sind. Die ersten Ansätze der Performance-Kunst zeigen sich zwar schon in den 1920er Jahren im Dadaismus. Performance als ,Performing Art' oder als ,Performance Theater' - obwohl diese Begriffe eher Tautologien sind - entsteht in den 1970er Jahren im Kontext von Umbruchprozessen zu einer spätmodernen Gesellschaft. Nicht zufällig reflektieren eine Vielzahl von Performancetheoretikern die neue szenische Kunst auf der Folie der Postmoderne 13 und nicht zufällig liegt ein bedeutender Ausgangspunkt der Performance in der

11 Vgl. Katharine Liepe-Levinson: Striptease: Desire, Mimetic Jeopardy, and Performing Spectators, in: ebd., S. 41-53. 12 Vgl. Hans U1rich Gumbrecht: Lob des Sports, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005. 13 Vgl. z.B. Philip Auslander: From Acting to Performance. Essays in Modemism and Postmodemism, London/New York: Rout1edge 1997; Cynthia Carr: On Edge: Performance at the End of the Twentieth Century, Hanover: Wesleyan University Press 1993; Stephen Chinna: Performance. Recasting the Politica1 in Theatre and Beyond, Oxford/Bem: Peter Lang 2003; Colin Counsell: Signs of Performance, London/New York: Routledge 1996, S. 207-231; Nick Kaye: Postmodemism and Performance, Houndmills/London: MacMillan 1994; Jon Whitmore: Directing Postmodem Theater, Michigan: University of Michigan Press 1994.

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Feministischen Performance. 14 Wie einst der Ausdruckstanz der 1920er Jahre eröffnete auch die Performance den Frauen die Möglichkeit der Selbstthematisierung und Selbstreflexion. Ausgangspunkt der Performance als Kunstform sind Aufbrüche in der darstellenden und bildenden Kunst. Letztere verändert durch die Integration von Zeit, das heißt von Dauer und Momenthaftigkeit, von Simultaneität und Unwiederholbarkeit und körperlicher Präsenz als Gestaltungsmittel ihren Formenkanon fundamental. 15 Ihre Kritik richtet sich gegen den traditionellen Werkbegriff und die Trennung von Werk und Schaffensprozess. Der Einzug des Performativen in die bildende Kunst fuhrt aus dem Atelier zum Publikum und präsentiert hier den Prozess der Bildwerdung als einen theatralen Vorgang. Wie die bildende Kunst öffnet sich auch die szenische Kunst einst gattungsfremden Ausdrucksmitteln. Skeptisch gegenüber der mimetischen Darstellung wandelt sich das "postdramatische Theater" von einem Werk der Darbietung, verstanden als ein verdinglichtes Produkt, zum Akt und Monument der Kommunikation, zum Prozess, zur , Situation Theater' .16 Performance als postdramatisches Theater sucht nicht nur einen anderen Umgang mit Zeit, sondern auch mit Raum: Sie ist eine theatrale Praxis, die Räume herstellt, indem sie diese im und durch die Aufführung erst als theatrale Räume definiert. Von daher wundert es nicht, dass sich die Performance-Kunst seit ihren Anfängen als eine Kunstpraxis jenseits des klassischen Theaterrahmens definiert und sich Orte im öffentlichen Raum sucht. 17 Diese erlauben mit den Gewohnheiten des bürgerlichen Theaters, ob Gucldcastenbühne und Zentralperspektive, das Verhältnis von Akteuren und Zuschauern oder das von Textvorlage und Interpretation zu spielen und aus dem Theater der Repräsentation ein öffentliches Spektakel der Präsenz zu machen. Hier beruht der theatrale , Text' nicht mehr auf einer Literaturvorlage, sondern ereignet sich erst im Prozess des Spielens und löst sich, im Sinne eines erweiterten Textbegriffs Roland Barthes', auf in die Lesarten aller Beteiligten, der Akteure und Zuschauer, zumal letztere während der Aufführung in das theatrale Spiel mit

14 Vgl. z.B. Lynda Hart/Peggy Phelan (Hg.): Acting out: Feminist Performances, Michigan: University ofMichigan Press 1993. 15 Vgl. Sandra Thiedig: ZwischenBlackBox und White Cube: Amsterdamer Performance Experimente, München: ePodium 2001; Elisabeth Jappe: Performance Ritual Prozeß. Handbuch der Aktionskunst in Europa, München/New Y ork: Prestel 1993. 16 Vgl. H. T. Lehmann, Postdramatisches Theater; Patrick Primavesi/Sabine Mahrenholz: Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten, Schliengen: Edition Argus 2005; Nikolaus Müller-Schöll!Saskia Reither: Aisthesis. Zur Erfahrung von Zeit, Raum, Text und Kunst, Schliengen: Edition Argus 2005. 17 Vgl. Gabriele Klein: Stadt. Szenen. Künstlerische Produktionen und theoretische Positionen, Wien: Passagen 2005, S. 177-189.

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einbezogen werden und auf diese Weise ihre klassische Rolle als passiv konsumierendes und die Aufführung deutendes Publikum verlieren. Mit dieser ,Entdramatisierung' fängt das Theater an, fern von einer psychologischen Entfaltung von Handlung und Charakter und ohne Skript zu arbeiten und auf diese Weise einen Schritt zur Annäherung von Theater und Tanz zu vollziehen, während der Tanz sich seinerseits mit dem sich etablierenden Tanztheater um Pina Bausch, Johann Kresnik, Susanne Linke und Reinhild Hoffmann mit der theatralen Rahmung der tänzerischen Choreographie beschäftigt. Oft außerhalb des traditionellen Theaterrahmens angesiedelt, thematisiert die Performance-Kunst seit den 1970er Jahren alltägliche, soziale Praxis als theatrale Form. Theater: das ist nicht mehr nur der Ort bürgerlicher Repräsentation, sondern eine unmittelbar intendierte Erfahrung des Realen, ein Ereignis und eine Selbstpräsentation des Künstlers, eine Inszenierung von Authentizität. Das theatrale Spiel findet hier statt, ohne eine Begründung in einem Darzustellenden zu finden. Im Theater als Ort der "Produktion von Präsenz" 18 , werden Flüchtigkeit, Gegenwärtigkeit und Vergänglichkeit, einst genuine Kennzeichen der Körperkunst Tanz, zu Kennzeichen des theatralen Geschehens und zum Symbol für die Dynamik des Sozialen. Performance ist daher nicht nur eine Bezeichnung für eine spezifische theatrale Praxis, sondern meint eine ästhetische Praxis, die sich intermedial zwischen Theater und Tanz, Musik, Film und bildender Kunst konstituiert und sich hier als eine sehr wandelbare und innovative künstlerische Form zeigt. Während beispielsweise die künstlerischen Performances der 1970er Jahre in westlichen Gesellschaften durch das gegenseitige Durchdringen der einzelnen Künste, die Aneignung fremder Gattungsmittel sowie die Auflösung fester Gattungsbegriffe charakterisiert sind, zeichnet sich in der Performance-Kunst der 1980er Jahre eine verstärkte Wiederentdeckung der Spezifik der einzelnen Künste ab. Der einst starken Proklamation von Grenzüberschreitungen folgt eine erneute Rückbesinnung: ein verändertes Bewusstsein der eigenen Medien, der Objekte in der Bildenden Kunst und der Texte in der Darstellenden Kunst. Die Performance-Kunst der 1980er Jahre richtet sich vor allem gegen eine Fremdbestimmung des Subjekts, der eine Selbstbestimmtheit des Künstlers und des Zuschauers entgegengesetzt wird. Entsprechend zeigen sich eine gegenüber den 1970ern veränderte Verwendungstechnik von Medien und ein anderer Einsatz des Körpers. Zugleich verändert sich in den 1980ern die Performance von einer Aktion zu einer Aufführung: Technisierung und Perfektionierung, eine neue Nähe zum Text, eine wachsende dramaturgische Strukturiertheit und eine zunehmende Distanz zum Publikum können als die zentralen Kennzeichen dieses Jahrzehnts angesehen werden. Die Avantgarde der 1980er Jahre wie Wooster-Group und 18 Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004.

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Needcompany transformieren den Text zu einer generellen Intertextualität, die sich in autorenlose oder pluriauktoriale Diskurse einfügt und nur als ein Element, als Material der szenischen Gestaltung gilt. 19 Analog zeigt sich auch in der Bildenden Kunst in den Werken der Neuen Wilden beispielsweise ein neues Vertrauen in die Malerei. Die Performance-Kunst der 1990er Jahre charakterisiert Gabriele Brandstetter durch eine antiillusionistische Darstellung, kollektivistisches Arbeiten, den Umgang mit Versatzstücken aus den eigenen Biographien, die gemeinsame Komposition der Autor/innen durch die Performance sowie durch ein szenisches autobiographisches Erzählen. 20 Diese Kennzeichen scheinen aber nicht nur typisch für das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zu sein, sondern eher grundlegende Merkmale der künstlerischen Performance seit den 1970er Jahren. Ein zentrales Charakteristikum des Performance-Theaters liegt zudem in der Auseinandersetzung mit dem Paradox des Schauspielers und Tänzers: Das Paradox seiner Präsenz zu thematisieren, die anders als die Präsenz eines Bildes, eines Klangs oder einer Architektur, über den Körper hergestellt wird und von daher gezwungen ist, die Medialität und Materialität der eigenen Körperlichkeit zu befragen. Und so markiert vor allem der Körper die Schnittstelle zwischen der künstlerischen Performance und dem zeitgenössischen Tanz der 1980er und 90er Jahre: Auch hier vollzog sich die Selbstthematisierung und -reflexion des Tanz-Künstlers und Choreographen vor allem über eine Reflexion des Mediums Körper? 1

IV. Der Performance als szenischer Kunst geht es nicht um ein ,So-tun-als-ob'. Sie ist eine Kunstpraxis, die nicht-linear und disharmonisch, nicht-repräsentierend und interpretierend agiert. Die Priorisierung des dialogischen Austausches, des kollektiven Arbeitens und des partizipatorischen Engagements macht die Performance zu einem dialogischen Medium, zu einer demokratisierten szenischen Kunstpraxis, die sich als eine kritische Instanz gegenüber 19 Vgl. H. T. Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 244ff.; Patrick Primavesi/ Olaf A. Schmitt (Hg.): AufBrüche. Theaterarbeit zwischen Text und Situation, Berlin: Theater der Zeit 2004. 20 Vgl. Gabriele Brandstetter: Selbst-Beschreibung. Performance im Bild, in: Erika Fischer-Liehte/Friedemann Kreuder/Isabel Pflug (Hg.), Theater seit den sechziger Jahren. Grenzgänge der Neo-Avantgarde, Tübingen/Basel: UTB 1998, S. 92134. 21 Vgl. Gabriele Klein: Die reflexive Tanzmodeme, in: Johannes Odenthai (Hg.), tanz.de. Arbeitsbuch Theater der Zeit, Berlin: Theater der Zeit 2005, S. 20-29; Andre Lepecki (Hg.): Of the Presence of the Body. Essays on Dance and Performance Theory, Middletown: Wesleyan University Press 2004.

