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German Pages 300 Year 2014
Till A. Heilmann, Anne von der Heiden, Anna Tuschling (Hg.) medias in res
Herausgegeben von Georg Christoph Tholen | Band 6
Editorial Medien sind nicht nur Mittel der Kommunikation und Information, sondern auch und vor allem Vermittlungen kultureller Selbst- und Fremdbilder. Sie prägen und verändern Konfigurationen des Wahrnehmens und Wissens, des Vorstellens und Darstellens. Im Spannungsfeld von Kulturgeschichte und Mediengeschichte artikuliert sich Medialität als offener Zwischenraum, in dem sich die Formen des Begehrens, Überlieferns und Gestaltens verschieben und Spuren in den jeweiligen Konstellationen von Macht und Medien, Sprache und Sprechen, Diskursen und Dispositiven hinterlassen. Das Konzept der Reihe ist es, diese Spuren lesbar zu machen. Sie versammelt Fallanalysen und theoretische Studien – von den klassischen Bild-, Ton- und Textmedien bis zu den Formen und Formaten der zeitgenössischen Hybridkultur. Die Reihe wird herausgegeben von Georg Christoph Tholen.
Till A. Heilmann, Anne von der Heiden, Anna Tuschling (Hg.) medias in res. Medienkulturwissenschaftliche Positionen
Gedruckt mit Unterstützung der Kunstuniversität Linz und gefördert aus Mitteln der Stiftung Mercator der Mercator Forschergruppen an der Ruhr-Universität Bochum sowie aus Mitteln des Instituts für Medienwissenschaft der Universität Basel.
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© 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Alexander Partl, »Bild der Stadt«, 2009, 2-Kanal-Videoinstallation, Objekte, Foto © Anne von der Heiden Lektorat: Till A. Heilmann, Anne von der Heiden, Anna Tuschling Satz: Till A. Heilmann Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1181-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
INHALT
Medias in res. Zur Einführung ANNA TUSCHLING, TILL A. HEILMANN, ANNE VON DER HEIDEN 9
I MEDIALITÄT Res medii. Von der Sache des Medialen DIETER MERSCH 19 Die Sache des Inmitten HANS-JOACHIM LENGER 39 Der Bote als Topos oder: Übertragung als eine medientheoretische Grundkonstellation SYBILLE KRÄMER 53 Von der Auflösung der Medien in der Universalität der Medialität RAINER LESCHKE 69 Kinematographie und Medialitätsphilosophie in Orson Welles’ Film „Im Zeichen des Bösen“ LORENZ ENGELL 83
II ÄSTHETIK „Io sono sempre vista“. Das Unheimliche dies- und jenseits des Bildes JOHANNES BINOTTO 97
„Fülle des Wohllauts“. Zur Medialität des männlichen Gesangskörpers im Musikfilm der 1930er Jahre URSULA VON KEITZ 113 Der (leere) Raum zwischen Hören und Sehen: Zu einem Theater ohne Schauspieler HELGA FINTER 127 „All activity must occur within a given space“. Dara Birnbaums taktische Züge im Feld der Visuellen Kultur SIGRID ADORF 139 Vorbilder des Kinos. Die Familienzeitschriften des 19. Jahrhunderts als Dispositive der Sichtbarkeit KARL PRÜMM 163 Panoptikum im 21. Jahrhundert. Von Bentham zu Google Earth MANFRED SCHNEIDER 185
III TECHNIK Die Fabel von der Medien-Technik: Unter meiner Aufsicht AVITAL RONELL 207 „Erzklang“ oder „missing fundamental“. Kulturgeschichte als Signalanalyse BERNHARD SIEGERT 231 Halbes Leben LAURENCE A. RICKELS 247 Lichtenbergs Messer. Eine medienwissenschaftliche Lektüre A NNA TUSCHLING 267
Das Phantasma der Signale MARIE-LUISE ANGERER 279 Autorinnen und Autoren 291
Medias in res. Zur Einführung ANNA TUSCHLING, TILL A. HEILMANN, ANNE VON DER HEIDEN
Medias in res steht seit der Antike für die Kunst, gleich zur Sache zu kommen und ohne Umschweife „mitten in die Dinge hinein“ zu gehen. In einer Zeit, in der sich die Medienwissenschaft verstärkt materiellen Dingen zuwendet,1 mag man unter diesem Titel vielleicht Reflexionen über mediale Objekte erwarten, über deren Eigenmacht und die technischen sowie sozialen Vernetzungszusammenhänge. Die in diesem Band versammelten Beiträge perspektivieren ihre jeweiligen res jedoch auf sehr unterschiedliche Weise. Sie veranschaulichen die Vielfalt aktueller medienkulturwissenschaftlicher Positionen, von der dekonstruktiven Lektüre technologischer Vernunft über historische Diskursanalysen und Epistemologien bis hin zur Kulturtechnikforschung und zu allgemeinen Theorien der Medialität. Dabei vermessen die Autorinnen und Autoren den Assoziationsraum des Ausdrucks medias in res ebenso breit wie tief und stellen neue Bezüge zu einer Vielzahl medienwissenschaftlich relevanter Denkrichtungen und -traditionen wie etwa der Dekonstruktion, der Systemtheorie, der Wissensarchäologie, der Psychoanalyse oder der Technikphilosophie her, die durchaus unterschiedliche Auffassungen von Medialität, Materialität und Dinghaftigkeit vertreten. Die Pluralität medienwissenschaftlicher Positionen und Traditionen spiegelt sich in der semantischen Fülle des Wortes res wieder, weist dieses doch – darin dem Medienbegriff nicht unähnlich – einen beachtlichen Bedeutungsreichtum auf.2 Neben der Sache, dem Ding oder dem Gegenstand im Allgemeinen kann sich res ebenso
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Siehe dazu beispielhaft die Beiträge in der Zeitschrift für Medien- und Kul– turforschung 1 (2011), Offene Objekte.
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Siehe Karl Ernst Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch [1918], 8. Aufl., Bd. 2, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998 (Reprint der Ausgabe Hannover: Hahnsche Buchhandlung, 1913/ 1918), Sp. 2338–2340.
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Anna Tuschling, Till A. Heilmann, Anne von der Heiden auf besondere Angelegenheiten, Begebenheiten und Ereignisse beziehen. Im Singular kann das Wort für einen einzelnen Gegenstand stehen, im Plural aber auch für die Gesamtheit aller Sachen – für die Welt. Als öffentliche Sache, als res publica, bezeichnet das Wort bekanntlich das Gemeinwesen oder den Staat. In Verbindungen wie hac re ist nicht bloß die Sache an sich, sondern darüber hinaus die Ursache, der Grund der Dinge angesprochen. Auch das, was man von oder an einer Sache hat, kann res heißen: das Interesse, der Vorteil oder der Nutzen. Des Weiteren meint res den Besitz von Sachen oder Dingen, das Vermögen oder Hab und Gut; sodann die Verfügungsgewalt darüber, d. h. Macht und Herrschaft. Der Ausdruck verweist auch auf die Faktizität der Sachen: Res kann so für die Tat, die Tatsache oder deren Tatsächlichkeit stehen, für die Wirklichkeit oder Wahrheit. In ökonomischen oder juristische Kontexten meint res entsprechend Geschäfts- oder Rechtssachen. Wie man einer Überfülle an Dingen rhetorisch begegnen kann, darauf gibt nun das Verfahren, medias in res zu gehen, eine mögliche Antwort. Dessen medienwissenschaftliche Relevanz gründet dabei in der Tatsache, dass es wie kaum ein anderes Mittel der Rhetorik die Hinfälligkeit jeder Separierung von Technik und Ästhetik verdeutlicht. In Horaz’ Brief an die Pisonen, der unter dem Titel De arte poetica bekannt geworden ist und in dem der früheste Beleg für die Formel zu finden ist, scheint sich medias in res vor allem als Empfehlung zu verstehen, den Gegenstand des Interesses ohne Umschweife anzugehen, ihn sozusagen direkt und ohne Vermittlung durch etwas anderes wiederzugeben. Gleichwohl wäre es verkürzt, Horaz’ Ausführungen als Plädoyer für eine im naiven Sinne „unmittelbare“ Darstellung zu lesen. Denn sein Konzept des medias in res macht noch einen anderen Aspekt sichtbar, der von medienwissenschaftlichem Interesse ist: die Tatsache der Konstruiertheit jeder gelungenen Erzählung. Horaz führt seine diesbezüglichen Überlegungen zur Dichtkunst und zum richtigen Aufbau des Materials am Beispiel Homers aus: „Wieviel richtiger er, Homer, der nichts ungeschickt anfasst: ‚Nenne mir, Muse, den Mann, der nach der Erobrung von Troja zahlreicher Menschen Bräuche gesehn hat und ihre Städte‘. Nicht Qualm nach dem Glanz, sondern Licht nach dem Qualm will er geben, um dann leuchtende Wunderdinge zu zeigen, Antipathes und Szylla und nebst dem Zyklopen Charybdis. Die Heimkehr des Diomedes lässt er nicht mit dem Tod Meleagers, nicht mit dem Zwillingsei den Krieg um Troja beginnen; immer eilt er zum Ziel und mitten hinein ins Geschehen, als sei es bekannt, entführt er den Hörer [et in medias res non secus ac notas auditorem rapit], lässt aus, woran er zweifelt, es könne, bearbeitet, glänzen,
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Medias in res und so versteht er zu lügen, so Falsches mit Wahrem zu mischen, dass nicht dem Anfang die Mitte, der Mitte der Schluß widerstreitet.“3
Der Dichter, so Horaz, gehe gleich „in medias res“, wenn er vom Trojanischen Krieg und von Odysseus’ Abenteuern berichte. Er entwickle seine Epen nicht „ab ovo“, also nicht vom chronologischen Anfang her und in der Gesamtheit der Ereignisse (konkret: nicht beginnend mit dem Ei, dem Helena entsprungen war, und mit dem somit der Grund des Trojanischen Krieges gelegt wurde), sondern komme unmittelbar zur Sache. Die von Homer idealtypisch ausgeführte Erzähltechnik vermeidet es zunächst einmal, zu viel Stoff in verteilten Handlungssträngen zu präsentieren, wie dies etwa den kyklischen Epikern oftmals vorgeworfen wurde.4 Nebst ihren ökonomischen und dramaturgischen Vorzügen macht die rhetorische Technik medias in res zudem aber offenbar, dass die Auswahl der erzählten Dinge notwendig um den Preis bewusster Auslassungen geschieht. Die Einheit der Erzählung, das gibt Horaz’ Epistel zu verstehen, setzt einen konstitutiven Eingriff in die Fülle des zur Verfügung stehenden Materials voraus – einen Eingriff, der vornehmlich dem Anspruch an eine schlüssige Erzählfolge geschuldet ist und der seine Motive nicht immer offen legen will oder kann. Nötigenfalls wird gar gelogen, damit Anfang, Mitte und Ende zu einem passenden Ganzen zusammenfinden können. Selbstredend muss noch beim gegenteiligen Verfahren des ab ovo stets eine Auswahl getroffen werden und müssen neben dem Gesagten auch Dinge ungesagt bleiben. Medias in res zu gehen macht in der bewussten Anordnung der erzählten Dinge zu einem schlüssigen und überschaubaren Zusammenhang aus Anfang, Fortsetzung und Ende nur offenkundiger, dass jegliche Darstellung, und sei sie noch so gründlich und ausführlich, zwangsläufig von Auslassungen und Entstellungen gekennzeichnet ist. Ab ovo und medias in res mögen als diametrale rhetorische Strategien gelten – nichtsdestotrotz teilen sie die Notwendigkeit des gestaltenden Eingriffs in das Erzählmaterial. Eine unbefangene Horaz-Lektüre, wie sie hier freilich bloß umrissen werden kann, gibt somit aufschlussreiche Hinweise auf die eigentümliche Perspektive der Medienwissenschaft. In der Kunst des medias in res deutet sich bereits früh ein Verständnis von Medialität an, das nicht von einer den Dingen nur äußerlichen und diese daher gleichsam unangetastet lassenden Vermittlungsfunktion von Medien ausgeht, sondern die Eigenwilligkeit und Eigen3
Horaz: Ars poetica. Die Dichtkunst, Stuttgart: Reclam 2008, S. 13, Verse 140–152.
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Vgl. ebd., S. 42.
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Anna Tuschling, Till A. Heilmann, Anne von der Heiden macht medialer Verfahren berücksichtigt und deren Konstitutionsleistung für das Vermittelte anerkennt. Medias in res öffnet damit eine Sicht, in welcher Medien nicht länger hinter den von ihnen gespeicherten, übertragenen und verarbeiteten ‚Inhalten‘ verschwinden und überhaupt erst als eigenständige Sache in den Blick kommen, um dann selbst zum Gegenstand von Erzählungen zu werden. Die folgende Zusammenstellung von Erzählungen über Medien teilt mit der rhetorischen Kunst des medias in res wenigstens eines der erläuterten Merkmale: Sie basiert auf einer Auswahl medienkulturwissenschaftlicher Positionen, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit der Darstellung erhebt und mit Absicht manches weglässt, um ein möglichst prägnantes Bild der aktuellen Medienforschung zu zeichnen. Dabei zielt die Zusammenstellung jedoch keineswegs auf eine inhaltliche Geschlossenheit des Dargestellten ab. Sie will im Gegenteil gerade die produktive Diversität des kulturwissenschaftlichen Forschungsprogramms aufzeigen und an ausgesuchten Positionen beispielhaft illustrieren. Was die Beiträge des Bandes in ihrer begrifflichen und methodischen Vielfalt und der thematischen Breite eint, ist vielmehr eine gemeinsame Einstellung zum Gegenstand, die man auch die Grundhaltung medienkulturwissenschaftlichen Fragens nennen könnte: Es ist die erwähnte, im rhetorischen Verfahren des medias in res bereits sich andeutende Auffassung, dass keine Vermittlung kultureller Formen ohne ein Verständnis des gestaltenden Moments der entsprechenden Medien – von der gesprochenen Sprache bis zum elektronischen Digitalrechner –zu begreifen ist. Ein solcher Medienbegriff liegt spätestens seit Marshall McLuhans Arbeiten einer eigenständigen Wissenschaftsdisziplin zugrunde, die in der Medialität der Medien den Rahmen unserer Welterschließung und die nicht einholbare Voraussetzung jeglicher Wahrnehmung und Erfahrung sieht. Er macht auch deutlich, dass Fragen der Ästhetik (in der Bedeutung des griechischen Wortes aisthesis, d. h. sinnlicher Wahrnehmung) medienkulturwissenschaftlich gesehen niemals losgelöst von solchen der Technik angegangen werden können. Es sind die nur historisch zu bestimmenden Techniken – wiederum: von der Sprache bis zum Computer –, die etwas so oder so zur Erscheinung bringen: Erst die Technizität der Medien gibt Texte, Bilder und Töne zu sehen und zu hören. Wenn die Beiträge des vorliegenden Bandes gleichwohl in drei Abschnitte mit den Überschriften Medialität, Ästhetik und Technik eingeteilt sind, dann ist diese Gliederung als eine vorwiegend gestalterische anzusehen, die sich mehr den guten Gepflogenheiten des Büchermachens verdankt und weniger eine substantielle Separierung der Texte oder gar eine Topologie der Medienwissenschaft behauptet. Medialität, Ästhetik und Technik sind keine klar und deutlich voneinander zu unterscheidenden disziplinären Domänen, son-
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Medias in res dern bilden einen unauflöslichen Zusammenhang medienkulturwissenschaftlichen Arbeitens – ein Zusammenhang, der freilich von verschiedenen Seiten her angegangen und entwickelt werden kann. Der folgenden Einteilung geht es daher um inhaltliche Akzentuierungen, nicht um Abgrenzungen. Den Abschnitt Medialität eröffnet ein Beitrag von DIETER MERSCH, der die Schwierigkeit erörtert, der Medialität der Medien überhaupt beizukommen. Die paradoxale Verfasstheit von Medien, d. h. die Tatsache, dass Medien nur im eigenen Verschwinden etwas zur Erscheinung bringen könnten, entziehe Medialität jeder ‚direkten‘ Beobachtung und Untersuchung. Diese „konstitutionelle Negativität“ verlange nach einer ‚negativen Medientheorie‘ und nach künstlerischen ‚Gegenprogrammen‘, um das beständig sich entziehende Mediale aus den Performanzen und Materialitäten von Medien im Gebrauch herauszufordern. – HANS-JOACHIM LENGER geht dem Traum von der einen Welt nach, den er in der europäischen Denktradition ausmacht. Gegenwärtig äußere sich dieser Traum im militärischen und ökonomischen Bestreben, die „globalisierte“ Welt medial-technisch als ganze und in einem vorstellig und verfügbar zu machen. Jeder Versuch der Beherrschung des „Inmitten“ der Dinge, der Adressierung und Überwindung ihres „Zwischen“ müsse jedoch zwangsläufig scheitern, weil keine Medialität je ihres Mediums mächtig werde und noch jedem medial gestifteten „Zusammen“ notwendig die Selbstunterbrechung des Technischen eingeschrieben sei. – SYBILLE KRÄMER unternimmt eine Grundlegung des Medialitätsdenkens im Modell der Übertragung und versucht damit zugleich eine theoretische Rehabilitierung dieses oftmals marginalisierten Konzepts. Anhand der Botenfigur und am Beispiel des Zeugen arbeitet sie typische Merkmale medialer Verfahren und Funktionen heraus und entwickelt so ihre medientheoretische Grundidee der Fremdbestimmung bzw. der „konstitutiven Heteronomie“ von Medien. – RAINER LESCHKE zeichnet die Karriere des modernen Medienbegriffs nach und beschreibt sein Obsoletwerden angesichts der gegenwärtigen technologischen Situation. Mit der computergestützten Simulation historischer Einzelmedien würden diese als eigene Größen in der Universalität der Medialität verschwinden, wodurch die Medienwissenschaft ihren Begriff und Gegenstand zu verlieren drohe. Mit der Integration und Transformation vormals getrennter medialer Dispositive sei nun eine Analyse des Mediensystems erforderlich. – LORENZ ENGELL beschließt den ersten Abschnitt mit dem Vorschlag, Medialitätsforschung nicht nur als ein Nachdenken über Medien – d. h. über die Werkzeuge des Denkens –, sondern umgekehrt als das ‚Denken der Werkzeuge‘ zu begreifen und zu betreiben. Aufgabe der Medialitätsphilosophie sei es also, die „Denkarbeit“ der Medien in ihren je eigenen Operationsweisen aufzudecken
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Anna Tuschling, Till A. Heilmann, Anne von der Heiden und zu rekonstruieren. Beispielhaft führt Engell diesen Ansatz für das Medium der Kinematographie aus: So mache der Anfang von Orson Welles’ Film „Im Zeichen des Bösen“ im ununterbrochenen Bewegungszusammenhang der Plansequenz den spezifischen Blick der Filmkamera im Bild selbst sichtbar. Der Abschnitt Ästhetik beginnt mit einem Beitrag von JOHANNES BINOTTO. Ausgehend von Jacques Lacans Modell des Spiegelstadiums analysiert er das Phänomen des Unheimlichen am Beispiel des italienischen Filmemachers Dario Argento als Problem allzu vollständiger Sicht, das die narrative Logik der Identität durch eine Topo-Logik eintausche, welche die Mattscheibe des Mediums gleichsam durchlässig und Subjekt und Objekt, Sehen und Gesehenwerden in beunruhigender Weise ununterscheidbar mache. – URSULA VON KEITZ stellt als ein Spezifikum des deutschen und österreichischen Musikfilms der 1930er Jahre die Figur des männlichen Sängers heraus, die anders als im amerikanischen Musikfilm nicht nur einen Raum reiner Vorführkunst besetze, sondern durch die Etablierung einer unabhängigen Tonperspektive auch eine narrative Funktion übernehme, die bisweilen skurrile oder tragikomische Effekte zeitige, da der Sänger als Subjekt zum fake werde und damit in die traditionell weiblich besetzte Position eines Blickobjekts trete. – HELGA FINTER beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit einer zeitgenössischen Form des Theaters, die durch das Spiel mit der Absenz von realen Schauspielern und der Präsenz aufgezeichneter Stimmen einen Raum zwischen Hören und Sehen öffne, in dem der Zuschauer im Sinne einer Analyse des eigenen Begehrens direkt damit konfrontiert werde, dass seine Wahrnehmungen nicht nur die affektive, sondern auch die visuelle Rezeption des Geschehens mitbestimmen. – In ihrem Beitrag zu Dara Birnbaums frühen Videoarbeiten verortet SIGRID ADORF diese im Spannungsfeld zwischen Medienund Kulturanalyse, indem sie Birnbaums Verfahren als dasjenige einer „Videologistin“ herausstellt, die weniger die Erforschung des Beobachteten, als vielmehr die Veränderungen des Beobachteten und der Beobachtenden im ästhetischen Prozess thematisiere. – KARL PRÜMM analysiert die Familienzeitschriften des 19. Jahrhunderts als eine der ersten machtvollen Agenturen des öffentlichen Bildes, deren Abbildungspraxen und Bildpolitiken tief auf das kollektive Bildgedächtnis einwirkten und Motivlinien und Genremuster generierten, die im populären Kino bis in die 1950er Jahre hinein wirksam blieben. – MANFRED SCHNEIDER schlägt in seinem Beitrag, der den zweiten Abschnitt beschließt, eine Brücke zwischen Jeremy Benthams Modell des sozialen Panoptikums und zeitgenössischen Technologien wie Google Earth, die nicht mehr der Disziplinierung dienen, sondern vielmehr der Involvierung der Gesellschaft in ein
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Medias in res reglementiertes Spiel, in dem die Ambivalenz der modernen „Paranoia der Supervision“ exemplarisch zum Ausdruck komme. AVITAL RONELL leitet den Abschnitt Technik mit einer fiktio-biografischen Fabel ein, in welcher sie heutige die ‚Techno-Moderne‘ im Zwiegespräch mit Nietzsche, Freud, Heidegger und Derrida auf Herz und Nieren prüft. Dabei lässt sie die Anfänge der Medientheorie als dem jüngsten Off-Spring – oder eher: Spin-Off – der großen Denkprojekte, die sich der Kritik der Moderne verschrieben hatten, Revue passieren. Geleitet von ihrer Einsicht, dass die Technik „niemals nicht eingeschaltet“ ist, dringt Ronell mit detektivischem Spürsinn in die Geistergeschichte der Mediengeschichte ein und demonstriert die politische Notwendigkeit, gegenüber der technologischen Vernunft stets wachsam zu sein. – BERNHARD SIEGERTs Beitrag zeigt, was es heißt, Medienkulturgeschichte als technisch informierte Signalanalyse zu schreiben. Beispielhaft führt Siegert die Verschränkung von Kultursemiotik und Nachrichtentheorie in einer Analyse des Glockenklangs vor. Dieser signalisiere den Ausnahmezustand im Symbolischen, weil er als physikalisches Signal „im akustisch Realen“ der Ausnahmezustand sei: So ist der Schlagton einer großen Glocke ein hörbares akustisches Ereignis, das in einem ‚missing fundamental‘ des physikalischen Frequenzspektrums grün– det. – LAURENCE A. RICKELS liefert eine psychoanalytisch fundierte Lektüre ausgewählter Romane und Erzählungen von Philip K. Dick. Auf dem Schauplatz der Dick’schen Psy-Fi geht Rickels den Verflechtungen von Traum, Paranoia, Maschinistik und Spezismus nach, wie sie sich an der Figur des Androiden offenbaren. Während der Hund als ausgezeichnete ‚Gefährten-Spezies‘ wie Psychotiker und Autisten in Kliniken Test, Tortur und Dressur ertragen müsse, rufen Dicks nicht-maschinische Androiden jenseits der letzten Unterschiede zwischen Maschine, Tier und Mensch ein Moment auf, mit dessen Überleben oder Vorübergehen sich die einzigartige Evolution des Menschen übertrage: die Adoleszenz. – ANNA TUSCHLING schlägt eine medienwissenschaftliche Lektüre des lichtenbergschen „Messers ohne Klinge, an welchem der Stil fehlte“ vor, das als ungewöhnliche und unzeitgemäße Definition des Computers zu begreifen sei. Würden bisherige Lesarten des Aphorismus allein auf eine moderne Sprach- und Subjektivitätskritik bei Lichtenberg abzielen, trete aus Perspektive der Medienforschung die doppelte Verneinung und die Ablehnung der Werkzeughaftigkeit hervor. Hiermit rege Lichtenberg zu einer umfassenden Betrachtung des Digitalen an, da sich die basale Funktionsweise des Computers mathematisch sowieso, aber eben auch aphoristisch bereits vor dem Bau der ersten Digitalrechner skizzieren ließe. – Den dritten Abschnitt beschließt ein Beitrag von MARIE-LUISE ANGERER, der anhand des Mediums Film aufzeigt, wie die Kultur- und Medienwissenschaften durch zu-
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Anna Tuschling, Till A. Heilmann, Anne von der Heiden nehmende Annäherung an die Neurowissenschaften einerseits und an klassische Ansätze (z. B. Bergson) andererseits „auf den Affekt gekommen“ sind und welche Folgen dies für kritische Analysen unserer technischen Verhältnisse hat. Angerer deckt damit ein Imaginäres der Medienwissenschaft selbst auf, das im neuen Glauben an eine „Wirklichkeit vor der Wirklichkeit“ oder eben dem „Phantasma der Signale“ besteht. *** Dieser Band dokumentiert die Ergebnisse der Tagung Medias in res, die 2008 unter Leitung von Georg Christoph Tholen an der Universität Basel stattfand. Unser Dank gilt Georg Christoph Tholen, dem Institut für Medienwissenschaft der Universität Basel, Christine Hug, Oliver Hagmann, Uwe von Ramin, Nicola Behrmann, AnnKathrin Strecker, Sarah Kolb und Dominic Wirz sowie Alexander Masch vom transcript Verlag.
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I Medialität
Res medii. Von der Sache des Medialen DIETER MERSCH
Die ‚Sache‘ des Mediums Der Begriff des ‚Mediums‘ gehört neben Ding, Zeichen, Symbol oder Darstellung, Imagination und Performanz zu jenem Ensemble von Grundkategorien, das das Feld gegenwärtiger Kulturtheorien absteckt. Offenbar verweisen diese Kategorien aufeinander, und doch nuancieren sie Unterschiedliches. Als conditiones sine quibus non bilden sie jenen Minimalrahmen, der ‚Kultur‘ – diesen nach Luhmann schrecklichen Begriff – allererst beschreibbar macht. So fasste Ernst Cassirer den Menschen überhaupt als „animal symbolicum“, als ein symbolschaffendes und symboldeutendes Lebewesen auf, das Kultur habe, weil es über Differenzen verfüge,1 während Umberto Eco die Gleichung aufstellte, dass, wo es Zeichen gebe, auch Kultur existiere und wo Kultur existiere, es auch Zeichen geben müsse: „In der Kultur kann jede Entität zum semiotischen Phänomen werden. Die Gesetze der Signifikation sind die Gesetze der Kultur. […] Kultur kann völlig unter einem semiotischen Gesichtspunkt untersucht werden.“2 Dass ein solcher semiotischer Universalismus in eine Reihe von Widersprüchen mündet, lässt sich leicht zeigen: Stets bleibt ein Rest, ein Unabgegoltenes, dass am Symbolischen selbst haftet und zugleich überschüssig bleibt. Denn der Prozess der Semiosis erweist sich an Materialitäten gebunden, wie die Begriffe der Relation und der Differenzialität ohne das Geschehen von Performanz nicht auskommen könne; darum ist jedes Zeichen, jede Verkörperung mehr als es bezeichnen oder diese verkörpern kann. Beide weisen über sich hinaus auf ein Anderes, Sperri1
Vgl. bes. Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen, Frankfurt a. M.: Fi-
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scher 1990, S. 49. Umberto Eco: Semiotik. Entwurf einer Theorie des Zeichens, München: Willhelm Fink 1987, S. 54; ebenfalls S. 75: „Signifikation beherrscht das ganze kulturelle Leben.“
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Dieter Mersch ges, das die Kette der Signifikation zugleich unterbricht und unverfügbar macht. In alle kulturelle Praxis ist diese Unverfügbarkeit wie Überschüssigkeit eingelassen. Imagination und Kreativität zehren davon ebenso sehr, wie die Dinge und ihre Plätze ein Widerständiges markieren, sofern sie im Kreis der Zeichen chronisch rückständig bleiben und an ‚Ex-sistenzen‘ rühren, die sich hartnäckig und unverrückbar in die Ordnung der Zeit einschreiben. In diesem Ensemble von Verweisen und Konnexionen nimmt der Medienbegriff eine Sonderstellung ein. Seine Legitimität bezieht er aus seinem gleichermaßen universellen Gebrauch. Kulturelle Praktiken bedürfen der Mediation, der ‚Vermittlung‘, wie bereits die Zeichen und Darstellungen, mehr noch die Begriffe und Bilder, die ihnen zugrunde liegen, als Mittler oder „Boten“ fungieren, 3 die zwischen Intelligiblem und Nichtintelligiblem, zwischen Sinnlichem und Sinn eine Beziehung herstellen oder ‚Übersetzungen‘ und ‚Übertragungen‘ leisten. Insofern partizipiert der Begriff des Mediums am Symbolischen und meint doch anderes, auch wenn beide nicht klar voneinander geschieden werden können. Im Folgenden sei daher gezeigt, dass aufgrund dieser Partizipation die angedeutete Paradoxalität der Verkörperung ebenfalls für das Mediale gilt – jedoch so, dass sich die Prämissen wie die Resultate verschieben. Deshalb ist weniger von einer Paradoxalität als von einer ‚Negativität‘ die Rede: Die Umstellung der Begriffe ist dem Umstand geschuldet, dass das Mediale ‚dazwischen tritt‘ und die ‚Mitte‘ zwischen der Symbolisierung und dem Symbolisierten besetzt. Weder das Symbolische noch das Symbolisierte, ermöglicht es erst deren Relation, d. h. auch deren Auseinandertreten wie ihren Zusammenhang, ihre Differenz und ihre Beziehung. Wenn also, anders formuliert, Zeichen oder Darstellungen durch ihre Relationalität definiert sind, dann bezeichnen Medien diejenigen Bedingungen, die die Vermittlung stiften, um die Relata allererst ins Verhältnis zueinander zu setzen. Offenbar ist eine solche Bestimmung des Medialen äquivok. Denn was das Medium sei, was als sein Gegenstandsbereich bezeichnet werden kann, bleibt indifferent, weil die ‚Mitte‘ nichts ist, was sich lokalisieren lässt, vielmehr verschiedene Fassetten aufweist und unterschiedliche Gesichter trägt sowie die Eigenart fortwährender Verwandlung besitzt. Mal Stoff, mal Milieu oder Dispositiv, mal Apparat oder soziale Organisationen, dokumentiert die unabgeschlossene Reihe der Vorschläge eher die Verlegenheit, die dem Begriff etwas Schillerndes verleiht, statt ihm einen präzisen Ort oder eine Funktion zuzuweisen. Sie spiegelt zudem die Sedimente, die 3
Zur Bestimmung des Mediums im Sinne des „Boten“ vgl. vor allem den Beitrag von Sybille Krämer in diesem Band und dies.: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008.
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Res medii sich in seiner langen und komplexen Historie abgelagert haben, und, das ist das Auffallende, bis heute wirksam geblieben sind.4 Durch zahlreiche Brüche und einen beständigen Platztausch gekennzeichnet, handelt es sich deshalb um einen offenen ‚Raum‘, ein Terrain, das zugleich Züge einer Leerstelle, eines passe partout besitzt. Geht man indessen von den ältesten Schichten seiner Wortbedeutung, seiner Etymologie aus, bedeutet ‚Medium‘ lat. das, was sich in medio, in der Mitte zwischen den Oppositionen oder Extremen hält,5 sodass Medienbegriffe immer da relevant werden, wo sich ein Drittes zwischen eine Unterscheidung schiebt und sie ausgleicht oder aufeinander bezieht. Von vornherein ist damit ein Problem aufgeworfen, weil das Tertium ebenso der Register binärer Strukturierung bedarf wie es sie überschreitet und daher nur paradox zu rekonstruieren ist, soweit es als Tertium an dem partizipiert, was es trennt oder auseinander hält, um sich ebenso sehr von ihm zu unterscheiden. Das Medium ist, wozwischen es vermittelt, gerade nicht, wie es gleichermaßen erst an diesem, seinem Anderen kenntlich wird. Daraus leitet sich ebenso die Schwierigkeit einer angemessenen Explikation des Medienbegriffs ab wie – vor allem in den vergangenen Jahrzehnten – seine rationalitätskritische Emphase, die ihn gleichermaßen mit dem Verdacht begrifflicher Unschärfe wie den Ansprüchen einer generellen Metaphysikkritik belegte. Der Zwiespalt lässt sich bis in seine anfängliche Geschichte zurückverfolgen. Immer benennt das Mediale ein Zwischen, ein von der Differenz Verschiedenes und deshalb nicht näher Bestimmbares, das bedingt und das gleichzeitig nur indirekt, nämlich angesichts des von ihm Bedingten oder Bewirkten zum Vorschein gelangt. Genauer: Das Medium bezeichnet dasjenige, was die Differenzen austrägt, ohne durch die Differenzen selbst markierbar zu sein, ein Diesseits und Jenseits der Differenz, das doch allein durch die Differenzen hindurch aufzuscheinen vermag. Zugleich Teil ihrer Ordnung fällt es auch aus dieser heraus, insofern es sie ebenso sehr ermöglicht wie unterläuft. Beispielsweise bedarf die Relationalität der Zeichen, sei sie zwei-, drei-, vier- oder vielstellig konzipiert, noch eines weiteren, um den Zeichenprozess anzuleiten, eines buchstäblichen ‚Anderen‘, das auf vielfache Weise hervortreten kann, etwa als Zeichenträger oder als Akt der Setzung, wie auch als die spezifischen materiellen Bedingungen oder Orte und ähnliches, worin die Relation ihre ‚An4
Vgl. dazu Stefan Hoffmann: Geschichte des Medienbegriffs (Sonderheft des Archivs für Begriffsgeschichte), Hamburg: Meiner 2002.
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Vgl. dazu Dietrich Kerlen: Einführung in die Medienkunde, Stuttgart: Reclam 2003, S. 9; ferner Kurt Röttgers/Monika Schmitz-Emans (Hg.): Mitte. Philosophische, medientheoretische und ästhetische Konzepte, Essen: Die Blaue Eule 2006.
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Dieter Mersch wesenheit‘ gewinnt. Niemals lässt sich darüber hinaus das Mediale allein aus der Materie ableiten und auf deren Eigenschaften reduzieren, sowenig wie es Form ist, sondern die Formen empfängt und vervielfältigt. Niemals ist es auch reine Möglichkeit oder Potentia – das hieße von einer Neutralität auszugehen –, sondern immer schon Transformation, Verwandlung, die dem, was es bedingt oder gestaltet, das Siegel einer Notwendigkeit aufprägt.
Chiasmus von Erscheinen und Verbergen Allerdings ist damit ein epistemologisches Problem aufgeworfen, das die Theorie des Medialen anhaltend in Unruhe versetzt. Denn als Potentia, als bloße Möglichkeit oder Bedingendes, wird nicht klar, wie überhaupt Kunde von ihm zu erhalten ist, wie mithin der Medienbegriff zum Gegenstand einer systematischen Reflexion gemacht werden kann. Notwendig unterläge diese selbst einer medialen Form, die sich in das Reflektierte noch mit einschriebe, es also gleichermaßen hervorbrächte wie verstellte. So entsteht mit der Reflexion auf ein Mediales gleichzeitig schon die Frage nach der Medialität der Reflexion, nach dem Ort, von dem aus sie geschehen kann, sowie der Struktur, der sie gehorcht. Wenn, so die vielfach geäußerte Behauptung, kein ‚Medien-Anderes‘ existiert, wenn das Mediale, wie es auch Friedrich Kittler exponiert hat, ein Apriori darstellt,6 dann muss die Reflexivität des Medialen entweder durch ein anderes Medium erfolgen oder aber als Möglichkeit diesem selbst immanent sein. Wenn jedoch, wie ebenfalls gesagt worden ist, das Mediale niemals neutral ist, wenn es in die Prozesse, die es konstituiert, zugleich eingreift und sie verzerrt, dann kann es keine indifferente Reflexion geben, weil diese immer schon von jenem Medium ‚punktiert‘ wäre, das sie ermöglicht. Wo Medien durch andere beobachtet werden, wo sie zum Objekt unterschiedlicher medialer Betrachtungen gemacht werden, verändern sie das Beobachtete und damit das, was als Medium allererst präsentiert werden soll. Dann weichen sie im selben Augenblick, in dem wir ihrer habhaft zu werden vermögen, zurück, bleiben entzogen, sowohl als dasjenige, was der beobachtenden Reflexion unterworfen ist, als auch als das Beobachtende selbst, das wiederum einer anderen Beobachtung bedarf, um als solches erscheinen zu können, sodass eine Differenz wie auch der Absturz in einen infiniten Regress bleibt. Die Transzendentalität des Medialen erfährt daran ihre unausweichliche Crux. Die Misslichkeit kann insbesondere anhand des Verhältnisses 6
Vgl. z. B. Friedrich A. Kittler: „Die Welt des Symbolischen – eine Welt der Maschine“, in: Ders., Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig: Reclam 1993, S. 58–80.
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Res medii von Bild und Sprache exemplifiziert werden. Das Bildliche verweigert sich in dem Maße seiner zureichenden Versprachlichung, wie die Sprache im Prozess der Ekphrasis undurchsichtig bleibt und ihre Opazität wie in einem Spiegel auf die Rede selber zurückwirft. Wir sind daher, wie die Bemühungen der Kunstkritik demonstrieren, mit einer Verdunklung konfrontiert. Das Bild wird von der Sprache nicht erfasst, weder in seinem Zeigen noch in seiner Medialität, bestenfalls berührt, weil das, was sich beschreiben lässt, stets im Allgemeinen operiert, während das Bildliche immer nur auf ‚Dieses‘ verweist, das allein ein Singuläres sein kann. Das ikonische ‚Als‘ ist daher vom apophantischen oder propositionalen ‚Als‘ zu trennen. Es kombiniert oder kontrastiert Linien, Formen und Farben oder Materialien, nicht Begriffe oder prädizierbare Eigenschaften. Bild und Sprache taugen darum nicht zu wechselseitiger Reflexion: Wo dieses auf jenes trifft, bleibt nur die Anstrengung einer unaufhörlichen Verfeinerung, die, was sich zeigt, im Sagen vergeblich einzukapseln sucht – etwa wenn ein besonderes Rot durch eine Reihe zusätzlicher Attribute konkretisiert werden soll, während es mal um mal nur umso eindringlicher seine Andersheit bekundet.7 Dasselbe Dilemma wiederholt sich mit Blick auf mediale Selbstreflexionen. Intrinsisch im Medialen verwickelt, verhalten sich das Bedingte und das Bedingende zueinander im gleichen Format, sodass, was sich in Ansehung medialer Differenzen als unendlicher Regress offenbart, zur paradoxen Iteration gerät. Das Transzendentale verbietet hier seine Enthüllung, weil die Bedingungen der Rekonstruktion an keine Erste-Person-Perspektive, kein Bewusstsein geknüpft sind, das sie trägt. Transzendentalphilosophie gelingt nur durch die Identität von Reflexion und Selbstbewusstsein, die sich der Geltung des Rekonstruierten durch Einsicht in seine konstitutive Funktion versichert, die hinsichtlich des Mediums fehlt. Denn die Schrift, um ein anderes Beispiel zu wählen, vermag sich selbst nicht transparent zu werden, bestenfalls durch den Schreibenden, dem sie allerdings notwendig äußerlich und damit auch heterogen bleibt. Was sie schreibt, zieht seine Spur vermöge einer Differenz, auf der sie fußt, ohne sich als Differenz eigens mit zu notieren. Darum eignet ihr, wie Derrida zu Recht betont hat, eine chronische Nachträglichkeit: Sie schreibt sich im blinden Fleck ihrer Erscheinung, denn das Auge sieht die Linie ihrer Inskription stets als etwas Anderes, von sich Getrenntes; sie ist schon da, sobald sie erscheint, wie ihr Er7
Vgl. zu diesem Zusammenhang Dieter Mersch: „Bild und Blick. Zur Medialität des Visuellen“, in: Christian Filk/Michael Lommel/Mike Sandbothe (Hg.), Media Synaesthetics, Köln: Halem 2004, S. 95–122; Ders.: „Blick und Entzug. Zur Logik ikonischer Strukturen“, in: Gottfried Boehm/Gabriele Brandstetter/Achatz von Müller (Hg.), Figur und Figuration: Studien zu Wahrnehmung und Wissen, München: Wilhelm Fink 2007, S. 55–69.
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Dieter Mersch scheinen sie zu etwas anderem macht als der Akt oder Augenblick der Zeichnung selbst.8 Die Schrift bleibt somit ihrer Szene entfremdet. Ihre Medialität einzufangen, gelingt nur zum Preis ihrer fortwährenden Remarkierung und d. h. auch ihrer Wiederholung, ihrer Verdopplung und Verschiebung. Tatsächlich erweist sich das Problem dem Vollzug von Selbstreflexion konform, freilich ohne Autor oder Subjekt, sondern als Figur, weshalb Derrida, wo er die Paradoxalität der Linie, den „Entzug des Strichs“ zu erläutern sucht, auf die unmögliche Logik des Selbstportraits zurückgreift – jener Zeichnung, die im wörtlichen Sinne die ‚Zeichnung‘ und damit Verwundung der Subjektivität vollbringt, die sich in ihr darzustellen sucht. „Der transzendentale Entzug fordert das Selbstportrait und verbietet es zugleich. Nicht das Selbstportrait des Autors und mutmaßlich Signierenden, sondern das des ‚Quellpunkts‘ der Zeichnung, also des Auges und des Fingers […]. Dieser Punkt verschwindet im Moment seiner Darstellung.“9
Im selben Maße sieht sich auch die Schrift verschwinden, wie sie versucht, sich einzufangen. Der Medialität des Mediums ist auf keine Weise beizukommen; sie löscht sich aus, wie sie andererseits als nicht zu bewältigender Rest, als Ausnahme aus der Reihe tanzt, an der Schreibung mitarbeitet oder sich ihr unbotmäßig unterschiebt, um das, was sich selber zu markieren trachtet, stets wieder von neuem zu unterlaufen oder zu verbiegen. Das Medium bezeichnet kein Ding, keinen einfachen Gegenstand, auf den sich zusteuern oder hinweisen ließe. Seine Reflexion bleibt vielmehr von seiner eigenen Medialität heimgesucht, wie sich das Mediale in ihr in einem doppelten Sinne als chronisch ‚rückständig‘ entpuppt: als konservatives, nicht auszutreibendes Moment sowie als Rückstand, als Störung, die gleichzeitig immer schon ein Überschießendes birgt. Diese Schwierigkeit, die eine Theorie des Medialen von Anfang an verstellt, macht allerdings auch die zentrale Einsatzstelle eines philosophischen Medienbegriffs aus. Denn das Merkmal des Medienbegriffs bildet seine strukturelle Undurchdringlichkeit. ‚Medien‘, was immer der Ausdruck genau besagen will, besitzen die Eigenart, im Erscheinen zu verschwinden und im Verschwinden zu erscheinen. Es ist diese eigentümliche Dialektik, die den Ansatz einer ‚negativen Medientheorie‘ motiviert.10 Das Mediale büßt in dem Maße, wie es 8 9
Vgl. dazu insb. Jacques Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstportrait und andere Ruinen, München: Wilhelm Fink 1997, S. 9 f. Ebd., S. 62.
10 Vgl. dazu Dieter Mersch: „Medialität und Undarstellbarkeit“, in: Sybille Krämer (Hg.), Performativität und Medialität, München: Wilhelm Fink 2004, S. 75–96; Ders.: „Negative Medialität“, in: Journal Phänomenologie 23 (2005), S. 14–22; Ders.: „Tertium datur. Grundlinien einer negativen Me-
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Res medii etwas zur Erscheinung verhilft, sein eigenes Erscheinen mit ein. Seine Anwesenheit hat das Format einer Abwesenheit. Lesbar einzig durch die Effekte, die es zeitigt, eignet ihm eine Doppelstruktur, eine Verwicklung zwischen Sichzeigen und Sichverbergen, die ein Spiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit eröffnet, worin sich die Mediatisierung selbst entzieht. Wir haben es dann, ähnlich wie beim Sehen, immer nur mit Aspekten und Gesichtswinkeln zu tun, zu denen eine zweifache Blindheit gehört: Erstens die, die dem Blick selbst immanent ist, soweit er eine Richtung fokussiert, die andere Richtungen ausschließt, sowie zweitens als der Ort, von dem her gesehen wird, jener blinde Fleck, den die philosophische Reflexion stets mit der konstitutionellen Unmöglichkeit einer vollständigen Selbstreflexion identifiziert hat.11 Derselben Logik – deren Figur im übrigen sich auch Martin Heidegger mit Bezug auf die Wahrheit, aletheia, als Spiel von Verbergung und Unverborgenheit oder Entdecktheit und Verdeckung bedient – gehorcht das Mediale, soweit ihm eine Perspektivik innewohnt, worin seine maßgeblichen Bestimmungen ebenso auf- wie untergehen. Statt von ‚Medien‘ wäre deshalb besser von ‚Dispositiven‘ im Sinne jener formierenden Gefüge auszugehen, die sich in dem manifestieren, was sie ‚be-dingen‘, hervorbringen, darstellen, übertragen oder vermitteln, um gleichzeitig in dem von ihnen ‚Be-dingten‘, Erzeugten, Dargestellten oder Vermittelten zugrunde zu gehen und in Anderes zu verwandeln oder ‚aufzuheben‘. ‚Medien‘ wären dann kein adäquater Untersuchungsgegenstand, vielmehr ihre Performanzen und Materialitäten, die die Transformationsprozesse begleiten und in sie eingehen, ohne sich mitzuteilen. Von ihnen wäre nur indirekt zu sprechen. Das Programm einer ‚negativen Medientheorie‘ ist daran angelehnt. Es handelt von den Strategien solcher Indirektheit, um an ihnen zu exponieren, was allein im Entzug sich enthüllt und dessen Enthüllung zugleich eine hartnäckige Negativität wahrt.
Das Diaphane, die Übersetzung und das Zeug Die angezeigte Dialektik von Erscheinen und Verschwinden – ihr Chiasmus zwischen Sichzeigen und Verbergen – bildet dabei den Kern dieser Indirektheit. An ihm entzündet sich die Möglichkeit medialer Reflexivität. Tatsächlich besitzt sie eine ebenso lange Tradi-
dientheorie“, in: Stefan Münker/Alexander Rösler (Hg.), Was ist ein Medium?, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 304–321. 11 Vgl. zu Blindheit und Sehen auch Peter Bexte: Blinde Seher. Wahrnehmung der Wahrnehmung in der Kunst des 17. Jahrhunderts, Amsterdam/Dresden: Verlag der Kunst 1999.
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Dieter Mersch tion wie der Medienbegriff selbst. Ihre Figur lässt sich bereits in der aristotelischen Aisthesislehre nachweisen, wie auch in Walter Benjamins Begriff der „Übersetzung“ und in Heideggers Überlegungen zur Differenz zwischen der „Zuhandenheit“, aber stets nur reflexiv einzuholenden „Vorhandenheit“ des „Zeugs“. Denn die aristotelische Annahme eines Metaxu, eines ‚Dazwischenliegenden‘, das die Vermittlung ‚zwischen‘ Auge und Gegenstand besorgt, folgt der Einsicht, dass das Wahrgenommene sich dem Wahrnehmenden mitteilen muss, sodass ein ‚Drittes‘ vorauszusetzen ist, welches die Vermittlung trägt. Es wird mit Bezug auf ältere Wahrnehmungslehren das Diaphane oder ‚Durchscheinende‘ genannt, das jedoch selbst ohne Bestimmung bleibt. Die Vorsilbe ‚dia‘ meint dabei etwas, wodurch ein anderes ermöglicht wird, sodass es nicht einfach nur in ‚Transparenz‘ aufgeht – dem Ausdruck entspräche die lateinische Übersetzung des Diaphanen oder Durchscheinenden –, sondern gleichermaßen ein ebenso Opakes wie Prozessuales beinhaltet. Ausdrücklich behandelt es Aristoteles als ein Stoffliches, das die Wahrnehmung ermöglicht und zwar „durchsichtig“ erscheint, „jedoch nicht an sich sichtbar schlechthin, sondern durch die ihm fremde Farbe“.12 Von Anfang an ist damit eine Zwiespältigkeit gegeben, die bereits auf die gesamte Problematik des Medienbegriffs vorweist: Ohne Medium sieht man nichts, wie andererseits das Medium selbst unsichtbar bleibt und allenfalls indirekt zu entdecken ist. Es ist diese Figur, die später in den physikalischen Lehren auf Stoffe als Medien der Lichtbrechung oder den Äther als unnachweisbares Fluidum aller Übertragungen angewendet wurde und dabei verwandte Assoziationen weckte. Etwas, von dem nicht klar ist, was es ist, sperrt sich seiner Kenntlichkeit, um vermöge einer Spur oder Verstellung, z. B. dort, wo die Übertragung versagt, hervorzutreten. Dann erweist sich das ‚Medium‘ als ein Unbestimmtes, dessen Aufweis einer Störung, Fraktur oder Verfälschung bedarf, deren Gegenfinalitäten wiederum ein reiches Repertoire an interventorischen Praktiken aufwerfen, wie sie vor allem die Künste paradigmatisch entwickelt haben. War es vor allem Johann Gottfried Herder, der das Phantom des Äthers auf die Sprache übertrug und damit den Medienbegriff so verallgemeinerte, dass er die bis heute dominante Prägung annehmen konnte, ist es wiederum Benjamins Übersetzungsbegriff gewesen, der jenseits einer ‚ätherischen Transgression‘ die eigentliche mediale Funktion der Sprache theoretisch zu fassen versuchte. In seinen frühen Arbeiten „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ (1916) sowie „Die Aufgabe des Übersetzers“
12 Aristoteles: De Anima, in: Ders., Philosophische Schriften, Bd. 6, Hamburg: Meiner 1995, 418b, S. 45.
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Res medii (1921) konturiert er auf der Grundlage der romantischen Sprachphilosophie13 eine Medientheorie, die von einer Differenz zwischen der „Sprache Gottes“ als der „reinen Sprache“ der „Namen“ und der chronischen Bedürftigkeit menschlicher Sprachen ausgeht, diese in die Sphäre des Begriffs übertragen zu müssen.14 Das Mediale erzählt dann die Geschichte einer Verfehlung. Benjamin lässt keinen Zweifel daran, dass ihm die göttliche Sprache der Namen, der er den uneingeschränkten Vorrang erteilt, um als Maßstab für alle anderen Sprachen zu fungieren, als absolutes Medium vorschwebt, während die Relativität der menschlichen Rede, die ihr nur nachzusprechen vermag, der Übersetzung bedarf.15 Alle Erkenntnis ist darum Mediation, die ihre Ankunft verweigert und, wie Benjamin weiter ausführt, den Grund „aller Traurigkeit und (vom Ding aus betrachtet) allen Verstummens“ der Natur ausmacht.16 Das Medium versteht sich daher doppelt: zum einen im aristotelischen und dem von Herder metaphorisierten Sinn einer Stofflichkeit, worin sich die Dinge und Wesen mitteilen, zum anderen als die Unvollkommenheit der Übersetzung, deren Unausweichlichkeit wiederum nur im Bruch, in der Kenntlichmachung ihres Hindernisses in Erscheinung treten kann. Deswegen bestehe schließlich die „Aufgabe des Übersetzers“ darin, sowohl die Differenz der Sprachen zueinander zu bezeugen als auch ihre „überhistorische Verwandtschaft“ deutlich zu machen, die zuletzt darin besteht, dass „in ihrer jeder als ganzer jeweils eines und zwar dasselbe gemeint ist […]: die reine Sprache“; zu ihr ist freilich nirgends ein Zutritt zu gewinnen, „diese Aufgabe: in der Übersetzung den Namen reiner Sprache zur Reife zu bringen, scheint niemals lösbar, in keiner Lösung bestimmbar“.17 Erweist sich darin jedes Ding, das seine „Mitteilung“, sein „Wesen“ verschließt und bestenfalls als „Spur“ auftaucht,18 als ‚Rätsel‘ schlechthin, zeigt es sich im alltäglichen Umgang jedoch vor allem, wie Heidegger herausgestellt hat, als „Zeug“. Denn mit der „Nen-
13 Vgl. Winfried Mennighaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S. 22–32; Gershom Scholem: Walter Benjamin. Die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975, S. 48 u. ö.; Anja Hallacker: Es spricht der Mensch. Walter Benjamins Suche nach der lingua adamica, München: Wilhelm Fink 2004, S. 49–90. 14 Vgl. Walter Benjamin: „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 140–157; Ders.: „Die Aufgabe des Übersetzers“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV.1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 9–21. 15 Vgl. W. Benjamin: „Sprache“, S. 153. 16 Ebd., S. 155. 17 Ders.: „Aufgabe“, S. 13 u. 17. 18 Ders.: Das Passagen-Werk, 2 Bde., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, Bd. 1, S. 560.
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Dieter Mersch nung von Dingen als dem ‚zunächst gegebenen Seienden“ gehe man „ontologisch fehl“; was stattdessen gemeint sei, „bleibt unbestimmt“. Heideggers Zeugbegriff setzt so dort an, wo die „Sprache der Dinge“, auf die Benjamin abhebt, in ihren Gebrauch übergeht. Nicht länger erscheinen die Dinge in ihrer „bloßen Dinglichkeit“, sondern im Umgang, dem „Um-zu“ ihrer „Dienlichkeit, Beiträglichkeit, Verwendbarkeit, Handlichkeit“, kurz, dem, was Heidegger „Zuhandenheit“ nennt.19 Dabei bestehe die Eigentümlichkeit des Zuhandenen darin, „in seiner Zuhandenheit sich gleichsam zurückzuziehen, um gerade eigentlich zuhanden zu sein“.20 Nicht das Ding, das Werkzeug oder die Zeichen interessieren, sondern was sie bewirken. Sie erweisen sich gleichsam als von Anfang an in ihr Mediatisiertes verwoben. Damit deutet Heidegger auf einen ähnlichen Chiasmus wie den, der überhaupt fürs Mediale reklamiert werden kann: Am Medium erscheint, dass es nicht erscheint, vielmehr zeigt es sich in seinen Effekten. Der Umstand bildet zugleich einen Leitfaden seiner immanenten Reflexivität – jene Möglichkeit, wie Heidegger sich ausdrückt, es zu „stellen“ und es „auf seine an ihm sich zeigenden Strukturen zu befragen“.21 Dabei rekurriert Heidegger auf die Figur einer Vexierung, die dem nahe kommt, was sich probeweise als ‚Negativität‘ exponieren lässt und genuin chiastisch verfasst ist. „Das nächstzuhandene Seiende kann im Besorgen als unverwendbar, als nicht zugerichtet für seine bestimmte Verwendung angetroffen werden. Werkzeug stellt sich als beschädigt heraus, das Material als ungeeignet. […] In solchem Entdecken der Unverwendbarkeit fällt das Zeug auf. Das Auffallen gibt das zuhandene Zeug in einer gewissen Unzuhandenheit. Darin liegt aber: das Unbrauchbare […] zeigt sich als Zeugding, das so und so aussieht und in seiner Zuhandenheit als so aussehendes ständig auch vorhanden war. Die pure Vorhandenheit meldet sich am Zeug […].“22
Seine Auffälligkeit ist damit eine Funktion eines Perspektivwechsels. Der Umschlagspunkt verweist auf ein Entweder-oder, eine Unauffälligkeit, die sich selbst verschlossen bleibt und übergangslos in Transparenz überzugehen scheint. Im Zuhandenen liegt eine Opazität, die durch das Auftauchen einer Negation, die Heidegger durch die mehrfache Verwendung des Präfixes „Un-“ wie „unverwendbar“, „unbrauchbar“, „unauffällig“ oder „unzuhanden“ anzeigt, in eine Reflexion übergeht. Alle Ausdrücke meinen in ihrer Negativität „einen
19 Martin Heidegger: Sein und Zeit, 12. Aufl., Tübingen: Niemeyer 1972, § 15, S. 68 et passim. 20 Ebd., S. 69. 21 Ebd., S. 72. 22 Ebd., S. 73.
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Res medii positiven phänomenalen Charakter“,23 wie Heidegger hinzufügt, der ihr Unproblematisches unterstreicht, gleichzeitig aber als solches nicht gegenwärtig ist und seine Präsenz durch ihre abermalige Negation gewinnt. Wir haben es folglich mit der Negation einer Negation zu tun, die die Voraussetzung für Reflexivität bietet. Sie wird ermöglicht, wie Heidegger deutlich zu machen versucht, durch eine „Störung“ oder „Aufsässigkeit“24 – wobei Heidegger hier explizit jenen Ausdruck antizipiert, der später für technische Medien relevant werden sollte. Störung und Widerständigkeit bilden die Scharniere einer buchstäblichen ‚Rückspiegelung‘ (re-flectio), die das Verborgene entbirgt und dabei offenbar macht, was seine Gegenwart verweigert. Anders ausgedrückt: Damit sich Welt „meldet“, ist ein Riss, eine Differenz vonnöten – und solche Differenzen erscheinen dort zwingend, wie sich mit Heidegger über Heidegger hinaus sagen lässt, wo das Mediale in seiner Medialität erschlossen werden soll.
Das weiße Rauschen der Technik Erweist sich die Negation der Negation als Grundlage einer Reflexion des zunächst sich nicht Zeigenden, offenbart sich durch sie ein ‚In-der-Mitte-Seiendes‘ als Grenzbegriff, das gleichzeitig die Funktion eines Eröffnend-Verschließenden einnimmt, welches im gleichen Augenblick ‚be-dingt‘ wie limitiert. Dieser Medienbegriff, wie er spätestens seit Georg Friedrich Wilhelm Hegel über die klassischen Aisthesislehren auf die Logik der Darstellung übergegangen ist,25 hat das Mediale ebenso sehr als ästhetisches Phänomen lesbar gemacht, wie sich dessen Aufdeckung gleichermaßen einer ‚Arbeit im Ästhetischen‘ verdankt, die sich in Praktiken wie der Störung, der Unterbrechung, der Umkehrung oder der paradoxen Intervention realisiert.26 Allerdings haben das 19. und vor allem 20. Jahrhundert die begrifflichen Parameter verschoben und die Ästhetik durch Technik ersetzt. Die Möglichkeit dazu bietet bereits die Ambiguität des Ausdrucks Techné, der beide Seiten umfasst. Doch entspricht dem Übergang die Depravation von Mimesis zur Illusio bzw. Simulatio sowie des Spiels zum Automaton.27 Statt verschiedener Formen 23 Ebd., S. 75. 24 Ebd., S. 74. 25 Vgl. dazu bes. Dieter Mersch: Medientheorien zur Einführung, Hamburg: Junius 2006, S. 39–45. 26 Vgl. dazu auch ders.: „Paradoxien, Brüche, Chiasmen“, in: Ders./Michaela Ott (Hg.), Kunst und Wissenschaft, München: Wilhelm Fink 2007, S. 91– 101; Ders.: „Kunst als epistemische Praxis“, in: Elke Bippus (Hg.), Kunst des Forschens, Berlin: diaphanes 2009, S. 27–48. 27 Zum Begriff des Automaton vgl. Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der
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Dieter Mersch der Darstellung, wie sie besonders die Goethezeit mit Verkörperung und dem Prozess des Ausstellens und Vorstellens in Verbindung brachte,28 kommen nunmehr allein die technischen Grundoperationen des Übertragens, Speicherns und Kalkulierens in den Blick,29 die das Mediale auf die Dispositive des Mathematischen und seiner instrumentellen Funktionen engführen. Das betrifft vor allem die Einführung von Kommunikations- und Computertechnologien, deren Grundlagen die mathematischen Modelle der Informationstheorie und Kybernetik sowie die Theorie formaler Systeme und des Algorithmus als allgemeines mathematisches Verfahren bilden. Ihr herrschendes Prinzip ist die Syntax des Transports, die den semantischen Aspekt der Sprachen tilgen muss, um im Sinne impliziter Ökonomisierungsstrategien deren Optimierungsfrage zu lösen. Diese Aufgabe erfordert eine Reduktion der Übertragung auf die formale Struktur der Kommunikation, zu deren Beschreibung allein die dreigliedrige Reihe aus Sender, Empfänger und dem Übertragungskanal als Mittelfigur auszureichen scheint, die allerdings auch für andere, vor allem automatische Übertragungssysteme wie z. B. „kommunizierende Röhren“ gilt.30 Klar ist, dass diese Begriffe keine reale Anordnung widerspiegeln, sondern lediglich abstrakte Stellenzeichen einer Relation bilden, die für unterschiedliche Funktionen stehen – doch zeichnet sie eine naive Systematik aus, die freilich für die Rekonstruktion des Medienbegriffs in den letzten fünf Jahrzehnten schulbildend gewirkt hat.31 Allerdings sieht sich diese Restringierung auf den Apparat gleichwohl genötigt, in Bezug auf das informationstheoretische Grundproblem einer Optimierung des Kommunikationskanals eine Figur ins Spiel zu bringen, die offensichtlich dem aufgewiesenen Paradox des Medialen analog ist: das „weiße Rauschen“. Die Metapher kombiniert den optischen und akustischen Aspekt des Problems und konnotiert dabei das Unspezifische oder Kontur- und Differenzlose. Sie ruft auf diese Weise trotz aller Reduktionismen die Mediali-
Psychoanalyse. Das Seminar XI, 4. Aufl., Weinheim/Berlin: Quadriga 1996, S. 59–62; zur Anwendung des Begriffspaares Tyche und Automaton auf die Logik des Spiels vgl. Dieter Mersch: „Spiele des Zufalls und der Emergenz“, in: Maske und Kothurn 54/4 (2008), S. 19–34. 28 Vgl. Einleitung zu Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.): Was heißt ‚Darstellen‘?, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994, S. 7–14. 29 Vgl. dazu vor allem Friedrich A. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin: Brinkmann und Bose 1986, S. 170. 30 Vgl. dazu Claude Shannon: „Mathematische Theorie der Kommunikation“, in: Ders., Ein – Aus, Berlin: Brinkmann und Bose 2000, S. 7–100; sowie dazu kritisch U. Eco: Semiotik, S. 57–75. 31 Vgl. etwa F. A. Kittler: Grammophon, S. 29; Ders.: Draculas Vermächtnis, S. 61–62, 77 u. 182.
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Res medii tät des Mediums in Erinnerung, freilich auf eine selbst noch reduktive Weise. Offensichtlich kann das Mediale nicht selbst Teil jener Ordnung sein, die es generiert, weshalb es sich als Grenze in seine Prozesse beständig wieder einschreibt. Bemerkbar besonders dort, wo die Mediation scheitert, haben sich Kybernetik und Informationstheorie auf den gleichen Effekt berufen, wenn sie das Opake oder Undurchsichtige technizistisch als den „nicht aufgehenden Rest“ oder als Überschussmoment des „Kanals“ ausbuchstabierten, worin sich die Materialität der Übertragung selbst vernehmbar macht. Das Rauschen, das Störgeräusch, das sich noch mathematisch berechnen lässt und die Übertragung ermöglicht wie beeinflusst, untergräbt und transformiert diese auch – und es gehört wiederum zum impliziten Telos technischer Dispositive, dieser Transformation durch die Verbesserung der Übertragung in Form von Rauschunterdrückung und störungsfreiem Verlauf Herr zu werden. Im technischen Medium stört die Störung, sodass ihre Richtung keineswegs eine Reflexion induziert, sondern tendenziell ‚monströs‘ wird. Das erfüllte Medium wäre die reine Transparenz, die es nur gibt, wo sämtliche materiellen Verstellungen ausgeräumt sind und die Mediation ganz in Mathematik verschwindet – jene technische Utopie, die mit Blick auf den Benjaminschen Übersetzungsbegriff das Technische der Sprache Gottes anzuähneln versucht, wie sie gleichermaßen auf das Ideal einer Immaterialität zielt und mit dem Hegelschen Absoluten korrespondiert. Dennoch gestattet dieser Umstand, und zwar gerade wegen der unmöglichen Löschung des störenden Geräusches, die Umkehrung des Gedankens und eine Rückwendung auf die ‚Sache des Mediums‘ selbst, sofern sich daran die Materialität und auch Medialität des Kanals selbst zu erkennen gibt, und zwar durch die Wiedereinschreibung seiner Bedingungen in die Übertragung, die diese zugleich unterbricht. Die Spur der Unterbrechung, ihre Differenz, impliziert dann die Möglichkeit einer Reflexivität, vermöge derer wir überhaupt von Medien sprechen können, und zwar deswegen, weil die mediale Funktion – die Übertragung – auf ihre eigenen Konditionen referiert. Das bedeutet: Das Rauschen, das den Ton begleitet, ‚beugt‘ seine Wahrnehmung, lenkt sie um und richtet sich auf das, was zunächst unwahrnehmbar bleibt, aber die Wahrnehmung ermöglicht. Gleichwohl – und das ist an dieser Stelle entscheidend – eignet dieser Selbstreferenzialität eine charakteristische Verengung, die dem zugrunde gelegten Paradigma des Technischen selbst geschuldet ist, weil die Referenzialität der Referenz hier allein indizierend wirkt. Sie macht nicht das Material – oder Medium – als Material und Medium sichtbar oder hörbar, sondern einzig deren Existenz als Index. Das Rauschen ist die ‚Spur‘ des Kanals, wobei sich die Funktion der Spur zeichentheoretisch auf die bloße Indexikali-
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Dieter Mersch tät, die nur anzeigt oder hinweist, ohne selbst zu offenbaren, beschränkt. Wir gewahren das Moment der Tatsache des Medialen, seine pure Faktizität, nicht seine Bedeutung oder seine Struktur und Eigenart, sowenig wie seine Prozessualität und dispositive Performanz. Um im Bild zu bleiben: Die Indexikalität des Rauschens erlaubt allein die mathematische Berechnung ihres Grades, die gleichsam Auskunft über die Dichte des Materials oder seiner medialen Bedingungen gibt, nichts aber über diese selbst. Vielmehr bleibt in diesem Modell das Technische eine Black Box – und der Vorentscheid für Kybernetik und Informationstheorie präjudiziert allein das Faktum seines Eingriffs, gewissermaßen die Effekte der Technik auf die Technik, oder, um präziser zu sein, der Instrumente auf ihre Funktionen, ohne jedoch etwas über ihr Technisches selbst zu verraten.
Mangel und Differenz Erweist sich damit mediale Reflexivität im Technischen als nicht rekonstruierbar, vor allem auch deswegen nicht, weil die Kernfunktionen der Übertragung, Speicherung und Berechnung irreflexiv sind und deren Optimierung allein Funktionen der Steuerung, Kontrolle und Beherrschung aufrufen, erschließen die darstellungstheoretischen Reflexionsmodelle, die sich bis auf Hegel zurückführen lassen, einen weiteren Horizont. Denn im Gegensatz zu technischen Operationen schließen Darstellungen die Möglichkeit von Meta-Perspektiven ein. Reflexion gibt es nur dort, wo sich Bezüge auf Bezüge beziehen, wo wir es folglich mit Darstellungen über Darstellungen oder Repräsentationen von Repräsentationen zu tun haben.32 Insbesondere kommt der Hegelschen Ästhetik das außerordentliche Verdienst zu, die paradoxale Struktur von Medialität zum ersten Mal systematisch aufgedeckt zu haben. Bekanntlich hat Hegel die Epistemologie der Künste aus dem Prozess der Entäußerung des Geistes verstanden, wobei der Terminus ‚Ent-Äußerung‘ wörtlich gedeutet werden muss, sofern der Geist sich nach Außen bringen und buchstäblich ‚realisieren‘ muss. Dann bildet das eigentliche Problem des Ästhetischen die Duplizität aus Sinn und Präsenz, die jedoch gleichzeitig in die Exposition des Bedeutsamen ein fremdes, nämlich sinnliches Moment einträgt. Zwar ist, wie Hegel bemerkt, Sinn „dieses 32 Dass Reflexionen in diesem Sinne das Prinzip logischer Widerspruchsfreiheit zu sprengen vermögen, beinhaltet die Diskussion um die Russellsche Antinomie; vgl. etwa Bertrand Russell: Die Philosophie des logischen Atomismus, München: Nymphenburger Verlagshandlung 1976, S. 23–27, 264 u. 265; Ders.: Die Entwicklung meines Denkens, Frankfurt a. M.: Fischer 1988, Kap. 6, 7 u. 8, S. 66–102.
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Res medii wunderbare Wort, welches selber in zwei entgegengesetzten Richtungen gebraucht wurde […] und [… sich] einerseits auf das unmittelbar Äußerliche der Existenz [bezieht], andererseits auf das innere Wesen derselben“,33 doch enthüllt sich der immanente Chiasmus als dessen Crux, soweit die Angewiesenheit der Künste auf einen Körper oder auf die Materialität der Darstellung – der Skulptur auf den Stein, das Bild auf die Farbe, der musikalische Ausdruck auf den Klang, die Rede auf die Stimme, um nur einige zu nennen – ihre Überwindung und damit auch die Notwendigkeit ihres Übergangs in den Begriff inkludiert. Trotz aller Verfehltheit der Schlussfolgerung Hegels, die alle Reflexion und künstlerische Praxis von vornherein unter die alleinige Herrschaft des philosophischen Begriffs stellt, bleibt das weiterhin Interessante an seinen Überlegungen, dass sie die für die Medientheorie grundlegende Dialektik des Erscheinens-Verbergens sowie die konstitutionelle Negativität des Medialen auf ihre eigene Weise variieren – und zwar so, dass deren Unlösbarkeit zuletzt unter das idealistische Versöhnungsideal der Rationalität gerät. Denn der Geist, so Hegel, muss sich entäußern, d. h. zur Erscheinung bringen durch das Stoffliche, das ihm gleichzeitig entgegentritt und ihn verdirbt, indem er, wie Hegel nicht ohne Degout gegenüber allem Fleischlichen ausführte, an „Härchen, Poren, Närbchen, Flecke der Haut“34, mit einem Wort, ans „Natürliche des bedürftigen Daseins“ gebunden bleibt. Hegel wiederholt also noch einmal die aristotelische Differenz zwischen dem ‚Trüben‘ und Uneigentlichen des Mediums, dem die absolute Reinheit oder Transparenz des Geistes in Gestalt der Vernunft gegenübersteht, um ihn, vergleichbar dem immanenten Telos technischer Konstruktionen, die daran teilhaben, zuletzt von aller medialen Verfremdung zu lösen. Das Trübe, ebenso wie die Störung oder die Unterbrechung gehören genuin zum Medium – aber so, dass es nicht durch diese sichtbar wird, sondern seine Uneigentlichkeit und Verderbnis bezeugt. Aus einem Mittel zur Reflexion, das es gleichwohl bei Hegel schon ist, wird so zugleich eine Entfremdung, wie jedes Medium an solcher Entfremdung partizipiert, weil es sich nicht selbst zu erfüllen vermag; vielmehr erweist es sich von Anfang an in ein Nichtmediales verwickelt, das es von sich trennt. Deswegen bildet für Hegel das Mediale einen Mangel – hingegen wird, spätestens mit dem linguistic turn seit Wittgenstein, Heidegger, Cassirer oder de Saussure, das Medium in Gestalt von Sprache zum unüberwindlichen Konstituens aller Philosophie. Jenseits von Erlösung durch Vernunft infiziert gleichsam seine innere Paradoxalität die kulturellen Prozesse, 33 Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 173. 34 Ebd., S. 206.
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Dieter Mersch sodass kein Zeichen ohne mediale Verzerrung existiert und keine Rationalität ohne Abberation oder Distorsion. Damit ist nicht nur die rationalitätskritische Perspektive eröffnet, wie sie die Medienbegriffe vor allem seit den 1970er Jahren begleitete, vielmehr hält die Doppelfigur von Entzug und Überschuss Einzug in die Konstitution des Sinns überhaupt. Sie grundiert sie mit Unverständlichkeit. Dann erweist sich die Produktion von Bedeutung selbst als chiastisch verfasst und die verschiedenen, in jüngster Zeit unternommenen Versuche, gleichsam in „posthermeneutischer“ Absicht die unausräumbare Duplizität von Sagen und Zeigen in allen Registern des Symbolischen zu entziffern,35 dienen nicht nur der Rekonstruktion einer unterschlagenden Präsenz- oder Ereignisdimension, die den Praktiken der Symbolisierung oder Signifikation eine nicht zu tilgende Asignifikanz unterlegt, sondern vor allem dazu, deren genuine Chiastik oder Verwerfung aufzuweisen – wobei die medialen Bedingungen selbst noch auf Existenzbedingungen aufruhen, die ihnen entgehen und die Differenz zwischen Sagen und Zeigen oder zwischen Symbolisierung und Medialität noch einmal in Richtung einer Duplizität von Zeigen und Sichzeigen durchqueren. Umgekehrt gilt, dass im Medialen wie in allen Prozessen der Signifikation ein Anderes mitschwingt, das sowenig dekuvrierbar ist, wie stets eine Heterogenität, die nicht durch eine Bedeutung einholbar erscheint, bleibt. Wir haben es dann mit dem weiteren Chiasmus zwischen medialer Präsenz und Präsenz des Medialen zu tun, der buchstäblich eine doppelte, ineinander verschränkte Konstellation erzeugt, welche sich als ein ebenso offener wie unbestimmter Raum vorstellen lässt, worin die Bedeutungen allererst geschehen. Das Mediale ist Teil dieser Konstellation, und zwar deswegen, weil es selbst paradox bzw. chiastisch verfasst ist. Was daher die Prozesse der Mediation leisten, verweigern sie im gleichen Atemzug und stellen noch den Entzug des Medialen in den Entzug eines Entzugs. Dann ist das Mediale kein Ungenügen, was bereits eine teleologische Perspektive unterstellen würde – denn von einem Mangelhaften lässt sich nur sprechen, wo die Möglichkeit einer Erfüllung besteht. Vielmehr geht es der Ratio immer schon voraus. Nirgends gehorcht darum die Reflexion einer vorgängigen Rationalität, die ihr als Kriterium diente. Mediale Reflexion lässt sich von keinem anderen Ort als dem Medialen selbst vornehmen, sodass sich das Mediale ins Reflexive und die Reflexion in Medialität von Anfang an verstrickt sieht. Die Reflexion muss sich daher genau jener Differenz bedienen, die das Medium selbst austrägt. Was unter Medialität zu 35 Neben meinem eigenen Versuch in Dieter Mersch: Posthermeneutik, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 26, Berlin: Akademie 2010; vgl. auch Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004.