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gesellschaftlichen Verhältnissen begründet, aber auch als eine reflexive Form innerhalb der szenischen Kunst etabliert. Sie ist eine das Medium des dramatischen Theaters reflektierende Kunst, die zum Verständnis des gesellschaftlichen Ortes des zeitgenössischen Theaters beiträgt, indem sie dessen Grundbedingungen befragt und sie zum Inhalt und zum Thema der Darstellung macht. Aufgrund ihrer radikalen, an Gegenwärtigkeit und Unwiederholbarkeit, Körperlichkeit und Präsenz gebundenen Inszenierungspraxis problematisiert sie den Status des Theaters als einen Ort scheinhafter Realität und bürgerlicher Repräsentation. Entsprechend will Baz Kershaw Performance als eine politische Kunst verstanden wissen, da sie nicht die Idee der Freiheit repräsentiert, sondern zeigt, wie Freiheit produziert wird. 22 Ähnlich argumentiert Peggy Phelan, wenn sie mit der Gegenwärtigkeit und der Unwiederholbarkeit der Performance die Kritik an der Politik der Repräsentation verbindet - und mit dieser These auch die ästhetische Praxis des europäischen Konzepttanzes, ob beispielsweise von Jeröme Bel, Xavier Le Roy, Boris Charmatz oder Thomas Lehmen treffend charakterisieren könnte. Performance, so Phelan, biete Widerstand gegen Objektivierungen, sie sei eine flüchtige Kunstform, die aufgrundihrer Nutzlosigkeit im ökonomischen Sinn nicht in den Zirkel von Abbildung, Repräsentation und Reproduktion integriert werden könne. 23 Anders aber als noch in den Anfängen sind künstlerische Performances zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit der Allgegenwärtigkeit des Theatralen konfrontiert; das Ver-Rücken und Ent-Setzen von sozialen Ordnungen, kulturellen Konventionen und Zeichen, die politische und ästhetische Provokation, die Suche nach Utopien, nach heterotopischen Räumen, das Zeigen des Abwesenden und Aufspüren des Verdrängten, Vergessenen, das Ausgraben des Verschütteten- aus welcher Perspektive man auch immer Motive, Methoden und Effekte der Performance-Kunst beleuchten möchte, sie ist aufgefordert, eine ästhetische Strategie zu finden, die die immer subtiler gewordenen Grenzen zwischen Spiel und Ernst, Schein und Sein, Imaginärem und Realem auszuloten und sich als das Andere, das Ver-Störende, das Be-Fremdliche zu zeigen vermag. Gerade indem sie ästhetische Praxis im und als sozialen Prozess definiert, indem sie auf Script und Charakterrolle verzichtet und ihr Spiel ein ,serious game' ist, das nicht ,so tut als ob', sondern sich ereignet, Gegenwart herstellt und unwiederholbar ist, ist gerade für die auf Körper und Bewegung, auf Selbst-Erleben und Mitbeteiligung der Zuschauer abhebende Performance ein Medium, das die Inszenierungsstrategien des Alltäglichen zu unterlaufen vermag. Anders als posttraditionale Gemeinschaften, die sich, wie ein Fußballmatch oder Techno-Paraden, auch als Gemeinschaften des Augenblicks im und als Event herstellen, schaffen künstlerische Performances einen sinn22 Vgl. B. Kershaw, The Radical in Performance, S. 18f. 23 Vgl. Peggy Phelan: Unmarked. The Politics ofPerformance, London/New York: Routledge 1993, S. 146ff.

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weltlichen Rahmen des Theaters, in dem auch die Ökonomisierung und Veralltäglichung des Theatralen in Frage gestellt werden kann. Genau hier liege, so Kershaw oder Phelan, die politische Chance der künstlerischen Performance: Über Präsenz und ,Liveness', verstanden als Präsenz des Körpers anstelle der Verkörperung einer Figur, schaffe sie einen Raum, in dem Leben erprobt und erlebt werden kann. 24 Allerdings wäre es verkürzt, Präsenz als reine Anwesenheit, als Ausstrahlung, als Physis oder unmittelbare Körperlichkeit verstehen zu wollen, wie dies alltagssprachlich geschieht und auch in der Tanzsprache gängig ist. Präsenz aber, so zeigen kulturwissenschaftliche Studien, ist nie vollständig vorhanden und erfüllt, sondern ein Kommen, etwas Angedeutetes, das sich auch immer als Abwesendes zeigt, dann, wenn es zu einer denkenden Erfahrung wird. Hans-Thies Lehmann kennzeichnet das postdramatische Theater in Anlehnung an Bohrers Konzept des "absoluten Präsens" 25 als ein "Theater des Präsens"26 und will es als eine Gegenwart verstanden wissen, als etwas, das sich ereignet, als eine schwebende, schwindende Anwesenheit, als ein ,Fort', ein Schon-Weggehen, als ein Aushöhlen und Entgleiten von Präsenz. 27 Jean-Luc Nancy sieht in dem Wunsch nach Präsenz das Verlangen nach der Produktion von "etwas mehr Sinn", ein Verlangen, das sich durch das beständige Erzeugen von Bedeutungsproduktion in der immer mehr soziale Symbolismen produzierenden Inszenierungsgesellschaft herstellt. 28 Und genau hier stellt sich die Frage nach der politischen Kraft von Performance von einer anderen Seite. Entgegen der Annahme, dass Performance widerständig wirken kann, ließe sich auch der Schluss ziehen, dass in einer Gesellschaft, in der Körper und Präsenz, persönliche Aura und Authentizität zum Imperativ der Selbstinszenierungen geworden sind, in der die globalen Gesetze des Neoliberalismus die Produktion des immer Neuen befördern, aufgrund ihrer Nicht-Reproduzierbarkeit gerade nicht widerständig wirken kann. Sie kann auch als kulturelles Pendant der Ökonomie angesehen werden, ist sie doch eine kulturelle Praxis, bei der die Werte der globalisierten Welt wie Beweglichkeit, Flüchtigkeit, Ortlosigkeit, Flexibilität und das permanente Neuerfinden des Selbst sich im Tun in die Akteure einschreiben. Damit Performance 24 Zur Auseinandersetzung mit dem Konzept ,Liveness' vgl. Philipp Auslander: Liveness. Performance in a Mediatized Culture, London IN ew York: Routledge 1999; Eleonora Fabiäo/Andre Lepecki: Out of order: local provocations to performance, in: G. Klein (Hg.), Stadt. Szenen. Künstlerische Produktionen und theoretische Positionen, S. 177-189. 25 Kar! Heinz Bohrer: Das absolute Präsens, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994. 26 Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt!M.: Suhrkamp 2002. 27 Vgl. H. T. Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 254ff. 28 Jean-Luc Nancy: The Birth of Presence, Stanford: Stanford University Press 1993.

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PERFORMANCE ALS SOZIALE UND ÄSTHETISCHE PRAXIS

und Tanz als gegenwärtige, weil flüchtige Kunstformen ihre analytische Kraft entfalten oder künstlerische Visionen entwickeln können, sind folglich Strategien gefragt, die es erlauben, sich von der Gesellschaft des Spektakels abzusetzen: Verweigerung kann hier im Stillstand, der Langsamkeit oder auch in der Inszenierung von Abwesenheit bestehen, wie im so genannten Konzepttanz, bei dem nicht das Tanzen, also die Ausführung, im Vordergrund steht, sondern eine choreographische Idee in Szene gesetzt wird. 29 Was gesellschaftskritisch, widerständig oder künstlerisch innovativ ist, lässt sich nur mit Bezugnahme auf den sozialen Kontext und die Situation erkennen, ist doch die Performance insgesamt nicht durch ihre Materialität, sondern durch ihre Interaktivität definiert. Kontext- und Situationsbezug entscheiden auch darüber, ob das Ästhetische der Performance als Kunst gilt: Ist nicht Eiskunstlauf oder rhythmische Gymnastik viel weniger ,Sport' als Diskuswerfen oder Rudem und ebenso ,ästhetisch' und virtuos wie klassisches Ballett? Und ist nicht auch der wissenschaftliche Vortrag eine ästhetische Praxis des Performativen?

V. Der vorliegende Sammelband bündelt die Vorträge der von den Herausgebern organisierten Ringvorlesung Zeitgenössische Performances. Ästhetische Positionen, die im Wintersemester 2004/2005 an der Universität Harnburg stattfand. Die Vorlesungsreihe war die Auftaktveranstaltung zu dem postgradualen Studiengang Master ofArts Performance Studies, der zum Wintersemester 2005/2006 an der Universität Harnburg angelaufen ist und hier einen neuen Lehr- und Forschungsbereich etabliert. Ziel des Buches ist es, aktuelle Positionen zu zeitgenössischen Performances in Kunst, Kultur und Gesellschaft vorzustellen. Das Buch ist interdisziplinär angelegt, es versammelt Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Feldern der Wissenschaft und der Kunst. Das Buch ist nicht thematisch gebündelt; es folgt weitgehend der zeitlichen Abfolge der Vorlesung. Eine systematische Ordnung der Beiträge verbietet nicht nur der Gegenstand ,Performance' mit seinen vieWiltigen und disparaten Forschungsbezügen; auch die Vielfalt der Blickwinkel und die jeweilige professionelle Provenienz und Reflexionsebene der beteiligten Theater-, Tanz-, Kultur- und Medienwissenschaftler sowie der Künstler und Performer verlangt eine offene Reihung der Beiträge, die sich nicht nur als ,Reden über' oder ,Zeigen von' Performance präsentieren, sondern sich auch als wissenschaftlich-künstlerische Mischform, der Lecture-Performance qualifizieren.

29 Vgl. dazu den Text von Gerald Siegmund in diesem Band.

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GABRIELE KLEIN/WOLFGANG STING

Performance wird in diesem Buch als Kunstform, wissenschaftliche und ästhetische Praxis und ästhetische Erfahrung vorgestellt. Thematisiert werden historische und theoretische Bezugspunkte, ästhetische Kategorien, Inszenierungsstrategien, Dramaturgiekonzepte und die eigene künstlerische Praxis, die wiederum reflektiert oder selbst als Performance aufgeführt wird. Entsprechend variieren die Textsorten: Neben wissenschaftlichen Beiträgen von Dieter Mersch, Gerald Siegmund, Hajo Kurzenberger, Ulrike Hentschel und Patrick Primavesi, den Praxisanalysen von Raimund Hoghe, Kerstin Evert, Johannes Odenthai und Helmi Vent finden sich auch performative Vortragsformen, von denen wiederum die Texte von Sibylle Peters und Mieke Matzke stärker wissenschaftlich-theoretisch ausgelegt sind, während die Beiträge von Xavier Le Roy und Jörg Laue künstlerisch-praktisch konzipiert sind. Die performative Praxis schlägt sich bei Matzke, Le Roy und Laue auch im Text nieder, wobei Laue zudem das Performative der Textproduktion selbst reflektiert. Zu den Beiträgen im Einzelnen: Johannes Odenthai widmet sich der künstlerischen Performance aus einer interkulturellen Perspektive. Er stellt die politische und emanzipatorische Kraft heraus, die performative Kunst in postkolonialen Ländern als Experimentier- und Widerstandsraum entwickeln kann. Er zeigt, wie künstlerische Projekte den Mythos des schwarzen Körpers oder des islamischen Terrors als kulturelle Differenz formulieren und damit einen wesentlichen Beitrag zur Aufarbeitung kolonialer Geschichte und politischer Unterdrückung leisten. Performance-Beispiele seit den 1960er Jahren dienen Dieter Mersch als Folie für seine philosophische Skizze einer Ästhetik des Performativen. Anhand zentraler Positionen der Archäologie des Performativen arbeitet Mersch das Prozesshafte, Transformatorische und Ereignishafte der Performance heraus. Seiner These zufolge zeige sich die performative Kunst nicht als autonome Kunst, sondern konstituiere einen neuen künstlerischen Ethismus, eine Ethik des Ästhetischen. Raimund Hoghe stellt Performance in den Kontext von Ritualen und Körperpraktiken. Am Beispiel seiner eigenen Choreographien zeigt er, wie er als Tänzer seinen behinderten Körper einsetzt. Seine künstlerischen Arbeiten sind nicht autobiographisch motiviert, sondern stehen stellvertretend für eine Auseinandersetzung mit normativen Körperbildern, mit sozialer Marginalisierung, Abweichung und Ausgrenzung. Gerald Siegmund fragt nach dem widerständigen Potential der künstlerischen Performance, die ja als einmaliges, unwiederholbares Ereignis eigentlich dem Muster der allgegenwärtigen Spektakelkultur neoliberaler Gesellschaften entspricht. In Auseinandersetzung mit Theorien der Präsenz, die Performance und Tanz als die gegenwärtigste, weil flüchtigste und nicht reproduzierbare Kunstform charakterisieren, arbeitet Siegmund die Inszenierung

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von Abwesenheit als zentrales dissidentes Konzept des zeitgenössischen Tanzes heraus. Der Text von Xavier Le Roy re/präsentiert die Lecture-Performance, bei der Le Roy, anders als Peters oder Matzke, die Performativität von Wissenschaft und Performance vorführt. In sukzessiver Verdichtung seiner wissenschaftlichen und künstlerischen Biographie präsentiert er in traditioneller Vortragsform die Ergebnisse seiner Dissertation in Mikrobiologie und zugleich die Stationen seiner eigenen Tanzentwicklung. Product of Circumstances reflektiert die unterschiedlichen Körperkonzepte in Wissenschaft und Kunst, die Macht- und Verwertungsinteressen beider Systeme, die Grenzen der wissenschaftlichen Objektivität und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper. Mieke Matzke ist Performerin und Theaterwissenschaftlerin, ihr Text reflektiert diese beiden Positionen. Als Performerin spricht sie direkt zum Rezipienten, beschreibt aus der Innensicht die künstlerische Arbeit mit dem Performance-Kollektiv She She Pop. Als Wissenschaftlerin legt sie mit distanzierterem Blick deren Inszenierungsstrategien offen, die sie als Spiel mit Identitäten und Unmittelbarkeit charakterisiert. Hajo Kurzenherger charakterisiert und problematisiert die sich ausdifferenzierenden Bedeutungsebenen von Theatralität von einem theaterwissenschaftlichen zu einem kultur- und sozialwissenschaftliehen Schlüsselkonzept Neben der Theatralisierung des Alltags und der Entgrenzung des Theaters diskutiert er insbesondere die Inszenierungsformen der populären Kultur mit ihren medialen Verfahren der Wirklichkeitskonstruktion wie zum Beispiel die Fernseh-Realität. Kerstin Evert beschäftigt sich mit jenen Performances, die die Grenzen zwischen Alltag und Kunst, sozialer Realität und Medienbildern flüssig werden lassen. Sie stellt ,Verortung' als eine orts- und kontextspezifische Arbeitsweise vor, die sie als charakteristisch für die zeitgenössische Performance ansieht und erläutert dies am Beispiel der Performance-Gruppen Rimini Protokoll und Gob Squad: Beide Gruppen suchen einen expliziten Alltagsbezug durch Themen, Orte und die Einbindung nicht-professioneller Darsteller, arbeiten mit journalistischen Recherchen, dokumentarischen Materialien und favorisieren den Einsatz von Videotechnik. Der Beitrag von Ulrike Hentschel diskutiert das Verhältnis von Theaterpädagogik, verstanden als künstlerische Arbeit mit nicht-professionellen Spielern, und Performance. Sie diskutiert Gemeinsamkeiten von Theaterpädagogik und Performance und fragt kritisch nach den Unterschieden. Dazu liefert sie eine Standortbestimmung heutiger Theaterpädagogik und setzt sie ins Verhältnis zur zeitgenössischen Performance, deren Grundlagen und Entwicklungslinien sie nachzeichnet.