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Res medii verstehen ist, wäre dann allein im Vollzug aufweisbar. Ihre Reflexion setzt Performativität voraus. Nichts anderes hatte übrigens Wittgenstein mit Bezug auf Sprache und Bild im Tractatus betont, als er der Russellschen Antinomie, die das Reflexionsproblem einzig im Rahmen von Logik verhandelte, deren Hierarchisierung verweigerte, um ihr stattdessen einen anderen Modus der Darstellung quer zu ihrer unendlichen Stufenleiter entgegenzuhalten:36 „Kein Satz kann etwas über sich selbst aussagen, weil das Satzzeichen nicht in sich selbst enthalten sein kann, (das ist die ganze ‚Theory of types‘).“37 Analog lässt sich sagen: Kein Medium vermag seine eigene Medialität mitzuteilen, weil die Form der Mitteilung selbst kein Mitgeteiltes sein kann. Sie geht in diese ein. Medialität verweigert sich ihrer Feststellbarkeit, weil die Struktur des Medialen sich in der Mediation nicht mitmediatisieren lässt: Sie zeigt sich. Die ‚negative‘ Medientheorie nimmt von dieser Einsicht ihren Ausgang.
Splitter, ‚Aufrisse‘, Fragmente Gibt es demnach Reflexivität nur als das Ereignis eines Sichzeigens, gerät die Kennzeichnung des Medialen zur Spurenlese. An den Rissen oder „Furchen“38, so der spätere Heideggersche Ausdruck, welche das Sprechen in der Sprache zieht, manifestiert sich ihr „Aufriß“39, der ebenso sehr eine Spur zieht, wie er als Spur auf jene Verborgenheit oder Zurückhaltung weist, die den medialen Prozessen selbst innewohnt. Der Gedanke ist: Das Mediale zeigt sich nur in seinem Gebrauch, indem dieser die Medialität des Mediums ebenso
36 Vgl. dazu Bertrand Russell: „Vorwort zum Tractatus logico-philosophicus“, in: Ludwig Wittgenstein, Schriften, Beiheft 1, 2. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 68–81; Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971, 3.33ff., 6.031. Es ist überliefert, dass sich Wittgenstein ‚entsetzt‘ über dieses Vorwort äußerte und es tatsächlich ablehnte; vgl. Brian McGuinness: Wittgensteins frühe Jahre, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 457. 37 L. Wittgenstein: Tractatus, 3.332, auch 3.333. 38 Der Ausdruck „Furche“ kommt bei Martin Heidegger in charakteristischer Unterschiedenheit zweimal vor: Im Humanismusbrief und in dem Aufsatz „Der Weg zur Sprache“: Dort legt das Denken „mit seinem Sagen in die Sprache unscheinbare Furchen“, hier die Sprache selbst, sofern sie spricht; vgl. Martin Heidegger: Über den Humanismus, 3. Aufl., Bern: Francke 1975, S. 112; Ders.: „Der Weg zur Sprache“, in: Ders., Unterwegs zur Sprache, 5. Aufl., Pfullingen: Günther Neske 1975, S. 239–268, hier S. 252. Der spätere Standpunkt markiert eine Radikalisierung, die zwischen Denken und Sprechen keinen Unterschied mehr macht. 39 M. Heidegger: „Weg “, S. 241 u. 251 f.
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Dieter Mersch in Anschlag bringt wie verändert. In jedem Augenblick seiner Verwendung wie Derangierung schreibt sich das Mediale ins Medium ein, um auf gleichermaßen temporale wie lokale Weise das kenntlich zu machen, was sich direkter Kenntlichkeit entzieht. Das Mediale duldet keine Totalisierung; vielmehr entdeckt sich seine Partialität durch Brüche oder Vexierungen, wie sie von der Mediation zum Medium und vom Medium zur Mediation wieder und wieder umspringen. Dasselbe hatte Heidegger in seiner Spätphilosophie vom Denken der Sprache verlangt: die Anstrengung, ihren Wegen dadurch zu folgen, dass jenen ‚Zeichnungen‘ oder Narben nachgegangen wird, die im Verlauf ihrer Befragung von selbst entstehen. Der Ausdruck „Aufriß“, der gleichzeitig an ‚Riss‘ wie an den Längsschnitt, die Skizze und den Entwurf gemahnt, verdichtet dabei motivisch die ganze Indirektheit des sprachreflexiven Manövers. Zudem erlaubt das Wort „Zeichnung“, das Heidegger gleichfalls mit „Aufriß“ assoziiert, sowohl die Konnotation von (gemalter) Zeichnung als auch von Gravur und Einzeichnung oder denjenigen Zeichnungen, die Hautveränderungen oder Wunden zurücklassen.40 Ihr Spiel avanciert für Heidegger zum Schlüssel von Sprachreflexion, die der negativen Medienreflexion analog gesetzt werden kann. Denn jede Reflexion von Sprache spricht bereits die Sprache, von der sie spricht und verstrickt sich dadurch in ihre eigene Medialität, die sie im selben Moment modifiziert. Wir sind damit, wie Heidegger sich ausdrückt, „allem zuvor in der Sprache und bei der Sprache“.41 Deswegen kommt er in seinem Aufsatz „Der Weg zur Sprache“ gleich einer Beschwörung immer wieder auf dieselbe Formel zurück: „Die Sprache als die Sprache zur Sprache bringen.“ Weiter heißt es: „Die Formel gebraucht das Wort ‚Sprache‘ dreimal, wobei es jedes Mal Anderes und gleichwohl dasselbe sagt.“ Dasselbe ist ihr sich stets verhülltes Medium. Die Notwendigkeit des ‚Dreimalsagens‘ deutet dabei „auf ein Geflecht von Beziehungen, darein wir selber schon einbezogen sind.“42 So zeigt sich die Sprache im Sprechen – wie das Medium in seinem Gebrauch – als eine Verwicklung, welche einen „Zirkel“ beschreibt, der, wie Heidegger ergänzt, deshalb „einen Sinn“ besitzt, „weil die Richtung und die Art des Kreisens von der Sprache selbst durch eine Bewegung in ihr bestimmt werden.“43 Nicht der Zirkel erweist sich dabei als relevant, sondern die Bewegung, die er vollzieht, sowie die Zeichnungen und Male jener Verschiebungen und Modifikationen, die ihre Manöver dabei bewirken, sodass wir uns allein an Effekte und Transformationen halten können, aus deren Splittern 40 Vgl. ebd., S. 252. 41 Ebd., S. 241. 42 Ebd., S. 242 passim. 43 Ebd., S. 243.
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Res medii und Fragmenten die Bedingungen aufzudecken sind, die etwas von der Medialität des Mediums kenntlich machen. Ihre Lektüre gerät für Heidegger insbesondere zum sich stets zurückhaltenden wie lediglich berührenden „Andenken“ an die Sprachlichkeit von Sprache: Alles Denken, das sich „unterwegs“ zu ihr befindet, hat diese schon durch seine Angewiesenheit auf die Rede ‚gezeichnet‘, d. h. markiert und verschoben. Es kommt zudem ‚zu spät‘ und vermag ihr, dem Sprechen, jeweils nur unvollkommen ‚nachzudenken‘. Die Philosophie der Sprache kann daher auch nie auf direkte Weise das ‚Wesen‘ von Sprache – sowenig wie eine Philosophie der Medien das ‚Wesen‘ von Medialität – ergreifen, sondern stets nur die ‚Bahnen‘ oder Konturen solcher Bewegungen, die es gilt, durch immer neue Interferenzen, wie sie vor allem Dichtungen in Anschlag bringen, mal um mal in Unruhe zu versetzen und zu halten, um ihr stets andere, noch ungeahnte und überraschende Wege und Bruchstellen zu entlocken. Das bedeutet umgekehrt, dass Medienphilosophie lediglich als Serie von Notizen gelingt, die das ‚Ganze‘ nie in den Blick bekommt, weshalb auch Heidegger die Sprache als das „Haus des Seins“ bezeichnet,44 das wir sprechend bewohnen, worin wir uns bewegen und unsere Spuren oder Zeichnungen hinterlassen, ohne es je umfassen oder von außen betrachten zu können. Und wie wir in ihm leben, verwandeln wir es auch. Darum zeigt sich die Sprache im Sprechen, d. h. vermöge ihrer Performanzen und verweigert sich gleichzeitig jeglichen erschöpfenden Zugriffs. Es ist auffallend, dass Heidegger dafür dasselbe Wort findet wie Wittgenstein, denn die Sprache ist für ihn weniger eine Struktur oder ein Werkzeug der Kommunikation, sondern, so der etwas manierierte Ausdruck in Unterwegs zur Sprache, die „Zeige“.45 Die „Zeige“ nennt das, was im Prozess von Interventionen allererst zum Vorschein gelangt, dessen Sagen jedoch selbst nicht sagbar ist – ein Schluss, der auf bemerkenswerte Weise ebenfalls mit dem Wittgensteins koinzidiert, wenn er feststellt, dass, „[w]as gezeigt werden kann, […] nicht gesagt werden [kann]“.46 Das Unvermögen ist dasjenige zureichender Bestimmung durch eine Analyse, und es liegt in der Konsequenz der Wittgensteinschen Spätphilosophie, nurmehr regional verfahrende „Sprachspiele“ als „Vergleichsobjekte“ zu betrachten.47 Denn alles, was Wittgenstein mit seiner Sprachspielkonzeption sagen will, ist im Grunde dies: ‚Über‘ Sprache lässt sich nicht angemessen sprechen, bestenfalls nur ‚von‘ ihr; die Sprache verweigert sich ebenso ihrer 44 Vgl. ders.: Humanismus, S. 45. 45 Vgl. ders.: „Weg“, S. 253. 46 L. Wittgenstein: Tractatus, 4.1212. 47 Vgl. ders.: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971, § 7, 18, 23, 24 u. 65–71, S. 16–17, 20, 24–25 u. 47–51.
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Dieter Mersch Reflexion wie ihrer Totalisierung.48 Dieselbe Formulierung findet sich auch bei Heidegger: ‚Von‘ der Sprache sprechen, meint gleichsam ein andenkendes Anspielen, eine behutsame Erinnerung wie Metaphorisierung, während das ‚Über‘ verdinglicht und sie zum Objekt degradiert. Die Sprachlichkeit der Sprache bleibt dann ein anhaltendes Mysterium; sie nimmt sich in dem Maße im Sprechen zurück, wie sie sich gleichzeitig durch sein Tun enthüllt. Nichts anderes gilt schließlich vom Medium und seiner Medialität. Denn die Pluralität des Medialen zeigt sich in seiner Verwendung. Es erweist sich intrinsisch mit Praxis verwoben, wobei es sich um ganz unterschiedliche Tätigkeiten wie ‚Darstellen‘, ‚Verweisen‘, ‚Ins-Spiel-Bringen‘, ‚Vergleichen‘ oder dergleichen handelt. Ihre Reihe lässt sich auf keine Weise aufzählen. Darum bedeutet das Projekt, das Mediale – oder entsprechend die Sprache, das Bild oder irgend eine andere mediale Form – entdecken zu wollen, sie durch immer neue Manöver und Beispiele herauszufordern, sie „kreuz und quer zu bereisen und dabei eine Menge von Landschaftsskizzen“49 anzufertigen oder mit der Geste hartnäckigen Insistierens zu traktieren, um gleichsam an den Rändern ungedachte Aspekte oder noch ungeahnte Überraschungen vorzufinden, wie sie gleichermaßen durch die künstlerischen Offensiven provoziert werden. Kurz, mediale Reflexivität verdankt sich – wie das Denken der Sprachspiele – dem Entwurf einer unabschließbaren Serie von Gegenprogrammen oder „Beulen“, wie sich Wittgensteins berühmte Formulierung abändern lässt, „die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenzen des Mediums geholt hat. Sie, die Beulen, lassen uns den Wert jener Entdeckungen erkennen.“50
48 Nicht umsonst nennt Heidegger seinen Dialog mit einem Japaner „Aus einem Gespräch von der Sprache“ – nicht „über“ Sprache; vgl. ders.: Unterwegs, S. 83–155. 49 Dies vermerkt Wittgenstein im Vorwort über seine Philosophischen Untersuchungen; vgl. L. Wittgenstein, Untersuchungen, S. 9. 50 Ebd., § 119, S. 68.
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Die Sache des Inmitten HANS-JOACHIM LENGER Sich mitten in eine Sache, vielleicht sogar in die „Sache selbst“ zu begeben, medias in res, geht stets damit einher, sich in ihr zu verlieren. Das „Inmitten“ nämlich ist nichts, was irgend anzutreffen wäre. Weder tritt es als Gegenstand hervor noch begegnet es als Bezirk, der sich aufsuchen ließe, „medias in res“. Wo immer sich nämlich etwas vorstellig macht, in Erscheinung tritt oder präsentiert, ist das „Inmitten“ bereits zerfallen oder hat sich entzogen. Weder ist es „Sache“, wenn darunter ein empirisch Vorfindbares verstanden werden sollte, noch Zentrum einer Topografie, in der sich die Gegebenheiten angeordnet hätten. Schon gar nicht erschöpft es sich in den „Mitteln“, die das eine und das andere, den einen und den anderen miteinander ver-mitteln sollen. Muss deshalb nicht jeder Versuch ins Leere gehen, sich „mitten in die Sache“ zu begeben? Denn worin bestünde dieses „Inmitten“, worin seine „Sache“, scheinen sie doch alles zu dementieren, was irgend Bestand wäre oder als Sache Beständigkeit aufwiese?
I Dieser Schwierigkeit ließe sich begegnen, könnte der Abstand, der die Dinge trennt, selbst als ein „Zwischen“ adressiert werden, das sich beim Namen nennen ließe. Diesem „Zwischen“ müsste nicht nur die bemerkenswerte Kraft inhärent sein, diesen Abstand herzustellen und aufrechtzuerhalten. Ebenso müsste es auf das Abständige einwirken können. Es müsste es als Vielfalt von Gegebenheiten durchlaufen, denen es als Grund ihrer Teilung und Verteilung ebenso eingelassen wie als télos vorausgeschickt wäre. Nicht, dass dieses „Zwischen“ einer sinnlichen Erfahrung zugänglich wäre; doch ebenso wenig wären sinnliche Gegebenheiten ihrerseits erfahrbar, ginge ihnen ein Nicht-Sinnliches nicht voraus. Dessen Ordnung wäre, was die Gegebenheiten im Ganzen versammelt – Index dessen, was „in Wahrheit“ der Fall ist, indem es als deren „Inmitten“ vielfache Fälle generiert und in Erscheinung ruft. Damit zugleich hätte sie den Gegebenheiten eine arché und ein télos eingelassen, ein „Inmit39
Hans-Joachim Lenger ten“, das sie versammelt und insofern einer Bestimmung im mehrfachen Wortsinn aussetzt. Diskurse des Medialen oder Medienwissenschaften treten insofern ein gewaltiges Erbe an. Sie gehen aus Voraussetzungen hervor, von denen kein Gewaltstreich sie dispensiert. Was die europäische Tradition „Metaphysik“ nennt, bewegte sich nicht zuletzt im Denken einer Medialität oder als Meditation dieses „Inmitten“. In gewisser Hinsicht meinte, was sich in ihr als lógos entfaltete, nie etwas anderes. In diesem „Inmitten“ oder durch es hindurch sollten sich die Dinge sammeln und eine Ordnung finden; von ihm sollten sie ihren Ausgang nehmen; an dieses „Inmitten“ sollten sie sich als ihren Grund adressieren. Was als „Welt“ in Erscheinung trat, was sich versammelte, um sich als „Welt“ hervorzubringen, umfing die Gegebenheiten als „Sinn“, der aus dem Grund dieses „Inmitten“ aufstieg und allem Sagbaren vorausgeschickt blieb. Nicht, dass er sich hätte einholen lassen in einem einzigen Satz, einer nicht weiter rückführbaren Figur des Denkens. Denn so sehr der lógos davon besessen gewesen sein mag, dieses „Sinns“ innezuwerden, so sehr widerfuhr seiner eigenen Technizität die Erfahrung, dass ihr entglitt, was sie beim Namen nennen wollte. Wenn es so etwas wie eine „Geschichte der Metaphysik“ gibt, so im Sinn einer Verfehlung des „Inmitten“, das sich in den Techniken zurückzieht und deshalb als unausgesetzte Wiederkehr ihres „Sinns“ wiederholt. Insofern ließe sich, wie Jean-Luc Nancy vorschlug, die Philosophie tatsächlich eine „Technik des Sinns“ nennen1 – vorausgesetzt freilich, worauf Nancy unausgesetzt auch besteht, dass sich diese Technik eines Hervorbringens, einer Produktion, eines In-Erscheinung-Treten-Lassens über einem klaffenden Abgrund erhebt. Dieser schreibt sich in den Techniken selbst ein, um sich in ihnen zu wiederholen. Und deshalb konfigurieren sich in allen Techniken, sich eines „Sinns“ des „Zwischen“ zu vergegenwärtigen, Schnittstellen im Wortsinn. Nicht nur, indem sie einen Schnitt markieren, der sie anderen Techniken exponiert, sondern indem sich jede Technik im Innersten von sich selbst getrennt hält, in sich differiert oder als Differenz-Technik iteriert. Diese Technik zeichnet, anders gesagt, Risse nach, die in allem, was sich an ihnen hervorbringen ließe oder in Erscheinung träte, ihrerseits als Selbstunterbrechung des Technischen wiederkehren. Diese Selbstunterbrechung exponiert sich deshalb nicht nur „in“ solchen Techniken. Sie exponiert das Technische selbst. Sie setzt es einer Frage aus, die sich in technischen Bestimmungen weder erschöpft noch beantwortet. Denn die Differenz, in der sich das Tech-
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Jean-Luc Nancy: Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, Berlin: diaphanes 2003, S. 111.
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Die Sache des Inmitten nische hervorbringt, lässt sich technisch nicht still stellen, oder umgekehrt: wo immer sich Techniken des Medialen in sich abzuschließen scheinen, um das Zentrum, den Ursprung oder das „Inmitten“ der Gegebenheiten mit ihrem Anspruch zu usurpieren, sind sie mit der Unterdrückung einer Differenz im Bunde. Im Zeichen dieser Unterdrückung allerdings verhält sich alles so, als solle sich im technisch-medialen Projekt die Finalität der metaphysischen Obsession in Szene setzen. Es will die Welt als Ganzes ebenso vorstellig machen, wie sie über das „Inmitten“ dieser Welt verfügt. So nämlich erscheint das „Zwischen“ als adressierbare Größe, als Grund, der sich technisch beim Namen rufen lässt. Was Heidegger als Trugbild der „Technik“ analysiert, dürfte aus dieser Konstellation hervorgehen; und von hier aus kann er ebenso auf die tiefe Komplizität von Metaphysik, technischer Medialität und Wissensdispositiven hinweisen: „Es bedarf keiner Prophetie“, so heißt es 1964, „um zu erkennen, dass die sich einrichtenden Wissenschaften alsbald von der neuen Grundwissenschaft bestimmt und gesteuert werden, die Kybernetik heißt.“2 Heideggers These dürfte an dieser Stelle kaum schon ausgeschöpft haben, was sich in ihr ankündigt. Die Kybernetik, so fährt Heidegger in seinem Vortrag über „Das Ende der Philosophie“ nämlich fort, sei Theorie der Steuerung des möglichen Planens und Einrichtens menschlicher Arbeit; sie bilde die Sprache um zu einem Austausch von Nachrichten; sie mache die Künste zu gesteuertsteuernden Instrumenten der Information. Tatsächlich aber erschöpft sich die technisch-mediale Welt, die im Entstehen ist, keineswegs in Transmutationen von Arbeit, Sprache und Künsten. Mittlerweile zeichnet sie sich, mehr noch, unter dem Schlagwort einer „Globalisierung“, im technisch instrumentierten Trugbild der einen oder einer einzigen Welt ab. Der Begriff des „Trugbilds“ impliziert dabei keineswegs, dass sich dieser trügerischen Welt eine „wahre“ oder „originäre“ entgegensetzen ließe. Keinen Verlust gilt es zu verzeichnen, der dazu anhielte, auf ein Verlorenes zurückzukommen wie auf eine authentische Ordnung; denn nichts ging verloren, was wiederhergestellt werden müsste. In jener „einen“ Welt, die im Entstehen ist, die sich im „Zwischen“ technisch-medial adressiert und vorstellig macht, erfasst und steuert, realisiert sich vielmehr der Traum einer Präsenz dieser Welt selbst, und er gehört zu den ältesten. Es ist der Traum einer Welt, die aus Mediationen eines „Inmitten“ wie aus einem Grund aufgestiegen wäre, um sich selbst ebenso durchschaubar wie verfügbar geworden zu sein und sie einem lückenlosen Kalkül der Kräfte zu unterwerfen. Doch geht der 2
Martin Heidegger: „Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens“, in: Ders., Zur Sache des Denkens, Tübingen: Niemeyer 1988, S. 61– 81, hier S. 64.
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Hans-Joachim Lenger „Sinn“ der Kybernetik, dieser „neuen Grundwissenschaft“, darin tatsächlich auf?
II Seit geraumer Zeit unternimmt die Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA), die Forschungsabteilung des Pentagon, erhebliche Anstrengungen, sich auf Szenarien von Kriegen technischmedial umzustellen, die für die nähere Zukunft erwartet werden. Bei diesen Umrüstungen spielen digitale Netzwerke eine alles beherrschende Rolle. Sie tragen nicht nur der Perspektive Rechnung, dass künftige Kriege zusehends irregulären und asymmetrischen Charakter annehmen werden. Mehr noch reagieren diese Planungen und Experimente auf Verschiebungen im technisch-medialen Feld selbst. Sie sollen eine alles erfassende Informationsverarbeitung mit Steuerungstechniken kurzschließen, um einen globalen Datenraum zu erzeugen, der die eigenen Mikrologien erfasst, durchläuft und kontrollierbar macht. Dies ist in hierarchischen Strukturen tradierter militärischer Formationen nicht mehr zu leisten. Und nicht von ungefähr steht deshalb die Entwicklung von Netzwerken im Zentrum der Anstrengungen: „Robuste, sich selbst verteidigende Netzwerke“, schreibt die DARPA, „auf strategischer wie taktischer Ebene sind der Schlüssel für die netzwerk-zentrierte Kriegsführung.“3 Sie müssten ebenso zuverlässig, verfügbar und überlebensfähig sein wie die Waffensysteme und Ressourcen selbst, die sie miteinander verbinden. Ihre Funktion bestehe darin, in die Mikrologien vorzudringen, sie abzutasten und auszuwerten sowie große Datenmengen schnell und präzise ein Schlachtfeld, ein „Kriegstheater“ oder auch den Globus durchqueren zu lassen, um ihn verfügbar zu machen. Um das Potential solcher Netzwerke freizusetzen, fährt die DARPA fort, könnten Menschen allerdings, „nicht mehr im Zentrum von Management und Steuerung stehen. Die Netzwerke müssen in der Lage sein, sich selbst zu formen, zu managen, zu verteidigen und zu reparieren, so dass sie ständig mit jenen extrem hohen Geschwindigkeiten arbeiten können, die ihren eigentlichen Vorteil ausmachen. Außerdem wird die Reduktion der Personen, die das Netzwerk managen, ebenso die Informationswege zum Verteidigungsministerium grundlegend verkürzen.“4
Ein zweites Szenario scheint das erste nur zu verdoppeln. Die öko3
Defense Advanced Research Projects Agency: Strategic Plan, Februar 2007, http://www.darpa.mil/Docs/DARPA2007StrategicPlanfinalMarch14.pdf, S. 9 (eigene Übersetzung).
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Ebd., S. 13.
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Die Sache des Inmitten nomischen Prozesse, in denen sich gegenwärtig eine neue, „globalisierte“ Welt erzeugt, gehen aus einer Verschaltung fiktiven und imaginären Kapitals mit Informationsnetzen hervor, deren Signale den Globus in Geschwindigkeiten nahe des Lichts durchlaufen. Die Medialität des Geldes wird Datenströmen amalgamiert, die den Transfer von Kapital und Informationen mit Inter-Medialitäten kurzschließen, um mit unwiderstehlicher Gewalt auf die gesellschaftlichen Ordnungen einzuwirken. Nicht länger sind es, unter diesem Zugriff, pyramidale Apparate der Macht, sondern Netzstrukturen, die den ökonomischen Zugriff auf Topografien ebenso lückenlos machen, wie sie eine dichte Herrschaft über die Zeit antreten sollen. Struktur-soziologische Studien wie die Richard Sennetts scheinen zu belegen, dass unter der Gewalt dieses Übergangs von den Disziplinar- zu den „Kontrollgesellschaften“ (Deleuze) nicht zuletzt zertrümmert wird, was einst „Horizont“ genannt wurde. 5 Zertrümmert wird nicht nur jene pyramidale Anordnung ökonomischer Systeme, als deren Blaupause einst die Befehlshierarchie stehender Heere fungierte. Zertrümmert wird ebenso, was den Einzelnen – wie trügerisch immer – eine „Perspektive“ im Wortsinn eröffnete, sofern sie ihn auf Erwartbares vorausschauen ließ. Nicht länger folgt, was noch immer euphemistisch „Biografie“ heißt, unter solchen Bedingungen Spannungsbögen des Erwartbaren, wie es sich an einem Horizont abzeichnen mag. Was „Leben“ genannt wird, geht unter dem Diktat des Inter-Medialen seinerseits aus vielfachen Schnittstellen und Anschlüssen, Kopplungen, Transfers und Transformationen hervor. Auf tradierte Medien wie Stimme, Schrift oder Bild und deren Tele-Technologien lassen sich solche Kopplungen keineswegs reduzieren. Sie greifen ebenso in Dispositionen des Begehrens, in Affekte und Körperzustände ein, um einer „Biopolitik“ neue technische Räume zu erschließen. Nicht umsonst stellen das Militärische und Ökonomische keine getrennten Bezirke oder Regionen dar – und wären sie das jemals gewesen? Unter Bedingungen von Verschaltungen, die sich „intermedialer“ Techniken und Technologien bedienen, gehen sie vielmehr ineinander über und werden zusehends ununterscheidbar. So spricht die DARPA davon, in den Truppenkontingenten der Zukunft werde es Fachleute für zivile Aufgaben geben: Ärzte, Lehrer, Politiker, Verwaltungsspezialisten, Medien- und Kulturfachleute. Umgekehrt nähern sich die Logiken des Ökonomischen zusehends militärischen Strukturen an. So werden die Task Forces der Produktion und des Vertriebs jenem Kommando von Chief Executive Officers unterstellt, das ihre Bewegungen im globalen Raum von Kommuni-
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Vgl. Richard Sennett: Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin: Berlin Verlag 2005, S. 30 ff.
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Hans-Joachim Lenger kation, Produktion, Austausch und Verkehr koordiniert, abgleicht und schlagkräftig hält. Insofern dürfte auch das Verschwinden der Kriege nicht etwa darauf zurückzuführen sein, dass die Ordnung des Globalen pazifisiert worden wäre. Der Krieg wird vom Frieden vielmehr im gleichen Maß ununterscheidbar, indem er einer unablässigen Entgrenzung ausgesetzt ist, die ihn zugleich allgegenwärtig macht. Denn dies definiert den Krieg nicht weniger als den Traum, die eine Welt in Erscheinung zu rufen, sie transparent und verfügbar zu machen: ins „Zwischen“ vorzudringen, es mit Nanotechniken zu durchsetzen, es mit digitalen Netzwerken der Information und Steuerung zu kolonisieren, um sich zum Herrn von Zeiten und Räumen aufzuschwingen – und damit die Kontrolle lückenlos zu machen, die Verfügbarkeit der Kräfte bis ins Äußerste zu steigern. Den Mikrologien einer Kontrolle, die sich in eskalierenden Geschwindigkeiten substituieren, korrespondiert jene Akkumulation und Überakkumulation, in denen sich realisiert, was Paul Virilio den „rasenden Stillstand“ nannte. Die „eine Welt“, in Gegenwart gerufen, in mediale Transparenz versetzt und einer ubiquitären Kontrolle unterworfen, scheint insofern von nicht weniger als vom Taumel ihrer entropischen Selbstzerstörung erfasst zu sein. „Letztendlich“, schreibt Nancy, „läuft alles so ab, als ob sich die Welt selbst mit einem Todestrieb bearbeiten und durchdringen würde, der bald nichts anderes mehr zu zerstören hätte als die Welt selbst.“6
III Dieser „Todestrieb“ indes, der die im Entstehen begriffene „eine“, sich selbst präsente Welt zu bearbeiten scheint, wird, allen Anklängen an eine psychoanalytische Begriffsbildung zum Trotz, nicht vorschnell Registern eines „Unbewussten“ zuzuschlagen sein. Denn um welches „Unbewusste“ sollte es sich handeln, wo von Welt die Rede ist? Nicht von ungefähr unterbricht sich auch Freud, wo er, einem Mythos Platons folgend, in seiner Einführung des „Todestriebs“ mit der Annahme spielt, „dass die lebende Substanz bei ihrer Belebung in kleine Partikel zerrissen wurde, die seither durch die Sexualtriebe ihre Wiedervereinigung anstreben“. 7 Ganz so, als sei die Zerrissenheit des Lebendigen Folge eines ersten, traumatischen Schlags; als hebe sich die Organik des Lebens aus einer Anorganik ab, deren Partikularisierung in einer traumatischen Zeichnung alles Lebendi6 7
J.-L. Nancy: Erschaffung der Welt, S. 16. Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips, in: Ders., Psychologie des Unbewussten, Studienausgabe Bd. III, Frankfurt a. M.: Fischer 1975, S. 213–272, hier S. 267.
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Die Sache des Inmitten gen nachzittert; und als verwinde sich dieses Traumas deshalb als Rückkehr ins Anorganische: Derart sollen sich die Sexualtriebe, durch die hindurch sich die Wiederherstellung eines „früheren Zustands“ in Szene setzt, Freud zufolge, als stillschweigende Trabanten eines „Todestriebs“, seiner stummen, differentiellen Kraft entziffern lassen. Doch unmittelbar nach dieser Überlegung bricht Freud auch ab; er sagt es ausdrücklich.8 Zu gewagt muss ihm seine Spekulation erscheinen, als dass sie in seinem strenger Erfahrung verpflichteten Wissen ohne weiteres Bestand haben könnte. Die Wiederholung kann nicht einfach Wiederherstellung eines „Früheren“ sein, hieße dies doch, einer Metaphysik des Ersten Vorschub zu leisten. Umso weniger ließe sich dies für einen „Todestrieb“ behaupten, mit dem die Welt sich bearbeiten soll. Denn immer legt eine traumatische Struktur so etwas wie eine kohärente Anordnung nahe, deren Reizschutz von einer zerstörerischen Gewalt durchschlagen wurde. Eine solche Kohärenz aber, aus der ein traumatischer Schlag die Zerrissenheit einer Welt hätte hervorgehen lassen, ließe sich dem „Sein“ dieser Welt nicht unterstellen, ohne es substantialistisch, metaphysisch also, gefasst zu haben. Ebenso wenig aber wäre die Gewalt konstruierbar, die es zerrissen hätte; denn von wo hätte sie eintreffen können, oder was hätte sie eintreffen lassen? Wie also ließe sich „ontologisch“ von einem „Trauma des Seins“ dann sprechen? Und wie von einem „Todestrieb der Welt“, mit dem sie sich bearbeiten würde? Dies sind unabweisbare Fragen, und nicht von ungefähr setzt Nancy hinzu, „dass wir nicht genau wissen, was ‚zerstören‘ bedeutet, noch welche ‚Welt‘ sich zerstört“.9 Wo eine Phänomenologie dieser Welt nämlich in dem, was geschieht, Signaturen eines „Todestriebs“ entziffern könnte, erklärt dies nichts. Umso fragwürdiger vielmehr wird der Begriff eines „Sein“, aus dem die Welt sich abgehoben, von dem sie ihren Ausgang genommen haben soll, um sich in ihn zurückzunehmen. Wie eine letzte Figur des Denkens, das sich eines „Traumas“ innezuwerden sucht, könnte auch der „Seinsbegriff“ nämlich an ein „Sein“ appellieren, als wäre es eine Gegebenheit, eine adressierbare Substanz. Dann wäre er, nicht anders als das „Anorganische“ Freuds, von einer gewissen Nachträglichkeit selbst nicht frei – allen Vorkehrungen zum Trotz, die Heidegger trifft, um Sein von Seiendem wie durch einen ontologischen Abgrund abzusetzen. Und tatsächlich finden sich auch in Heideggers Text Spuren, die dies bestätigen könnten oder wenigstens zu stützen scheinen. Eines Tages, so bedeutet er, dürfe das Denken „nicht vor der Frage zurückschrecken,
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Ebd.
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J.-L. Nancy: Erschaffung der Welt, S. 16.
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Hans-Joachim Lenger ob die Lichtung, das freie Offene, nicht dasjenige sei, worin der reine Raum und die ekstatische Zeit und alles in ihnen An- und Abwesende erst den alles versammelnden, bergenden Ort haben“.10 Alles Gewicht liegt hier auf dem „erst“, seiner vorläufigen Provisorik und gründenden Verspätung. Nicht weniger gibt Heidegger nämlich zu bedenken, als dass der reine Raum, die ekstatische Zeit noch dem vorausgehen könnten, was sich im Ort einer „Lichtung“ „erst“ versammelt wie birgt. Der alles versammelnde Ort würde dem, was ihm in Disparationen einer Differenz vorausgeschickt ist, so etwas wie Obdach „erst“ einräumen, um es einer „Seinsfrage“ zu öffnen. Wie aber wären dieser reine Raum, diese ekstatische Zeit dann zu denken? Wie eine Verräumlichung ohne Ort – oder wie ein Ort, der sich in Heideggers „Lichtung“ selbst empfinge, nämlich „erst“? Solche Fragen scheinen sich weit von Problemen entfernt zu haben, die in Theorien des Medialen verhandelt werden. Tatsächlich aber berühren sie, was sie im Innersten virulent macht. Nicht von ungefähr wiederholt sich in ihnen die Erfahrung, dass die Medialität eines Mediums des „Inmitten“ nicht mächtig wird. Die Eigenart des Medialen erweist sich vielmehr darin, sich in anderen Medien zu substituieren, sie unablässig in sich auftauchen zu lassen, sie zu zitieren, zu modifizieren wie für sich arbeiten zu lassen. Aber nie handelt es sich dabei um ein Auftauchen dieses Inmitten „selbst“, und nie ist die „Sache“ dieses „Inmitten“ medial präsent. In technischmedialen Registern beschreibt dieses Gleiten, dieser unablässige Einbruch, dieses Auftauchen eines „Mediums“ in einem anderen, diese unabschließbare Irrfahrt des Medialen vielmehr eine Bewegung, in der sich eine nicht weniger unhintergehbare Entortung abzeichnet. Unstillbar, wie sie bleibt, sucht sie sich zwar technisch zu stillen, im doppelten Wortsinn: sich still stellen und in gewisser Hinsicht sogar zu befriedigen wie ein Bedürfnis. Ohne Ort, an dem sie sich niederlassen könnte, spricht diese technische Rastlosigkeit jedoch umso markanter davon, einholen zu wollen, was sich ins Eine nicht holen lässt. Unverzichtbar, wie sie bleibt, um ein „Inmitten“ erscheinen zu lassen, aus dem sie auftaucht, verfehlt sie es, wo sie es in Präsenz rufen will. Und deshalb verliert sich jeder Versuch, sich medias in res zu begeben, ebenso, wie er alle Wissenschaft vom Medialen in einem ursprünglichen Verlust, genauer: in einem Verlust des eigenen Ursprungs einsetzen lässt. In allen technischen Fragen, die sich an Strukturen des Mediums oder an Phänomene der Medialität richten ließen, wiederholt sich vielmehr die nach diesem ursprünglichen Verlust oder diesem Verlust eines Ursprungs. Allen Versuchen zum Trotz, diesen Mangel zu füllen, zu minimieren, zu kontrollieren, im Innern oder an den
10 M. Heidegger: Ende der Philosophie, S. 73 (Hervorhebung von mir, H.-J. L).
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Die Sache des Inmitten Peripherien technisch-medialer Ordnungen beherrschbar zu machen, wiederholt er sich als Wiederkehr in deren Gefüge. Virulent genug, sie heimzusuchen, ebenso in Frage zu stellen wie zu zerstreuen, blitzt er in den Volten des Medialen und den Begriffen auf, die das „Mediums“ bestimmen sollen. Unablässig fungiert diese Differenz als Operator, ohne sich in Terminologien eines opus, einer Arbeit oder eines Werks fassen zu lassen. Deshalb geht, sich mitten in eine Sache zu begeben, medias in res, immer damit einher, sich in diesem Inmitten selbst zu verlieren. So sehr entgleitet, was sich in den Zäsuren dieses Verlusts abzeichnet, jeder Operation einer Ökonomie des Begriffs wie des technisch Medialen, dass deren Techniken der Assekuranz notwendig zu kurz greifen. Dieser Verlust lässt sich weder kalkulieren noch in Relationen von Investition und Einnahme verbuchen. Er entzieht sich nicht nur jeder Ökonomie; er stellt deren strukturellen Voraussetzungen als Ganzes in Frage. Alles kommt deshalb darauf an, diesen Verlust nicht als Abzug von einer möglichen Fülle zu verstehen. In ihm zeichnet sich vielmehr nach und wiederholt sich, was sich der Frage des „Seins“ in Ekstasen der Zeit und Disparationen eines „reinen Raums“ vorausgeschickt hat und noch die „Seinsfrage“ mit dem Index einer gewissen Verspätung belegte. In ihr selbst nämlich iteriert jenes „Erst“, mit dem Heidegger Lichtung und Sammlung skandiert. Wie Nancy deshalb schreibt, verhält sich alles so, „als hätte das Sein dieses ‚inter‘, das sein wahrer Ort ist, zugedeckt, als handelte es sich also vielmehr um ‚Inter-Vergessenheit‘ denn um ‚Seinsvergessenheit‘ – oder wohl vielmehr, als wäre die Erfindung des Seins – also unsere gesamte Tradition – nichts anderes gewesen als die Erfindung unserer Existenz als solcher, das heißt zwar als Existenz, gewiss, aber als Existenz von uns und als wir, wir auf der Welt, wir alle: ‚wir‘ wäre somit das absolut Vorgängige, das Zurückgezogenste aller Ontologie, und ‚Wir‘ wären somit auch die späteste Wirkung, das Schwierigste, das am wenigsten Aneigenbare des ontologischen Anspruchs.“11
IV Wie aber sollte sich die Frage nach der „Sache des Inmitten“ in dieser äußersten Zurückgezogenheit eines ontologischen Anspruchs wiederholen und aufwerfen lassen? Denn wie ließe sie sich in Begriffen des Medialen überhaupt stellen? Stets zumindest besteht die Gefahr, eine veritable Konfusion heraufzubeschwören, wo Sätze aus unterschiedlichen Wissensuniversen einander aufgepfropft werden, als wäre deren Kompatibilität be11 Jean-Luc Nancy: singulär plural sein, Berlin: diaphanes 2004, S. 120.
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Hans-Joachim Lenger reits ausgemacht. Riskant mag deshalb auch sein, sich an dieser Stelle auf Marshall McLuhan zu berufen. Denn zweifellos lässt sich dessen Diktum, das Medium sei die Botschaft, in der äußersten Zurückgezogenheit eines ontologischen Anspruchs nicht wiederholen, ohne es kalkulierten Entstellungen auszusetzen. Bei McLuhan eröffnet es so etwas wie eine Typologie von Techniken oder Technologien der Schaltung, Speicherung und Verbreitung. Tatsächlich sei nämlich unerheblich, so McLuhan, ob Licht etwa für ein Baseballspiel oder einen Gehirneingriff verwendet werde. Das Medium dieses Lichts geht allem voraus, was in ihm in Erscheinung treten könnte. Denn es eröffnet die Möglichkeit dieses Erscheinens selbst, stellt eine „Botschaft vor jeder Bedeutung“ zu. Deshalb sind mediale Techniken auch nicht bloße „Mittel“. Vielmehr oder früher noch gestalten und steuern sie, wie McLuhan formuliert, „Ausmaß und Form des menschlichen Zusammenlebens“.12 All dies setzt sich, erkennbar schroff, von jeder Vorstellung ab, die im Medium eine Transporttechnik von Bedeutungen, „Inhalten“ oder gar eines „Sinns“ vermuten würde. Es bricht mit einer Semantik des Medialen, die dem Medium die Bedeutung zuweisen würde, Signifikate zu übermitteln. Es zerstört also nicht weniger als die Vorstellung einer sich selbst durchsichtigen Idealität, die dem Medium vorgelagert, ihm eingelassen wäre und ihm hermeneutisch nur entnommen werden müsste. Das Medium vielmehr redet bereits, so erklärt McLuhan, ohne etwas zu sagen, so vieles in ihm dann auch gesagt werden mag. Es kommt gleichsam selbst zur Sprache, ohne zu sprechen. Und insofern macht der sogenannte „Inhalt“ eines Mediums, so McLuhan, jedes Medium der Wesensart des Mediums gegenüber blind,13 ganz so, als verdunkle sich das Medium in sich selbst, wo es so tut, als übermittle es „Bedeutungen“; als träte auf diese Weise zurück, woraus es wesentlich hervorgeht. Insofern allerdings durchkreuzt McLuhan alle Relationen von Mittel und Zweck. Den Zwecken nicht gefügig, denen es unterstellt werden sollte, wird das „Mittel“ von einer „Ent-Mittelung“ durchkreuzt. Und dieser Schnitt dürfte denn auch eröffnet haben, was man seither „Medienwissenschaften“ nennt. Doch zugleich bleibt McLuhans Diktum nicht ohne Rätsel. Denn was erlaubt es dem Medium, sich seinerseits und zu sich selbst als „Botschaft“ zu verhalten? In welchem Sinn also „ist“ das Medium die Botschaft? Setzt das nicht eine Differenz voraus, die das Mediale von sich ebenso getrennt hält wie sich zukehrt, um es seine Botschaft „sein“ zu lassen? Sollten Medien „Ausmaß und Form des menschlichen Zusammenlebens“ gestalten und steuern, wie McLu12 Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Frankfurt a. M.: Fischer 1970, S. 18. 13 Ebd.
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Die Sache des Inmitten han sagt, bliebe dieses „Zusammen“ dann ontologisch nicht am rätselhaftesten? Und wird sich deshalb nicht jene Fragwürdigkeit eines „Zwischen“ erneut in Erinnerung rufen, aus dem das Mediale ebenso auftaucht, wie es das „Zwischen“ technisch konstelliert oder instrumentiert? Wie nämlich steht es mit den Ekstasen einer Zeit, mit den Disparationen eines „reinen Raums“, und zwar vor jeder Möglichkeit einer medialen Sammlung, vor jeder technisch-instrumentellen Terminierung und Verortung? Unveräußerlich ist den „Medienwissenschaften“ diese Frage eines „Zusammen“, „Zwischen“ oder „Inter“ eingelassen, die bei Nancy ontologisch als weitreichendste annonciert wird. Nicht nur partizipieren die Medienwissenschaften an ihr; mehr noch gehen sie aus ihr hervor. Im gleichen Maß, in dem die Kybernetik, Heidegger zufolge, zur neuen „Grundwissenschaft“ zu werden sich anschickt, tut sich im Innern dieser Wissenschaft ein „metaphysisches“ Erbe auf, das sich technisch instrumentieren soll und technischen Bestimmungen zugleich entzieht. Doch umso weniger wird man sich deshalb mit der Bestimmung beruhigen können, dass der sogenannte „Inhalt“ eines Mediums der „Wesensart des Mediums gegenüber“ blind mache. Tatsächlich impliziert dieser Terminus selbst noch eine gewisse Verdunklung. Er will sich über Disparationen schließen, die er nur präsentiert oder zustellt, indem er sie ebenso verstellt. Im präzisen Sinn ist der Terminus eines „Mediums“ insofern sich selbst gegenüber ungleichzeitig. In sich verfrüht, indem es die Zerrissenheit des „Inmitten“ wie im Gewaltstreich zu usurpieren sucht, ist das Medium sich gegenüber verspätet, indem es die Disparationen nur zu parieren vermag, denen sich das Mediale technisch aussetzt. Denn immer hat sich die Zerrissenheit dieses „Inmitten“ schon entzogen, wo es gesammelt, in Dienst genommen und zur ökonomischen Reserve eines technisch-medialen „Sinns“ werden soll. Diese Ungleichzeitigkeit sich selbst gegenüber, dieser Riss in jeder medialen Präsenz, der sich ihr selbst einschreibt, zeichnet vor, was mediale „Differenztechnik“ genannt werden könnte. In ihr wiederholen sich eine Struktur, in der sich das technische Medium des „Zwischen“ immer mit einer gewissen Verspätung, immer „erst dann“ wie einer unerschöpflichen Reserve annimmt und zu bedienen sucht. „Das Medium ist die Botschaft“ bedeutet deshalb nicht, dass beide einfach zusammengefallen wären, und ebenso wenig, dass die „Botschaft“ bloßer Effekt technischer Strukturen oder Apparate wäre. Im „ist“ klingt vielmehr nach, was in der „ontologischen Differenz“ als Unruhe, Virulenz oder Zerrissenheit wiederkehrt, ohne in ihr still gestellt zu werden. Die „Botschaft“ des „Mediums“ ereignet sich darin, dass sich die Zerrissenheit einem medialen „Zusammen“ nur fügt, um als Disparation in ihm wiederzukehren, sich zu wiederholen und seine technischen Modi und Modifika-
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Hans-Joachim Lenger tionen zugleich zu unterlaufen – als „Inmitten“ des „Inter“, oder als „Wir“, dem ontologisch Entzogensten, wie Nancy sagt.
V All dies aber können sich „Medienwissenschaften“ nur im Zeichen einer Abwehr zustellen. Um „Wissenschaft“ zu werden, müssen sie das Objekt eines Wissens hervorbringen, das den Spalt geschlossen hat, über dem sie sich erheben. Nicht von ungefähr und frühzeitig muss McLuhan seine Destruktion eines hermeneutischen Medienbegriffs deshalb abbrechen, um zu seinem „medienwissenschaftlichen“ Gegenstand überhaupt finden zu können. Die mediale Drift, in denen Medien einander als „Inhalte“ substituieren, taucht deshalb nicht als Symptom auf; sie gerät zum positiven Befund ebenso wie die Einsicht, das Medium „sei“ die Botschaft. McLuhan sieht sich, anders gesagt, gezwungen, eine Bewegung auszusetzen, die nichts so fragwürdig macht wie einen „medialen Gegenstand“, und damit das Objekt seiner Wissenschaft selbst. Die differentielle Logik einer Unterbrechung, die zur Substitution anhält, bleibt ebenso unbefragt wie der Abstand von „Medium“ und „Botschaft“ im Innern technischer Medialitäten selbst. Tatsächlich aber wäre es nicht das Schlechteste, ließe sich einer Wissenschaft des Medialen nachsagen, sie könne ihren eigenen Gegenstand nicht definieren und litte deshalb Mangel an einer hinreichenden Selbstdefinition, oder auch: ihre Begriffe wären ebenso wenig transparent und festgelegt, wie ihre eigenen Techniken, Verfahren und Studienziele ausgemacht wären. All das besagt nämlich weniger über den vermeintlichen Obskurantismus ihrer Frage. Es berührt die offenen, weil beständig sich selbst unterbrechenden Horizonte eines Wissens, das nichts so sehr in Frage stellt wie Definitionen, Transparenzen, Festlegungen und eingeschliffene Verfahren. Der paradigmatische Schock, den die Frage des Medialen in den Disziplinen auslösen konnte, bleibt jedenfalls ablesbar noch an Systemen einer epistemischen Assekuranz, die wissenspolitisch gegen ihn aufgeboten werden: ihn auffangen, mildern, erschöpfen oder befrieden sollen, um „Medienkompetenz“ zu erzeugen. All dies gehört bekanntlich zur Ordnung des Betriebs. Heute aber ginge es viel drängender darum, den Logiken des „Globalen“ in Weltbegriffen zu antworten, deren Gegenläufigkeit sich ihnen nicht fügt. Sie dürften sich in den Aporien eines „Inmitten“ abzeichnen, das aus Zerrissenheiten auf sich zukommt, ohne sich als diese „Zukunft“ einholen, kalkulieren oder gar herstellen zu lassen. Aus diesem gegenläufigen Chiasmus geht die Frage des Medialen ebenso hervor wie die Fragwürdigkeit aller Medienwissen-
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Die Sache des Inmitten schaft. Und all dies hat ebenso politische wie ökonomische, technologische und kulturelle, militärische und geostrategische Implikationen. Sie schreiben sich in jenen Selbst-Dekonstruktionen der Apparate und Systeme, der Allianzen, der strategischen Zeiten und Räume, die das „Globale“ seither ausmachen. Nicht weniger durchqueren sie alle Begriffe, mit denen darüber Rechenschaft abgelegt werden könnte. Die Selbst-Dekonstruktion einer Welt, die im Entstehen ist, zerstört jedenfalls nicht etwa eine andere, die ihr in nicht-entfremdeter, authentischer oder gesicherter Gestalt vorangegangen wäre. Ebenso wenig taucht der „Todestrieb“, der sie zu bearbeiten scheint, an Grenzen einer Immanenz auf, an denen sie ihre finale Bestimmung fände. Viel eher entspringt er einer Akkumulation, die das unkonstruierbare „Wir“, dieses „Zurückgezogenste aller Ontologie“, wie Nancy sagt, einer technisch-medialen Immanenz selbst zu unterwerfen sucht. In Projekten dieser Unterwerfung ließe sich zwar buchstabieren, was einer traumatischen Gewalt gleichkommt – nicht, weil sie einen Reizschutz durchschlagen hätte, der die Zerstörung der eigenen Kohärenz nicht verzeichnen kann; vielmehr, weil sie eine „Sache des Inmitten“ selbst zu verwüsten sich anschickt, die in sich ohne jede Kohärenz, weil nichts als die Exposition „selbst“ ist. Nie werden sich Weltbegriffe dem „Globalen“ deshalb entgegensetzen lassen, so als stünden sie in einem Widerspruch, in schlichter Opposition oder einem offenen Antagonismus zueinander. Sie differieren vielmehr um jene Nuance, die sich medial entscheidet – von Fall zu Fall, um sich im klaffenden Abgrund zu teilen, zu disseminieren wie stets, wo etwas als etwas in Erscheinung tritt. Auch deshalb soll am Schluss Jean-Luc Nancy das Wort behalten. In einer Heidegger gewidmeten Passage, die jeder Theorie des Medialen wie eine Ouvertüre vorangeschickt werden könnte, schreibt er: „Dieses Sein ex-poniert sich also als das Zwischen [entre] und als das Mit des Singulären. Sein, zwischen und mit bedeutet dasselbe: es bedeutet genau das, was nicht gesagt werden kann (und was man andernorts das ‚Unsagbare‘ nennen würde), das, was nicht präsentiert werden kann als ein Seiendes unter [parmi] anderen, denn es ist das ‚unter‘ aller Seienden (unter: drin, in der Mitte von, mit), die alle und jedes Mal unter-ein-ander sind. Sein besagt nichts anderes, und wenn folglich das Sagen immer auf die eine oder andere Weise das Sein sagt, dann wird umgekehrt das Sein nur im Unkörperlichen des Sagens exponiert.“14
14 J.-L. Nancy: singulär plural sein, S. 134.
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Der Bote als Topos oder: Übertragung als eine medientheoretische Grundkonstellation SYBILLE KRÄMER Die folgenden Überlegungen versuchen die Reichweite des Botenmodells als eine Grundlagenperspektive medientheoretischer Erörterungen auszuloten.1
Zwei Hintergrundannahmen Medienfragen sind zu Kernfragen nahezu aller traditionell geistesund kulturwissenschaftlichen Disziplinen avanciert und werden seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts mit großer Subtilität diskutiert. Mutet es da nicht merkwürdig an, eine Medientheorie zu entfalten, die fundiert ist in der (archaischen) Botenfigur und damit verbundenen eher unschöpferisch anmutenden Übertragungsvorgängen? Wie also lässt sich der Rückgang auf den Boten als eine Figuration des Dritten zwischen heterogenen Seiten im Sinne eines Prototyps eines Mediums legitimieren und wie kann dabei die kulturelle Produktivität des Übertragens ausgewiesen werden? Das sind die Fragen, die uns hier beschäftigen. Vorab wollen wir allerdings Rechenschaft ablegen über zwei Motive, die unsere Arbeit am Botenmodell inspirieren.
SELBSTBILD Seit der Neuzeit ist unser Selbstbild versehen mit einem konstruktivistisch-demiurgischen Gestus, der den Menschen als homo faber 1
Diese Gedanken sind entfaltet in Sybille Krämer: „Die Heteronomie der Medien. Versuch einer Metaphysik der Medialität im Ausgang einer Reflexion des Boten“, in: Journal Phänomenologie 22 (2004), S. 18–38; Dies.: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008.
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Sybille Krämer und homo generator und sein In-der-Welt-Sein bevorzugt in den Termini von Urheberschaft und Autorschaft konturiert. Einher geht damit die bevorzugte Orientierung an Prozessen der Erzeugung, des Machens und des Hervorbringens. Damit wird allerdings die Kreativität und kulturstiftende Produktivität verkannt, die den Phänomenen der Zirkulation, Übertragung und Vermittlung eigen ist.2 Und in eben diesem Phänomenkreis gewinnt die Botenfigur ihre Bedeutung. Zweifelsohne darf die Botenfunktion nicht zum Gegenspieler des Urhebers hypostasiert und das Übermitteln und Übertragen nicht als Kontrastprogramm zum Hervorbringen und Erzeugen stilisiert werden: ‚Eine Mission zu haben‘ und ‚ein Akteur zu sein‘ sind keine disjunkten Optionen, sondern sind einander komplementär. Diese Komplementarität anzuerkennen, setzt allerdings die gründliche Sondierung des Potenzials der Botenperspektive voraus.
METHODIK Innerhalb der Philosophie wäre es ein allzu bequemer Weg, Medienfragen dadurch salonfähig zu machen, dass ihnen der Status eines ‚Apriori‘ zugewiesen wird, so dass Medien zu einer letztbegründenden Instanz avancieren, die unser Erfahren, Kommunizieren, Denken fundiert, ohne ihrerseits von Voraussetzungen abhängig zu sein. Medien nähmen dann jene Stellung ein, die etwa der ‚linguistic turn‘ der Sprache zukommen ließ.3 Zwanglos könnte ein solcher ‚medial turn‘4 ein Bündnis eingehen mit medientechnizistischen Positionen, für welche Medien zum Inbegriff der gesellschaftsprägenden und geschichtsstiftenden Kraft technischer Instrumente und Apparate avancieren, die gerade jene Stelle dynamisch einzunehmen vermögen, welche die Erosion des Subjektkonzeptes in den letzten fünfzig Jahren hinterlassen hat – so dass der ‚Mediengenerativismus‘ anknüpfen könnte an den latenten Konstruktivismus im neuzeitlichen Selbstverständnis unseres Weltverhältnisses.
2
Diese Vernachlässigung hat nachhaltig kritisiert bereits Hartmut Winkler: Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004.
3
Eine Medienphilosophie jenseits eines ‚Apriori‘ entfaltet auch Dieter Mersch: „Technikapriori und Begründungsdefizit. Medienphilosophien zwischen uneingelöstem Anspruch und theoretischer Neufundierung“, in: Philosophische Rundschau 50/3 (2003), S. 193–219; Ders.: „Medialität und Undarstellbarkeit. Einleitung in eine ‚negative‘ Medientheorie“, in: Sybille Krämer (Hg.), Performativität und Medialität, München: Fink 2004, S. 75–
4
96; Ders.: Medientheorien zur Einführung, Hamburg: Junius 2006. Vgl. Reinhard Margreiter: „Realität und Medialität. Zur Philosophie des ‚Medial Turn‘“, in: Medien Journal. Zeitschrift für Kommunikationskultur 23/1 (1999), S. 9–18.
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Der Bote als Topos Aber kann eine Medientheorie das Mittlere, die Mitte und die Vermittlung übersehen, die mit dem Begriff ‚Medium‘ – sozusagen: per definitionem – verbunden ist?5 Und kann ein Phänomen des alltäglichen Umgangs mit Medien außer Acht gelassen werden, dass nämlich Medien etwas vergegenwärtigen, indem sie sich selbst dabei ausblenden, zurücknehmen und erst dadurch ‚durchsichtig‘ werden können für anderes? Wir vermuten: nein. Im Fluchtpunkt dieser beiden Motive sowohl vom latenten Konstruktivismus unseres Selbst- und Weltverhältnisses wie auch vom manifesten Apriorismus diverser ‚turns‘ Abstand zu nehmen, gibt Raum für einen Gedanken, der die Springquelle des Botenmodells ausmacht: Medien sind nicht autonom, vielmehr heteronom. Etwas poetischer ausgedrückt: Der Bote spricht mit fremder Stimme. Darin liegt seine Leistungskraft, aber auch das Irritierende seiner Funktion. Die medientheoretische Grundidee, die in der Botenfigur kondensiert, ist also die konstitutive Heteronomie von Medien.
Vom Verschwinden des Mediums im Gebrauch Der Umgang mit Medien konfrontiert uns mit einem charakteristischen Phänomen: Der Vollzug von Medien realisiert sich als ihr Entzug. Dies ist von Dieter Mersch,6 aber auch von Lorenz Engell und Joseph Vogel,7 Michel Serres8 und Boris Groys9 hinreichend vermerkt. Medien vergegenwärtigen, indem sie selbst dabei zurücktreten, mithin unterhalb der Schwelle des Wahrnehmens verbleiben. 5
Auf diese Mitte, mithin das ‚Dazwischen‘ haben explizit verwiesen Christoph Hubig: „Die Mittlerfigur aus philosophischer Sicht. Zur Rekonstruktion religiöser Transzendenzüberbrückung“, in: Günther Abel (Hg.), Wissenschaft und Transzendenz, Berlin: Universitäts-Bibliothek der TU 1992, S. 49–56; Hans-Dieter Bahr: „Medien-Nachbarwissenschaften I: Philosophie“, in: Medienwissenschaft: Ein Handbuch zur Entwicklung der Medienund Kommunikationsformen, Berlin/New York: de Gruyter 1999, S. 273– 281; Régis Debray: Transmettre, Paris: Odile Jacob 1997; Georg Christoph Tholen: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002.
6
7
8 9
Vgl. Dieter Mersch: „Wort, Bild, Ton, Zahl. Eine Einleitung in die Medienphilosophie“, in: Ders., Kunst und Medium, Gestalt und Diskurs, Bd. 111, hg. v. Theresa Georgen, Kiel: Muthesius Hochschule 2002, S. 131–254, hier S. 132 ff. Vgl. Lorenz Engell/Joseph Vogl: „Vorwort“, in: Claus Pias u. a. (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, 3. Aufl., Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 2000, S. 8–11, hier S. 10. Vgl. Michel Serres: Die Legende der Engel, Frankfurt a. M.: Insel 1995. Vgl. Boris Groys: Unter Verdacht: Eine Phänomenologie der Medien, München, Wien: Hanser 2000, S. 21 ff.
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Sybille Krämer So kann das Vermittelte als ein ‚Unmittelbares‘ erscheinen. Schon Aristoteles’ Bemerkungen über das ‚Diaphane‘, in deren Horizont das, was das Medium zur Erscheinung bringt, als ein ‚Durchscheinen‘ bestimmt wird, spielen darauf an.10 Bezogen auf die sich zurücknehmende Mittlerstellung des Boten können wir diese Tendenz zur medialen Selbstneutralisierung in zwei Hinsichten erläutern und verstärken. Hans-Dieter Bahr11 erinnerte zuerst daran, dass der Begriff Medium etymologisch auf einen Terminus in der syllogistischen Schlussfigur referiert. In der Deduktion: „‚Eisbären sind Warmblüter‘, ‚Knut ist ein Eisbär‘, also gilt ‚Knut ist ein Warmblüter‘“, taucht der Terminus ‚Eisbär‘ in beiden Prämissen auf und stiftet eine logische Verbindung zwischen den Sätzen, welche zu einer Schlussfolgerung führt, in der dann der vermittelnde Term nicht mehr auftaucht: In der gelingenden Folgerung hat sich der terminus medius selbst überflüssig gemacht. Drastischer als im Topos des ‚sterbenden Boten‘ kann das Überflüssigwerden und Verschwinden des Mediums kaum artikuliert werden. In Mythos, Religion und Kunst ist der sterbende Bote, der sich in seinem Tun und zugunsten seiner Botschaft ‚verbraucht‘ und ‚verzehrt‘, ein immer wieder bearbeitetes Thema. Zwar wissen wir heute, dass Plutarchs Erzählung12 über den Läufer von Marathon, der am 12. September 490 v. Chr. nachdem er die Botschaft des Siegs der Griechen über die Perser nach Athen überbracht hat, tot zusammenbricht, eine Legende ist. Aber verweist nicht gerade dieser legendäre Charakter auf die Herausstellung und Stilisierung einer ‚Verschwindenslogik‘, die sich im Sterben des Boten narrativ verdichtet? Und Michel Serres13 hat zu einem Bild von Tommaso 10 Zur Transparenz des Mediums siehe Aristoteles: Über die Seele, in: Ders., Werke in deutscher Übersetzung, hg. v. Ernst Grumach, Bd. 13, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1966; Ders.: „Über die Wahrnehmung und die Gegenstände der Wahrnehmung“, in: Ders., Kleine naturwissenschaftliche Schriften (Parva naturalia), hg. u. übers. v. Eugen Dönt, Stuttgart: Reclam 1997, S. 47–86; Kommentare dazu bei Stefan Hoffmann: Geschichte des Medienbegriffs, (Archiv für Begriffsgeschichte: Sonderheft), Hamburg: Felix Meiner 2002, S. 30 ff.; Walter Seitter: Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen, Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2002, S. 33 ff.; Emmanuel Alloa: Das durchscheinende Bild. Grundlinien einer medialen Phänomenologie, Diss. FU Berlin, FB Philosophie und Geisteswissenschaften u. Universität Paris I, UFR der Philosophie 2008. 11 Vgl. H.-D. Bahr: „Philosophie“, S. 273 ff., und im Anschluss an ihn S. Hoffmann: Medienbegriff, S. 16. 12 Vgl. Plutarch: Moralia/Moralische Schriften, hg. v. Otto Apelt, Leipzig: Meiner 1926–27, S. 347c. 13 Vgl. M. Serres: Legende, S. 80 f.
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Der Bote als Topos Laureti (ca. 1530–1602), welches ‚Triumph des Christentums‘ heißt und zu Füßen eines Altars mit dem gekreuzigten Christus eine zerschmetterte Hermesstatue zeigt, lakonisch vermerkt, dass das Verschwinden der Boten angesichts seiner Botschaft auch im Sterben von Merkur und Christus sich als Kern der Passion erweise. Doch ob logisch im verschwindenden syllogistischen Mittelbegriff oder mythologisch im sterbenden Boten: Die Selbstzurücknahme wird als ein Gelingensprinzip medialer Vermittlung darin jedenfalls thematisch. Wir können das so zusammenfassen – wenn auch stilistisch unschön: Fremd-vergegenwärtigung wird durch Selbst-entgegenwärtigung möglich. Hier liegt auch die Wurzel jener Unmittelbarkeit des Mittelbaren, die zur Signatur medialer Funktionen gehört. Mit dieser ‚mittelbaren Unmittelbarkeit‘ aber stoßen wir auf einen guten Grund, warum wir ‚Zeichen‘ und ‚Medien‘ voneinander unterscheiden sollten.
Worin sich Zeichen und Medien voneinander unterscheiden Es gibt einen sehr naheliegenden und auch häufig entfalteten Gedanken: Wenn wir fragen, wo wir Medien zu ‚verorten‘ haben, so drängt sich ein Rückgang auf Zeichenprozesse auf, um sodann ‚Medialität‘ in der Materialität der Zeichen zu lokalisieren. Bezogen auf die Unterscheidung von Signifikant und Signifikat innerhalb der Semiosis wird das Medium – mehr oder weniger – mit Struktur und Funktion des Signifikanten kurzgeschlossen, wenn nicht gar identifiziert. Und doch gibt es zwischen Medien und Zeichen einen entscheidenden Unterschied. Bevor wir diesen Unterschied allerdings explizit machen, sei ein Missverständnis von vornherein vermieden. Zeichen und Medien bilden keine disjunkten Klassen von Gegenständen, in die wir ‚Dinge mit einem Zug zum Transitorischen‘ umstandslos einsortieren könnten. Vielmehr verstehen wir darunter zwei Perspektiven, in denen etwas – zum Beispiel die Sprache oder die Schrift – auf unterschiedliche Art beschreibbar ist. Worin nun liegt die Perspektivendifferenz zwischen ‚Zeichen‘ und ‚Medium‘? Ein Zeichen muss wahrnehmbar sein. Zugleich jedoch gilt die Zeichenbedeutung, also das, was für gewöhnlich abwesend, also unsichtbar ist oder oftmals mit ‚immateriell‘ assoziiert wird, als das Entscheidende. Doch sofern wir etwas als Medium betrachten, verhält es sich genau umgekehrt: Das, was wir im reibungslosen, störungsfreien Mediengebrauch wahrzunehmen haben, ist das, was das Medium zur Erscheinung bringt, also sein Gehalt bzw. die Botschaft, währenddessen das Medium selbst dabei verschwindet bzw. unsichtbar bleibt.
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Sybille Krämer Wir sehen also, wie sich bezüglich der Verteilung der Pole von Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit, Anwesenheit/Abwesenheit eine merkwürdige Umpolung vollzieht. In der semiologischen Perspektive ist das ‚Verborgene‘ der Sinn hinter dem Sinnlichen. In der mediologischen Perspektive dagegen ist das ‚Verborgene‘ die Sinnlichkeit hinter dem Sinn. Diese Inversion zeigt, dass die traditionelle metaphysische Einstellung, der gemäß das Wesentliche hinter der Erscheinung liegt, angewendet jeweils auf die Zeichen- bzw. die Medienperspektive, zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommt. Angesichts von Zeichen wird der seit Platon bekannte metaphysische Gestus, hinter der sichtbaren Sinnlichkeit das unsichtbare Wesen aufzusuchen in Gestalt der token/type-Relation nahezu idealtypisch realisiert und ‚vollstreckt‘: Es gilt die Oberfläche des sichtbaren Token zu durchdringen, um zur Tiefenstruktur des Typus zu gelangen. Wenn wir jedoch bei Medien diesen metaphysischen Gestus anwenden, so erfolgt eine Umkehrung, insofern wir hinter dem sichtbaren Sinn die verborgene Sinnlichkeit der Medien freizulegen haben. Die Metaphysik der Medialität führt dann zu einer ‚Physik der Medien‘.14 Die Verfahrenslogik der Zeichen geht also mit der metaphysischen Erwartung konform: über das Sinnliche hinaus und jenseits von ihm auf den Sinn zu stoßen. Doch die Gebrauchslogik von Medien kehrt diese Erwartung um. Denn nun müssen wir über den präsentierten Sinn hinaus gelangen, um hinter und jenseits von ihm auf die verborgene Sinnlichkeit, Materialität, Körperlichkeit und Technizität des Mediums zu stoßen. Eben dieses ‚Entzogene‘ am Medium aufzuspüren, ist eine wichtige Aufgabe unseres Botenmodells, dem wir uns jetzt zuwenden.
Attribute des Botenmodells Wir wollen sieben Attribute des Botenmodells unterscheiden, freilich ohne dabei irgendeinen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.15
1. DISTANZ ALS HETEROGENITÄT Boten stehen zwischen heterogenen Welten (Feldern, Systemen), zwischen denen sie etwas übertragen, um eben dadurch das voneinander Verschiedene in einen Zusammenhang zu bringen und zu versetzen. Emmanuel Levinas hat mit Nachdruck das einander Fern- und Fremdsein als Strukturmoment jedweder Kommuni-
14 Dazu S. Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 33 ff. 15 Vgl. ebd., S. 110 ff.
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Der Bote als Topos kation betont.16 Der Mitteilung – daran erinnern Benjamin17 und Nancy18 – geht die Teilung voraus. Das voneinander Entferntsein ist nicht einfach eine Erschwernis von Kommunikation, sondern deren Bedingung. Dabei ist die Distanz nicht nur als räumliche Entfernung im Sinne der Fernkommunikation bzw. ‚zerdehnten Kommunikation‘ aufzufassen, sondern kann ebenso gut und in erster Linie die ‚Differenz des Heterogenen‘ bedeuten.19 Wesentlich ist allerdings, dass die Verschiedenheit im Botengang nicht etwa annulliert, vielmehr ‚nur‘ überbrückt und eben dadurch als Differenz bewahrt und zugleich handhabbar gemacht wird. So ist mit der Botenfigur ein postalisches Prinzip verbunden,20 welches gegen das Ideal einer Verschmelzung des Verschiedenen in der dialogischen Kommunikation eine grundständige Distanz, Differenz und wechselseitige Unzugänglichkeit annimmt, welche den Nährboden aller Kommunikation ausmacht und in und mit ihr auch keineswegs beseitigt wird.
2. HETERONOMIE DES BOTEN Boten sprechen nicht im eigenen, vielmehr in fremdem Namen. Der Bote ist nicht selbsttätig, sondern folgt einer fremden Auflage; seine ‚Souveränität‘ kann allenfalls den Raum des Heteronomen erkunden. Der Bote ist nicht Ursprung von dem, was er tut. Er empfängt und gibt weiter, was gerade nicht von ihm erzeugt wurde. Er ist 16 Vgl. Emmanuel Levinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München: Alber 1983. 17 Walter Benjamin: „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ [1916], in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/ Hermann Schweppenhäuser, Bd. II.1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 140–157, hier S. 140 ff. 18 Vgl. Jean-Luc Nancy: Singulär plural sein, Berlin: diaphanes 2004. 19 So bei E. Levinas: Spur. 20 Zur Auseinandersetzung mit der Post als medientheoretischem Grundprinzip siehe Bernhard Siegert: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post, Berlin: Brinkmann und Bose 1993; Ders.: „Vögel, Engel und Gesandte. Alteuropas Übertragungsmedien“, in: Horst Wenzel (Hg.), Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter, Berlin: Schmidt Verlag 1997, S. 45–62; zum ‚postalischen Prinzip‘ im Rahmen dekonstruktiver Überlegungen siehe Jacques Derrida: Die Postkarte. Von Sokrates bis an Freud und jenseits. I. Lieferung, Berlin: Brinkmann und Bose 1982; Briankle G. Chang: Deconstructing Communication. Representation, Subject, and Economics of Exchange, Minneapolis/London: University of Minnesota Press 1996; zur Botenfigur siehe auch Klaus Krippendorf: „Der verschwundene Bote. Metaphern und Modelle der Kommunikation“, in: Klaus Merten/Siegfried Schmidt/Siegfried Weischenberg (Hg.), Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 79–113.
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Sybille Krämer kein Subjekt im konstitutionstheoretischen Sinne. Die diskursiv ohnmächtige Position des Boten erscheint wie der Negativabdruck jener Souveränität eines sprechenden Subjekts, von der die philosophische Sprechakttheorie inspiriert ist. So wundert es kaum, dass diese Art ‚uneigentlicher Rede‘ Platon bewog, die Dichter und Rhapsoden als ‚unwissende Vermittler‘ abzuwerten,21 um dann aus den Schlacken dieser archaischen, fremdbestimmten Rede die selbstverantwortete Rede des um Wahrheit ringenden philosophischen Diskurses hervorgehen zu lassen. Der Bote realisiert eine Rolle, deren Drehbuch er nicht selbst geschrieben hat. Doch zeichnet sich nicht gerade darin das Urhumanum und Kulturgut des Theatralen ab? Mit der Stimme eines anderen und für einen anderen zu sprechen, ist das Ethos des Botengangs. Zugleich hat der Bote immer auch teil an der „Telekommunikation der Macht“22, insofern die Verbreitung des Wortes zugleich den Raum einer Herrschaft sicherzustellen sucht. All dies soll nur eines deutlich machen: Es gibt stets ein Außerhalb der Medien.
3. DRITTHEIT ALS KEIMZELLE DER SOZIALITÄT Wir sind gewohnt, Gesellschaftlichkeit hervorgehen zu lassen aus dual konzipierten Relationen, seien dies nun Sprecher und Hörer, Sender und Empfänger, ego und alter ego, Herr und Knecht, Ich und Du. In der Perspektive binär organisierter Intersubjektivitätskonzepte erscheint das Auftreten eines Dritten folgerichtig als störend, verfremdend, parasitär. Doch nicht nur Joachim Fischer vermutet, dass „dyadische Figuren latent trianguliert“23 sind. Und bildet nicht gerade der Bote eine solche Figuration des Dritten, die – angesiedelt zwischen Alterität und Pluralität – zunehmend in den gesellschaftstheoretischen Fokus tritt? Der Bote stiftet durch seine Mittlerstellung eine soziale Relation. Und es ist nicht abwegig zu vermuten, dass Drittheit und eben nicht Dualität die Keimzelle des Sozialen bildet; dass also erst in triadischen Interaktionen sich diese zu sozialen Institutionen verdichten.
4. INDIFFERENZ UND DIABOLISCHE ENTGLEISUNG Die Neutralität ist die Wurzel des Mittleramtes, Indifferenz seine differentia specifica. Der Bote kann seine Mittlerstellung nur wah21 Vgl. Platon: Werke, hg. v. Gunther Eigler, bearb. v. Heinz Hofmann, 8 Bde., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990, Bd. I, S. 534 ff. 22 Peter Sloterdijk: Sphären II – Globen, Frankfurt: Suhrkamp 1999, S. 668. 23 Joachim Fischer: „Figuren und Funktionen der Tertiarität. Zur Sozialtheorie der Medien“, in: Joachim Michael/Markus Schäffauer (Hg.), Massenmedien und Alterität, Frankfurt a. M.: Vervuert 2004, S. 78–86, hier S. 80.
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Der Bote als Topos ren, kann Fremdes nur vergegenwärtigen durch Selbstneutralisierung. 24 Doch diese Mittlerstellung ist tief gezeichnet von einer Ambivalenz. In der Position des ‚Dritten‘ verbindet der Bote nicht nur, sondern distanziert zugleich und unterbricht. Kraft dieser Position kann er (auch) Zwist stiften, Streit aussäen, Intrigen einfädeln. Vermittlung hat also ein Doppelgesicht: Sie kann symbolisch (zusammen werfend) und dia-bolisch (auseinander dividierend) sein. Die diabolische Entgleisung ist der Dritten- und Neutralitätsfunktion des Boten als Option stets eingeschrieben.
5. MATERIALITÄT UND ÄUSSERLICHKEIT Als Teil des Materialitätskontinuums bewegt der Bote sich im Zwischenraum des Sinnaufschubs.25 Die Mobilität der Botschaft, die sich im Botengang verkörpert, kommt der Botschaft allein in der Äußerlichkeit ihres materialen Trägers zu, demgegenüber ihr Gehalt möglichst immobil zu halten ist. Inkorporation und Exkorporation kreuzen sich im Boten. Was immer die Botschaft ist: Sie muss aus der Situation ihrer Genese ablösbar, transportierbar, überbringbar sein. Daher ist die Rede des Boten dem Boten selbst etwas Äußerliches. Die Abspaltung von Sinn und Sinnlichkeit, von Text und Textur, Form und Gehalt gewinnt im Boten eine handgreifliche Gestalt. Finden wir hier den Ursprung der immer wieder beschworenen Trennbarkeit von Signifikant und Signifikat?