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Helmi Vent thematisiert die künstlerische Performance aus der Sicht der Tanz- und Musikpädagogin. Sie problematisiert die traditionelle Ausbildung in musikalischen Studiengängen in ihrem einseitigen Fokus auf die Einübung und Nachgestaltung von Musik und fordert, dass zukünftige Künstler neben der interpretierenden Nachgestaltung an eine experimentelle Neu- und Umgestaltung von Musik herangeführt werden müssen, so dass das Performative als Kategorie in die Musikausbildung eingehe. Als künstlerisches Vorbild dienen ihr die Protagonisten des Experimentellen Musiktheaters, als kunstpädagogisches Forschungslabor die TanzMusikTheaterWerkstatt an der Universität Mozarteum Salzburg, deren Konzepte und Arbeiten sie exemplarisch erläutert. Die Performanz von Stimme und Körper steht im Zentrum der theatertheoretischen Überlegungen von Patrick Primavesi. Mit Rekurs auf das Konzept Körperlichkeit untersucht er, wie Stimmen in aktuellen Performances inszeniert und hörbar gemacht werden. Er konstatiert, dass im traditionellen Sprech- und Musiktheater die Stimme an Körper und Rolle gebunden bleibt, in performativen Theaterformen aber von Text und Figur losgelöst werde. Mit seiner Formel ,Stimme ± Körper' diskutiert er die sich ergebenden Interdependenzen. Jörg Laue stellt, ähnlich wie Matzke und Hoghe, seine eigenen performativen Arbeiten vor. Sein Text re/präsentiert eine dichte performative Vortragssituation, die durch das Offenlegen der Strategien und Überlegungen beim Verfassen seines Beitrages, das Ablesen der verstreichenden Vortragszeit und die dazu parallel gesetzten Audio- und Videoeinspielungen von PerformanceInstallationen der LOSE COMBO hergestellt wurde. Anhand des kompositorischen Verfahrens des vorgestellten Hörbeispiels erläutert Laue, wie durch gesetzte Zeitintervalle polyphone Töne als dissonante Klänge wahrgenommen werden. Am Beispiel von Klangaufnahmen aus einem schallisolierten Tresorraum veranschaulicht Laue die Qualität und Verfasstheit von Stille als Klang und Geräusch. Sibylle Peters thematisiert und präsentiert Performance als eine wissenschaftliche Praxis. Ihr Beitrag beschäftigt sich mit den historischen Bedeutungsverschiebungen und Präsentationsformen des Vortrags, den sie als Praxis der Theorie verstanden wissen will. Die Geschichte des Vortrags stellt, so Peters, die vielfältige Beziehung zwischen Sprechen, Zeigen und Sich-Zeigen heraus. Lecture-Performance deutet sie als augewandte Performance Studies, die das Künstlerische der wissenschaftlichen Präsentation erprobt. Ein Sammelband ist ein kollektives Werk und deshalb möchten wir uns bei allen Beteiligten herzlich bedanken: Zunächst bei den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Künstlerinnen und Künstlern, die unserer Einladung zur Ringvorlesung gefolgt sind und sich bereit erklärt haben, einen Beitrag zu

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diesem Buch zu leisten. Danken möchten wir auch Norma Köhler und Friederike Lampert, die, unterstützt durch Pamela Pimpl, die Druckvorlage erstellt haben. Unser Dank richtet sich schließlich an die Hansische Universitätsstiftung, die die Ringvorlesung finanziell unterstützt hat. Hamburg, im August 2005 Gabriele Klein und Wolfgang Sting

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GABRIELE KLEIN/WOLFGANG STING

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PERFORMANCE ALS SOZIALE UND ÄSTHETISCHE PRAXIS

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JOHANNES 0DENTHAL

Globalisierung, Migration und die I nterku ltural ität von Performance

Performing Arts und Kulturelle Differenz In Teheran findet jährlich Ende Januar das Fadfr-Theaterfestival statt, eines der bedeutendsten Festivals in der islamischen Welt. Das Theaterfestival eröffnet ein internationales Forum zur Erinnerung an den Beginn der Revolution, also der Rückkehr des Ayatollah Khomeni aus dem Exil und die dann folgende Machtübernahme im Iran. Dass das Theater dabei neben dem Film zur fuhrenden Kunstsprache in einer islamischen Kultur geworden ist, kann als ein Kraftakt der Erneuerung beschrieben werden. Das Festival-Zentrum ist ein monumentaler Rundbau, das Stadttheater, in dem fast alle Aufführungen stattfinden. Neben diesem Kulturforum aus der Regierungszeit des Schahs wurde vor zwei Jahren mit dem gigantischen Neubau einer Moschee begonnen. Wer hat die Definitionsmacht über den öffentlichen Raum: die Reformer der Kunst- und Kulturszene oder die religiösen Wächter? Die Performance der Emanzipation und historischen Aufarbeitung oder die Performance des Gebets? Das Fadfr-Theaterfestival ist Ausdruck einer beeindruckenden künstlerischen und kritischen Vitalität im Iran. Die Theaterbühnen sind zu dem wichtigsten Forum der Verarbeitung von tief greifenden Traumata in der jungen iranischen Gesellschaft geworden. Es ist vor allem der Krieg mit dem Irak, der Millionen von Iranern das Leben gekostet hat. Kaum eine Familie ist nicht durch diesen Krieg beschädigt. Es sind die Väter, die fehlen, die Verwunde-

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ten, die Toten, die in der Gegenwart der iranischen Gesellschaft allgegenwärtig sind. Zudem hat die Revolution das Leben einer extrem jungen Gesellschaft gravierend verändert, insbesondere das Geschlechterverhältnis. Bis heute dürfen sich Männer und Frauen im öffentlichen Raum, also auch auf der Bühne, nicht berühren. Hier wird das Theater zu einem einzigartigen Spielraum des Experimentierens von Freiheiten, zum geheimen Code der Kommunikation der Jugendlichen. So erschaffen Performer wie Shabnam Taluie ein höchst erotisches Theater. In einer Gefängnisszene berührt sie den zum Tode verurteilten mit Handschuhen. In einem symbolisch aufgeladenen Raum aus Metaphern entsteht ein Dialog über die verborgenen Themen der Gesellschaft. Es ist diese Behauptung einer radikalen kulturellen Differenz im Iran, die das aktuelle Theater dort auch für Europa so interessant macht. Keine andere Kultur hat so eindeutig und so spektakulär Position bezogen gegen eine globale Liberalisierung des öffentlichen Lebens. Das Theater wird folglich zu einer Art des Widerstands im Fundamentalismus. Es steht für eine Kommunikation in Metaphern, wie wir sie aus dem Theater der DDR kennen, es steht aber auch für die Kraft künstlerischer Positionen, die einerseits fest in lokalen Kontexten verankert sind, andererseits aber zur Grundlage einer kulturellen Kommunikation im internationalen Kontext werden. Dieses junge iranische Theater steht für eine Gesellschaft, in der über sechzig Prozent der Menschen jünger als fünfundzwanzig Jahre sind, in der das öffentliche Leben hinter verschlossenen Türen stattfindet, in der Rockkonzerte wenige Stunden vor der Veranstaltung erst bekannt gegeben werden. Es ist diese dramatische Andersheit, die die ganze Schwierigkeit des kulturellen Transfers aufzeigt und die kulturelle Gebundenheit von Kunst im Allgemeinen und Theater im Besonderen exemplarisch deutlich macht. Wir bewegen uns hier nicht mehr in einer kulturellen Schonzone internationaler Festivals oder westlicher Theaterbetriebe. Theater ist hier aufgeladen mit zahlreichen politischen Agenden, die sich im interkulturellen Kontext nochmals verschärfen.

Die Konstruktionen des Anderen "Es gibt wahrscheinlich zwischen Japan und Amerika eine große Anzahl von Inseln, deren Entdeckung sehr wichtig sein könnte. Es sind dies Inseln, auf denen die Reisenden, wie sie uns versichern, wilde, behaarte Menschen, ein Mittelding zwischen Affe und Mensch, gesehen haben. Ich würde eine Stunde Unterhaltung mit ihnen einem Gespräch mit dem schönsten Geist Europas vorziehen." 1

Pierre Louis Moreau de Maupertius: Venus physique suivi de Ia Lettre sur Je progres des sciences, übersetzt durch Verf., Paris: Aubier-Montaigne, 1980, o.S.

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GLOBALISIERUNG, MIGRATION UND DIE INTERKULTURALITÄT VON PERFORMANCE

Im Brief über den Fortschritt der Wissenschaften (1768) bezieht sich der französische Philosoph Maupertius auf eine imaginäre Welt, die den Leser in die Vorgeschichte des Menschen fuhrt und zugleich den Kern der Erneuerung in sich birgt. Maupertius steht hier stellvertretend für Hunderte von Wissenschaftlern und Schriftstellern, die im 18. und 19. Jahrhundert die Entwicklungsgeschichte des modernen Menschen, aber auch die Hoffnung auf eine ideale glückliche Welt, in die anderen, unbekannten Regionen der Welt projizieren. Inmitten der Aufklärung erkunden Wissenschaftler und Künstler reale und imaginäre Gegenwelten, die den eigenen Standpunkt relativieren und insofern zur Identität der europäischen Kultur wesentlich beitragen. Erstaunlich ist nur, dass auch in den fiktiven Romanen und Reisen der Andere ähnlich kolonisiert und schließlich eingeordnet wird wie in den realen Eroberungen, politischen Besetzungen und kulturellen Unterdrückungen der europäischen Kolonisatoren. Der Europäer ist der Inbegriff des Menschen, der zum Maßstab der Weltordnung wird. Dabei werden die anderen Kulturen, die bekannten und fiktiven, zu den Projektionsräumen der eigenen Fantasien, des Verdrängten oder des Utopischen. Die anderen Kulturen bilden die dialektische Gegenseite zur Ausbildung der europäischen Kultur und Identität, sie sind Koproduzenten der Modeme, ohne jedoch über Jahrhunderte als wirkliche Partner akzeptiert zu werden. Zwei Konstruktionsräume dieses Imaginären seien hier exemplarisch vorgestellt. Der eine entstammt dem utopischen Roman Die Entdeckung Ausfraliens von Restif de Ia Bretonne von 1781, in dem ein Europäer alle Vorstufen des Menschen auf den australischen Inseln entdeckt, um dort schließlich einen idealen Staat erschaffen zu können. 2 Der zweite Raum stammt aus den Postkartenserien aus der Kolonialzeit in Nordafrika, in denen die erotischen Fantasien Europas in den Harem des Ostens projiziert wurden. Diese Konstruktionen des Anderen in den imaginären Räumen der Romane, Reiseberichte, Postkarten und Kunstwerke haben nicht nur unsere Bilder anderer Kulturen nachhaltig geprägt, sondern auch die kulturellen Beziehungen, den so genannten Dialog zwischen den Kulturen, grundlegend bestimmt und politisiert. Ein ganzer Wissenschaftszweig hat im 20. Jahrhundert, und zunehmend in den letzten Jahrzehnten, diese kulturellen Konstruktionen aufgebrochen und damit in Ansätzen die Basis geschaffen für eine Neubewertung nicht nur der anderen Kulturen, sondern auch für die Anerkennung des historischen Erbes als Basis eines aktuellen Dialogs der Kulturen. Frantz Fanon oder Edward Said sind nur zwei herausragende Wissenschaftler, die an diesem neuen Fundament für die Begegnung zwischen Kulturen mitgewirkt haben, und ohne die wir die Auseinandersetzung mit der aktuellen Kunst Schwarz-Afrikas oder des Nahen Ostens schwerlich beginnen können.

2 Vgl. Nicolas-Edme Restif de LaBretonne: La Decouverte australe Par un Homme-volant, Paris: Leipsick 1781, o.S.

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Das Erbe des Kolonialismus Es war die Erfahrung der rassistischen Fremdbestimmung, die den jungen Frantz Fanon bei einem Spaziergang in Lyon stolpern und zusammenbrechen ließ. Der promovierte Mediziner war aus Martinique kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach Frankreich gekommen, um am Wiederaufbau seiner Nation mitzuwirken, als ein Junge auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu seiner Mutter rief: "Schau, ein Neger, ich habe Angst." 3 Frantz Fanon erfährt hier am eigenen Leibe, was bereits William Edward Burghardt Du Bois in seinem Schlüsselwerk The Souls of Black Folk (1903) erstmals als das doppelte Bewusstsein und mit der Metapher des Schleiers beschrieben hatte: "Es ist sonderbar, dieses doppelte Bewusstsein, dieses Gefühl, sich selbst immer nur durch die Augen anderer wahrzunehmen, der eigenen Seele den Maßstab einer Welt anzulegen, die nur Spott und Mitleid für einen übrig hat. Stets fühlt man seine Zweiheit, als Amerikaner, als Schwarzer. Zwei Seelen, zwei Gedanken, zwei unversöhnte Streben, zwei sich bekämpfende Vorstellungen in einem dunklen Körper, den Ausdauer und Stärke allein vor dem Zerreißen bewahren." 4 Du Bois beschreibt die Geschichte der Afroamerikaner als eine Geschichte dieses Kampfes, den Schleier wegzuziehen, als eine Sehnsucht, das doppelte Selbst in ein wahres Selbst zu transformieren, ohne dabei eine seiner kulturellen Identitäten, die afrikanische oder die amerikanische, zu verlieren. Die existentielle Erfahrung der Fremdbestimmung durch den Blick des Anderen und das daraus resultierende doppelte Bewusstsein sind aber auch künstlerischer Impuls für einen extrem schöpferischen Emanzipationsprozess im Tanz oder in der Musik, einen Prozess, der weltweit zu einer Neubestimmung der Künste, insbesondere der populären Musik geführt hat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat Du Bois diese Botschaft der Sklaven an die Welt erkannt und erstmals von einer schwarzen Ästhetik, der einzigen originären Kunstform des nördlichen Amerikas gesprochen. Der geographische Raum, in dem diese Musik, also der Jazz, der Rock, der Blues oder der Reggae, der Soul und der Pop, der Rap und die TechnoMusik, entstanden sind, wird beschrieben als der Black Atlantic. Während Europa auf der einen Seite ganz selbstverständlich an diesen künstlerischen Entwicklungen partizipiert, hat auf der anderen Seite eine grundlegende Aufarbeitung von Kolonialismus und Rassismus erst begonnen.

3 Frantz Fanon: Schwarze Haut, weiße Masken, Frankfurt/M.: Syndikat 1980, o.S. 4 William Edward Burghardt Du Bois: The Souls ofBlack folk, Chicago: Mc Clurg 1903, o.S., hier zit. n. deutscher Übersetzung: Jürgen und Barbara Meyer-Wendt: Die Seelen der Schwarzen, Freiburg: Orange Press 2003, S. 25f.

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GLOBALISIERUNG, MIGRATION UND DIE INTERKULTURALITÄT VON PERFORMANCE

Was im 15. Jahrhundert mit den Entdeckungsreisen und der systematischen Kolonialisierung, Unterdrückung und Ausbeutung Afrikas, Asiens und Amerikas begonnen hat, schlägt mit dem 20. Jahrhundert massiv auf Europa zurück, durch Migration, durch Emanzipations- und Befreiungsbewegungen, durch Terrorismus, aber auch durch ethische und kulturelle Debatten. Entscheidend dabei ist, dass Geschichte nicht vergangen ist, sondern in die Gegenwart unmittelbar einwirkt, in Politik und Gesellschaft, vor allem aber in Kunst und Kultur. Viele Künstler und Intellektuelle haben die koloniale Aufarbeitung der eigenen Geschichte zum Zentrum ihrer Aktivitäten gemacht und fordern den offenen Dialog, die Akzeptanz von historischem Unrecht und die moralische Wiedergutmachung. Exemplarisch sei hier der erste afrikanische Nobel-Preisträger für Literatur, Wole Soyinka genannt, der ungebrochen den Missbrauch politischer Macht in Afrika anklagt, ebenso aber die kritische Selbstreflexion der Europäer und Araber einfordert, durch deren Sklavenhandel die afrikanischen Kulturen über Jahrhunderte traumatisiert wurden. Soyinka prangert auch den afrikanischen Nationalismus als eine Folge der Kolonisierung an und entwirft die Utopie afrikanischer Gesellschaftsmodelle für die Zukunft. In der Ausstellung The Short Century (München, Museum Villa Stuck, 2001) hat der nigerianische Kurator Okwui Enwezor die Verbindung zwischen Politik und künstlerischer Produktion aufgezeigt. Denn dem afrikanischen Kontinent, der erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts seine Befreiung von den Kolonialmächten beginnen konnte, stand nur ein kurzes 20. Jahrhundert zur Verfügung. Doch der Emanzipationsprozess aus der Fremdbestimmung hat die vielleicht schwerwiegendsten Veränderungen in der aktuellen Kunst- und Kulturszene weltweit eingeleitet. Die hier angerissenen Themen wie die Entwicklung einer Schwarzen Ästhetik, die herausfordernde Beziehung zwischen weltweiten Befreiungsbewegungen und europäischem Selbstverständnis, die Entwicklung von kulturellen Gegenentwürfen in Afrika, Asien oder Lateinamerika, vor allem aber das Heraustreten interkultureller Kunstprojekte aus einer politischen Unschuld, sind für die Entwicklung der Performing Arts in Deutschland so gut wie nicht existent. Wie tief aber die historisch gewachsenen Wahrnehmungsweisen auch in der postmodernen europäischen Gesellschaft verankert sind, möchte ich exemplarisch am Beispiel der Soloarbeiten von Ismael Ivo skizzieren. In langen Interviews haben wir immer wieder versucht, den Aspekt der Rezeption des schwarzen Körpers in einer mehrheitlich weißen Gesellschaft zu thematisieren. In einem Interview zu der Produktion Mapplethorpe (Biennale di Venezia, 2002), die sich explizit mit der fast sakralen Darstellung des nackten Schwarzen und ihren gesellschaftlichen Implikationen auseinandersetzt, beschreibt Ismael Ivo, wie er sich in der Performance mit dieser Rezeptionsgeschichte auseinandersetzt

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JOHANNES ÜDENTHAL

"Wenn du dich mit Mapplethorpe beschäftigst, kommst du zu den Stereotypen (Klischees) des schwarzen, männlichen, erotischen Körpers. Mapplethorpe hat das auch so gemeint. Als Künstler hat er dieses Tabu, diese verborgenen Phantasien von vielen Menschen, in einer sehr offenen Weise ausgestellt. Sobald du ein Tabu unter dem Tisch hervorholst und auf dem Tisch offen legst, beginnen Menschen mit der Auseinandersetzung, ob sie es mögen oder nicht, ob sie geschockt sind oder nicht. Deswegen handelt es sich um eine Entmythisierung von Tabus. Mapplethorpe hat Tabus ins Licht geholt [... ]. Das Tabu war die westliche Phantasie des schwarzen erotischen Mannes. Vielleicht liegt der Ursprung in einem kolonialistischen Konzept. Die schwarze Bevölkerung war da, um benutzt zu werden und um missbraucht zu werden. Diese erotischen Phantasien haben hier ihren perversen Ursprung. Der schwarze Körper ist eingesperrt in die existentielle Situation der Entmachtung. Das ist die Bedingung der Versklavung unter kolonialer Herrschaft. Und deswegen ist das kein freies Begehren gewesen. In diesem Sinne hat Mapplethorpe eine Perspektive verändert, indem er eine Sichtweise zu einem radikalen Extrem führte. Dadurch hat das koloniale Begehren an Stärke verloren. Er hat eine Situation umgekehrt. Normalerweise könnte man sagen, das ist Pornografie. Aber man konnte es nicht, weil er als Fotograf die Situation meisterte." 5 Auch in den Klassikern des europäischen Theaters wird der Andere in einer Weise dargestellt, die in einem postkolonialen Kontext radikal dekonstruiert werden muss. An dieser Stelle soll nur der Verweis auf die Geschichte der Aida oder Othellos genügen.

Die Erhaltung der Differenz Differenzierte Kommunikation bedeutet 1m interkulturellen Austausch das Aufbrechen der eigenen Muster ebenso wie die Kontextualisierung künstlerischer Produktion. Nur in der Genauigkeit kann den Szenarien wie dem Kampf der Kulturen Samuel Huntingtons begegnet werden. In seiner Kulturkreislehre treten kulturelle Identitäten wie die arabisch-islamische Welt, der christliche Westen oder der indische Subkontinent an die Stelle politisch-ideologischer Konstellationen wie Kommunistische Welt und Kapitalistischer Westen. Tatsächlich aber ist zum Beispiel eine Gesellschaft wie die palästinensische oder libanesische nicht arabisch-islamisch. Diese traditionell kosmopolitisch orientierten Gesellschaften leben aus einer religiösen, kulturellen und ethnischen Vielfalt, die allein in der politischen und medialen Instrumentalisierung auf die bekannten Klischees reduziert wird. Um diese Komplexität beispielhaft zu beschreiben, beziehe ich mich hier auf eine Produktion aus Beirot (Festival Ayloul) aus dem Jahr 2000. Three Posters von Elias Khoury und Rabih Mroue 5 Unveröffentlichtes Interview mit Ismael Ivo für Black Atlantic, ein Projekt im Haus der Kulturen der Welt, Berlin 2004.

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GLOBALISIERUNG, MIGRATION UND DIE INTERKULTURALITÄT VON PERFORMANCE

inszeniert mit einfachsten Mitteln die Selbstdarstellung von Selbstmordattentätern im Libanon. Zwischen Fiktion und Dokumentation zerlegen die beiden Künstler den Mythos des islamistischen Terrors. Denn das historische Fundstück, eine Videoaufzeichnung, in der ein Selbstmordattentäter seine Tat begründet, deckt eine ganz andere Geschichte auf: die Geschichte der gescheiterten Linken im Libanon, die ihre ethische Autorität an die islamischen Fundamentalisten in den 1980er Jahren verliert. So sind es gescheiterte Intellektuelle, die in den Videos und Schriftstücken ihre Tat begründen und damit eine für den Libanon, aber auch für den Westen, andere Geschichte der Gegenwart schreiben. Es sind die künstlerischen Positionen, in denen, gleichsam wie in Metaphern, die komplexen politischen, sozialen und kulturellen Konstellationen in den Brennpunkten wie Beirut, Bombay, Shanghai oder Lagos zum Ausdruck kommen. Sie sind wichtige Bausteine einer neuen kulturellen Situation in der Welt, die mit großer Dynamik in Asien, Afrika und Lateinamerika, auch die europäischen Diskurse und Weltmodelle verändern. Sie stehen längst nicht mehr in der Peripherie eines westlichen Kulturkanons. Sie bestimmen die neuen Perspektiven kultureller und künstlerischer Prozesse, auch in London, Berlin oder Madrid.

Literatur Du Bois, William Edward Burghardt: The Souls of Black folk, Chicago: Mc Clurg 1903. Fanon, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken, Frankfurt/M.: Syndikat 1980. LaBretonne, Nicolas-Edme Restif de: La Decouverte australe Par un Hommevolant, Paris: Leipsick 1781. Maupertius, Pierre Louis Moreau de: Venus physique suivi de Ia Lettre sur Je progres des sciences, übersetzt durch Verf., Paris: Aubier-Montaigne, 1980.