6. ONTOLOGISCHE NEUTRALITÄT Der Bote ist eine Person, die ihre Mission im Zuge einer Depersonalisierung realisiert. Daher sind Boten durch symbolische und technische Nachrichtenträger ersetzbar; sie verkörpern Aufgaben, die durch die Zirkulation und Funktionsweise von Dingen ebenso gut, wenn nicht besser erfüllt werden können – vorausgesetzt, wir unterscheiden an dieser Stelle (noch) nicht zwischen ‚Übertragung‘ und ‚Vermittlung‘. Wir können dazu auch sagen: Die Botenfunktion ist ontologisch neutral. Nichts ist technisch so gut übertragbar wie die Funktion des Übertragens.
24 Dies ist eine systematische, keine historisch empirische Aussage. Zu historisch orientierten Auseinandersetzungen mit dem Boten siehe exemplarisch Horst Wenzel (Hg.): Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter, Berlin: Schmidt Verlag 1997; B. Siegert: „Vögel, Engel und Gesandte“. 25 ‚Sinnaufschub‘ ist ein Begriff von G. C. Tholen: Die Zäsur der Medien, S. 8.
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Sybille Krämer
7. SPURENLESEN ALS UMKEHRFUNKTION DES BOTENGANGS Das Spurenlesen bildet die Inversion des Botengangs. Bote und Spur verhalten sich zueinander wie die Vorderseite und die Rückseite des Blattes, das vom ‚Übertragen‘ handelt. Jene Aktivität, die beim Boten auf Seiten des Auftraggebers und ‚Senders‘ liegt, wandert nun zum ‚Empfänger‘. Spuren entstehen in den Augen der Betrachter, denn erst ihre Aufmerksamkeit transformiert eine Markierung in die Spur, die damit zur Präsenz einer Absenz wird.26 Der Spurenleser verhält sich als Adressat von etwas, dessen ‚unwillkürlichen‘ Absender er allererst zu rekonstruieren hat. Und diese Rekonstruktion hat den Charakter einer Entdeckung, einer Einsicht und Erkenntnis. In der Perspektive der Spur gesehen epistemologisiert sich das Botenmodell; das Spurenlesen ist die erkenntnistheoretische Version des Botengangs. Halten wir einen Augenblick inne und überlegen, worin eine Schwierigkeit und ein mögliches Missverständnis dieser medientheoretischen Nutzung des Botenmodells liegen könnte. An die Stelle der von avantgardistischen Medientheorien forcierten Technizität medialer Apparate wird hier eine personale Figur, der Bote, zum Ausgangspunkt gemacht. Und doch darf diese ‚Personifizierung des Mediums‘ nicht missverstanden werden als eine wohlfeile Umorientierung von technischen Medien hin auf ‚den Menschen‘ als Medium. Vor dieser Fehlinterpretation des Botenmodells bewahrt nicht nur jene Dimension, die wir als ‚ontologische Neutralität‘ kennzeichneten und welche auf die vorzügliche Realisierbarkeit der Botenfunktion durch symbolische und technische Systeme zielt. Wichtiger noch ist die konstitutive Heteronomie des Boten, insofern diese Fremdbestimmung, bezogen auf den Boten als soziale Figuration (und der Begriff ‚Figuration‘ ist hierbei bewusst gewählt), ein Spannungsfeld zwischen Personalität und Depersonalisierung eröffnet. Wo Personen als Medien fungieren, ist ihrem Tun – darauf kommt es uns an – die Absehung von der eigenen Person, die Selbstzurücknahme, ein ‚Handeln unter fremder Auflage‘ eingeschrieben. Dieses ‚Zurücktreten vom Selbst‘ erscheint dabei nicht als Verfall und Verlust, sondern als eine spezifische Form kultureller Produktivität. Können wir das zu einer anthropologischen Betrachtung erweitern? Und zwar in dem Sinne, dass wir nicht nur einen Namen und eine Stimme haben, sondern dass wir in ‚fremdem Namen‘ und mit der
26 Zum Spurkonzept siehe Sybille Krämer: „Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle?“, in: Dies./Werner Kogge/Gernot Grube (Hg.), Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 11–36, hier S. 11 ff.
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Der Bote als Topos ‚Stimme eines Anderen‘ sprechen können; dies ist ein Charakteristikum der conditio humana. Doch zurück zur Medialität: Von einem Spannungsverhältnis zwischen Personalität und Depersonalisierung zu sprechen, bleibt hinreichend abstrakt. Und auch die Produktivität, die im Absehen von der eigenen Person liegt zugunsten dessen, was jeweils zu ‚übertragen‘ ist, ist nicht viel mehr als eine Behauptung. Daher wollen wir uns jetzt einem konkreten Phänomen zuwenden, der Zeugenschaft und die theoretische Ernte aufzeigen, die sich ergibt, wenn wir den Zeugen in der Perspektive des Botenmodells thematisch werden lassen. Indem wir uns jetzt der Erklärung und Deutung der Zeugenschaft zuwenden, wird eines auch deutlich. Der medienphilosophische Ansatz, den wir hier vorgeschlagen haben, läuft nicht auf eine ‚Ontologie der Medien‘ hinaus, verstanden als Charakterisierung einer gesonderten Klasse von Phänomenen, zu denen vorrangig die Wort, Bild- und Tonmedien gehören. Vielmehr eröffnet das Botenmodell eine Perspektive, in der eine Fülle von Übertragungsphänomenen analysiert werden können, die wir gewöhnlich nicht als ‚Medien‘ bezeichnen. Vielleicht sind unsere Überlegungen daher besser als eine ‚Medialitätstheorie‘ denn als ‚Medientheorie‘ zu charakterisieren. In jedem Falle aber müssen Phänomene, die in dieser Medialitätsperspektive betrachtet werden, durch eben diese Perspektive in neuartiger Weise gesehen werden können. Worin nun besteht dieses Neue beim Zeugnisgeben?
Der Zeuge im Spannungsverhältnis von Depersonalisierung und Personsein Das Phänomen der Zeugenschaft ist vielschichtig: Es reicht vom formalisierten Kontext des Gerichtszeugen über den Überlebens- und Glaubenszeugen (martys: griech. Zeuge) bis hin zum epistemologischen, aber auch alltäglichen Problem des Wissens durch die Worte anderer.27 Was heißt es, sich der Zeugenschaft als einem ‚Übertragungsmedium‘ anzunähern? Es geht uns hier um eine Paradoxie, die genau dann Gestalt gewinnt, wenn wir den Zeugen als ein Medium im Spannungsfeld von Personalität und Depersonalisierung interpretieren. Diese Paradoxie – das sei vorweggenommen – besteht darin, dass der Zeuge als ‚Überträger‘ der Wahrnehmung eines Ereignisses sich zum neutralen Aufzeichnungsmedium, zum interessenlosen ‚Seismographen‘ eines vergangenen Geschehens ‚verdinglichen‘ und depersonalisieren muss, zugleich jedoch – angesichts der faktischen Unübertragbarkeit persönlicher Wahrnehmungen –
27 Dazu S. Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 223–260.
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Sybille Krämer allein durch die Authentizität, Glaub- und Vertrauenswürdigkeit seiner Person für die Wahrheit seiner Zeugenaussage bürgen kann. Der Zeuge agiert zugleich als depersonalisiertes Medium und als authentische Person. Darin liegt die Schwierigkeit von Zeugenschaft. Werfen wir einen genaueren Blick auf diesen Zusammenhang. Es sind Situationen von Ungewissheit und Nichtwissen, in denen es nötig wird durch Zeugenaussagen zu ermitteln, ‚wie etwas – wirklich – gewesen ist‘. Ein Zeuge hat also die Wahrnehmung eines Ereignisses in Gestalt eines öffentlichen Statements an diejenigen weiterzugeben, die beim Ereignis gerade nicht anwesend gewesen sind. Um zu verstehen, was überhaupt ein Zeuge ist, wollen wir den Gerichtszeugen als eine paradigmatische Figur wählen, an der fünf Attribute, die für uns die ‚Grammatik des Zeugnisgebens‘ ausdrücken, deutlich hervortreten können. (i) Der Zeuge schafft Evidenz28 – und das in einem Rechtsstreit, in dem es stets widerstreitende Weisen gibt, einen Sachverhalt oder ein Geschehen zu beurteilen. Zeugen sind Personen, die in diesem Streit als Beweismittel dienen. Sie fungieren als ‚Objekte‘ und ‚Instrumente‘, um jene Tatsachen zu ermitteln helfen, die dann der Urteilsfindung zugrunde liegen. Die Gerichtsszene macht zugleich deutlich, dass es nicht einfach um Wahrheit oder Falschheit geht, sondern um Schuld und Unschuld. Die Evidenz, die der Zeuge schafft, hat (existentielle) Folgen. Im antiken jüdischen Gerichtsverfahren waren es die Zeugen, die bei der Hinrichtung den ersten Stein zu werfen hatten. (ii) Der Zeuge zeugt kraft seiner Wahrnehmung. Er hat bei einem vergangenen Ereignis in körperlicher Präsenz dabei gewesen zu sein, mithin eine unmittelbare Wahrnehmung, die er selbst gemacht hat, weiterzugeben. Zu diesem Unmittelbarkeitsprinzip und seiner Problematik bzw. Aushöhlung ist zu sagen:29 Nur die „Wahrnehmungen eines Zeugen“ können „tauglicher Gegenstand des Zeugenbeweises sein“.30 Das unterscheidet den Zeugen vom Sachverständigen. Der Zeuge ist gefragt als der Beobachter und Rezipient eines Geschehens. Auf seine kognitiven und urteilenden Aktivitäten, auf seine Meinungen, Bewertungen und Schlussfolgerungen kommt es dagegen in keiner Weise an. Sie würden den Wahrheitsgehalt seines Zeugnisses eher stören und trüben. Das Ideal der Zeugenschaft er28 Vgl. C. Anthony J. Coady: Testimony. A Philosophical Study, Oxford: Clarendon Press 1992, S. 32. 29 Vgl. Bernd Schünemann: „Zeugenbeweis auf dünnem Eis – Von seinen tatsächlichen Schwächen, seinen rechtlichen Gebrechen und seiner notwendigen Reform“, in: Albin Eser u. a. (Hg.), Strafverfahrensrecht in Theorie und Praxis, München: Beck 2001, S. 385–407, hier S. 401. 30 Vgl. Lutz Meyer-Goßner: Strafprozessordnung, München: Beck 2004, S. 152.
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Der Bote als Topos füllt sich im Unbeteiligtsein an eben jenem Vorgang, den es zu bezeugen gilt. Hierin übrigens wurzelt das Dilemma von Zeugen, die zugleich Opfer sind. (iii) Der Zeuge diskursiviert das Wahrgenommene. Zeugenschaft beruht also auf der Umwandlung einer Wahrnehmung in eine sprachliche Aussage.31 Eine private Erfahrung muss in eine öffentliche Stellungnahme übersetzt werden. Dies ist ein überaus fragiler Prozess. Und er bildet zugleich das ‚Einfallstor‘ für die Falschaussage. Unabhängig davon, dass wir uns in unseren Wahrnehmungen irren können, ermöglicht deren Übersetzung in sprachliche Form die Möglichkeit der bewussten Falschaussage. Daher ist das Bezeugen nicht einfach ein Reden, vielmehr ein Sprechakt im ritualisierten, institutionentheoretischen Sinne. Allein dadurch dass der Zeuge im Zeugenstand sich äußert, gilt seine Äußerung als wahr.32 Das Dilemma, das sich hier auftut, liegt auf der Hand. (iv) Der Zeuge spricht nicht nur über etwas, sondern er spricht zu jemandem, etwa einer Jury. Die Zeugenaussage ist nicht nur ein Sprechakt, vielmehr auch ein Hörakt, der nicht selten die Form des Verhörs annimmt. Ohne Adressaten und Zuhörer keine Zeugenschaft. Das Bezeugen ist überdies kein Monolog, sondern eine Interaktion, bestehend aus Frage und Antwort. Die Hörer sind in Unkenntnis eben jenes Geschehens, das der Zeuge bezeugt. Eine grundlegende Asymmetrie zwischen Zeuge und Auditorium ist also gegeben. Doch eben dieses epistemische ‚Gefälle‘ ist die Voraussetzung dafür, dass durch das Bezeugen seitens der Hörer neues Wissen zu entstehen vermag. Die produktive Kraft des Bezeugens besteht also darin, durch das Zeugnisgeben Nichtwissen seitens der Jury in ein Wissen zu transformieren – vorausgesetzt, das, was der Zeuge sagt, ist wahr. Daher gilt es, eine weitere fundamentale Bedingung der Zeugenschaft zu berücksichtigen. (v) Der Zeuge muss glaub- und vertrauenswürdig sein.33 Da mentale Zustände (wie etwa eine Wahrnehmung) nicht übertragbar sind,34 gründet die Wahrheit der bezeugten Sätze in letzter Instanz in der Wahrhaftigkeit der Person. Denn die Möglichkeit der Lüge inhäriert jedem Zeugnis. Das unterscheidet Zeugenaussagen von gewöhnlichen Spuren, die als Indizien genutzt werden. Spuren können falsch gelesen und interpretiert werden, nicht aber ‚lügen‘. An31 Vgl. John Durham Peters: „Witnessing“, in: Media, Culture & Society 23/6 (2001), S. 707–723, hier S. 709 ff. 32 Vgl. C. A. J. Coady: Testimony, S. 27. 33 Es hängt von Glaubwürdigkeitserwägungen ab, ob ein Gericht sich entscheidet, ein Zeugnis für wahr oder falsch zu erachten; vgl. Armin Nack: „Der Zeugenbeweis aus aussagepsychologischer und juristischer Sicht“, in: Strafverteidiger 1 (2001), S. 1–9, hier S. 2. 34 Vgl. J. D. Peters: „Witnessing“, S. 710.
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Sybille Krämer gesichts der empirischen Unüberprüfbarkeit der Zeugenaussage stößt auch die illokutionäre Kraft, mit der im Zeugenstand ‚Wahrheit‘ performativ verbürgt wird, an ihre Grenzen. Daher wird die Vertrauenswürdigkeit und Wahrhaftigkeit für das Zeugnisgeben grundlegend. Für seine Worte steht der Zeuge mit seiner Person ein. Die Wahrheit seiner Sätze gründet in der Wahrhaftigkeit seiner Person. Nur ein Zeuge, dem vertraut wird, überzeugt. Vertrauen aber ist immer enttäuschbar – anderenfalls wäre es kein Vertrauen.35 Nur mit Hilfe des sozialen Bandes des Vertrauens ist eine Übertragung von Wahrnehmung und Wissen durch den Zeugen und die Entstehung von neuem Wissen seitens der Hörer möglich. Im Horizont dieser Ausführungen zeichnet sich nun ab, welche Form das Spannungsverhältnis von Personalität und Depersonalisierung beim Zeugnisgeben annimmt. Die Zeugenaussage schafft Evidenz, ohne im herkömmlichen Sinne gerechtfertigt werden zu können. Diese Evidenzerzeugung birgt zwei Momente: Einmal soll der Zeuge ein neutraler, unbeteiligter Beobachter eines Geschehens sein, der – unter Absehung aller persönlichen Belange, Interessen, Idiosynkrasien – zum bloß sachlichen und sächlichen ‚Datenerhebungs-‘ und ‚Datenwiedergabeinstrument‘ mutiert und sich dabei aller Reflexion, Meinungsbildung und Beurteilung enthält. Zugleich hat er sich als ein Mensch zu erweisen, der vertrauens- und glaubwürdig ist, der also eine kohärente Persönlichkeit verkörpert, bei dem äußeres Verhalten und innere Überzeugungen übereinstimmen. Wenn wir also den Zeugen als ein Medium für Übermittlungen von Wahrnehmungen deuten, so zeigt sich ein Dilemma, welches darin besteht, dass der Zeuge sich zugleich wie ein ‚Ding‘ und wie eine ‚authentische Person‘ verhalten muss. In der Perspektive der Interpretation des Zeugen als Medium und Überträger der Wahrnehmung eines Ereignisses gewinnt somit eine Paradoxie Gestalt. Soweit in aller Kürze der Versuch, ausgehend von der paradigmatischen Figur des Gerichtszeugen, Ambivalenzen der Zeugenschaft freizulegen, insofern die Janusköpfigkeit der Zeugenrolle darin besteht, dass das Mediumsein und das Personsein, die neutralisierte Depersonalisierung einerseits und die authentische Personalität andererseits zugleich die Bedingungen der Möglichkeit von Zeugenschaft abgeben. Auf Agambens Analyse, dass im Potenzial der Zeugenschaft ein Unvermögen und eine Impotenz des Bezeugens nistet, fällt so ein klärendes Licht. 36 Und noch einen Sachverhalt können wir jetzt in neuem Licht sehen. Dabei geht es nicht mehr 35 Vgl. Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart: Ferdinand Enke 1968. 36 Vgl. Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 126 f.
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Der Bote als Topos um den Gerichtszeugen und auch nicht um den Überlebenszeugen37, sondern um die prosaische Form des Zeugnisgebens, die in der Ubiquität unseres Wissens durch die Worte anderer besteht. Wir stoßen hier auf eine nicht eliminierbare soziale Dimension unserer Epistemologie, die den methodischen Individualismus, also die Auffassung, dass einer allein etwas als etwas erkennen und rechtfertigen könne, unhaltbar macht. So vielfältig sind die Formen, in denen wir unser Wissen aus zweiter, dritter, vierter, … Hand erwerben, dass die verbreitete reduktionistische Position in der Philosophie, der gemäß nur durch eigene Wahrnehmung oder selbsttätiges logisches Schlussfolgern etwas als Wissen verbürgt sein kann, offensichtlich fehl geht. Vielmehr entsteht neues Wissen beim Adressaten des Zeugnisgebens genau dann, wenn der Wissensquelle auch vertraut werden kann. In dieser Verschränkung zwischen der Übertragung von Wahrnehmung und Wissen einerseits und dem Schenken von Vertrauen andererseits zeigt sich unser Erkennen fundiert nicht nur in sozialer Interaktion sondern auch einer Art moralischem Verhältnis. Vertrauen und Glauben nisten im Herzen unserer Wissenskulturen. Daher birgt die soziale Epistemologie der Zeugenschaft immer auch eine ethische Dimension.
37 Zu den Radikalformen von Zeugenschaft in Gestalt des Überlebenszeugen und des Blutzeugen (martys, griech: Zeuge) siehe S. Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 240 ff.
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Von der Auflösung der Medien in der Universalität der Medialität RAINER LESCHKE Peter Bürger reklamierte einmal, dass die Avantgarde erst zum Zuge kam, als es mit dem Kunstsystem eigentlich schon vorbei war, zumindest aber dieses sich hinreichend ausdifferenziert hatte und damit zu einer Art Stillstand gekommen war. Auch Hegels Diagnose für die Philosophie lautete kaum anders: Die Eule der Minerva kommt zumindest für ihre Gegenstände immer schon zu spät. Auflösung und Erkenntnis hängen offenbar auf eine vertrackte Art zusammen. Für das Mediensystem und seine Erkenntnis heißt das allerdings nichts Gutes: Entweder geht es mit dem Mediensystem zu Ende oder aber wir erkennen nichts. In jedem Fall sind die Alternativen nicht verlockend. Der chronische Streit um die Begriffe und damit die Realien der Medienwissenschaft scheint eine eindeutige Sprache zu sprechen: Erkenntnis ist nicht, Hegels Eule ist noch nicht gestartet, aber das Mediensystem ist dafür immerhin in einem Hoffnung erweckenden Zustand: es bewegt sich noch. Zugleich hat das Totsagen zumindest klassischer Medien eine kaum minder lange Tradition wie die Medienwissenschaft selbst. So wurde das „Ende der Gutenberg-Galaxis“ prophylaktisch schon zu Beginn der 60er Jahre ausgerufen 1 1
Terminiert wurde dieses Ende bekanntlich um einiges früher: „The Gutenberg galaxy was theoretically dissolved in 1905 with the discovery of curved space, but in practice it had been invaded by the telegraph two generations before that.“ (Marshall McLuhan: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man [1962], Toronto: University of Toronto Press 1966, S. 253) – Dass Norbert Bolz Anfang der 90er Jahre sich bemüßigt fühlt dieses Ende der Gutenberg-Galaxis nochmals zu ratifizieren, macht auf eine ebenso theoretische wie gegenstandsanalytische Unschärfe bei McLuhan aufmerksam; vgl. Norbert Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München: Wilhelm Fink 1993. McLuhan braucht, da er streng genommen nur über eine These verfügt, eine ewige Gegenwart, d. h. er kann mit dem aktuellen Medienwandel sehr schlecht umgehen. Die Differenz von elektrischen, elektronischen und digitalen Medien verschwimmt daher naturgemäß in seiner paradigmatisch gleichför-
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Rainer Leschke und bildete den Startpunkt für eine Ontologie des Mediensystems. Die Denkfigur der Auflösung des Objekts als Bedingung von Erkenntnis ist also den Medienwissenschaften einigermaßen vertraut, hat sie sie doch zumindest in Teilen wenigstens schon einmal ausprobiert. Auch die Medienwissenschaft operiert damit quasi nach der Devise: Der Frosch muss tot sein, bevor man etwas Nennenswertes über ihn herausbekommen kann. Aber Totgesagte sind zäh und das gilt genauso für die seit den 90er Jahren rituell verabschiedeten analogen Medien. Also drückt die redundante Verabschiedungsfigur vielleicht nur den Hunger nach einigermaßen zuverlässiger Erkenntnis aus, der Gegenstand und seine Dynamik jedoch sprechen diesen Versuchen ebenso regelmäßig Hohn. Dass hinter dem Erkennen und dem Willen zur Wahrheit schlicht ein Machtversprechen steht, wird nicht zuletzt an dem Ritual der Verabschiedung selbst deutlich. Die Mumifizierung des Objekts und damit zugleich die seiner Begriffe und Theorien hat zumindest einen Vorteil: sie räumt das Terrain frei. In diesem Sinne ist jeglicher neue theoretische Ansatz ein Test auf die Lebensfähigkeit des Objekts. Trotzdem scheint die Sache nicht ganz so einfach zu liegen: Die medientheoretischen Operationen am lebenden Körper des Mediensystems sind noch längst nicht gescheitert, nur weil die Prognosen über die Aussichten des Patienten sich als falsch herausstellten. Die Eule der Minerva hat vielleicht nur geblinzelt, aber wir haben immerhin einen Schnappschuss. Dabei können die jeweiligen Bestimmungen von dem, was denn unter Medien verstanden werden soll, nicht vollständig zufällig sein. So lässt sich das Phänomen, dass Fritz Heider und McLuhan bekanntlich in Bezug auf die Bestimmung von dem, was Medien sein sollen, zu kontradiktorischen Aussagen gekommen sind, sich nicht damit abtun, dass sich einer von beiden einfach geirrt habe oder dass er vielleicht gar kein Medienwissenschaftler gewesen sei und insofern der von ihm gebildete Begriff nicht zähle. Für Heider gilt ja Letzteres zweifelsfrei, nur ist unklar, was immer das überhaupt besagt. Nun lässt die Sache mit dem Schnappschuss schon deutlich werden, wie vielleicht mit dem Begriff der Medien umgegangen werden kann, ohne zu individuellem Versagen und Ähnlichem Zuflucht suchen zu müssen. Medienbegriffe sind historisch und damit ein ebenso leicht verderbliches Gut wie die Macht, die sie zu verleihen mig gehaltenen Gegenwart: Denn nach seinem Modell machen all diese medientechnischen Differenzen keinen medienhistorischen Unterschied. So kann Bolz Anfang der 90er Jahre noch einmal dasselbe behaupten und zugleich es als neu empfinden. Für McLuhan gibt es keine permanente Revolution, sondern immer wieder dieselbe Revolution, was aber eigentlich bedeutet, dass faktisch in seiner Gegenwart nichts passiert.
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Von der Auflösung der Medien in der Universalität der Medialität versprechen. Allerdings sperrt sich die Idee des Begriffs eigentlich gegen seine Verzeitlichung: Medienbegriffe als Konzepte auf Zeit; nichts ist selbstverständlicher und nichts ist zugleich befremdlicher. Die Kopplung von Begriff und Wahrheit scheint dem Vorhaben insofern eine gewisse Grundspannung zu verleihen. Verschärft wird das Ganze noch durch die medientechnologischen Schübe, die mit schöner, ökonomisch stimulierter Regelmäßigkeit die Mediensysteme erschüttern. Das Objekt des Begriffs hält also während all der medienwissenschaftlichen Debatten leider nicht still. Das, wovon die Medienwissenschaft mehr oder minder verzweifelt versucht, einen einigermaßen konsensfähigen Begriff zu erlangen, ändert sich fortwährend: Jede neue Technologie droht so auch die Paradigmen der Medienwissenschaft einzureißen. Insofern arbeiten Techniker, Ingenieure und Ökonomen am Begriff mit, ohne es auch nur zu ahnen oder gar die Verantwortung dafür übernehmen zu wollen. Diese technisch-ökonomische Dynamik des Mediensystems hat dem ohnehin schon rapiden Schrumpfen der Verfallszeiten von Medienbegriffen noch zusätzlich Schwung verliehen, so dass man mittlerweile auf eine recht respektable Serie von Begriffsbildungen zurückblicken kann. Die Dynamik des Objekts und die Konkurrenz der Erklärungsmodelle bringen den Medienbegriff jederzeit unter einen keineswegs unerheblichen Druck. Dass dieser sich dann in gelegentlichen theoretischen Revolten Luft zu machen sucht, ist kaum verwunderlich. Sich nun über die Richtigkeit oder Falschheit von Medienbegriffen auslassen zu wollen, ist angesichts der prekären Lage des Begriffs ein einigermaßen müßiges Geschäft, weil zweifellos jedem auch nur einigermaßen seriösen Medienbegriff das Verdienst zukommt, eine bestimmte historische Nuance und Position des Mediensystems in den Blick gerückt zu haben. Nur tauchen die Begriffe zumeist erst auf, wenn ihr jeweiliges Objekt und d. h. der jeweilige Zustand des Mediensystems bereits wieder im Sinken begriffen ist. Für jeden einzelnen Begriff und damit für jeden einzelnen Zustand des Mediensystems scheint so die hegelsche Diagnose durchaus zu stimmen: Auflösung und Erkenntnis bilden einen Zusammenhang. Nun handelt es sich, ohne der Originalität des jeweiligen Denkimpulses zu nahe treten zu wollen, bei den meisten Bestimmungen des Medienbegriffs nicht um vollständige Einzelkonstruktionen, sondern es lassen sich durchaus Gruppen von Begriffen bilden. Und bei der Suche nach solchen Etappen und Typen des Begriffs von Medien fällt zunächst einmal auf, dass sie eine charakteristische Korrelation mit dem jeweiligen Zustand des Mediensystems aufzuweisen scheinen. Dabei ist der Zustand von so etwas wie einem Mediensystem eine durchaus ambivalente Angelegenheit. Me-
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Rainer Leschke diensysteme, d. h. einen spezifischen Zusammenhang von unterschiedlichen Technologien und Sozialformen des gesellschaftlichen Austauschs, Transports und der Archivierung von Tönen, Bildern und Texten, hat es historisch eigentlich immer gegeben. Insofern lässt sich so etwas wie der Beginn von Mediensystemen streng genommen zeitlich nicht fixieren. Allerdings hat es eine geraume Weile gedauert, bis die unterschiedlichen Einzelmedien auch als ein System begriffen wurden. Für das Mediensystem selbst mag es ziemlich unerheblich gewesen sein, ob es denn nun als ein solches verstanden worden ist oder nicht, für den Begriff von Medien allerdings ist die Angelegenheit durchaus bedeutsam, entscheidet sie doch über den Gegenstandsbereich und damit den Umfang des Begriffs. Insofern ist das Begreifen von Medien als ein System ein durchaus entscheidendes Datum in der Begriffsentwicklung. Das Emergieren der Auffassung, dass die unterschiedlichen Medien ein zusammengehöriges System bilden, kennt einen anderen Begriff von Medien als das entwickelte Mediensystem, das diesen Zusammenhang als selbstverständlich unterstellen darf. Und, so sei vorwegnehmend schon gesagt, auch das Verschwinden der Medien wird seinen eigenen Begriff nach sich ziehen. Die Idee, dass Medien sich als eine Art Äther zwischen die Objekte des Realen legen, und sie genau jenes Dritte ausmachen, das die sich voneinander entfernenden Subjekte der Kommunikation miteinander in Verbindung bringt, passt ausgezeichnet zu einem Zustand der Latenz von Mediensystemen. Dass diese Latenz allein den Reflexionsstand über Mediensysteme markiert und keinerlei Aussage über die faktische Funktionsweise von Medien in Sozialsystemen macht, in denen immer schon Mediensysteme existiert haben, sollte deutlich geworden sein. Die Latenz des Mediensystems wäre also jener Zustand, in dem die Medien über einen so deutlichen Abstand voneinander verfügen, dass ein gemeinsamer Begriff noch einem Wagnis gleicht. Der Medienbegriff, über den Heider verfügt, und der jener charakteristischen Mischung von Philosophie und Physik entstammt, die spätestens seit Hegels Dynamisierung des Gedankens gebräuchlich und zunächst von Kierkegaard auf die Ästhetik2, von Heider dann eben auf die Technik und von Dovifat auf die gewöhnlichen Medieninstitutionen appliziert worden war, markiert den Prozess des Zusammenstellens von Phänomenen und verringert rein begrifflich und zugleich theoretisch ziemlich passend den Abstand der involvierten Objekte voneinander. Diese Verdichtung der Medien zu einem System ist dabei eine schlichte Kippfigur jener Vorstellung von mittels des Füllstoffs Medien verbundenen
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Vgl. Sören Kierkegaard: Entweder – Oder [1843], hg. v. Hermann Diem/Walter Rest, 5. Aufl., München: DTV 1998, S. 81 ff.
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Von der Auflösung der Medien in der Universalität der Medialität Subjekten. Jenes rätselhafte mediale Material, das zu kommunikativen Zwecken zwischen die Subjekte gekippt wird, restituiert die durch die auseinanderdriftenden Subjekte verloren gegangene Einheit in einem medial erzeugten Kontinuum. Dabei ist der Leumund eines solchen Füllmaterials wie das des Äthers nicht der allerbeste und ihm haftet durchaus etwas Gewolltes an, von dem sich Analyse tunlichst frei machen sollte: Denn dieser musste nicht selten als Ausrede für die Abwesenheit von Vernunft herhalten. So verwies Platon im Phaidon bereits auf einen Mann, der „mit der Vernunft gar nichts anfängt und auch sonst gar nicht Gründe anführt, die sich beziehen auf das Anordnen der Dinge, dagegen aber allerlei Luft und Äther und Wasser vorschiebt und sonst vieles zum Teil Wunderliches.“3 Und noch für Kant ist der Äther bestenfalls Meinungssache und damit zweifelhaft. Nach dem Äthermodell gedachte Medien starten also in einem ziemlich zweifelhaften Umfeld, was für Neulinge ja keine Seltenheit ist. An diesen negativen Umweltbedingungen ändert sich auch nichts in den von kulturhistorischen Angstphantasien getriebenen Medienszenarien, die ebenfalls von der Idee geplagt werden, dass unterschiedliche Medien ein System ausmachen könnten: „Das Bioskop tötet nur die menschliche Gebärde, der Tonfilm auch die menschliche Stimme, dasselbe tut das Radio; zugleich befreit es vom Zwang zur Konzentration, und es ist jetzt möglich, gleichzeitig Mozart und Sauerkraut, Sonntagspredigt und Skatspiel zu genießen. Kino wie Radio eliminieren jenes geheimnisvolle Fluidum, das sowohl vom Künstler wie vom Publikum ausgeht und jede Theatervorstellung, jedes Konzert, jeden Vortrag zu einem einmaligen seelischen Ereignis macht. […] Es gibt keine Realitäten mehr, sondern nur noch Apparate […].“4
Medien als Verschwörung der Apparate gegen die Realität bilden zumindest in ihrem Angriff eine prekäre Einheit. Dass bei Heider dann der voluminöse, gleichzeitig aber nahezu materielose Stoff, also der schlecht beleumundete Äther zum Modell für einen Begriff von Medien avanciert, macht nicht zuletzt die theoretische Verlegenheit deutlich, in der man sich in jenem Moment zu befinden scheint, in dem Medien noch einigermaßen unverbunden nebeneinander stehen und dennoch schon deutlich wird, dass sie alle etwas miteinander zu tun haben. Heiders Äthermodell5,
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Platon: Phaidon, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 3, 171.–173. Tsd., Hamburg: Rowohlt 1985, S. 7–66, hier S. 48.
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Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum ersten Weltkrieg [1927–31], 3 Bde., München: C. H. Beck 1965, S. 1513.
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Vgl. Fritz Heider: Ding und Medium [1926], Berlin: Kadmos 2005, S. 23.
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Rainer Leschke Dovifats rigorose Zurückweisung der Idee einer Medienwissenschaft6 und Fridells apokalyptische Medienkritik gehören so zusammen: Für alle machen Medien offensichtlich ein System aus, das irgendwie unheimlich und wichtig zugleich ist. Der aus der Ambivalenz von Ablehnung und luftiger Zustimmung emergierende Medienbegriff, der auf die Kippfigur von den zwischen Subjekten zu verfüllenden Abständen und das in diesen Abständen sichtbar werdende Mediensystem reagiert, passt so recht genau in die Latenz des Mediensystems und es ist zugleich deutlich, dass dieser Zustand vergleichsweise instabil und daher nicht von Dauer sein wird. Schon Dotzler weist darauf hin, dass „die Welt der technischen Medien oder genauer der elektronischen Medien gerade an der Schwelle [beginnt], vor der Heider innehält“. 7 Auch wenn eben diese elektronischen Medien über den Äther gehen und sich damit die Medialität quasi selbst zunutze machen, so ist es doch nicht unbedingt jener relativ marginale Übergang zu den elektronischen Medien, der hier von Bedeutung ist, sondern vielmehr der synchron stattfindende Prozess, der aus disparaten Einzelmedien ein System macht. Und eben dieses System muss allererst selbstverständlich werden, bevor ihm nahezu alles zugetraut werden kann, was dann bekanntlich McLuhan mit dem nötigen Pathos auch tut. Strukturell hat man es mit einer neuerlichen Kippfigur zu tun: Der vormals bloße Zwischenraum wird zum Zentrum umgebaut und die Transparenz der Medien wird zur positiven Undurchsichtigkeit. Dass der Medienbegriff dann weniger ätherisch, sondern eher voller ausfällt, verwundert kaum mehr. Schon Dotzlers Bemerkung zu Heider machte eine implizite Voraussetzung, sie ging nämlich von einem komplexen und vor allem hierarchisierten Mediensystem aus. Die Idee, dass ein Technologieschub wesentliche Bedeutung für den korrekten Begriff von Medien haben könne, setzt eben voraus, dass die Dinge zusammengehören und es entscheidend ist, dass sich der Komplex entwickelt und nicht mehr nur das einzelne Medium. Dass mit dem entwickelten Mediensystem nicht nur die Medien selbst zur vollen Form auflaufen, sondern auch die Reflexion der Medien eine gewisse Selbstverständlichkeit gewinnt, ist alles mehr oder minder auf den vertrauten Umgang mit dem Mediensystem zurückzuführen. Dass sukzessive das theoretische Engagement für die Einzelmedien, vielleicht mit der Ausnahme der Filmtheorie, zu6
7
Vgl. Emil Dovifat: „Wege und Ziele der zeitungswissenschaftlichen Arbeit“ [23.11.1928], in: Bernd Sösemann (Hg.), Emil Dovifat. Studien und Doku– mente zu Leben und Werk, Berlin/New York: De Gruyter 1998, S. 464–477, hier S. 467. Bernhard J. Dotzler: Diskurs und Medium. Zur Archäologie der Computerkultur, München: Wilhelm Fink 2006, S. 14.
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Von der Auflösung der Medien in der Universalität der Medialität rückgeht, ist eine implizite Reaktion auf eben diesen Primat des Mediensystems. Insofern geht es in der Folge dominant um das Mediensystem und dessen immanente Strukturen und Dynamiken. Medientheorie spekuliert über die möglichen Ausgänge dieser Dynamik und die Reflexion dessen, was ein Medium sein könnte oder sollte, verliert an Bedeutung. In Systemen verweist jedes Medium immer schon auf ein anderes und die Theorie bemüht sich es diesen gleichzutun. Wenn aber das einzelne Medium ins Mediensystem kippt, dann beginnt streng genommen bereits sein Verschwinden, zunächst noch unmerklich, denn es handelt sich schließlich um die Hochzeit der Medien. Leitmedien erteilen zumindest für einen gewissen Zeitraum noch einzelnen Medien unsterbliches Gewicht; dass sich gleichzeitig die anderen, weniger prominenten Medien in den Systemzusammenhang einreihen, um darin sukzessive unkenntlich und wichtig gleichermaßen zu werden, fällt demgegenüber gar nicht so sehr auf. Solange es noch Leitmedien8 gibt, solange macht es offenbar noch Sinn über Einzelmedien zu reden. Leitmedien sind daher die letzten Repräsentanten der Würde und Bedeutung von Einzelmedien im Mediensystem. Mittlerweile sind jedoch nicht nur diese prominenten Repräsentationen der Einzelmedien im Mediensystem ins Rutschen gekommen, sondern mit dem Aussterben der klassischen Leitmedien lässt sich eine Umformatierung des Mediensystems beobachten, die den Status von Medien an sich in Mitleidenschaft zu ziehen scheint, was den möglichen Begriff von Medien nicht ganz ungeschoren davon kommen lassen dürfte. Konkret verschwinden die traditionellen Einzelmedien dann in ihren verschiedenen Emulationen im PC. Und das bedeutet keineswegs, dass etwa der Computer zum neuen Leitmedium avancieren würde, sondern dass vielmehr der Status von Medien insgesamt einer Revision unterzogen worden ist. Die bis in die Gegenwart andauernden Intermedialitätsdebatten reagieren zumindest zum Teil auf diesen Umbau des Mediensystems, indem sie die Medien nicht mehr in sich selbst, sondern in einem Dazwischen finden. Die Medien sind nicht nur ins Mediensystem eingegangen und dort gleichsam verschwunden, es haben sich die Bedingungen für das Funktionieren von Medien insgesamt geändert und das wiederum betrifft den Begriff von Medien ganz grundlegend: Bei den traditionellen Medienbegriffen, also den transparenten und den selbstbewussten Medien, war bei aller Fraglichkeit der Bedeutung und des Wesens von Medien zumindest eines klar, dass nämlich 8
Vgl. Rainer Leschke: „Form als Leitmedium oder die Ordnung nach dem Verschwinden der Mediendispositive“, in: Annemone Ligensa/Daniel Müller/Peter Gendolla (Hg.), Leitmedien. Konzepte – Relevanz – Geschichte (Medienumbrüche 31), Bd. 1, Bielefeld: Transcript 2009.
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Rainer Leschke Medien immer vieles zugleich sind, konkret, dass es sich bei ihnen um einen spezifischen Komplex von Objekten, Praktiken und Handlungsformen handelt, und genau an diesem Komplex hat sich etwas geändert. Dass einzelne Medien im Mediensystem aufgehen und ihre Selbständigkeit verlieren, mag an sich noch nicht besonders aufregend sein. Dass es mittlerweile Schwierigkeiten macht, das Konzept von Leitmedien noch ernsthaft unter den gegenwärtigen Bedingungen zu vertreten, auch das spricht nur dafür, dass sich vielleicht das Gleichgewicht zwischen Medien und Mediensystem zugunsten des Letzteren verschoben haben mag, aber diese Veränderung im Kräfteverhältnis bedeuten noch längst nicht, dass sich am Statut der Medien etwas geändert haben muss. Das sieht im Fall des Komplexes, den ein Medium ausmacht, jedoch durchaus anders aus. Denn, wenn auf einem Computer andere Medien emuliert werden, was wird dann eigentlich zum Gegenstand der Emulation? Medien werden ganz intuitiv als eine Art Dispositiv9 begriffen, also als einen spezifischen Komplex, der Formen der Produktion, Darstellung, Distribution und Konsumtion zu einer charakteristischen, für das jeweilige Medium typischen Einheit verbindet. So kannte etwa der Rundfunk genauso eindeutig ihm zuzuordnende Produktionsformen und -techniken, wie er einen charakteristischen Content aufweist und spezifische ästhetische Darstellungsformen wie etwa das Hörspiel oder das Feature hervorgebracht hat. Darüber hinaus hat der Rundfunk besondere Darreichungsformen, also quasi Packungsgrößen entwickelt, in denen er seinen Content zirkulieren lässt. Programmschemata und die Paratexte der Medien markieren genau diese medienspezifische Konfektionierung von Inhalten für
9
Die Idee, Medien als Dispositive zu betrachten, stützt sich auf die foucaultsche Diskursanalyse. Michel Foucaults im Zuge seiner Machtanalytik entworfene Kategorie versammelt zunächst einmal schlichte Heterogenitäten, nämlich: „Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes […]. Soweit die Elemente des Dispositivs.“ (Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve 1978, S. 119 f.) Dabei ist das Dispositiv kein einfaches Sammelsurium, sondern der Effekt einer geordneten Zusammenstellung: „Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.“ (ebd., S. 120) Das Dispositiv markiert insofern den Zusammenhalt von auf den ersten Blick disparat erscheinenden Strukturen. Es geht um die „Verbindung […], die zwischen diesen heteronomen Elementen sich herstellen kann.“ (ebd.) Und um genau diese Verbindung geht es letztlich ja auch der gegenwärtigen Medienproduktion, -distribution und -rezeption in den aktuellen Mediendispositiven.
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Von der Auflösung der Medien in der Universalität der Medialität ein Medium. Dass diese dann auch eigene Archive und Repertoires mit den obligatorischen Kanonstrukturen hervorbringen, ist eine schlichte Folge dieser Voraussetzungen. Zugleich weisen die meisten Medien und so auch der Rundfunk besondere Distributionsformen auf, die in der Regel an bestimmte technische Plattformen, auf denen man die Programme laufen lassen kann, gebunden sind. Dass dazu dann auf den meisten Ebenen auch noch charakteristische Sozialformen gehören, dass jedes Medium eigene Formen der Institutionalisierung und Kontrolle und eben auch sein eigenes Publikum hervorbringt, macht das Dispositiv der Einzelmedien komplett: Das alles war also Radio10 und das Medium ist mithin ein Dispositiv, dem man nur schwer mit irgendwelchen Wesensbestimmungen zu Leibe rücken kann. Dabei sind die Formen auf jeder dieser Ebenen des Dispositivs so charakteristisch, dass das Medium, dem sie angehören, eindeutig zu identifizieren ist. Das Dispositiv bildet in diesem Sinne die Einheit des Mediums. Das Dispositiv bietet also Anlass zu jeder Menge Metonymien und diese verschiedenen Elemente des Dispositivs werden meist nicht alle mitgedacht, wenn es um die Bestimmung eines Mediums geht, sondern man versucht besonders charakteristische Momente entweder auf der Ebene des Inhalts oder aber auf der der ästhetischen Form zu finden und auf dieser Basis den Begriff eines Mediums zu entwickeln. Zu dem, was dann Medien an sich sein sollen, gelangt man in der Regel durch die Abstraktion auf Basis einer Serie solcher Begriffe von Einzelmedien. Der Begriff des Mediums gibt sich mit den Dispositiven der Medien also in der Regel nicht groß ab, er setzt sie als elementar voraus und verleibt sie ansonsten ungerührt seiner diskursiven Praxis ein. Diese großen Dispositive der Einzelmedien, die im Falle von Leitmedien nur besonders signifikant werden, sind es auch, die einen einigermaßen selbstbewussten Begriff von Medien erst denkbar werden ließen: Erst die Dispositive markieren eine Fülle, die die Unangemessenheit jener Metapher des Äthers so klar vor Augen stellen. Genau diese Dispositive, die den Knochenbau der Medien ausmachen, sind es jedoch, die von den gegenwärtigen Bewegungen im Mediensystem wieder zur Disposition gestellt werden. Die einzelnen Schichten der diversen Mediendispositive lösen sich nicht etwa auf, sondern sie werden quasi querverstrebt. Die Mediendispositive verbinden sich also auf den unterschiedlichen Stufen untereinander: Die Produktionsweisen der Realityformate des Fernsehens und der eifrige Enthusiasmus, den blutige Laien auf YouTube zur Schau stellen, werden austauschbar; Filme lassen sich nahezu auf jedem 10 Vgl. Rainer Leschke: „‚An alle‘. Von Radio und Materialismus“, in: Jens Schröter/Gregor Schwering/Urs Stäheli (Hg.), Media Marx. Ein Handbuch, Bielefeld: Transcript 2006, S. 245–259, hier S. 45 ff.
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Rainer Leschke verfügbaren Mediengerät, in jedem Format und an jedem Ort rezipieren; die einstmals sorgsam auseinandergezogenen Verwertungsketten medialen Contents haben sich so enorm verdichtet, dass die unterschiedlichen Distributionswege nahezu synchron bedient werden, so dass die Entscheidung, welcher Distributionsweg und welche Plattform denn nun jeweils genutzt werden soll, keine Frage des Mediums mehr ist, sondern in die Entscheidung der Rezipienten zurückgegeben wurde. Zumindest, was die Wahl der Plattformen, Distributionswege und z. T. eben auch des Contents anbelangt, erhält der Rezipient ausgerechnet in dem Moment eine prekäre Mediensouveränität zurück, in dem die Mediendispositive zerbrechen und unklar ist, was überhaupt noch ein Medium sein soll. Das alles hat weniger mit der Autonomie des bürgerlichen Subjekts als mit einer universellen medialen Durchdringung zu tun. Medien werden systematisch ortlos und damit gibt es auch keine Mitte mehr, in der sie sich aufhalten könnten. Die Allgegenwart des Medialen macht so weder vor den Subjekten noch vor den Medien selbst Halt: Die Medien lösen sich tendenziell in einer universell medialisierten Umwelt auf. Das Mediensystem entwickelt sich zu einer sozialen und kulturellen Infrastruktur, die sich um die Besonderheit einzelner Medien nicht mehr sonderlich schert, sondern vielmehr auf ihre ubiquitäre Verfügbarkeit, universelle Produktionsweisen und die möglichst vielseitige Verwertung von Inhalten achtet. Bemerkt wurde diese zunehmende Vernetzung im Mediensystem zunächst einmal von den Intermedialitätskonzepten, die die erweiterte Zirkulation von Stoffen und Motiven im Mediensystem beobachteten und die Bedingungen dieses Transfers analysierten. Hinter der differenzierten Analyse dieser in der Regel bilateralen Interferenzen zwischen Medien realisierte sich allerdings weitgehend unbeachtet ein grundlegender Umbau des Mediensystems: Die Vernetzung erstreckt sich nun auf alle verfügbaren Ebenen der Mediendispositive und die Vernetzung ist unabhängig von so etwas wie der Einheit eines Mediums, denn diese Einheit ist als mögliche Referenz mehr oder minder verloren gegangen. Wenn sich so etwa das Fernsehen des Distributionskanals Internet bedient und auf der Plattform PC irgendwo im Zug nach Basel rezipiert wird, dann hat das zunächst einmal keine Auswirkungen auf seine Produktionsweise, auf seine Formate, seine Inhalte und deren formästhetische Gestaltung. Betroffen von der neuen Distributionsform sind allerdings die Programmstrukturen, deren lineare temporalisierte Raster aufgebrochen werden. Die Vernetzungsstrukturen des Mediensystems sind also nicht als Verkettung von Mediendispositiven organisiert, sondern als die einzelner Stadien und Stationen dieser Dispositive. Dass Medien solcherart nicht mehr paarweise aneinandergekoppelt sind, sondern auf allen verschiedenen Niveaus ihrer Dispositive un-
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Von der Auflösung der Medien in der Universalität der Medialität terschiedliche Assoziationen zu unterschiedlichen Medien herstellen, lässt ein Geflecht entstehen, bei dem nahezu unkenntlich wird, welchem Medium denn nun welcher Rezeptionsmodus, welche Praxis oder aber welcher Content entspricht. Dass in diesem Geflecht auch die Institutionalisierungen sich z. T. massive Reorganisationen und ungewollte Vernetzungen gefallen lassen müssen, wird deutlich, wenn Telekom-Unternehmen als Rundfunkanbieter auftreten. War das Mediensystem in seiner Latenzphase, also als Heider begann, über Medien nachzudenken und Friedell die Ängste vor den Apparaten plagten, noch bestenfalls als eine lockere Koexistenz von weitgehend autonomen Mediendispositiven zu verstehen, wobei den Mediendispositiven allemal der Primat gehörte, so führte die Stabilisierung und Hierarchisierung der einstmals freien Assoziation von Mediendispositiven zu einer Art Versäulung und damit zu einer festen Fügung des Mediensystems. Dieser Phase des entwickelten, selbstbewusst gewordenen Mediensystems, das Positionen und Stellungen zu vergeben hat, korrespondieren die generellen Medienontologien, die das Ganze dann auf den Begriff zu bringen suchten. Sobald jedoch die Autonomie der Einzelmedien in dem versäulten Mediensystem in Frage gestellt wird und aus der Versäulung eine Textur wird, die zwangsläufig dann entsteht, wenn auf sämtlichen Stufen der Mediendispositive eigenständige Traversen zwischen den einstmals autonomen Medien eingezogen werden, dann verschwinden die Medien als eine relevante Einheit in eben diesen Gitterstrukturen des Mediensystems. Die einstmals durch das Mediendispositiv linear gebundenen Stationen der Produktion, des Contents, der ästhetischen Formen, der Distribution und der Plattformen sowie der Rezeptionsmodi entwickeln sich zu Knoten in einem Mediensystem. Der syntagmatische Zusammenhalt der Mediendispositive wird so paradigmatisch aufgelöst. Die spezifische Ausgestaltung der einzelnen Instanzen der Mediendispositive verliert ihre Notwendigkeit und ihre Bestimmtheit wird bedeutsam einzig vor dem Hintergrund der paradigmatisch zur Verfügung stehenden Alternativen. Diese von linearen Stationen zu Knoten umgeformten Instanzen der Mediendispositive generieren in den paradigmatischen Bezügen einen regen Austausch und machen damit für jeden Inhalt und jede medienästhetische Form jede beliebige Produktions-, Distributions- und Rezeptionsform verfügbar. Die Mediendispositive sind von daher längst nicht mehr autonom, denn es macht wenig Sinn von der Autonomie der Knoten im Netz zu reden, sind diese doch stets in das Netz eingebunden und auf paradigmatische Abstände geeicht. Wenn man nun auf die Frage zurückkommt, was denn von den einzelnen Medien im Falle ihrer Integration ins Universalmedium Computer überhaupt erhalten wird, so ist zumindest deutlich, dass
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Rainer Leschke die Emulation von Medien sich nicht um deren Dispositive schert, sondern dass sie vielmehr spezifische Kombinationen von Content und medialen Formen als das Ganze des Mediums präsentiert. Das Medium regrediert auf diesem Weg zu einer Art Restgröße des Mediensystems. Medien sind dann kaum mehr als Varianten, die irgendwann der Playmodus am iPod zur Verfügung stellen wird, oder aber historisierende Interfaces, die nach Belieben benutzt werden können. Diesen Rest kann man entweder als denjenigen Kern auffassen, der das Wesen von Medien freilege und von dem verwirrenden Ballast ihrer Dispositive befreie, oder aber man kann auf das Ende der Medien in einem hochverdichteten Mediensystem setzen. Wenn man nun vom Mediensystem die Freilegung des Wesens von Medien erhofft, indem man die Restgröße zum Wesen macht, dann affizierte das zweifellos auch die Begriffsbildung: Medien wären dann als die charakteristische Formung eines bestimmten Contentrepertoires aufzufassen oder konservativer formuliert als eine spezifische Mischung von Sinn und Form. Sie wären damit im Prinzip den traditionellen Gattungsbegriffen der Literatur gleichgestellt. Die klassischen Medien regredierten so nach dem Verlust ihrer technischen Grundierung und der Autonomie ihrer Dispositive zu bloßen Gattungen des Mediensystems. Dass die Medienphilologie durchaus in der Lage ist, mit einem solchen Begriff von Medien umzugehen, hat sie allein schon dadurch bewiesen, dass sie Medienprodukte entgegen den Vorstellungen der Medienontologien ohnehin selten anders denn als ein Objekt von Interpretation und damit als Exemplare einer neuen Gattung behandelt hat. Medientheorie allerdings kann sich mit einem solchen Rückzug kaum zufrieden geben, da sie so Gefahr laufen würde, das einst so mühselig erarbeitete Wissen über die Mediendispositive preiszugeben. Dann jedoch verabschiedet man sich von der Restgröße der Medien und die Auseinandersetzung um ihren Begriff macht auch keinen sonderlichen Sinn mehr: Die Sache hat sich offensichtlich historisch erledigt. Dass die Probleme und gerade auch die des Begriffs dadurch keineswegs geringer werden, sondern dass sich allenfalls die Größenordnung verändert hat, wird spätestens dann deutlich, wenn der Objektbereich bestimmt wird, mit dem es Medienwissenschaft nunmehr zu tun hat. Auf der Basis von Froschschenkeln über das Wesen von Fröschen nachzudenken verbietet sich ähnlich wie auf der Basis von Formaten Medien bestimmen zu wollen und mehr steht uns gegenwärtig leider nicht zur Verfügung. Nachdem der Medienbegriff offensichtlich obsolet geworden ist, hat man sich unweigerlich mit Logik und Begriff eines hoch verdichteten und integrierten Mediensystems auseinanderzusetzen. Insofern hätte sich das alte Pluraliatantum Medien letztlich doch noch
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Von der Auflösung der Medien in der Universalität der Medialität durchgesetzt, allerdings in der reflexiven Gestalt eines komplexen Mediensystems, das als Einheit nicht mehr sinnvoll zu unterschreiten ist. Einzelmedien sind kaum mehr als historische Reminiszenzen und auch der dubiose Charme von Volksempfängern und Fernsehtruhen ist erheblich verblasst. Was ein Medium ist oder sein kann, interessiert gegenwärtig eigentlich nur noch die Juristen, die die Reste der alten Medien aufräumen und die jeweiligen Anteile der Einzelmedien am neuen Unternehmen Mediensystem berechnen müssen. Medienwissenschaft orientiert sich demgegenüber an dessen Dynamik. Und Hegel hätte mit seiner Bemerkung aus der Rechtsphilosophie auf eine fatale Weise recht behalten: das Wissen kommt, wenn es um das Objekt geschehen ist, und zugleich fällt es einigermaßen prosaisch aus, nämlich dass es eigentlich nur für einen historisch vergleichsweise bescheidenen Zeitraum Sinn gemacht hat, exklusiv über Medien nachzudenken und dass das Ganze zu einer Reflexion von Mediensystemen führte und führen musste. Insofern ist die Karriere des Medienbegriffs an den Aufstieg und eben auch den Fall der Medien im Mediensystem gekoppelt – bis hin zu ihrem Verschwinden in der Universalität der Medialität.
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Kinematographie und Medialitätsphilosophie in Orson Welles’ Film „Im Zeichen des Bösen“ LORENZ ENGELL Geht es um den Grenzgang zwischen Theorie und Philosophie der Medien oder um das Verhältnis zwischen Medienforschung und Medialitätsforschung, dann sind beide Dichotomien nicht nur von methodischem Gewicht, sondern tragen wissenschaftspolitische Konsequenzen. Im Folgenden möchte ich, dieser Konsequenzen stets, wenn auch ungenannt, eingedenk, beide miteinander verschränken. Ich möchte zeigen, wie die Medialitätsphilosophie eines bestimmten und konkreten Mediums, nämlich des Films, aussehen könnte. Ich möchte ein konkretes Medienprodukt, Orson Welles’ „Im Zeichen des Bösen“, als einen Beitrag dazu lesen. Dieser Film, so die These, weiß etwas über die Medialität des Films, und genau deshalb leistet er einen medienphilosophischen Beitrag. Ob zutrifft, was dieser Film weiß über die dem Kinematographischen einbeschriebene Medialität, das will ich dabei gar nicht behaupten, sondern nur, dass er es behauptet.
I Der Begriff der Medienphilosophie taucht seit einigen Jahren in leichter Häufung auf, er hat ein gewisses Publikum, eine kleine Konjunktur gefunden.1 Es wird, unter anderem, diskutiert, ob Medienphilosophie eher eine neue Unterdisziplin der Philosophie sein soll oder aber eine Spezialisierung innerhalb der Medienwissenschaft. Und wenn es, wie wohl die Mehrheit sagen würde, eher ein neues Teilgebiet der Philosophie ist, wie ist Medienphilosophie dann bestimmt? Handelt es sich um eine neue Art, philosophische Fragen zu stellen, oder einfach um ein neues Gegenstandsfeld der Philosophie? Was soll das also sein, die Medienphilosophie, was kann sie 1
Vgl. zur Übersicht Stefan Münker/Alexander Roesler/Mike Sandbothe (Hg.): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt a. M.: Fischer 2003.
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Lorenz Engell leisten, wie könnte sie aussehen, insbesondere im Verhältnis zur Medientheorie? Mein Vorschlag ist Medienphilosophie zu begreifen als die Lehre von den Werkzeugen des Denkens und – das ist vermutlich das Entscheidende – vom Denken der Werkzeuge. Die Umkehr von den Werkzeugen des Denkens zum Denken der Werkzeuge ist kein beliebiges Wortspiel, sondern hat recht dramatische Konsequenzen.2 Die einfachste dieser Konsequenzen, auf die ich mich im Folgenden immer wieder beziehen möchte ist, dass das Denken und das Bewirken, also das Handeln, und das heißt schließlich: das Bewegen und Verändern offenbar nicht mehr voneinander unterscheidbar sind, wenn wir vom Denken der Werkzeuge sprechen. Werkzeuge sind unhintergehbar praktisch, dem Handeln einbeschrieben, Teil der kartesischen res extensa; wenn wir sie aber denken lassen, dann haben sie Anteil an der kartesischen res cogitans. Reflexion und Handlung, Denkbewegung und Außenbewegung überlagern, Bewusstsein und Ding ebenso. Diesen Vorschlag von der Medienphilosophie als Denken der Werkzeuge und mithin der Dinge will ich hier kurz begründen und anhand eines Beispiels, nämlich eines Films, eines bewegten Bildes, illustrieren. Ich möchte dafür argumentieren, im Film ein Werkzeug des Denkens zu sehen, vor allem aber zweitens – die Arbeit eines Denkens des Films selbst zu beobachten. Ausgerechnet der Film soll es aus verschiedenen Gründen sein, und ich nenne davon drei: Der wichtigste und zugleich ein sehr trivialer Grund ist, dass ich vom Film einfach mehr weiß als über alle anderen Medien; und ich glaube auch, dass das nicht nur für mich gilt. Anders als andere Medien hat der Film schon lange eine eigene Wissenschaft hervorgebracht, die Filmwissenschaft. Die Theorie des Films ist eine besonders gut ausgebaute spezielle Medientheorie, von der man viel Nutzen für eine Philosophie der Medien erwarten kann. Wenn nämlich die Philosophie eines Mediums die Denkarbeit dieses Mediums sein soll, die ja nicht in Begriffen, Sätzen und Schlüssen verfährt, sondern in Operationen, wie sie spezifisch sind für dieses Medium, dann ist die Theorie dieses Mediums, der es ja immer schon darum zu tun war, derlei mediale Operationen begrifflich zu fassen und zu rekonstruieren, geeignet, diese Denkarbeit freizulegen und begrifflich für uns aufzuschlüsseln. Etwa ist dem Film schon bei den Klassikern der Filmtheorie, bei Balázs, Kracauer und Bazin, zugeschrieben worden, dass er dem 2
Dies folgt den grundlegenden Untersuchungen Bruno Latours zur Beziehung von Erkenntnis und dinglichen Erkenntniswerkzeugen in der Wissenschaftsgeschichte in: Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002; vgl. auch Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Göttingen: Walstein 2002.
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Kinematographie und Medialitätsphilosophie Handeln, dem handelnden Menschen, seiner äußerlich sichtbaren und wirksamen Aktivität und seiner Verquickung mit den Dingen und Werkzeugen zugewandt sei, weniger dagegen dem reflektierenden, rein denkenden, als Innerlichkeit gedachten Subjekt.3 Offenbar, so jedenfalls die Reflexionsresultate der Filmtheorie, hat der Film die in der Medienphilosophie kritisch werdende Unterscheidung in das denkende Bewusstsein und die bedachte Dingwelt nie in dieser Form vollzogen. Béla Balázs’ berühmte Metapher vom „Gesicht der Dinge“ wäre ein Versuch, dies zu formulieren. Zweitens möchte ich mich nicht mit der Frage auseinandersetzen, was ein Medium genau sei.4 Es soll hier nicht um eine philosophische Bestimmung des Medienbegriffs gehen – obwohl das auch wichtig wäre, und ich komme gleich noch einmal darauf zurück. Ich gehe praktischerweise davon aus, dass wir alle eine Art Vorverständnis davon haben, was ein Medium sei, und dass der Film von diesem Vorverständnis erfasst ist. Wir können uns bestimmt mühelos darauf verständigen, dass der Film ein Medium ist (selbst dann, wenn wir noch nicht einmal genau definieren können, was eigentlich „der Film“ ist). Damit ist auch gesagt, dass ich im Folgenden nicht von vornherein bei der abstrakten und begrifflichen Dimension des schlechthin „Medialen“ als unbeobachtbares gedachtes Substrat aller konkret fassbaren Medien ansetze, zunächst nicht bei dem beginne, was, so der Prager Philosoph Jiri Bystricky, „im Rücken“ der Subjekte und Objekte jedweder Beobachtung und Beschreibung immer schon vorhanden sein muss, ohne jemals beobachtet und beschrieben zu werden,5 und was wir mit Charles Sanders Peirces Philosophie der Zeichen und ihrer Kategorienlehre als „Erstheit“ charakterisieren oder mit dem Medienbegriff Niklas Luh3
4 5
Béla Balázs: Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films [1924], Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, hier S. 29–84; Siegfried Kracauer: Theorie des Films [1960], Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979, hier S. 53–95 u. 309–315; André Bazin: Was ist Film? [1954], Berlin: Alexander 2004, hier S. 75–110. Siehe dazu in aktuellem Überblick Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.): Was ist ein Medium?, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. „Das Subjekt konstruiert, es beteiligt sich aktiv an dem, was es erkennt und verdrängt damit unabsichtlich die Voraussetzungen, genauer gesagt die ‚Vor-Formatierungen‘ dieser Konstruktion in den Hintergrund, außer Reichweite des Erscheinenden. Gewöhnlich gehen wir von der Vermutung aus, dass das Subjekt in diesem Prozess die endgültige Instanz, Ausgangsund gleichzeitig Endpunkt der Arbeit am Objekt ist und fragen nicht mehr, ob das Subjekt selbst nicht vielleicht […] etwas wie einen verborgenen Hintergrund braucht, um die Produkte der Aktivität des Subjekts als Objekte hervorbringen zu können […] und genau auf diesem Hintergrund sprechen wir von Medialität.“ Jiri Bystricky: Denkbare Hintergründe, in: International Flusser Studies 5 (2007), S. 6, http://www.flusserstudies.net vom 2.9.2009.
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Lorenz Engell manns als das Medium im Unterschied zur Form eintragen könnten6. Was das Verhältnis zwischen Medium und Medialität oder Medialem angeht, so möchte ich vorschlagen, ein Medium als ein Instrument zur Beobachtung von Medialität zu begreifen. Medialität, so die These, ist allenthalben wirksam und kann überall angenommen werden. Aber beobachtbar wird sie nur da – und auch das, wie wir sehen werden, nur ansatzweise –, wo sie im Wege der Rückkopplung und Rückbezüglichkeit und Rückwärtsbewegung zu sich selbst ins Verhältnis tritt. Medien sind genau die Orte und Instanzen, an denen und durch die dies geschieht, wo ein Wissen der Medialität entsteht, gehegt und beobachtbar wird und also Medialitätsphilosophie sich ereignet. Deshalb steht Medialitätsforschung und besonders Medialitätsphilosophie in keiner Weise im Widerspruch zur Medienforschung und Medienphilosophie, und deshalb kann und muss auch eine kulturwissenschaftliche Medialitätsforschung über Medien, über konkrete, benennbare, einzelne Medien sprechen. Und drittens hat der Film den Vorteil, nicht gerade zu den traditionellen Werkzeugen der Philosophie zu gehören. Die traditionellen Werkzeuge der Philosophie sind natürlich die Begriffe und Sätze und Schlüsse. Die Begriffe und Sätze und Schlüsse aber sind, wenn sie geäußert werden (und nur mit Äußerlichem, mit res extensa, hat es die Medienphilosophie zu tun), vor allem an das Medium der Sprache, an das Medium der Schrift, an das Medium des gedruckten Wortes gebunden. So weit es das Denken der Werkzeuge betrifft, kann man die Philosophie sogar als das Denken (und das kann heißen: das selbstreflexive Handeln) der Sprache begreifen. Das, was wir unter „Philosophie“ verstehen, würde dann sogar als eine besondere Form der Medienphilosophie erscheinen, nämlich als Medienphilosophie der Sprache. Das Verhältnis zwischen Allgemeinerem und Besonderem hätte sich ungekehrt. So eng ist die Verbindung der Philosophie mit den Sprach- und Schriftmedien, dass wir uns eine andere als eine in diesen Medien verfahrende Philosophie kaum vorstellen können. Über kein anderes Medium hat die Philosophie bisher so intensiv nachgedacht wie über Sprache und Schrift. Schon über das in Buchform gedruckte Wort und seine Eigenheiten allerdings hat sie bisher fast nichts zu sagen. Sie hat sogar versucht, andere Medien immer wieder – so etwa das Credo des Strukturalismus – unter den Begriff der Sprache nach dem Muster der 6
Charles Sanders Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, S. 54–63; Ders.: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, S. 358 f. u. 373 ff.; Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 197–202; vgl. auch Jörg Brauns (Hg.): Form und Medium, Weimar: VDG 2002; Fritz Heider: Ding und Medium [1926], Berlin: Kadmos 2005.
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Kinematographie und Medialitätsphilosophie Verbalsprache zu subsumieren.7 Wenn wir uns heute mit dem Denken des Films befassen als einem in spezifischer Weise sichtbaren, hörbaren, wirksamen und handelnden „äußeren“ Denken, dann rücken wir die Medienphilosophie aus diesem Umkreis heraus. Schon daran sehen wir, dass wir mit der Formulierung „Medien des Denkens und Denken der Medium“ den Boden traditioneller Philosophie verlassen. Die Medienphilosophie ist deshalb auch, das möchte ich versuchen plausibel zu machen, eigentlich kein Feld der Philosophie, so wie wir sie kennen, sondern eher ein Komplement zu ihr, ein Ergänzungsbau auf der Grundstücksgrenze.
II Und damit kommen wir schon zum zweiten Teil, zur Durchführung unseres Vorschlags an einem beispielhaften Film. Es handelt sich dabei nicht nur um einen der am besten beleumundeten Filme der gesamten Filmgeschichte, sondern namentlich um einen der berühmtesten Filmanfänge, nämlich um die ersten drei Minuten aus Orson Welles’ Film „Touch of Evil“ aus dem Jahre 1958. Dieser Filmanfang ist in einer einzigen, langen Einstellung, eben einer Sequenzeinstellung (oder „Plansequenz“), realisiert. Die Einstellung zeigt, wie sich zwei verschiedene Paare ganz unabhängig voneinander, aber nahezu gleichzeitig auf einen Grenzposten in einer Kleinstadt an der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten zu bewegen, an der Grenze kontrolliert werden und sie schließlich passieren; das eine Paar zu Fuß, das andere im Auto. In dem Kofferraum des Wagens tickt eine Bombe, wir haben gleich zu Beginn gesehen, wie sie dort hineingelegt wurde. Mit der Detonation der Bombe endet die Einstellung. Die Sequenzeinstellung („Plansequenz“) ist eine kanonisierte filmische Form; es handelt sich dabei um eine ununterbrochene, lange Filmaufnahme (hier eben: 3 Minuten 12 Sekunden lang), in der verschiedene Handlungen nebeneinander sich entfalten. Besonders André Bazin hat sich um die Theorie der Sequenzeinstellung verdient gemacht, die er als ein Signum des modernen Films namentlich der vierziger und fünfziger Jahre erkannte.8 Bei Welles geht es einmal um die Fahrt des Bauunternehmers und seiner Freundin im Auto zum Grenzposten. Zugleich sehen wir den Weg des Ehepaares Vargas über die Grenze. Dazu kommt als Drittes die Platzierung der 7
Vgl. Roland Barthes: Elemente der Semiologie, Frankfurt a. M.: Athenäum 1979; Ders.: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972; siehe auch Günther Schiwy: Der französische Strukturalismus, Reinbek: Rowohlt 1977.
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A. Bazin: Film, S. 75–90.
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Lorenz Engell Bombe und ihr fortlaufendes Ticken. Und schließlich laufen zahllose kleinere Handlungen, buchstäbliche Querhandlungen, in das Bild und durch das Bild, die dem Umfeld, dem Milieu der Handlung zugehören, aus dem die handelnden Figuren hervorgehen, mit dem sie interagieren und das sie verändert und das sie verändern werden. Diese Querbewegungen verbinden sich nun ganz organisch und unthematisch mit den Bewegungen der Hauptfiguren, halten sie auf, verbinden und trennen sie und bilden mit ihnen schließlich eine gemeinsame Gesamtbewegung. Entscheidend wird hier aber, dass durch die Kamerabewegung eine weitere Handlung hinzukommt. Die Kamera bewegt sich frei im Raum auf die Bildobjekte zu und von ihnen weg; sie erzeugt so, allein durch ihre räumliche Artikulation und ihre Stellung im Raum, ohne eigentlichen Brennweitenwechsel, Großaufnahmen, (Halb-)Totalen und Weitaufnahmen (Beispiele: Die Bombe, die Straßenszene, der Dialog an der Grenze). Charakteristisch ist, dass die Kamera dabei genau denselben Raum benutzt, den sie auch zeigt. Sie bleibt nicht außerhalb dessen, was sie sichtbar macht. Die Kamera ist zwar im Bild nicht sichtbar, aber dennoch vorhanden, und sie trägt sich ins Bild ein. Denn die Kamera beschreibt einen eigenen Weg, eine eigene Trajektorie durch einen Raum, den sie dabei zugleich erst erzeugt: den damit notwendig bewegten Bildraum; sie markiert also eine weitere und ganz wesentliche Bewegung. Sie folgt den Bildobjekten (fahrendes Auto), aber nicht durchweg, etwa nimmt sie einen weiten Bogen durch die Luft und vorn um die Gebäudeecke herum, während das Auto hinten durch die Arkaden fährt. Sie fährt weiter, wenn das Auto aufgehalten wird, und bleibt zurück, wenn es schneller wird. Sie nimmt die zweite Bewegung (Vargas) auf. Sie eilt dabei allen Bewegungen stets voran; bis zum Schluss in dem die Sequenzeinstellung beendenden Umschnitt, der die Explosion ins Bild bringt, die wir am Ende der Sequenzeinstellung bereits hören konnten, aber noch nicht sehen, weil sie sich in unserem (und der Kamera) Rücken zuträgt, und der wie ein Blick in den Raum hinter der Kamera wirkt. Diese Rückwärtsbewegung der Kamera ist außerordentlich wichtig und unterscheidet diese Plansequenz von vielen vergleichbaren Sequenzen, etwa bei Jean Renoir oder bei Andrei Tarkowski oder in Altmans „The Player“, die allesamt als Lateralfahrten angelegt sind. Wir kommen darauf zurück. Hier soll der Hinweis genügen, dass die Medialität, so Bystricky, genau das ist, was stets in unserem Rücken operiert. Die Kamerabewegung hüllt die zahlreichen anderen Bewegungen, darunter die drei Hauptstränge, ein und ist doch selbst eine Bewegung; sie vermittelt die anderen aneinander und ist selbst etwas Eigenes, Drittes. Wahrnehmen können wir die Kamerabewegung jedoch nur als Bewegung des Bildes, vor allem des Bildrah-
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Kinematographie und Medialitätsphilosophie mens.9 Dass es überhaupt die Kamera sei, die sich bewegt, das ist natürlich eine Hypothese, die wir anstellen. Wir wissen, wie Filme gemacht werden, und schließen deshalb auf die Kamera, aber dieser Schluss ist nur ein bedingter Schluss. In unserem Denken führen wir das, was wir sehen, auf eine Ursache zurück, die wir dann kompakt in einer Art Blicksubjekt zusammenfassen, das wir Kamera nennen und in das wir eigentlich uns selbst, unser Zuschauerauge nämlich, hineinimaginieren. Aber eigentlich zu tun haben wir es nicht mit der Kamera, sondern mit dem Bild selbst, jedenfalls mit dem wichtigsten Bestimmungsstück des Bildes, mit dem Rahmen. Der Rahmen des Bildes tritt uns hier als Bewegungsinstanz eigenen Rechts und eigener Funktion entgegen, indem die Relation zwischen dem Rahmen und dem im Bildfeld Sichtbaren sich unausgesetzt verschiebt. Diese Verschiebung hat zudem eine durchgehende Richtung. Wenn wir den – normalerweise unsichtbaren, überbrückten – Zwischenraum zwischen der Bildebene und dem Kamerastandpunkt mit Dominique Bluher als das „Avant-Champ“ bezeichnen, dann dringen die Bildobjekte hier ständig aus einem paradoxen Rückraum dieses Avant-Champ durch das Avant-Champ hindurch in den Bildraum ein. Und entsprechend verläuft die Bewegung des Bildes hier, vermittelt durch dieses ununterbrochene Eindringen von Sichtbarem aus dem Bereich jenseits der Bildgrenzen, in den Rückraum, den des nicht sichtbaren Medialen, hinein. Und genau dadurch, dass es sich in dieser Weise bewegt, wird das Bild, das wir sehen, als Bedingung der Sichtbarkeit zu einem sichtbaren Teil des Bildes, das wir sehen. Wir können uns diesen Sachverhalt und seine Implikationen an der Beziehung zwischen Blick und Bild deutlich machen. Normalerweise unterscheiden wir zwischen Blick und Bild wie zwischen Subjekt und Objekt. Wir können dann im Film allerlei Komplikationen ausmachen, etwa können Blicke im Bild selbst vorkommen und durch das Bild, namentlich durch die Montage im Schnitt-Gegenschnitt-Verfahren, sichtbar gemacht werden. Slavoj Zizek und vor ihm andere haben gezeigt, wie dadurch auch Zuschauerblick und Filmbild vernäht und sogar Subjekt-Objekt-Relationen aufgehoben werden können.10 Im Film können die Objekte des Blicks ihrerseits blicken – was Du ansiehst, sieht Dich an. Hier aber, bei Welles, geschieht etwas anderes, weiteres. Nicht nur das Bildobjekt, ein Gesicht, ein Gegenstand im Bild, sondern das Bild selbst wird zum Blick, genauer: der Blick wird zum Bild, und zwar eben durch die und in der Rückwärtsbewegung. Nicht also weicht hier der Blick vor dem Bild, das sich ihm dar9
Vgl. Pascal Bonitzer: Decadrages. Peinture et cinéma, Paris: Étoile/Seuil 1982; siehe auch A. Bazin: Film, S. 224–230. 10 Slavoj Zizek: Die Furcht vor echten Tränen. Krzystof Kieslowski und die „Nahtstelle“, Berlin: Volk und Welt 2001, S. 11–42 und passim.
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Lorenz Engell bietet, zurück, wie Benjamins Engel der Geschichte, der von den Schrecknissen, ihnen zugewandt, vor sich hergetrieben wird. Sondern der Blick erzeugt ein Bild seiner selbst, indem er seinen eigenen Ort, der ihn vom Bild getrennt hielt, aufgibt, in Bewegung setzt und kontinuierlich ins Bild senkt. Welles handelt von den Schrecknissen, die im Rücken des Engels noch auf ihn warten, ihn ansaugen, und die er, als historischer Engel, nicht sehen kann. Er entspricht so eher dem Perseusspiegel bei Siegfried Kracauer, der erstens in die Zukunft schaut und zweitens das Schrecknis des Blicks selbst ins Blickfeld rückt und den Blick zum Erblickten im Rücken des Blicks macht.11 Nicht umsonst geschieht aber die Reflexion hier als ununterbrochene, fließende Bewegung in den rückwärtigen Raum. Wir kommen damit abschließend zurück zur Frage nach der Medialität des Films. Die Plansequenz ist ja nicht einfach nur ein ruhendes Bild, eine andauernde Aufnahme etwa eines unbewegten Panoramas, sondern ein bewegtes, ein sich bewegendes und damit handelndes. Der ununterbrochene Bewegungszusammenhang ist eine Hauptdomäne des Filmbildes als desjenigen Bildes, das Bewegung durch Bewegung zu codieren vermag und das deshalb die Veränderung, den Wandel, nicht nur als Differenz von Vorher und Nachher – in der Montage – zu zeigen vermag, sondern in ihrer unhintergehbaren Kontinuität als Different-Werden erfahrbar macht.12 Und genau deshalb kann in der Plansequenz in besonderer Weise die Einkehr des Blicks in sich selbst als Bild geschehen, als kontinuierliche Bewegung. Das wird besonders deutlich, wenn unser Beispiel diesen Vorgang kontrastiert durch eine flagrant inszenierte Rückkehr zur Diskontinuität. Denn das Blickregime der fließenden Rückwärtsbewegung endet abrupt mit dem Moment des Umschnitts am Schluss der Sequenz. Wenn die Detonation hörbar wird, folgt der Gegenschnitt, der uns nunmehr in ganz konventioneller Weise zeigt, was die Figuren sehen, und der die Hierarchie von Blicksubjekt und Bildobjekt wieder herstellt. Die Einkehr des Blicks in sich selbst als Bild bedarf der Bewegung, denn eben durch die Bewegung, und das heißt: Durch die Zeit, die mit der Bewegung unvermeidbar und unmittelbar artikuliert wird, kann die logische Paradoxie überwunden werden, die mit allen Figuren der Selbstreflexion normalerweise verbunden ist.13 Sie ergeben sich immer dann, wenn ich Selbstreflexion rein differentiell 11 S. Kracauer: Theorie, S. 395. 12 P. Bonitzer: Decadrages, S. 84. 13 Siehe dazu Yves Barel: Le paradoxe et le système, Grenoble: Presses universitaires 1989; vgl. dazu auch im Überblick ausführlich Douglas F. Hofstadter: Gödel, Escher, Bach. Ein endloses geflochtenes Band, Stuttgart: Klett 1985.
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Kinematographie und Medialitätsphilosophie in einer Logik des Raumes fasse als eine Beziehung abgegrenzter, verfasster Formen, wie es Bilder, Begriffe oder auch Systeme sind. Das Bild des Films dagegen ist nicht stabil, und es reflektiert sich auch nicht als stabiles, sondern im Gegenteil, als stets sich wandelndes, als Bild des Wandels. Es erfasst sich nie als das, was es ist, sondern stets als das, was es gerade im Begriff ist zu werden, und kann deshalb eben diesen „Begriff“, den es von sich selbst immer neu produziert, fortlaufend einspeisen in das, was aus ihm gerade wird.14
III Das Filmbild, ein Artefakt, das uns als physischer Wahrnehmungsgegenstand gegenübertritt, arbeitet hier also an einer Bestimmung dessen, was es selber ist. Es erbringt damit eine der Philosophie funktional äquivalente Leistung außerhalb der Philosophie. Dieses Außerhalb ist dann auch markiert dadurch, dass es mit äußerer Beweglichkeit, Sichtbarkeit und sogar mit einer physischen Handlung, nämlich eben der Bildhandlung, erst möglich wird. Wenn das Filmbild hier also gleichsam handelnd nachdenkt über das, was es selbst ist, wie fällt dann im vorliegenden Fall diese Bestimmung des Filmbilds aus? Dann bestimmt sich das Filmbild auf zweierlei Weise zugleich. Zum einen behandelt es sich als in das Bild eingekehrter Blick. Zum anderen aber und zugleich damit bestimmt es sich, wie wir auch gesehen haben, medienphilosophisch als dasjenige Medium, das diese Bestimmung erst sichtbar und damit möglich macht, und zwar durch seine Beweglichkeit in den Rückraum hinein, eine Beweglichkeit, die, selbst medial, immerzu vom Medium in die Medialität zurück führt. Es geht hier also, wie wir gesehen haben und wie auch schon Bazin es in den Filmen seiner Zeit sah, die durch den bisweilen spektakulären Einsatz der Plansequenz auffielen,15 um das Nebeneinander des Verschiedenen; um das Nacheinander des Verschiedenen und um den Unterschied zwischen Neben- und Nacheinander; es geht um Vielheit und Rekursivität. Und genau dieses Nebeneinander, dieses Nacheinander und diese Rückläufigkeit führt der Film hier nicht nur aus und durch, sondern er holt sie auch in das Bild und die Beziehungen der Bildobjekte zueinander, ins Sichtbare und Diegetische, herein. In unserem Fall laufen zwei Gespräche und zahlreiche Handlungen gleichzeitig; dazu kommt der dichte Ton14 Y. Barel: Paradoxe; siehe auch Jean Pierre Dupuy: Les paradoxes de l’ordre conventionnel, in: Système et paradoxe. Autour de la pensée d’Yves Barel, Paris: Seuil 1993, S. 107–123. 15 A. Bazin: Film, S. 104–109.
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Lorenz Engell raum, der auch noch das akustische Umfeld, den Umraum des visuellen Raumes einbezieht und der etwa durch eine starke, suggestive Musik durchzogen wird, von der wir nie genau wissen, ob sie eigentlich dem Bildraum (oder dem diegetischen Raum) zugehört oder nur für uns im Zuschauerraum zu hören ist.16 Die Musik und die Geräusche überlagern zudem mit durchaus wichtigen Dialogpassagen; sie drängen dann das Wort zugunsten des bloßen Klangs an den Rand. Hierin können wir im Übrigen gleich zwei Prozesse in der Richtung auf eine Philosophie der Medien erkennen: zum einen eine Verschiebung von der Form zum Medium, weg von der festen (und semantisierten) Form hin zu bloßer „Erstheit“, zu Materialität und Medialität; und zum anderen eine Verschiebung vom privilegierten Ausgangspunkt der Sprache als Vorzugsmedium der gedanklichen Äußerung hin zur sinnlichen Präsenz des Klanglichen und Filmischen. Die irreduzible Gleichzeitigkeit des Verschiedenen, nicht als Vermutung oder gedanklicher Schluss – wie etwa bei der Montage –, sondern als Evidenz, überschreitet die gegliederte, eben im zeitlichen Nacheinander zu entfaltende diskursive Logik Darauf jedenfalls besteht André Bazin, der immer wieder als Hauptzeuge einer Philosophie der Plansequenz (oder der Betrachtung der Plansequenz als filmphilosophische Figur) aufzurufen ist. Zugespitzt vielleicht und zweifellos stark überzeichnet ließe sich sagen: Was Verschiedenheit in der Gleichzeitigkeit überhaupt ist, das können wir begrifflich und im Schatten wissenschaftlicher Theoriesprache – oder, nach Bystricky, mit der logisch-diskursiven Sprachlichkeit „im Rücken“ – nicht denken. Aber wir können es dennoch filmisch reflektieren. Der Film kann, so die Behauptung dieser Beispielsequenz, nichts erfassen, was sich nicht wandelt (oder wandeln könnte). Er kann aber in Sonderheit nichts betrachten und nichts denken, ohne es zu verändern. Er muss dadurch immer Teil der Welt sein, die er bedenkt, indem er an ihr und in ihr Handlungen vornimmt. Er tritt der Welt nicht wie das neuzeitliche Subjekt von außen entgegen, sondern gehört ihr stets schon an, und zwar, indem er sie manipuliert oder gar überhaupt erst fortlaufend erzeugt und sich damit stets selbst fortlaufend erzeugt. Und genau diese Bewegung macht die Medialität des Films als Medium aus. Die Welt des Films, so wie sie hier vorgestellt wird, ist eine eminent plastische und generative Welt. Das bedeutet auch, dass der Film, in dem Moment, wo er sich selbst erfasst, auch stets selbst verändert oder doch als veränderlich erfasst. Er kann, so will es unser Beispiel, sich nicht betrachten, ohne in sich selbst, einzugreifen, d. h. hier, vor sich zurückzuweichen. Der Film schreibt nicht fest, sondern er schreibt fort. Sei-
16 Michel Chion: Le son au cinéma, Paris: Étoile/Seuil 1985.
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Kinematographie und Medialitätsphilosophie ne Philosophie ist deshalb auch immer eine Philosophie des Wandels und des unausgesetzten Werdens und Vergehens; und noch dazu eine, die den Wandel begreift, indem sie ihn selbst hervorbringt, und zwar an sich selbst hervorbringt. Deshalb kann man, ausgehend von Welles, den Film als Bild von seinem Rückraum und als Medium von seiner Medialität nicht wirksam unterscheiden. Die Untersuchung des Mediums Film führt uns immer in jenen Bereich im Rücken des Mediums, den wir, wie gesehen, mit Bystricky „Medialität“ nennen können (oder eben mit Peirce „Erstheit“ oder auch mit der Terminologie Luhmanns als Medium im Gegensatz zur Form begreifen). Es wäre deshalb vermutlich auch gar nicht richtig, überhaupt von „der“ Philosophie „des“ Films zu sprechen. Möglicherweise liegt hierin überhaupt der Appell des Films an die Philosophie, dass sie nicht fragt, was die Dinge und die Begriffe und die Medien seien, wie man sie definieren könne, sondern vielmehr: wie sie werden, wie sie sich verändern und vergehen, kurz: wie sie handeln und dabei eben die Medialität reproduzieren, die sie produziert.
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II Ästhetik
„Io sono sempre vista“. Das Unheimliche dies- und jenseits des Bildes JOHANNES BINOTTO „Er wird sich wundern, wie dieser Blick sich unbeweglich bewegte.“ Nikolaus von Kues: Vom Sehen Gottes1
Um die Wirksamkeit von Bildern zu erklären, scheint sich das von Henri Wallon 1931 erstmals beschriebene und von Jacques Lacan in den Dreißiger und Vierziger Jahren theoretisch ausgearbeitete Spiegelstadium anzubieten. Damit ist bekanntlich jener Moment in der Entwicklung des Kleinkindes gemeint, in dem dieses erstmals das eigene Bild im Spiegel erkennt. Ein Bild, mit welchem sich das Kind voller Begeisterung identifiziert.2 Dass sich dieser Vorgang indes nicht nur auf einen Moment der Kindheit beschränkt, macht der 1951 vor der British Psycho-Analytical Society gehaltene Vortrag „Some Reflections on the Ego“ klar, in dem Lacan das Spiegelstadium als Matrix einer „grundsätzlichen libidinösen Beziehung zum Körper-Bild“ vorstellt.3 Der Hinweis Lacans, dass es sich beim Spiegelstadium weniger um einen einmal vollzogenen Entwicklungsschritt handelt, sondern vielmehr um eine sich wiederholende psychische, ja sogar ontologische Operation, hat beispielsweise Filmtheoretiker darin bestärkt, das Spiegelstadium als Paradigma für die Verführungskraft von Bildern anzusehen.4 Doch wird bei solcher Verwendung des lacanschen Konzeptes regelmäßig sein vielleicht 1 2
Nikolaus von Kues: Vom Sehen Gottes [1453], Zürich: Artemis 1987, S. 10. Vgl. Jacques Lacan: „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“, in:
3
Ders., Schriften I, Weinheim: Quadriga 1986, S. 61–70; Ders.: „Die Familie“, in: Ders., Schriften III, Weinheim: Quadriga 1986, S. 39–100. Jacques Lacan: „Some Reflections on the Ego“, in: International Journal of
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Psychoanalysis 34 (1953), S. 11–17 hier S. 14. Zur Kritik der Verwendung lacanscher Psychoanalyse in der Filmtheorie siehe Joan Copjec: Read My Desire. Lacan against the Historicists, 2. Aufl., Cambridge: MIT Press 1995, S. 15–38.
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Johannes Binotto wesentlichster Aspekt übersehen: Das Spiegelstadium beschreibt nicht nur die Macht der Bilder, sondern auch die Begrenztheit der Macht, genauer: ihren blinden Fleck. Denn neben Kind und reflektierendem Spiegel gibt es im Setting des Spiegelstadiums eine weitere Position, die gerne unterschlagen wird, jene nämlich des bestätigenden Dritten. Diese dritte Instanz5 (etwa die Mutter) ist es, die dem fragenden Blick des Kindes antwortet: „Ja, das da im Spiegel bist Du“. Freilich steckt in dieser Bestätigung eine Paradoxie. Würde nämlich ein Bild im Spiegel allein genügen, um das Kind vollständig zu repräsentieren, bräuchte es gar nicht erst die Beglaubigung durch eine dritte Instanz. Die Bestätigung „Das bist Du“ hingegen überdeckt und markiert genau jene Lücke des Bildes, an der sich der Zweifel festmacht – der Zweifel, ob das da im Spiegel tatsächlich man selbst ist. Die Bestätigung näht die Lücke des Bildes zu, macht diese aber im gleichen Zug als Nahtstelle, als Narbe wahrnehmbar. Genau darin liegt gemäß der psychoanalytischen Theorie die identifikatorische Macht von Bildern, oder allgemeiner des Imaginären: Anstatt das Subjekt restlos zu repräsentieren, lässt es notwendigerweise etwas ausgespart. Identifikation – so möchte man verknappt formulieren – benötigt zwangsläufig ein Stückchen DesIdentifikation, einen Rest an Zweifel, um funktionieren zu können.6 Im Bild (v)erkennt man sich umso besser, wenn ein Rest verdeckt bleibt, der in diesem Verdecken erst annehmbar, erträglich wird. Man nimmt so die Redeweise vom ‚Bild als Medium der Identifikation‘ wörtlich. Denn Medien sind exakt das: Schirme, die etwas sichtbar machen, zugleich aber zwischen mir und diesem Etwas eine Schutzdichtung bilden; so wie das Vergrößerungsglas, welches mir ein Ding erst zeigt, zugleich als Glaswand fungiert, die das Ding von meinem Auge trennt. Was aber geschieht, wenn dieser Rest an Zweifel im Bild getilgt
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Der Begriff ist mit Bedacht gewählt, kommt doch mit dieser dritten Instanz genau das ins Spiel, was Lacan später die „Instanz des Buchstabens“ nennen wird; vgl. Jacques Lacan: „L’instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison depuis Freud“, in: La Psychanalyse 3 (1957), S. 47–81.
6
Diese notwendige Lücke ist, wie Georg Christoph Tholen gezeigt hat, auch eine Kluft in der Zeit: „Der Widerspruch, den das Imaginäre ausgestaltet, besteht also darin, dass der Wunsch, die Ähnlichkeit mit dem Spiegelbild zu gewähren, nur gelingt, wenn dessen Andersheit oder Fremdheit übergangen wird. Im selben Augenblick aber […] distanziert sich der AugenBlick von sich selbst: Er vollzieht sich nur als vor-weg-nehmende Antizipation. Die Zeitlichkeit des imaginären Ichs ist im Modus der vergangenen Zukunft aufgespalten, d. h. differiert von sich selbst in Gestalt der Vor-ZuKunft“. Georg Christoph Tholen: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 75.
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„Io sono sempre vista“ ist, wenn dessen Lücke fehlt? Dann betreten wir das Gebiet des Beängstigenden und Unheimlichen. Die Angst – so formuliert es Lacan – entsteht, wo der Mangel selbst fehlt. Die Angst ist der Mangel des Mangels. Gerade wo Bilder mich vollständig identifizieren, mich vollständig spiegeln, werden sie zu einer erschreckenden Alterität: Das Vertraute wird fremd, die Bilder werden unheimlich.7
Ein anderer Schauplatz In seinem Seminar von 1962/63 über die Angst beschreibt Lacan dieses Unheimliche als Problem allzu vollständiger Sicht: „Jene, die meine Intervention an den, dem Fantasma gewidmeten Journées provinciales gehört haben […] werden sich der Metapher erinnern, der ich mich bediente: Ein Gemälde (tableau), welches im Fensterrahmen steht […] Was auch immer der Reiz dessen sein mag, was auf dieser Leinwand gemalt ist, es geht dabei darum, das nicht zu sehen, was man durch das Fenster sieht.“ 8
In Verkehrung von Leon Batista Albertis berühmter Metapher vom Bild als geöffnetem Fenster 9 beschreibt Lacan das Imaginäre als Schutzschirm, der das Fenster schließt. Das Unheimliche ist jener Moment, in dem fantasmatische Bild im Fensterrahmen fehlt oder ein Loch aufweist und damit den Blick freigibt auf das, was jenseits des Fensters liegt. Unheimlich wird es da, wo die Mattscheibe des Mediums durchlässig wird und das vorher Verborgene plötzlich auftaucht. Ein besonders eindrückliches Beispiel für dieses Unheimliche als Blick durch das Fenster liefert die Fallgeschichte von Sigmund Freuds Patient Sergej Pankejeff, bekannt geworden unter dem Übernamen ‚Der Wolfsmann‘.10 In einem Angsttraum seiner Kindheit sieht Pankejeff durch ein sich plötzlich öffnendes Fenster 7
Sigmund Freud: „Das Unheimliche“ [1919], in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 12, 3. Aufl., Frankfurt a. M.: Fischer, 1966, S. 229–268.
8
„Ceux qui ont entendu mon intervention aux Journées provinciales consacrées au fantasme […] peuvent se rappeler la métaphore dont je me suis servi, celle d’un tableau qui vient se placer dans l’encadrement d’une fenêtre. […] Quel que soit le charme de ce qui est peint sur la toile, il s’agit de ne pas voir ce qui se voit par la fenêtre.“ Jacques Lacan: Le Séminaire. Livre X: L’angoisse, Seuil: Paris 2004, S. 59.
9
Leon Batista Alberti: De Statua, De Pictura, Elementa Picturae – Das Standbild, die Malkunst, Grundlagen der Malerei (lat.-dt.), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000, S. 225.
10 Sigmund Freud: „Aus der Geschichte einer infantilen Neurose“ [1914], in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 12, 3. Aufl., Frankfurt a. M.: Fischer 1966, S. 27–157; siehe auch Muriel Gardiner (Hg.): Der Wolfsmann vom Wolfsmann, Frankfurt a. M.: Fischer 1972.
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Johannes Binotto
Abb. 1: Zeichnung des Wolfsmannes. Quelle: S. Freud: „Aus der Geschichte einer infantilen Neurose“, S. 55. auf einen Baum, auf dessen Ästen weiße Wölfe sitzen.11 In seiner Analyse bei Freud gibt er diese Szene auch als Zeichnung wieder (siehe Abb. 1). Nun wird aber in der Aussicht, die sich dem Wolfsmann bietet, nicht nur der Ort jenseits des Fensters sichtbar, sondern auch der Standpunkt des Betrachters. So hält Freud fest: „Das aufmerksame Schauen, das im Traum den Wölfen zugeschrieben wird, ist vielmehr auf ihn [den Wolfsmann; J. B.] zu schieben. […] Vertauschung von Subjekt und Objekt, Aktivität und Passivität, angeschaut werden anstatt anschauen[.]“12
Was jenseits des Fensters auf den Wolfsmann lauert, ist demnach nichts anderes als sein eigener Blick aus dem Fenster. Freuds Ausdruck vom „anderen Schauplatz“13 des Unbewussten und mithin des Unheimlichen erhält eine Doppeldeutigkeit, die gerne unbemerkt bleibt: Der Schauplatz ist nicht nur eine Szene, auf die man schaut. Mit Schau-Platz ist auch der Platz gemeint, von dem aus man schaut. In der Koinzidenz dieser widersprüchlichen Bedeutungen, im Zusammenfall zweier verschiedener Schau-Plätze liegt das Wesen des Unheimlichen, fallen in diesem doch die Gegensätze zusammen: „Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich“. 14 Dass es sich bei diesem Unheimlichen um eine spezifisch räumliche Situation handelt, ist bereits in der für Freud so wichtigen 11 S. Freud: „Aus der Geschichte einer infantilen Neurose“, S. 54–55. 12 Ebd., S. 61. 13 Sigmund Freud: Die Traumdeutung, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 2/3, 3. Aufl., Frankfurt a. M.: Fischer 1961, S. 541. 14 S. Freud: „Das Unheimliche“, S. 237.
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„Io sono sempre vista“ Etymologie des Begriffs impliziert: Nicht umsonst steckt im Unheimlichen das Heim, das Zuhause. Auch in den von Freud angeführten Beispielen unheimlicher Situationen – eine Straße, an deren Ende man unweigerlich wieder an ihren Anfang gerät, 15 der Blick auf das weibliche Genital als alte „Heimat des Menschenkindes“16 – begegnet man dieser Räumlichkeit. Inszeniert das Unheimliche eine „Wiederkehr des Verdrängten“, so müsste man diese zugleich eine Wiederkehr zum Verdrängten nennen. Das Unheimliche entpuppt sich als räumliche Konstellation, in der hier und dort, Subjekt und Objekt, Anschauen und Angeschaut-werden nicht mehr unterschieden werden können. Darin liegt die eigentliche Innovation des freudschen Begriffs des Unheimlichen, die ihn von allen früheren Versuchen zum Thema (etwa bei dem von Freud zitierten Ernst Jentsch) abhebt: Weder hängt das Unheimliche an einem bestimmten Subjekt (und dessen subjektiver Empfindung), noch an einem bestimmten, angeblich furchteinflößenden Objekt. Das Unheimliche ist vielmehr die besondere Stellung, die das Subjekt zum Objekt einnimmt. Diese besondere Stellung des Subjekts zum Objekt lässt sich genauer charakterisieren: Unheimlich ist es, wenn sich die Positionierung von Subjekt und Objekt andauernd verändert, wenn Subjekt und Objekt, Innen und Außen, Vertrautes und Fremdes unablässig die Plätze tauschen. Diese Überkreuzung von räumlich Gegensätzlichem findet man auch in einem Neologismus Lacans, der das in seiner Ambivalenz eigentlich unübersetzbare Wort „unheimlich“ kongenial ins Französische überträgt: ‚Extimité‘.17 Gebildet aus den Wörtern ‚extérieur‘ und ‚intimité‘ spricht der Begriff von einem Intimen, das außen angesiedelt ist und einem Äußeren, das zum Innersten wird – eine intime Exteriorität, eine externe Intimität. In diesem Sinne ist der Untertitel dieses Aufsatzes zu verstehen: Es gibt kein Unheimliches vor dem Bild, das von einem Unheimlichen hinter dem Bild zu unterscheiden wäre. Unheimlich ist, wenn man sich zugleich dies- und jenseits des Bildes befindet.
15 Ebd., S. 249. 16 Ebd., S. 259. 17 Der Begriff des Extimen bzw. der Extimität taucht bei Lacan zwar schon vor der expliziten Beschäftigung mit dem Unheimlichen auf, nämlich bereits in seinem Seminar über „Die Ethik der Psychoanalyse“. Dort wird die Extimität mit dem „Ding“ in Verbindung gebracht. Mit Kenntnis der späteren Seminare wird indes klar, wie sehr der Begriff der Extimität auf die Beschäftigung mit dem Unheimlichen in Seminar X und XI vorausweist: Das extime Ding gibt den Vorgeschmack auf das später fürs Unheimliche so zentrale objet a; vgl. Jacques Lacan: Das Seminar. Buch VII: Die Ethik der Psychoanalyse, Weinheim: Quadriga 1996, S. 171; siehe auch Jacques-Alain Miller: „Extimité“, in: Mark Bracher u. a. (Hg.), Lacanian Theory of Discourse: Subject, Structure and Society, New York: NYU Press 1994, S. 74–87.
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Johannes Binotto
Abb. 2: Zeichnung einer anonymen Psychotikerin; Quelle: J. Lacan: Le séminaire X, S. 201.
Immer (ge)sehen Expliziter noch als im Traum des Wolfsmannes zeigt sich die unmögliche räumliche Situation des Unheimlichen in der Halluzination einer Psychotikerin, deren Fall Lacan seinen Studenten präsentiert. Die Verschränkung von Schauen und Angeschaut-werden ist in der Zeichnung der Patientin gleich mehrfach thematisiert (siehe Abb. 2): Zum einen natürlich in den drei Augen des Baumes, die – wie bei den Wölfen im Traum des Wolfsmannes – sowohl für den Blick auf die Psychotikerin als auch für ihren eigenen Blick stehen. Signifikanter ist die Beschriftung der Zeichnung. Was zunächst wie ein Teil des Geästs aussieht, wird als Schrift lesbar, von der Lacan sagt, in ihr sei die „Geheimformel“ der Kranken festgehalten: „Io sono sempre vista“. Dabei macht Lacan auf die wesentliche Doppeldeutigkeit des italienischen Wortes ‚vista‘ aufmerksam, kann dieses doch – wie das französische ‚vue‘ – sowohl subjektiv als auch objektiv verwendet werden. Der Satz „Io sono sempre vista“ sagt sowohl „Ich werde immer gesehen“ als auch „Ich sehe immer“. Die Person, die einen solchen Satz schreibt, verortet sich auf der Seite des Blicks, der eine bestimmte Aussicht wahrnimmt, als auch in dieser Aussicht selbst. Was auf der Zeichnung fehlt, ist nichts weniger als der Fehler selbst, jene Lücke, um die das Spiegelstadium kreist, jener Fleck des Bildes, hinter dem sich der eigene Blick zwar vermuten, aber nicht sehen lässt. Wer mit der lacanschen Psychoanalyse vertraut ist, kennt den Namen dieser konstitutiven Leerstelle, die als notwendig ausgeschlossener Kern der Subjektivität fungiert: Es ist das 102
„Io sono sempre vista“ ominöse objet a – ein Ding, das eigentlich (wie der späte Lacan festhält) gar nicht Objekt genannt werden darf, weil es ganz anders als jedes andere Objekt funktioniert, nämlich als pures Vakuum: „das Objekt als Absenz“.18 Nicht so in der Psychose. Hier ist das objet a nicht ausgeschlossen, sondern materialisiert sich, erhält volle körperliche Präsenz und wird sichtbar.19 Möglicherweise ist darum der Blick in den Spiegel für viele Psychotiker so problematisch: Nicht weil sie zu wenig, sondern zu viel darin sehen. Sie sehen auch das, was ein blinder Fleck bleiben müsste. So ist vielleicht auch jener von Gisela Pankow berichtete Fall einer jungen Psychotikerin zu interpretieren, die im Spiegel nicht nur sich selbst, sondern zusätzlich beängstigende, sie umgebende Flecken sah. Der Spiegel hatte hier zuviel reflektiert: nicht nur das Körperbild, sondern zugleich dessen Lücken. Die blinden Flecken des Spiegelbildes waren sichtbar geworden.20 Zuviel sehen, den unsichtbaren Blick als objet a sehen – auch das steckt in jenem ‚sempre vista‘ von Lacans Psychotikerin. Die Inscriptio ihrer emblematischen Zeichnung „Io sono sempre vista“ erweist sich damit als allgemeine Formel der Psychose und des Unheimlichen im Feld der Optik.21
Topo-Logik „Io sono sempre vista.“ Dieser Satz könnte in seiner Mehrdeutigkeit auch als Motto über dem Oeuvre des italienischen Regisseurs Dario 18 Jacques Lacan: Das Seminar. Buch XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Olten: Walter 1978, S. 191. 19 Renata Salecl: Der richtige Mann und die falsche Frau, in: Slavoj Zizek u. a. (Hg.), Ein Triumph des Blicks über das Auge. Psychoanalyse bei Hitchcock, 2. Aufl., Wien: Turia+Kant 1998, S. 166–176 hier S. 172–173. 20 Vgl. Gisela Pankow: Gesprengte Fesseln der Psychose, München: Reinhardt 1968, S. 67–70. 21 Ganz nebenbei entlarvt der genannte Fall auch die Vergeblichkeit aktueller Versuche (etwa in England) den öffentlichen Raum dadurch sicherer zu machen, dass man ihn mit Überwachungskameras aufrüstet. Nicht nur, dass – wie bereits Foucault gezeigt hat – durch einen so installierten allgegenwärtigen Blick der Einzelne zum Gefangenen eines panoptischen Blickregimes degradiert wird; auch die Aussicht, für den Preis der Überwachung wenigstens größere Sicherheit zu erhalten, muss sich zwangsläufig als Täuschung herausstellen. Gerade in der Allgegenwart des Blicks geht nicht Sicherheit, sondern das beängstigende Unheimliche einher: Der Panoptismus hat Panik zur Folge. Zum Panoptismus vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 251–292; Jacques-Alain Miller: Jeremy Bentham’s Panoptic Device, in: October 42 (Summer 1987), S. 3–29.
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Johannes Binotto Argento stehen. Der 1940 geborene Argento hat bis heute (zumindest im deutschsprachigen Raum) kaum die Anerkennung gefunden, die er verdient – nicht zuletzt deshalb, weil sich seine Filme gängigen Lektüren verweigern, die sich auf Kohärenz von Figuren und Story konzentrieren. Der Vorwurf eines Kritikers an Argentos Film „Inferno“, die an sich virtuos gedrehten Sequenzen seien auf unmögliche Weise montiert und hätten meist keinen Bezug zur Story,22 ist gerechtfertigt und zielt doch am Wesentlichen vorbei. Denn gerade indem er die narrative Logik konsequent gegen eine (Un-) Logik des filmischen Raumes, gegen eine Topo-Logik eintauscht, beweist Argento seine Meisterschaft als filmender Architekt. Denn Film ist zwangsläufig eine architektonische Kunst. Indem vorhandene Szenerien abgefilmt und auf dem Schneidetisch montiert werden, werden Räume nicht nur abgebildet, sondern neu gebaut. Schon in den Pioniertagen des Kinos schreibt Dziga Vertov in seinem Manifest „Kinoki“ dazu: „Ich bin das Kino-Auge. Ich bin ein Baumeister. Ich habe dich, heute von mir geschaffen, in die wunderbarste, bis zu diesem Augenblick nicht existierende und ebenfalls von mir geschaffene Kammer gesetzt. Diese Kammer hat 12 Wände, die ich in verschiedenen Teilen der Welt aufgenommen habe. Indem ich die Aufnahmen der Wände und der Details untereinander verbunden habe, ist es mir gelungen, sie in eine Ordnung zu bringen, […] die nichts anderes als diese Kammer ist.“23
Vertov beschreibt das Verhältnis von filmischem Raum und Realität als genuin un-heimliches: Die Kammer des Films ist weder vertraut noch vollkommen fremd, weder nur Abbildung noch ganz Neuschöpfung, sondern beides zugleich. Aus Abbildungen der Realität (die einzelnen Wände) wird ein irrealer Raum (die Kammer mit zwölf Wänden) montiert. Argento betreibt die unheimliche Baukunst des Films besonders manieristisch und stellt sie damit aus. Seine barocken Filme erlangen so eine ähnliche Qualität wie die überladene Zeichnung der Psychotikerin bei Lacan. Auch Argento zeichnet mit seinen Filmen Vexierbilder des Unheimlichen, in denen jegliche Orientierung unmöglich wird – so etwa in der Szene aus dem Film „Suspiria“ (I 1977), in der eine verängstigte Frau Unterschlupf bei ihrer Freundin sucht. Doch die anheimelnde Geborgenheit im Zimmer entpuppt sich als unheimlich. Prompt manifestiert sich dieses Unheimliche
22 Vgl. Maitland McDonagh: Broken Mirrors/Broken Minds. The Dark Dreams of Dario Argento, London: Sun Tavern Fields 1991, S. 151. 23 Dziga Vertov: „Kinoki – Umsturz“, in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam 1990, S. 32–33 (Übersetzung verändert).
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„Io sono sempre vista“
Abb. 3: Standbild aus „Suspiria“ (I 1977) als Situation vor und hinter einem Fenster: Obwohl das Fenster des Zimmers nur tiefschwarze Dunkelheit zeigt, ahnt die Frau, dass in der Dunkelheit vor dem Fenster eine fremde Präsenz lauert. Als sie versucht, mithilfe einer Tischlampe in die Dunkelheit hineinzuleuchten, ist zunächst nichts zu sehen. Erst als sich ihr Blick und mit ihm jener der Zuschauer ganz in die Dunkelheit versenkt, wird plötzlich etwas erkennbar: ein rasch auftauchendes und wieder verschwindendes Augenpaar, wie von einem Tier, das uns aus der Dunkelheit anstarrt. Darauf durchstößt ein Arm von draußen die Fensterscheibe, packt den Kopf der jungen Frau und presst ihn von innen gegen die Scheibe. Das angst- und schmerzverzerrte Gesicht der Frau aber sehen wir von außen, aus Perspektive des Angreifers. Nicht nur, dass diese Szene gewissermaßen die Animation jener Zeichnung bei Lacan ist. Sie zeigt zudem, wie es dem Film gelingt, das Unheimliche als topologischen Raum zu evozieren. So wird etwa die filmische Technik virtuos zur räumlichen Desorientierung benutzt: Wenn zu Beginn der Szene die Freundin des zukünftigen Opfers das Zimmerfenster schließt, bleibt die Kamera im Dunkeln außen vor. Auf der Tonspur hören wir indes nach wie vor die beiden Frauen miteinander sprechen. Das Objektiv ist also draußen, das Mikrofon aber bleibt drinnen. Audio-Vision: Die zwei Seiten des gleichen Mediums besetzen gegenüberliegende Positionen. Die Apparatur des audiovisuellen Mediums als Ganze ist somit an beiden Ort zugleich, innen und außen im selben Moment. Sprechend ist auch die Tapete in dem Zimmer, in dem die Szene spielt (siehe Abb. 3): Beim Ornament aus Fischen und Vögeln handelt es sich um die Reproduktion des Holzschnitts „Luft und Wasser“ von Maurits Cornelis Escher. 24 Tatsächlich bilden Eschers Bilder, im Besonderen jene von unmöglichen Bauwerken, ein visuelles Leitmotiv in Argentos „Suspiria“. Sie tauchen in verschiedenen Wandmalereien auf, und nicht umsonst liegt das Gebäude, in welchem der Film spielt, an der Escher-Straße. Die unheimlichen Räu-
24 Vgl. J. L. Locher u. a. (Hg.): Die Welten des M. C. Escher, 3. Aufl., Herrsching: Pawlak Verlagsgesellschaft 1971, S. 107 u. VI.
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Johannes Binotto
Abb. 4: Standbild aus „Opera“ (I 1987) me von „Suspiria“ gehorchen (wie die Architekturen in den Zeichnungen Eschers) nicht der euklidischen Geometrie, sondern der Topologie. Es sind verkrümmte, zirkuläre Räume – so wie jene Straße in Freuds Aufsatz „Das Unheimliche“, deren Ende sich unversehens als ihr Anfang entpuppt. Es sind Räume, in denen der Betrachter sich – wie der Wolfsmann oder Lacans Psychotikerin – zugleich im Aug- und im Fluchtpunkt befindet. Das Unheimliche präsentiert sich als topologische Figur, die wie das Möbiusband strukturiert ist, in welchem Oben und Unten, hier und dort, diesseits und jenseits, Anschauen und Angeschaut-werden nicht mehr zu unterscheiden sind. Kein Zufall, dass Lacan im Fortgang seines Seminars über die Angst auf das Möbiusband zu sprechen kommt. Wenn auch von Lacan nicht explizit miteinander verglichen, stellt doch das Möbiusband die prägnanteste Abstraktion des Unheimlichen dar. Was man in der Terminologie der mathematischen Topologie eine ‚nicht-orientierbare Fläche‘ nennt, bringt jene Des-Orientierung auf den Punkt, welche im Raum des Unheimlichen herrscht.
Perversionen des Blicks Zehn Jahre nach „Suspiria“, untersucht Argento mit seinem Film „Opera“ (I 1987) erneut die unheimliche Koinzidenz von Anschauen und Angeschaut-werden. Der Film handelt von einer jungen Opernsängerin, die von einem Mörder verfolgt wird. Doch was dieser ihr antut, ist beinahe schlimmer als der Tod: Eines Nachts überwältigt, bindet und knebelt er sie und klebt ihr mit Nadeln besetzte Klebstreifen unter die Augen (siehe Abb. 4). Unfähig, die Augen zu schließen, muss die junge Sängerin nun mitansehen, wie der Mörder vor ihren Augen und für ihre Augen tötet. Die Tatorte in „Opera“ sind ‚Schau-Plätze‘ im buchstäblichen Sinne: Plätze, an denen sich Blicke pervertieren, also wörtlich: sich verdrehen, sich topologisch krümmen und an denen einander entgegengesetzte Perspektiven ineinander übergehen. „Io sone sempre vista“ – der ganze Film dreht sich um nichts anderes, als um jenes unheimliche Oszillieren zwi106
„Io sono sempre vista“ schen den beiden Bedeutungen von ‚vista‘. Dieses Oszillieren betrifft nicht zuletzt auch uns Zuschauer, denn wie die Sängerin sind wir zugleich Opfer und Publikum der Tat.25 Nur für den Zuschauer findet das blutige Schau-Spiel auf der Leinwand statt. Doch die voyeuristisch genossene Gewalt kulminiert darin, dass das Auge des Voyeurs selber attackiert wird. Dass die von Nadeln bedrohten Augen der Sängerin auch für die Augen des Kinopublikums stehen, hat Argento selbst unterstrichen: „For years I’ve been annoyed by people covering their eyes during the gorier moments in my films […] So I thought to myself ‚How would it be possible to […] force someone to watch the gruesome murder and make sure they can’t avert their eyes?‘ The answer I came up with is the core of what OPERA is about[.]“26
Mit seinem Angriff auf das Auge des Betrachters verweist Argento offensichtlich auf zwei der berühmtesten Momente der Filmgeschichte, die beide die Zerstörung des Sehorgans zeigen: zum einen die Szene im 4. Akt von Sergej Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ (UdSSR 1925), in der ein Soldat mit seinem Säbel einer alten Frau ein Auge ausschlägt; zum andern der Schnitt des Rasiermessers durch das Auge einer Frau im Film „Un chien andalou“ (F 1929) von Luis Buñuel und Salvador Dalí. In beiden Fällen ist der Schnitt durch das Auge als Reflexion über das Medium Film mit seiner Schnitt-Technik wie auch als Reflexion über die Schaulust des Kinopublikums zu verstehen.27 Die Vernichtung des Auges ist dabei als pathetische Metapher für die Zerstörung alter und das Aufkommen neuer Sehgewohnheiten lesbar. Argentos „Opera“ ist ungleich pessimistischer: Die erlösende Katharsis von Bunuel und Eisenstein gibt es hier nicht. Statt der Auslöschung des Blicks inszeniert Argento das Gegenteil: das qualvolle Insistieren des Blicks. Nicht aufhören können zu sehen und gesehen zu werden – dieses ‚sempre vista‘ ist weitaus schrecklicher als geblendet zu werden. Die voyeuristische Lust am Zuschauen verkehrt sich in Unlust und Ekel – nicht, weil die Identifikation mit dem Gesehenen zusammenbrechen würde, sondern weil sie sich totalisiert. Das Bild der von Nadeln bedrohten Augen der Sängerin ist darum so grässlich, weil es dem Blick in einen Spiegel gleicht, der uns zuviel zeigt: nicht nur
25 Man betrachte in diesem Zusammenhang auch die Filme „Peeping Tom“ (GB 1960) von Michael Powell sowie „Strange Days“ (USA 1995) von Kathryn Bigelow. 26 Zitiert nach: Alan Jones: Mondo Argento, London: Midnight Media 1996, S. 43. 27 Im Fall von „Un chien andalou“ siehe dazu Robert Short: Age of Gold. Surrealist Cinema, Washington: Creation Books 2003, S. 68–76.
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Johannes Binotto die Lust am Zuschauen, sondern dessen Zwang. Reproduziert das Nadelgitter vor den Augen nicht exakt jene ambivalente Geste, die bereits Kinder beim Anblick von schrecklichen Bildern vollführen? Man schlägt die Hände vors Gesicht – und schaut trotzdem zwischen den Fingern hindurch, halb drinnen und nicht ganz draußen.
Bild-Ränder Mit seinem späten Schlüsselwerk „La sindrome di Stendhal“ (I 1996) schickt Argento seine Figuren und uns Zuschauer erneut auf jenes unheimliche Möbiusband, welches das Dies- und Jenseits der Bilder ineinander kippen lässt. Eine junge Polizistin auf der Fährte eines Frauenmörders erlebt gleich zu Beginn eine doppelte Überwältigung: In den Uffizien von Florenz wird sie ohnmächtig angesichts der Gemälde, die sie in Bann schlagen; unmittelbar darauf wird sie vom gejagten Frauenmörder vergewaltigt. Doch scheint dieser zweite Angriff nur eine Wiederholung des ersten. Die Bilder selbst sind vergewaltigend. Dabei funktioniert der Film wie ein gewalttätiges Museum:28 Neben dem zahlreichen Erscheinen bekannter Kunstwerke (etwa dem im Vorspann am Bildrand vorbeiziehenden Gemäldekatalog oder den Szenen in den Uffizien) inszeniert Argento seine eigenen Filmbilder als Imitationen berühmter Gemälde etwa von John Everett Millais, Giorgio de Chirico oder René Magritte.29 Wie sich der Zuschauer in diesem unheimlichen Museum verirrt, so verläuft sich auch die Hauptfigur in Bildern. Buchstäblich geschieht dies in einer Szene, in der die verwirrte Polizistin über den Bilderrahmen in ein Gemälde hineintritt und sich darin bewegt (siehe Abb. 5). Inspiriert wurde Argentos Film von den Arbeiten der italienischen Psychiaterin Graziella Magherini, die zu psychischen Zusammenbrüchen von Touristen beim Anblick großer Kunstwerke geforscht hat.30 Offenbar gibt es immer wieder Besucher der Kunststätten in Florenz, welche vor den Bildern der alten Meister in wahn-ähnliche Zustände geraten. In Anlehnung an den Schriftsteller Stendhal, der solche Symptome in seinem Reisetagebuch beschreibt, nannte Magherini dieses Phänomen Stendhal-Syndrom. 28 Siehe dazu: Jean-Baptiste Thoret: Dario Argento. Magicien de la peur, Paris: Cahiers du cinéma 2002, S. 70–77. 29 Zum (für Argento auch sonst so bedeutsamen) Werk de Chiricos im Verhältnis zu Lacans Bildtheorie siehe Annette Runte: „Dinge sehen dich an“, in: Claudia Blümle/Anne von der Heiden (Hg.), Blickzähmung und Augentäuschung, Zürich: diaphanes 2005, S. 393–424. 30 Graziella Magherini: La sindrome di Stendhal, Florenz: Ponte Alle Grazie 1989.
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„Io sono sempre vista“
Abb. 5: Standbild aus „La sindrome di Stendhal“ (I 1996) Doch Argento, der nach eigenen Angaben als Kind selbst Opfer des Syndroms geworden war,31 nimmt die Beobachtungen Magherinis nur als Ausgangspunkt für seine eigene Inszenierung des StendhalSyndroms. Er führt vor, wie das schützende Bild buchstäblich durchlässig wird und den Blick freigibt auf das, was es abschirmen sollte. Doch diese unheimliche Verräumlichung der Bilder ist mit ihrem Gegenstück eng gekoppelt: der Plättung des Raums und der Figuren zum flachen Bild. Wenn zum Ende des Films die wahnsinnig gewordene Protagonistin von Polizisten davongetragen wird, erscheint die Szene wie ein Heiligenbild. Was bleibt, sind Bilder. Das unheimliche Kino Dario Argentos durchläuft immer wieder denselben Prozess: Das Bild wird verräumlicht – der Raum verschlingt die Körper – der Raum verflacht zum Bild. Was der finalen Verflachung der Räume und Körper zur planen Ebene geopfert wird, ist nichts weniger als die filmische Illusion an sich. Indem Argento die Filmbilder zu starren Tableaus gerinnen lässt, zeigt er, worauf die Illusion des bewegten Films basiert: lauter regungslosen, toten Einzelbildern. Doch sieht man Einzelbilder eines Films bekanntlich nur, wenn man den Filmstreifen anhält. Wer die Illusion des bewegten Bildes entlarvt, kann das nur, indem er die Bewegung, die doch das Wesen der ‚Motion Pictures‘ ist, anhält. Wenn Argento das Geheimnis des Films aufdeckt, jenen blinden Fleck des Mediums füllt, voll-endet er es, macht es kaputt. Und damit ist das letzte Mordopfer in Argentos Filmen letztlich das filmische Medium selbst.
Rücksicht auf Darstellbarkeit Gewiss: Filmbilder, so radikal sie auch gestaltet sind, bleiben als Bilder immer noch jener Sichtschutz im Fensterrahmen, von dem 31 Vgl. Jérôme Larcher/Nicolas Saada: „Les nerfs à vif. Entretien avec Dario Argento“, in: Cahiers du cinéma 532 (1999), S. 57.
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Johannes Binotto Lacan spricht. Auch die Zeichnungen des Wolfsmannes oder der anonymen Psychotikerin bleiben Schutzdichtungen vor einer ungleich beängstigenderen Aussicht. Sie bleiben Medien, die zwar etwas zeigen und anschaulich machen, diese beängstigende Sache aber gerade dadurch auf sicheren Abstand bringen, so wie auch der Traum die Strukturen des Unbewussten nur in entstellter und damit bereits verharmloster Form darstellen kann. Doch die „Rücksicht auf Darstellbarkeit“, welche nach Freud die Entstellungen des Unbewussten im Traum regiert, ist nicht nur Ausdruck eines Versagens vor dem Undarstellbaren. Sie besagt zugleich, dass in Ausnahmezuständen (wie denen des Traums) etwas wahrnehmbar werden kann, was sonst verdrängt bleibt.32 Entsprechend hat Bernhard Siegert33 gezeigt, wie es den Maltechniken des Manierismus gelingt, Mimesis zu überschreiten.34 Eine Technik, wie jene des trompe l’oeil „enthüllt innerhalb der Repräsentation das Geheimnis der Repräsentation, indem es diese gegen sich selbst kehrt.“35 Eine Fliege, die so gemalt ist, dass sie nicht im Bild, sondern auf dem Bild zu sitzen scheint, kann so stellvertretend jenes unheimliche Ding zeigen, das sich nicht im Bild, sondern davor (oder dahinter), dies- und jenseits des Bildes situiert. Ähnliches attestiert Lacan dem Manierismus an einer Stelle seines Seminars über die „Ethik der Psychoanalyse“: „[I]ch glaube, dass diese barocke Rückkehr zu all den Spielen mit der Form, zu all diesen Verfahren, darunter die Anamorphose, ein Versuch ist, den wirklichen Sinn künstlerischen Suchens wiederherzustellen […] um ein Ding auftauchen zu lassen, das genau da wäre, wo man nicht weiter kann – genau gesagt, nirgendwo.“36
Bild-Techniken wie jene des Manierismus lassen momenthaft etwas auftauchen, was sich eigentlich nicht darstellen lässt und führen damit im Bild über das Bild hinaus, auf dessen Vorder- und Rückseite. Diese Form von „Rücksicht auf Darstellbarkeit“ erlaubt auch die Kehrseiten eben jener Darstellbarkeit zu zeigen; sie erlaubt uns gleichsam eine Ansicht von hinten, eine Rück-Sicht auf Darstellbarkeit. Wie dem Rebus des Traums kann es auch dem audiovisuellen Medium gelingen, den Zusammenbruch von Bild-Schutzdichtungen zu zeigen. Mit dem ihnen eigenen Manierismus, mit ihrer spezifi-
32 S. Freud: Traumdeutung, S. 344–354. 33 Dem ich an diese Stelle für seine persönlichen Anmerkungen zu meinen Überlegungen danke. 34 Bernhard Siegert: „Der Blick als Bildstörung. Zwischen Mimesis und Mimikry“, in: Blümle/von der Heiden (Hg.), Blickzähmung und Augentäuschung, S. 103–126. 35 Ebd., S. 113. 36 J. Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse, S. 168 (Übersetzung korrigiert).
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„Io sono sempre vista“ schen „Rücksicht auf Darstellbarkeit“ erlauben uns die Filme Dario Argentos, einer unheimlichen und psychotisch machenden Sache jenseits und diesseits der Bilder nah zu kommen. So nah wie nur möglich, um dabei selbst für einen Augen-Blick, für einen Blick lang, den Verstand zu verlieren.
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„Fülle des Wohllauts“. Zur Medialität des männlichen Gesangskörpers im Musikfilm der 1930er Jahre URSULA VON KEITZ
Der Musikfilm mit seinen Subgenres avancierte in den frühen 1930er Jahren zur beliebtesten Gattung des Kinos. Sein Erfolg beim Publikum verdankt sich zu einem Gutteil der Tatsache, dass die technisch reproduzierte Musik – wie die synchron zum Bild der sprechenden oder singenden Figur hörbare Stimme – neu als Attraktion im Kino wahrgenommen wurde. Eine der zentralen Thesen zum Musikfilm lautet, dass musikalisches Aufführungshandeln bzw. diegetische Performance-Akte das Voranschreiten der Handlung temporär sistieren. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer im Kino ebenso wie möglicher dargestellter Publika innerhalb der Diegese wird auf den musikalischen Vortrag selbst gelenkt, indem die filmische Inszenierung diese PerformanceAkte bildräumlich und durch bestimmte Kamerastrategien als szenisch selbständig ausweist. Der diegetische Raum des Films öffnet sich einem zweiten, die Narration aufsprengenden Raum reiner Vorführkunst, sei es im virtuosen Tanz, Gesangsvortrag oder Instrumentalspiel. In diesem – sekundären – Raum kommt die Materialität der drei genannten Künste des Körpers im zeitbasierten Medium Film zu sich selbst; die Musik und nicht die Verzeitigungsstruktur des Narrativen gibt das Maß an. Die Filmwissenschaftlerin Jane Feuer hat die Theorie der Unterbrechung der Narration durch die Gesangs- und/oder Tanz-Performance am Hollywood-Musical entwickelt.1 Durch eine die Konvention des narrativen Films aufbrechende, häufig frontale Ausrichtung der Akteure zur Kamera sowie eine relative Nähe zu deren point of view wird den Kinozuschauern eine privilegierte Ansicht auf die vortragende Figur oder Figurengruppe gewährt. Durch diese Form 1
Vgl. Jane Feuer: The Hollywood Musical, Bloomington: Indiana University Press 1982.
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Ursula von Keitz der cinematischen Präsentation wird der Vortrag, so Jane Feuer, seines diegetischen Rahmens entkleidet; die sinnliche Präsenz der Vortragenden ‚kappt‘ gleichsam die Verbindungslinien zur Narration.2 Der vorliegende Beitrag möchte Feuers Thesen mit Blick auf den deutschen und österreichischen Musikfilm der 1930er Jahre anhand der Rolle prüfen, die der männliche Gesangskörper darin spielt. Um und nach 1930 differenzieren sich in der deutschsprachigen Produktion mehrere Subgenres aus, die zeitgenössisch mit den Kombinationsbegriffen ,Operettenfilm‘, ‚Filmoperette‘, ‚Sängerfilm‘ oder auch ‚musikalische Komödie‘ benannt werden. Geht man nüchtern davon aus, dass das Industrielle des Films nicht nur in der Arbeitsteiligkeit seiner Produktionsverhältnisse besteht, sondern auch in der Verarbeitung menschlicher Körper zu Bildern und Tönen – eine Dimension des inszenatorischen Arbeitens, die gerade der frühe Tonfilm vielfältig variiert und gelegentlich auf ihre Abgründigkeit hinterfragt –, so kommt dem ‚Sängerfilm‘ eine privilegierte Rolle zu: Die Weisen der technischen Verarbeitung der Körper zum medialen Produkt werden zum Anlass eines filmischen MetaDiskurses, den ich näher betrachten möchte. Gesangsvorträge sind zwar auch im deutschen und österreichischen Sängerfilm als Attraktionen inszeniert, in denen die physische und stimmliche Präsenz des männlichen Protagonisten als Sensation präsentiert wird; doch haben die Lieder hier, anders als etwa im amerikanischen Backstage-Musical, auch narrative Funktionen.3 Zum reinen Vorführcharakter stimmlicher Virtuosität treten situativ-pragmatische Aspekte hinzu, welche die Figur in eine besondere Beziehung zu ihrem Gesang und zur Bedeutung des vorgetragenen Liedes bzw. dessen Textes treten lassen. An die Differenz von reiner Performance und narrativer Integration bzw. Funktionalisierung des Gesangs lagern sich Differenzen zwischen den Subgenres des Musikfilms an, die in unterschiedliche Richtungen der Selbstreferenz filmischer Medialität weisen. Dieser Beitrag soll nun die skurrilen und bisweilen tragikomischen Effekte männlichen Film-Gesangs ins Zentrum rücken. Dabei wird zum einen auf die zentrale Frage der Situierung der Stimme im diegetischen Raum, auf ihr placement4, eingegangen, zum anderen wird der prekäre Sta2
Dies vergleichend im Hinblick auf die filmischen Formen zu diskutieren,
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die sich zeitgenössisch im amerikanischen und europäischen Film ausbilden, ist einem größeren Projekt vorbehalten, an dem ich derzeit arbeite. Vgl. Ursula Vossen: „Die große Attraktion. Opern- und Operettensänger im deutschsprachigen Tonfilm“, in: Katja Uhlenbrok (Red.), MusikSpektakelFilm. Musiktheater und Tanzkultur im deutschen Film 1922–1937, München: edition text + kritik 1998, S. 105–122.
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Der Begriff des placements versteht sich im Sinne der Choreographie.
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„Fülle des Wohllauts“ tus des Sängers als Figur skizziert und schließlich anhand eines Beispiels gezeigt, wie sich das Prekäre als Changieren zwischen technischer Verarbeitung des Gesangskörpers und ihrer Störung artikuliert.
Die Situierung der Stimme „Menschliche Stimme entströmte dem Schrein, männlich, weich und gewaltig auf einmal, vom Orchester begleitet, ein italienischer Bariton berühmten Namens, – und nun konnte durchaus von keiner Verkleinerung mehr die Rede sein; das herrliche Organ erscholl nach seinem vollen natürlichen Umfang und Kraftinhalt, und namentlich wenn man in eines der offenen Nebenzimmer trat und den Apparat nicht sah, so war es nicht anders, als stünde dort im Salon der Künstler in körperlicher Person, das Notenblatt in der Hand und sänge.“5
So heißt es im sechsten Kapitel von Thomas Manns Zauberberg, in dem die Patienten der Lungenheilanstalt erstmals die Klangwirkungen des neuartigen Grammophons erfahren. Wovon die Erzählerrede hier spricht, verweist auf ein Problem, das die reproduzierte Stimme generell aufwirft: die Frage, (zu) welchem Körper sie gehört. Manns Schriftstellerkollege Joseph Roth schilderte fünf Jahre später seinen Eindruck von der Wirkung der reproduzierten Stimme im Film wie folgt: „Die menschliche Stimme scheint eine sehr körperliche Dimension zu sein, körperlicher als der Körper, dem sie entströmt. […] Sie erfüllt den ganzen Raum, berührt jeden Zuschauer körperlich, gelangt fast gleichmäßig stark an jeden Platz im Saal.“6
Roth ist mit seiner Bemerkung, die Filmstimme „erfülle den ganzen Raum“, einem Wahrnehmungsphänomen auf der Spur, das in den neueren Raumtheorien des Films, vor allem den psychoanalytisch inspirierten, zum zentralen Merkmal der spezifischen Wirklichkeitssimulation wurde, die der Tonfilm bietet. Die Ebene der vom Film wiedergegebenen Akustik überbrückt nach Mary Ann Doane den Raum zwischen Leinwand und Zuschauer und füllt diesen gleichsam ‚körperlich‘ aus.7 Damit verleiht der Ton dem Filmbild den Zuschauerraum als dritte Dimension. Die Richtwirkung des durch die
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Thomas Mann: Der Zauberberg [1924], Frankfurt a. M.: Fischer 1974, S. 886.
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Joseph Roth: „Bemerkungen über den Tonfilm“ [1929], in: Ders., Werke, Bd. 3, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1991, S. 57. Vgl. Mary Ann Doane: „The Voice in the Cinema. The Articulation of Body
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and Space“, Yale French Studies 60 (1980), S. 33–50.
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Ursula von Keitz Lautsprecher wiedergegebenen Tons wird als vom Film verursacht respektive als zu diesem gehörig wahrgenommen und zeitigt den Effekt einer Transgression der diegetischen Welt auf den Kinoraum einerseits, und von immersiven Wirkungen, die dieser Raum auf die Rezipierenden ausübt, andererseits. Joseph Roths Rezeptionskategorien des Filmtons sind an der Wahrnehmung der Tonräumlichkeit im Theater geschult und er geht mit diesen Hörerfahrungen ins Kino. Die Hörbarkeit apparativ induzierter Störfaktoren, also Rauschen, Klirren usw. – Begleiterscheinungen, die vor allem im tontechnischen Diskurs dieser Jahre virulent sind –, kommt dem Autor dabei weniger zu Bewußtsein als die Tatsache, dass ihn die Präsenz einer technisch aufgezeichneten Stimme körperlich berühren kann. Vergegenwärtigt man sich die Differenzen von Theater- und Kinoraum, so wird das Besondere von Roths medialer Erfahrung deutlich. Das Theater verfügt über einen gemeinsamen akustischen Raum von Bühne und Zuschauerraum, wobei sich die Akustik des Bühnenraums in derjenigen des Zuschauerraums fortsetzt und umgekehrt. Auf der Bühne wird stets ein doppeltes Sprechen und Hören performiert. Die Schauspieler sprechen mit dem Partner auf der Bühne und bleiben insofern Teil der Fiktion; aber sie sprechen auch zum Zuschauer, der sich mit ihnen im gemeinsamen Hörraum befindet. Auch beim Film wird ‚mehrdimensional‘ gesprochen: Die Schauspieler sprechen miteinander, aber sie sprechen auch zu den Tonaufzeichnungsapparaturen, wie Walter Benjamin angemerkt hat: „Das Eigentümliche der Aufnahme im Filmatelier aber besteht darin, daß sie an die Stelle des Publikums die Apparatur setzt.“8 Roths Bemerkung kündet vom Staunen über den Effekt einer stimmlichen Präsenz qua Reproduktion, das sich offensichtlich nicht nur auf artikulatorische Klangtreue bezog, sondern auf eine Form von Anwesenheit, die noch den realen Körper des Schauspielers transparent werden ließ, der sich gleichsam durch die Reproduktion ‚hindurcharbeitet‘. Da die Stimme aufgrund der bei Doane beschriebenen, grenzüberschreitenden Eigenart mehr als das Bild eine Teilhabe des Zuschauers einfordert und ein Gefühl der Partizipation am Geschehen vermittelt, sind Nähe- und Distanzverhältnisse für eben diese Einbezogenheit von großer psychologischer Bedeutung. Und eben diese Verhältnisse gaben die Normen vor, an denen sich tontechnologische Innovationen nach 1930 orientierten. Rudolf Arnheim forderte 1932 in Film als Kunst: „Es ist selbstverständlich, daß das Mikrophon bei jeder Tonfilmaufnahme in unmittelbarer Nähe der Bildkamera aufgehängt werden muss, weil sonst rein psy8
Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1936], Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 25.
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„Fülle des Wohllauts“ chologisch Augeneindruck und Ohreneindruck nicht zu einer einheitlichen Situation zusammengehen. Sieht man einen Schauspieler in fünf Metern Entfernung und hört ihn von ganz nahe, so läßt sich das eindrucksmäßig unmöglich zusammenfassen.“9
Zum point of view der Kamera tritt somit ein fiktiver Hörpunkt hinzu, der das Klangobjekt seinerseits im Sinne einer zentralperspektivischen Anordnung positioniert. Dem placement der reproduzierten Stimme(n) korrespondiert ein dem Film eingeschriebenes placement des Hörpunkts als einer vermittelnden Membran, die den Zugang des Rezipienten zur fiktionalen Hörwelt organisiert. In der frühen Tonfilmperiode und bis etwa Mitte der 1930er Jahre gibt es indes, teils aus ästhetischer Experimentierlust und der Negation des Zwangs zum Illusionismus10 und Synchronismus, teils aus technischen Limitationen heraus11, zahlreiche Abweichungen vom Prinzip des Abstimmens von fiktivem Blick- und Hörpunkt und damit auch von einer generellen Tendenz zur Anthropomorphisierung der Effekte der Aufnahmeapparaturen. Der Mainstream freilich setzte überwiegend auf Synchronismus, wenngleich gerade der Musikfilm sich dieses Prinzip höchst kreativ aneignete und zu komischen Szenarien nutzte. Um den Realeindruck der Präsenz zu verstärken, wurden Techniken ersonnen, welche die Stimme verräumlichen, lokalisieren und ihr eine Tiefe, einen Resonanzraum geben konnten. Diese mit der Etablierung einer Tonperspektive verknüpften Techniken dienten dazu, wie es ein zeitgenössischer Tonmeister ausdrückte, „das Bouquet, das die Worte umgibt, die Präsenz der Stimme, die mit ihrer physikalischen Umgebung interagiert, in der Reproduktion wiedererstehen zu lassen“.12 Das Konzept der Tonperspektive wurde dazu eingesetzt, die Tiefenillusion des filmischen Bildes zu verstärken. Die an der bildlichen Zerlegung des Raums und der sichtbaren Bewegung vor der Kamera orientierte Forderung nach einer ‚Physiognomie‘ auch der Hörwelt wird in die Funktionen übersetzt, welche die Tonapparatur leistet: die Isolierung, Intensivierung und Analyse des tönenden Materials. Der frühe Tonfilm unterstreicht die faktische materielle Heterogenität von Bild und Ton in der Präsenz der
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Rudolf Arnheim: Film als Kunst [1932], Frankfurt a. M.: Fischer 1979, S. 293–294.
10 Vgl. die zeitgenössische Debatte um „Parallelität“ und „Kontrapunktik“ in der Bild-Ton-Beziehung und insbesondere Sergej M. Eisenstein/Wsewolod I. Pudowkin/Grigorij W. Alexandrow: „Manifest zum Tonfilm“ [1928], in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam 1979, S. 42–45. 11 Vgl. Corinna Müller: Vom Stummfilm zum Tonfilm, München: Fink 2003. 12 Zit. in ebd., S. 193.
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Ursula von Keitz mechanischen Geräusche überdeutlich, obwohl der zeitgenössische künstlerisch-technische Diskurs diese Heterogenität gerade aufzuheben versucht. Nicht nur folgt die technische Idee des Lichttons mit der Wandlung von Schallwellen in Lichtsignale, die mit der Tonkamera gefilmt werden, dem Universalitätsanspruch des Optischen. Der fotografierte und auf einem Filmträger als bizarre flächige Form in der sogenannten Zackenschrift oder als Strichcode in der sogenannten Sprossenschrift eingeschriebene Schall ist seinerseits ein abstraktes Bild, das als Schrift nur vom Tonabnehmer gelesen und in Töne rückübersetzt werden kann.
Der prekäre Status des Sängers Mit dem Übergang zum Tonfilm setzt allgemein eine Verschiebung des emotionalen Ausdrucks der Figuren ein. Die Emotionen zeigen sich nicht mehr primär auf der Oberfläche des Gesichts oder in den gestischen Signifikanten des stummen ‚lesbaren Körpers‘.13 Die Befreiung der Rede im Ton – Donata Koch-Haag hat dies als Vocobzw. Verbozentrismus bezeichnet14 – bringt im Gegenzug die Unterdrückung des körperlichen Ausdrucks und allgemein eine Reduktion der nonverbalen Aktion mit sich, was genderspezifisch interpretiert wird. Männliche Figuren weinen weniger, denn das tönende Weinen deutet nun nicht mehr an, dass die Figur über eine herausragende Empfindsamkeit verfügt, sondern verknüpft sich häufig mit Hysterie und sexueller Zweideutigkeit.15 Dies hat insbesondere Konsequenzen für die gender-Konfiguration im frühen Tonfilm. Im Horizont der dramaturgischen Nutzung des Rhythmus’ von Sprechen und Schweigen entsteht in dieser Periode ein charakteristisches Geflecht von Sagbarkeiten und Unsagbarkeiten – Komplexen, die nicht an die Oberfläche der stimmlichen Artikulation treten und damit überhaupt erst die Frage aufwerfen, was durch die Stimme als Präsenz verbürgendem Medium wie Instrument der Kommunikation auszudrücken ist.16 Hinzu kommt, dass die Synchronität selbst, als 13 Vgl. Frank Kessler: „Lesbare Körper“, in: KINtop 7 (1998), S. 15–28. 14 Donata Koch-Haag: „Che farò senza Euridice … Die Stimme als Bühne der gender politics im frühen deutschen Tonfilm“, in: Malte Hagener/Jan Hans (Hg.), Als die Filme singen lernten. Innovation und Tradition im Musikfilm 1928–1938, München: edition text + kritik 1999, S. 179–192. 15 Vgl. Amy Lawrence: Echo and Narcissus. Women’s Voices in classical Hollywood Cinema, Berkeley u. a.: University of California Press 1991. 16 Vgl. Ursula von Keitz: „Laut(er) Flächen. Apparat und Stimme im frühen Tonfilm“, in: Hans-Georg von Arburg et al. (Hg.), Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche in Film, Kunst, Literatur und Theater, Berlin/Zürich: Diaphanes 2008, S. 187–200.
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„Fülle des Wohllauts“ Ko-Präsenz von Stimme und Körper, respektive als Bindung der Stimme an den Körper als dem Ort ihrer Hervorbringung, durch die getrennte Aufnahme von Bild und Ton zum bevorzugten Spielfeld der Verhandlung von Singularität und Identität wird. Prekär ist die Position des Sängers deshalb, weil er in die traditionell der weiblichen Figur vorbehaltene Position des Blickobjekts tritt: „Aufgrund der engen Verbindung von Stimme und Subjektivität [hat] das Auftreten des Sängers immer etwas von Selbstaufgabe, er bedient sich einer gefährlichen Maskerade, indem er den Körper und seinen vornehmsten Ausdruck von Innerlichkeit, die Stimme, nicht nur einer Rolle unterwirft, sondern in ihrem sinnlichen Reiz zur Schau stellt.“17
Heikel ist die Rolle des Sängers aber nicht nur, weil er sich als sinnliche Attraktion ausstellt und damit in die Position des begehrten Blickobjekts gerät, sondern weil er mit dem neuen technischen Dispositiv der Trennbarkeit von Stimme und Körper in der Reproduktion Gefahr läuft, als Subjekt zum fake zu werden, eine Chimäre des playback. Eine ganze Reihe von Filmen variiert denn auch mit entsprechenden Verfremdungseffekten das Spiel mit Präsenzen und Absenzen des realen Stimmträgers und seiner Reproduktionen. Die Relevanz, die das Bild, die Fotografie oder das Gemälde für den Stummfilm hat, gewinnt die Grammophonplatte als Reproduktionsträger im frühen Tonfilm. Der prekäre Status des männlichen Gesangskörpers als sich der Kamera exponierendes Schauobjekt greift im europäischen Film indes, anders als zeitgleich im amerikanischen Backstage-Musical, auf den Status aus, den der Sänger in der Diegese insgesamt hat, da der Gesang und seine öffentliche Präsentation dasjenige Feld ist, das die Identität der Figur elementar berührt.
Changieren zwischen technischer Verarbeitung des Gesangskörpers und deren Störung Als Beispiel mag ein Film aus der österreichischen Produktion dienen, die nach 1933, als viele österreichisch-jüdische Filmschaffende infolge der rassistischen Politik des Nationalsozialismus Deutschland verlassen mussten, bei aller ökonomischen Krisenanfälligkeit sehr ambitioniert war. Sie war es – soviel sei vorweggenommen – weniger in ihren Schauwerten als dank der Intelligenz ihrer Drehbücher und vielfach verfremdender Inszenierungsweisen. Das Spiel mit den filmischen Möglichkeiten einer Entkoppelung 17 D. Koch-Haag: „Che farò senza Euridice“, S. 188.
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Ursula von Keitz von Körper und Stimme avanciert im Film EIN STERN FÄLLT VOM (1934) des Regisseurs und Schauspielers Max Neufeld18, zum eigentlichen Kern der Narration. Der innerfilmische Diskurs um die kinematographische Illusion lässt sich indes auch auf den Beitrag beziehen, den dieser Film mit der Reflexion der Verarbeitung menschlicher Körper zu Bildern und Tönen für technische Medialität schlechthin leistet. E I N S T E R N F Ä L L T V O M H I M M E L ist ein hintersinniger Beitrag zur Medienkritik des Tonfilms im Medium des Tonfilms,19 eine skeptische Komödie über die eigene Branche und ihre technischen Dispositionen, mit ironischen Seitenhieben auf die Revue und ihre modischen Exotismen und kolonialen Mythen, wie sie zeitgleich etwa bei der deutschen Ufa Konjunktur haben.20 Der junge Tenor Josef Reiner (Joseph Schmidt) besucht die Abschlussklasse des Konservatoriums und verdient sich seinen Lebensunterhalt durch Singen in einer Heurigenwirtschaft. Heimlich ist er in Annerl, die Tochter seiner Wirtin, verliebt, die fest daran glaubt, dass er den Durchbruch schaffen wird. Doch beim Vorsingen versagt Josef regelmäßig. Der amerikanische Startenor Stuart Lincoln (Egon von Jordan) kommt nach Wien, um einen Revuefilm zu drehen. Annerl, die sein Interesse geweckt hat, bemüht sich darum, Josef an das Filmstudio zu vermitteln. Als Lincoln wegen einer Indisposition ausfällt, lässt sich Josef als dessen Stimmdouble engagieren. Am Premierenabend des Revuefilms Ein Stern fällt vom Himmel verbreitet die Presse, Lincolns Stimme sei gekauft, und auch Josefs Kommilitonen protestieren. Doch Lincoln klärt alles auf und führt Annerl dem Josef zu. Eine für den innerfilmischen medienreflexiven Diskurs elementare Schlüsselsequenz zeigt den Aufnahmeprozess des diegetischen Revuefilms Ein Stern fällt vom Himmel im Studio. Lincoln, dessen leicht nasalierende Sprechstimme seine österreichische Herkunft verrät, trägt eine weiße Uniform und ist in ein Set gestellt, das diffus und versatzstückhaft ein exotisches Südseeambiente assoziiert. Der Film im Film setzt mit einer Plansequenz in der Halbtotalen/ Totalen ein, welche die Topographie des in Produktion begriffenen HIMMEL
18 Vgl. Armin Loacker: „Max Neufeld: Schauspieler, Regisseur, Produzent. Ein biografischer Abriss“, in: Ders. (Hg.), Kunst der Routine. Der Schauspieler und Regisseur Max Neufeld, Wien: Filmarchiv Austria 2008, S. 10–87. 19 Vgl. zu Neufelds Musikfilmen allgemeiner Ursula von Keitz: „Unterhaltung zwischen Mythopoiesis und Medienkritik. Max Neufelds Musikfilme der Dreißiger Jahre“, in: Armin Loacker (Hg.), Kunst der Routine. Der Schauspieler und Regisseur Max Neufeld, Wien: Filmarchiv Austria 2008, S. 194–246. 20 Vgl. Helga Belach (Hg.): Wir tanzen um die Welt. Deutsche Revuefilme 1933–1945, München: Hanser 1979, sowie zum Exotischen in der NS-Komödie Karsten Witte: Lachende Erben, toller Tag. Die Filmkomödie im Dritten Reich, Berlin: Vorwerk 8 1995.