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DIETER MERSCH

Life-Acts. Die Kunst des Performativen und die Pertorrnativität der Künste

I. Der Künstler schreit, stürzt ein Klavier um, blendet zu Beethovens Neunter Geheul fliehender Kinder und Frauen aus Vietnam ein, lässt Motorräder und Ventilatoren laufen, beschießt symbolisch das Publikum mit einem Maschinengewehr, stürzt auf einen der Anwesenden zu, wäscht ihm den Kopf, schneidet seine Krawatte ab und reißt ihm halb seine Kleidung vom Leib; danach schlägt er eine Fensterscheibe ein, um blutend davon zu laufen und von einem öffentlichen Telefon aus das völlig verstörte Publikum zu informieren: "The show is over". 1 Szenenwechsel. Eine blaue Kiste befindet sich in einem Ausstellungsraum ohne bezug zu den ausgestellten Arbeiten; eine Mitarbeiterin der Galerie bittet einen Besucher, ihr dabei behilflich zu sein, die Kiste aus dem Weg zu räumen und macht anschließend einen Strich auf einer vorbereiteten Liste. Szenenwechsel. Eine vornehm gekleidete Dame fuhrt ihren Mann als Hund an einer Kette durch die Gassen. Szenenwechsel. Der Künstler schließt das Publikum aus der Ausstellung aus, um mit Goldmaske, bandagiertem Bein, Eisensohle und einem toten Hasen im Arm von Bild zu Bild zu Mary Bauermeister im Gespräch mit Gabriele Lueg, in: Wulf Herzogenrath/ Gabriele Lueg (Hg.), Die 60er Jahre. Kölns Weg zur Kunstmetropole. Vom Happening zum Kunstmarkt, Köln: Kölnischer Kunstverein, 1986, S. 143, ferner: Hans G. Helms, in: ebd., S. 136; John Cage: Für die Vögel. Gespräche mit Danie1 Charles, Berlin: Merve 1987, S. 210.

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gehen und hier und da Erklärungen zu geben, indem er auf einige Details hindeutet. Zum Schluss verharrt er reglos auf einem Schemel. Szenenwechsel. Das Künstlerpaar kniet voreinander, auf beide sind starke Lampen gerichtet, abwechselnd schlagen sie sich solange ins Gesicht, bis einer aufhört. Szenenwechsel. Ein Künstler heuert eine Schar Arbeitsloser an, um gegen Geld in einer Galerie einen Tag lang eine Betonwand im genauen Winkel von sechzig Grad halten zu lassen. Szenenwechsel. Eine Gruppe von Künstlern lebt zusammen, um im Sinne einer Kooperative minimalistische Alltagsgegenstände herzustellen und zu verkaufen, die nach dem Prinzip ökologischer Sparsamkeit und designerischer Konsequenz konzipiert sind. Es handelt sich um willkürlich herausgegriffene Beispiele von künstlerischen Aktionen, Performances oder Projekten zwischen 1960 und heute von Nam June Paik über Valie Export, Peter Weibel und Josef Beuys bis zu Marina Abramovic und Ulay, Santiaga Sierra und der Gruppe N55. Ihre Themen reichen von der Sozial- und Kulturkritik über symbolische Transformationen der Kunst bis zur Konterkarierung von Dienstleistungen und der Entwicklung einer gegenöffentlichen Lebensweise. Ihre Mittel sind die szenische Aufführung, die Installation, die direkte Attacke des Publikums, die Selbstaussetzung der Körper sowie die Einbeziehung von Besuchern, die eine Erfahrung im Sinne unmittelbarer Wider-Fahrnis machen. Die verschiedenen Auf- und Vorführungen und ihre jeweiligen ästhetischen Konzeptionen sollen im folgenden nicht im einzelnen kommentiert werden, sie dienen vielmehr als Folie einer philosophischen Reflexion über das Performative und dessen Ästhetik. Dabei besetzen Philosophie und Kunst unterschiedliche Plätze; sie lassen sich nur gleichberechtigt aufeinander beziehen, wobei die Kunst der Philosophie ebensoviel zu zeigen hat, wie der philosophische Diskurs der Kunst etwas sagen kann. Keinem gebührt jedoch ein Vorrang vor dem anderen, vielmehr begegnen sie einander ohne Stabilität, wie Rene Magritte es überhaupt von der Beziehung zwischen Bild, Ding und Name gesagt hat: "Ein Gegenstand begegnet (rencontre) seinem Bild, ein Gegenstand begegnet (rencontre) seinem Namen. Es kommt vor, dass Bild und Name dieses Gegenstandes sich begegnen (se rencontrent). "2 Ähnliches gilt für das Verhältnis zwischen Diskurs und Praxis: Ästhetik und ,Artistik' gehen getrennte Wege; 3 sie berühren sich nur gelegentlich, wohingegen der Kommentar, die Interpretation sich bereits auf die Seite des Diskurses geschlagen und dem Symbolischen, dem Sinn oder der Bedeutung das Übergewicht erteilt hat. Darin liegt das Zwiespältige jedes philosophischen Zugriffs auf die Kunst, seine chroni2 Rene Magritte: Sämtliche Schriften, Frankfurt/M./Berlin/Wien: Ullstein 1985, S. 44.

3 Zur Differenz zwischen Ästhetik und ,Artistik' vgl. auch meine Ausführungen in: Verf.: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002.

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sehe Verfehlung: Sie erfordert, sich auf die Entfaltung einiger zentraler theoretischer Aspekte zu beschränken. Statt die verschiedenen Aktionen darum zur Beute einer Deutung zu machen, ginge es weit eher um die Einbindung in einen Dialog, der zwar Sprache bleibt- ihr Primat ist dem gewählten Metier geschuldet - der sich gleichwohl aber der Sache gegenüberstellt, ohne sie zu überformen. Der Diskurs ist eines, die Performativität der Künste ein anderes; der Sinn des Diskurses ist der ,Sinn', der der ästhetischen Aktionen die Performanz. Zwischen beiden besteht keine Deckung; sie halten sich zueinander in einer prinzipiellen Kluft.

II. Bei sämtlichen genannten Beispielen handelt es sich indessen nicht um ,Kunst-Werke', die für sich selbst stehen, um in der Einsamkeit einer Galerie oder eines Ausstellungsraums dargeboten zu werden, sie verlangen vielmehr einen anderen Zugang, eine andere Beschreibungsart "Ich bin für eine Kunst, die etwas anderes tut als in einem Museum auf ihrem Arsch zu sitzen", hat Claes Oldenburg deshalb proklamiert. 4 Der harsche Bescheid verweist die Kunst spätestens seit den 1960er, 1970er Jahren auf das Programm ihrer ,Performativwerdung'. Ihr Medium ist nicht länger der Rahmen, der feste Ort, die Dauer oder die anhaltende Präsentation, sondern die Zeitlichkeit des Vollzugs selber, dessen temporale Beschränkung, seine Nichtwiederholbarkeit. Dabei führt die ,Archäologie' des Performativen-um nur einige markante Stationen zu nennen - zurück auf den Dadaismus und seine proklamatorischen Gesten, auf Marcel Duchamps Readymades, der ecriture automatique des Surrealismus, auf Yves Kleins Anthropometrien und Jackson Pollacks Actionpainting, auf den Abstrakten Expressionismus, das Informell und den Tachismus. Sie erweiterten das Werk um Momente des Zufalls, der Prozessualität, der Materialität der Farbe sowie der Körperlichkeit des Malaktes und seiner Spuren sie lassen die Male der Erschöpfung, des Entgleitens der intentio hervortreten. Doch tauchte bereits in den 1950er Jahren mit Bewegungen wie den Pariser Situationisten, der japanischen Gruppe GUT AI und den frühen Happenings von John Cage und Robert Rauschenberg anderes auf, das seine Schatten und Vorboten weit auf das vorwerfen sollte, was sich schließlich in den 1960er und 1970er Jahren im Happening und Fluxus, dem Wiener Aktionismus oder den verschiedenen Formen der Performances entlud, um aktiv an der Kulturrevolte der Studentenbewegung teilzunehmen.

4 Claes Oldenburg, zit. n. Ellen H. Johnson (Hg.), Claes Oldenburg, Baltimore: Penguin Books 1971, S.16f.

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Paradigmatisch für diese Wende ist die eingangs erwähnte, 1960 von Nam June Paik im Rahmen des Cantre-Festivals in Köln inszenierte Aktion, die mit Elementen der Provokation, der Selbstverletzung und des Angriffs auf den im Publikum sitzenden John Cage operierte, von der der Schriftsteller Hans G. Helms schrieb, dass Paik, als er "hinter dem umgestürzten Klavier in Stellung ging, um das eng gedrängte Publikum mit einem imaginierten Maschinengewehr symbolisch wachzuschießen [... ], uns [... ] die Brutalität des herrschenden Imperialismus um die Ohren (schlug) [ ... ]."5 Diese und ähnliche Aktionen lösten eine heftige Debatte um die Neutralität der Kunst oder, im Gegenzug, ihr unerlässliches gesellschaftliches Engagement aus, welche Beuys auf seine Weise durch die zusammen mit Bazon Brack und Wolf Vostell konzipierte Aktion von 1964 entschied: Auf eine notdürftig zusammengehämmerte Bretterwand malte er mit brauner Farbe, in die flüssige Schokolade als Liebesgabe gegeben war, die Worte: Das Schweigen von Marcel Duchamp wird überbewertet. Happening und Fluxus bildeten keine Neuauflage von Dada, vielmehr widersetzte sich Beuys jedem Antikunst-Begriff, der zuletzt in Aktionslosigkeit mündete: "Ich achte ihn [Duchamp] sehr, aber sein Schweigen muss ich ablehnen." 6 Der transformatarische Prozess, der so eingeleitet wurde und zuletzt das Selbstverständnis des Avantgardismus als einer negativen ,Kunst über Kunst' zu überwinden trachtete, ist darüber hinaus Thema der ein Jahr später von Beuys durchgeführten und ebenfalls eingangs erwähnten Düsseldorfer Aktion Wie man einem toten Hasen die Bilder erklärt (1965). Dem zahlreich erschienenen Publikum blieb nur der Blick von außen durch die Fenster der Galerie Schmela und kaum einer sah etwas, während Beuys nach eigener Angabe dem Hasen im Arm alles erklärte, "was zu sehen war. Ich ließ ihn die Bilder mit den Pfoten berühren [.. .]. Ich erklärte sie ihm, weil ich sie nicht den Leuten erklären mag [ ... ]. Ein Hase versteht mehr als viele menschliche Wesen mit ihrem sturen Rationalismus [.. .]. Der Hase weiß vermutlich besser als der Mensch, dass Richtungen wichtig sind." 7 Das Element Honig, die zur Maske geformten Goldplättchen, das mit Filz bandagierte Bein, die Metallsohle sämtlich Symbole der ideosynkratischen Privatmythologie Beuys' - deuten dabei eine Transformation, einen gleichsam alchimistischen Umwandlungsprozess an, zur der die eigene Versehrtheit, die Verletzung gehört, in deren

5 Hans G. Helms zit. n. Wulf Herzogenrath/Gabriele Lueg (Hg.), Die 60er Jahre, Kölns Weg zur Kunstmetropole. Vom Happening zum Kunstmarkt, Köln: Kölnischer Kunstverein 1986, S. 136. 6 Josef Beuys: "Der Tod hält mich wach." Josef Beuys im Gespräch mit Achille Benito Oliva, München: Lenbachhaus 1986, S. 72-82, hier S. 77; vgl. auch Uwe Schneede: JosefBeuys. Die Aktionen, Bonn: Hadje 1994, S. 80-82, hier S. 81. 7 Josef Beuys zit. n. Ursula Meyer: How to Explain Pictures to a Dead Rare, in: Artnews 68, Nr. 9 (1970), S. 54-57, hier S. 57.