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„Fülle des Wohllauts“
Abb. 1: Revuefilm-Sequenz aus EIN STERN FÄLLT VOM HIMMEL (1934), Einstellungen 1a–1c u. 2–10 (von oben links nach unten rechts) Revuefilms mit drei Aktionszentren, die zugleich den Tiefenraum des Sets gliedern, einführt. Die langsame Seitwärtsfahrt der Kamera folgt dem gemächlichen Tempo des Liedes. Die erste von fünf Strophen singt ein im unteren Bildfeld platziertes, Strohhüte tragendes Männertrio, das sich mit Ukulelen begleitet, ehe in der zweiten, längeren Phase Lincoln als Solostimme übernimmt. Der Refrain des Liedes lautet: „Ein Stern fällt vom Himmel / ein funkelnder Stern / bringt dir eine Botschaft von fern / und das große Glück. / Ein Stern fällt vom Himmel / ein seltsamer Gast / macht das ärmste Haus zum Palast / nur durch seinen Schein.“
Der bildräumliche Aufbau der Szene besteht aus drei Binnenräumen. In zweien von ihnen figurieren chorische Elemente: links vorn das Männertrio (siehe Abb. 1, E 1a), streng getrennt durch die horizontale Barriere aus Bambusstangen, die eine erhöht stehende Terrasse nach vorn abgrenzen, darin, halb liegend, der Offizier in weißer Uniform, befächelt von einer spärlich bekleideten Schönen
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Ursula von Keitz
Abb. 2: Einstellung aus EIN STERN FÄLLT VOM HIMMEL (1934) (E 1b); rechts davon auf einer geneigten, in ein Wasserbecken führenden Rampe liegt im Halbkreis der weibliche stumme Chorus (E 1c), der sich mit der zweiten Wiederholung des Refrains (E 7) erhebt und das in die Mitte dieser Poolszenerie getretene Paar umtanzt (E 8–10). Die verschiedenen Abschnitte des Vortrags transferieren das Lied bzw. seinen Vortrag vom Rand ins Zentrum. EntMarginalisierung und Zentrierung begleiten die Entrückung der männlichen Position des Sängers hin zum Objekt sklavischer weiblicher Huldigung: Der Chorus verneigt sich vor dem Offizier bis zum Boden und die Partnerin kniet vor ihm nieder. E IN S TERN FÄLLT VOM H IMMEL betreibt ein ironisches Spiel mit der eigenen Medialität. Der Herstellungsprozess des Revuefilms, in dem Lincoln das gleichnamige Lied singt, ist Teil der Geschichte. Aber die Kameraführung dieses kurzen Streifens verschmilzt temporär mit derjenigen des Rahmenfilms. Die Hawaii-Szene mit Lincoln erscheint zweimal im Film, bei ihrer Aufnahme im Studio und gegen Ende bei ihrer Wiedergabe im Kino. Das erste Mal verschmelzen für die Dauer des Liedes diegetische und extradiegetische Kamerahandlung. Gezeigt wird also nicht, wie eine zur Studiowelt gehörende Kamera das Set filmt; die Aufnahme präsentiert sich vielmehr selbst vom point of view der innerfilmischen Kamera aus. Aber die Liedszene erscheint als schon fertig montierter Film. Er besteht aus zehn Einstellungen, deren Schnitt exakt der strophischen Struktur des Liedes angepasst ist. Wenn das Lied zu Ende ist, wird mit einem cut out in die Studiototale umgeschnitten (siehe Abb. 2). Die extradiegetische Kamera zeigt nun das gesamte Aufnahmesetting: im Vordergrund das Orchester, das die Musik zum Bild live intoniert hat, über dem Dirigenten hängt der Mikrofongalgen, dahinter steht die diegetische Kamera, deren point of view vorher eingenommen wurde, daneben eine weitere und dahinter das auf ein Podest gebaute Hawaii-Set. Mit dem Kurzschluss von Aufnahme und Wiedergabe werden zwei Zeiten ineinander geblendet. Nicht nur die Szenerie am Set, sondern auch die Filmarbeit selbst wird damit unwirklich-phantas122
„Fülle des Wohllauts“ tisch. Neufelds Ironie besteht darin, dass Inszenierung, Lichtsetzung, Choreographie und Kameraführung des Revuefilms als Stümperarbeit ausgewiesen sind – dieser trägt deutlich parodistische Züge: Die Totale macht keinen Sinn, das Hawaii-Mädchen, das dem Star mit einem Blatt Luft zufächelt, verdeckt diesen halb, und der Tanz der anderen Mädchen ist schlicht indiskutabel. Die Attraktion, die der Sänger darstellt, wird als asymmetrisches Verhältnis zwischen Star und weiblichem Publikum inszeniert. Abgebildet und in der stümperhaften Inszenierung der Lächerlichkeit preisgegeben wird dies im Revuefilm. Der Begriff „Hawaii“ referiert auf einen topographischen Wunschraum, den die Filmproduktionsfirma im Studio aus dem Set-Baukasten zusammensetzt. In der Schlusssequenz kommt der Revuefilm im Kino zur Aufführung, und auch hier fällt der Bildausschnitt des Films im Film (und damit der Rahmen der diegetischen Leinwand) mit demjenigen des Rahmenfilms zusammen. Diesmal wird die Präsentation des Films im Film jedoch gleich doppelt gestört: extradiegetisch durch das Einmontieren eines kurzen Dialogs zwischen Josef und einem Mitstudenten sowie durch Zwischenschnitte auf das Publikum; diegetisch, indem die Studenten den manipulativen Schwindel anprangern und dem ,falschen Star‘ Lincoln den Triumph verweigern. Weil der ‚Film im Film‘ Stuart Lincoln vollends entwirklicht, kann er erst dann ‚wirklich‘ werden, als sich der Vorhang vor der Leinwand geschlossen hat. Der „Stern“, der „vom Himmel fällt“, und von dem es im Lied heißt, er bringe eine „Botschaft von fern“, bleibt auf der Erde so fremd wie der zum Amerikaner gewordene Lincoln in Wien und der von ihm verkörperte Mann in der weißen Uniform, den im Szenenbild des Revuefilms Hawaii-Tänzerinnen befächeln und umtanzen. Er ist ein Fremd-Körper, der in der Fiktion des Revuefilms zur reinen, unbeweglichen, in der anmutigen Pose verharrenden, stimmlosen Projektionsfläche wird. Weil das filmische Abbild Lincoln vollends entwirklicht, kann er erst dann ‚wirklich‘ werden, als sich der Vorhang vor der Leinwand geschlossen hat. Indem er seine Starrolle an den unverhofft zum Stimm-Rivalen gewordenen Josef Reiner abtritt, verlässt er den Illusionskörper und entkommt den Verstrickungen, in die ihn die Attraktivität geführt hat. Mit den oppositionellen Welten von Filmstudio und Wiener Topographie verknüpft Max Neufeld den Gegensatz von Live-Darbietung und Gesangsreproduktion. Nähe und Intimität strahlt der Heurigengarten aus, in dem Musik und Gesang Publikum und Aufführende raum-zeitlich kopräsent in ein- und demselben homogenen Klangraum vereinigen. Mit Nähe, Intimität und Tradition verbunden sind ferner die Zeichen und Objekte des Niedlichen und Infantilen, in die auch die kleine Statur Joseph Schmidts als Josef
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Ursula von Keitz Reiner, welcher der Untermieter einer Puppenmacherin ist, sich einfügt. Über die nonverbalen Zeichen der Inferiorität, des Unreifen, Naiven und Kindlichen hinaus spielt der Dialog explizit auf den semantischen Raum des Niedlichen an, das den Gegenpol zur Männlichkeit bildet: Als Annerl im Glauben, er sei ein mächtiger Filmproduzent, Lincoln Josefs sängerische Qualitäten anpreist, begrüßt jener sie mit den Worten: „Wollen Sie mir eine Puppe verkaufen?“ In der Puppenmetapher stecken neben der Bedeutung, verkleinertes Abbild des Menschen zu sein, die Aspekte Künstlichkeit und – zieht man die Nähe zur (Musik-)Automate als Konnotation heran – mechanisches Vorführen von Kunststücken. Im immer wieder gleich reproduzierbaren Kunststück übertrifft die hochspezialisierte Automate die störanfällige menschliche Leistung. In dem Maße, in dem der Gesang auch Vollzug technischen Könnens ist, das dem Sänger gleichsam auf Abruf zur Verfügung steht, rückt der Star in diesem Film in die Nähe des enteigneten Körpers. Er läuft Gefahr, zur Automate zu werden. Die Welt des Filmstudios als der Ort, an dem auch die Gesangsstimme in ihre technische Reproduktion überführt wird, stellt nicht nur Künstliches (das mediale Produkt Film) her, sondern bedient sich ihrerseits der Künstlichkeit: Neufeld entfaltet eine BackstageWelt aus Kulissen und zeigt in einer weiteren Schlüsselszene durch die Wahl des Bildausschnitts die Ununterscheidbarkeit von Kulissenwelt und realer Welt. Als Pappkulisse entlarvt wird die mise en scène des durch die Tür angezeigten Generaldirektor-Büros erst dann, als sie weggetragen wird. Von Krisen heimgesucht erscheinen beide Sänger, die der Film im Film am Ende zu einem einzigen artifiziellen Film-Körper amalgamiert, dem das diegetische Filmpublikum nur zu gern auf den Leim geht: Stuart Lincoln ist am Zenit seiner Karriere angelangt und rebelliert gegen die Askese, welche die Reduktion seiner Männlichkeit auf den bloßen Funktionskörper eines Gesangsstars nach sich zieht; sie ist der Preis, den er dafür zahlen muss, eine Attraktion zu sein. Josef Reiner wiederum, an der Schwelle von der Ausbildung zum ersten Engagement stehend, ist gerade durch die Störanfälligkeit seiner Sangeskunst noch nicht Funktionskörper. Lincoln ist ins Netz der ökonomischen Verwertungsinteressen eingesponnen, die sich an seine Stimme geknüpft haben: „Ich bin der Kuli, der das Geld verdient“, sagt er einmal zu seinem Manager; das Verhältnis beider trägt kaum verhüllt Züge einer Beziehung von Prostituierter und Zuhälter. Josef andererseits bleibt gebunden an seinen Mangel. Ausdruck defizitärer Körperkontrolle, ist er Symptom dafür, dass die Hermetik des performierenden Körpers – verstanden als Konzentration auf den Gesang – unvollkommen ist. Der Sänger wird als Medium, d. h. hier nicht als Vermittler, sondern als
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„Fülle des Wohllauts“ Mittel in Anspruch genommen. An seinem verdinglichten Körper interessiert nur die Stimme, die, ihrerseits materialisiert in der Tonspur, Lincoln zum Publikum vermitteln soll. Der Verdinglichungsgestus gipfelt in der Metapher der Grammophonplatte: „Na, hören Sie sich diese Grammophonplatte mal an“, sagt Lincoln genüsslich auf die Bemerkung des Revuefilm-Regisseur hin, er habe wohl gerade eine seiner eigenen Platten aufgelegt, und weist ihm die Tür zum Wohnzimmer, wo Josef, sich während der Stimmdouble-Probe am Flügel begleitend, eine italienische Arie vorträgt. Das technische Dispositiv der Entkoppelung von Stimme und Körper, das in der Geschichte, die Neufelds Film erzählt, als fake entlarvt und letztlich verworfen wird, bleibt freilich in dessen eigenem historischen Produktionsrahmen bestehen. Denn dem Spiel mit Set und Aufnahme korrespondiert das Spiel mit der männlichen Stimme. Der Schauspieler Egon von Jordan wird in allen Gesangsszenen von Joseph Schmidt synchronisiert. Die visuelle Ebene des Films im Film steht in deutlichem Kontrast zur ästhetischen Qualität des Gesangs von Lincolns innerfilmischem Stimmdouble Josef. Diese Diskrepanz bewirkt eine Verkehrung der Hierarchie von Bild und Ton und damit auch der Dienstleistungsverhältnisse zwischen ‚stummem‘ Star und Stimmdouble. Nicht der sichtbare Körper des Stars affirmiert sich somit in der Stimme, sondern die Stimme leiht sich einen kinematographisch ins Vernachlässigbare gedrängten Körper. Der Film bezieht wesentliche Impulse aus der Irritation der Erwartungshaltung des Publikums, eine ‚große‘ Stimme habe auch eine körperliche Größe und Statur ihres Trägers zur Voraussetzung. Dahinter steckt die implizite Norm, dass die körperliche Erscheinung beider Geschlechter eine homogene Ganzheit aufzuweisen hat, soll sie als schön bzw. erotisch attraktiv gelten. Die Kamera konfrontiert Josef Reiner/Joseph Schmidt mehrfach mit dem Starkörper Stuart Lincoln/Egon von Jordan. Der ‚schöne‘ Körper Lincolns tritt in die Position, die sonst der weiblichen Figur zufällt. Im direkten Vergleich ist Josef dessen glatter, lebemannhafter Eleganz nicht gewachsen. Er stellt sich auch am Ende nicht vor, um die Ovationen des Kinopublikums entgegenzunehmen, sondern überlässt Lincoln die Bühne. Der Ort der Live-Performance, der Heurigengarten ist als Epigramm des Authentischen der eigentliche Platz, an dem der Sänger zu sich selbst findet. Diese Lokalisierung des mit sich selbst identischen und als er selbst agierenden Gesangskörpers verknüpft Neufeld mit der Integrität der Wiener Lokalkultur: „Ja, das ist halt wienerisch, wienerisch, wienerisch …“, wie es in einem von Josefs Heurigenliedern heißt. Neufelds vielschichtiges mediales Spiel referiert mit dem ironischen Kommentar zur schlechten, ja verhunzten Artifizialität des
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Ursula von Keitz Revuefilms zudem auf die Person seines Hauptdarstellers Joseph Schmidt und deren zeitgenössischen referentiellen Mehrwert. Wie dem realhistorischen Joseph Schmidt aufgrund seiner Statur eine Karriere auf der Opernbühne versagt blieb und er seinen sängerischen Erfolg als Tenor gerade auf die technischen Medien Schallplatte und Radio gründete, so entzieht er als Josef Reiner im Film dem diegetischen Kinopublikum seinen Körper. Was diesem diegetischen Publikum (wie auch dem realhistorischen) bleibt, ist seine technisch reproduzierte Stimme, die das Versprechen auf einen ‚anderen‘ männlichen Körper gibt. Die Medialität des Sängerkörpers, so lässt sich schließen, ist vom Film bi-direktional konzipiert: Körper und Stimme sind in der Welt des Synchrontons wechselseitig austauschbar ebenso, wie sie verschiedene mediale Funktionen erfüllen. Der filmische Körper zerfällt in das flache Bild und in eine Stimme, die ihres inneren Resonanzraumes entbehrt.
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Der (leere) Raum zwischen Hören und Sehen: Zu einem Theater ohne Schauspieler HELGA FINTER
Raum und Krise der Repräsentation Lange schien Theater ein Ort, in dem Hören und Sehen der Zuschauer sich verbinden können. Denn Theater war, wie es die griechische Wurzel für Theater und Theorie – theaomai – nahelegte, durch das Schauen sowohl des konkreten als auch des mentalen Auges eines theates definiert. Dieses doppelte Schauen wurde auf der Bühne durch das vom Schauspieler artikulierte Wort ermöglicht; seine Stimme verband Hören und Sehen durch die Inkarnation oder Verkörperung eines Wortes, die seinen Ursprung mimte. Doch seit geraumer Zeit öffnet das Theater einen Raum zwischen Hören und Sehen und stellt damit die Wahrnehmung des Zuschauers selbst in den Vordergrund. Hören und Sehen gehören psychogenetisch verschiedenen Wahrnehmungsordnungen an und bringen – folgt man der (post-)lacanschen Psychoanalyse – simultan drei Stadien der Ichbildung ins Spiel, die vom Haut- und Klang-Ich (Anzieu/Kristeva) über das Spiegel-Ich (Lacan) zu einem, durch Verbalsprache symbolisierten Ich (Benveniste) führen.1 Beim Hören und Sehen des traditionellen Theaters werden die den drei Stadien der Identitätsbildung entsprechenden Räume – Klangraum der Chora, Bildraum des Spiegelstadiums und Sprachraum – unter der Ägide des Wortes zusammengeführt, um mit ihm zu verschmelzen. Diese Räume treten auseinander, wenn Inkarnation und Inkorporation des Wortes unter Verdacht stehen. Krise des Wortes und Krise der Repräsentation wurden spätestens seit Artauds Experimenten akut. 1
Vgl. Didier Anzieu: Le moi-peau, Paris: Dunod 1985; Julia Kristeva: La révolution du langage poétique, Paris: Éditions du Seuil 1974; Jacques Lacan: „Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je“, in: Ders., Écrits, Paris: Éditions du Seuil 1966, S. 93–100; Émile Benveniste: „De la subjectivité dans le langage“, in: Ders., Problèmes de linguistique générale, Bd. 1, Paris: Gallimard 1966, S. 258–266.
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Helga Finter Theater suchte Antworten auf die Theatralisierung von Alltagsleben und Politik, wobei auch Medien wie der Film dazu beitrugen, ein automatisches Zusammenfallen von visueller und auditiver Wahrnehmung zu problematisieren. Seit den sechziger Jahren geht so auf dem Theater die Trennung von Hören und Sehen gerade von Experimenten mit der Konstruktion theatraler Personen aus. Von Michel Chion für den Film untersucht, der im Medium selbst, das Bild- und Tonspur trennt, die Formen der Audio-Vision theoretisierte,2 hat so die Problematik der Audio-Vision des Zuschauers Einzug in das Theater gehalten. Dieses hatte bisher gerade durch die von präsenten Schauspielern artikulierte Stimme die Fiktion einer Verschmelzung der visuellen und auditiven Wahrnehmung verwahrscheinlichen können.3 Mit Hilfe der Medien werden seit den siebziger Jahren nicht nur filmische Verfahren auf die Bühne übertragen – so die Trennung von Schauspieler und Stimme, von Bild und Ton, Slow Motion, Freezes und visuelle wie auch auditive Nahaufnahmen.4 Ihr Einsatz öffnet auch zwischen der visuellen Wahrnehmung des Performers und dem Hören seiner – oft klanglich modifizierten – Stimme einen intermediären Raum für das Imaginäre des Zuschauers, in welchem die Schauspieler- bzw. Performer-Präsenz sich für den Zuschauer de-realisieren, transfigurieren und verändern kann. Heute zeichnet sich eine weitere Tendenz im Experimentaltheater ab, die, ähnlich wie am Ende des 19. Jahrhunderts mit Gordon Craig oder Alfred Jarry, die Funktion des Schauspielers zur Disposition stellt. Waren noch in Brace up (1991) der Wooster Group nur wenige Performer allein als Talking Heads vom Bildschirm aus vertreten, während die übrigen Rollenpersonen sowohl durch Performer auf der Bühne präsent waren, wie auch über simultane Videoaufzeichnung auf Bildschirmmonitoren erschienen, so stellte Denis Marleau mit Maurice Maeterlincks Les Aveugles 2002 in Avignon ein Dispositiv vor, das auf jegliche Schauspieler-Präsenz verzichtete: Die Gesichter von zwei Schauspielern leuchteten dort als auf zwölf Styropor-Masken projizierte Video Heads aus der schwarzen Bühne in einer Weise hervor, die an die Bühne von Samuel Becketts That Time gemahnte.5 Über Lautsprecher war der auf die beiden Schau2
Vgl. Michel Chion: L’audio-vision, Paris: Nathan 1990; Ders.: La voix au cinéma, Paris: Cahiers du Cinéma/Éditions de l’Étoile 1982.
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Vgl. Helga Finter: „Audiovision“, in: Erika Fischer-Lichte u. a. (Hg.), Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft, Tübingen: Gunter Narr 1994, S. 183–192. Vgl. Helga Finter: „Das Kameraauge des postmodernen Theaters“, in: Chris-
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tian W. Thomsen (Hg.), Studien zur Ästhetik des Gegenwartstheaters, Heidelberg: Carl Winter 1985, S. 46–70. In der Inszenierung von 1985 beim Pariser Festival d’Automne war so das Gesicht David Warrilows als einziger Lichtpunkt auf der schwarzen Bühne
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Der (leere) Raum zwischen Hören und Sehen spieler verteilte Text der Blinden zu hören, wobei der Zuschauer ihre Mundbewegungen den aufgezeichneten Stimmen wie im Kino zuzuordnen hatte. Blieb am Ende vielleicht bei manchen ein Zweifel ob dieser Phantompräsenz, so konnte der täuschende Eindruck für diejenigen, die genau hinhörten, jedoch insofern sofort aufgelöst werden, als die durch eine konventionelle Sprechrhetorik gekennzeichneten Schauspielerstimmen jeder signifikanten Spur von vokaler Körperpräsenz wie charakteristisches Timbre, Melos, Prosodie und Akzent entbehrten. Die Öffnung eines Raumes zwischen Hören und Sehen wurde dabei letztlich gerade durch eine mangelnde Stimmkörperpräsenz beeinträchtigt. Ein intermediärer Raum zwischen Hören und Sehen kann jedoch die Zuschauerwahrnehmung dekonstruieren, wenn er das Verhältnis zwischen Imaginärem und Symbolischem als ein Verhältnis zum Begehren, zum Unmöglichen des Realen zu dramatisieren weiß. Ein solcher theatraler Raum soll im Folgenden ausgehend von einem Phänomen diskutiert werden, das seit geraumer Zeit auf der experimentellen Bühne zu beobachten ist: das Verschwinden auf der Bühne live verlauteter zugunsten aufgezeichneter Stimmen, deren Körper unsichtbar bleiben. Vom Kontrastieren der live artikulierten und der Konservenstimmen, das die Theatralität durch ein Spiel zwischen Präsenz und Absenz erhöht – so schon Robert Willsons Orlando,6 doch auch heute Pippo Delbonos Questo buio feroce – bis zum Rückzug der Sprache aus den präsenten Körpern bei Romeo Castelluccis Tragedia endogonidia oder jüngst in seiner Divina commedia ist auf der zeitgenössischen Bühne eine immer stärker insistierende Präsenz akusmatischer Stimmen festzustellen, die simultan von einer durchkomponierten Klang-, Geräusch- und Tonspur gedoppelt wird. So wird heute ein Theater ohne Schauspieler denkbar, das nicht mehr, wie bei Marleau, die filmische Zuordnung von Hören und Sehen mimt, sondern diese selbst befragt. Der Einsatz digital aufgezeichneter akusmatischer Sprechstimmen, deren Körperquelle unsichtbar bleibt und nicht zu verorten ist, wie auch der Einsatz von projiziertem Schrifttext bei gleichzeitiger Präsenz von stumm agierenden, allein durch ihre elektronisch verstärkten Bewegungsgeräusche sich verlautenden Körpern, zeigen die Tendenz, das auf den Schauspieler projizierte Zuschauerbegehren zu dramatisieren. Der Einsatz der Medien legt die (Wahrnehmungs-)Spaltung des Zuschauersubjekts offen, indem es ihm eine zu sehen, der seiner aufgezeichneten Stimme folgt; und nur durch einen mehrmaligen Augenaufschlag sowie ein abschließendes Lächeln konnte
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der Zuschauer sehen, dass tatsächlich ein Schauspieler auf der Bühne anwesend war. Vgl. Helga Finter: „Der Körper und seine Doubles“, in: Forum modernes Theater 1 (1996), S. 15–31.
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Helga Finter Repräsentanz seines skopischen und invokatorischen Liebesobjekts in Form eines, das Wort inkarnierenden Schauspielers verweigert. Diese Krise der Repräsentation, die von der unmöglichen Präsenz eines solchen Objekts ausgeht, scheint so auf die mediale Überflutung mit Liebes- und Schreckensobjekten zu antworten, welche die Gesellschaft des Spektakels kontinuierlich offeriert. Ein Theater ohne Schauspieler scheint heute möglich und fand jüngst mit Heiner Goebbels Stifters Dinge einen Raum.7 Man könnte hier auf ein Ende des Theaters schließen. Doch gibt es auch vielfältige Gründe, eher eine Transformation, eine weitere Entwicklung zu mutmaßen: Noch sitzen Zuschauer vor einer physisch realen Bühne, in der noch immer – wenn auch anorganische – Körper und Stimmkörper in Aktion sind, so dass sich während eines fest umrissenen Zeitabschnitts eine Kopräsenz von Bühne und Zuschauern realisiert. Immer noch haben wir es mit Theater zu tun, denn solche performances lassen auf eine imaginäre Bühne ein Drama – im Sinne einer konkreten Handlung – projizieren, das sich als psychische Handlung nun aber nicht auf der Ebene der dargestellten Figuren, sondern auf der Ebene der Wahrnehmung des Zuschauers vollzieht. Zudem wirkt dieses Theater dank der Kraft von Stimmen, die – wenn auch aufgezeichnet – ihre Fähigkeit entfalten, imaginär eine Präsenz zu evozieren. Die Kraft von Stimmen hängt mit dem ersten ‚Körperbild‘ zusammen, das psychogenetisch ein Klangkörperbild ist, und diese Vorgängigkeit, so meine These, beeinflusst nicht nur affektiv die Rezeption von artikulierten Stimmen beim Zuschauer, sondern determiniert auch die visuelle Rezeption des Geschehens. Um die Stoßkraft eines solchen Theaters mit menschenleerer Bühne genauer umreißen zu können, möchte ich die besondere Form der Audiovision am Beispiel von Heiner Goebbels Stifters Dinge untersuchen, die ohne präsente Performer, doch nicht ohne aufgezeichnete Stimmen auskommt.
Aufgezeichnete Stimmen und ihre Präsenzwirkungen Zuerst sind hier einige Überlegungen zur Spezifik aufgezeichneter Stimmen und zu dem, was ihre Präsenz schaffende Kraft ausmacht, angebracht. Stimmen haben Präsenzwirkung durch die Art und Weise wie sie einen Klangkörper konstituieren bzw. projizieren. Ihr Timbre zeigt nämlich ein psychosomatisches Verhältnis zum Körper an; die Relation zwischen dem psychosomatischen Körper des Spre-
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Uraufführung Théâtre Vidy-Lausanne, 13. September 2007.
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Der (leere) Raum zwischen Hören und Sehen chenden und seiner Sprache signiert zudem als Reibung die Körnigkeit der Stimme – das grain Roland Barthes’8 – sowie den Akzent und ein singuläres Melos, das als manifestes Verhältnis zu einer ersten, phantasmatischen Stimme gelesen werden kann. Mit der Prosodie – Phrasierung und Intonation – wird zudem das Verhältnis zum Stimmkörper eines Textes hörbar. Jedes Mal ist dabei Präsenz einer Stimme Wirkung des Verhältnisses zu einem Abwesenden: zu einer Alterität, zum Anderen. Das ausdrückliche Ausstellen dieses Verhältnisses schafft die Präsenzwirkung einer Stimme. Eine Stimme, die einen Anderen nicht vorsieht, da sie ihn eingekapselt hat, ihn verneint oder verwirft, ist dagegen als eine Stimme ohne Körper hörbar: So macht die unmögliche Trauer um die erste, notwendig verlorene Stimme eine Stimme deprimiert und depressiv sowohl in Hinsicht auf die Stimmbreite wie auch auf die Prosodie. Bleibt eine Stimme im Banne der Macht eines imaginären Körpers, den sie in verzweifelter Suche nach einem vokalen physischen Sitz verfolgt, dann manifestiert sich diese Verweigerung des Sprachkörpers als hysterische Stimme, die sich anstrengt, die Stimme in einem phantasmatisch ursprünglich biologischen Körper zu verorten. Verwirft die Stimme aber den symbolischen Anderen, wie die paranoide Stimme, die ihn auszutreiben sucht, so leidet ebenfalls die Körperpräsenzwirkung. Diese drei Stimmtypen lassen in ihrer Körperlosigkeit zugleich die Absenz eines Verhältnisses oder ein hysterisches bzw. perverses Verhältnis zum Anderen hören. Der Modus des Verhältnisses zum Anderen schreibt sich also ins Gewebe der Stimme – in das Timbre, das Melos, die Prosodie – ein: als Abwesenheit des Begehrens des Anderen in Form der unmöglichen Trauer und der Einkapselung der phantasmatischen ersten Stimme, oder als seine Verweigerung im hysterischen Versuch, ihn zu inkorporieren bzw. im perversen Hass, der ihn auszutreiben sucht. Die aufgezeichnete Stimme fügt diesen vokalen Präsenzeffekten darüber hinaus noch ihren Status des Unmöglichen hinzu. Beim Hören einer Aufzeichnung der eigenen Stimme kehrt diese immer als vergangene, unkenntlich fremde zurück. Schon die Tonbandstimme des jungen Krapp in Samuel Becketts Krapp’s Last Tape zeugte vom Streben eines für den alten Krapp nun leblosen, toten Ichs, dem die Geräusche und der schleppende Atem seines präsenten, alten, begehrenden Körpers antworteten. Eine aufgezeichnete Stimme ist so eine Totenstimme, denn sie verweist auf den absolut Anderen. Auf der Bühne als akusmatische Stimme eingespielt, leitet sie die Totentrauer, die Trauer um die Utopie einer im Körper verankerten Stimme ein. Doch eine akusmatische Stimme kann auch die
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Roland Barthes: „Le grain de la voix“, in: Ders., L’obvie et l’obtus, Paris: Éditions du Seuil 1982, S. 236–245
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Helga Finter Bühne unter die Herrschaft des großen Anderen, des Symbolischen zwingen, die durch die Omnipräsenz der Medien in der Gesellschaft des Spektakels in den Hintergrund getreten zu sein scheint. Ein Aspekt der Stimme, der über denjenigen einer immer schon erfolgten Trennung und die Unerreichbarkeit des vokalen Objekts des Begehrens hinausweist, wird hier deutlich: gestohlene und soufflierte Stimmen können einer Schriftlogik gehorchen. Jacques Derrida bestimmt in „Signature, événement, contexte“9 die Schrift durch drei Charakteristika: sie ist Markierung (marque), die bleibt, auch in Abwesenheit dessen, der sie geschrieben hat, und somit in Absenz wiederholt werden kann; damit beinhaltet Schrift die Kraft, mit dem Kontext zu brechen, und zugleich eine potentielle Aufpfropfung (greffe) auf andere Kontexte, diese Kraft zum Bruch (force de rupture) ist geradezu Struktur der Schrift; sie verdankt sich einer Verräumlichung (espacement), die Syntagmen vom inneren Kontext aber auch von jeglicher Form eines präsenten Referenten zu trennen vermag, und entspringt dem Aufscheinen der Markierung. 10 Die Bearbeitung der aufgezeichneten oder vom Körper getrennten Stimme vermag in der Tat auf der Bühne eine solche Schriftlogik zu realisieren, wenn die Stimme zugleich einer theatralen Dialektik von An- und Abwesenheit unterworfen wird. Die Rezeption des Zuschauers modalisiert sich dabei gemäß seinem Verhältnis zu dieser sonoren Schrift: Die aufgezeichnete oder vom Körper getrennte Sprechstimme lässt dann die vokalen Markierungen als Grapheme hören; sie wird ihrem alten Kontext entnommen und in den einer Bühnenaktion verpflanzt, um die Präsenz zu subvertieren, indem sie mit allen Formen präsenter Referenten bricht. Doch durch die theatrale Situation einer doppelten Ansprache, sowohl innerhalb der Bühne wie auch zum Publikum, legt die aufgezeichnete Stimme zugleich die Konstruktion von Präsenzwirkungen beim Zuschauer nahe, da er die gesprochenen Worte als an ihn adressiert vernimmt. Dies ist auf den akusmatischen Status einer Stimme zurückzuführen, deren Quelle unsichtbar bleibt. Was der Zuschauer hört, wird er mit dem verbinden, was er sieht, um sodann Hypothesen der Motivation und Kausalität zu formulieren. Sein skopisches Begehren inszeniert, was sein invokatorisches Begehren zu hören vermag: So inszeniert die sensible Intelligenz des Zuschauers selbst, wenn er seinen eigenen audiovisuellen Text webt und liest, in gleicher Weise wie der Leser der Seiten von Stéphane Mallarmés Igitur.11 9
Vgl. Jacques Derrida: „Signature, événement, contexte“, in: Ders., Marges de la philosophie, Paris: Editions de Minuit 1972, S. 365–393.
10 Vgl. ebd., S. 377378. 11 Vgl. Helga Finter: Der subjektive Raum, Bd. 1: Die Theaterutopien Stéphane Mallarmés, Alfred Jarrys und Raymond Roussels, Tübingen: Gunter Narr 1990.
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Der (leere) Raum zwischen Hören und Sehen Um eine solche audiovisuelle Lektüre zu ermöglichen, muss die aufgezeichnete Stimme, die einen Text spricht, vokal markiert sein, das heißt, sie muss sinnlich wahrnehmbare Züge eines begehrenden Verhältnisses zum anderen aufweisen. Diese übersetzen sich in vokale Spuren, die Präsenz anzeigen. Dazu ist Körper, d. h. Timbre, Melos, Körnigkeit und Prosodie notwendig, vielleicht auch Akzente, damit ein Stimmkörper gehört werden kann, der das Begehren des Zuhörers anspricht. Vom Zuschauer/Zuhörer werden also ein sensibles Gehör und die Bereitschaft, eine Alterität aufzunehmen, erwartet.
Heiner Goebbels: Stifters Dinge Für ein solches Theater der Schrift ist Heiner Goebbels Produktion Stifters Dinge in vielfacher Weise paradigmatisch. Zum ersten Mal arbeitet der Künstler ohne Schauspieler, ohne ein Alternieren von live artikulierten und aufgezeichneten Stimmen. Vier aufgezeichnete Sprechstimmen sind zu hören: die Stimme eines älteren Mannes,12 der Auszüge von Texten Adalbert Stifters liest, die in rhythmischer Prosa subtile Beobachtungen über kaum wahrnehmbare Veränderungen in einer feindlichen Natur beschreiben; ihnen folgt die Stimme von Claude Lévi-Strauss, der sich während eines Interviews zu seinen Tristes Tropiques äußert; dann die Stimme von William Burroughs, der Auszüge aus Nova Express-Towers Open Fire liest; schließlich ist die Stimme von Malcolm X während eines Interviews zu hören. Vier Stimmen in zwei bzw. drei Sprachen lassen Fragmente von vier verschiedenen Texten verlauten. Gemeinsam ist diesen das Motiv der Zerstörungskraft von Natur und Mensch. Man hört die Stimmen begleitet oder überlagert von Geräuschen, die der Mechanik des Bühnendispositivs und dem Funktionieren einer komplexen Bühnenmaschinerie entspringen (siehe Abb. 1 u. 2). Drei mannshohe weiße, jeweils von einem Chromgitter eingefasste Leuchtkuben stehen hintereinander an der rechten Längsseite der leeren rechteckigen Bühne, die aus drei hintereinander angeordneten rechteckigen Flächen gebildet wird. Die nach hinten verlaufenden Seiten der gesamten Bühnenfläche sind zudem wiederum von Metallschienen begrenzt. Der Bühnenfond des Rechtecks wird von einer scenae frons begrenzt, die fünf mechanische Klaviere mit kahlen Ästen, einer ausrollbaren Projektionsleinwand sowie mit elektronischen Apparaten zusammenfügt. Aus dieser Wand entspringen mechanisch produzierte Musiksequenzen wie auch aufgezeichnete
12 In der Uraufführung in Lausanne die Stimme von René Gonzales, in der Frankfurter Fassung die Stimme von Dr. Hermann Josef Mohr.
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Helga Finter
Abb. 1: Stifters Dinge, Theâtre de Vidy; Fotograf: Mario Del Curto Gesänge. Die Aufzeichnungen von Gesängen und die mechanisch produzierte Musik rahmen ein Klanggewebe aus mechanischen Geräuschen und aufgezeichneten Sprechstimmen ein. Sie gehören mehreren Epochen und Zivilisationen an: Stimmen einer Beschwörungsformel der Papua aus Neuguinea, aufgenommen 1905, der zweite Satz des Italienischen Konzerts F-Dur BWV 971 von Johann Sebastian Bach, ein Wechselgesang kolumbianischer Indianer und ein im chromatischen Modus gesungenes traditionelles griechisches Lied, mit dem Frauen der Insel Kalymnos sich grüßend an gestrandete Emigranten richten, die als Fischer vom Magreb aufgebrochen waren.13 Die ausgestrahlten Sprechstimmen haben Präsenzwirkung durch ein ihnen eigenes Timbre, ein besonderes Melos und eine charakteristische Prosodie. Sie fokalisieren unsere Wahrnehmung auf diesen menschenleeren Raum in mechanischer Bewegung und Aktion und erlauben, Koinzidenzen herzustellen zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir hören. Die von ihnen gesprochenen Sätze werden so zu Signifikantenpotentialen, die eine Suche nach szenischen, visuellen Analogien in der durch subtile Lichtregie, Bildprojektionen, mechanische Bewegungen und chemische Prozesse sich rhythmisch verwandelnden Bühne provozieren: eine Kosmogonie entfaltet sich vor unseren Augen, doch auch ein ökologisches Desaster. Die Stimmen werden mehr und mehr spektral. Halluziniere ich, wenn ich eine Stimme nach der Sintflut höre, die diese kommentiert? Oder aber ist die akusmatische Stimme die des Herrn, der hinter der Bühne diese erst möglich macht?
13 Vgl. Heiner Goebbels: Stifters Dinge, Programmheft, Theâtre de Vidy, Lausanne, 2007.
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Der (leere) Raum zwischen Hören und Sehen
Abb. 2: Stifters Dinge, Theâtre de Vidy; Fotograf: Mario Del Curto Unterbrochen von Gesängen und Musik mit religiösen Konsonanzen, adressieren sich diese Stimmen mit ihrer Beschwörung, ihrem Jubilieren und ihrer Klage an ein transzendent(al)es Jenseits an einen Anderen. Wohl handelt es sich hier um den Trauergesang unserer Zivilisation – aber auch um ein audiovisuelles Gedicht, das in beeindruckender Schönheit die Geburt eines Universums, einer Zivilisation feiert, ein posthumanes theatrum mundi, ein Universum, aus dem sich dio fabbro zurückgezogen hat, und wo der zerstörerische Mensch nicht mehr dargestellt noch darstellbar ist. Doch zugleich gibt dieses Theater auch dem Raum, was normalerweise unsichtbar und unhörbar bleibt, wenn ein Schauspieler die Mitte der Bühne besetzt und alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ausgehend von akusmatischen Worten, von Maschinen in Aktion, von durch Maschinen produzierten und übertragenen Gesängen, Geräuschen und Musik, wird ein anderes Universum auf der Bühne erschaffen, ein anderer Raum. Dieser andere Raum verdankt sich der Präsenzwirkung von Worten und Klängen, deren Quelle unsichtbar bleibt. Ihre Alterität wird einerseits durch die Abwesenheit derer, die sie hervorbringen, unterstrichen und andererseits durch die Präsenz der sichtbaren Maschinen, ihrer Bewegungen und Aktionen, die Bilder, Projektionen, Töne und Geräusche hervorbringen. Der Zuschauer setzt den unsichtbaren Klang mit dem Sichtbaren in Beziehung, arrangiert in seinem Imaginären zu neuen Verbindungen, was der Künstler – ausgehend von sonoren und konkreten objets trouvés – in Beziehung gesetzt hatte: die aufgezeichneten Worte und Gesänge, die projizierten Bilder und die Objekte, Maschinen und mechanischen Klaviere, die er in neuen Relationen, neuen Aktionen verteilt und in den Kontext der Bühne verpflanzt hatte. Am Ende kondensiert sich die Maschinen–Performance im Bild einer Schrift: das Faksimile einer Seite der Handschrift der dritten
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Helga Finter Fassung aus Die Mappe meines Urgroßvaters von Adalbert Stifter. Projiziert auf die gesamte, dreigeteilte Rechteckfläche der leeren Bühne gibt sie das Schlussbild dieses Theaters einer audiovisuellen Schrift ab. Zuvor hatte der Zuschauer gesehen, wie das aus den weißen Kuben auf die drei Bühnenrechtecke geleitete Wasser in Nebeldämpfe verdunstete und dann zu einem Eismeer gefror. Die scenae frons aus mechanischen Klavieren hatte sich langsam, auf Schienen gleitend, auf die Zuschauer zubewegt, um für einen Moment vor ihnen anzuhalten. Die Theatermaschinerie verbeugt sich vor dem Publikum, das applaudiert, bevor sie sich nach hinten zurückzieht, um auf der nun leeren Bühne für die Projektion des Bildes einer Handschrift Platz zu lassen. Nach Verstummen der Stimmen bleibt allein, was diesen vorausgeht und sie bedingt, um erneut singuläre Lektüren hervorzurufen. Falls es hier eine Botschaft geben sollte, so diese: Die Schrift ist der absolute Andere. Ihr verdankt sich, dass diese Hymne an die Präsenz der Absenz und der Absenz der Präsenz nicht zum Trauergesang wird, sondern sich in einer Hymne an die Schönheit aufheben kann.
Stimmenschrift Die Trennung der Stimme vom präsenten Körper des Sprechenden, die Enteignung des Schauspielers von seiner Stimme, gibt ihr die Kraft einer omnipräsenten akusmatischen Stimme, macht sie zur halluzinierten mütterlichen oder väterlichen Stimme, zur gebietenden und verbietenden Stimme Gottes oder des Gesetzes. Als Stimme von Toten oder Abwesenden, die in keinem direkten Referenzbezug zum Spiel der Bühne stehen, hingegen ist die akusmatische Stimme auf der Bühne nicht mehr diejenige eines Vaters, da Hamlet nicht dargestellt wird. Diese Abwesenheit des Sohnes entlastet den Zuschauer von dem Zwang, die akusmatische Stimme in einem Ursprung zu verorten. Er selbst kann Hamlet werden und sein bzw. mit seinem Begehren spielen. So schafft diese Abwesenheit auch eine Heiterkeit, ähnlich der, die beim Wilson der Anfänge so verzauberte: ein Paradies anderer Stimmen, ohne die physische Schwere ihrer Ticks, Neurosen und Pathologien. Nach unserem Belieben können wir mit dem Imaginären dieser Stimmen spielen, um unseren eigenen Text zu weben. In dieser Bühne interferiert das Reale allein durch sensible, sinnlich erfahrbare Materialitäten – Klänge, Licht, Dämpfe, Eis –, die eine Schrift im Raum weben lassen. Diese Dekonstruktion eines Begehrens nach dem Ursprung der Stimme erfolgt in einer Stimmenschrift, die beim Zuschauer die Konstruktion einer audiovisuellen Schrift ermöglicht, ausgehend vom Modus seines Verhältnisses zum Anderen: Die akusmatischen
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Der (leere) Raum zwischen Hören und Sehen Stimmen haben die Autorität entfernter Ahnen – Landschaft mit entfernten Verwandten war der Titel einer Produktion Heiner Goebbels aus dem Jahre 2002. Wahlverwandte sind sie, symbolische Väter vielleicht, denn Goebbels überträgt hier auf Männerstimmen von Schriftstellern, Anthropologen, einem Politiker, kurzum: von Beobachtern unserer Zivilisation, durch ihre akusmatische Verlautung eine Autorität von geistigen Vätern. Doch zugleich lassen als Kontrapunkt ein religiöser oder weiblicher Gesang, das Rauschen der Materie, die Instrumentalmusik, auch etwas wie ein Lachen in dieser Musik hören, ein riso eterno, das eine unendliche Kontinuität ankündigt. Die zwangswiederholende Phrenesie, die industria der Maschine provoziert hingegen ein Lachen Bergson’scher Art.14 Es verspottet eine ziellose mechanische Aktivität, die wie vom Trieb geschüttelt so leer ist wie die Bühnenfläche. Denn lächerlich ist nicht nur das auf den Menschen aufgepfropfte Mechanische, lächerlich ist auch eine Mechanik, die das Menschliche nachahmt. In Stifters Dinge ist die Krise der Repräsentation aufgehoben in einer audiovisuellen Schrift, die dem Zuschauer abverlangt, sein eigenes Verhältnis zum Imaginären und zum Symbolischen im Modus einer Theatralisierung zu weben: Er selbst stiftet die Beziehung der Dinge, so wie dies auch die Schrift und die Dichtung tun. Der Zuschauer ist hier aufgerufen ihnen zu folgen, mit dem Realen seines Begehrens zu hören und zu sehen, was im Übrigen auch ein Leser vollbringt, wenn ihn die Schrift zum Hören und Sehen verleitet. Der leere Raum, die Abwesenheit von Schauspielern auf der Bühne kann ebenso verstören wie der blinde Fleck am Ort des Sehens oder Hörens, die Leerstelle des dezentrierten Subjekts. Es ist der Schrecken vor der Leere einer Bühne, in der kein Repräsentant des großen Anderen mehr in Fleisch und Blut anwesend ist. Doch diese Abwesenheit setzt der Metaphysik der Präsenz die Kraft einer Schrift entgegen, die über akusmatische Stimmen den Raum auf eine Analyse des eigenen Begehrens zu öffnen vermag. Eine solche Antwort auf die Krise der Repräsentation bestätigt zwar den Zweifel, dass ein anderer noch Statthalter der Präsenz des großen Anderen zu sein vermöge. Doch sagt sie zugleich auch, dass allein der Schrift, oder im weiteren Sinne der Sprache, das Wissen über das eigene Begehren zugeschrieben werden kann, weshalb sie den Platz des Anderen sowohl für den Gläubigen wie für den Agnostiker einnimmt. Der Stimme eines solchen Anderen gibt Stifters Dinge einen Raum zwischen Hören und Sehen.
14 Vgl. Henri Bergson: Le rire. Essai sur la signification du comique, Paris: Presses Universitaires de France 1940.
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„All activity must occur within a given space“1. Dara Birnbaums taktische Züge im Feld der Visuellen Kultur SIGRID ADORF „I like the idea of playing the kind of chess that video was, technically speaking, in the early years. I had to be seven moves ahead and seven behind, and I could never see the one that I always saw in my mind.“ Dara Birnbaum2
„Schach“ – Zug um Zug der Versuch, den Handlungsraum des Gegenspielers einzugrenzen, die Logik seiner Schritte zu erkennen und ihn festzusetzen. Dara Birnbaum verwendet das Bild dieses strategischen Spiels, um den Reiz, den das Medium Video in den frühen Jahren seines Erscheinens auf sie ausübte, zu erklären. Aber wer spielt hier mit wem? Und um was? Bekannt wurde Birnbaums Arbeit mit Video für ihre frühe, kritische Auseinandersetzung mit der Bildwelt des Fernsehens.3 Schon das legendäre Band Technology
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Zitiert n. einem Konzeptblatt im Archiv der Künstlerin, abgebildet in: Dara Birnbaum: Retrospective: The dark matter of media light, Kat. der Ausst., S.M.A.K. Stedelijk Museum voor Actuele Kunst Gent. Der vorliegende Beitrag ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung meines Katalogbeitrags „‚All activity must occur within a given space‘. Dara Birnbaum’s Tactical Qualities of Representational Criticism in the Field of Visual Culture“ (über-
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setzt von Steven Lindberg). Dara Birnbaum: Interview mit Hans Ulrich Obrist, in: Gabriele Detterer (Hg.), Art Recollection: Artist’s Interviews and Statements in the Nineties, Florenz: Danilo Montanari & Exit & Zona Archives Editori 1997, S. 35–46, hier S. 38; vgl. die deutsche Fassung (Erstpublikation) des Interviews, in: Dara Birnbaum, Kat. der Ausst., Kunsthalle Wien 1995, S. 44–64.
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Birnbaum selbst datiert den Beginn ihrer künstlerischen Arbeit mit Video zumeist auf das Jahr 1977 und begründet ihn mit ihrem kritischen Interesse am Fernsehen: „I started in video in 1977 when video first became accessible to artists thanks to the Portapak. At the time, I saw television as
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Sigrid Adorf Transformation: Wonder Woman, in dem sie Bilder der damals populären TV-Serie neu montierte und deren Künstlichkeit und Affektgeladenheit grotesk auf die Spitze trieb, kennzeichnet ihre als dekonstruktiv und postmodern bezeichnete Vorgehensweise, die sie bis zu den großen Videoinstallationen der 1990er Jahre weiterverfolgte:4 Fernsehbilder wurden als Foundfootage-Material angeeignet, zerlegt, partiell wiederholt und neu montiert, so dass sich die Konstruktionsprinzipien des ursprünglichen Bildes erkennbar machen. Diese Form eines close lookings, um es in Anspielung auf die Methode der textnahen Lektüre (close reading5) zu formulieren, erlaubte es Birnbaum von Anfang an, das Spiel mit den Medienbildern aufzunehmen: „‚Talking back to the Media‘. I think this was it: I wanted to arrest the image without translating it. […] So people said that I became a pirateer: ,Oh, she’s the one who is pirateer of the images‘.“6
Inter-Cut: Zwischen Medien- und Kulturanalyse Birnbaum suchte Mitte der 1970er Jahre nach einer Möglichkeit, die populäre Bildwelt des Fernsehens mittels Video von innen hethe dominant language in this country […] and I thought it was important to take these images at hand and find a way to use them to perform a kind of investigation with a very critical edge.“ Dara Birnbaum: „Sighting the
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collective shadow“, D. B. in einem Interview mit Jo Ann Baldinger, in: Pasatiempo, 18.–24. Juni (2004), S. 54–56, hier S. 54. Benjamin Buchloh gibt Mitte der 1980er Jahre eine sehr präzise Beschreibung zur Form und Wirksamkeit von Birnbaums dekonstruktiver Videoästhetik: „Equally selective emphasis is put on the devices of television itself, since each tape by Birnbaum seems almost to distill the essence of the standard television strategies by excluding all other aspects (narrative, sequentiality, combination, and simultaneous operation of various devices). In this rigorous reduction of the syntax, grammar, vocabulary, and genres of the language of commercial television does Birnbaum’s work follow the procedures of deconstruction as they were developed in the context of modernist collage and montage work, and the effects of her application of these high-art strategies are stunning: revealing to the viewer that the apparatus of television conveys its ideological message as much by its formal strategies and its technique as by its manifest subject matter.“ Buchloh, Benjamin: „From Gadget Video to Agit Video: Some Notes on Four Recent Video Works“, in: Art Journal, 45/3 (1985), S. 217–227, hier S. 222.
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Zur Methode des close reading vom New Criticism bis zum différance-Begriff von Jacques Derrida siehe Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. v. Ansgar Nünning, 4. Aufl., Stuttgart/Weimar: Metzler 2008. S. 98.
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D. Birnbaum: Interview mit Hans Ulrich Obrist, S. 40.
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„All activity must occur within a given space“ raus zu befragen – das Bild anzuhalten, es gleichsam Zug um Zug festzusetzen, es dingfest zu machen.7 Diese Form einer „Festnahme“, die das Medienbild nicht zu übersetzen oder verändern, sondern durch Wiederholungen zu analysieren versucht, verhält sich komplementär zu anderen, etwa zeitgleich plausibel werdenden Verfahren poststrukturalistischer Kritik, insbesondere dem der derridaschen Dekonstruktion. Im Unterschied zum klassischen Konzept der creatio ex nihilo betonen Birnbaums Videoarbeiten die Vor-Gegebenheit der Bilder, mit denen sie arbeitet. Der Angriff der Bilder-Piratin setzt eine genaue Beobachtung des Signifikantenspiels und ein ‚Heranschleichen‘ voraus, das als Taktik einer kritischen Nachahmung verstanden werden kann. Mit Mieke Bal ließe es sich als künstlerischer Ansatz einer Kulturanalyse beschreiben.8 Birnbaums Montagetechniken spüren den affizierenden Momenten der Bildfolgen, Gegenüberstellungen und Motive nach. Wenn sich etwa zu Beginn von Technology Transformation: Wonder Woman die sekundenschnelle Verwandlungsszene zu einem Wiederholungsmoment verdichtet, in dem Bild und Ton auf der Stelle zu treten scheinen, dann provoziert die neu editierte Form des Bildes sozusagen dessen Geständnis. Das Bild fängt an über sich selbst zu sprechen, wobei die Wahrnehmung der Wiederholung durch die akustische Repetition noch stärker hervortritt als die visuelle. Der festgehaltene Höhepunkt der sich im Feuerball drehenden Büroangestellten, die sich in eine amerikanische Amazone verwandelt, wird zu einem bloßen, um sich selbst kreisenden Effekt. Diese technische Verwandlung, um Birnbaums Werktitel ins Gedächtnis zu rufen, hält die Macht des Spektakels und der großen Medienkonzerne fest – die Macht der Gegenspieler, denen sich Birnbaums taktisches Spiel zuwendet.9 Konzeptskizzen aus dem Archiv der Künstlerin verraten, dass das bekannte Band ursprünglich als Teil einer Werkgruppe geplant war, die sich mit vier prominenten Serien des nationalen Primetime-Fernsehprogramms befassen sollte: The Incredible Hulk, The Bionic Women, The Six Million Dollar Man und Wonder Woman. In einer Reihe von Notizen hält Birnbaum die topologischen Motive fest, um die diese Serien kreisen: Monströse Verwandlungen der 7
„Regarding my own work, I thought it’s really important not to change the speed, not to change the medium; not to speak from another voice, but to use the media on itself.“ ebd., S. 39.
8 9
Vgl. Mieke Bal: Kulturanalyse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. Vgl. Christian Kravagna: „Gibt es Orte der Kritik im postmodernen Raum? Dara Birnbaums mediale Medienkritik“, in: Dara Birnbaum, Kat. der Ausst., Kunsthalle Wien 1995, S. 12–23. Mit der Formulierung eines taktischen Vorgehens der Künstlerin möchte ich mich hier an die von de Certeau vorgenommene Unterscheidung von Strategie und Taktik anlehnen; vgl. de Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988.
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Sigrid Adorf Natur durch technische Eingriffe, übermenschliche Hybridisierungen von Mensch und Maschine, für die Frauenkörper allegorisch figurieren („fem-bots“), technoide Phantasien neuer Heldenfiguren. Die Notizen verdeutlichen, dass Transformation/Technology ursprünglich als Obertitel für einen Vergleich der vier Serien geplant war und dass die Videoanalysen die Investitionen Amerikas in technologische Entwicklungen, die Sehnsucht nach moralisch integren Vorzeiten und die Schemen zur Unterscheidung von ‚gut‘ und ‚böse‘ herausarbeiten sollten. Zudem findet sich in Birnbaums Aufzeichnungen ein Hinweis darauf, dass es um eine Thematisierung des filmischen Inter-cut-Verfahrens gehen sollte: der effektvollen Technik kontrastierender Zwischenschnitte. Mindestens zwei der Videoarbeiten sollten durch ein gemeinsames Screening räumlich so zueinander in Beziehung gesetzt werden, dass ihr Innen- oder Zwischenraum betreten werden kann und sich die Motive dadurch in der Betrachtung zusammenschneiden. „[A]n automatic inter-cut response takes place now within the viewer (one that originally had occured within the actual broadcast material itself). Here the set(s) of information can be formed / re.formed at the viewer’s command from the more clearly defined seperated sets of info (two entities whose descriptive patterns have been deconstructed for clearer definition in a restructuring of time intervals).“10
Die Reflexion der Künstlerin zum Begriff und Verfahren des Intercut erklärt die geplante Installation gleichsam zu einem medientheoretischen Erfahrungsraum – einem Raum, in dem Technik, Wahrnehmung und Sinn auf eine Weise korrespondieren, die ihre wechselseitigen Bedingtheiten hervortreten lässt. Georg Christoph Tholen hebt die analytische Bedeutung von Medienkunst, speziell von Videokunst, hervor, die als eine Kunst, „die mit Einschnitten operiert“11, konkret erfahrbar mache, dass Körper und Bewusstsein sich nicht auf ein vorgängig Reales (ihrer selbst) außerhalb der Bilder stützen können. Dass diese konkrete Erfahrbarkeit dabei nicht lediglich abstrakt philosophische Seinsfragen berührt, sondern sich auf die politische Dimension unseres ‚Lebens in Bildern‘ bezieht, verdeutlichen Birnbaums Arbeiten. Wie Christian Kravagna in seinen Überlegungen zu „Dara Birnbaums mediale[r] Medienkritik“ betont, unterscheidet sich ihr künstlerischer Ansatz ebenso von der frühen Videokunst wie vom 10 Dara Birnbaum zit. nach einem Konzeptblatt im Archiv der Künstlerin, ab– gebildet in: Dies.: Retrospective: The dark matter of media light, Kat. der Ausst., S.M.A.K. Stedelijk Museum voor Actuele Kunst Gent, 2010. 11 Georg Christoph Tholen: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 202.
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„All activity must occur within a given space“ Medienaktivismus zu Beginn der 1970er Jahre. Weder teilen ihre Foundfootage-Montagen die damalige Euphorie, Video generell als ein alternatives Medium zum Fernsehen zu betrachten, noch befassen sie sich ausschließlich konzeptuell mit Raum- und Zeitwahrnehmung oder beteiligen sich an ebenso verspielt wie hilflos anmutenden Gerätezerstörungen, wie der Verbrennung oder Zerschlagung von Fernsehapparaten.12 Vielmehr arbeitet Birnbaum mit Mitteln der Analyse und Kritik und betritt das gegnerische Feld direkt. So wurde etwa Technology Transformation: Wonder Woman im Schaufenster eines New Yorker Szenefriseurs gezeigt, Local TV Program Analysis (1980), eine komplexe Fernsehperformance zusammen mit Dan Graham, untersuchte das Sender-Empfänger-Verhältnis einer lokalen Nachrichtensendung via eigener TV-Ausstrahlung und die Arbeit Rio Videowall (1989) wurde im Rio Shopping and Entertainment Center von Atlanta installiert und durchmischte Videoaufzeichnungen des Konsumentinnenstroms mit dem Livestream der Satellitenausstrahlungen des Nachrichtensenders CNN.13 Damit aber sei, so Kravagna, der Bezugsrahmen der Videokunst für die Betrachtung von Birnbaums Arbeiten „ein Rahmen, der mehr verunklärt als dass er Verständnis produziert“.14 Vielmehr sei Birnbaums zentrales Interesse der Apparatustheorie des Kinos vergleichbar und diene der Untersuchung des medialen Dispositivs Fernsehen: dem Wechselspiel zwischen Produktion, Rezeption und Medium.15 Aber zeugen nicht die meist unerwähnten, frühen Arbeiten Birnbaums dennoch von einer Auseinandersetzung mit der Videokunst
12 Kravagna macht auf eine Anekdote aufmerksam, mit der Birnbaum ihren kritischen Medienansatz in Verbindung bringe: Auf einer Demonstration gegen die verheerenden Entwicklungen im Vietnamkrieg habe einer der Podiumssprecher die Macht der Medienbilder angeklagt und bei der Frage „Are we listening to this?“ mit der Faust den laufenden Fernseher zur Explosion gebracht; vgl. C. Kravagna: „Gibt es Orte der Kritik im postmodernen Raum?“, S. 15. Auch Nam June Paiks Deformationen des Fernsehbildes durch die Einwirkung starker Magneten (Magnet TV, 1965) oder Wolf Vostells Erschießung oder Begräbnis eines Fernsehgeräts (YOU Happening, 1964) – ikonoklastische, an Fluxus angelehnte Gesten – zählen zu den frühestens Formen von Fernsehkritik und Videokunst. 13 Wie Kravagna in Anlehnung an eine Studie von Anne Friedberg hervorhebt, sind oder waren 85 % der Einkaufenden in Malls weiblich; vgl. ebd., S. 22. 14 Ebd., S 13. 15 Vgl. ebd., S. 14. Eine vergleichbare Abgrenzung nimmt Buchloh bezüglich des Werks von Dan Graham vor, wenn er es von Vito Acconcis Introspektionen und Bruce Naumans post-minimalistischen, skulptural konzipierten Untersuchungen zum Verhältnis von Körper, Zeit und Raum unterscheidet; vgl. B. Buchloh: „From Gadget Video to Agit Video“, S. 219.
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Sigrid Adorf ihrer Zeit, die das Bild ihrer kulturanalytischen Medienreflexion um wichtige Momente zu ergänzen vermag? 16
Bildverbraucher. Untersuchungen zum Ineinanderwirken von öffentlich und privat Everything Is Gonna Be Alright (1976) zählt zusammen mit Liberty: A Dozen or so Views (1976) zu den beiden frühesten Videobändern Birnbaums, die sich explizit mit Fragen der Aneignung von zirkulierenden Bildern und deren Wiederholung, Einschreibung und Umschrift im Privaten beschäftigen. Das Band Everything Is Gonna Be Alright (siehe Abb. 1) ist zudem die erste bekannte Videomontage der Künstlerin mit Foundfootage-Material – wenngleich es sich hier noch nicht um eine Montage mit Fernsehbildern handelt, sondern um eine Form von Durchmischung einer aufgezeichneten Videoszene mit stehenden Bildern aus der Boulevardpresse. Es beginnt mit einem Rhythmusgeräusch, das an die Schläge eines Metronoms erinnert, und einer gedämpften Frauenstimme, die die Liedzeile „Everything’s gonna be alright“ mechanisch wiederholt, bis schließlich der Bob Marley-Song No Woman, No Cry eingespielt wird; dazu tanzt ein Paar im Reggae-Style. Gelegentlich werden fotografische Porträtaufnahmen, typische ‚Celebrity Shots‘, eingeblendet. Es folgen weitere Durchbrechungen der Tanzszene mit handbeschriebenen, bildeinnehmenden Texttafeln, während eine weibliche Stimme aus dem Off Pressegeschichten erzählt. In Headlines wie „JFK WAS’NT the ONLY ONE“, „Teddy’s midnight swim“ oder „Nixon and the chinese mystery woman“ klingt das skandalträchtige Liebesleben amerikanischer Präsidenten an. Die politisch wirksame Durchmischung von öffentlich und privat wird als Thema erkennbar. „In this great future YOU can’t forget YOUR PAST …“, zitiert die letzte Tafel das Lied. Text, Rhythmus, Bewegung und Subtext schieben
16 1975 entstanden bereits die beiden Arbeiten Chaired Anxieties und Mirror und 1976 die drei Arbeiten Liberty: A Dozen or so Views, Pivot: Turning Around Suppositions und Everything’s Gonna Be … . Frühe Screenings und Ausstellungsbeteiligungen zeugen davon, dass sie für einen öffentlichen Blick bestimmt waren und in New York gezeigt wurden – so zum Beispiel anlässlich eines „Open Screenings“ (1975) und zum 2nd Annual Video Festival in New York (1976). Außerdem wurde das Video Liberty: A Dozen or so Views 1976 bereits über das Videoprogramm des Manhattan Cable Channel ‚D‘ ausgestrahlt. Diese frühen Ausstellungsnachweise sind den Archivunterlagen der Künstlerin zu entnehmen, sind aber selten in Katalogen verzeichnet.
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Abb. 1: Everything Is Gonna Be Alright (1976), Video, s/w, Ton; Quelle: Archiv der Künstlerin; © Dara Birnbaum sich ineinander. Das Medium Video wird zu einer medialen Durch kreuzung verschiedener Erzählstränge. Alle sind sie miteinander verwoben, durchkreuzen sich, drängen sich ab – und nehmen einander auf. Was wenig später im Musikvideo an Schnitttechnik zu einer formalen Blüte reift, ist hier noch als ein Bildraum angelegt, der das Zusammentreffen verschiedener Elemente politisch lesbar macht. Das Ineinandergreifen der improvisiert anmutenden Tanzperfomance und der Nabelschau der Prominenz wird zum Bild einer alltäglichen Durchmischung von öffentlichen und privaten Handlungen. Es erklärt eine Art konsumistischen Zirkelschluss in der von Medien geprägten Alltagskultur. Die Popularisierung des ‚Privatlebens‘ der Mächtigen, ‚Reichen und Schönen‘ wird mit dem treibenden Rhythmus der Tanzenden verwoben und so zu einem Bild für das, was als Niedergang der politischen Kultur und als mediale Auflösung der Grenzen von privat und öffentlich in dieser Zeit beklagt wurde – allen voran durch Richard Sennetts Thesen zur Tyrannei der Intimität. Birnbaums Spiel mit Versatzstücken der Populärkultur ist kein zufälliges und auch kein rein formales, sondern eines, in dem die scheinbar trivialsten Äußerungen, Fundstücke der eigenen Gegenwart, zu Aussagen über die eigene Zeit werden. Dabei aber geht es weder um eine Form von metaphorischer Überhöhung noch um die gegenteilige Form der Bloßstellung von Banalität und Inhaltsleere,
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Sigrid Adorf sondern vielmehr um das, was sich der Erklärbarkeit entzieht und darin seine symptomatische Kraft entfaltet. Birnbaums analytischer Blick auf die Identität und Vielstimmigkeit der Medienkultur ist gleichsam psychoanalytisch. Er lässt die Medienbilder selbst zur Sprache kommen, lässt sie sich wiederholen, ins Stottern geraten, monologisieren und ihre Symptome entwickeln. Die ‚Gesprächsfetzen‘, die sie aus Filmen und Fernsehen transkribiert und comicartig als Textebenen in ihren Arbeiten verwendet, verhalten sich nicht wie erklärende Kommentare zu den Bildern, sondern wie irritierende Anhängsel und Einfügungen. Sie haben ähnlich viel Wiedererkennungswert wie die Bilder selbst, wirken aber zugleich bruchstückhafter und haltloser – was als Effekt der medialen Gegenüberstellung von Bild und Text zu deuten ist und sich kontrapunktisch zu den abgeschlossenen Formen der Narration des Ausgangsmaterials verhält. Die formale Herangehensweise der disjunktiven Collage unterschiedlicher Geräusch- und Bildaufnahmen zielt auf die virtuelle Syntheseleistung der inneren Monitore, auf die Fähigkeit der Betrachtenden, stark unterschiedliche Fragmente zu sinnhaften Strängen zu verknüpfen – jedoch ohne dabei ein geschlossenes Ganzes zu evozieren. Für Alexander Alberro ist diese Form einer Collage, welche mit Lücken arbeitet, die auch im Assoziationsvermögen der Betrachtenden nicht geschlossen werden können, eine typische, künstlerische Strategie zur Dekonstruktion der dialektischen Komplexität des Alltags, wie er am Beispiel von Arbeiten Martha Roslers belegt.17 So wendet sich auch Roslers Video Domination and the Everyday (1978) der dichten Textur des Alltags als jenem Ort zu, an dem verschiedenste Ansprachen und Ansprüche zusammentreffen. Ebenso wie Birnbaum verknüpft Rosler Standbilder – Screenshots aus Nachrichtensendungen, eigene Familienfotos, Ansichtskarten und Modefotografien aus Magazinen – mit einer anderen Szene, wenngleich diese nur akustisch unterlegt ist: Mutter und Kind (Rosler mit ihrem Sohn) sind in ihrem alltäglichen, kleinen Machtkampf um die Notwendigkeit des Zähneputzens und Zubettgehens zu hören, während im Hintergrund ein Radiosprecher über Künstler und Fragen des Bildermachens referiert. Domination and the Everyday reflektiert die Schwierigkeit, die Komplexität dieses alltäglichen Zusammentreffens verschiedener Botschaften und ihre Wechselwirkung zu studieren. Roslers und Birnbaums Videos machen die vielstimmige oder mehrdimensionale Audiovisualität als synästhetischen Raum erfahrbar. In diesem Sinn tragen ihre Arbeiten eine kritische All17 Alexander Alberro: „Die Dialektik des Alltags: Martha Rosler und die Strategien der Verlockung“, in: Martha Rosler. Positionen in der Lebenswelt, hg. v. Sabine Breitwieser, Kat. der Ausst., Generali Foundation, Wien 1999, S. 151–186.
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Abb. 2: Liberty: a dozen or so views (1976), Video, s/w, Ton; Quelle: Archiv der Künstlerin; © Dara Birnbaum tagslektüre vor, denn wie de Certeau in „Lesen heisst Wildern“ argumentiert, besteht die Fähigkeit zu lesen, nicht darin, einen Text Wort für Wort, Zeile für Zeile buchstabierend aufzunehmen, sondern ihn in den Horizont der eigenen Erwartungen einzubetten, einzelne Stücke bildhaft herauszugreifen und zu einem ‚Sinn‘ zu synthetisieren.18 Die Produktivität des Lesens besteht also wesentlich in einer synästhetischen Syntheseleistung. Anders aber als beispielsweise in Gene Youngbloods Visionen expansiver Raumerfahrungen19 ist es der Alltag selbst, der ganz normale Raum der Gegenwart, der demnach vielstimmig dominiert wird und eine synästhetische Kompetenz erfordert, um aus den sich überlagernden Erzählungen sinnvolle Beziehungen lesen zu können. Einen anderen Fokus auf die paradoxe Verbindung von Vielstimmigkeit und Gleichförmigkeit richtet Birnbaums Band Liberty: a dozen or so views (1976), das als Aufzeichnung einer Umfrage angelegt ist (siehe Abb. 2). Es lehnt sich damit ebenso an Methoden sozialwissenschaftlicher Forschung wie an das Fernsehformat des spontanen Interviews von Passanten an. Zu sehen ist zunächst eine bewegte Wasseroberfläche von einem fahrenden Schiff aus, gefolgt von einer Abfolge fotografischer Aufnahmen der Freiheitsstatue zu denen Birnbaum aus dem Off spricht: „O dozen or so views of Liberty“. Die Montage aus leicht variierenden Blickwinkeln kennzeichnet 18 M. de Certeau: Kunst des Handelns, S. 293–314. 19 Vgl. Gene Youngblood: Expanded Cinema, London: Studio Vista 1970.
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Abb. 3: Chaired Anxieties: Abandoned (1975), Video, s/w, Ton; Quelle: Archiv der Künstlerin; © Dara Birnbaum die Vielzahl touristischer Ansichten, die tagtäglich von der Fähre an der Südspitze Manhattans aufgenommen werden; sie versinnbildlicht aber auch eine Vielzahl von Ansichten zum Motiv der Freiheit im demokratischen Sinn. Letzteres wird durch die Interviews verstärkt, die Birnbaum mit einem Partner auf der South Ferry im Sommer 1976 aufzeichnete. Die Befragten geben Auskunft zu ihrer Größe, ihrem Alter, ihrem Gewicht, ihrer Herkunft, ihrer Haar- und Augenfarbe – von der jungen, selbstbewussten Amerikanerin über das kleine, schüchterne Mädchen, die Nonne, den Mittvierziger mit eloquenter Zurückhaltung, den Spiegelsonnenbrille tragenden Afroamerikaner und einige mehr bis zum neunjährigen Jungen chinesischer Abstammung und der jungen Frau, die sich zu schwer findet. Ein aktueller Blick auf YouTube verrät, dass das vor dreißig Jahren aufgezeichnete Band sich wie ein Vorläufer zu heutigen Bildpraktiken verhält: Zahlreiche private Videos der Internetplattform zeigen ähnliche Schwenks am selben Ort – zwischen Liberty und Fähre, zwischen Aufzeichnungen von sich selbst und Bildern anderer Fahrgäste. Was sich in den dreißig Jahren seit Birnbaums Arbeit verändert hat, ist weniger die Aufgabe der Bilder als ihre Technik. Die Geste des Sich-zu-sehen-Gebens, das Posieren vor und für die Kamera ist annähernd gleich geblieben. Damals wie heute scheinen die ‚privaten‘ Bildpraktiken auf das alltägliche Blickregime laufender Kameras zu reagieren. In ihnen drückt sich der Wille aus, durch Sichtbarkeit wahrnehmbar zu werden, Teilhabe an der weltumspannenden Medienkultur zu haben und so gewissermaßen den eigenen Bürgerstatus unter Beweis zu stellen – ein gouvernementaler Ausdruck zeitgenössischer Subjektivierung.20 Liberty: a dozen or
20 Zu Michel Foucaults Gouvernementalitäts- und dem damit verbundenen Subjektivitätsbegriff siehe Thomas Lemke: „Gouvernementalität“, in: Marcus S. Kleiner (Hg.), Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken, Frankfurt/New York: Campus 2001, S. 108–122. Außerdem macht Nicholas Mirzoeff auf die panoptische Form der Subjektivierung aufmerksam, die von den Bildschirmapparaten und der täglichen Medienflut ausgehe und mit Foucault als ein spezifisches, vornehmlich visuelles Regime zu beschreiben sei; vgl. Nicholas Mirzoeff: „The Subject of Visual Culture“, in:
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„All activity must occur within a given space“ so views verhält sich wie ein in den alltäglichen, privaten Bilderstrom hineingehaltenes Fangnetz. In der Art, wie es die an sich verstreuten und dennoch ähnlichen, sich wiederholenden privaten Bilder einfängt, ähnelt es bereits den Aufzeichnungsstrategien, die Birnbaum wenig später zum Markenzeichen ihres Umgangs mit flüchtigen Fernsehbildern macht.
Vorgezeichnet? Untersuchungen zum Verhältnis von Bildgeschichte, Blickregime und performativem Bewegungsraum Birnbaum aber hält den alltäglich gewordenen Umgang mit Aufzeichnungsmedien und ihrem Blickregime nicht allein als Beobachterin fest, sondern untersucht ihn ebenso in formalen, systematischen Studien. So fokussiert Pivot: Turning Around Suppositions von 1976 die Beziehung zwischen den Aktionsfeldern von Kamera und Performerin und experimentiert mit den Möglichkeiten wechselseitiger Einflussnahme. Auch wenn das Setting der Arbeit streng konzeptuell angelegt ist und die Definition der Positionen von Kamera und Performer/in an sich neutral sind, scheint es dennoch nicht zufällig, dass der Part der Kamera durch eine männliche Stimme und die Performance von einer weiblichen begleitet wird und dass die zu sehende Person, das Gegenüber der Kamera, eine Frau ist. Wie die feministische Filmtheorie zur gleichen Zeit betonte, sind die Positionen des Blicksubjekts Kamera und des dargestellten Blickobjekts nicht neutral, sondern im Rahmen der abendländischen Bildtradition hochgradig kodiert: Insbesondere das klassische Hollywoodkino verstand es, wie Laura Mulvey in ihrem legendären Aufsatz „Visual Pleasure and Narrative Cinema“ (1975) darlegt, mit dem Spannungsfeld zwischen einem männlichen Blick, verkörpert durch die Kameraführung, und dem weiblichen Objekt des Begehrens zu spielen.21 Eine weitere Arbeit Birnbaums, Chaired Anxieties von 1975, scheint diese Konstitution des Spannungsfeldes von Kamera und Dargestelltem explizit zum Gegenstand ihrer Untersuchung zu machen. In sechs Sequenzen unterschiedlicher Länge – Abandoned; Slewed; Autism; Mirroring; Bar (Red) Mirroring; Control Piece – sieht man die Künstlerin bei dem Versuch, verschiedene, als psychische Zustandsbeschreibungen zu lesende Substantivierungen performativ zum Ausdruck zu bringen. Das Band beginnt mit der Aufnahme
Ders. (Hg.), The Visual Culture Reader, 2nd Edition, London/New York: Routledge 2002 (Reprint 2007), S. 3–23. 21 Laura Mulvey: „Visual Pleasure and Narrative Cinema“, in: Screen 16/3 (1975), S. 6–18.
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Sigrid Adorf eines Klappstuhls aus Holz in der Bildmitte eines leergeräumt anmutenden Raumes. Die Performerin tritt ins Bild, barfuß und mit Jeans und Hemd (siehe Abb. 3). Sie nimmt verschiedene Posen ein: Mal steht sie in unterschiedlichen Contrapoststellungen neben oder hinter dem Stuhl, mal setzt sie sich, vorwärts oder rückwärts, und mal tritt sie kurz aus dem Rahmen und nimmt bald darauf erneut Platz. Der fixierte Kameraausschnitt scheint genau bemessen. Kreidemarkierungen auf dem Boden lassen vermuten, dass der Bewegungsraum hier im wahrsten Sinn vorgezeichnet ist. Kopf und Gesicht sind nie zu sehen. Zu hören sind lediglich die Geräusche des Stuhlschiebens und ihre Schritte auf dem Boden. Die Posen, die manchmal wie Momentaufnahmen gewöhnlicher Sitzstellungen und manchmal wie das bewusste Formenrepertoire von Zeichnungsmodellen im Atelier wirken, wechseln in rascher Folge. Hin und wieder unterstreichen die nervös klopfenden Hände eine Form von Unruhe. Abandoned, ein Begriff zur Umschreibung eines verlassenen, aufgegebenen Ortes, wird vom physischen Raum auf einen psychischen übertragen. Und doch geht es nicht um eine Form individueller Seelenschau. Vielmehr abstrahiert der gewählte und streng beibehaltene Ausschnitt der Kamera das Geschehen. Wie in zahlreichen Videoperformances der frühen 1970er Jahre kennzeichnen Dauer, Wiederholung und Monotonie auch hier eine Form von Versuchsanordnung und unterstreichen die konzeptuelle, analytische Anlage der Arbeit.22 Die Sequenz erinnert an Vito Acconcis Arbeit Step Piece (1970), in der der Künstler seine allmorgendliche Übung dokumentiert, so lange wie möglich auf einen Stuhl zu steigen. Step Piece zeugt, wie viele andere, vergleichbare Arbeiten dieser Zeit, von einer sich ändernden Subjektauffassung im Rahmen von Minimal, 22 Als Videoperformances sind jene Arbeiten der 1970er Jahre zu bezeichnen, die die Möglichkeiten des neuen Mediums Video einsetzten, um gezielt eine spezifische Relation zwischen Aufnahmeszene und Betrachtung herzustellen und zu thematisieren. Dabei gab es vor allem zwei unterschiedliche Experimentierfelder: erstens die räumliche Trennung von Handlung und Publikum in der Situation der Aufnahme (zahlreiche Galerieperformances von Vito Acconci, VALIE EXPORT, Dan Graham, Sanja Ivecovic, Allan Kapprow u. a.) und zweitens die zeitliche Trennung von Handlung und Publikum, in der die Kamera – wie hier an den Arbeiten Birnbaums dargelegt wird – als Stellvertreter eines späteren Publikums angesprochen und in die Performance einbezogen wurde; vgl. Willoughby Sharp: „Videoperformance“, in: Ira Schneider/Beryl Korot (Hg.), Video Art. An Anthology, New York/London: Harcourt Brace Jovanovich 1976, S. 252–267; Chris Straayer: „I Say I am: Feminist Performance Video in the ’70s“, in: Afterimage, 13/4 (1985), S. 8–12; Sigrid Adorf: „Video-Performances. Eine Infragestellung des Unmittelbarkeitsparadigmas in der Performance-Theorie (am Beispiel einer Videoarbeit von Elodie Pong)“, in: FKW. Zeitschrift für Geschlechterforschung und Visuelle Kultur, 44 (2007/08), S. 14–22.