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Verlauf die Kunst durch ihren Tod hindurch erneuert und zu etwas anderem geführt wird: ,,Ich trete aus der Kunst aus", wird Beuys später sagen; und: "Ich habe wirklich nichts mit der Kunst zu tun, und das ist die einzige Möglichkeit, um für die Kunst etwas leisten zu können. " 8

II I. Kunst artikuliert sich folglich nicht mehr in Form abgeschlossener und deutbarer Gestalten; ihr Format ist nicht der Sinn, das Symbolische, vielmehr schafft sie Prozesse und Ereignisräume, die begangen und erkundet, die erlebt und- im Wortsinne von Aisthesis- ,aufgenommen' und beantwortet werden müssen. Nicht nur verwandelt sich damit die Struktur ästhetischer Erfahrung, sondern auch das Selbstverständnis von Kunst: Sie gerät zur Praxis, deren Performativität oder Wirkung maßgeblich werden, sei es durch Auslösung unterbrechender oder störender Impulse, durch Stiftung kontaminierender Rituale, durch Vervielfältigung von Kräften und Widerständigkeiten oder der Parodierung und Dekontextuierung politischer Macht. Entscheidend sind so die Effekte, ihre Induktion und die damit implizierten Erfahrungen, nicht, was die Aktionen im einzelnen sind. Indessen hat der Begriff des Performativen unterschiedliche Konjunkturen durchlaufen, die seine Verwendung verwirren. 9 Fand er ursprünglich sein Modell in der Sprache, verlangt seine Übertragung auf den Bereich des Ästhetischen seine Transskription, seine Um-Schreibung, die die Akzente verlagert. Denn in bezug auf die Sprache lenkte der Begriff die Aufmerksamkeit auf den unmittelbaren Konnex zwischen Sprechen und Handeln, soweit das Gesagte selbst ein Akt ist, der Tatsachen setzt oder Konsequenzen zeitigt. Wir haben es, wie Willard van Orman Quine es treffend ausgedrückt hat, mit einer "pragmatischen Selbstauszeichnung der Rede" zu tun, denn auf die Spur des Performativen führte John L. Austin eine bestimmte Sorte von Verben, die genau das sagen, was sie tun, z.B. behaupten, kennzeichnen, bitten, grüßen

8 JosefBeuys: Zeichnungen. Katalog zur Ausstellung, Nationalgalerie Berlin 1979, S. 31.

9 Einen Überblick geben die Beiträge in: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M: Suhrkamp 2002; Christoph Wulf/Michael Göhlich/Jörg Zirfas (Hg.): Grundlagen des Performativen. Eine Einführung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln, Weinheim/München: Juventa 2001; Erika Fischer-Lichte/Christoph Wulf (Hg.): Theorien des Performativen, Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Bd. 10 (1998); Erika Fischer-Lichte/Christian Hom/Matthias Warstat (Hg.): Performativität und Ereignis, Tübingen/Basel: Francke 2002.

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oder sich entschuldigen. 10 Doch - und darin besteht der Mangel des inzwischen klassisch gewordenen Ansatzes der Sprechakttheorie von Austin über John R. Searle bis zu Jürgen Habermas und anderen- bleibt darin der Akt als Akt eigentümlich unterbelichtet, denn der Handlungscharakter der Sprache interessiert nur solange, wie er für den Bedeutungsvollzug der Rede relevant erscheint. Die Sprechakttheorie erweist sich damit in erster Linie als eine Bedeutungstheorie, nicht eigentlich als eine Handlungstheorie; sie rückt weiterhin die Semantik ins Zentrum, insofern das Performative vor allem den pragmatischen Modus des Bedeutens meint, wie auch Donald Davidson hervorgehoben hat, nicht den praktischen Status der Rede selbst. 11 Wenn dagegen im Bereich des Ästhetischen von ,Performativität' die Rede ist, geht es in erster Linie um den ,Aktcharakter' selbst, um das Erscheinenlassen der Prozessualität von Handlungen, um ihren einmaligen Gebrauch, ihre gewissenhafte Ausführung, ihre Selbstausstellung, wie ebenso um ihren Überschuss, ihre arbiträren Wirkungen und Bruchstellen. Kunst hat es stets mit Reflexion zu tun; deshalb seien unter einer ,Ästhetik des Performativen' solche kunstpraktischen Experimente gefasst, die die chronische Disparität zwischen Symbolischem und Performativem explizit machen. 12 Das bedeutet: Handlungen und Vollzüge wie auch deren Zeitlichkeit als ihre Bedingung und die Nichtwiederholbarkeit ihres Ereignens werden gleichsam selber zu ästhetischen Mitteln. Dies kann auf unterschiedliche Weise geschehen, z.B. dadurch, dass am Handeln ein Nichtintentionales, eine Unvorhersehbarkeit oder die Materialität der Körperlichkeit eigens entdeckt und erfahrbar gemacht werden, aber auch die Unerfüllbarkeit der Kontexte, die unberechenbare Fortschreibung der Effekte, die nicht selten auf die Akteure zurückschlagen. Eine Aktion greift z.B. in den öffentlichen Raum ein, unterbricht deren Abläufe, indem sie etwas Fremdes, an den Rand Gedrängtes oder Beunruhigendes auftauchen lässt - doch nicht die Sichtbarmachung des Fremden als Fremden oder des Ausgeschlossenen als Ausgeschlossenen steht dabei im Vordergrund, sondern z.B. die Enthüllung elementarer Strukturen des Sozialen selber, die Tatsache der Angewiesenheit auf den Anderen, auch des deklassierten, des ausgegrenzten, verlorenen und verrückten. Einige der zu Beginn angeführten Beispiele weisen in diese Richtung: Die blaue Kiste, die hilfeleis10 Vgl. Willard Van Onnan Quine: Theorien und Dinge, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991,S.116. 11 Vgl. Donald Davidson: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2 1994, S. 163-180. Vgl. dazu bes. Dieter Mersch: Ereignis und Respons. Elemente einer Theorie des Performativen, in: Jens Kertscher/Dieter Mersch (Hg.), Perfonnativität und Praxis, München: Fink 2003, S. 69-94. 12 Der Ausdruck stammt von Erika Fischer-Lichte, vgl. bes. dies.: Für eine Ästhetik des Performativen, in: Jörg Huber (Hg.), Kultur-Analysen, Interventionen 16, Zürich: Edition Valderneer 2001, S. 21-43 und jüngst: dies.: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004.

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tend quer durch den Raum geschleppt wird, macht einen einfachen Akt von Solidarität anschaulich -jene Solidarität, die Sozialität als Sozialität allererst konstituiert und zum Grund des gesellschaftlichen Seins gehört. Wenn zudem das Künstlerpaar Marina Abramovic und Ulay sich solange ohrfeigend gegenübersitzt, bis einer aufhört, wird nicht so sehr die Gewalt zwischen den Geschlechtem, ihr Todhass, wie es Friedrich Nietzsche ausgedrückt hat, manifest - das hieße, sie ausschließlich auf der Ebene des Symbolischen zu lesen sondern die Logik des Konfliktes, seine Eskalation sowie die Dilemmata passiver Zeugenschaft, denn weit mehr als für die beiden Künstler erweist sich das Geschehen für den Teilnehmer, den Betrachtenden, der unfreiwillig zum Komplizen wird, als unerträglich. Von ganz anderer Gewalt spricht darüber hinaus Santiaga Sierras Aktion mit Arbeitslosen, denen nichts anderes abverlangt wird, als die vollkommen sinnlose Arbeit, einen Tag lang eine Betonwand im schrägen Winkel zu halten: Jede Dienstleistung ist heute gegen Bezahlung zu fordern und zu erhalten: Die Unerbittlichkeit der ökonomischen Kreisläufe, deren einziges Gesetz das Geld darstellt, haben gerade jene sozialen Beziehungen erodieren lassen, die umgekehrt mit den Mitteln einfacher Solidaritätsakte wieder restituiert werden müssen.

IV. Es handelt sich also um einen Übertritt der Kunst in den sozialen und öffentlichen Raum, um einen Interventionismus oder eine , Ethik der Praxis', die den Betrachter tendenziell zum Partizipienten, zum Kollaborateur macht, der nicht mehr ausweichen kann und folglich Stellung beziehen muss. Nicht so sehr bedeutsam sind dabei die pragmatischen Modi des Bedeutens, die Aufdeckung der konstitutiven Voraussetzungen oder Präsuppositionen, wie sie die Sprechakttheorie im Falle der Sprache zu rekonstruieren trachtete: Nicht die Regel zählt, sondern weit eher die Machtförrnigkeit der Praxen, ihre Unsicherheit und Fragilität sowie die Annullierung der Struktur, die Verweigerung der Regel. Ging es den linguistischen Performativitätstheorien ausschließlich um die Analyse der Grammatik des Performativen - und legten damit weiterhin, geht man von der Saussuresehen Unterscheidung zwischen Iangue und parole aus, das Hauptgewicht auf die Ordnung, die Struktur und mithin auf die Form- enthüllt statt dessen die ,Ästhetik des Performativen' die buchstäbliche An-Archie des Praktischen, ihr Bruch mit der Ordnung. Folglich arbeitet sie auf der Schwelle, operiert mit Überraschungseffekten, mit Paradoxa und Inversionen, die das Moment des Performativen in dem Maße erfahrbar machen, wie sie die Handlung destabilisieren und den Akt als Akt prekär erscheinen lassen.

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Dann fallen unterschiedliche Aspekte auf, die von der Sprechakttheorie in Bezug auf die Sprache im Augenblick der Entdeckung des Performativen wieder verdeckt werden. Dazu gehört als erstes der Setzungscharakter. Mit Setzung ist nicht ,intentionale Setzung' im Sinne Johann Gottlieb Fichtes oder des Deutschen Idealismus gemeint, 13 sondern das Sichsetzen einer Handlung jenseits und unabhängig von Intentionalität und deren Erfüllung. ,Sichsetzen' bedeutet im näheren das Ereignis der Setzung ohne bereits durch eine Absicht oder ein Motiv prätendiert zu sein, die ihm einen Inhalt verleihe. Angesprochen ist auf diese Weise, dass jede Handlung qua Setzung doppelt besetzt istdenn was immer intendiert war, was die ursprüngliche Absicht oder Bedeutung war, ihr eignet zugleich eine Positivität, ein affirmatives Moment, wie es in ihremfactum est, der Tatsache der Gesetztheit zum Ausdruck kommt. Das heißt auch, für den Begriff des Performativen, dem Vollzugscharakter des Handeins ist nicht so sehr die Setzung ,als', als vielmehr die Setzung ,dass' entscheidend. Sie impliziert keine Setzung im Sinne einer Bestimmung, sondern noch vor dieser die Setzung in ihrer Materialität qua ,Existenzsetzung'. Entsprechend ist in bezug auf die Performanz des Zeichencharakters der Sprache, den symbolischen Gehalt eines Handeins nicht primär deren Bezeichnungs- oder Bedeutungsfunktion maßgeblich, sondern in erster Linie ihre Instantiierung auf der Szene, ihre okkasionelle Situierung. Es ist dieser Gesichtspunkt, den Jean-Franyois Lyotard im Widerstreit von Wittgenstein und Heidegger her für die Untersuchung der Sprache fruchtbar gemacht und in Ansehung des Ereignisbegriffs weiterentwickelt hat: "Ein Satz ,geschieht"'/ 4 heißt es dort, wobei Lyotard den Sprechakt aus der Einzigkeif seines Geschehnis zu fassen versucht: "Es gibt nur einen Satz ,auf einmal'[ ... ], nur ein einziges aktuelles ,Mal'." 15 Die These schreibt der Äußerung nicht nur eine absolute Singularität zu, die sie von jeder anderen trennt, vielmehr betont sie im Satzzeichen gleichsam dessen Eigennamen, der ihm seine einmalige Besonderheit, seine Einzigartigkeit zusichert. Lyotard wiederholt auf diese Weise eine Operation, wie sie gleichermaßen für Theodor W. Adornos Denken des Nichtidentischen leitend war und dem wiederum in bezug auf die "Ästhetik des Erhabenen" Vorgängigkeit des "Geschieht es?" als Frage vor dem "Es geschieht" als Bestimmung entspricht. 16 13 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, Stuttgart-Bad Cannstadt 1962, II, 4, bes. S. 182-184. 14 Jean-Fran9ois Lyotard: Der Widerstreit. München: Fink 2 1989, S. 10. Vgl. auch ders.: Streitgespräche oder: Sätze bilden ,nach Auschwitz', in: Elisabeth Weber/Georg Christoph Tholen (Hg.), Das Vergessene, Wien: Turia u. Kant 1997, S. 18-50, S. 32: "Ein Satz ist ein Ereignis, ein Fall, a token." 15 Ebd., S. 227. 16 Vgl. Jean-Fran9ois Lyotard: Das Erhabene und die Avantgarde, in: Merkur 424 (1984), S.151-164, bes. S.152. Vgl. auch Verf.: Das Entgegenkommende und das Verspätete. Zwei Weisen, das Ereignis zu denken: Derrida und Lyotard, in:

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Das bedeutet auch: Vorauszu-setzen ist, dass überhaupt geschieht, mithin, "dass etwas sich zeigt". 17 Das Sichzeigen ist aber ein anderes Wort für phaenomestai, Erscheinen, was auf den genuin ästhetischen Augenblick hindeutet. Immer wieder hat Lyotard diesen Punkt umkreist: "Wenn es einen ,Inhalt' gibt, ist er das ,Augenblickliche'. [ ... ]Der Beginn ist, dass es gibt[ ... ] (quod); die Welt, das, was es gibt.'d 8 Nichts anderes meint auch das weiter oben ausgewiesene affirmative Moment des Performativen, seine Unausweichlichkeit oder Irreduzibilität, denn die Setzung einer Existenz duldet keine Negativität, sie kann, wie es ebenfalls im Widerstreit heißt, "von keinem Willen [... ] besiegt werden": Sie gemahnt daran, "sich zu situieren". 19

V. Drei weitere Merkmale des Performativen sind sodann unmittelbar aufgerufen. Setzung ist, wie bereits ausgeführt, zunächst Existenzsetzung; dazu gehört desweiteren (i) erstens der Augenblick des Einsatzes; er gibt den Akt, die Handlung auf der Szene frei; Performativität im Sinne der Einsetzung ist folglich ,Freisetzung' und als solche (ii) zweitens Ent-Setzung, insofern der Akt die Szene, in dem Maße wie er sich in ihr situiert, zerteilt, die Richtung ihrer Entwicklung umwendet oder verändert; sie ist somit (iii) drittens Aussetzung, weil sie die Richtung der Veränderung, das, was sie induziert, ihre jeweiligen Folgen, nicht mehr in ihrer Hand hält. (i) Einsetzung meint dabei das Moment der Instantiierung, jenen einzigartigen Augenblick, da gleichsam das Schweigen gebrochen wird. Nicht nur bedeutet der Akt, dass etwas gesagt oder in die Welt gebracht ist, vielmehr verdankt er sich ebenso sehr einer Unterbrechung, einer Spaltung, die Emmanuel Levinas als seine ,Gewalt' bezeichnet hat. 20 Die Möglichkeit dazu ist in jedem Akt unwiderruflich angelegt, wie umgekehrt das Nichts, das Schweigen, das ihm vorhergeht, in ihm enthalten und aufgehoben ist. Zeitlichkeit und Differenz, die einander zugeordnet sind, sind demnach der Setzung zugehörig: Wann, bei welcher Gelegenheit etwas gesagt, eine Handlung vollzogen oder unterlassen wird, wirkt unbotmäßig an seiner Bedeutung mit, zeitigt Konsequenzen.

17 18 19 20

Dietmar Köveker (Hg.), Im Widerstreit der Diskurse, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2003, S. 69-107. Jean-Fran9ois Lyotard: Grundlagenkrise, in: Neue Hefte für Philosophie 26 (1986), S. 1-33, hier S. 4. Ders.: Der Augenblick, Newman, in: ders., Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens. Berlin: Merve 1986, S. 7-23, hier S. 13. Ders.: Der Widerstreit, S. 299. Vgl. Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit, Freiburg/München: Alber 2 1993, S. 29.

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(ii) In diesem Sinne ist der Akt zugleich Ent-Setzung- der etwas manierierte Ausdruck deutet die buchstäbliche Zerschneidung der Situation, ihre TransPosition oder Kippung an, mit der die performativen Künste bevorzugt arbeiten, etwa wenn, wie eingangs betont, Erwartungen plötzlich vereitelt oder umgestürzt werden: Nam June Paiks frühe Aktion, die einem Konzertpublikum den Kopf wäscht, um inmitten seiner behaglichen Passivität die schiere physische Gewalt und Verletzung auftauchen zu lassen, oder wenn, um ein aktuelles Beispiel hinzuzufügen, das vollkommene Freizügigkeit fordernde internationale Publikum auf der Biennale in Venedig dadurch düpiert wird, dass es vor dem vermauerten Eingang des spanischen Pavillons steht und am Hintereingang von Polizisten den Bescheid erhält, Zutritt sei nur demjenigen gewährt, der über einen spanischen Pass verfüge: Die Aktion dokumentiert die Anwesenheit von Willkür und Ausschluss; sie demonstriert diese, indem sie jeden einzelnen Besucher die Erfahrung selbst machen lässt, und dies gilt ebenfalls für den spanischen Besucher, der Einlass findet: Er vermag nur hineinzugehen mit dem schlechten Gewissen, zugelassen zu sein und folglich mit der Macht und der Illegitimität des Gesetzes eine Komplizenschaft eingegangen zu sein. (iii) Neben Einsetzung und Ent-Setzung ist die Handlung gleichzeitig in die Szene ausgesetzt; sie ist, einmal vollzogen, der Welt gleichsam preisgegeben. Setzung qua Aus-Setzung meint dabei ein doppeltes: zum einen ist der Akt ,auf der Szene' der Kontrolle entzogen; er führt ein Eigenleben, widersetzt sich der Beherrschung durch den Akteur und nimmt damit innerhalb der Situation eine eigene Stellung ein, bleibt ihm, als Handelndem, im Wortsinne ent-fremdet: Sobald er handelt oder spricht, wirft er seine Handlungen, sein Gesagtes in die Waagschale der Geschichte, induziert ein Moment von Gefährdung: Etwa wenn Marina Abramovic in der Aktion Rhythm Zero von 1974 72 Gegenstände mit der Aufforderung auf einen Tisch legt, sie frei auf sie anwenden zu können: ",ch bin ein Gegenstand. Während dieser Zeit übernehme ich die volle Verantwortung. " Dauer: sechs Stunden. Mit solcher Gefährdung ist dann freilich nicht nur die direkte physische Gefahr gemeint, die damit verbunden ist, was besonders für die feministische Performance der 1980er Jahre bedeutsam war, sondern jede Handlung stellt sich selbst aus, führt sich vor, zeigt sich. In diesem Sichzeigen ist der Akt nicht nur in die Welt gesetzt und zur Erscheinung gebracht; er gibt sich ebenfalls in dem Sinne preis, als dass sich der Handelnde in ihr selbst preisgibt und seine Handlungen gleichermaßen körperlich präsent macht, wie er durch sie angreifbar wird. Der Körper handelt, er ,spricht' im Akt mit: darauf haben sowohl Elaine Scarry als auch Shoshana Felman und Judith Butler verschiedentlich auf-

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merksam gemacht: 21 Der ,Aufführungscharakter' einer Handlung, seine spezifische Präsenz, die mit dem Begriff des Performativen konnotiert ist, hängt daran. 22

VI. Maßgeblich ist dabei, dass mit den drei genannten Gesichtspunkten performativer Setzung - (i) erstens die Einsetzung, (ii) zweitens die Ent-Setzung und (iii) drittens die Aus-Setzung - quer zu den Handlungen, seien sie in einer Kommunikation als Sprechakte oder im Kunstkontext als eine Performance oder eine Aktion vollzogen, ein grundlegender Riss entsteht, der auf eine ursprüngliche Duplizität im Performativen hinweist. Denn auf der einen Seite haben wir die Bedeutungen, die intentio, den Prozess der Symbolisierung, das also, was mit einem Akt gesagt oder ausgedrückt wird, auf der anderen Seite das Ereignis der Setzung, die Momente seiner Singularität und Temporalität sowie das buchstäbliche Skandalon seiner Materialität und Körperlichkeit. Sie beinhalten seine genuine ,Überschüssigkeit'. Das meint: Keine Handlung geht in dem auf, was sie sein will oder zu verstehen zu geben vorgibt; vielmehr nistet in aller Bedeutung ein Unverständliches, ein ,Sprung'. Beide Seiten sind irreduzibel: Wir können nicht umhin, als gleichzeitig, wenn wir etwas tun oder vollbringen nicht nur etwas zu beabsichtigen oder zu bezwecken, nicht nur einen Sinn hervorbringen oder zu durchkreuzen, sondern auch etwas zu zeigen, etwas vorzuführen, d.h. auch etwas mit zu vollziehen, was sich des Zugriffs sperrt, was entgeht oder unverfügbar bleibt. Man kann diese irreduzible Duplizität mit Rekurs auf Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus aus der Differenz zwischen Sagen und Zeigen herleiten. 23 Vorausgesetzt ist allerdings, dessen eng gesteckten sprachphilosophischen Rahmen zu überschreiten. Denn weit über Wittgenstein hinaus signalisieren beide Termini eine Komplexität: Sagen verweist auf Semiosis, auf 21 Vgl. Elaine Scarry: Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzung und die Erfindung der Kultur, Frankfurt/M.: Fischer 1992; Shoshana Felman: The Literary Speech Act. Don Juan with J. L. Austin or Seduction in Two Languages, Ithaca/NewYork: Cornell University Press 1983; Judith Butler: Haß spricht, Berlin: Berlin 1998, S. 21 ff. 22 Auf den Aufführungscharakter des Performativen hat besonders Erika Fischer-Lichte aufmerksam gemacht. Vgl. insb. dies.: Vom ,Text' zur ,Performance'. Der ,performative turn' in den Kulturwissenschaften, in: Paolo Bianchi (Hg.), Kunst ohne Werk/Ästhetik ohne Absicht. Kunstforum International, Bd. 152 (2000), S. 61-63, sowie dies.: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004. 23 Vgl. Dieter Mersch: Das Sagbare und das Zeigbare. Wittgensteins frühe Theorie einer Duplizität im Symbolischen, in: Prima Philosophia Bd. 12, Heft 4 (1999), S. 85-94.

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die vielfaltigen Texturen des Sinn, Zeigen dagegen auf Materialität und Setzung, auf den Augenblick einer Präsenz. Im ersten Falle haben wir es mit einer symbolischen Ordnung zu tun, die bestätigt, verletzt oder umgedeutet werden kann, im letzten Fall mit dem Ereignis der Setzung in allen Konnotationen der Preisgabe und Aussetzung. Doch ist der entscheidende Punkt, dass beide im selben Modus der Handlung ihre Deckung verweigern. Es gibt keine systematische Erfüllung, keine Identität, vielmehr schneiden und vermischen sich beide Momente; sie überlagern und stören einander, erzeugen Brechungen wie die Möglichkeit der Produktion unendlicher Paradoxa. Man kann deshalb von ihrem ,Spiel', ihrer ,Auf-Faltung' sprechen; sie offenbaren einen unaufhebbaren Chiasmus, eine nicht zu lösende Kreuzung oder Verwirrung, die weder eine Versöhnung noch einen Abschluss dulden. 24 Der Begriff des Performativen besitzt daraus seine außerordentliche Brisanz und Sprengkraft. Denn er verweist inmitten des Bedeutungsgeschehens auf ein Uneinholbares, ein Nichtdeutbares. Deswegen ist von Duplizität, von ,Chiasmus' die Rede, denn das Symbolische, die Darstellung oder auch die Repräsentationen beruhen auf zwei sich widersprechenden Bedingungen: (i) dem Sinn, wie er durch ihre Struktur oder Grammatik evoziert wird, und (ii) dem, was der Sinn, um Sinn zu sein, um als solcher funktionieren zu können, gleichzeitig ausschließen muss: das Ereignis seiner Setzung, seine Faktizität, seine Materialität und Präsenz - also das, was den Sinn in einem gewissen Sinne mitkonstituiert, was er folglich mitführen muss, aber nicht mit ausdrücken, nicht mitsagen kann. Etwas wird vollzogen, zum Ausdruck gebracht, gesetzt, aber was immer damit gemeint oder ausgesprochen ist, im selben Augenblick kommt es, da es gesagt oder vollzogen ist, zur Erscheinung, wie umgekehrt seine Erscheinungsweise ein nichtkontrollierbares, sperriges Element birgt, das eine eigenständige Kraft entfaltet, die das derart Hervorgebrachte ebenso sehr wieder verschiebt oder unterminiert. Kurz: Eine Handlung vollziehen, einen Dialog fuhren, ein Symbol aufstellen, heißt, ein SichWiderstreitendes, eine Ambiguität zu setzen. Sie geschieht nicht der Sprache, der Handlung; diese erleiden sie nicht, sowenig wie sie durch ein Anderes erzeugt wird, sondern sie bewohnt einem Parasiten vergleichbar deren Inneres. Entsprechend wären die Strukturen sozialer oder kultureller Praxis, die Kommunikation und auch der künstlerischen Aktion, die sich dieser Ambivalenz, dieses chronischen Un-Heils vielleicht am entschiedensten bewusst ist und sich ihrer bemächtigt, entgegen Austin, Searle oder Habermas nicht von ihrem , Gelingen', dem möglichen Konsensus her zu entschlüsseln, sondern von der Kluft, der Differenz. 24 Bei Ludwig Wittgenstein ist der Chiasmus durch die kryptische Bemerkung angedeutet: "Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden." Vgl. ders.: Tractatus logico-philosophicus, Kritische Edition, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989.