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Abb. 4: Chaired Anxieties: Slewed (1975), Video, s/w, Ton; Quelle: Archiv der Künstlerin; © Dara Birnbaum Concept und Body Art. Mit der Bedeutung behavioristischer Forschung in Verbindung gebracht, wurde das Stück als Ausdruck einer positivistischen Haltung gelesen, die sich vom expressionistischen Subjekt des späten, amerikanischen Modernismus abgrenze und statt dessen den Künstlerkörper als einen scheinbar neutralen Gegenstand behandle und ihn „entsemantisiere“.23 Das MenschStuhl-Verhältnis wird bei Acconci als ein mechanisch anmutendes Bewegungsmuster dargestellt. Im Unterschied zu solch vordergründig formalen Körper-Raum-Relationen, die als Erweiterung der minimalistischen Untersuchungen zum Verhältnis von (Wahrnehmungs-)Raum und Objekt interpretiert werden, wie etwa auch Bruce Naumans Wall/Floor Positions von 196824, zeigt die Videoperformance Birnbaums jedoch eine deutliche Öffnung oder Wendung zum Raum der Zuschauenden – einem imaginären, für die Performerin nicht unmittelbar erfahrbaren, durch den Blick der Kamera aber verkörperten Projektionsraum. Für ihn scheint sie zu posieren. Ihre bisweilen an klassische Modellposen erinnernden Haltungen spielen auf das Erbe europäischer Bildtraditionen an und evozieren ein Spiel mit der Schaulust. Dieses verstärkt sich in der zweiten Sequenz: Slewed – Herumgedreht (siehe Abb. 4).
23 Vgl. Barbara Engelbach: Zwischen Body Art und Videokunst. Körper und Video in der Aktionskunst um 1970, München: Silke Schreiber 2001; Anja Osswald: „Sexy Lies in Videotapes“. Künstlerische Selbstinszenierung im Video um 1970. Bruce Nauman, Vito Acconci, Joan Jonas, Berlin: Gebr. Mann 2003; aber auch B. Buchloh: „From Gadget Video to Agit Video“, S. 219. 24 „Making himself into a ‚minimalist‘ prop sculpture in the manner of Richard Serra, Nauman moves through various poses in relation to the floor and wall. While other sculptors were using wood planks, pieces of lead, or sheets of steel, Nauman uses his body to explore the space of the room, turning it into a sort of yardstick to investigate and measure the dimensions of the space.“ http://www.vdb.org (Werkbeschreibung) vom 15.02. 2010.
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Sigrid Adorf Der Stuhl steht nun in der Bildmitte. Von links tritt die Performerin in den Rahmen. Zu sehen sind lediglich ihre nackten Beine und der untere Teil eines weiten, geblümten Rocks. Sie setzt sich, streckt ihre Beine nach vorne, umfasst die vorderen Stuhlbeine und beginnt den Stuhl auf der Stelle zu bewegen, ihn leicht zu verschieben und zu drehen. Im Wechsel stößt sie sich mit den Fußspitzen ab oder hebt die Stuhlbeine an. In einer ebenso tänzerisch wie manisch anmutenden Choreografie sich wiederholender Gesten steigert sich ihre Bewegung. Sie dreht sich auf dem Stuhl und nimmt die Sitzlehne zwischen ihre Beine. Zu hören ist ihr Atem, ihre zunehmende Atemlosigkeit, die die erotische Anmutung der über den Stuhl gespreizten, nackten Beine ebenso unterstreicht wie die streichelnden Gesten ihrer Hände und ihre gespreizten Finger. Wieder und wieder wechselt sie die Position, sitzt mal vorwärts mal rückwärts auf dem Stuhl und lockt mit dem Versprechen, ihr unter den Rock schauen zu können. Schließlich rutscht sie nach vorne vom Stuhl, krümmt sich und kriecht, versteckt sich, legt den Stuhl zusammen und bewegt ihn aus dem Bild, holt ihn später zurück und die etwa dreizehnminütige Sequenz endet damit, dass sie erneut auf dem Stuhl Platz nimmt, sich damit dreht, aufsteht und ihn in hüpfenden Schritten umkreist. Birnbaums Arbeit scheint in ihrer offenkundigen Adressierung eines begehrenden Zuschauerblicks den Videos der belgischen Künstlerin Lili Dujourie vergleichbar. In dem Band Sanguine (Rötelzeichnung) von 1975 nimmt Dujourie ebenso verschiedene Posen auf einem Stuhl ein, während sie ihren kurzen Rock lasziv hochzieht und mit Highheels und tiefem Dekolleté kokett den Blick der anderen zu bannen sucht. Titel und Darstellung vermischen sich hier zu einer eigenwilligen Anspielung auf die kunstgeschichtliche Tradition von Frauendarstellungen, indem die für hohe zeichnerische Qualitäten stehende Bezeichnung einer klassischen Technik mit Posen und Gesten trivialer, erotischer Kultur konterkariert wird. Das Video wird zu einer Form der Entsublimierung. Über Dujouries Werkreihe Hommage à … (1972), in der die Performerin sich in fünf leicht variierenden Sequenzen nackt auf einem Bett mit aufgeworfenen Laken räkelt, schreiben Marianne Brouwer und Mieke Bal, dass sie erkennbar Posen liegender Schönheiten von Tizian bis Manet zitiere.25 Scheinbar unbekümmert, als bemerke sie den Blick der Kamera nicht, nimmt die Liegende verschiedene Stellungen ein. Wie 25 Vgl. Marianne Brouwer: „Homage to … : The Pensive Images of Lili Dujourie“, in: Inside the Visible. An Elliptical Traverse of 20th-Century Art in, of, and from the Feminine, hg. v. M. Catherine De Zegher, Kat. der Ausst., The Kanaal Art Foundation, Kortrijk, Flanders, The Institute of Contemporary Art, Boston 1996, S. 265–269; Mieke Bal: Schweben zwischen Gegenstand und Ereignis: Begegnungen mit Lili Dujourie, München: Fink 1998.
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Abb. 5: li: M. Duchamp, 1963; re: H. Wilke, Through the Large Glass, 1976; Quellen: li: Tony Godfrey, Konzeptuelle Kunst; re: Kat. Übrigens sterben immer die anderen Bal indes argumentiert, zeugt aber gerade die offenkundige Zitathaftigkeit dieser Posen von dem Wissen, angeschaut zu werden und die Schlüssellochperspektive der Betrachtenden findet sich darin vorweggenommen. Hommage à … antwortet auf das antizipierte Begehren der Betrachtenden. Die Bilder schauen zurück, ohne dass die Dargestellte in die Kamera blickt. Auch Birnbaums unruhiges Posieren auf dem Stuhl scheint einer verdeckten Regieanweisung zu folgen, die als eine Vorwegnahme des Blickbegehrens der Zuschauenden zu lesen ist. Die Vergleichbarkeit der beiden, an sich unvergleichbaren, weil vollkommen unabhängig voneinander entstandenen Videoarbeiten desselben Jahres verdeutlicht, dass Birnbaum und Dujourie Töchter ihrer Zeit waren, die das emanzipative Versprechen des neuen Mediums erkannten und strategisch und/oder taktisch einzusetzen suchten. Die Frauendarstellungen in den genannten Videoperformances, die von den Künstlerinnen selbst inszeniert werden, zeugen von einer Subjektauffassung, welche die eigene, konstitutive Einbettung in die symbolische Ordnung anerkennt und semiotisch agiert, das heißt den eigenen Zeichenstatus repräsentationskritisch einsetzt. Das Objekt der Betrachtung, die Frau im Bild, wird damit zum Subjekt einer kritischen Zeichenoperation und dreht die spannungsreiche Blickachse um.26 Um die eingangs zitierte Schachmetapher noch einmal als Erklärung zu bemühen, könnte man sagen, die Künstlerinnen zeigen, dass sie die eingeschränkte Bewegungsfreiheit ihrer Figuren zwar kennen aber dennoch versuchen, den Spielverlauf so zu gestalten, dass er nicht in Regelhaftigkeit erstarrt. Daher noch einmal die Frage: Wer spielt hier mit wem? Und um was?
26 Vgl. Sigrid Adorf: Operation Video. Eine Technik des Nahsehens und ihr spezifisches Subjekt: die Videokünstlerin der 1970er Jahre, Bielefeld: Transcript 2008, insb. Kap. IV (Operationen am „Bild der Frau“. Sichtbare Bewegungen in einem festen Rahmen).
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Sigrid Adorf Unwillkürlich erinnert Schach im Kontext von Kunst an jenes legendäre Bild, das den ‚Altmeister‘ Marcel Duchamp mit einer nackten, jungen Gegenspielerin 1963 im Pasadena Art Museum zeigt. So unbestimmt sich die Assoziation einstellt, so wegweisend wird ihre Deutung: Marcel Duchamp ließ sich durch das Große Glas (1915–23) hindurch am Tisch bei einer Schachpartie mit einer nackten Unbekannten fotografieren.27 1976 antwortet Hannah Wilke mit ihrer Performance Through the Large Glass im Philadelphia Museum of Modern Art (siehe Abb. 5). Durch das Schlüsselwerk Duchamps hindurch gefilmt sieht man die Performerin in einem cremefarbenen Anzug mit Hut und Highheels sich langsam entkleiden.28 Duchamp als „ALLREADYMADESOMUCH-OFF“, wie Lucy Lippard es einmal formulierte, war fraglos die schillerndste und für den (Anti-)Kunstdiskurs wichtigste Vaterfigur, zu der es sich ins Verhältnis zu setzen galt, wollte man ihr Erbe antreten.29 Auch wenn es keine direkte Verbindung zwischen der skizzierten Arbeit von Wilke und den frühen Videoarbeiten von Birnbaum gibt, scheint das markierte Feld vergleichbar – sowohl historisch, beide Künstlerinnen haben einen unmittelbaren Bezug zur New Yorker Kunstszene ihrer Zeit, als auch ideell. Wilkes Performance Through the Large Glass ist als eine performative Bildarbeit zu betrachten, die das Bild als Ort einer Handlung versteht und nutzt. Die Arbeit zeigt den Versuch, sich im Rahmen eines anerkannten Bildes der Kunstgeschichte sichtbar zu machen. Als mögliche Verkörperung der entkleideten Braut trivialisiert und entmachtet sie das Werk Duchamps, gleichzeitig aber gibt sie zu erkennen, dass ihre Handlung nur durch des27 Marcel Duchamp und Eve Babitz, fotografiert von Julian Wasser. Es existieren zwei gegenüberliegende Aufnahmen, die eine mit Elementen des Großen Glases im Hintergrund (zahlreich abgebildet) und die andere, hier abgebildete, ist durch das Werk hindurch fotografiert und zeigt einen Teil der Junggesellenmaschine (die Trommeln) im Vordergrund. 28 Die Datierung variiert, sie wird auch gelegentlich mit 1977 angegeben. Ich halte mich hier an die Angabe, die Electronic Arts Intermix (EAI, New York) zur Dokumentation macht. 29 Wilkes Zitieren der Arbeiten Marcel Duchamps ist vielfältig. In der FotoText-Arbeit I Object. Memoirs of a Sugargiver verdeutlicht bereits der Titel I Object die verschiedenen Ebenen, mit denen sich der feministische Versuch zur Wiederaneignung des eigenen Körpers konfrontiert sah: Er changiert zwischen: „Ich“ als Objekt in der Frage des Selbstbildes, Augen-Objekt (eye-object) als Frage der Schaulust und „ich wende ein“ als politischem Einspruch. Mit der Strategie des im Titel versteckten Wortspiels arbeitet Wilke gleichsam mit Duchamp gegen ihn; vgl. Alfred M.Fischer: „Die wirkliche Braut, entkleidet“, in: Übrigens sterben immer die anderen. Marcel Duchamp und die Avantgarde seit 1950, Kat. der Ausst., Museum Ludwig, Köln 1988, S. 263–271.
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Abb. 6: Chaired Anxieties: Autism (1975), Video, s/w, Ton; Quelle: Archiv der Künstlerin; © Dara Birnbaum sen Rahmung zu betrachten und verstehen ist.30 Der referentielle Rahmen von Chaired Anxieties ist kunsthistorisch nicht gleichermaßen konkret und offensichtlich. Dennoch gibt es Ähnlichkeiten. So spitzt sich die Thematisierung eines erotischen Verhältnisses zwischen dem Kamerablick und der Frau im Bild in der dritten Sequenz, Autism, schließlich noch weiter zu (siehe Abb. 6). Es beginnt mit einer Nahaufnahme ihres Gesichts. Unruhig wippt sie auf und nieder und atmet dabei schnell und rhythmisch, zunächst durch den Mund, dann durch die Nase und schaut der Kamera und damit den Betrachtenden mit aufgerissenen Augen starr entgegen. Gelegentlich weicht sie leicht aus und schaut nach rechts und links. Dann beugt sie sich nach hinten und wippt, abgestützt auf ihre nach hinten gestellten Arme, leicht vor und zurück. Die Anspielung auf einen sexuellen Akt ist unverkennbar. Den Blick der Kamera mit dem eines Liebhabers zu identifizieren und Birnbaums Interaktion mit der Kamera als Anspielung auf einen Penetrationsakt zu verstehen, drängt sich auf. Das cinematische Blickregime kennt den rhetorischen Einsatz der Kamera als Blick einer außerhalb des Bildfeldes als anwesend empfundenen Person. Da sich die Handlung hier aber nicht wie im Spielfilm auf eine andere Figur übertragen lässt, sind wir, die Betrachtenden, selbst aufgefordert, uns mit diesem penetrierenden Blick zu identifizieren. Die Wirkung ist verstörend.31 30 „History is a dialectical process. To honour Duchamp is to oppose him. The bachelors, after all, have separated themselves from their feminine parts. To reconcile this dilemma is not to coopt the feminine, but to be … Feminine. To strip oneself bare of the veils that society has imposed on humanity is to be the model of one’s own ideology. The role model is now both the woman and the artist herself – Hannah Wilke Through the Large Glass – no longer an ornament for society to wear but, in the face of nudity, beyond transparency … transcendent.“ Hannah Wilke: „I Object. Memoirs of a Sugar Giver“, in: Übrigens sterben immer die anderen. Marcel Duchamp und die Avantgarde seit 1950, Kat. der Ausst., Museum Ludwig, Köln 1988, S. 263–271, hier S. 269 f. 31 Autism erinnert in der eindringlichen, die Betrachtenden sexuell adressierenden Form an weitere Videoarbeiten Vito Acconcis, insbesondere an Un-
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Sigrid Adorf Der Titel der Sequenz, Autism, negiert dagegen das Verhältnis zum anderen. Die Beziehung zwischen Performerin und Kamerablick, als autistischer Zirkelschluss bezeichnet, wird so zum Ausdruck eines verinnerlichten Blickverhältnisses, das unabhängig davon funktioniert, ob es durch jemand anderen verkörpert wird oder nicht.
Mit-geteilte Selbstreflexionen Die drei folgenden Sequenzen, Bar(Red) Mirroring, Mirroring und Control Piece, nehmen eine Wendung, die sich von der Problematisierung des engen Verhältnisses von Kamera und Schaulust weitgehend löst. In Bar(Red) Mirroring ist ein Raumausschnitt zu sehen, der auf einen privaten Wohnraum schließen lässt: eine schräg angeschnittene Wand mit Türrahmen und einem kleinen, gerahmten Frauenporträt. Wieder und wieder geht Birnbaum schnellen Schrittes von rechts vorne nach links hinten durchs Bild, unterbrochen von Blackscreen-Schnitten. Der Titel, der mit dem Wechsel der Bedeutung von reinem und versperrtem Spiegelbild spielt, obgleich kein Spiegel sichtbar wird, evoziert die Frage nach der spiegelbildlichen Verfasstheit des Subjekts, welche die folgende Sequenz im Vexierspiel von Kamera und Spiegel weitertreibt. Ebenfalls als Folge einer sich wiederholenden Teilsequenz angelegt, sieht man Birnbaum in Mirroring uns, den Betrachtenden, entgegentreten und wenn sie ganz nah scheint – dem Eindruck nach –, sich zur Seite wenden, während ein zweites, gespiegeltes Profil von ihr kenntlich wird. Ihm wendet sie sich zu, dreht sich um und blickt erneut uns an (siehe Abb. 7). Die Szene ist schwer zu beschreiben. Sie spielt mit der Verwirrung, die dadurch entsteht, dass die Kamera in den Spiegel hineinfilmt, gleichzeitig aber außerhalb des Sichtfeldes bleibt, so dass der reale Raum vom gespiegelten zunächst nicht zu unterscheiden ist. Ein ähnliches Verwirrspiel mit verschiedenen Bildebenen im Videodertone (1972), aber auch an Walk Over (1973) oder Turn-On (1974). Das Verhältnis zwischen Verführung und Drohung zu seinem imaginären Publikum ist bei Acconci, anders als bei Birnbaum, latent aggressiv; vgl. Informationen zu den genannten Videos bei Electronic Arts Intermix (EAI, New York): http://www.eai.org vom 15.02.2010). Dara Birnbaum erzählt, dass sie 1974 erstmalig Videoarbeiten von Vito Acconci, Dennis Oppenheim und Bruce Nauman sah, was einen Vergleich, den ich hier nicht weiter ausführen kann, nahe legt: „Es war ein starkes Erlebnis für mich. Ich sah darin ein Werkzeug, ein wirklich hervorragendes Werkzeug.“ (Interview mit Hans Ulrich Obrist, dtsch. Fassung in: D. Birnbaum, Kat. der Ausst., Kunsthalle Wien, S. 58).
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Abb. 7: Mirroring (1975), Video, s/w, Ton; Quelle: Archiv der Künstlerin; © Dara Birnbaum bildraum treibt etwa Joan Jonas in ihrer bekannten Arbeit Left Side – Right Side (1972), aber auch Lynda Benglis in Now (1973).32 Die Nähe von Birnbaums Mirroring zu den zahlreichen Videoarbeiten ihrer Zeit, die sich mit dem damals neuen, ‚elektronischen Spiegel‘ befassten, zeugt von der wiederholten Auseinandersetzung mit dem klassischen Motiv der Spiegelung und kennzeichnet ein Krisenmoment des modernen Subjekts. Denn anders als es die cartesianische Formel des Cogito will, dient die Spiegelung in diesen Videos gerade nicht der Selbstvergewisserung, sondern vielmehr der Reflexion eines Ungewissen. Bei Jonas verliert sich der Versuch, mit dem Finger auf die von ihr benannte Seite zu deuten in unsicheren Gesten, bei Benglis verliert sich der Versuch, den Ort ihrer Gegenwart sprachlich zu fixieren – „now“ –, durch die Überblendung verschiedener Aufnahmezeiten, und bei Birnbaum verliert sich der Versuch, ihren Bewegungen zu folgen und die Konstruktion des Bildraums zu entschlüsseln, im Ungefähren, da die Künstlerin mit dem Schärfebereich der Kamera spielt und in der Wiederholung jeweils einen anderen Teil der Bildfolge bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen lässt.33 Was sich hier zeigt, ist ein Bruch mit dem Paradigma der Präsenz, das insbesondere der Modernismus, aber auch der Minimalismus zum ästhetischen Leitthema gemacht hatte. Das moderne Subjekt verliert seinen festen Ort vor dem (Spiegel-)Bild und blickt stattdessen der Logik seiner repräsentativen Verfasstheit ent gegen.34 Viele der frühen Videoperformances, die mit dem Verhältnis von Subjekt und Spiegelmedium spielen, operieren, auch wenn sie oft 32 Auch Peter Campus’ Video Three Transitions kann in diesem Zusammenhang vergleichend genannt werden. Anders als die im Text aufgeführten Arbeiten treibt er das Verwirrspiel um den eigentlichen Ort der Spiegelung jedoch unter Zuhilfenahme des Bluebox Verfahrens. 33 Zu den Videos von Benglis und Jonas siehe Sigrid Adorf: „Prekäre Präsenz I. Now (Lynda Benglis, 1973)“, in: Dies. (Hg.), Is it now? – Gegenwart in den Künsten, Zürich: Hochschule für Gestaltung und Kunst 2007, S. 96–109. 34 Vgl. S. Adorf: Operation Video, insb. Kapitel I (Das Medium ist politisch? Fernsehen, Video und Subjekt um 1970) und Kapitel VI (Das Bild operiert an der Geschichte (des Subjekts)).
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Sigrid Adorf als solipsistische Selbststudien verstanden und – wie es bereits Rosalind Krauss’ früher Text Video. The Aesthetics of Narcissism von 1976 nahelegt – als narzisstisch eingestuft wurden, an jener intimen Schnittstelle zwischen privat und öffentlich, welche die feministische Theorie als politisch erkannte.35 So hat sich insbesondere die feministische Film- und Medientheorie mit psychoanalytischen Konzepten zur Subjektkonstitution befasst, weil diese zu erklären halfen, welchen Schauplatz der Körper dem medialen Blickregime bietet und wie sich öffentliche Bilder in das einschreiben, was wir als das Intimste und Privateste empfinden – unsere Gefühle, unsere Gesten, unsere Selbstwahrnehmung. Foucault ging so weit, den Ausdruck tiefster Individualitätsempfindung, die Seele, als ein Konstrukt zu beschreiben, das den Körper gefangen nehme und diszipliniere.36 Schon Freuds Erkenntnis, dass das Ich nicht Herr im eigenen Hause sei, kündigte die Dezentrierung des modernen Subjekts an, die von Lacan zu der Aussage ausgeweitet wurde, dass das Ich durch das Spiegelstadium überhaupt erst gebildet und durch seinen Eintritt in die Sprache unwiderruflich gespalten werde. Diese Ansätze halfen zu verstehen und zu beschreiben, in welcher Form sich Kultur körperlich und psychisch manifestiert – und sie halfen die transformierende Bedeutung von Medien zu denken, der Sprache wie der Bilder und Techniken. Birnbaum gehört, wie viele andere Künstler und Künstlerinnen seit der konzeptuellen Wende der 1960er Jahre, die als linguistic turn in die Geschichte der Paradigmenwechsel eingegangen ist, zu den systematischen Erforscherinnen dieser Transformationsprozesse. Ihre mediale Analyse der Wechselbeziehungen zwischen den zir– kulierenden Bildern, Texten und Erzählungen (der Produktion), den Prozessen der Konsumption wie des Widerstands, der Aneignung
35 1969 publizierte Carol Hanisch einen Essay mit dem Titel „The Personal is political“, der alsbald zu einem der wichtigsten Slogans der feministischen Bewegung avancierte; vgl. Kathie Sarachild: „Consciousness-Raising: A Radical Weapon“, in: Dies. (Hg.), Feminist Revolution, New York: Random House 1978, S. 144–155; außerdem S. Adorf: Operation Video, insb. Kapitel II (Das Private ist politisch! Repräsentationskritische Eingriffe im „Alltag“). 36 „Der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man einlädt, ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine ‚Seele‘ wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den Körper ausübt. Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis des Körpers.“ Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994; vlg. außerdem Judith Butler: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 86.
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„All activity must occur within a given space“ wie Ablehnung (der Rezeption) und den technischen Strukturierungen dieses Bedeutungstransfers ist den Forschungsansätzen der Cultural Studies methodisch vergleichbar. Sie unterscheidet sich deutlich von universalen Medientheorien und fokussiert das spezifische, historische Gefüge zwischen politischen Versprechen und Ängsten, Aufgaben der Wahrnehmung, Körperbild, Selbstbetrachtung, Repräsentationsgeschichte, kulturellem Umfeld und Technikgeschichte, das sich mit Benjamin als eine „Signatur der Zeit“ bezeichnen ließe.37 Dieses dispositive Feld ist Ausgangspunkt kulturanalytischer Medientheorien. Régis Debray hat in seinen Entwürfen zu einer Mediologie die Notwendigkeit unterstrichen, die Frage nach der Bedeutung von Medien auf drei miteinander verbundenen Ebenen gleichzeitig anzusiedeln: der physischen, der semantischen und der politischen. Physisch sei danach zu fragen, welche Technik oder welche Maschine am Werk sei, semantisch stelle sich die Frage nach der darin verhandelten Bedeutung, die Frage, welcher Diskurs hier verstanden und geführt werden wolle, und politisch müsse nach der darin angelegten Machtbeziehung gefragt werden, das heißt danach, welche Macht hier über wen ausgeübt werde.38 Durch eben diese perspektivische Gleichzeitigkeit der Fragen zeichnet sich Birnbaums Medienarbeit aus, die um das Verhältnis von Macht, Repräsentation und Geschlecht kreist. Ich bin versucht, ihren Ansatz – der sich mit ihren Videoeditionsstudien an der New School of Social Research und ihrem Engagement für die partizipativen, architektonischen Projekte des Lawrence Halprin Studios in Verbindung bringen lässt – als den einer Videologistin zu bezeichnen.39 Den Begriff des Videologisten führte Alfred Willener, Soziologe und Psychologe an der Universität Lausanne, zur Charakterisierung seines Forschungsansatzes 1971 ein: „We shall provisionally define the videologist as the actor who, in working with video, resituates his action, continuously or intermittently, in response to exis-
37 Vgl. Walter Benjamin: „Kleine Geschichte der Photographie“, in: Ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 45–64, hier S. 61. 38 Vgl. Régis Debray: „Für eine Mediologie“, in: Claus Pias u. a. (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart: DVA 1999, S. 67–75, insb. S. 72–73; aber auch ders.: Einführung in die Mediologie, Bern/Stuttgart/Wien: Haupt 2003. 39 Zu den biografischen Angaben zu Birnbaums Ausbildungsweg vgl. den Kat. zur Ausst. der Wiener Kunsthalle (Dara Birnbaum, Kat. der Ausst.).
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Sigrid Adorf tential, social, or cultural considerations, that is to say in relation to a sociologic.“40
Absichtsvoll stellt der Begriff des Videologisten eine Beziehung zum lateinischen Ursprung des Namens, ich sehe, her und leitet daraus einen wissenschaftlichen Ansatz ab, der dem der teilnehmenden Beobachtung nahe kommt, den Akzent aber nicht allein auf die Erforschung des Beobachteten legt, sondern viel eher betont, dass das Beobachtete den oder die Beobachtende verändert. Die Videologisten beschrieben ihren Weg mit dem Medium als einen Weg von der Identifikation zur „Alterification“, wobei sie die Perspektive von Fernsehzuschauern mit mimetischen Identifikationen verbanden und mit „Alterification“ dagegen die Erfahrung ansprachen, sich selbst über Video wahrzunehmen: „Returning to video, what is particularly inspiriting is the alterophilism that usually develops in those who see themselves on tape in a feedback session. […] We shall designate as ALTERIFICATION the process whereby EGO, OTHERS, and THIRD [das Medium; S. A.] reciprocally transform each other; by means of criticism and redefinition, which include invention and even innovation.“41
Die Frage einer Entfremdung wird hier positiv zur Möglichkeit einer Abstandnahme zu sich selbst gewendet. Die Beziehung zwischen Selbst und Bild ist nicht statisch, sondern prozessual formuliert, das heißt als eine wandelbare Folge – als ein reziproker Kommunikationsprozess. Das brechtsche Ideal von der Umkehrbarkeit von Sender und Empfänger ist gewissermaßen auf seine kleinste psychologische Einheit, den Akt einer Spiegelung, zurückgeführt, der als ein Werden, ein pädagogischer Prozess zur Transformation beschrieben wird. Die neue Technik ermöglichte es, die Intimität einer spiegelbildlichen Szene auf eine spätere Betrachtung zu übertragen. Das erlaubte ganz neue Formen der Begegnung, die Betrachtende auf eine neue Weise buchstäblich an der Selbstreflexion eines Subjekts teilhaben ließen. Auch wenn die späteren Foundfootage-Montagen Birnbaums nicht mit dieser Form von Spiegelung arbeiten und die Künstlerin hier nicht mehr im Bild erscheint, ist hiermit eine Perspektive angesprochen, die sich fortsetzt: die Teilhabe der (Zu-)Schauenden am Geschauten, ihre teilnehmende Beobachtung, die in der unvermeidlichen Kongruenz von Kamera- und Zuschauerblick spürbar wird. Die Öffnung zum Raum der Betrachtenden und der Anspruch, d. h. die Form, durch welche die Betrachtenden angesprochen werden, bleibt der Idee des Inter-cut verbunden.
40 Alfred Willener/Guy Milliard/Alex Ganty: Videology and Utopia. Explorations in a new medium, London/Henley/Boston: Routledge 1976, S. 115. 41 Ebd., S. 145.
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„All activity must occur within a given space“
Abb. 8: Chaired Anxieties: Control Piece (1975), Video, s/w, Ton; Quelle: Archiv der Künstlerin; © Dara Birnbaum Die letzte Sequenz von Chaired Anxieties, betitelt als Control Piece, verlässt den Aufnahmerahmen der vorangegangen Sequenzen, insofern die Performance hier über die direkte Spiegelung hinaus ein Bild-im-Bild-Verhältnis aufbaut (siehe Abb. 8). Das Stück beginnt mit einem quadratischen Lichtkegel an der Wand, in den die Performerin langsam vordringt. Birnbaum streckt Hand und Arm in den Projektionsrahmen und tastet zunächst die Kontur des Lichtfeldes ab. Dann betastet sie die Wand, so als würde sie Formen nachzeichnen, die nicht unmittelbar sichtbar sind. Sie dreht sich um und wird ausgeblendet. Als nächstes ist die Projektion eines wenig möblierten Studios mit zwei Figuren im Gegenlicht zu sehen, in die sich wiederum von links ihre Hände hinein schieben. Sie werden von dem Bild überzogen, werfen Schatten. Allmählich rückt die ganze Person ins Projektionsfeld, wobei ihr dunkles Oberteil und die langen, dunklen Haare einen Teil des Bildes verschlucken. Sie dreht sich und wendet sich den Betrachtenden, das heißt der Kamera, zu. Einem nächsten Schnitt folgt ein weiteres Close-up der gleichen Szene, die sich nun auf eine scheinbare Nahaufnahme des Atelierraums und das Gesicht der Performerin konzentriert. Ihr Blick scheint Kontakt zu suchen und ihre Lippen zeigen, dass sie etwas spricht, das aber nicht zu hören ist. Als „Ontologischen Sprung“ bezeichnet VALIE EXPORT ihre vergleichbaren, konzeptuellen Fotoarbeiten, in denen sich ein ‚echtes‘ Bein oder ein Arm vor der Fotografie desselben wie eine Verdopplung verhalten, die zwischen Realität und Abbildung zu unterscheiden erlaubt – aber nur auf den ersten Blick. Denn das Wesen der Bild-im-Bild-Reflexion weist ebenso auf die Differenz der Bildebenen hin, wie es darauf aufmerksam macht, dass alles im Bild, alles Schein, alles Repräsentation ist. Der werbende Blick der Performerin, ihre unhörbaren Worte: alles adressiert sich an die Betrachtenden und bindet sie in einen Dialog ein, der nicht stattfindet. Oder doch? Bild und Betrachtung teilen augenscheinlich nicht die gleiche Realitätsebene, wenn diese auf die Übereinstimmung räumlicher 161
Sigrid Adorf und zeitlicher Koordinaten bezogen wird. Aber sie teilen einen Projektionsraum, in dem sich die Blicke und Gesten real begegnen, wenn darunter mehr als der physische Kontakt verstanden wird. Das scheint sich in den liebevollen, streichelnden Gesten anzudeuten, mit denen sich Birnbaum in der letzten Sequenz zunächst dem Bild an der Wand und schließlich dem antizipierten Blick der Betrachtenden zuwendet. Sie tritt als Mittlerin auf. Im Bild macht sie auf das intime Verhältnis zum Bild aufmerksam, macht dieses selbst zum Thema, bevor sie sich umwendet und sich selbst als Bild für die Begegnung mit den tastenden, aufmerksamen Gesten der Betrachtenden anbietet. Chaired Anxieties – die Sorgen haben Platz genommen, sie haben den Vorsitz. Laut gelesen schwingt eine andere, gleichklingende Bedeutung mit: Shared Anxieties – sie werden geteilt. Die Frage der Botschaft der Medien, der Mitteilung, wird im Titel dieser Arbeit förmlich zu einem Mit-teilen, einem Gemeinsamen zwischen Werk und Betrachtung. Die verschiedenen Arbeiten Birnbaums, die zwischen 1975 und 1979 entstanden sind, zeigen, wie systematisch die Künstlerin die Positionen untersucht hat, die etwas bedeutend machen. Deutlich von der Vorstellung einer genialistischen Werkauffassung unterschieden, welche die Intention oder den Ausdruckswillen ins Zentrum rückt, nehmen ihre Arbeiten eine semantische Analyse der verschiedenen an einem Kommunikationsprozess beteiligten Faktoren vor. Diese aber bleibt, wie bereits Chaired Anxieties gezeigt haben dürfte, nicht etwa ,blutleer‘, sondern befragt die mediale Grammatik des Sensationellen, das Wechselspiel von Empfindung und Darstellung, von Affekt und Dispositiv, von Sinnesreiz und Sinn.
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Vorbilder des Kinos. Die Familienzeitschriften des 19. Jahrhunderts als Dispositive der Sichtbarkeit KARL PRÜMM
Bereits die frühen kulturhistorischen Rückblicke auf das 19. Jahrhundert heben die Dominanz von Bild und Bildhaftigkeit als auffälliges Charakteristikum hervor. Mit einer doppelten Optik und daher mit einer besonderen, wirkungsmächtigen Einprägsamkeit näherte sich Walter Benjamin diesem Phänomen. Als Kultursoziologe arbeitete er seit den 1920er Jahren die verdichtete Zirkulation der Bilder nach 1850 und die zunehmende Verbreitung von bildhaften Reproduktionen heraus. Gleichzeitig rekonstruierte er in seiner autobiografischen Erinnerung den Zauber, die Leuchtkraft und die Traumpotentiale von Bildinstallationen seiner Kindheit um 1900 – wie beispielsweise dem Kaiserpanorama. Deutlich inspiriert von diesem schillernden, poetisch-szientifi– schen Blick auf eine Epoche, die damals der allgemeinen Verach– tung preisgegeben war, ist Dolf Sternbergers 1938 im nationalsozia– listischen Deutschland erschienene Untersuchung Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert. Im Panorama, in jenem monumen– talen Bildermedium entdeckt Sternberger den authentischen Aus– druck, ja die veritable Selbstentäußerung des Jahrhunderts. Gerade das grenzenlose Rundumbild, das als „nirgends unterbrochene illu– sionistische Einheit“ den Rahmen und damit den „Charakter eines Bildes“ eigentlich verleugne, bezeuge das kollektive Verlangen, die Welt der Erscheinungen lückenlos in Bilder zu verwandeln, sie in eine „Panoramawelt“ zu übertragen, „die sich ringsumher zieht und überall nur bemalte Fläche ist“.1 Stephan Oettermann hat 1980 in seinem fabelhaften Buch Das Panorama – Die Geschichte eines Massenmediums diesen Befund aufgenommen und gezeigt, wie sehr das 19. Jahrhundert vom Pano1
Dolf Sternberger: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert [1938], Frankfurt a. M.: Insel-Verlag 1974, S. 14 u. 53.
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Karl Prümm rama umschlossen und durchdrungen ist.2 Zugleich hat er die Spuren dieses versunkenen Mediums gesichert und die Voraussetzung dafür geschaffen, dass das Panorama in den 1990er Jahren zu einem spektakulären Ausstellungsobjekt wurde. Fotografietheorie und Fotografiegeschichte – hier wären vor allem die Arbeiten von Bernd Stiegler zu nennen3 – haben in den letzten Jahren ebenso umfassend die „Sehsüchte“ des 19. Jahrhunderts bestätigt, das Versessensein auf Anschauung und Bildhaftigkeit, das dem viel beschworenen Pictorial turn, den „Bilderfluten“ des späten 20. Jahrhunderts in nichts nachsteht. Das Prinzip des Bildhaften beherrscht die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts geradezu unangefochten, der Glaube an die Verlebendigungs- und Vergegenwärtigungskraft der Bilder ist noch ungebrochen. Vor allem in der populären Kultur sind Bilder damals allpräsent – als Verfügungstechnologie, als Beherrschungsgeste, als Mittel der Weltaneignung, zugleich aber auch als Instrumente der Unterhaltung, der Ästhetisierung und Verklärung des Wirklichen. Diese Bilderwelt soll hier skizziert werden mit einer besonderen Konzentration auf die Familienzeitschriften, die als neuer Typus populärer Publizistik in den 1850er Jahren entstanden. Die Familienblätter gehören in dem Umkreis der Illustrierten Zeitungen, die nach 1840 beinahe synchron in allen industrialisierten Ländern Europas und in Nordamerika herauskamen und die sicherlich stimuliert sind durch das gerade erst in die Öffentlichkeit gelangte fotografische Verfahren und seine Abbildungspotentiale. Die 1843 zum ersten Mal erschienene Leipziger Illustrierte Zeitung pries sich selbst so an: „Jeden Sonnabend eine Nummer von 48 Folio-Spalten. Mit Illustrationen über alle Zustände der Gegenwart, als: Tagesgeschichte, Naturereignisse, geographische und topographische Karten, Sittenschilderungen, Porträts berühmter Personen, Criminalund Rechtsfälle, öffentliche Feste und Aufzüge, Städteansichten, Bauwerke, Denkmale, Industrielle Erfindungen, Theater Szenen, Costümes, Decorationen, Romane und Erzählungen, Musikalische Compositionen, Gemälde, Karikaturen, Modebilder.“ 4 2
Siehe Stephan Oettermann: Das Panorama – Die Geschichte eines Massen-
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mediums. Frankfurt a. M./Wien: Büchergilde Gutenberg 1980. Siehe Bernd Stiegler: Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert, München: Wilhelm Fink 2001; ders.: Theoriegeschichte der Photographie, München 2006: Wilhelm Fink; ders.: Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006.
4
So lautete eine Werbeanzeige der Illustrirten Zeitung; zit. nach Bernd Wiese: „Aktuelle Nachrichtenbilder ‚nach Photographien‘ in der deutschen illustrierten Presse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, in: Charles Grivel/André Gunthert/Bernd Stiegler (Hg.), Die Eroberung der Bilder. Pho-
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Vorbilder des Kinos Diese enzyklopädische Illustration aller Weltereignisse und Welterscheinungen ist in den Familienzeitschriften perspektiviert auf das Ordnungsgefüge der bürgerlichen Familiarität, auf die patriarchalischen Rollenmuster, auf die Anforderungen bürgerlicher Ökonomie, Ethik und Gesundheitsfürsorge. Die Familienzeitschriften verstanden sich als „Hausbücher“, die ihr praktisches Wissen und ihre Ratschläge beständig aktualisierten und die innere Sphäre der Familie mit dem Außen der Welt zu versöhnen trachteten, wie der Literaturwissenschaftler Ulrich Kinzel in einem bemerkenswerten Aufsatz dargelegt hat.5 In der pressegeschichtlichen Forschung werden die Familienblätter einseitig als Symptom einer resignativen Bürgerlichkeit nach der gescheiterten Revolution von 1848 gewertet, als Rückzug in die Privatheit und die Innerlichkeit. Ihrem Selbstverständnis nach waren die Familienzeitschriften aber aktivistische Verfechter der liberalen Ideale, die sich einem „großen Werk“ verpflichtet sahen und in einem „gesinnungsfreudigen Kampf“ für „Humanität und Freiheit, für Bildung und Volkswohl, für Schönheit und Sitte“ eintraten, wie die Redaktion der Gartenlaube die Überzeugungen ihres Herausgebers Ernst Keil umschrieb, als sie im März 1878 dessen Tod auf der Titelseite bekannt gab.6 Nur wenige Hefte davor hatte jedoch ein Artikel über die Märzrevolution 1848 die konservative Wende der Zeitschrift im neuen Reich pointiert zum Ausdruck gebracht und die praktische Einlösung der revolutionären Ziele mit den rhetorischen Fragen gefeiert: „Stehen sie denn nicht heute verwirklicht vor uns, die Hauptideale jener Märztage: ein einiges, im Inneren freies, nach außen starkes Deutschland unter der schirmenden Führung eines preußischen Heldenkönigs?“7 Aber nicht um Ideologien und politische Programme der Familienzeitschriften soll es im Folgenden gehen, sondern um die Politik der Bilder, um die Abbildungspraxis. Selbst in der nur relativ sparsam mit Illustrationen operierenden Gartenlaube stechen die Bilder als Attraktion heraus und fesseln das Auge. Die besondere Sorgfalt der Auswahl, der Ausführung und der Platzierung sind unübersehbar. Die Familienzeitschriften geben sich als ein visuelles Dispositiv zu erkennen. Im Geleitwort der ersten Nummer stellt die Gartenlautographie in Buch und Presse 1816–1914, München: Wilhelm Fink 2003, S. 77–78. 5
Siehe Ulrich Kinzel: „Die Zeitschrift und die Wiederbelebung der Ökonomik. Zur ‚Bildungspresse‘ im 19. Jahrhundert“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 67 (1993), S. 669–716.
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Die Titelseite der Nr. 14 des Jahrgangs 1878 erschien aus diesem Anlass mit einem Trauerrand. Moritz Bonmot: „Aus dem Papierkorbe eines Achtundvierzigers“, in: Die
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Gartenlaube 1878, S. 82.
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Abb. 1: Signets der Gartenlaube und von Über Land und Meer be viele Illustrationen, „verzierende und erklärende Abbildungen“ von „anerkannten Künstlern“ in Aussicht.8 Die Titelvignette (siehe Abb. 1) erneuert in jeder Nummer die visuellen Versprechen und die visuelle Selbstdefinition als Sammelpunkt solider Bürgerlichkeit: Die mehrere Generationen umfassende Großfamilie schart sich unter dem lauschigen Laubendach um den vorlesenden Hausvater, das junge, dem Horizont zuschreitende Paar versinnbildlicht die Einheit der illustrierten Welt, die Verbindung von Nähe und Ferne, von Innen und Außen, von Häuslichkeit und Offenheit. Auch in der Titelvignette der Zeitschrift Über Land und Meer verschmelzen vertraute und fremde Landschaften zu einem Horizont. Die Abbildungen sind dann auch von Anfang an, schon beim ersten Durchblättern, magnetische Anziehungspunkte und dynamisches Zentrum. Oft ignorieren sie den Mittelfalz, nehmen das ganze Format des Blattes in Anspruch und scheinen sogar bisweilen sich über die Seitengrenzen panoramatisch auszudehnen. Das Layout zentriert immer konsequent die Bilder und macht sie zum Blickfang, zum Angelpunkt des Textes. Darüber hinaus thematisieren die
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Zit. nach U. Kinzel, „Zeitschrift“, S. 686.
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Abb. 2: Die Leichenfeierlichkeiten Kaiser Ferdinand’s von Österreich (Über Land und Meer 1875, S. 909) Familienzeitschriften beständig den Akt des Sehens und machen so selbstreflexiv die redaktionellen Strategien transparent. Der Text lenkt den Blick, führt ihn immer wieder auf die spektakulären Bilder zurück. „Es ist Sommer“, heißt es in einem Artikel zu der neu eröffneten Arlbergbahn, der das Bildhafte bereits im Titel beschwört, „herrlicher Hochsommer, und darum eilen wir, der Sorge und der Qual des täglichen Lebens nicht gedenkend, in’s Hochgebirge, in das uns die neue Bahn fast ohne alle Vermittlung hineinführt, und aus ihren Krümmungen und Windungen wollen wir uns die herrlichsten, bis heute noch fast unbekannten Landschaftsbilder vor Augen zaubern lassen“.9 Sich ganz der Schaulust und dem Zauber des Sehens hinzugeben – das ist die Devise der illustrierten Zeitschriften. Durch ihr gesichertes periodisches Erscheinen, jeden Sonntag kam eine neue Nummer heraus, durch den stabilen Erfolg, Mitte der 1870er Jahre erreichte die Gartenlaube mit einer Auflage von 382 000 Exemplaren
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C. S.: „Bilder von der Arlbergbahn“, in: Die Gartenlaube 1884, S. 542.
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Abb. 3: Die elektrische Ausstellung in Wien (Die Gartenlaube 1883, S. 697) den Höhepunkt ihrer Wirksamkeit, waren die Familienzeitschriften eine machtvolle Agentur des öffentlichen Bildes, ein hocheffizientes Forum des Bildhaften, eine einzigartige Ausstellungsfläche populärer Visualität. Die Bilderstrecken der Zeitschriften durchzogen den bürgerlichen Alltag, waren auf Dauer präsent, denn sie standen dem ganzen Hause eine Woche lang als Objekte kontemplativer und träumerischer Aneignung zur Verfügung. So prägten diese Illustrationstechniken die Bildphantasien ganzer Generationen und drangen tief in das kollektive Bildgedächtnis ein. Variabel und reichhaltig sind die Formen der visuellen Präsentation. Es gibt vielfältige Anstrengungen, den Rahmen des Einzelbildes zu überschreiten. 1875 zeigt die Zeitschrift Über Land und Meer die Begräbnisfeierlichkeiten für Kaiser Ferdinand von Österreich (siehe Abb. 2) in Phasenbildern, die zu einer Bildschleife, zu einer Bildgirlande zusammengefügt werden und so ein Bewegungsbild simulieren. Weit verbreitet ist das gesplittete Bild, das eine Multiperspektivik ermöglicht. Ineinander verschachtelte und sich überlagernde Bilder, wie die Illustration einer Ausstellung über Elektrizität aus der Gartenlaube des Jahres 1883, entfalten die Bildobjekte systematisch (siehe Abb. 3). Mit viel Schmuck und Zierrat werden immer wieder Bilderreihen und Bildstafetten offeriert, die vielfältige Blickbewegungen, Bildkonfrontationen und Bildvergleiche ermöglichen. Vielfältig sind die Abenteuer des Sehens, die den Lesern eröffnet werden. Seit dem Beginn der 1890er Jahre findet sich in der Gartenlaube zu den großen Festtagen, an Weihnachten und an Ostern, ein besonderes Bildpräsent, eine Bildbeigabe im Glanzformat: eine Farblithografie, die auf die Feiertagsstimmung abge-
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Abb. 4: Erstes Aufsteigen des Luftballons „Zenith“ am Morgen des 17. März (Über Land und Meer 1875, S. 652) stimmt und auf den Ausruf des Entzückens angelegt ist, die so durch die Sensation der Farbe die Lust am Bild, an der Bildbetrachtung noch einmal anstachelt. Die Familienblätter stehen ganz im Zeichen des neuen fotografischen Verfahrens, das die Bildvorstellungen des 19. Jahrhunderts in revolutionärer Weise veränderte. Die intensive Adaption der Fotografie drängte sich geradezu auf, weil die Verheißungen und Zuschreibungen des neuen Medium sehr genau dem Programm der Familienzeitschriften entsprachen. Die Erlebnisdimension der fotografischen Abbilder war wie geschaffen für die aufstrebenden Organe, deren Bildpolitik auf eine suggestive Präsenz des Wirklichen ausgerichtet war, auf eine unmittelbare Berührung mit den Realien, mit der Materialität der Dinge. Und doch konnte das alles prägende Bildverfahren über beinahe vier Jahrzehnte hinweg nicht sichtbar gemacht werden, weil die fotografischen Abzüge mit dem Massendruck und den Massenauflagen nicht vereinbar waren. Das fotografische Bild musste in traditionelle bildgebende Verfahren rückübersetzt werden, um massenhaft reproduzierbar zu sein. Der Holzschnitt bot sich als Übertragungs- und Stellvertretermedium des Fotografischen an. So entstand die Xylographie als eine kurz aufblühende und rasch verschwindende neue Bildtechnik. Auf eine Hartholzplatte wurden die fotografischen Abzüge zunächst umrisshaft abgepaust und dann durch eine lichtempfindliche Kollodiumschicht direkt übertragen. Anschließend mussten die Linien und Konturen des fotografischen Bildes in die Holzoberfläche eingeritzt werden, um so einen belastbaren Druckstock zu erhalten. Es ist erstaunlich, zu welch differenzierten Bildeffekten das eigentlich grobe Eingravieren fähig war, wie fein ziseliert die Linienführung sich 169
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Abb. 5: Sonntag Nachmittags an der berlin-charlottenburger Pferdebahn (Über Land und Meer 1875, S. 568) darstellte, wie genau Grauabstufungen, Halbschatten und Lichtspiegelungen darstellbar waren. Die Rückübersetzung des automatischen Kamerabildes in die manuelle Bildherstellung wurde erst überflüssig, als mit dem Verfahren der Autotypie am Ende der 1880er Jahre die direkte, gerasterte Reproduktion von Fotos im Schnelldruckverfahren möglich geworden war. Aber zu diesem Zeitpunkt hatten die Familienzeitschriften den Zenit ihrer Wirksamkeit bereits überschritten, und der Kinematograph als neues, illusionsmächtiges Bildermedium kündigte sich bereits an. Selbst als abwesendes, nicht sichtbares Medium ist die Fotografie in den Familienzeitschriften der geheime Referenzpunkt aller Abbildungen. Auch die traditionelle Zeichnung schöpft den Authentizitätseffekt des fotografischen Bildes ab. Die in den Holzschnitt übertragene Zeichnung aus dem Jahre 1875 – sie entstammt der Zeitschrift Über Land und Meer – ist eine Quasi-Ereignisfotografie (siehe Abb. 4). Durch die genaue Datierung der Ballonfahrt und durch die namentliche Identifikation und Zuordnung der Beteiligten entsteht der Effekt eines fotografischen Wirklichkeitsausschnitts. Kaschiert werden somit die Zurichtungen des Zeichners: das verdichtete didaktische Zeigen der vielfältigen Messverfahren, die das Luftabenteuer in eine technische Expedition umdefinieren, und der schwebende, imaginäre Blickpunkt, den die fotografische Kamera so überhaupt nicht einnehmen könnte. Auch die gezeichnete Groß-
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Abb. 6: Das „goldene Thor“. Einfahrt in die Bai von San Francisco (Die Gartenlaube 1884, S. 444) stadtimpression aus dem gleichen Jahrgang von Über Land und Meer imitiert die fotografische Momentaufnahme und überschreitet sie gleichzeitig durch die verdichtete Komposition und durch die Ausblendung des Bildhintergrunds (siehe Abb. 5). Selbst die direkte Übertragung der Fotografie changiert zwischen den Bildklassen, was vor allem an den zahlreichen Porträts von Politikern, Wissenschaftlern und Künstlern sichtbar wird. Die Präzision des physiognomischen Ausdrucks ist nur durch die Kopie der fotografischen Vorlage erreichbar, die fühlbar und präsent gemacht wird, zugleich drängt sich aber auch der individuelle Strich des Zeichners in den Vordergrund, der noch ganz der Tradition der Porträtmalerei verhaftet ist. Die Illustrationspraxis der Familienzeitschriften bewegt sich demnach in einer merkwürdigen, aber höchst reizvollen mediengeschichtlichen Zwischenzone. Die reichhaltig eingestreuten Abbildungen pendeln zwischen den Polen des Automatischen und des Manuellen, des Apparativen und des Individuellen, des unmittelbaren Realitätseindrucks und der künstlerischen Bearbeitung. Sie entfachen damit, wenn auch nur für wenige Jahrzehnte, eine einzigartige intermediale Dynamik durch Übertragung und Projektion von Bildzuschreibungen und Bildversprechen in eine vermeintliche Wirklichkeitsdarstellung. Die Adaption der Fotografie ist umfassend: Sämtliche Illustrationen beanspruchen die Realitätseffekte des fotografischen Bildes, seine Lebendigkeit, seine Momenthaftigkeit, seine Kraft zur Vergegenwärtigung Sie beharren aber gleichzeitig auf der künstlerischen Subjektivität, auf der individuellen Bearbeitung und Aneignung. Sie überblenden beständig das Reale, die Realitätsreferenz durch das Subjektive und Imaginäre.
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Abb. 7: Aus der Zeit der Pfahlbauten (Die Gartenlaube 1880, S. 613)
Abb. 8: Jüdische Hochzeit in Galizien (Die Gartenlaube 1883, S. 32/33) Exemplarisch lässt sich ein solches Doppelbild an einer Illustration aus der Gartenlaube des Jahrgangs 1884 studieren, die einer Reisereportage beigegeben ist, die nach Kalifornien, nach San Francisco führt. Die in der Gartenlaube oft vertretene Bildklasse „Nach der Natur gezeichnet“ eignet sich den Gestus der Fotografie an, erinnert stark an Henry Fox Talbots Definition des neuen Mediums als pencil of nature; und der nach Kalifornien entsandte „Spezialartist“ ist die Kopie des reisenden fotografischen Korrespondenten. Den Realismus der Abbildung legitimiert der Text der Reportage mit einem expliziten Verweis auf die Illustration durch ein genaues Nachzeichnen des Blickpunkts und der Topographie der Landschaft. Das Auge kann getreulich den Zeilen und den Konturen des Bildes folgen, beide Medien illustrieren und bekräftigen sich gegen172
Vorbilder des Kinos seitig. Andererseits beharrt der „Spezialartist“ auf seiner künstlerischen Souveränität, seine Illustration ist keineswegs eine Eins-zueins-Übersetzung der Textvorgabe. Die von zahlreichen Schiffen jeder Couleur belebte Bucht, das Alltagsbild, das die Reportage vorschreibt, verweigert er und gestaltet ein eher heroisch-einsames Tableau. Stattdessen wählt seine Bildadaption einen anderen Anknüpfungspunkt. Die „Wunderglorie“, die der Text zu Beginn dem „goldenen“ Kalifornien zuschreibt, 10 nimmt er auf und inszeniert einen Sonnenaufgang, der wiederum an die monumentalen fotografischen Seestücke von Gustave LeGray erinnert (siehe Abb. 6). Eine in der Gartenlaube von 1878 enthaltene Illustration „In den Pongau-Klammen der Salzburger Alpen“ bemüht noch sehr viel stärker mit der Bildunterschrift „nach der Natur aufgenommen“ die Umschreibungsdiskurse der Fotografie.11 Um so manifester ist jedoch die Orientierung der ‚Aufnahme‘‘ an den Kompositionsprinzipien der Romantik – von der monumentalen Naturkulisse, die alles beherrscht, bis hin zur Verdoppelung des Schauens in der Rückenansicht des Betrachters im Bild. Solche Illustrationen, die sich variantenreich wiederholen, nutzen die Operationsmöglichkeiten, die in den Zwischen- und Wechselbildern sich eröffnen. Eine fotografie-affine Wirklichkeitsnähe, Detailreichtum, Lebendigkeit und Momenthaftigkeit behaupten alle Illustrationen der Familienzeitschriften. In toto wollen sie als Fotografien, als beglaubigte Ansichten gelesen werden. Dies verwischt jedoch die Grenzen zwischen dem Realen und dem Imaginären, was an den Darstellungen des Vergangenen besonders augenfällig wird. Zwar wird die Darstellung eines altgermanischen Begräbnisses, die von einem Ölgemälde in einem Holzschnitt verwandelt wird, abgesichert durch einen detailreichen Text, der die Sagenüberlieferungen und den Kenntnisstand der Archäologie als bildstützendes Verfahren zusammenträgt.12 Aber die unbekümmerte szenische und gestische Ausgestaltung geht ihre eigenen Wege und verwandelt das altgermanische Ritual in ein dramatisch ausgeleuchtetes Schauspiel von Pompes Funèbres, das einer Opernbühne alle Ehre machen würde. Eine ähnlich hemmungslose Aktualisierung lässt sich auch bei einer Abbildung „Aus der Zeit der Pfahlbauten“ beobachten, die das Ideal der bürgerlichen Großfamilie und wohlgeordneten Hauses schlicht in die Vorzeit projiziert und sich die Titelvignette der Gartenlaube zum Muster nimmt (siehe Abb. 7).
10 Udo Brachvogel: „Zehntausend Meilen durch den Großen Westen der Vereinigten Staaten“, in: Die Gartenlaube 1884, S. 446. 11 Die Gartenlaube 1878, S. 195. 12 St.: „Altdeutscher Leichenbrauch“, in: Die Gartenlaube 1878, S. 724–727.
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Abb. 9: Blindekuhspiel (Die Gartenlaube 1884, S. 604)
Abb. 10: Plünderne Banden auf dem Schlachtfelde (Die Gartenlaube 1878, S. 251) Gänzlich dem Imaginären, den reinen Vorstellungswelten zugewandt sind die Darstellungen des Fremden. Das 1883 in der Gartenlaube reproduzierte großformatige Ölgemälde „Jüdische Hochzeit in Galizien“ (siehe Abb. 8), das in das Schwarz-weiß des Holzschnitts
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Abb. 11: Die höchste Brücke der Welt, der Kinzua-Viaduct bei Alton in Pennsylvanien (Die Gartenlaube 1883, S. 197) übertragen und damit der Fotografie angeglichen ist, streift daher auch nicht von Ungefähr die antisemitischen Ressentiments, illustriert sie, gibt ihnen Gestalt. Unruhe, Chaos und Desorganisation des überfüllten Bildes lösen Distanz und Befremden aus. Exotistische Sehnsüchte und eine Projektion verbreiteter Orientalismen sind in dem Bild „Marokkanische Frau“ aus der Gartenlaube 1886 konzentriert.13 Alle Insignien orientalisch-märchenhafter Pracht sind im Interieur und im verschwenderischen Glanz des Kleides versammelt, um den sehnsuchtsvoll in die Ferne gerichteten Blick der einsamen Haremsdame wirkungsvoll zu kontrastieren. Die Bildpolitik der Familienzeitschriften war auf Konsens ausgerichtet. Gerade auf diesem hochemotionalen Feld gingen die Redaktionen mit größter Sorgfalt vor. Die Bilderwünsche aller Leser sollten erfüllt werden, und die Illustrationen durften die Familiarität nicht sprengen, sondern sie im Wohlgefallen der gemeinsamen Betrachtung immer wieder aufs neue bestätigen. Gefragt war also das mehrheitsfähige, für alle Generationen kommensurable Bild, das die Extreme meidet, die Verletzungen des guten Geschmacks ausschließt und die Grenzen der Sichtbarmachung strikt wahrt. Die Selbstreglementierung bei der Darstellung von Körper und Sexuali-
13 „Marokkanische Frau“, in: Die Gartenlaube 1886, S. 53.
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Karl Prümm tät ist daher überdeutlich. Nur einen Spalt weit wird die Tür zu verbotenen Bilderwelten in der Reproduktion des Ölgemäldes „Blindekuhspiel“ geöffnet. Das Tuch vor den Augen, die Verhüllung des männlichen Blicks gibt dem Bild die Lizenz, die Enthüllung des weiblichen Körpers zumindest im leichten Schürzen des Rocks anzudeuten. Wie gebannt blicken alle jungen Frauen auf die kommende, jenseits des Bildes liegende, durch das Spiel aber legitimierte Berührung (siehe Abb. 9). Die Energien des Begehrens werden so auf indirekte Weise darstellbar. Verwiesen wird gleichzeitig auf die in den Familienzeitschriften ausgeschlossenen, auf die verbotenen Bilder enthüllter Körper, auf die heimlich zirkulierenden pornographischen Stereoskopien. Drastisch gezogen werden die Grenzen gegenüber dem Abnormen und der Abweichung. Die abschreckenden Bilder des Verbrechens werden ganz in den Dienst der nationalen Sache gestellt. Im Zeitalter des heroischen Nationalismus ist die Leichenfledderei nach der Schlacht, wie sie in einer Originalzeichnung 1878 in der Gartenlaube dargestellt wird, die denkbar schändlichste Form des Verbrechens. Die Abbildung hat eine aktuelle Referenz auf den russischtürkischen Krieg, wobei der kommentierende Text über die „Schmarotzer des Schlachtfeldes“ ergänzt: „Solche Bilder sind bis jetzt leider eine Zugabe zu jedem Kriege gewesen“.14 (Siehe Abb. 10.) Das ein Jahr vorher reproduzierte Bild „Schmuggler im bairischen Gebirge“ rührt an die Wunde der „kleindeutschen Lösung“.15 Die als willkürlich empfundene Grenze zwischen Bayern und Österreich bringt das halsbrecherische Verschieben von Waren über heimliche und gefährliche Wege hervor, das selbst den Sturz in den Abgrund nicht scheut. Man würde die Familienzeitschriften gehörig unterschätzen, wenn man ihre Funktion auf die Beschwörung einer betulichen, rückwärtsgewandten Familiarität beschränken würde. Alle Familienblätter waren missionarische Verfechter von Fortschritt und Moderne. Ihr vorrangiges Ziel war es, die Leser an die Moderne und ihre Anforderungen heranzuführen, sie bis in die Gestaltung des täglichen Lebens hinein in die Moderne regelrecht einzuüben. Vor allem die Gartenlaube schwang sich immer wieder zum Ratgeber in Hygiene und Gesundheitsfragen auf, informierte über die Erkenntnisfortschritte der Medizin und der Naturwissenschaften. Zu diesem aufklärerischen Programm gehörte es auch, das Vordringen der Moderne ganz gegenständlich zu zeigen, Technik, moderne Architektur, Erfindungen visuell vorzuführen. Besonders den Ausbau der Eisenbahnlinien verfolgte die Gartenlaube mit großer Aufmerksamkeit
14 Die Gartenlaube 1878, S. 254 15 Die Gartenlaube 1877, S. 729.
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Vorbilder des Kinos und feierte die Eisenbahn als ein Dispositiv des Sehens, der neuen Erfahrung von Raum und Landschaft. Erfindungen im Verkehrswesen wurden in aller Breite dargestellt und illustriert. Der Elektrizität und dem elektrischen Licht werden immer wieder Artikel gewidmet. Mit auffälligem Interesse verfolgt die Gartenlaube die Kette der medialen Erfindungen, die Weiterentwicklungen der Fotografie und der Stereoskopie. Ein ausführlicher Artikel über Edisons Phonograph, der eine hochdifferenzierte Archäologie der „Sprechmaschinen“ ausbreitet, wagt am Ende einen Ausblick auf die Koppelung von Bild- und Tonaufzeichnung, von Stimmarchivierung und bewegter Fotografie. Wenn auch der Zukunftsblick als Votum eines Anonymus ausgegeben wird, so ist die Konkretion der Medienträume, die Vision eines filmischen Zeitalters ganz erstaunlich. Am Ende des Artikels heißt es: „Ein Engländer hat vorgeschlagen, zu derartigen für die Nachwelt aufzuhebenden Reden und Dialogen das Mienenspiel in einer entsprechenden Folge zu photographieren und die Bilder zu einer sogenannten stroboskopischen Scheibe zu verbinden, so dass man die Person in ihrem Mienenspiele vor sich sehen könnte, während man sie reden und singen hörte, und mit diesem Non plus ultra von Zukunftsspaß wollen wir für heute diese hoffnungsvolle Perspective schließen.“16 Konsequent arbeitete die Gartenlaube an der Perfektionierung der fotografischen Reproduktionstechniken. Vor allem in den 1880er Jahren ist das Vordringen des fotografischen Detailrealismus deutlich zu beobachten. Je komplexer die ausgestellten technischen Objekte, um so mikroskopisch feiner werden die Schnitte und Gravierungen (siehe Abb. 11). Lückenlos ausgefüllt ist der Bildraum wie bei einem fotografischen Abzug, verschwunden sind die poetisierenden Unschärfen an den Bildrändern. Die „Moment-Fotografie“, die sich nun breit durchsetzte, erforderte von den Xylographen noch eine Steigerung ihrer Differenzierungsfähigkeit, ihrer manuellen Künste, um die festgehaltene Bewegung in ihrer Natürlichkeit wiedergeben zu können. Eine neue, der Detailfülle des Fotografischen angenäherte Bildästhetik hält Einzug. Mitte der 1880er Jahre hat der Holzstich den Realitätseffekt des Abzugs fast erreicht. Unterschiede sind kaum noch auszumachen. Ja man könnte sogar von einer Einbuße an Realitätsreferenz und Suggestion, von einem Verlust der Grauwerte und der Detailschärfe sprechen, als auch in der Gartenlaube am Ende des Jahrhunderts die Autotypie selbstverständlich geworden war. Die direkte Reproduktion von Fotografien ergibt weit flachere, sehr viel kontrastärmere Ansichten.
16 Carus Sterne: „Sprechmaschinen (Edison’s Phonograph)“, in: Die Gartenlaube 1878, S. 172.
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Abb. 12: Momentphotographie des Ausstellungsgeländes, Lehrter Bahnhof u. s. w. in Berlin. Vom freien Ballon aus in 800 Meter Höhe aufgenommen von Freiherr von Sold (Die Gartenlaube 1886, S. 721) Die Gartenlaube bietet ihren Lesern am Ende des Jahrgangs 1886 eine ganz besondere Bildsensation: eine Momentfotografie, aufgenommen aus einem Ballon, der sich in einer Höhe von achthundert Metern über der Kaiserstadt Berlin befindet, und das Gelände um den Lehrter Bahnhof auf das Präziseste erfasst (siehe Abb. 12). Staunend vermerkt der Kommentator: „Wir sehen die einzelnen Gebäude, die Spree, Schienenstränge und Straßen wie auf einer Specialkarte vor uns ausgebreitet.“17 Als eine neue Kategorie des Bildes sprengt die Luftaufnahme völlig den Rahmen der Bildpraxis eines Familienblatts. Dass hier ein Ausgriff auf ein gefährliches Zeitalter erfolgt, ist dem Autor klar, denn er konnotiert die Bildschärfe des Blicks von oben, die genaue Erfassung des städtischen Raumes sofort mit dem Krieg und dem Fortschritt der Waffen. Der populäre Realismus der Gründerzeit ist die von der Gartenlaube bevorzugte Kunstrichtung, die immer wieder mit großformatigen Abbildungen gewürdigt wird. Benjamin Vautier, Ludwig Knaus, Franz Defregger und Mathias Schmid nennt Ludwig Ganghofer 1884 in einem Artikel der Zeitschrift als die Hauptvertreter einer „tiefinnerlichen Hinneigung zum Volkstümlichen“, eine für ihn „notwendige Erscheinung“ der „modernen Malerei“, bei der die „Wahrheit […] unverbrüchlich mit der Schönheit Hand in Hand“ ginge, alle „Gebilde“ sich so „harmonisch abgerundet in den Rahmen“ fügten und jede „Scene in ihren glücklichsten, wirkungsvollsten Momente,
17 „Die Fortschritte der Luftschiffskunst“, in: Die Gartenlaube 1886, S. 721.
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Abb. 13: Der verlorene Sohn (Die Gartenlaube 1878, S. 283) in ihrer Culmination“ erfasst sei.18 Ganghofer umreißt hier genau jene Konformität, die zugleich sein eigenes Schreiben, die Poetik des bürgerlichen Realismus wie auch die Illustrationspraxis der Familienzeitschriften umfasst. Die dörflichen Idyllen und die heiteren Bauernszenen der aktuellen Genremalerei nutzt die Gartenlaube weidlich aus. Das Szenische und das Erzählerische dieser Bilder kommt ihr gelegen. Mit einer Fortsetzungsgeschichte auf dem Kopfblatt beginnt jede Einzelnummer, wobei hier strikt auf illustrative Beigaben verzichtet wird. Den erzählerischen Impuls nehmen dann aber die übrigen Illustrationen auf, die stets narrativ aufgeladen und sehr häufig durch ein komplexes Zusammenspiel von Text und Bild zu einer eigenen Narration ausgeweitet werden. Sehr beliebt ist eine soziale Melodramatik, die den zugespitzten Moment, die Konfrontation der Akteure, den Zusammenprall der sozialen Gegensätze oder die pittoreske Armut zugleich verdichten und ausbreiten. „Ausgewiesen“ – so lautet die Unterzeile zu einem Bild, hinter dem sich ein ganzes Sozialdrama verbirgt. Die Staatsgewalt, ein Polizist und der Gerichtsvollzieher, haben eine mietsäumige Familie exmittiert, das bescheidene Hab und Gut einfach auf die Straße, in den Regen gestellt. Frau und Kind ducken sich beschämt, suchen Schutz unter einer Decke, während der Mann trot-
18 Ludwig Ganghofer: Mathias Schmid, in: Die Gartenlaube 1884, S. 606–608.
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Abb. 14: Die letzte Zuflucht (Die Gartenlaube 1890, S. 817) zig und aufrecht im Vordergrund des Bildes verharrt. Sogar der in das Bild eingeschriebene Blick der Empathie ist noch grell überzeichnet. Am rechten Bildrand, ganz im Hintergrund beobachtet eine Frau das Geschehen. Das Entsetzen ist ihr offenkundig in die Glieder gefahren, mühsam hält sie sich aufrecht und muss sich an eine Wand anlehnen.19 Schier unerschöpflich sind die bitteren Abschiedsszenen, die eine narrative Ergänzung durch den Leser herausfordern. Sehr häufig aber übernehmen die Familienzeitschriften selbst die Aufgabe, den Bildrahmen narrativ zu überschreiten. Dem Bild nachgereichte oder vorangestellte Ergänzungstexte verlagern den Blickpunkt ins Off oder fügen den dramatisierten Bildmoment in eine zeitliche Sequenz ein. Das plötzliche Erscheinen des russischen Kaiserpaares in einem Schlitten auf den verschneiten Straßen von St. Petersburg gestaltet Über Land und Meer 1883 im Stil einer Féerie und rahmt das beinahe überirdische Bild durch eine reportagehafte Ausgestaltung des Vorher und des Nachher.20 Besonders eindrücklich ist die Bebilderung des altestamentarischen Mythos vom „verlorenen Sohn“, die sich 1878 in der Gartenlaube findet und die durch eine lyrische Pa-
19 „Ausgewiesen“, in: Die Gartenlaube 1880, S. 273. 20 „Eine Ausfahrt des russischen Kaiserpaars“, in: Über Land und Meer 1883, Abb. S. 561, Text S. 567.
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Abb. 15: Die Kriegerwitwe (Die Gartenlaube 1880, S. 761) raphrase eine doppelte zeitliche Rahmung erhält (siehe Abb. 13). Der Erzähltext bietet die Vorgeschichte mit einer Verschiebung vom Vater-Sohn-Konflikt zum Dissens mit der Mutter: die Ehe ohne den mütterlichen Segen, die Flucht in die Ferne, der Tod der Frau und des Kindes, die Rückkehr als Bettler und nun die bange Erwartung am hinteren Gartenpförtchen, der Vorgriff auf das Wiedersehen, auf den ersten Blick und das erste Wort. Bisweilen zielt die Bildinszenierung gar auf multisensorische, auf akustische Effekte. Zur Illustration „Die Ankunft“ heißt es: „Wie beim Abschiede das Rollen des Wagens das letzte Zeichen seiner Entfernung war, so ist es jetzt das erste, welches an das Ohr der Lauschenden schlägt und das Nahen des Geliebten verkündet“.21 Von einem Exzess der Zeichen und der Gesten könnte man sprechen angesichts solcher Bilder wie „Das letzte Stelldichein“, bei denen alle Gestaltungsparameter auf eine überbordende Expressivität hin angelegt sind, die geballte situative Dramatik über das Einzelbild hinausdrängt und eine Kette von Bewegungsbildern evoziert. Mitten in der Waldeinsamkeit hat sich das unglückliche Paar zum letzten Mal verabredet. Wie hingestreckt sitzt die junge, elegant gekleidete Frau auf einer Bank, hat die Hand vor das Gesicht geschlagen, den Blick abgewandt. Mit der anderen Hand hält sie den erstarrten Geliebten fest, der den Hut abgenommen hat, als stehe er 21 „Blätter und Blüthen. Die Ankunft“, in: Die Gartenlaube 1884, S. 584.
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Karl Prümm vor einem offenen Grab.22 Überhaupt werden die allerletzten Momente als Kulminationspunkte von imaginierbaren Geschichten bildhaft fixiert und mit besonderer Vorliebe detailreich ausgemalt. Im überladenen Hinterzimmer eines Händlers oder Hehlers lässt eine verarmte Witwe, die einen Säugling in ihren Armen hält, das „letzte Kleinod“, den Rest des Familienschmucks abschätzen.23 Die Plötzlichkeit der Katastrophe, der „schneidende Gegensatz zwischen zwei Augenblicken“, so führt der erläuternde Text zu dem Bild „Die letzte Zuflucht“ aus, verleihe dem Theaterbrand eine „Art von fürchterlicher Romantik“: „Eben noch fröhliche Lust, heiterer Flitter, Glanz und Freude – jetzt markerschütterndes Nothgeschrei, zertretene Menschenleiber, Tod und Grab – eben noch sorgloses Genießen – jetzt der Kampf um die Selbsterhaltung in seiner grassesten Gestalt!“ (Siehe Abb. 14.) Die Reihe der aus der konkreten Abbildung abgeleiteten Phantasiebilder wird aber auch in die andere Zeitrichtung verlängert. Aus der Paraphrase des Bildes heraus wird dem Leser die Gewissheit des guten Endes, der erlösende Ausblick auf das Happy End geboten: „Von zwei Seiten, von unten her auf der Leiter und um die Ecke des Daches, nahen die braven Feuerwehrleute – die Retter. Und das mildert den schreckensvollen Anblick der Scene, wir wissen, dass nur noch wenige Sekunden vergehen werden und die verzweifelnden Geschöpfe fühlen sich vom starken Arm ergriffen und sicheren Tritts Sprosse für Sprosse hinabgetragen auf die rettende Erde“.24 Im hochemotionalisierten, melodramatischen Tableau „Die Kriegerwitwe“ (siehe Abb. 15) untermalen und verstärken die Dinge, allesamt Spuren des abwesenden Geliebten, monumentalisieren die Trauer und die Erinnerung. Jedes Detail ist mit Bedeutung überladen, das pansymbolische Stummfilmbild vorweggenommen. Durch die Verdichtung von Bildelementen und durch das gleichzeitige Evozieren von Bilderreihen, von Bewegungsbildern, waren die Illustrationen der Familienzeitschriften in der Lage, Motivlinien und Genremuster zu generieren, die im populären Kino bis in die 1950er Jahre hinein wirksam blieben. Der Maler und sein Modell, Der Maler und seine Muse – das sind solche in den Familienzeitschriften immer wieder abgewandelte Motivkomplexe, um die seit den 1910er Jahren viele Kinogeschichten gruppiert werden und die selbst in dem „Skandalfilm“ DIE SÜNDERIN (1950) noch einmal aufgenommen werden. Der Wilderer schließlich, in den Familienzeitschriften immer wieder als Schreckbild beschworen (siehe Abb. 16), ist eine Zentralfigur, ein Hauptakteur des deutschen Kinos bis hin zu den kritischen Heimatfilmen der 1970er Jahre. An diesen Bei22 „Das letzte Stelldichein“, in: Die Gartenlaube 1880, S. 793. 23 „Das letzte Kleinod“, in: Die Gartenlaube 1890, S. 321. 24 „Blätter und Blüthen. Die letzte Zuflucht“, in: Die Gartenlaube 1890, S. 819.