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VII. Die These, worauf die Überlegungen zur Struktur des Performativen schließlich zulaufen, lautet dann: Performative Kunst beutet diese chiastische Struktur zur Reflexion, zur Brechung und Differenzsetzung, zur Inversion symbolischer Ordnungen oder Statuierung neuer Möglichkeiten systematisch aus. Die Vielfalt der Formen performativer Kunst habt darin ihren Anlass. Wenigstens vier Grundformen lassen sich unterscheiden: (i) Der Interventionismus in Form politischer Widerständigkeit, der Strukturen gesellschaftlicher oder politischer Gewalt aufzudecken sucht, (ii) die Selbstaussetzung, z.B. in der feministischen Körper-Kunst oder der Performance des Wiener Aktionismus, welche Körper- und Geschlechter-Verhältnisse zu dekonstruieren trachteten, (iii) der Medienbruch, der durch Eintragung von Störungen und Disfunktionalitäten die spezifische Medialität des Mediums, seine Grenzen zum Vorschein kommen lässt, 25 sowie (iv) das Erscheinenlassen des Ereignens unveifügbarer Präsenz im Sinne von ,Reauratisierungen' des Ästhetischen durch Setzung von Augenblicken, unwiederholbaren Singularitäten oder der ,Gravität' des Materiellen. 26 Kunst unterbricht die Abläufe, verkehrt die Bezüge, versetzt und ent-stellt die Programme oder stürzt Verhältnisse um, indem sie den Chiasmus von Sagen und Zeigen mobilisiert, um die Irritationen zu steigern und ihre Verwerfungen zu multiplizieren. Aus der Erzeugung systematischer double binds, der Erfindung immer neuer Paradoxa, die nach Beuys die "phantastische Eigenschaft" besitzen, "etwas aufzulösen und in einen NichtZustand zu versetzen", bezieht sie ihr produktives Potenzial, ihre nicht zu Ende bringende Dialektik: "Aus dem Nichts heraus ergibt sich dann ein neuer Impuls, der einen neuen Beginn setzt. " 27 Dabei handelt es sich weniger um ästhetische Negationen, weil diese stets noch an den Ordnungen des Sinns, der Botschaft partizipieren und damit deren Primat wahren; vielmehr ginge es gerade um die Entfaltung und Vervielfältigung der Instabilität der Codes, ihrer Abgründigkeit, z.B. indem nicht lediglich etwas Monströses oder Schockierendes gezeigt wird - dem Spektakulären haftet immer etwas Vordergründiges an-, sondern indem auf die Monstrosität des Einfachen und Alltäglichen hingedeutet wird oder umgekehrt das offenbar Monströse als das Normale auftritt: klonierte, genmanipulierte Fleischklumpen in spielender Kinderhand, wie sie ebenfalls in Venedig zu sehen waren. 25 Vgl. Verf.: Medialität und Undarsteilbarkeit Einleitung in eine ,negative' Medientheorie, in: Sybille Krämer (Hg.), Medialität und Performativität, München: Fink 2004, S. 75-95. 26 Vgl. ders.: Ereignis und Aura, Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002 bes. S. 211ff. 27 Josef Beuys in: Josef Beuys/Jannis Kounellis/Anselm Kiefer/Enzo Cucchi: Ein Gespräch, Zürich: Crantz 4 1994, S. 144.

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Statt der einstigen Autonomie von Kunst, ihrem selbstgenügsamen l'art pour l 'art oder der avantgardistischen Selbstreflexion der Kunst mit den Mitteln des Ästhetischen selber geht es in der Performativität der Künste und der Kunst des Performativen um die Wiedergewinnung ästhetischer Souveränität durch die Inszenierung von Umkehrbewegungen und Konflikten, die direkt ins Geschehen eingreifen. Dem entspricht, was Foucault den Übergang vom "universellen" zum "spezifischen" Intellektuellen genannt hat: An die Stelle des "Genies", des "Sängers der Ewigkeit", der der Welt gültige Interpretationen auferlegt, trete der "Stratege", der Taktiker der Freiheit, der sein persönliches Gewicht in aktuelle politische Kämpfe werfe, ohne sich im geringsten darum zu scheren, ob das, was er tut, vor den Gerichtshöfen der Geschichte Gnade findet oder nicht: "Gegenwärtig erleben wir den Tod des großen Schriftstellers" - des großen Künstlers, wie man ergänzen könnte, denn nicht länger gehe es um Kunst als "universelles Medium" und um den Künstler als ihrem Boten, der, wie die Selbstdarstellung des Avantgardisten mit dem Wundmal der Ausnahme und Heiligen versehen war; vielmehr arbeitet er am "Exemplarischen", am "Vorläufigen."28 Seine Ansprüche beschränken sich auf die jeweiligen Orte und Zeiten, die seine Aktionen determinieren, auf die Verknüpfung öffentlicher Tableaus, die Streuung und Pluralität ihrer Heterotopien und Debatten, auf die Schaffung alternativer Frei-Räume inmitten politischer Sanktionierungen. Dann versteht sich Kunst als Gegenspielerin und Antwortende auf die Strukturen und Bedingungen der Globalität, ihrer durchgreifenden Ökonomisierung und Mediatisierung, wie sie - um ein anderes Beispiel zu nennen - die alternativen Projekte der dänischen Künstlergruppe N 55 verkörpern, von denen ebenfalls anfangs die Rede war: Es handelt sich um eine Kooperative ohne Anspruch auf Universalität; vielmehr geht es allein darum, den Alltagsmedien und Konsumgegenständen ein anderes, nach ökologischen Gesichtspunkten der Einfachheit und Effektivität gestaltetes Design entgegenzusetzen und in eine konsequent ganzheitliche Lebensform umzusetzen.

VIII. Daraus folgt: Unter performativer Kunst wäre keine autonome Kunst zu verstehen, sondern die Konstitution eines neuen künstlerischen Ethismus. Ihre besondere Relevanz besitzt die Ästhetik des Performativen darum für eine Ethik des Ästhetischen, freilich weder im Sinne der Antike noch der Auffassung Wittgensteins oder den jüngsten, im Anschluss an Michel Foucault ge-

28 Vgl. Michel Foucault: Der Staub und die Wolke, Bremen: Impuls o.J., S. 65, sowie 62f.

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troffenen Überlegungen zu einer Ethik der Lebenskunst. 29 Es handelt sich auch nicht um die Formulierung einer ästhetischen Prinzipienlehre oder, nach der Ära des Tabubruchs durch die Dynamik der Avantgarde, um die erneute Einziehung normativer Verbotsschranken, die dem künstlerischen Ausdruck eine Grenze zögen, sondern um die Übernahme von Ver-Antwortlichkeit im Wortsinne eines Antworten~. Jeder Respons vollzieht sich immer schon auf der Ebene der Performanz, und Kunst operiert im besonderen im Modus solchen Antwortens, das den Bedingungen des Realen und seiner politischen Repräsentation, gleichsam der konstitutionellen Ungerechtigkeit der Welt ihren Zerrspiegel vorhält. Es ist ein Spiegel der praktischen Fraktur, der Brechung und Zersplitterung der Verhältnisse. Dabei bleiben die künstlerischen Antworten in der Bedeutung einer Responsibilität des Responsiven ohne Norm und Maxime, sondern in einem wesentlichen Sinne a-nomisch. D.h. die Weise ihres Antwortens verbleibt im Nichtantizipierbaren und Unberechenbaren. Weder erlauben die Winkelzüge ihrer ästhetischen Praktiken eine Vorhersage noch eine Anleitung oder Lehre, gleichwohl zwingen sie die Beteiligten, den Blick umzukehren und eine Position noch vor der Begründung moralischer Statute einzunehmen, indem sie an die unausweichliche Ethizität des Praktischen appellieren. Das bedeutet auch: Der Ethismus des Performativen kommt der normativen Ethik und deren Legitimität zuvor. Das Zuvorkommen ist eine Erfahrbarkeit. Sie macht deutlich, dass Engagement sowenig wie eine moralische Haltung, ihr elementarer Eingriff in das Geschehen einer Gewalt oder Ausgrenzung, eine Ausnahme duldet. Dazu gehört, um nur einige Beispiele zu nennen, die Gewahrung gleichgültiger Komplizenschaft im Akt des passiven Zuschauens, dazu gehört ebenfalls die Aufdeckung des Verbrauchs und der Zerstörung als Abfallprodukt einer sich neutral und aseptisch gerierenden Wissenschaft. Dazu gehört gleichermaßen die Präzision und Genauigkeit der Ausführung einer schlichten Dienstleistung als tatsächlichem Dienst am Menschen, wie gleichermaßen die Achtung auf den einzigartigen Akt des Handelns, seine situative Spur und Irreversibilität. Dazu gehört ferner die Wendung der Aufmerksamkeit in Richtung einer Steigerung des Sinns für das Unwiederbringliche und Nichtreproduzierbare: Sie bricht mit dem Konstruktivismus des Technischen, seinem blinden Vertrauen in die Machbarkeit und Verfügbarkeit des Wirklichen, indem sie durch die Erfahrung von Einzigartigkeit Tod und Endlichkeit erneut in die Sicht zwingen und zu ihren Rechten verhilft. Und dazu gehört schließlich auch die Arbeit an der Wahrnehmung, der Wiederherstellung des eigentlichen Sinns ästhetischer Erfahrung als Wideifahrung, die sich den Ansprüchen forcierter Mediatisierungsstrategien entgegenstellt.

29 Vgl. bes. Wilhelm Schmid: Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991.

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Sämtliche, eingangs genannten Aktionen lassen sich in dieser Hinsicht einordnen und lesen. Es sind performative Ereignisse, die zugleich ethische Taten der Kippung, des Aspektwechsels inszenieren, indem sie die Kontemplation der Betrachtung gegen den Terror, Verborgenes gegen das vermeintlich Offensichtliche und Vordergründige, private Symbole gegen öffentliche, Verletzung gegen Ausschluss und strukturelle Demütigung oder den unscheinbaren Akt der Einlenkung und des Vergessens gegen die nicht enden wollende Spirale der Aggression ausspielen. Ihr Metier ist der Schock, die behutsame Weisung, die Statuierung von Widersprüchen, die vor allem Lektionen solcher anderen Erfahrung im Sinne von Widerfahrnis erteilen.

Literatur Beuys, Josef im Gespräch mit Achille Benito Oliva, München: Lenbachhaus 1986, S. 72-82. Beuys, Josef: Zeichnungen. Katalog zur Ausstellung, Nationalgalerie Berlin 1979. Beuys, Josef/Kounellis, Jannis/Kiefer, Anselm/Cucchi, Enzo: Ein Gespräch, Zürich: Crantz 4 1994. Butler, Judith: Haß spricht, Berlin: Berlin 1998. Cage, John: Für die Vögel. Gespräche mit Daniel Charles, Berlin: Merve 1987. Davidson, Donald: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2 1994. Felman, Shoshana: The Literary Speech Act. Don Juan with J. L. Austin or Seduction in Two Languages, Ithaca/New York: Cornell University Press 1983. Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Stuttgart: Bayerische Akademie der Wissenschaften 1962. Fischer-Lichte, Erika: Für eine Ästhetik des Performativen, in: Jörg Huber (Hg.), Kultur-Analysen, Interventionen 16, Zürich: Edition Valderneer 2001, s. 21-43. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004. Fischer-Lichte, Erika: Vom ,Text' zur ,Performance'. Der ,performative turn' in den Kulturwissenschaften, in: Paolo Bianchi (Hg.), Kunst ohne Werk/Ästhetik ohne Absicht, Kunstforum International, Bd. 152 (2000), S. 61-63.

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Fischer-Lichte, Erika/Wulf, Christoph (Hg.): Theorien des Performativen, Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Bd. 10 (1998). Fischer-Lichte, Erika/Horn, Christian/Warstat, Matthias (Hg.): Performativität und Ereignis, Tübingen/Basel: Francke 2002. Foucault, Michel: Der Staub und die Wolke, Bremen: Impuls o.J. Herzogenrath, Wulf/Lueg, Gabriele (Hg.): Die 60er Jahre. Kölns Weg zur Kunstmetropole. Vom Happening zum Kunstmarkt, Köln: Kölnischer Kunstverein 1986. Levinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit, Freiburg/München: Alber 2 1993. Lischka, Gerhard Johann/Weibel, Peter: Handlungsformen in Kunst und Politik, Bern/Karlsruhe: Benteli 2004, S. 43-65. Lyotard, Jean-Fran