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Abb. 16: Endlich erwischt (Die Gartenlaube 1877, S. 459) spielen wird manifest, in welch umfassender Weise die Familienzeitschriften des 19. Jahrhunderts, diese machtvollen Bildagenturen, einen Fundus von Bildinszenierungen und Bilderinnerungen hervorgebracht haben, den das Kino dankbar ausgeschöpft hat. Die bilderseligen Periodika setzen ihre einzigartige Erfolgsgeschichte noch im Nachfolgemedium fort. Sie liefern den Grundstoff, vom dem die Kinogeschichten lange zehren konnten: erfolgserprobte Erzählmuster, wirkungssichere Figurationen, szenische und bildhafte Verdichtungen, dramatische Kompositionen, eindringliche Gesten und melodramatische Übersteigerungen.
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Panoptikum im 21. Jahrhundert. Von Bentham zu Google Earth MANFRED SCHNEIDER
I. Die überwachte Welt Längst sind die Begriffe surveillance society und Closed Circuit Television in der deutschen Alltagssprache zu Hause.1 Unter dem Schlagwort surveillance society trägt der globale Slang der Tatsache Rechnung, dass die moderne Gesellschaft auf die angeblich wachsende Gefahr von Störungen und Straftaten im öffentlichen Leben durch den Aufbau eines Heeres von Überwachungskameras antwortet. Zugleich gibt das Wort von der Überwachungsgesellschaft einer politischen Besorgnis Ausdruck, die der britische Publizist Timothy Garton Ash im Januar 2008 so formulierte: „We are sleepwalking into a surveillance society, and we must wake up.“2 In Großbritannien sind bis zu fünf Millionen Videokameras mit der Überwachung öffentlicher Räume beschäftigt. Dieses private und öffentliche Monitoring sieht Ash im Zusammenhang mit dem staatlichen Ausbau von Kontrollverfahren, um die Festnetz-, Mobilfunk- und Internettelefonie sowie die elektronischen Rechner der Bürger überhaupt auszuspähen. Data Mining und Biometrie kommen als neue Kon1
Entsprechend umfangreich ist die Literatur. Einige wichtige Titel: Clive Norris/Jade Moran/Gary Armstrong (Hg.): Surveillance, Closed Circuit Television and Social Control, Aldershot: Ashgate 1998; Clive Norris/Gary Armstrong (Hg.): The Maximum Surveillance Society. The Rise of CCTV, Oxford/New York: Berg 1999; Saskia Sassen: Machtbeben, Stuttgart/München: DVA 2000; David Lyon: Surveillance Society. Monitoring everyday life, Buckingham/Philadelphia: Open University Press 2001; Thomas Y. Levin/ Ursula Frohne/Peter Weibel (Hg.): CTRL [SPACE]. Rhetorics of Surveillance from Bentham to Big Brother, Cambridge: MIT Press 2002; Jan Werheim: Die überwachte Stadt. Sicherheit, Segregation und Ausgrenzung, Opladen:
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Leske + Budrich 2002; Leon Hempel/Jörg Metelmann (Hg.): Bild-Raum-Kontrolle, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005. Timothy Garton Ash: Our state collects more data than the Stasi ever did. We need to fight back, in: The Guardian 31.01.2008, S. 31.
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Manfred Schneider trollverfahren hinzu. Die Reaktion auf diesen Gerätepark der Kontrolle und auf die gigantischen Archive, in denen das Datenmaterial angehäuft wird, ist die Paranoia unserer Tage: die zunehmende Besorgnis, dass in den staatlichen, geheimdienstlichen Archiven ein vollständiges Doppel unserer privaten, beruflichen wie intimen Existenz geführt und missbraucht wird. Großbritannien mag der Vorreiter sein, der Rest der Welt folgt mit großer Geschwindigkeit. Dabei ist die entscheidende Neuerung, die wir als Zeitgenossen erleben, dass Überwachung und Kontrolle nicht mehr allein staatliche Tätigkeiten sind, sondern zunehmend auch im Privatsektor stattfinden. Im Frühjahr 2008 deckte das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL auf, dass die Deutsche Telekom jahrelang ihre technischen Möglichkeiten nutzte, um eine „Massendatenanalyse der Verbindungsdaten von Aufsichtsräten, Betriebsräten und Journalisten“ durchführen zu lassen.3 Dies hat beinahe noch romantische Züge. Ganz andere Ausmaße entwickelt die satellitengestützte Überwachungs- und Kommunikationstechnologie, die gleichfalls für die Privatindustrie angeboten wird, auf die noch einzugehen ist. Der andere Begriff, den die Überwachungstechnologie dem Wortschatz aller entwickelten Staaten aufgenötigt hat, ist die Closed Circuit Television (CCTV). Damit ist der Medienverbund von Kameras, Monitoren und Aufzeichnungsgeräten bezeichnet. Die Einsatzgebiete der CCTV sind Knotenpunkte der globalisierten Kommunikation, wo sich Verkehrsströme, Warenströme, Menschenströme kreuzen. Dort stehen dichtgestaffelte Batterien von elektronischen Augen, die alle Bewegungen und Veränderungen innerhalb ihres Sichtbereichs aufzeichnen. Bevorzugte optische Abtasträume sind Flughäfen, Bahnhöfe, Supermärkte, Banken, Regierungsgebäude, Wartesäle, Straßenkreuzungen, Highways, Sportstadien, öffentliche Garagen, Produktionsstätten. Zunehmend gerät auch die private Welt der bürgerlichen Trauerspiele, Hauseingänge, Kinderzimmer, Schlafzimmer unter die Aufsicht von Videokameras. Was die technischen Augen von der belebten oder unbelebten Welt abtasten, wird nicht immer auch kontinuierlich menschlichen Blicken zugeführt. Wichtiger als Monitore, deren Echtzeitbilder an Wächteaugen vorbeilaufen, sind die Aufzeichnungsgeräte. Denn die rasch fortschreitende Digitalisierung optischer Daten ermöglicht die automatisierte Überwachung. Der Automat ist zwar nicht in der Lage, Verdacht zu schöpfen oder Unglücke zu verhindern, aber seine Speicher gestatten den gezielten Zugriff auf Daten zu exakt bestimmbaren Orten und Zeiten. Auf diese Weise erzeugt unsere städtische Zivilisation auf solchen Megaspeichern ein kontinuierliches, tenden-
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DER SPIEGEL 23 (2008), S. 26.
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Panoptikum im 21. Jahrhundert ziell unendliches Duplikat ihres Lebens. Die Polizeien und Sicherheitsagenten können auf dem Zeitpfeil der Bilder zurückreiten und in Sekundenbruchteilen jeden Augenblick, der ein strittiges Ereignis oder einen Kriminalfall in sich trug, aus dem Grab rufen. Die surveillance society ist eine allgemeine Dimension der globalisierten Welt – und dies in mehrfachem Sinne. Denn Überwachung findet ebenso in Tokyo wie Peking, in Montreal, Jerusalem oder Paris statt. Zugleich aber nimmt diese Überwachung globalen oder um es präziser zu sagen: orbitalen Charakter an. Die globale Kommunikation lässt nicht nur in stetig sich steigerndem Tempo Informationen und Waren um den Globus kreisen; sie läuft auf das Ziel zu, in dieser kapitalistischen Weltgesellschaft auch global die Gefahren zu reduzieren, die ihr drohen. Der Dämon, den die surveillance society in Schach zu halten sucht, ist der Störer des Spiels, der als Betrüger, Verbrecher, Terrorist oder Krieger auftreten kann. Betrachtet man den unaufhaltsamen Prozess der Globalisierung als ein Spiel, dann gibt es unvermeidlich Verlierer, Gewinner und Störer. Über Gewinner und Verlierer in diesem Spiel entscheidet zumeist der Zufall. Noch vor zweihundert Jahren betrachteten die Philosophen die einzelnen Etappen und Fortschritte des Modernisierungsprozesses als Entscheidungen eines Weltgerichts. Wer die vernünftigen Notwendigkeiten dieser Modernisierung, die der Gang des Weltgeistes bestimmte, nicht einsehen oder auch tätig umsetzen mochte, der wurde nach Hegels Lesart dieses Spiels vom Weltgericht der Modernisierung verurteilt. Die Grundlinien der Philosophie des Rechts erklären dazu: „In das Verhältnis der Staaten gegeneinander […] fällt das höchst bewegte Spiel der inneren Besonderheit der Leidenschaften, Interessen, Zwecke, der Talente und Tugenden, der Gewalt, des Unrechts und der Laster wie der äußeren Zufälligkeit, in den größten Dimensionen der Erscheinung – ein Spiel, worin das sittliche Ganze selbst, die Selbständigkeit des Staats, der Zufälligkeit ausgesetzt wird.“4
Auch und erst recht ist die Weltgeschichte ein Spiel, sagt Hegel. Aber in diesem Spiel entscheiden nicht Zufall und Schicksal, sondern der Spielleiter, der über das Weltgericht die allgemeinen Interessen der Vernunft und der Freiheit zur Geltung bringt. Daher heißt es in den Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte: „Er ist nicht ein solcher, der sich in dem äußerlichen Spiel von Zufälligkeiten herumtriebe, sondern er ist vielmehr das absolut Bestimmende und schlechthin fest gegen die Zufälligkeiten, die er zu seinem Ge4
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 7, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, S. 503 (§ 341).
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Manfred Schneider brauch verwendet und beherrscht.“5 Zwar gibt es auch nach Hegel den Zufall im Spiel der Weltgeschichte, aber in ihrer Tiefe bestimmt der Geist notwendig den Lauf der Dinge. Und diese Notwendigkeit sollen die Handelnden und Betrachter erkennen und unterstützen. Das war vor zweihundert Jahren. Die moderne Spieltheorie hingegen rechnet auch, sie errechnet die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen unter komplexen Bedingungen, aber es gibt keinen Spielleiter. Aus dieser Sicht betrachten und verstehen wir heute, was in der Welt geschieht.6 Gewiss läuft auch Hegels von der Vorsehungsvernunft geleitetes Spiel auf einen Sieger zu, nämlich auf den Chef und sittlichen Supervisor des göttlichen Werks, das die Welt ist, und der sich in völlige Freiheit gesetzt wissen will. Wir kontemplativen Kinder des 21. Jahrhunderts hingegen verstehen das Treiben der Weltgesellschaft nur noch sehr eingeschränkt als göttliches Werk, und Freiheit heißt für uns nicht mehr die Substanz des Geistes, sondern das von Zufällen organisierte Spiel, das eben nur dann richtig läuft, wenn man die Zufälle nicht stört, sondern lediglich für mögliche Störer Sorge trägt.
II. Implementierungen des Providenzauges Aus diesem Grund ist es nicht originell, aber nahe liegend, zwei technische Systeme der Beobachtung miteinander zu vergleichen, die ziemlich genau zweihundert Jahre voneinander trennen: das allgemeine soziale Panoptikum des englischen Menschenfreundes Jeremy Bentham und das orbitale Panoptikum, das die Software von Google und Microsoft allen Spielern zur Verfügung stellt. Beide Spiele der Supervision verkaufen ihr Sehen in der Sprache der Verbesserung oder gar der Optimierung. Benthams Maschinerie der Verbesserung wollte einer Vorsehung zuarbeiten, die im Sinne der aufgeklärten Vernunft das Streben des Geistes in die Freiheit zu lenken gedachte. Unsere moderne Optimierung läuft ohne moralische Ziele, wenn wir auch die Einhaltung der Spielregeln mit Sanktionen verbinden. Die Spielregeln richten sich danach, ob auch die Störer unter Einhaltung der Regeln bekämpft werden können. Jeremy Bentham hat die Idee seines Panoptikums im Jahre 1787 in einer Reihe von Briefen niedergelegt und später veröffentlicht. Der umständliche Titel lautete: Panopticon; or, the inspectionhouse: containing the idea of a new principle of construction applica5
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Ge-
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schichte, in: Ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 12, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, S. 75. Z. B. Kenneth Binmore: Game Theory and the Social Contract, 2 Bde. Cambridge: MIT Press 1994/1998.
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Abb. 1: Jeremy Bentham: Planzeichnung zu: The Penitentiary Panopticon or Inspection House, 1791; © University College London Library, Bentham Papers ble to any sort of establishment, in which persons of any description are to be kept under inspection; and in particular to penitentiary-houses, prisons, houses of industry, work-houses, poor-houses, lazarettos, manufactories, hospitals, mad-houses, and schools.7 Benthams Projekt wurde zumal durch das Kapitel über den Panoptismus in Michel Foucaults Buch Surveiller et punir von 1975 bekannt.8 In seiner Darstellung des Panoptikums arbeitete Foucault scharf heraus, dass diese Einrichtung dem speziellen Bedarf der modernen Disziplinargesellschaft zugehört; es blieb aber im Hintergrund, dass die Überwachung nicht eigens für Zuchthäuser und Gefängnisse vorgesehen war, sondern auch für Fabriken, Handwerksbetriebe, Schulen und Krankenhäuser. Wo immer also persons of any description unter Beobachtung gestellt werden sollten, konnte Benthams Bauplan angewendet werden. Das Projekt ist zwar hinlänglich bekannt, viel zitiert und interpretiert, aber die Prinzipien sollten noch einmal in Erinnerung gerufen werden. Die Konstruktion sieht ein rundes oder polygonales Gebäude vor, das an seiner Peripherie in vier bis sechs Stockwerken die Zellen der Gefangenen, Schüler, Arbeiter oder Kranken vorsieht. Alle Zellen haben sowohl nach außen hin Fenster, blicken aber auch nach innen durch ein Fenster in einen großen Freiraum, in dessen Zentrum wieder ein schmaler säulenartiger Zylinder steht, die Loge des Inspektors. Aus diesem Überwachungszentrum heraus kann 7
Jeremy Bentham: Panopticon; or, the inspection-house: containing the idea of a new principle of construction applicable to any sort of establishment, in which persons of any description are to be kept under inspection; and in particular to penitentiary-houses, prisons, houses of industry, work-houses, poor-houses, lazarettos, manufactories, hospitals, mad-houses, and schools, in: John Bowring (Hg.), The Works of Jeremy Bentham, Bd. IV, New York: Russell and Russell 1962, S. 37–66.
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Michel Foucault: Surveiller et punir, Paris: Gallimard 1975.
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Abb. 2: Willey Reveley: The Penitentiary Panopticon or Inspection House, 1791; © University College London Library, Bentham Papers
Abb. 3: Gefängnis in Stateville im Bundesstaat Illinois; Public Domain der Aufseher jeden Winkel der Zellen in dieser Rotunde einsehen und beobachten, denn das Licht, das von außen durch die Zellfenster fällt, schafft genug Helligkeit für den Blick in die Räume der Bewohner. Weiter sieht Benthams Plan vor, dass der Aufseher selbst von den Zellen aus nicht sichtbar sein soll. Die räumliche Verbindung zwischen Überwachungsloge und Zellgallerie wird lediglich durch eiserne Treppen hergestellt. Die originale Planzeichnung aus Benthams Papieren (siehe Abb. 1) gibt noch keine ausreichende Vorstellung. Sie wird ergänzt durch die Verbindung von Aufsicht und Grundriss in dem Entwurf des Architekten William Reveley, der Benthams Plan 1793 weiter ausarbeitete (siehe Abb. 2). Die einseitige visuelle Kommunikation wird nach Benthams Plänen durch ein einseitiges Röhrenkommunikationssystem ergänzt, das es dem Wächter in der Zentrale gestattet, seine Arbeiter, Schüler oder Gefangenen anzusprechen. Die gesamte Konstruktion besteht aus Glas und Stahl. Im Inneren sorgt eine Beleuchtungsein-
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Panoptikum im 21. Jahrhundert heit dafür, dass die Überwachung auch im Dunkeln gesichert wird. Als hygienischen Komfort sah Bentham eine Toilette mit einem Stahldeckel vor, ein Pumpwerk, das für Wasser sorgt; außerdem sollte es für das gesamte System auch eine Heizmöglichkeit geben. Bekanntlich hat Bentham in England erfolglos für die Realisierung dieses Projekts geworben; gleichwohl ist es maßgebend für viele Gefängnisarchitekten geworden, wie das Beispiel des Gefängnisses in Stateville im US-Bundesstaat Illinois zeigt (siehe Abb. 3). Benthams Projekt beruht auf der grundlegenden Vorstellung, dass der Mensch unter der Bedingung der Beobachtung durch Inspektoren sein Verhalten nach den Prinzipien ausrichtet, die die jeweilige Institution verfolgt. Es heißt im ersten seiner Briefe: „It is obvious that […] the more constantly the persons to be inspected are under the eyes of the persons who should inspect them, the more perfectly will the purpose of the establishment have been attained.“9 Die vollkommenste Weise dieses Ziel zu erreichen, beruht daher darauf, dass die Beobachtung dauerhaft stattfindet: „Ideal perfection, if that were the object, would require that each person should actually be in that predicament, during every instant of time. This being impossible, the next thing to be wished for is, that, at every instant, seeing reason to believe as much, and not being able to satisfy himself to the contrary, he should conceive himself to be so.“10
Dies ist der entscheidende Satz, dem die Besserungsregel der Aufklärung anhängt. Aus dem Blick des großen Anderen strömt perfektibilisierende Kraft. Allerdings können nicht alle Mitglieder einer Institution, sei es einer Schule, eines Gefängnisses oder eines Staates, auf Dauer unter dem Regime eines solchen Auges stehen. Daher muss das jeweilige Arrangement des Blicks die Subjekte glauben machen, sie würden beobachtet, und ihnen darf keine Chance gelassen werden, diese Annahme zu überprüfen. Die Theorie dazu erklärt: Der nur hin oder wieder erblickte Mensch bleibt eine unreife Gestalt; erst wer sich kontinuierlich erblickt glaubt, kann den Gang in die Vollkommenheit antreten. Benthams Konstruktion entspricht der Verwaltung des Gewissens, die zur gleichen Zeit von Kant oder Adam Smith eingerichtet wurde: Danach besteht ein Subjekt aus zwei Ichs, von denen das eine als Zuschauer und Richter über das andere als Beobachtungsobjekt wacht.11 Das in Benthams Gewissensüberwachung dauerhaft auf dem Subjekt ruhende Auge des Beobachters erzieht den Zögling oder Häftling, bis er in sich selbst 9 J. Bentham: Panopticon, S. 40. 10 Ebd. 11 Vgl. Hans Dieter Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 274 ff.
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Abb. 4: Déclaration des Droits de l’homme et du Citoyen, 1789; Public Domain dieses Auge implementiert hat. Das Arrangement hält Bentham für die edelste und schönste Maschinerie der Disziplin und für eine bislang unerreichte Lösung der Frage, wie der Geist Macht über den Geist erlangt. Gewiss ist Bentham kein spekulativer Idealist wie Hegel. Dennoch bildet die panoptische Maschinerie das technische Arrangement, das gemäß Hegels Idee als providenzielle Macht des Geistes der Geschichte, nämlich als Dauergericht, tätig ist. In Begriffen und Bildern des Staates richtet sich das Recht selbst als Observation der Welt durch das Auge Gottes ein, wie es etwa zur gleichen Zeit die Französische Déclaration des Droits de l’homme et du Citoyen von 1789 illustriert (siehe Abb. 4). Eine zweite Version dieses Gottesauges oder des Auges der Providenz zeigt die Rückseite des amerikanischen Staatssiegels aus dem Jahr 1782, das niemals tatsächlich geschnitten, sondern immer nur gezeichnet worden ist (siehe Abb. 5).12 Die Inschrift „annuit coeptis“ zitiert Vergils Aeneis, das Gründungsepos Roms (IX, 625), worin Aeneas Jupiter bittet: „Jupiter omnipotens, audacibus adnue coeptis“ („Allmächtiger Jupiter, sei dem kühnen Beginnen hold“). Das panoptische Providenzauge ist auch von der Dollarnote her bekannt, deren Design aus den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammt (siehe Abb. 6). Dieses Wächter- und Provi-
12 Zur offiziellen Verlautbarung des State Departments, dem die Verwaltung des Siegels obliegt, siehe U. S. Department of States, Bureau of Public Affairs (Hg.), The Great Seal of the United States, o. O. 1996, S. 19.
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Abb. 5: Rückseite des amerikanischen Staatssiegels, nach der Zeichnung von Benson J. Lossing aus dem Jahr 1856; Public Domain
Abb. 6: Amerikanische Dollarnote; Public Domain denzauge gehört zur Symbolsprache der Freimaurer, und so bietet das Gründungssiegel der Vereinigten Staaten Anlass zu allerlei Konspirationsvermutungen, die Amerikas Geschichte begleiten.13 Bis heute schreibt der Verschwörungsglaube, die politische Paranoia, das Unglück der Welt wahlweise Jesuiten, Juden oder Freimaurern zu.14 Der panoptische Blick findet sich beispielsweise auch auf dem Titelkupfer einer Schrift mit dem Titel Der verklärte Freimaurer aus dem Jahre 1791 (siehe Abb 7).15 Das welthistorische Spiel der Völker und Staaten, wie es Hegel in seiner Rechtsphilosophie so kurz und prägnant beschreibt, folgt ja selbst der philosophischen Idee einer Konspiration, nämlich einer Konspiration der Vernunft, die alle leidenschaftlichen Taten in der Geschichte vor ihrem Gericht beurteilt und dafür Sorge trägt, dass der konspirative Geist sich auch durchsetzt. Die Konvertibilität von Vernunft und Geld, die ebenso Bentham wie Hegel zur Leitlinie his-
13 Vgl. Richard Hofstadter: The Paranoid Style in American Politics and Other Essays, New York: Knopf 1965. 14 Vgl. Robert Alan Goldberg: Enemies Within. The Culture of Conspiracy in Modern America, New Haven: Yale University Press 2001. 15 Anon.: Der verklärte Freymaurer. Eine Schrift, worinn ihre hieroglyphische Zeichen, Worte, Werke, wie sie sollen verstanden und soweit es thunlich ist, ausgedeutet werden, Wien 1791.
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Abb. 7: Titelblatt der Schrift Der verklärte Freymaurer, Wien 1791; Public Domain torischen Geschehens und der Disziplinierung der Menschen ansetzt, liest sich auch an der Formulierung in Hegels Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte ab: „Die Idee bezahlt den Tribut des Daseins und der Vergänglichkeit nicht aus sich, sondern aus den Leidenschaften der Individuen.“16
III. Paranoische Supervision Vor die folgenden kurzen Bemerkungen zum zeitgenössischen Panoptismus, der nicht mehr dem Gesetz und der Disziplinierung dient, sondern der Teilnahme aller an einem Spiel, wie es die mathematische Spieltheorie formuliert, gehört noch ein literarisches Beispiel, das die moderne Paranoia der Supervision anschaulich macht. Dazu folgt ein Beleg aus einem Drama, das lange Zeit nur als Teil einer psychiatrischen Akte vor sich hin schlummerte, ehe es der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Es stammt aus der Feder des Mörders, Lehrers und Dichters Ernst Wagner. In der Nacht vom 3. zum 4. September 1913 tötete Wagner in 16 G. W. F. Hegel: Philosophie der Geschichte, S. 49.
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Panoptikum im 21. Jahrhundert dem schwäbischen Ort Degerloch, oberhalb von Stuttgart, seine Frau, seine beiden Töchter und seine zwei Söhne, von denen einer den Namen Richard trug. Am Morgen danach begab er sich mit Fahrrad und Zug über Ludwigsburg und Eglosheim, wo er die Familie seines Bruders besuchte, und über eine Reihe weiterer Stationen nach Mühlhausen an der Enz, wo er von 1902 bis 1903 gelebt hatte. In der folgenden Nacht zum 5. September zündete er in Mühlhausen mehrere Häuser an, tötete acht Personen und verletzte zwölf weitere so schwer, dass einer von ihnen wenige Stunden später starb. Als Motiv dieses Mordlaufs gab Ernst Wagner später Rache an, weil in Mühlhausen eine von ihm unter Alkohol verübte sodomitische Verfehlung beobachtet wurde und weil man dauernd über ihn gespöttelt habe. Seine Familie habe er ermordet, um ihr die Schmach eines perversen Familienoberhauptes zu ersparen. Wagner wurde später durch ein Gutachten des Tübinger Psychiaters Robert Gaupp für paranoid-geisteskrank erklärt. Ein Gerichtsverfahren fand nicht statt, dafür wurde Wagner in die Irrenanstalt Winnenthal eingeliefert, wo er im Jahre 1938 verstarb. Dieser Fall Wagner wäre keiner Aufmerksamkeit wert, wenn der Mörder nicht vor und nach seiner Tat sieben Theaterstücke verfasst hätte. Wagner, der sich für einen der „größten deutschen Dramatiker“17 hielt, schrieb in der psychiatrischen Klinik Winnenthal 1921 das Drama in drei Akten Wahn (König Ludwig II. von Bayern). Das Stück vom Ende des bayrischen Königs versetzt Ludwig in jenen paranoiden Wahn, unter dem der Hauptlehrer Wagner offenbar selbst litt. Im Drama stellt der Psychiater, mit dem der König im Starnberger See ertrank, seinem Patienten die Diagnose Cäsarenwahnsinn und nennt die Krankheit den „Verfolgungswahnsinn der Großen.“18 Wagners Verbrechen ist nun ein Beispiel dafür, dass sich das moderne Subjekt dank seiner besonderen paranoiden Verfassung nicht unter dem Auge der Providenz erblickt, sondern vielmehr unter dem Nichtgesehenwerden leidet. Motiv der Tat, so erklärte Wagner, war die Scham über seine sexuelle Verfehlung und der Hass auf diejenigen, die davon wussten. Das Motiv der Schreckenstat ist gerade ein paranoisches Moralbewusstsein. Wagner mordet also durchaus nach den Plänen von Bentham und Kant oder Adam Smith. Sein innerer Richter verurteilte seine Taten. Er glaubte sich erblickt. Zugleich aber bezeichnete Wagner sein Verbrechen als Rache. Und er grübelte im Vorfeld dieser über Jahre hinweg geplanten Tat darüber nach, dass es schön wäre, für seine Rache ein Film17 Robert Gaupp: Zur Psychologie des Massenmords. Hauptlehrer Wagner von Degerloch, hg. v. Bernd Neuzner, Nürtingen/Frickenhausen: Sindlinger-Burchartz 1996 (Nachdruck der Ausgabe Berlin: Julius Springer 1914), S. 39. 18 Ernst Wagner: Wahn (König Ludwig II. von Bayern), in: Gunter Hofer, Der Mensch im Wahn, Basel: Karger 1968, S. 87–134, hier S. 123.
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Manfred Schneider team zu engagieren: „Wenn ich aber mein letztes Drama aufführe, nehme ich vielleicht etliche mit, die alles aufnehmen. Recht viele Menschen sollen mich und meine Taten kennen lernen […].“19 Es bedeutet für den Mörder also nicht das gleiche, bei der sexuellen Verfehlung erblickt zu werden oder bei dem Massenmord gefilmt zu werden und später im visuellen Raum zu erscheinen. Das Vermeiden des Blicks und das Verlangen nach Gesehenwerden schließen einander nicht aus. Es sind verschiedene Modi, dem Menschenauge ausgesetzt zu sein. Den gleichen Unterschied bemerkt der Paranoiker Wagner auch an seinem Mitparanoiker, König Ludwig II. Seinen Ludwig verlangt es nach einer Kontrolle der ganzen Welt, und dieser bedient sich daher technischer Medien. Wagner lässt Ludwig II. sein Traumreich, das die ganze Erde umfasst, über ein Sprechrohr und einen Spiegel-Monitor kontrollieren. Die Bühnenanweisung zur vierten Szene im zweiten Akt zeigt das folgende Arrangement: „Der Saal der Herrlichkeit mit all seinen entzückenden Wirkungen der Form, des Lichts und der Farbe. An dem chorähnlichen Ende ein Podium mit dem Thronstuhl, auf dem der König sitzt. Sein Ornat ist Pracht und seine Haltung Erhabenheit. Vor dem König ein kleiner Tisch mit angeschraubtem Sprechrohr und aufgestelltem Spiegel, in dem der König, je nach Einschaltung des Drahts, sehen kann, was da oder dort in seinem die ganze Erde umfassenden Reich vorgeht. Hinter dem König die metallne, lebensgroße Fama. Sie streckt, stehend, ihre Arme waagrecht nach den beiden Hemisphären aus und hält in den Händen je ein Strahlenbüschel feiner Drähte, die sich an den Wänden neben und hinter ihr nach allen Richtungen ausbreiten.“20
Ein vollkommenes paranoisches Setting aus dem Jahr 1921. Sprechrohr und Spiegel implementieren das Verlangen nach perfekter Kontrolle. Die Fama-Maschine, die dem König zu Diensten ist, liefert als eine Art Globus-TV Nachrichten aus aller Welt, Wetter, Politik, vor allem aber den Stand des Ruhmes. Was Wagner für seinen königlichen Protagonisten erfunden hat, ist ein globales Panoptikum. Der Wille, alles zu sehen, ist offenbar die Kehrseite des Willlens, nicht erblickt zu werden. Nicht erblickt zu werden, heißt aber keineswegs: dem Gesehenwerden auszuweichen. Denn nichts anderes heißt der Ruhm, den die Fama garantiert. Tatsächlich konnte Wagners Dramenheld, der historische Ludwig II. selbst die Blicke seiner Diener oder anderer zufällig auftretender Personen nicht er-
19 Bernd Neuzner/Horst Brandstätter: Wagner. Lehrer, Dichter, Massenmörder. Samt Hermann Hesses Novelle ‚Klein und Wagner‘, Frankfurt a. M.: Eichborn 1996, S. 103. Vgl. die neuere Arbeit von Rolf van Raden: Patient Massenmörder. Der Fall Ernst Wagner und die biopolitischen Diskurse, Münster: Unrast 2009. 20 E. Wagner: Wahn, S. 88 ff. u. 114.
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Panoptikum im 21. Jahrhundert tragen. Das psychiatrische Gutachten, das zur Entmündigung des Königs führte, beschreibt die Angst des Souveräns vor den Blicken wie folgt: „Dienerschaft, die hereintreten darf oder muß, hat tiefgebückt zu erscheinen, darf Seine Majestät nicht ansehen, kein Wort sprechen, muß durch Zeichen sich verständlich machen und gelingt dieses nicht, die Bewegungen des Schreibens nachahmen, worauf das Bezügliche im Vorzimmer geschrieben und dann Seiner Majestät überreicht werden darf. Beim Serviren der Speisen hat die Dienerschaft ebenso zu erscheinen, darf nicht bloß Seine Majestät, sondern auch die Speisen nicht ansehen und hat sich ebenso zurückzuziehen. Auch beim Anziehen der Kleider darf der Diener Seine Majestät nicht ansehen […].“21
Das panoptische Delirium Wagners, das sich einmal in dem Wahn äußert, bei einer perversen Aktion erblickt worden zu sein, und zugleich den Wunsch hervorbringt, seinen Racheaktion gefilmt zu sehen, erfindet die panoptische Maschinerie im Ludwig-Drama, die dem Souverän den uneingeschränkten Zugang zu allen Weltdaten eröffnet. Blick und Gesehenwerden sind nicht das gleiche. Was sich hier in einem halb vergessenen Aktenstück aus dem Archiv der Psychiatrie zeigt, ist der Befund, dass der Täter, der den Blick fürchtet, das Gesehenwerden durchaus verlangt. Auch John Hinckley, der im März 1980 versuchte, den damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan, den Filmhelden und meistgesehenen Mann der Welt, zu erschießen, fragte nach seiner Verhaftung, ob die TV-Aufnahmen seiner Tat auch gelungen seien und ob er dafür vielleicht einen Oscar bekommen könnte.22
IV. Der Traum von der Echtzeitbeobachtung Es wäre nun eine sehr simple Pointe zu sagen, dass die Software von Google Earth und Microsoft Virtual Earth Benthams oder Ernst Wagners paranoische Kontroll-Maschinerien realisierten. Jean Baudrillard 1978 hat bereits das Ende des Panoptikums ausgerufen.23 Das konnte nur heißen: Ende des Panoptikums als Technologie der moralischen Führung. Während das 18. Jahrhundert noch die Uhr, Mechanik, Fernrohr als moralische Metaphern einsetzte, sind wir
21 Ärztliches Gutachten über den Geisteszustand Seiner Majestät des Königs Ludwig II. von Bayern, in: Edir Grein (=Erwin Riedinger) (Hg.), TagebuchAufzeichnungen von Ludwig II. König von Bayern, Schaan/Liechtenstein: Quaderer 1925, S. 137–155, hier S. 149 f. 22 James W. Clarke: On Being Mad or Merely Angry. John W. Hinckley, Jr., and other dangerous people, Princeton: Princeton University Press 1990, S. 12. 23 Jean Baudrillard: Agonie des Realen, Berlin: Merve 1978, S. 44 ff.
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Manfred Schneider nicht mehr erfinderisch in unserer Poesie des Über-Ichs. Das Moralische haben wir in Leistung umgedeutet, denn Moral und Freiheit sind keine Evolutionsziele mehr. Wir leben innerhalb einer statistisch fundierten, spieltheoretisch ausgerichteten Gesellschaft, die nicht gesteuert wird von moralischen Champions und Stellvertretern Gottes, sondern durch Technologien der Überwachung und der Navigation. In uns tragen wir nicht mehr das Doppel, den Richter, das wachsame Auge, das zweite Gewissens-Ich. Für unsere Navigation im sozialen System vertrauen wir auf Spielzeugmaschinen, die künftig alles miteinander verbinden: Uhr, Navigation, Internet, TV, Telefon, Foto, Video, Radio, MP3-Player. Das sind nicht mehr verschiedene Geräte, sondern Funktionen einer Universalmaschine. Dieser Technogefährte ist unser zweites Ich, der künftige Supervisor und Richter. Ein solcher Supervisor führt uns nicht mehr als Richter oder Über-Ich auf der providenziellen Route zum Ziel der Vernunft und Freiheit. Dieser Richter geleitet uns lediglich als Navigator und Kommunikator durch Raum und Zeit. Niemand interessiert sich für unsere Gesinnung, relevant ist allein unser Verhalten als Konsument, Wähler, Nomade und potentieller Störer. Zwar ist die Satellitentechnologie in ihren Ursprüngen eine Investition von Staaten, von Armeen und Geheimdiensten, die militärischen Zwecken dienen. Das hat sich nicht geändert. Aber längst haben sich private Firmen der neuen Technologien bemächtigt. Sie bieten Unternehmen wie staatlichen Administrationen das ServicePaket aus Information, Sicherheit, Verteidigung, Mapping, Katastrophenmanagement usw.. Der vorletzte Schritt, der zur perfekten Orbitalisierung der Selbstbeobachtung führen wird, ist vollzogen. Der letzte Schritt wird die Real-Time-Sicht auf uns selbst sein. Die Software, die Googles Satellitenbilder überträgt, beeindruckt durch Funktionstüchtigkeit und Anwendungsvarianten. Sie bereitet dem Internetsurfer das kindliche Vergnügen, das eigene Haus mit Balkon und Auto davor oder auch den Ferienort des letzten Sommers anzuzoomen. Das ist die Lust, im Bild zu erscheinen, aber doch vor dem Bildschirm unerblickt zu bleiben. Auch der paranoische Ludwig II. hätte daran seine Freude gehabt. Was hier den Konsumenten zur Verfügung gestellt wird, ist mithin ein Abfallprodukt. Möglich wurde diese Epochenwende, die die Satellitentechnologie dem Kommerz und der Unterhaltung zugänglich macht, durch QuickBird2, der im Oktober 2001 gestartet wurde und seitdem aus einer Höhe von 450 Kilometern auf unseren Planeten blickt. QuickBird2 umkreist die Erde in einer drei- bis siebentägigen Frequenz, je nachdem, auf welchem Breitengrad er seine Bahn zieht. Mit jedem Bild erfasst der Satellit ein irdisches Quadrat von 16,5 km Seitenlänge. Am 18. September 2007 startete die Firma Digitalglobe, die in der Hauptsache Google mit Bildern der Erdoberfläche versorgt,
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Panoptikum im 21. Jahrhundert einen neuen Satelliten, WorldView-1, der in einer Frequenz von durchschnittlich 1,2 Tagen den Globus in knapp 500 km Höhe umkreist und täglich 750’000 Quadratkilometer Erdoberfläche fotografiert. Der Nachfolger, WorldView-2, wurde im Oktober 2009 gestartet und nimmt aus 750 km Höhe pro Erdumkreisung, die nur noch einen Tag dauert, 975’000 Quadratkilometer auf. Diese Leistungen und Daten werden allerdings dem Internetsurfer nicht geschenkt. Denn die Erde ist ja im Auge eines von Unternehmern an den Himmel entsandten Satelliten keine Lebenswelt oder gar ein erhabener Anblick, sondern ein kommerzieller Raum, der so rasch wie möglich mit verkäuflichen Daten gefüllt werden soll. Vom Himmel aus verkaufen sich Häuser und Grundstücke leichter; vom Himmel aus lassen sich Verkehrsströme effektiver lenken; vom Himmel aus lassen sich Besitztümer besser kontrollieren. Von Satelliten gesteuert gelangt der Nomade des Verkehrs und der kommerziellen Räume leichter ans Ziel seiner Wünsche: Wo kann ich rasch eine Pizza bestellen? Wo gibt es das preiswerteste Benzin? Ein Hybridbild aus Foto und Karte weist mich in die richtige Richtung. Das ist erst der Anfang. Den Weg zum nächsten Leihwagenbesitzer weist mir das himmlische Signal heute immer noch mit Karten, die nicht von heute sind. Die Bilder sind zum Teil zwei Jahre alt, und sie vergilben vor dem Menschheitstraum, sich in Echtzeit am Himmel spiegeln zu können. Einstweilen bleibt diese Erdfotografie ein, wie man früher sagte, toter Blick. Leben gelangt zur Zeit in diese gewaltige Kartografie der Welt, indem User und Unternehmer die toten Bilder mit so genannten Overlays füttern: An interessanten Punkten der herangezoomten Erde finden sich Markierungen, an denen Fotos oder Videos abgerufen werden können. Diese Clipkonserven bieten nur schwachen Ersatz für die künftige Echtzeitvision von allen und allem. Da aber die militärischen und kommerziellen Aufklärungsbilder vom Himmel und vom Weltraum aus auch in das zugleich bildgierige und paranoische globale Publikumsauge gleiten, wird eines Tages die Verschaltung der Real-Time-Satellitenbilder mit privaten und öffentlichen Überwachungskameras möglich sein. Die Welt erhält definitiv die Gestalt eines öffentlichen Überwachungsraums. Die Überwachung dient nicht mehr der Einübung von Verhalten. Sie soll vielmehr die Spieler davon abhalten, Spielregeln nicht einzuhalten. Die surveillance society, wenn es sie denn gibt, ist zur großen Verzweiflung von Intellektuellen wie Timothy Garton Ash gegenüber dieser Überwachung doch keineswegs paranoisch. Es sieht so aus, wie Peter Weibel formulierte, dass sich das „panoptische
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Manfred Schneider Prinzip ins Lustprinzip“ umgewandelt hat.24 Die Leute lieben es, im TV gesehen zu werden, sie lieben es, andere im TV zu beobachten; wer sich irgendwo, etwa im Fußballstadion und als Zuschauer bei einer öffentlichen TV-Veranstaltung, gesehen weiß, weil er von dem Studio- oder Stadionmonitor erfasst wird, der winkt den Millionen Augenpaaren zu, die nicht blicken, sondern sehen.
V. Technogefährte statt Überich Die prototypischen Subjekte der Epoche vor der Verwandlung des Menschen in einen Passagier, der in der Welt mit Hilfe des Technogefährten navigiert und kommuniziert, war einer wie Robinson Crusoe oder Jean-Jacques Rousseau, die auf ihrem Lebensweg, auf der ihrer Karriere, mit Störungen kämpfen mussten, die ihre Kräfte als moralische Subjekte zu messen erlaubten. Anfechtungen, Unrecht, Frauen, soziale Diskriminierung bildeten die großen Proben auf die Durchsetzungskraft des inneren Doppels, des Richter-Ichs, das auf dieser moralischen Bahn seinen Weg ging. Die biographischen Wege bildeten immer schon, seit Philosophen in Metaphern sprechen, die Kopie oder das Modell des Gangs, den die Geschichte selbst nimmt. Die Welthistorie lief einst als Autobiographie Gottes, und wollte man im Bild bleiben, dann eröffnet sich mit der Epoche der Navigation auch die Zeit, da Gott im Getöse der Weltereignisse die Zufälle nicht mehr als Richter, sondern als statistische Fiktion durchlebt. Das moderne Subjekt, das wir sind, erlebt die Wahlmöglichkeiten an den Gabelungen seiner Biographie nicht mehr als moralische Herausforderungen, für welche die Surveillance-Pädagogik des achtzehnten Jahrhunderts Modellsubjekte wie Robinson Crusoe oder Benjamin Franklin ausbildete. Noch 1780 definierte ein fürstlicher Supervisor die akademische Ausbildung so: „[Durch die Hohen Schulen werden] den Zöglingen und Kindern die Beweggründe zu gehorchen gelehrt“.25 Auf der Universität erfuhr der Zögling die Gründe, warum er sich nach den Gesetzen zu richten hat. Heute qualifiziert sich ein Kandidat durch Leistungen, und an allen kritischen Punkten seiner Biographie fragt er Informationen ab. Um sich innerhalb der öffentlichen Räume und innerhalb der verschiedenen Informationsflüsse zu behaupten, muss er sich multifunktioneller Navigationsinstrumente bedienen. Und diese Entscheidungen gehen in riesige Gedächtnisse ein. Ist das bedenklich? Die Antwort
24 Peter Weibel: Pleasure and Panoptic Principle, in: Th. Y. Levin/U. Frohne/P. Weibel (Hg.), CTRL [SPACE], S. 207–233, hier S. 218. 25 Beleg nach Heinrich Bosse: Gelehrte und Gebildete – die Kinder des 1. Standes, in: Das achtzehnte Jahrhundert 32/1 (2008), S. 13–37, hier S. 26.
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Panoptikum im 21. Jahrhundert darauf hängt davon ab, ob dieser Navigator in Hegels Reich der Freiheit lebt. Ist der Geist in dem großartigen Sinn frei, den Hegel so elementar bestimmt, wie die Materie schwer ist,26 dann kann es dem Geist auf allen seinen Wegen gleichgültig sein, wie viele Kopien von seinen Passagen in Raum und Zeit erstellt werden. Das Adam-Smith-Subjekt, das Kant-Subjekt, das Bentham-Subjekt hielt sich in der Welt, indem es das eigene richterliche Ich zum Schreiben anhielt und eine Kopie seiner Odyssee in der Welt erstellen ließ. Rousseau schrieb seine Confessions, um sie dem Gericht der Öffentlichkeit und dem Weltgericht am Ende aller Zeiten vorzulegen: „Que la trompette du jugement dernier sonne quand elle voudra; je viendrai ce livre à la main me présenter devant le souverain juge. Je dirai hautement: voilà ce que j’ai fait, ce que j’ai pensé, ce que je fus. J’ai dit le bien et le mal avec la même franchise. Je n’ai rien tu de mauvais, rien ajouté de bon […]. J’ai dévoilé mon intérieur tel que tu l’as vu toi-même.“27
So präsentiert sich ein Kind der klassischen Surveillance-Maschinerie, das sich stets gesehen wusste vom providenziellen und richterlichen Auge und das nun von eigener Hand das niederlegt, was Gottes Aufzeichnungen wissen. Das Ergebnis sind die riesigen Archive autobiographischer Daten, die in Klöstern, calvinistischen, pietistischen Gemeinden, in Schulen, in Kliniken, Irrenhäusern und Psychoanalysen gesammelt wurden. Eine Autobiographie im institutionellen Rahmen dieses weltlichen und eschatologischen Panoptikums ist die Erzählung vom biographischen Weg entlang der Entscheidungspunkte, man könnte auch sagen: entlang der Relaisstationen, wo Übergänge aus dem einen in das andere System erfolgen. Am Eingang und Ausgang von Familien, von Schulen, staatlichen Institutionen, von Betrieben, Ländern, Konfessionen. Alle Autobiographien berichteten von diesen Passagen: Übergang ins Leben, in die Familie, in die Bildungssysteme, in den Beruf, die eigene Familie, die Stationen der Karriere, von dem irgendwann bevorstehenden Übergang ins Grab. Heute erstellt die so genannte surveillance society ihre technischen Dubletten der Subjekt-Identitäten und notiert die Profile ihres Auftauchens an solchen Übergängen. Kein Unternehmen, kein Staat, keine Universität, die solche Kopien verwalten, interessiert sich für den einstigen „ganzen Menschen“. 26 „Wie die Substanz der Materie die Schwere ist, so, müssen wir sagen, ist die Substanz, das Wesen des Geistes die Freiheit“. G. W. F. Hegel: Philosophie der Geschichte, S. 30. 27 Jean-Jacques Rousseau: Confessions, in: Ders., Oeuvres complètes, Bd. I, hg. v. Bernard Gagnebin/Marcel Raymond, Paris: Gallimard 1959, S. 1–656, hier S. 5.
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Manfred Schneider Die Kontrolle gilt dem Passagier, der stören könnte. Hingegen empfängt derjenige Passagier, der über Wünsche, Hoffnungen, Ausbildung, Berufe, Freunde und Sexualpartner spricht und entscheidet, nur noch minimale Aufmerksamkeit. Das war es eigentlich, was der Gott der Konfessionen von Augustinus bis Rousseau zu wissen begehrte. Making a copy ist nach Jack Goody das administrative Prinzip innerhalb einer jeden Behörde.28 Auf dem Weg von Bentham bis Google Earth nimmt der Verwaltungstraum immer konkretere Gestalt an, dass eine kontinuierliche Echtzeitüberwachung der Welt zugleich eine Kopie aller indifferenten Weltvorgänge in die Akten der Macht eingehen könnte. Die administrative Utopie einer vollständigen Parallelwelt nähert sich ihrer Verwirklichung. Und die Subjekte selbst? Der digitale Mensch? Wie erlebt er das totale Monitoring seiner Bewegungen in Zeit und Raum? Um es gleich zu sagen: Er erlebt vor allem Entlastungen. Mobiltelefone und Navigatoren, die ihm sekundenschnell den Zugriff auf alle Informationen des Augenblicks und auf das gesamte Wissen der Menschheit versprechen, gewähren ihm die Vereinfachung seines Lebens. Nur wenn der Gerätepark, den er zu seiner Entlastung mit sich führt, einmal ausfällt, dann hadert er mit Gott. Aber metaphysisch gesehen ist es doch nur ein kleines Unglück. Die Erde dreht sich noch lange, und der digitale Mensch kann, mit dem himmlischen Auge der Satelliten bewaffnet, diesen Planeten in aller Ruhe und in guter Auflösung beobachten. Heute blickt jedermann von der Eindollarnote. Daher stört den digitalen Menschen die panoptische Kontrolle nicht. Die millionen Dubletten seiner Gesten und Gänge, die in den irdischen Datenspeichern verwaltet werden, können sein Wohlgefühl nicht trüben. Ein Hochgefühl ergreift ihn zumal dann, wenn er in irgendeiner technischen Wahrnehmungswelt auftaucht, und die Kopie seines Erscheinens dort bewahrt er sich auf, um sie seinen Kindern und Enkeln zu zeigen. Quält ihn für eine Sekunde die Langeweile, dann schreibt er eine SMS, und einen Augenblick später ist die Antwort da. Er geht in die U-Bahn oder in das nächste Kaufhaus, und sein Bild auf den Monitoren dort grüßt ihn und versichert ihm, dass es ihn gibt. Kommt er nach Hause, dann genügen zwei Mausklicks und er erscheint als Videobild auf dem Screen seiner Geliebten. Er wird erblickt, und von liebenden Augen gesehen zu werden, das ist das Leben. Sein oder Nichtsein hängen nicht mehr am Auge des Anderen. Es sind nur wenige, die wie Timothy Garton Ash auf das Gesehenwerden und auf die Maschinerie der Aufzeichnung paranoisch reagieren. Aber für die Paranoia gilt: Je 28 Jack Goody: The logic of writing and the organization of society, Cambridge: Cambridge University Press 1986, S. 97; vgl. auch Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt a. M.: Fischer 2000.
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Panoptikum im 21. Jahrhundert mehr die Welt durch technische Augen erfasst wird, desto stärker wächst der Verdacht, dass sich böse Mächte dahinter verbergen. Wo Gott blickt, gibt es beim antidigitalen Menschen keine Paranoia. Doch blickt der Staat durch die Wände der Schädel und Häuser, dann wächst seine Angst. Droht wirklich Gefahr? Vermutlich nicht. Nur wenn etwas schief geht, wenn Daten gestohlen, Geheimzahlen ausgespäht werden, wenn sich ein Betrüger mit der ID-Nummer des digitalen Menschen maskiert, dann ist niemand mehr verantwortlich. Es gibt keinen Supervisor, der alles regelt, das Vorsehungsauge ist blind. Der digitale Mensch wird wohl erblickt, aber nicht von Gott. Und gegen diese Einsamkeit immunisiert er sich durch Dauerkontakte. Seine Lage ist nicht schlecht. Der digitale Mensch kann und will sie nicht ändern. Immerhin sollte er diese Lage, sie ist unsere, in ebenso guter Auflösung betrachten wie das orbitale Panoptikum.
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III Technik
Die Fabel von der Medientechnik: Unter meiner Aufsicht AVITAL RONELL Ich werde mit dem beginnen, was Derrida eine wahre Fiktion nennt: einer Fabel. Wie in vielen Fabeln geht es auch in dieser um Ursprünge. Nicht jede ist sich über meine Herkunft im Klaren oder hat den Ursprung meiner intellektuellen DNA gemessen. Ich sage dies ohne Herablassung und ohne das Supplement narzisstischer Selbstgefälligkeit. Diese Geschichte handelt nicht von mir, sondern von uns und den Bedingungen unserer Kommunikation miteinander in einem unendlich fremden und zugleich vertrauten Idiom. Lassen Sie mich Ihnen nun also vollständig Aufschluss über mich geben. Alles begann mit einem mehr oder weniger geheimen Rendezvous, geheim allerdings nur im Sinne eines offenen Geheimnisses – wie Poes entwendeter Brief oder die verbotene Liebe zwischen Anna Karenina und Graf Wronski: verborgen vor den Augen einer ganzen Gesellschaft. Was ich zu sagen habe, ist allgemein bekannt und bleibt doch im Verborgenen: Dekonstruktion und Hermeneutik hatten eine kurze Affäre miteinander. Diese „Affäre“ wurde als one-night-stand verbucht und schien sofort wieder im Sande zu verlaufen, weil sie sich als unfähig erwies, die Terminologie einer Beziehung durchzuhalten. Daher also die Wendung, die bereits so viele Philologen verblüfft hat: „Il n’y a pas de rapport.“ Eng verbunden mit diesem „il n’y a pas“, wurde ein Mädchen zur Produktion freigegeben – wir sind nicht einmal sicher, ob es ein Mädchen gewesen ist, aber das ist eine andere Geschichte –, und da sie nun einmal diesem „il n’y a pas“ von Hermeneutik und Dekonstruktion entsprungen war, waren auch ihre menschlichen Instabilitäten von Anfang an in vollem Gange. Sagen wir einfach nur, dass ein Mädchen in diesem one-night-stand gezeugt wurde und dass sie in die USA auswanderte – um die Wahrheit zu sagen, sie wurde verbannt. Da sie einen sehr strengen und einflussreichen Vater und eine oft etwas verspielt wirkende, aber melancholische Mutter hatte, wuchs das Mädchen zu einem Störenfried heran, wenigstens die meiste Zeit über. Wenn die Leute sie die Straße entlang gehen sahen, fragten sie sich, auf welcher Störungssuche sie sich nun wieder befinden mochte und ob sie selbst diesmal die Ziel207
Avital Ronell scheibe sein würden. Auf andere einzuschlagen war allerdings nicht ihr Stil. Freundlich und warmherzig, an den Rändern oft zittrig, zielte sie so gut wie nie auf Personen, sondern hatte ganz einfach Spaß daran, Unordnung zu verbreiten und Aufstände in den ruhigsten Vierteln des Denkens anzustiften. Dies war, kurz gesagt, ihr Erbe. Niemals griff sie Einzelne an; stets zielte sie auf das, was ihre Tante Kierkegaard die „Allgemeinheit“ nannte. Ihre Oma* [im Original Deutsch; Anm. d. Übers.], Friedrich Schlegel, schalt unsere Kleine häufig wegen ihrer Promiskuität, verstand aber (obwohl es hier eigentlich nie um einfaches Verstehen ging), dass sie nicht anders konnte, wenn sie immer schwanger wurde von den Ideen eines anderen. In Amerika wurde sie von ihrer Tante* Nietzsche großgezogen. Die war in das Land der Schauspieler emigriert, denen es freistand, in jede beliebige Rolle zu schlüpfen, Genealogien zu erfinden und Temporalitäten zu überspringen, immer jenen Angewohnheiten gemäß, die ihr Cousin Freud untersucht hatte, der mit Tante* Nietzsche eigentlich nicht mehr redete, aber immer genau wusste, wozu sie in der Lage war, sogar wenn mein Cousin Freud, seinen sorgfältigen Notizen zufolge, als erster eine Idee gehabt hatte – nun, bei allem, worin sie übereinstimmten, gab es kaum etwas, worüber sie, Tante* FN and Cousin Fr., einer Meinung gewesen wären und man könnte sagen, dass sie in Bezug auf meine Erziehung den Narzissmus der kleinen Unterschiede praktizierten. Jedenfalls hatte auch mein Cousin Freud eine Vorliebe für Amerika, vor allem für das Phänomen des amerikanischen Flirts, den wiederum ich verkörperte – dieses kleine Mädchen konnte zwischen Tausenden von Kanälen wechseln, liebte jeden einzelnen von ihnen und war fähig, sich täglich neue Besetzungen auszudenken. Mein Cousin Freud hat so viel von mir gelernt! Glauben Sie wirklich, er hätte Hysterie oder Zwangsneurosen ohne meine gestalterische Einflussnahme erkennen können? Wer, glauben Sie, zeigte ihm, wie man jenseits des Lustprinzips gelangt? (Bis auf eine Kleinigkeit – ich war nie der Ansicht, Lust könne auf ein Prinzip reduziert werden – gebührt aller Dank mir.) Aber genug der gewohnten Gesten der Selbstdarstellung, genug von mir und meinem Netzwerk an Seelenverwandten, welches ich soeben allzu leichtfertig vor Ihnen ausgebreitet habe und das möglicherweise jene Überraschungskanäle blockiert, die genauso über die Besonderheiten meiner persönlichen Archive gebieten. … Heute haben sich die Dinge verändert. Ich habe mich verändert. Die Kindesanteile sind an die Hand genommen worden und der Haushaltsvorstand erwartet eine gewisse Nüchternheit im Hölderlin-Stil. Philippe Lacoue-Labarthe hat die heilige Nüchternheit betont, als er Heideggers Auseinandersetzung mit der Technik untersuchte. Seinem Beispiel folgend, habe ich mich mit der Analyse des technolo-
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Die Fabel von der Medientechnik gisch flektierten Staates beschäftigt, dessen größte Intensität ich im Dritten Reich situiere, wo Technik in den mythologischen Einschreibungen des Staates verhandelt worden ist. In diesem hochproblematischen Zusammenhang bin ich mit Hilfe von Synekdoche und Metonymie vorgegangen, um die technologische Machtübernahme zu isolieren. Ich habe das telefonische Aufblitzen von Verbundenheit untersucht und dabei die mythischen Dimensionen der Unmittelbarkeit und ähnlicher Fiktionen plötzlicher Stromschläge besonders betont. Außerdem schien es ratsam, filmische Innovationen mit einzubeziehen, einschließlich des von Leni Riefenstahl unterzeichneten Werks. Letztendlich führten diese Überlegungen zu einer Analyse der historisch beispiellosen Versuchslabore, die von den Konzentrationslagern aufgeboten wurden, ebenso wie zu einer Untersuchung der para-konzeptuellen Verschiebungen, die durch die Industrialisierung von Leichen entstanden. Schließlich (ich entschuldige mich, wenn ich Ihnen hier zuviel auflade) wurde ich auf die nationale Investition in das Fernsehen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufmerksam, in der die transgenozidale Wut in endlosen Kriminal- und Polizeigeschichten kanalisiert wurde, die das Unsagbare abdeckten. So konnte das Fernsehen – als blinder Zeuge und neutrales Flimmern – den historischen Schock absorbieren und den Einbruch einer nicht assimilierbaren Geschichte auflösen. Mit dem Aufkommen von Sendeanstalten und ihren obligatorischen Topoi konnten Leichen innerhalb thematisierbarer Segmente massenproduziert und tote Körper aneinandergereiht werden, die das Fernsehen zeigte, ohne trauern zu müssen: Ja, das Fernsehen konnte von nun an Leichen produzieren, die nicht betrauert werden mussten. Ja, immer neue Körper kamen in endlosen Programmwiederholungen und liefen immer wieder durch eine Geschichte, die nicht gemeistert werden konnte und daher ständig auf allegorische Kanäle umgeschaltet werden musste. Ich sehe in diesem Phänomen eine ethische Übergabe: Die Medientechnik übernimmt nun die Aufgabe, die unbetrauerbaren Verluste zu zählen. Historisch wurde das Telefon in gewissem Sinne gegen das Fernsehen als medientechnischer Anschluss eingetauscht. Ein transferentielles System ersetzte das nächste (unser Gehör wurde während des Krieges auf die einander abwechselnden Radiosendungen von Wagnermusik und der Stimme des Führers dressiert), und die Umschaltung aufs Fernsehen brachte eine umfassende Politik ebenso mit sich wie eine umfassende Rhetorik der Drogen (das Ohr war bereits abhängig, jetzt wurden die Augen von einem neutralen Flimmern durchdrungen). Das Problem ethischer Grenzen stellt sich nicht nur innerhalb eines Spektrums technischer Wahlmöglichkeiten, sondern öffnet auch das Dossier über die Dekonstitution des Subjekts.
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Avital Ronell Einigen dieser Grenzen im Hinblick auf das entkräftete Subjekt gehe ich in dem Buch Dummheit1 nach – diesem technologisch vergeudeten, vegetativen, beinahe erloschenem und gerade noch gegenwärtigem Zustand des Bewusstseins. In Bezug auf das Fernsehen stelle ich eine Frage, die eng mit traumatischer Auslöschung verknüpft ist: Sind wir für das, was wir im Fernsehen anschauen (oder fast schauen), verantwortlich? Was bedeutet es, im Zeitalter der Technologie zu „schauen“ – angefangen von den visuellen Künsten über skoptophile Supplements wie Ferngläser oder Zweistärkenbrillen zu den Visieren, vom mikroskopischen Blick bis zur staatlichen Überwachung oder sogar zur Überwachung deines Gewichts oder der Rückendeckung deiner Freundin? Aus diesem Grund habe ich meine Überlegungen auf das gerichtet, was ich „TraumaTV“ nannte,2 wobei ich die televisuelle Programmierung der Wachsamkeit im Hinblick auf das Jenseits* untersuche, das Jenseits des Lustprinzips mit seinem eingebauten 12-Stufen-Programm und einem von Freud zusätzlich installierten Kanal, den er mit einem Schalldämpfer auf stumm schaltet und den Todestrieb nennt. Ich habe versucht, das Signal zu finden, um den Todestrieb aufzuspüren, welcher den medientechnischen Einbruch auslöst. Aber lassen Sie mich an dieser Stelle einen Schritt zurückgehen, unser Gespräch situieren und unseren gegenwärtigen Ort einscannen, um zu prüfen, ob dieser stabilisiert werden kann. *** Worauf ich wohl nicht länger dringen möchte, ist die Möglichkeit, Störungen zu erfinden. Über so viele Jahre unserer oftmals ungeplanten Kollaboration hinweg haben sich viele von uns der Erzeugung von Störungen verpflichtet: das war unsere Art, Revolution zu machen. Die Wendung hin zur Medientechnik, die sich bereits bei Plato abzeichnete, aber erst kürzlich auf unsere Bedürfnisse und Pathologien zugeschnitten wurde, war eine Weise, die herrschenden Legitimierungen zu unterwandern, mit denen wir konfrontiert waren. Sie erlaubte uns, die master codes zu stören, die Souveränität des Buches anzugreifen und, wo nötig, schädliche Grammatiken der Autorität bloßzustellen. Es war typisch für uns, sich vor den Augen aller ungläubigen Zeugen in die Institutionen einzuhacken und die Zukunft des Archivs neu zu konfigurieren. Wir, einige von uns, führten Guerilla-Razzien in den kognitiven Regimes aus, die uns unterdrückten – uns, so fürchteten wir, dumm machten an jedem Tag, in jeder Vorlesung, in jeder Konferenzminute. Und so betraten 1 2
Siehe Avital Ronell: Dummheit, Berlin: Brinkmann und Bose 2005. Siehe dies.: „TraumaTV“, in: dies.: Finitude's Score. Essays for the End of the Millennium, Lincoln: University of Nebraska Press 1994, S. 305–328.
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Die Fabel von der Medientechnik wir eine Gefahrenzone, erodierten Dateien, störten Selbstgefälligkeit, immunisierten die Welt gegen repressive Traditionen, welche Wissensspeicherung und Diffusion betreffen, und rüttelten in gewisser Weise auch an den Privilegien sexueller Differenz. Dessen ungeachtet ist es nicht zu leugnen, dass einige Untersuchungen im Bereich der Technik noch immer maskulinistische Idole auf ihren Fahnen hin und her schwenkten, womit ich die Überlebensgestalten und Gewohnheiten geschlechtlicher Zuschreibungen (einschließlich des Turing Tests) andeuten möchte, sogar wenn sich angeblich gender-lose oder eher gender-freie – wie koffeinfreie – Konfigurationen sich durchzusetzen begonnen hatten. In einer meiner Analysen habe ich mich gefragt, warum es so viele Cowboys in Cyburbia gibt3 – aber das ist eine andere Geschichte, die einen anderen Zugangscode erfordert. Fahren wir mit unserem heutigen Gesprächsthema fort. Vielleicht nähert sich die Technomanie der letzten Jahrzehnte ihrem Ende, da wir nun dazu aufgefordert werden, sachliche Überlegungen darüber anzustellen, wo wir uns befunden haben, als wir auf der unaufhaltsamen Welle technologischer Störungen ritten, das abzuhaken, was wir verpasst oder wo wir uns verkalkuliert haben und dabei unsere Geschichte hyberbolischer Hoffnungen und überzogener Tropen, aber auch enormer Kreativität, Einsicht und politischer Beharrlichkeit zu würdigen. Mein Verhältnis zu medientechnologischen Reflexionen hat sich verändert, vielleicht verbessert und ist wohl in etwas anderes übergewechselt, was kaum wieder erkennbar ist im Hinblick auf jene bewegten Zeiten, als Kittler, Sam Weber, Tholen, Bolz, Nancy, Derrida, Lacoue-Labarthe und so viele andere unsere idiomatischen Suchmaschinen starteten – in meinem Fall initialisiert durch eine verhängnisvolle Verbindung von Philosophie und Psychoanalyse. Angeführt von Rickels, wartete eine jüngere Generation vor den Toren, darunter Kumpel wie Siegert und Wetzel – im Grunde fast alles Jungs und von einigen Ausnahmen abgesehen, ohne besonders viel gender bending. Meine Heimspielstätte war die Germanistik, was mich auf die französische Seite der Angelegenheit, angemessener ausgedrückt: hin zur französischen Aneignung deutschen Denkens trieb. Weil wir Diebesbanden bildeten, die meistens allerdings nicht sehr eng zusammengehalten haben, konnten wir neue Landkarten erstellen und unbekannte Territorien beanspruchen, die in gewissem Sinne bis heute Bestand haben. Diese Manöver wurden allerdings häufig verleugnet oder gelöscht: In den Chroniken der Kulturkämpfe segeln wir nicht unter unserer eigenen Flagge. Gleichwohl waren die medientechnischen Territorien – die „wir“
3
Siehe dies.: „Support Our Tropes II (Or Why in Cyburbia There Are a Lot of Cowboys)“, in: Yale Journal of Criticism 5/2 (1992), S. 73–80.
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Avital Ronell nicht nur bewirtschafteten, sondern auch den akademischen Kursplänen und Curricula aufzwangen – gastfreundlich und förderten dissidente Energien, flüchtige Ökonomien und die Anfänge jenes monströsen Aggregats, das nie ganz funktioniert: Interdisziplinäre Studiengänge. Ungeachtet ihrer eingebauten Mängel provozierte die Medienwissenschaft, die das ihrem besonderen mapping verdankte, einen anhaltenden Kriegsrat unter den Transdisziplinen der Naturwissenschaften, Medizin, Literatur, Ökonomie, Philosophie, Rechtswissenschaften, Kino- und Filmwissenschaften, Architektur und Psychoanalyse (wenn auch nur allzu selten der Psychoanalyse). Medienwissenschaft war die Ausfahrt, die viele von uns wählten, um eine Verschnaufpause von der monumentalen Monotonie der Hauptstraßen universitärer Transmissionssysteme zu machen, und für manche von uns war dieser Umweg ebenso eine existentielle Notwendigkeit wie eine Sache intellektueller Redlichkeit. Wer hätte eine weitere kurze Zusammenfassung von Goethes Abhängigkeit gegenüber Charlotte von Stein tolerieren oder sich mit dem wahren Hintergrund von Werthers Leiden oder Emilias Fehltritt beschäftigen können, oder damit, wie sie auf Werthers SelbstmörderSchreibtisch landete – all jenen positivistischen Details, für welche die normale, ordentliche und langweilige Wissenschaft verantwortlich war, ohne diesen Bereich jemals wirklich zu betreten, und es statt dessen bevorzugte, Goethes Taten zu bereinigen und Lessings Abweichungen zu begradigen. Wir, einige von uns, haben es nicht mehr ausgehalten und uns deshalb getrennt. Dennoch gab es Streit ums Sorgerecht. Wir, einige von uns, hatten nicht vor, Werther oder irgendeines der tränennassen, blutüberströmten, gender-fragilen Kinder aufzugeben: unsere Kinder der deutschen Literatur. Sie mussten mitkommen auf die Reise, wenn sie den vor Aura triefenden, tödlichen Zonen regulierter Wissenschaft entkommen sollten. So dachten wir, einige von uns. Meine einzige Beschwerde in Bezug auf diesen abgesplitterten Bereich der Kulturkriege ist die, dass deren Geister allzu oft verdrängt und zurückgelassen worden sind. Zusammen mit der wachsenden Population unsichtbarer Gespenster, die in den Dunkelund Hinterräumen neuer Technologien herumgeisterten, wurde Theorie – die unentscheidbare Grenze zwischen Literatur und Philosophie – mehr oder weniger in den Dreck gezogen, weggeworfen und in gewisser Weise aufgegeben. Damit meine ich, dass meiner Ansicht nach – (und vergessen Sie nicht, dass ich eine Nachtsichtbrille trage, also den Blick der Schlaflosen annehme und in der Nacht wach bleibe, um auf meine Geister zu warten: „Sieh, wie’s da wieder kommt! […] Du bist gelehrt, sprich du mit ihm, Horatio!“) –, dass also mein durchdringender Blick klar durchschaut, dass die Medienwissenschaft ihr Gesichts- oder Untersuchungsfeld teilweise
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Die Fabel von der Medientechnik entmagnetisieren, das Rauschen bereinigen, den Parasiten auslöschen und die Geister zum Schweigen bringen wollte – Handlungen oder aggressive Passivitäten, die einem Verrat oder einem Vergessen der eigenen Geschichte gleichkommen. Diese Geschichte kann von einer Geistergeschichte durchaus nicht dissoziiert werden, selbst wenn es schwierig oder unmöglich zu sein scheint, eine immaterielle Gruppe von Stalkern aufzurufen, ob sie nun zu den toten oder untoten Genossen medialer Erfindungen gehören. Medienwissenschaft hat sich zu einem erheblichen Ausmaß von eben jener obliterature4 abgewendet, der sie entsprungen ist. Dabei gäbe es keine Medientechnik ohne die unsichtbaren Kanäle geisterhafter Besucher, auf die sie bis zu diesem Tag eingestellt ist. Die geisterhafte Eingabe ist nicht unbedingt thematisierbar, soviel gebe ich zu, aber eine Geschichte spektraler Invasionen gehört zu jeder Darstellung technischer Durchdringung. … Hey, bitte entschuldigen Sie. Ich weiß gar nicht, warum ich mich über dieses eventuelle Lücke in der aktuellen Forschung so aufrege und eine beinah moralisierende Tonart anschlage, was gar nicht mein Stil ist – halt, Korrektur. Es ist doch mein Stil. Ich habe eine unangenehme Neigung, die eher höflichen Protokolle, nach deren Erweiterung ich strebe, zu stören* und darüber zu dozieren*, wenn ich über allgemeine Trends und Tendenzen in unseren gemeinsamen Forschungsgebieten nachdenke. Ich bitte um Entschuldigung. Hier ist wahrscheinlich eine Erklärung vonnöten. Ich entschuldige mich, wirklich. Dieses Einhämmern, dieses unablässige Herumreiten auf etwas ist nicht nur ein typisches Manko wissenschaftlicher Rede. Ich glaube, in diesem Fall kommt es von den Gepflogenheiten der Detektivagentur, für die ich arbeite. Wir verfolgen die Wahrheit, und die ist gleichbedeutend mit dem Verbrechen, mit dem alles angefangen hat – wir suchen nach ödipalen Spuren, genealogischen Bereinigungen, Verfälschungen, metaphysischen Störfällen, hermeneutischen Posen und den schwachen Horizonten der weitest entfernten Regionen des Denkens. Vor kurzem hatten wir einen besonderen Fall vorliegen. Ich habe das Dossier The Test Drive genannt und es als ein angebliches Buch veröffentlicht5 (in meinem anderen Job wird mir die Veröffentlichung solcher Fälle angerechnet, wenn ich sie als Wissenschaft verkleide und als akademischen drag herausgebe). In dieser Untersuchung haben wir also die Hauptschuldigen hiter dem Zeitalter des Experimentierens verfolgt und verhört. Wir haben einiges von unserer Arbeit an Husserl, Popper, Carnap, Derrida, Rheinberger übergeben – Jungs, die in manchen Fällen nicht einmal wussten, dass sie angeheuert worden waren und eine wich-
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Anm. d. Übers.: to obliterate heißt „auslöschen“, „unleserlich machen“.
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Siehe A. Ronell: The Test Drive, Chicago: University of Illinois Press 2007.
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Avital Ronell tige Rolle für die Befunde unseres Teams spielten. Ihnen ist es vermutlich gar nicht klar, dass sie einer assoziierten Gruppe angehören, aber tatsächlich hat jeder von ihnen eine eigene Registriernummer. Die Fahndung wurde jedenfalls durch Nietzsche veranlasst, der unser technisches Zeitalter auf eine von ihm aufgedeckte „experimentelle Disposition“ festgenagelt hat. Wir mussten ein Dossier über Nietzsches angebliche Entdeckung anlegen, in dem wir aufgezeigt haben, was er in der Fröhlichen Wissenschaft vorhatte – er konfrontierte uns hier mit einigen sehr suspekten Schachzügen. Wir haben uns die Wissenschaftlichkeit der Wissenschaft in Nietzsches Vokabular genauer angeschaut und die Enden des Menschen ins Auge gefasst. Wo wir gerade über die Enden des Menschen sprechen – nein, darauf werde ich später noch zu sprechen kommen, ich meine auf den Fall, der Derrida mit der lesbischen Rächerin Valerie Solanas verbindet, die einen Underground-Bestseller schrieb, für den sie keinen Verleger besaß und ihn weder verkaufen noch in Umlauf bringen konnte. Mit philosophisch-wissenschaftlicher Inbrunst schrieb Solanas das SCUM Manifest.6 Sie holte die Technik zu Hilfe, um ihre Einzelkämpfer-und-amerikanische-Verlierer-Revolution herbeizuführen, die keine wirklichen Gefolgsleute hatte und auch nicht wirklich konsequent war, obwohl sie Andy Warhol erschossen hat, und ich werde auf diesen nicht zu verteidigenden Fehlschuss gleich zu sprechen kommen. Nein, warten Sie, wir werden jetzt gleich darauf kommen. Sonst werde ich das irgendwo abbuchen und wieder verlieren. Der einsame Verlierer Friedrich Nietzsche – das ist eine seiner Persönlichkeiten, und keine Dreiecksbeziehung mit Paul und Lou oder Richard und Cosima hat ihn aus dieser solitären Versponnenheit retten können – emigrierte mit seiner Arbeit in dem Moment nach Amerika, als er die Feinheiten wissenschaftlicher Entdeckungen und der experimentellen Disposition erörterte, für die er anhand von amerikanischen Rollenspielen ein Beispiel gab, als er voraussagte, dass amerikanische Politiker eines Tages Schauspieler sein würden: wir denken an Arnie S. und Ronnie R. und ähnliche verdächtige Lebensformen, die der letzte Philosoph prophezeite. Nietzsches Reise nach und durch Amerika hat mich dazu geführt, mir den mutierenden Nachwuchs genauer anzusehen, der nicht nur DNA mit dem letzten Philosophen teilt, sondern auch dessen besondere Methode, den letzten Menschen darzustellen. Eine dieser Gestalten war Solanas. Im Hinblick auf unser Gesprächsthema muss ich mich hier kurz fassen und beschränke mich darauf, den metonymischen Brutkasten und die allegorische Maschine einzuschal-
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Siehe Valerie Solanas: SCUM Manifesto. With an Introduction by Avital Ronell, London–New York: Verso 2004.
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Die Fabel von der Medientechnik ten. Um es kurz zu sagen, wurde ich eines Tages dazu gebracht, extreme und nicht zu verteidigende revolutionäre Bewegungen oder ausweglose Situationen zu berücksichtigen, die offensichtlich von technologischen Modellen, Projektionen und Traum-Pumpen abhängig waren. Valerie mit ihrem SCUM Manifest zum Beispiel, heute, wie gesagt, ein Kult-Text mit einer Underground-Fanbasis, verließen sich auf das Wesen der Technik, um ihre Arbeit für sie zu erledigen – nämlich die klassische Einheit des anthropos zu zerstören und den Menschen/Mann als Figur und Substanz zu dezimieren. Technische Veränderungen, so glaubte Solanas, würden die revolutionäre Arbeit für sie erledigen, wenn sie nur geduldig genug wäre und sich jeglichen Eingriffs enthielte, um den Dingen ihren „natürlichen“ und das heißt technologischen Lauf zu lassen. Dies gelang ihr nicht: den Dingen ihren unaufhaltsamen Lauf zu lassen, wie wir durch die Schüsse auf Warhol sowie durch weitere ihrer unappetitlichen Handlungen wissen, die auf große Kunst, die Gestalt des Menschen/Mannes, abzielten. Warum sie gerade den weißen Zombie Warhol als Emblem des Menschen/Mannes wählte, ist eine andere Frage. Ich vermute, nach zahlreichen Umwegen und motivierten Rückläufen, dass sie unter anderem androphobisch auf den Namen Andy zielte, um nicht zu sagen auf „War-hole“, doch diese extra Karten im Ärmel kann ich jetzt nicht zum Einsatz bringen. Ja, wir sind noch immer inmitten medialer Techniken, doch lassen Sie mich diese Segmente vorerst einfrieren oder einrahmen und nur soviel festhalten: Obwohl sie notorisch Stil zu Störung komprimierte und mit Zorn und wilder Selbstgerechtigkeit geladen war, trug Solanas auch die Auseinandersetzung mit theoretischen Problemen an die ihnen zugewiesenen Grenzen. Theoretische Punkte zu erzielen war zwar nicht unbedingt ihr Wunsch oder ihre Absicht, doch neben ihrem trotzigen Elend und ihren verletzten Denunziationen gelang es Valerie Solanas, sich den wichtigsten Themen im Hinblick auf die Herrschaft des technischen Zeitalters zu nähern. Denn Solanas kündigte an, dass das, was wir philosophisch unter „Mensch/ Mann“ verstehen, sich heutzutage unter wissenschaftlicher Ausradierung befindet und nur mehr eine archaische Erinnerungsspur unserer Techno-Moderne darstellt. „Wo waren wir?“, fragt der Wissenschaftler. „Du bist gelehrt, sprich du mit ihm, Horatio!“ Ich sollte mich selbst sofort davon disqualifizieren, mehr über die Unterschiede zwischen Medientechnik und anderen Lebensformen oder Todestrieben zu sagen. Ich sollte deshalb disqualifiziert werden, weil ich kein ‚Außerhalb der Technik’ sehe, sondern Technik überall wahrnehme, sogar dort, wo es sie angeblich nicht gibt. Heidegger unterscheidet zwischen positiven und negativen Halluzinationen. Zu sehen, was nicht da ist, oder nicht zu sehen, was da
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Avital Ronell ist – die Wahl der Herangehensweise bleibt dem Wissenschaftler überlassen. Aber ist das Technologische denn jemals nicht vorhanden? Liegt es nicht vielmehr in der Natur und sogar im Wesen der Technik, selbst im Schlaf unausweichlich zu sein? Sie ist niemals nicht eingeschaltet, sondern befindet sich strukturell auf dir und sogar in dir, weshalb ich mich gerne Zentimeter für Zentimeter auf eine Diskussion über den Überwachungsstaat hin bewegen möchte, dieses Phänomen der Zudringlichkeit, das mit der Technik verbündet ist. Ähnlich wie Benjamins Polizei ist die Technik überall, sogar dort, wo es sie nicht gibt. Sie frisst sich in deine Existenz, sogar dann, wenn du glaubst, nicht verwanzt zu sein. Überall. Überall „wo“? Deutlich sehe ich Technik in Hamlet wirken. (Ja, ich bin mir über die lange Geschichte der techné im Klaren, das ist nicht das Problem, das mich hier beschäftigt, es ist die Art und Weise, in der wir von der Technik fortwährend bedrängt und determiniert werden, sogar dann, wenn wir einen Mordsspaß haben – die spezifisch amerikanische Ideologie des Spaßes hat Freud untersucht, der in seinen Modellen und Tropologien oftmals auf Techno-Beispiele zurückgriff und immer wusste, auf welche Weise Begehren abhebt.) In Hamlet gibt es eine Pattsituation zwischen den Modalitäten des Gedächtnisses, was Hegel als die Spaltung zwischen Gedächtnis* und Erinnerung* kennzeichnete. Dabei kommt der Erinnerung* die Ehre zu, an die interiorisierende Speicherung, die Stätte des Herzens, geknüpft zu sein, während Gedächtnis* als der mechanische Teil der Erinnerung hinterherhinkt – und einen Teleprompter, ein Memorex-Gerät und die Instrumentalität eines Werkzeugs nötig hat oder von ihnen abhängig ist. Die Implikationen dieser Hegelschen Unterscheidung führt Derrida in seinen Mémoires pour Paul de Man aus, in denen es um die Fähigkeit geht, eine Geschichte aus dem Gedächtnis erzählen zu können, und dabei den verstorbenen anderen zu erinnern. In Hamlet tritt die Dissoziation zwischen Gedächtnis* und Erinnerung* in dem schicksalhaften Moment auf, in dem der Geist des Vaters fragt, befiehlt, Eingaben macht, bittet – es ist nicht ganz klar, mit welcher Art von Sprechakt wir es hier zu tun haben. Auf jeden Fall ruft der Geist von Hamlet Senior: „Gedenke mein!“ („Remember me!“) Skandal. Phallus. Typische Erwartungshaltung. Hefte dir das an den Kühlschrank. Mit diesen Techno-Abkürzungen will ich andeuten (da ich hier nun einmal dekodieren muss), dass Hamlet allen Erwartungen und Konventionen eines Rachedramas zuwider läuft, als er seinen Notizblock zückt, um sich die Worte des Geistes zu notieren. In dem Moment, in dem sein Blut überkochen sollte als Reaktion auf das, was sein Vater ihm erzählt, in dem Moment, in dem der Vater verlangt, erinnert (‚re-membered‘) bzw. rephallorisiert zu werden, zückt Hamlet sein Notizbuch, um sich alles
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Die Fabel von der Medientechnik aufzuschreiben und wählt damit Gedächtnis* an Stelle von Erinnerung*. Dieses Umschalten auf Technik und Vergessen verursacht einen weltgeschichtlichen Skandal von nicht geringer Tragweite. Lassen Sie uns Maß nehmen. Hamlets Fehltritt kann auf den Moment zurückgeführt werden, in dem er Technik wählt, um den Vater im Gedächtnis zu behalten, ihn zu erinnern, sich auf ihn zu besinnen und damit die uralte Szene der Vatertötung in eben dem Moment veranlasst, in dem er seinen Mord rächen will. Ich kann hier nicht näher darauf eingehen, obwohl mich so viel dazu drängt, den Ersatz des Vaters und der Fiktion der Paternität durch Technik weiter auszuführen. Wenn wir Derridas gedankliche Weite zur Verfügung hätten, würden wir nun von „Platons Pharmazie“ zur „Marquise von O…“ und darüber hinaus wandern wie zum „Zauberer von Oz“ und seinen vielen Jenseits, wo die Zerstörung des Paternalen durch den technologischen Einbruch mit eindringlicher Konsequenz auf der Reise eines kleinen Mädchens vollzogen wird. Dies alles sei an dieser Stelle gesagt, um zu zeigen, dass wir mit dem Sieg des Patriarchats und den vielen komplexen Einschreibungen des Technischen noch immer kämpfen müssen, die auf beiden (und noch anderen) Seiten, die stets geschlechterübergreifend sind, ansetzen – sofern von Seiten hier überhaupt die Rede sein kann. Meine eigenen Trajektorien … (ich sage „eigenen“ mit größter Ironie und Dutzenden von Anführungszeichen, denn im Zeitalter technischen Entbergens kann auf das eigene Werk nicht ernsthaft Anspruch erhoben werden, so als wäre es nicht gepfropft, gesplissen, kontaminiert, prothetisch angepasst und hybridisiert – Sie verstehen schon, worauf ich hinaus will –, man kann nicht von seinem „eigenen“ Werk sprechen und so tun, als ob meine Lehrer und Freunde mir nicht vorgeben würden, was ich sagen soll, mir nicht rund um die Uhr diktieren oder im Gegenzug versuchen, mich aus dem Konzept zu bringen, und als ob ich nicht selbst unermüdlich in ihr Denken und ihre Projekte eindringen würde, wenn auch Bataille uns gelehrt hat, die Idee eines „Projektes“ aufzugeben, als ob ich nicht selbst (erlauben Sie mir also provisorisch diese aus dem achtzehnten Jahrhundert stammende Prothese des „Selbst“ zu verwenden), als ob nicht „ich selbst“ jeden ihrer Züge überwachen würde, während ich jeden ihrer Züge kontrolliere, sogar unbewusstes Gedankenflimmern erfasse und nahezu jeden winzigen Funken und Anreiz registriere. Abgesehen davon genügt es durchaus nicht, das inzwischen widerliche und absurde Syntagma „meine eigene Arbeit“ oder, noch unangenehmer, „mein eigenes Denken“ zu dementieren (was mir Studenten ohne zu zögern als eine Art Einwand gegen ein Philosophem entgegenschleudern, das ich anscheinend überaus vorsichtig auspacke, als gelte es eine Bombe zu entschärfen, die dann doch noch explodiert, sobald
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Avital Ronell sich einer dieser Jugendlichen zu voreilig mit seiner eigenen Ansicht in Bezug auf sein oder ihr Denken zu Wort meldet. Eine solche Anmaßung ist weniger Zeichen mangelnder Erziehung oder schlechter Manieren, sondern kann unmittelbar mit technologischer Promiskuität und jener Selbstversicherung verknüpft werden, die dieses neue Register des Seins befördert hat. Sie sind alle Masters of the Universe, einige kommandieren gesamte Blogosphären, die jeder verquasten Äußerung eine stattliche Leserschaft versprechen. Diese Situation, denke ich, könnte ebenso gut wie schlecht sein, und ein solches Verhalten ebenso schlau wie dumm – und vielleicht ist das gerade der springende Punkt oder die Pointe, dass diese gesunden Binaritäten, die zu unterwandern ich meinen Teil beigetragen habe – was habe ich mir dabei eigentlich gedacht? – in den Bereichen der Exskription kollabiert sind. Wie auch immer: Studierende, denen durch technologische Zugangscodes die Erlaubnis erteilt wird, attackieren ihre Lehrer mit E-mails, zumindest in den USA, und sobald dies dort geschieht, breitet es sich nach allen Richtungen aus, es sei denn du wohnst in Kuba oder Nordkorea oder in New Jersey. Sie mailen dir, um zu fragen, was in der Stunde passiert ist, die sie verpasst haben, ob du deine Vorlesung als Attachment anhängen oder nur kurz zusammenfassen könntest, was sie versäumt haben. Kein „bitte“, kein „danke.“ Kein Danken-Denken* wird hier geleistet. Sie werden durch das Wissen gestärkt, dass sie 80 000 BFFs (best friends forever) auf MySpace / Facebook / Twitter usw. haben. Also, ich muss sagen, dass ich meinen spontanen Ausbruch von Ressentiment hier nicht erklären kann, der mich übrigens, wenn auch nur vage, an Heideggers Meckerei darüber erinnert, dass Abkürzungen bereits einen Effekt unseres technologischen Zeitalters darstellen. Abkürzungen sind ein schlechtes Zeichen: BFF, OMG, NYU, FU, CIA, LAX, NASA usw., die Lücken kannst du selber ausfüllen. Bereits das Zusammenziehen der Sprache unterstellt sich den technologischen Mythemen der Beherrschung und dem Triumph der Abkürzung. Zu meiner Verteidigung, so dürftig sie auch ist, möchte ich vorbringen, dass es zwar einen Mangel an Feingefühl für professionelle Höflichkeit erkennen lässt, heutzutage die Unantastbarkeit der Stellung eines Studierenden in der Universität in Frage zu stellen, möchte Sie aber daran erinnern, dass die bürokratischen Privilegien und finanziellen Imperative der Universität die Studierenden in Kunden verwandelt haben, die immer Recht haben und alles wie im Großhandelsmarkt erhalten. Insofern wäre es nicht einmal ihre Schuld oder auf eine subjektive Entscheidung zurückzuführen, wenn sie zu aufdringlichen Nervensägen auf dem Schauplatz der Pädagogik geworden sind – einer Pädagogik, die nicht einmal mehr, wie ich einmal vorgeschlagen habe, die Bezeichnung „Ödipädagogik“ für sich
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Die Fabel von der Medientechnik beanspruchen können: Die alten Übertragungssysteme sind am Ende. Zu welchem Ausmaß ist die technische Prägung für diesen Umschwung verantwortlich? Und ist er eine gute Sache – die frohe Botschaft vom Verschwinden der Autorität und der Säuberung von romantischen Residuen des Geniekultes, die provisorisch im Lehrkörper verankert worden sind? Wir sind wieder bei der Basis oder bei Bach angelangt – diesem Gastarbeiter* mit Klienten aus der herrschenden Klasse, der die Anwesen seiner Schüler durch den Lieferanteneingang betrat – und wir müssen uns erneut auf Derridas Essay „The University in The Eyes of Its Pupils“ besinnen.7 Also, diese Sache mit den Studierenden war, wenn überhaupt, eine Verschiebung, eine kleine Panne im Notationssystem. Ich habe eine Schimpftirade losgelassen, und dies hier ist nicht der Ort, diesen plötzlichen Ausbruch einer Tirade zu analysieren und auch nicht, „mich“ als angebliches Subjekt der Notation zu analysieren oder eine Autoanalyse anzubieten, obwohl ich in größter Versuchung dazu bin – schon um Ihnen mitzuteilen, welche Bedeutung Basel in meiner Autobiographie besitzt.) Sorry. Diese Tirade auf die Studentenschaft, dieser Mechanismus der Verschiebung ist auf jeden Fall durch die Äußerung „meine eigene Arbeit“ ausgelöst worden, deren Bedeutung sich, wie ich zu zeigen versucht habe, durch alle möglichen Arten des Rauschens, der Interferenz, der Editiergeräte und der ursprünglichen Enteignung irreversibel verändert hat. Und dann, denke ich, muss ich mich aus Versehen in das noch ungeöffnete Dossier von all dem eingeklickt haben, was mein Schreiben stört. Dies ist allerdings nicht mit dem zu verwechseln, was ich in dem Syntagma „meine Arbeit“ aufdecken wollte, von der ich unendlich enteignet bin und die zu besitzen ich ehrlich gesagt niemals ein Verlangen gehabt habe. Kommunitaristisch im Geiste, bevorzuge ich Banden und Banditen, Ensembles und Aggregate, einen geteilten Atelierraum, gangs, Cliquen, die nicht zusammenhalten, Konferenzschaltungen, Rückzüge und geisterhafte Kolloquien. Andererseits habe ich in meiner eigenen Arbeit versucht, mit dem Sieg des Vaterrechts fertig zu werden, um Freud zu zitieren („beim Sieg des Vaterrechts,” behauptet er einmal, ist „die Autorität nicht aufzeigbar“).8 Ich versuche damit, eine Art Erwiderung auf Hannah Arendts berühmten Essay „Was ist Autorität?“ zu geben, indem ich unter anderem die häufig im Schwinden begriffene Autorität verschiedener diskursiver Formen und Praktiken untersuche, einschließlich der medizinischen Autorität 7
Siehe Jacques Derrida: „The Principle of Reason. The University in the Eyes
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of its Pupils“, in: Diacritics 13/3 (1983), S. 3–20. Siehe A. Ronell: „Have I been destroyed? Answering to Authority and the Politics of the Father“, in: differences. A Journal of Feminist Cultural Studies 21/2 (2010), S. 48–62.
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Avital Ronell und der Institution juristischer oder auch historischer und besonders politischer Autorität und ihren konstitutiven Labilitäten. Ich beginne mit der wissenschaftlichen Autorität in Form eines von Husserl unterzeichneten Warnsystems. Nun möchte ich für einen Moment innehalten und überdenken, wo wir uns befinden, wie wir uns befinden und einen establishing shot vornehmen: Ich schlage vor, einen Körperscan durchzuführen, und bitte Sie tief einzuatmen, nicht flach, sondern vom Bauch aus, und versuchen Sie sich vorzustellen, von wo aus ich dies schreibe: Es ist Ende Mai an der nordkalifornischen Küste in einem Ort, der „Sea Ranch“ genannt wird. Ich höre den Ozean, der Wind ist kräftig, die noch nicht im Hitchcock-Schwarm sich zusammenscharenden Vögel – Bodega Bay ist allerdings nicht weit entfernt – bestehen größtenteils aus Truthahngeiern, Hüttensängern und einer Pelikanfamilie, und ein grauer Fuchs trottet am Haus vorbei, während ich schreibe. Nun muss ich Ihnen sagen, warum ich nicht geeignet bin, diesen Festvortrag* zu halten, solange Reflexion auch Distanz und Verstehen impliziert. Solche kognitiven Posen einzunehmen ist mir deshalb nicht möglich, weil ich übertechnologisiert bin, innen und außen, vollgesogen, durchweicht und – stimuliert durch ein bestimmtes Schema disjunktiver Befehlssysteme und plötzlicher Ausblendung – strukturell Sequenzen produziere, die einzig die neueren Technologien tolerieren können. Selbst in der Natur bin ich durch und durch ein Effekt der Technik, geprägt von und zugeschnitten auf deren spezifischen Determinierungen. Ich vermute, ich arbeite an mindestens zwei, vielleicht drei Registern gleichzeitig und quäle mich daher nicht länger mit dem Gesetz der Widerspruchsfreiheit. Ich bin nicht die einzige, die auf diese Weise dazwischenredet, aber Sie haben mich mit einer klaren Aufgabe betraut. Mein Problem ist, dass ich der Technik gegenüber keinen Standpunkt der Exteriorität finden kann, so sehr befinde ich mich, wenn ich mich finde, unter ihrem Einfluss. Schlimmer noch, ich bin nicht länger zahlendes Mitglied der Sinngebungs-Gruppe, sondern auf der Suche nach einem anderen Sinn, in welchem Sinn und sein transzendentaler Garant verschwunden sind. Für den Lacan der Ethik der Psychoanalyse dringt das Technische (das er dem Wissenschaftlichen einverleibt) immer irgendwo ein, ist immer kurz davor zu erscheinen, steht unmittelbar bevor, auf dem Gipfel der Ereignishaftigkeit. Bei mir ist es bereits geschehen: Ich bin ein Effekt seines Nachwirkens oder seines Mathems, immer nur Überbleibsel des technologischen Imperativs, vor dem es kein Entkommen gibt, und damit sage ich nicht, dass wir eine solche Schutzzone bräuchten oder dass sie genuin oder gut wäre. ***
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Die Fabel von der Medientechnik Als mich Christoph Tholen mit der Einladung ehrte, heute hier zu sprechen, und der Einladung die Notiz beifügte, er würde oder wir würden (oder niemand würde: „O einer o keiner o Niemand o Du“, ich bin eingeschrieben in das Anonymwerden des Namens Gottes mit seinen vielen Artikulationen oder Disartikulationen, als prinzipieller Form des technologischen Entbergens), als die Einladung vermeldete, es sei der zwanzigste Jahrestag eines Textes, für den ich verantwortlich bin, Das Telefonbuch,9 und dass dieses Kolloquium mir eine Gelegenheit geben würde, mit Ihnen die seither geleistete Arbeit zu reflektieren, wurde ich natürlich sehr ängstlich und unsicher. Es gab viele Gründe, den Auflagen dieser Begegnung zu widerstreben, einige davon überdeterminiert, andere zu ermüdend, um sie vorzubringen, wieder andere ganz offensichtlich, zumindest für mich: Mir fehlt das narzisstische Enzym, das nötig ist, um mich ohne höchste Verlegenheit und aufrichtige Angst zu präsentieren. Darüber hinaus kann es nicht verleugnet werden – ich höre „darüber hinaus“ [moreover], anasemisch, als „mort“ und „over“: ein solches gegen-den-Strich-Lesen ist nicht zu vermeiden. Darüber hinaus also ist in der Notwendigkeit, die eigenen Trajektorien zu präsentieren, ein melancholisches Programm installiert – auf aktuelle, latente oder tatsächlich wiederkehrende, möglicherweise zwanghafte Wiese bietet es einen nicht endenden Loop desselben Ungedachten und der es begleitenden Nano-Spuren, wenn auch umgewandelt und verändert und wahrscheinlich neu. Vergessen Sie nicht, dass es Teil meiner mimetologischen Praxis ist, mir die beispielhafte Diskretion, minimalistische Existenz und abjekte Persönlichkeit meines wichtigsten Gewährsmannes Eckermann anzueignen. Ich hatte angesichts der Auflagen der Einladung allerdings den Eindruck, dass meine Eckermanie10 hier nicht ausreichen würde. Dennoch überlegte ich an einem Punkt, ein Video an meiner Stelle zu schicken, anstatt mich als lebendigen Fraß vorzuwerfen, was die zuvor erwähnte Angst auslösen würde. Um mir Mut zu machen, wollte ich zumindest einen Teil der Diskussion heute weiterreichen und, worüber ich mehr als froh wäre, das Mikro den Überlegungen Derridas zur Depapierisierung übergeben: den Weisen, auf denen Papier (und Unterschrift) die Technik umtreiben und das Dilemma der sans-papier verschieben, jener weltweiten Aliens, der sogenannten „illegalen“ Ausländer, die keine Papier-Dokumente besitzen, das Schicksal der Nicht-Dokumentierten, welche die Peripherien des Rechts besetzen und die technologische Komplizenschaft, die ich im Ent-schaffen von Welt und im frontloading einer Zuchthaus-Kultur sehe, die 9
Siehe dies.: Das Telefonbuch. Technik, Schizophrenie, elektrische Rede, Berlin: Brinkmann und Bose 2001. 10 Siehe dies.: Der Goethe-Effekt. Goethe – Eckermann – Freud, München: Wilhelm Fink 1994.
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Avital Ronell sich in den USA ausbreitet wie die Wüste und unterschiedliche, wenn auch bislang unterirdische, Daseinsformen annimmt. Begrenzt-sein ist eine der Modalitäten technischen Entbergens und Verbergens. Angesichts seiner nachdrücklichen Artikulierung ist dies jedoch nicht immer mit Unlust gleichzusetzen – etwas zieht uns zur Einsamkeit und zu den Konditionen der Einzelhaft, wie Freud einmal in Bezug auf Dostojewski warnte; etwas sehnt sich nach der Einschließung, nach dem Trieb, der das Begehren auslöscht, der stumm als Todestrieb eingerichtet ist und sein Zuhause im Knast findet. Zuchthaus-Kultur ist zwar vor allem in den USA weit verbreitet und neben Ölfirmen das Einzige, was sich nicht in der Rezession befindet, kann jedoch überall ausfindig gemacht (oder beinahe ausfindig gemacht) werden, so zum Beispiel in der Nähe des Zürcher Flughafens. Aber mit der Depapierisierung geht auch die schwankende Bedeutung von Papiergeld im Verhältnis zum Goldstandard einher, und ich dachte, dass auch die Spekulationen von Faust II und Schlegel in die Diskussion um die Dollarentwertung eingebracht werden sollten, ihre sehr genauen Überlegungen zur Geldwertbestimmung und zum in Papiergeld übersetzten Kapitalfluss, welcher – einem beständigen Algorithmus des Nichtkalkulierbaren folgend – alle Arten kalkulierbarer Signifikanten hervorbringt und Wetten darauf eingeht. Wenn wir Zeit und Lust hätten, könnten wir vielleicht eine Diskussion über die libidinöse Ökonomie eröffnen, wie sie von Goethe entworfen und an Lyotard weitergereicht wurde und diese mit den Techniken weltweiter Ökonomie und den globalisierten Begleitfaktoren verbinden. Das Problem ist, und ich denke, ich habe dies aufgezeigt, dass ich durch resolute philosophische Spürsysteme trainiert worden bin und daher Technik überall wahrnehmen kann; sogar in der medialen Technik. Ich sehe Teleprompter mit post-Schreberscher Leidenschaft im Körper installiert, wenn auch vermutlich mit einem anderen GPS versehen. Ich sehe sie in medialen Techniken installiert, die Begehren aufpumpen und fraktale Innerlichkeiten entwerfen – etwa im Fall von Drogen, die oft auf bereits im Körper vorhandene Rezeptoren eingehen, als ob diese nanotechnologisch nach ihnen gerufen hätten. Ich glaube nicht einmal, wie ich es gerade der Einfachheit halber getan habe, den Körper benennen zu können, als ob es sich hier schlicht um eine determinierte und festgelegte Entität handeln würde, die frei von Mutabilität oder Multiplizität oder internen Alteritäten ist – als ob der oder die Körper nicht bereits selbst technologisch verändert, berichtigt, zurückgesetzt, zusammengebrochen wären, und so weiter und so fort. Dieses Gebiet ist so sehr mit Problemen belastet, dass ich versucht habe, den mangelbehafteten Körper den Protokollen seiner vielen Mutationen gemäß zu lesen, die von Goethes Teilhabe an der Bildung von Freuds Krebs-
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Die Fabel von der Medientechnik erkrankung bis zur Ätiologie und an einer Stelle auch der „Gynäkologie der Moral“ reichen, von der Symptomatologie des Schwachsinns im achtzehnten Jahrhundert bis zum Aufkommen von AIDS. Lassen Sie mich nochmals einige der Faktoren überprüfen, welche die Anfänge der Arbeit zu AIDS und die aus diesen Überlegungen heraus entstandenen Tropologien und Technopathologien motiviert haben. Sie könnten noch immer wertvoll sein, und ich werde Ihnen einen Eindruck von der Art von Suche geben, für die meine Detektivagentur bekannt ist. Versetzen wir uns in eine Zeit zurück, in der selbst die Tatsache, dass es AIDS gibt, gesellschaftlich und politisch verdrängt wurde. Mein Bedürfnis, AIDS zu verfolgen, war ursprünglich von einer Reihe von Überlegungen motiviert, von denen mir jede einzelne dringlich zu sein schien. Ein enger Freund war unter den frühesten Opfern von AIDS; bald darauf sollte eine ganze community folgen. Ich war besorgt darüber, auf welche Weise das Vorkommen des Acquired Immunodeficiency Syndroms fortwährend getilgt wurde. Das Syndrom schien die üblichen Schuldzuweisungen an Minderheiten und gesellschaftlich Randständige noch zu erhöhen. Nicht zuletzt wurden diejenigen, welche die scheinbar ursprüngliche Pathogenese untersuchen sollten, von unreflektierten metaphysischen Annahmen über die Konstitution von AIDS geleitet. Die erste dieser Annahmen ging davon aus, dass AIDS eine einzige, auf eine virologische Erscheinung reduzierte Ursache hatte. Zweitens beinhalteten die Methodologien, mit denen das Syndrom interpretiert wurde, Forschungs-Codes, die von der veralteten Annahme einer verborgenen Bedeutungsmatrix und eines abwesenden Bedeutungszentrum ausgingen, in denen die Wahrheit insgeheim pulsieren sollte. Schließlich wurde von denen, welche die Vollmacht und die Mittel zur Untersuchung von AIDS hatten, kaum die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass die Mutation dieses Virus – sofern es überhaupt ausschließlich eine Sache der Virologie war – mit einer Fülle an Faktoren zusammenhing, nach welchen sich die Ausbreitung von AIDS in unserem Zeitalter technologischer Herrschaft, sozialer Ungleichheit und nach innen gewendeter Gewalt verorten lässt. Der Widerstand, mehrere Faktoren für AIDS verantwortlich zu machen und der kollektive Impuls, einen einzigen Grund zu „isolieren“ schien mir auf eine fehlende rationale Interpretation seiner Herleitung hinzuweisen. Auch die anhaltende Produktion autoimmuner Laboratorien in unserem Gemeinwesen schien weiterer Überlegungen wert zu sein. Nach rigoroser Untersuchung und Analyse riefen zumindest jene Protokolle, nach denen man in den Vereinigten Staaten damit begann, schwächere Kräfte systematisch in geschlossenen Räumen intern sich entladener Gewalt einzulassen (wofür die Drogenkriege
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Avital Ronell oder South Central Los Angeles und andere Ghetto-artige Strukturen klare Anzeichen sind). Ein Genealoge und eigentlich jede, einschließlich der wissenschaftlichen „Gemeinschaft“, die etwas über die Legitimationsweisen von Wissenschaft weiß, muss die Möglichkeit einräumen, dass ein der Untersuchung vorgelegtes Phänomen regelmäßig von theoretischen Annahmen geleitet ist, deren Zuverlässigkeit nur bedingt gewährleistet werden kann. Obwohl wir im Westen in unseren Analysen eigentlich nicht mehr durch das die Medizin im Mittelalter dominierende göttliche Monopol eingeschränkt sind (als Ärzte und Theologen eins waren und man beispielsweise die Ursache der Pest in Erregern fand, die nach vielen Untersuchungen mit den Juden identifiziert wurden), finde ich es auffällig, dass AIDS – bei all den Diskontinuitäten und Anomalien, die es widerspiegelt – nichts an der Tatsache geändert hat, dass Seuchen noch immer mit Minoritäten in Verbindung gebracht werden, wozu heute der größte Teil der sogenannten Dritten Welt gehört. Genau genommen wurde die Schuldzuweisung an Minderheiten im zwanzigsten Jahrhundert ein für alle Mal in der Art und Weise „begründet“, in der wir es uns erlauben, über die unkontrollierte Ausbreitung von AIDS zu denken. (Heutzutage wird von der so genannten „Schweinegrippe“ vermutet, sie stamme aus Mexiko, was einen ebenso extremen wie unglaubwürdigen Zusammenhang zulässt: Drogen, Einwanderung, Armut, Ansteckung, ein altes Syntagma der Unterdrückung konvergieren in dem Philosophem „Mexiko“.) In einer seiner Arbeiten, ich kann mich nicht erinnern welche, sagt Heidegger, dass ein Irrtum im Denken uns für die nächsten hundert Jahre über den Haufen werfen könnte. Ich habe den Verdacht, dass unsere Unfähigkeit, AIDS zu lesen, einen solchen Irrtum in einem bereits überzogenen historischen Konto konstituiert. Wenn diese Bemerkung exzessiv erscheint, so deshalb, weil Exzess das Denken konstituiert; im Hinblick auf die große Bedeutung des Themas halte ich solche Beobachtungen allerdings für eine Übung in Understatement. Jedenfalls versuche ich in „Support Our Tropes“ zu zeigen, wie die Unfähigkeit, AIDS zu lesen, sich auf Körperpolitik und staatliche Beschlussfassungen ausgeweitet hat.11 Als Phantasma einer sicheren und unblutigen Intervention wird daher der Golfkrieg zum Symptom par excellence für die unkontrollierte Übertragung des Syndroms in andere Körper, wobei man in den ersten Stadien dieses pausenlosen Kriegsschauplatzes glaubte, negative HIVTestresultate erzielen zu müssen. Doch das Versagen, AIDS zu le11 Siehe dies.: „Support Our Tropes. Reading Desert Storm”, in: Frederick M. Dolan/Thomas L. Dumm (Hg.), Rhetorical Republic. Governing Representations in American Politics, Amherst: University of Massachusetts Press 1993, S. 13–38.
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Die Fabel von der Medientechnik sen, ist nicht auf einen einfachen Stromausfall oder eine Vermeidungsstrategie zurückzuführen – es ist ein Vermächtnis des westlichen Logos. In den Bahnen, denen meine Arbeit zu folgen versuchte, konstituiert daher das Auftreten von AIDS eine wichtige Figur des technischen Entbergens und demontiert zugleich den Anspruch auf subjektive Rekuperierung.12 Indem es die wesentliche Beziehung zwischen Test und Technik unterstreicht, hat uns AIDS über die Weisen Aufschluss gegeben, nach denen die Moderne das Subjekt zu einer testfähigen Entität unter staatlicher Kontrolle technisiert hat. Als ein Effekt der Technik ist AIDS Teil einer radikalen Destrukturierung sozialer Bindungen, die einmal das Erbe des zwanzigsten Jahrhunderts ausmachen wird. Die Feststellung, dass jede Epidemie ein Produkt ihrer Zeit ist, hat etwas von einer Plattitüde an sich, aber die Begleitumstände, welche die Destruktion interner Selbstverteidigungskapazitäten hervorgerufen haben, müssen erst noch in einer Haltung Nietzscheanischer Rebellion gegen das metaphysisch-wissenschaftliche Establishment untersucht werden. Denn AIDS geht sicherlich mit der homologen Aggression einher, die in dem Ensemble politischer, kultureller und medizinischer Verfahren überall gegen die Schwachen ausgetragen wird. Die Beobachtung, dass im Zuge dieser Verfahren heutzutage ähnliche Maßnahmen getroffen werden, um jede lebendige, bedrohliche Reaktionsfähigkeit zu zerstören, ist nicht zu weit hergeholt und muss daher im Hinblick auf die befremdlichen Wechselwirkungen innerhalb dieses Ensembles genau untersucht werden. Wenn uns AIDS als ein Ereignis innerhalb der Geschichte und sogar als ein historisches Ereignis erscheint, so bedeutet dies, dass
12 Alexander García-Düttmann hat gezeigt, auf welche Weise AIDS die Möglichkeiten zur Selbstenthüllung in autobiographischen Narrativen und in den „Bekenntnis“-Texten von Jean-Paul Aron (Mon Sida), Pierre Bachelier (Moi et mon sida), Renaud Camus (Tricks), Susan Sontag (AIDS and Its Metaphors) und anderen neu strukturiert hat. Eine wichtige Frage, die GarcíaDüttmann in seiner Analyse aufwirft, betrifft das Verhältnis der Dekonstruktion zu AIDS, angefangen mit einer Interpretation von Heidegger und dem Thema Krankheit: „La maladie occupe-t-elle une place dans la méditation sur l’historie et l’historialité … Quelque soit l’angle depuis lequel on considère ses symptômes, la maladie reste toujours un phénomène existential, et cela à même titre que la mort. Or il s’agit peut-être de comprendre que la maladie affecte le Dasein lui-même, qu’elle touché au Dasein en entier, ou que le pouvoir-être-entier (Ganzseinkönnen) qui caractérise le Dasein ne se laisse penser sans penser la maladie.“ (Alexander García-Düttmann: „Ce qu’on aura pu dire du sida: Quelques propos dans le désordre“, in: Poésie 58 (1991), S. 10)
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Avital Ronell es nicht als Unglück angesehen werden kann, das von woanders her kommt oder von oben über uns hereinbricht: AIDS stammt vom Menschen. AIDS wurde uns nicht von Gott geschickt, sondern ist innerhalb der Grenzen einer fehlgeleiteten Geschichte zu verorten, die ihre eigene Gebrechlichkeit verrät. Doch weil es (noch) nicht heilbar ist, wird AIDS als eine Art Selbstzerstörung einer Gesellschaft angesehen, die ihrer eigenen Immanenz überlassen wurde.13 Die erneuerte Erfahrung von Gottes stillschweigender Komplizenschaft im historischen Entzug („Gott“ ist hier als eine verheißungsvolle, aber nicht erscheinende Transzendenz zu verstehen, vielleicht als das Anonymwerden des Namen Gottes, auf das uns Celan aufmerksam machte) erklärt zum Teil, warum AIDS ein spezifisch menschliches Symptom ist, das als Ort eines suizidalen Impulses funktioniert, der zunehmend unsere Gattung determiniert, und zwar nicht nur den von Valerie Solanas in den Laboren der Universität von Minnesota durchgeführten Untersuchungen zufolge. AIDS ist die Sache des Menschen an der Jahrtausendwende: Es handelt „von“ dem selbstzerstörerischen, toxischen Trieb des Menschen und seiner Verachtung für jene zur Menschlichkeit angewachsenen Gestalten, wie wir sie bis jetzt aufgedeckt haben. AIDS ist Zeichen des Versagens des Menschen als „Hüter“ und das Ende jenes Kreditrahmens, welchen die Menschheit in einer gewissen Form von Transzendenz zu haben glaubte. Obwohl AIDS historische Qualitäten aufweist, sollte es zeitlich nicht mit absoluter Entstehung verwechselt werden. Tatsächlich ist diese Epidemie nicht als eine plötzliche, epochale Erscheinung anzusehen, sondern als Höhepunkt in der Geschichte eines lähmenden Kräfteausgleichs, deren Effekte die Wendung einer rigoros ge-
13 Jean-Luc Nancy behauptet, dass wir heute in absolutem Böswillen leben, was bedeutet, dass wir Böswilligkeit [le mal: „das Böse“ und „die Krankheit“] nicht länger als Unglück [malheur] erleben – das heißt, weder als einen irreparablen Riss, der dennoch Sinn macht, noch als Gebrechlichkeit [maladie], d. h. einen reparablen Riss, weil „klassisches Denken auf der Grundlage des Verschwindens oder der Aufhebung des Todes beruht.“ (Jean-Luc Nancy: „Entretien sur le mal“, in: Apertura 5 (1991), S. 27–32, hier S. 29) Die Böswilligkeit (oder das Böse), in dem die Geschichte der Böswilligkeit zu kulminieren scheint, ist weder reparabel noch macht sie noch irgendeinen Sinn: sie ist verbunden mit der Frage der Technologie, die eine Immanenz ohne Transzendenz bezeichnet. Le mal kann also in der positiven Möglichkeit einer Existenz bestehen, welche (wie bei Schelling) auftritt, wenn es der Freiheit freisteht, in sich selbst Kräfte gegen sich selbst freizusetzen; vgl. ders.: L’Expérience de la liberté, Paris: Galilée 1988, S. 164. Zum Verhältnis von Gebrechlichkeit und rassistischen Einschreibungen vgl. das Werk von Sander Gilman, insbesondere: Inscribing the Other, Lincoln: University of Nebraska Press 1991.
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Die Fabel von der Medientechnik gen sich selbst gewendeten Menschheit noch unterstreichen. Es könnten die Besonderheiten lebensverachtender Medizin, oder, in ähnlich Nietzscheanischer Begrifflichkeit, die Stadien der Entwicklung der AIDS-Forschung als eine Medikalisierung von Ressentiment in unserer Zeit untersucht werden. Wir müssten uns in der Tat das Ausmaß anschauen, in dem feindselige Medizin (zum Beispiel jene Zweige moderner Medizin, die der Diktatur der Pharmaunternehmen unterworfen sind) und die Effekte von Kapital und Technologie, denen wir das Absterben der Umwelt verdanken, mitverantwortlich für die allgemeine Zunahme infektuöser und tumoröser Krankheiten sind. Die offenkundige Unfähigkeit, den gesamten Apparat theoretischer Voraussetzungen in Frage zu stellen, unter denen Forschungen durchgeführt werden, führt weiter zu der Frage, ob diese Lähmung nicht symptomatisch für die paranoiden, zu allen Zeiten versinnbildlichten Zustände ist, die das Ende der Zivilisation prophezeiten. Wenn wir mehr Zeit zusammen hätten, würde ich noch einige Worte über das sagen wollen, was unseren Titel zugleich trennt und verbindet, was zwischen Medien-Gedankenstrich*-Technik sitzt und diese Begriffe in eine unkontrollierbare Verbindung bringt. Dieser Topos, den ich gerne ausführlicher überdacht hätte, involviert Überwachung und ihre Funktion als medientechnisches Beratungsgremium des modernen Staates: national, transnational, nicht- und übernational, der Staat unter seiner eigenen Aufsicht, der suspendierte, militarisierte, allgegenwärtige, stets im Sterben begriffene Staat, der zu seinem eigenen Open Air-Theater geworden ist. Seitdem Hobbes Sicherheit als das bezeichnet hat, was die Menschen dazu bringt, aus Furcht zusammenzukommen, beherrscht uns das Regime der Sicherheit wie keine andere politische Absichtserklärung: von der Sicherheitsdecke [security blanket] der Peanuts bis hin zu militärischen Beteuerungen dringlichen Handlungsbedarfs. Eine der Künstlerinnen, die in jüngster Zeit mit beispielhafter Voraussicht auf die Artikulation solch einer politischen Mutation bestanden hat, ist die Performance-Künstlerin und frühere Sicherheitswachfrau Julia Scher, die mit einigen hohen Bällen auf zeitgenössische Theorie zielt. Während etwa Giorgio Agamben behauptete, die Verschiebung hin zum Sicherheitsstaat sei unvereinbar mit Demokratie, bietet Scher – ebenfalls schonungslos kritisch gegenüber den Tropen der Sicherheit, um die herum ihr Denken angelegt ist – eine noch verstörendere Perspektive. Tatsächlich verwickelt Julia Scher die tödlichen Zonen der Sicherheitsmaßnahmen mit dem umfassenden, aber versteckten Problem technologischer Verführung. Sie steht auf Seiten akuter politischer Sensibilität, welche offen bleibt für Infiltrierungen, psychische Lecks und nicht darstellbare Kontaminationen. Neben den
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Avital Ronell unheimlichen staatlichen Razzien verortet sie Lebensformen sadomasochistischer Wunscherfüllung und dringt so in ein hypothetisches Schrebersches Empfangssystem ein, welches die unsichtbar penetrierenden Strahlen der Spitzentechnologie auf einzigartige Weise verzeichnet. Ihr Einblick macht nicht halt vor den zudringlichen Sonden des Sicherheitsstaates oder vor den traumatischen Festnahmen elektronischer Erfassung, sondern erforscht die geheimen Komplizenschaften und uneingestandenen Konzessionen an invasive Kontrolle. Sie postuliert den beinahe posthumanen Körper als das, was sich den technologischen Übergriffen hin öffnet, von der intrusiven Bedrohung lebt und sich selbst als Prüfstelle neuer Transparenzen anbietet. Der Köper lehnt sich vor, um die penetrierenden Sonden einer scheinbar wohltätigen Form des social engineering zu empfangen. Die zudringlichen Manöver gründlicher Inspektion entsprechen der sexuellen Instruktion und werden durch ein beruhigendes, ja zwingendes Idiom gefiltert. Entsprechend lauten die Titel ihrer Installationen: Hardly Feel It Going In (1985) und I’ll be gentle (1991). Anders als politische Aktivisten, einschließlich Agamben oder sogar Foucault und verwandte Genealogien, scheut Scher nicht davor zurück, auch die fatalen Freudenrufe des ansonsten neutralisierten, globalisierten und invasiven Sicherheitsstaats mit einzubeziehen. Sie reflektiert das, was uns zugleich verfolgt und anzieht, und bietet uns einen Weg, die zu lesen, welche einen Kick davon bekommen, beobachtet und bestraft zu werden und sich von der Erbarmungslosigkeit erregen lassen, auf Band aufgezeichnet zu werden. Mit anderen Worten steht Julia Scher allein da, als Wachfrau und Beschützerin der unausgesprochenen Perspektive dessen, was uns befallen hat: Sie besitzt eine außergewöhnliche Sicht auf die Zukunft des Sicherheitsstaats, zum dem auch die psychoanalytischen Prognosen einer masochistischen Politik gehören – was auf eine unvorhergesehene Gelehrigkeit seitens hochtechnisierter Körperpolitik hinauslaufen könnte. Eine Arbeit wie die von Scher exponiert eine Politik der Unterordnung, die nicht länger zu irgendeinem erkennbaren Lexikon der Unterdrückung, Armut oder Klassenzugehörigkeit gehört. Sie enthüllt und markiert eine weitere Epoche der Unterdrückung, die unter dem Radar traditioneller theoretischer Protokolle politischen Verstehens hindurchfliegt. Scher ist sich allerdings auch über die mörderischen Konsequenzen im Klaren, dubiose Polizeimaßnahmen im Namen der Sicherheit durchzuführen. Sie erfasst das Regime neuer Teletopien, das Zerbrechen politischer Schauplätze und die sich beständig wandelnden Konfigurationen elektronischer Störungen. Und dennoch lässt sie Raum für die Analyse von Skoptophilie, Sexualität und Überwachung, die Verführung durch zirpende weibliche Stimmen (die legendäre phallische Pene-
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Die Fabel von der Medientechnik tration des Ohrs), für den punktuellen Nervenkitzel des Datensammelns, die eigentümliche Hemmungslosigkeit von Mehrfachaufzeichnungen und für technisch einfache Angelegenheiten wie die Ausstattung gewöhnlicher Uniformen. Weder liegt in Julia Schers Traumbildern etwas Simplifizierendes, noch fällt sie jener speziellen Sorte Deleuzianischen Machismos anheim, die von den legendären Wunschmaschinen angetrieben wird. Stattdessen registriert Julia Scher eine andere Ebene visueller Dissidenz, wobei sie jedes Mal einen kleinen Aufstand provoziert, wenn sie den Betrachterkörper selbst als Teil ihres Gesamtwerks mobilisiert. Der Betrachter/Bürger wird in die Installation durch ein Feld eingespeist, welches den so genannten kommunal-klinischen Blick mimt, der die Metaphern der Autonomie und Integrität des Selbst zerreißt. Der Betrachterkörper liefert sich den kalkulatorischen Durchquerungen aus, die wiederum mit Technologie assoziiert werden – ein durch die Pressionen des technologischen Rasters sondierter, analysierter, durchschnittener und gescannter, gemessener und genormter Körper. Den Betrachtern gelingt es nicht, sich selbst wieder einem festen Bild zuzuordnen, sondern sie sehen eine Repräsentation über die Monitore gleiten, die ihren Aufenthaltsort und ihre geheimen Ausdrucksgesten irgendwie disloziert. Auf nicht zu verbuchende Weise wurde ein Konto bei einer Depotbank für Monitore eröffnet. Videoüberwachung ist wie die Technik selbst von nun an unerlässlich. Sie ist immer eingeschaltet, auf dich gerichtet und auf dich ausgerichtet als Teil des ungebrochenen Angebots eines bestimmten Zugriffs auf die Realität. Es ist nicht so, als ob wir uns von der Technik bewusst abwenden oder ihre Übergriffe auf einen fest umrissenen Raum begrenzen könnten, ein bequem versiegeltes Anderswo. Die stets sondierende Sicherheitstechnik intensiviert das körperliche Gefühl des Ausgesetzseins: Sie beleuchtet den Körper und verleugnet dabei seine absolute Zerbrechlichkeit. Und so, liebe Freunde, kommen wir hier wieder dazu, uns einander zu beobachten, uns zu Wachsamkeit und Feingefühl zu ermahnen und, vor allem, um hier und jetzt eine Kadenz zu markieren und einen Schluss zu offerieren. Lassen Sie uns mit der Arbeit fortfahren, die Kunst und Sprache des heutigen Sicherheitsstaates ent-einzuschreiben. Lassen Sie uns verstehen, dass unsere Arbeit, wie die Arbeit einer Frau, nie getan ist, dass wir endlose Hiebe einstecken und dabei zulassen müssen, von den Winden einer unbekannten Zukünftigkeit umgestoßen werden, und lassen Sie uns immer wieder die Anstrengungen unserer versammelten Einsamkeiten und oftmals fraktalen Denkgemeinschaften return to sender schicken. Ich möchte also vorschlagen, dass wir aller unausweichlichen Gefechte und Dispute zum Trotz – alle sehr bedauerlich und kräfte-
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Avital Ronell zehrend –, darauf bestehen, auf antagonistische Weise das zu konfrontieren, was demontiert werden muss. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Nicola Behrmann
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„Erzklang“ oder „missing fundamental“. Kulturgeschichte als Signalanalyse BERNHARD SIEGERT Wenn die Worte, ferne Spende, sagen – nicht bedeuten durch bezeichnen – wenn sie zeigend tragen an den Ort uralter Eignis, – Sterbliche eignend dem Brauch – wohin Geläut der Stille ruft, wo Früh-Gedachtes der Be-Stimmung sich fügsam klar entgegenstuft. Martin Heidegger, „Sprache“1
I Am Tag vor Weihnachten des Jahres 1814 schrieb Goethe ein Gedicht, dem er den Titel „Dreistigkeit“ gab. „Worauf kommt es überall an, Daß der Mensch gesundet? Jeder höret gern den Schall an Der zum Ton sich rundet. Alles weg! was deinen Lauf stört! Nur kein düster Streben! Eh er singt und eh er aufhört, Muß der Dichter leben. Und so mag des Lebens Erzklang Durch die Seele dröhnen!
1
Martin Heidegger: Gesamtausgabe, 1. Abt., Bd. 13, Frankfurt am. M.: Klostermann 1983, S. 229.
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Bernhard Siegert Fühlt der Dichter sich das Herz bang Wird sich selbst versöhnen.“2
1814 wird Napoleon nach Blüchers Sieg bei La Rothière zur Abdankung gezwungen. Angeblich soll es noch im Dezember Kämpfe gegeben haben. Ob nun mit „Erzklang“ das Donnern der Kanonen oder das Donnern der Glocken gemeint ist, macht akustisch zwar einen Unterschied, gehört aber in Goethes Klangwelt in dasselbe napoleonische Paradigma, wie ein Brief an Charlotte von Stein von 1812 aus Carlsbad beweist, den Goethe folgendermaßen beschließt: „Was werden Sie aber sagen, wenn es nicht in meiner Macht steht anders zu datiren als Carlsbad den 15. August als am Napoleonsfeste beym stärksten Glockengeläute und Kannonendonner 1812.
treu gewidmet Goethe.“3
Glocken und Kanonen vermischen sich nicht nur in der Wahrnehmung von Napoleonsfesten, sondern auch im Realen. Womit die Artillerie der Revolutionsheere und die Armeen des Artilleriegenerals Bonaparte schossen, waren alles ehemalige Glocken. Seit 1793 waren aus einem großen Teil der Kirchenglocken Frankreichs Kanonen gegossen worden. Man schätzt, dass 100’000 Glocken, die von 60’000 Glockentürmen stammten, während der Revolutionszeit eingeschmolzen worden sind.4 Auch in den deutschen Staaten war die Metamorphose zu Kanonen ein den Turmglocken oftmals vorherbestimmtes Schicksal. Die Konfiskation der Glocken in Kriegszeiten gehört in Europa zu einer fest verankerten Tradition. Der Chef der Artillerie hatte im neuzeitlichen Europa Anspruch auf die Glocken einer eroberten Stadt (das ist das sogenannte Glockenrecht).5 Die Frage, mit der das Gedicht beginnt, unterstellt Lyrik unmittelbar dem Diskurs der Medizin: „Worauf kommt es überall an, / daß der Mensch gesundet?“ Die Antwort negiert in ihrem arroganten Phonozentrismus das medientechnische Faktum, dass alle Lyrik mit den Buchstaben des Alphabets anfängt, um stattdessen mit 2
Johann Wolfgang von Goethe: „Dreistigkeit“, in: Ders., Werke, Hamburger
3
Ausgabe, Bd. 2, 14. Aufl., München: C. H. Beck 1989, S. 16. Ders.: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, IV. Abt., Bd. 23, Weimar: Böhlau 1900, S. 73.
4
Vgl. Alain Corbin: Die Sprache der Glocken: Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M.: Fischer 1995, S. 44.
5
Vgl. A. Corbin: Glocken, S. 28.
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„Erzklang“ oder „missing fundamental“ dem Bild des Sängers einen Ursprung in einer akustischen Operation zu unterstellen: „Jeder höret gern den Schall an / Der zum Ton sich rundet.“ Dichtung ist ein System, das seine Grenze zur Umwelt durch Filterung eines Rauschens erst generieren muss – durch Herausfilterung all dessen am Schall, das sich nicht zum Ton runden will,6 akustisch gesprochen: aller nichtperiodischen Anteile im Klangspektrum des Außen; mit anderen Worten: Geräusch, Rauschen. Idiophone aus Erz, Holz oder Stein produzieren mehr Rauschen als jedes andere Musikinstrument, weil ihre Harmonischen keine ganzzahligen Vielfache des Grundtons sind und untereinander chaotische, weil nicht-rationale Verhältnisse besitzen. Filterung eines Rauschens stellt die Elemente der Poesie allererst her, anstatt sie als Alphabet vorzufinden. Aber nicht genug, dass das Gedicht von dieser Operation der Rundung spricht; es führt in einer selbstreferentiellen Operation an sich selbst das vor, wovon es spricht. Die Hälfte der vokalischen Reime endet mit einem Spondeus, der dort den Trochäus ersetzt (Spondeus: zwei Hebungen – –, Trochäus: – = Hebung-Senkung). Während der Spondeus (– –) die unmenschlichen Erzklänge simuliert („bang!“), rundet der Trochäus (– ) den Klang. Der Wechsel von A-Reimen zu B-Reimen vollzieht die Versöhnung, die Aufhebung des bloßen Schalls zum verinnerlichten Ton. Daher ist Dichtung zugleich ein System, das – weil Dichtung dem medizinischen Diskurs untersteht – auch das Subjekt generieren muss. Was ein Subjekt zum Subjekt macht, und was den Dichter insbesondere zum Dichter macht, ist die Herausfilterung alles Chaotischen aus „des Lebens Erzklang“. Anders gesagt: Die Glocke ist das Andere von Kultur, insofern Kultur mit dem Medium des Alphabets gleichgesetzt wird, und das Andere des Subjekts. Dieses Subjekt ist nach Goethe strikt als Rückkopplungseffekt von Dichtung konstruiert. Im SichSelbstvernehmen, in dem der Autor in hegelscher Selbstvermittlung zugleich Subjekt und Objekt der Dichtung ist, konstituiert sich das System des Kultur-Anthropologischen als Negation des Nichtvermittelbaren, des Nichtschreibbaren und des Nichtberechenbaren.
II Die Kultur- und Wissenschaftsgeschichte des Glockenklangs liefert ein Beispiel dafür, wie man Kulturgeschichte als Signalanalyse schreiben kann. Was für eine Art von Geschichte kann der Klang
6
Vgl. Friedrich A. Kittler: „Ein Subjekt der Dichtung“, in: Ders./Gerhard Buhr/ Horst Turk (Hg.), Das Subjekt der Dichtung: Festschrift für Gerhard Kaiser, Würzburg: Königshausen und Neumann 1990, S. 399–410.
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Bernhard Siegert der Glocke haben? Ich meine, es gibt zwei Arten: Entweder man interpretiert den Glockenklang als Zeichen, dann schreibt man eine kultursemiotisch fundierte Geschichte von Gefühlskulturen (das ist von Alain Corbin gemacht worden7). Oder man fasst den Glockenklang als Signal im physikalischen Sinne auf und hält sich an die signalanalytische Beschaffenheit dieses Dings. Voraussetzung dafür ist allerdings wiederum medienhistorisch die technische Möglichkeit zur Aufzeichnung und Prozessierung von akustischen Ereignissen, die sich der notenschriftlichen Aufzeichnung kategorisch verweigern. Meine Methode, Kulturgeschichte in Signalanalyse zu fundieren, steht also unter einem Medienapriori, das ich nicht zu verheimlichen gedenke, im Gegenteil. In der Berliner Medienwissenschaft wird gern die Unversöhnbarkeit von Medienarchäologie und Kultursemiotik betont: „Medienarchäologie akzentuiert […] Signal- statt Zeichenverarbeitung, gerade im Unterschied zur Kultursemiotik.“ 8 Aber eine nachrichtentheoretisch fundierte Medienwissenschaft, die historischen Sinnbildungsprozessen fernsteht, ist keine Medienarchäologie, sondern nichts anderes als eben Nachrichtentheorie. Medienarchäologie ist nur dann Archäologie, wenn sie nicht Signal- gegen Zeichenverarbeitung setzt, sondern einen Begriff kultureller Zeichen aus der Signalanalyse gewinnt. Also nicht Signal- statt Zeichenanalyse, sondern Zeichenanalyse als Signalanalyse. Die abendländische Harmonik wurde über Jahrhunderte durch das am Vokalalphabet orientierte System der Notenschrift stabilisiert. Die Parameter, die durch Komponisten und Musiker als Variable zu handhaben und daher manipulierbar waren, waren Tonhöhe (also Frequenz), Tondauer (Zeit) und Lautstärke (Amplitude), wobei letztere auch nicht im technischen Code der Notenschrift, sondern nur alltagssprachlich notierbar war. Was das Notenschriftsystem nicht anschreiben kann, ist die Klangfarbe, ist also das, was metonymisch auf die Instrumente in ihrer dinghaften Materialität verweist. Klangfarbe sorgt dafür, dass wir eine Flöte als Flöte, eine Geige als Geige und eine Klarinette als Klarinette identifizieren. Wobei angemerkt werden muss, dass der größte Teil der Klangfarbeninformation im Einschwingvorgang des Signals und in seinen Formanten enthalten ist. Was ist der Glockenklang kultursemiotisch? Ursprünglich haben Glocken in ihrer sakralen Funktion Signalcharakter: Ihr Läuten ist ein Zeichen, das ein Zeichen ankündigt. Die Sprache der Glo7
Vgl. A. Corbin: Glocken, S. 28.
8
Wolfgang Ernst: „Von der Mediengeschichte zur Zeitkritik“, in: Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice versa)? (Archiv für Mediengeschichte 6), Weimar: Universitätsverlag 2006, S. 23–32, hier S. 25.
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„Erzklang“ oder „missing fundamental“ cken – das wusste niemand besser als der ehemalige Mesmerbub Martin Heidegger, dessen Lieblingskinderspielplatz der Glockenturm in Meßkirch war9 – ist ein Rufen, das sein Gerufenes näher bringt, das es versammelt. „Das versammelnde Rufen ist das Läuten.“10 Oder mit den Worten von Pink Floyd auf Dark Side of the Moon: „Far away, across the field The tolling of the iron bell Calls the faithful to their knees To hear the softly spoken magic spell.“11 „Auch wenn die Kirche – in […] Predigt und Liturgie […] – wesentlich aufs Wort des [Großen] Anderen baut, das sie verkünden oder verstärken soll, so trägt doch keine Menschenstimme dieses Wort […] laut und weit genug. Über die Kirchenschiffe hinaus, selbst wenn sie eigens als Schallverstärker konstruiert worden sind, reichen nur Geräusche. Deshalb paktieren Diskursmächte mit einer Übermacht, Schöpfungen mit einem Tohuwabohu – auf die Gefahr hin, dass es sie immer auch überwältigen und übertönen kann.“ 12
Der im Glockenturm aufgewachsene Heidegger hat in seinen späten Jahren die Sprache der Glocken als Wesen der Sprache überhaupt zu bestimmen versucht. „Die Sprache spricht als das Geläut der Stille.“13 In nachrichtentechnischer Terminologie heißt das: Die Sprache spricht als Signal-Rausch-Abstand, wenn wir Stille sinnesphysiologisch, thermodynamisch und nachrichtentechnisch präzise mit Grundrauschen übersetzen und Geläut kulturtechnisch korrekt mit Signal. Das Wesen der Sprache liegt nicht in ihrem Kommunikations-, sondern in ihrem Signalcharakter. Es ist die Turmglocke und nur sie allein, die dieses Wesen der Sprache immer schon ausgesprochen hat. Von diesem Ruf sind die säkularen Funktionen der Glocke als Alarmsignal abgeleitet. Wenn nicht gerade ER zum „magic spell“ ruft, läuten Glocken, wenn der Feind naht oder wenn’s brennt. Wie Corbin gezeigt hat, war das Recht auf ein bisschen Lärm, das Recht, die Ohren zu betäuben, Gegenstand zahlreicher lokaler Auseinandersetzungen im postrevolutionären Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts. Das neue revolutionäre Regime in Paris dokumentierte die souveräne Macht der Nation gegenüber den lokalen 9
Vgl. Martin Heidegger: „Vom Geheimnis des Glockenturms“, in: Ders., Ge-
samtausgabe, 1. Abt., Bd. 13, Frankfurt a. M.: Klostermann 1983, S. 113– 116. 10 Ders.: „Die Sprache“, in: Ders., Gesamtausgabe, 1. Abt., Bd. 12, Frankfurt a. M.: Klostermann 1985, S. 7–30, hier S. 27. 11 Pink Floyd: „TIME“, auf: Dark Side of the Moon, EMI Italiana 1973. 12 Friedrich A. Kittler: „Ein Subjekt der Dichtung“ (Typoskript), S. 11. 13 M. Heidegger: „Sprache“, S. 27.
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Bernhard Siegert Würdenträgern und Autoritäten durch das Verbot, die Kirchenglocken zu läuten bzw. die Glocken abnehmen zu lassen (bis 1830). Nationale Souveränität ist Signalherrschaft. In Dorothy Sayers Roman Die Neun Schneider werden die neun gewaltigen Glocken einer ländlichen Pfarrkirche zu Mördern. Auf dem Friedhof von Fenchurch St. Paul wird kurz nach dem Weihnachtsabend ein Toter mit furchtbar verzerrten Gesichtszügen gefunden. Lord Peter Wimsey grübelt bis zum Schluss des Romans über die rätselhafte Todesursache, bis er durch Zufall in der Glockenstube des 40 Meter hohen Turms von einem Feiertagsläuten überrascht wird. Der Erzklang der Glocken hat das Opfer, das sich dort oben ans Gebälk gefesselt befand, erst zum Wahnsinn getrieben und dann gemordet.14 Was aus der Ferne eine „Gefühlskultur“ gewesen sein mag, in der Glockengeläut eine kommunitarische Identität hergestellt hat,15 ist von nahem erfahren einfach etwas Grauenhaftes. Was aus der Ferne das Gefühl des Erhabenen induziert, ist in der Nähe bloß das unerträglich Schreckliche. Glocken markieren die Grenze zum Wahnsinn, die Grenze zwischen Nüchternheit und Rausch, die Grenze zum Ausnahmezustand (Krieg, Katastrophen), die Grenze zwischen Gott und Mensch, die Grenze zwischen Leben und Tod. Das wäre sozusagen das kultursemiotische Resümee, das ich nun mit einem signalanalytischen Argument verbinden will. Glocken – so meine These – repräsentieren und signalisieren im Symbolischen den Ausnahmezustand, weil sie im akustisch Realen der Ausnahmezustand sind. Aus diesem Grund sind Glocken Medien, weil sie das Vermittelte, die Botschaft der Eucharistie oder des Ausnahmezustandes, unter Bedingungen setzen, die sie selbst schaffen und sind.16 Der Glockenklang bildet im Herzen des ländlichen, kleinstädtischen Europas ein Netz verteilter lokaler Zentren, in dem sich eine Kultur organisiert durch den Pakt mit dem Chaos, das im Register der christlichen Mythen und Symbole den Teufel und im Register der Codes und der Instrumente ein prinzipiell Unschreibbares bezeichnet.
III Nach diesem sehr gerafften kultursemiotischen Abriss der Glocke nun eine ebenso geraffte Skizzierung der Rolle der Glocke in der Ge14 Vgl. Dorothy Sayers: The Nine Tailors, London: Victor Gollancz Ltd. 1934. 15 Vgl. A. Corbin: Glocken, S. 15. 16 Vgl. Lorenz Engell/Joseph Vogl: „Editorial“, in: Dies. (Hg.), Mediale Historiographien (Archiv für Mediengeschichte 1), Weimar: Universitätsverlag 2001, S. 5–8, hier S. 6.
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„Erzklang“ oder „missing fundamental“ schichte der wissenschaftlichen Akustik. Lehrbücher über die Physik musikalischer Instrumente beginnen noch heute mit d’Alemberts Wellengleichung, und das mit gutem Grund. Denn mit der Wellengleichung hat die mathematische Akustik ihr erstes Fundament erhalten, das dann in der Folge von Leonhard Euler und Jean Baptiste Joseph Fourier auch gleich wieder dekonstruiert werden sollte. Zwar sollte man die Geschichte der experimentellen Akustik nicht anfangen lassen, ohne Simon Stevin, Marin Mersenne und Robert Hooke zu erwähnen, die auf experimentellem Wege an einem neuzeitlichen mathematischen Begriff der Tonhöhe und des Intervalls arbeiteten, der auf absoluten Schwingungszahlen basierte. Mersenne verlängerte die Saite des Monochord auf rekordverdächtige zwölf Ellen, so dass er ihre Schwingungen zwar nicht mehr hören, dafür aber mit dem Auge verfolgen konnte, und extrapolierte dann aus der Verkürzung dieser Saiten die Schwingungszahlen hörbarer Töne. Robert Hooke verfolgte auf Londons Straßen Fliegen und andere brummende und summende Insekten, deren Summton er solange nachsummte, bis er zu Hause am Klavier seine Höhe ermitteln konnte, um so akustisch die Frequenz zu berechnen, mit der die Flügelchen der Insekten schwirrten. Aber erst d’Alemberts Wellengleichung machte es möglich, eine geschlossene mathematische Formel für sämtliche Schwingungsereignisse eines bestimmten Typs anzugeben. Die Wellengleichung in ihrer klassischen Form erfasst periodische Schallereignisse, die von eindimensionalen, schwingenden Körpern hervorgerufen werden, also von Saiten oder Luftsäulen in Blasinstrumenten. Wesentlich problematischer wird es, wenn man von Punktstrahlern, die ja hauptsächlich für den Klang eines handelsüblichen westeuropäischen Orchesters verantwortlich sind, zu Flächenstrahlern übergeht, also zu schwingenden Membranen oder Idiophonen, wie sie die Instrumentierung wesentlich nichteuropäischer Kulturen ausmachen. Chladnis Klangfiguren, die die Knotenlinien von schwingenden Kupferplatten sichtbar machen, vertraten explizit die um 1800 gegebene Unmöglichkeit, den Sound von zweidimensionalen Schwingungskörpern analytisch darzustellen. Man hätte dazu sämtliche willkürliche (d. h. auch stückweise unstetige) Funktionen analytisch darstellen müssen, die als Lösungen die zweidimensionale d’Alembertsche Wellengleichung erfüllen. Ganz zu schweigen von dreidimensionalen Idiophonen wie es Glocken sind, die zugleich zwei Arten von Schwingungen ausführen: Querbiegungsschwingungen und Längsbiegungsschwingungen.17 Hinzu kommt, dass bei großen Glocken (und nur von Turmglocken, nicht von Glockenspielglocken, soge17 Vgl. Andreas Weissenbäck/Josef Pfundner: Tönendes Erz: Die abendländische Glocke als Toninstrument und die historischen Glocken in Österreich, Graz/Köln: Böhlau 1961, S. 7 f.
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Bernhard Siegert nannten carillons, oder Messdienerbimmeln ist hier die Rede) die Frequenzen der Obertöne (der sogenannten „Harmonischen“) nicht mehr ganze Vielfache der Grundfrequenz sind (wie bei Saiten- oder Blasinstrumenten). Weil ihre Harmonischen ihren Namen Lügen strafen, nennt man den Klang der Glocke, dessen Schwingungsform nicht mehr rein periodisch ist, anharmonisch. Mit Fouriers Abhandlung über die Ausbreitung der Wärme, die er 1807 im Institut de France den versammelten Mathematikern Frankreichs vortrug, wurde – traditionell wissenschaftsgeschichtlich gesprochen – der mathematischen Akustik ihr bis heute existenzbegründendes Analysewerkzeug geschenkt. Ohne Fourieranalyse hätten wir keine Ahnung vom realen Grund oder Abgrund unserer Klangkultur. Mittels Fourieranalyse lässt sich die materiale Welt, insofern sie aus elastischen Körper-, Schall-, Wärme- und Ätherschwingungen besteht, analysieren und in unendlichen Summen von trigonometrischen Funktionen anschreiben. Eine gerade Linie war seitdem keine Strecke zwischen zwei Punkten mehr, sondern ein unendlich feines Vibrieren des Raums. Die Dinge verloren ihre Konturen oder besser gesagt, ihre Konturen verschwammen in den Hitzewellen, die den Raum erfüllen, weil sie aus Hitzewellen sind. Die Materie Fouriers wabert. Fouriers Resultat ist also: Jede periodische Funktion, die einen wohl-definierten Graphen besitzt, kann durch eine Gleichung vom Typ
f (t ) =
a0 + (a cos kt + b k sin k t ) 2 k =1 k
dargestellt werden. Diese Lösung war fünfzig Jahre zuvor bereits von Daniel Bernoulli als allgemeinstmögliche der d’Alembertschen Wellengleichung vorgeschlagen worden. Bernoullis Ansatz basierte auf der Annahme, dass „alle tönenden Körper potentiell eine Unendlichkeit von Tönen einschließen und eine Unendlichkeit von entsprechenden Weisen, ihre regelmäßigen Schwingungen auszuführen.“18 Welcher Art diese Schwingungen auch sein mochten, fügte Euler hinzu, kontinuierliche oder diskontinuierliche. Tatsächlich ist der von Bernoulli vorgeschlagene und von Fourier durchgeführte Prozess mathematisch derselbe wie bei der Analyse von musikalischen Tönen in ihre Grund- und Obertöne. In der Musik konvergiert eine solche Reihe sehr schnell zu Klangfarbenidentitäten.
18 Daniel Bernoulli: „Réflexions et éclaircissemens sur les nouvelles vibrations des cordes exposées dans les mémoires de l'Académie de 1747 & 1748“, in: Histoire de l'Académie Royale des Sciences et Belles Lettres de Berlin 9 (1753), S. 151 [meine Übersetzung; B. S.].
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„Erzklang“ oder „missing fundamental“ Dennoch: Bis ins 20. Jahrhundert repräsentierte die Glocke für die mathematische Akustik das Jenseits des Berechenbaren, weil ihre Form fast unlösbare partielle komplexe Differentialgleichungen dritter Ordnung verlangt.19 Wenn man also zwar weiß, dass der Klang einer jeden Glocke in einem Fourierintegral enthalten ist, man aber nicht über die Möglichkeiten verfügt, die für diesen Klang maßgeblichen Harmonischen zu ermitteln, dann ist die Fourieranalyse der Glocke zuvörderst eine Sache der Experimentalwissenschaft. Aber eben diese experimentelle Akustik erlebte, als sie sich in der Person Lord Rayleighs 1890 zum ersten Mal mit experimenteller Fourieranalyse des Erzklangs annahm, ihr blaues Wunder. Lord Rayleigh musste feststellen, dass es unmöglich war, mittels Stimmgabelresonatoren den für die Tonhöhe von Glocken zuständigen idiophonischen Grundton festzustellen. Die Glocke markiert den Ausnahmezustand der physikalischen Akustik.
IV Der Tonaufbau der Glocke besteht aus zwei verschiedenen Komponenten: erstens den physikalisch realen Schwingungen der Summtöne und der höheren Obertöne, die mit Messapparaturen nachweisbar sind, und zweitens dem Schlagton. Der Schlagton ist der vorherrschende Schlagklangeindruck, den eine Glocke beim Läuten hervorruft. Nach ihm wird die Stellung der Glocke bezüglich der Tonhöhe in einem Geläute bestimmt. Eben dieser Schlagton galt bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhundert als ein unerklärliches Phantom. Während man nämlich die Summtöne und die Obertöne der Glocke einzeln nach der Helmholtzschen Methode durch Resonatoren nachweisen und oszillographisch aufzeichnen kann, lässt sich ausgerechnet der am stärksten hervortretende Ton, der die Tonhöhe der Glocke bestimmt, nicht unter den messbaren Frequenzen (auch nicht unter den Schwebetönen) finden. „Bei den Turmglocken tritt die […] merkwürdige Erscheinung auf, daß der Ton, nach welchem eine Glocke benannt wird, der sogenannte Schlagton, im
19 Vgl. Neville H. Fletcher/Thomas D. Rossing: The Physics of Musical Instruments, New York u. a.: Springer 1991 (erschienen 1994). – Die von Kittler in diesem Zusammenhang erwähnte „General Bell Formula“ hat mit diesem Problem der mathematischen Akustik gar nichts zu tun, sondern bezieht sich erstens auf eine Glockengießerformel und zweitens auf carillons, also auf die kleinen Glocken eines Glockenspiels, die einen völlig anderen – viel einfacheren – Fall darstellen; vgl. André Lehr: „A General Bell Formula“, in: Acustica 2/1 (1952), S. 35–38.
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Bernhard Siegert allgemeinen nicht im Spektrum der Glocke vorkommt.“20 Lord Rayleigh musste sich daher mit einer empirischen Regel begnügen.21 Demnach sollte der Schlagton eine Oktave unter der Tonhöhe der fünften Eigenfrequenz liegen. Und noch 1961 musste das campanologische Hauptwerk für die Glocken Österreichs bekennen, „daß der Schlagton noch nicht mit technischen Hilfsmitteln, sondern lediglich mit dem Ohr in seiner Tonhöhe fixiert werden konnte.“ 22 1930 gelang es Franklin G. Tyzzer zum ersten Mal, die Glockenteiltöne mithilfe von Knotenkreisen und Meridiankreisen zu klassifizieren. In den dreißiger Jahren standen schließlich die technischen Medien zur Verfügung, um mit anderen Mitteln als mit Stimmgabelresonatoren das Geheimnis der Glocke zu lüften. Schon Ferdinand Braun in Straßburg hatte die Kathodenstrahlröhre als Medium zur Visualisierung von Schwingungskurven verwendet, d. h. als Oszilloskop. 1921 hatte Carl Stumpf in seinem Berliner Psychologischen Institut zum Telephon gegriffen, um seine Formanttheorie der Konsonanten zu bestätigen.23 Daraufhin griff der Präsident des Telegraphentechnischen Reichsamtes Karl Willy Wagner seinerseits zur Formanttheorie: In die Telephonleitung eingeschaltete Drosselketten brachten anstandslos die von Stumpf vorhergesagten Formantregionen zu Gehör, die es Wagner erlaubten, auf ihrer Grundlage das für eine hinreichende Verständlichkeit am Telephon notwendige Frequenzband neu zu bestimmen.24 Mikrophone, Oszilloskope und vor allem Drosselketten, die es ermöglichen, auf elektromagnetischem Wege experimentelle Fourieranalysen durchzuführen, gehörten von nun an zur Standardausrüstung der experimentellen Akustik,25 die auch in den Labors von Telephonkonzernen wie der AEG, Siemens oder AT&T betrieben wurde. Daher ist es auch kein Zufall, dass Jan Schouten seine Residuums-Theorie der Schlagtonhöhe 1940 in Philips’ Technischer Rundschau publizierte. Erst seit es gelungen ist, einen Algorithmus für Fouriertransformationen zu implementieren,
20 Jan F. Schouten: „Die Tonhöhenempfindung“, in: Philips’ Technische Rundschau 5/10 (1940), S. 294–302, hier S. 301. 21 Lord Rayleigh: „On Bells“, in: The London, Edinburgh, and Dublin Philosophical Magazine and Journal of Science, 5. Ser., 29/176 (Januar 1890), S. 1–17. 22 A. Weissenbäck/J. Pfundner: Tönendes Erz, S. 13. 23 Vgl. Carl Stumpf: „Über die Tonlage der Konsonanten und die für das Sprachverständnis entscheidende Gegend des Tonreiches", in: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1921, 2. Halbbd., S. 636–640, hier S. 639. 24 Vgl. Karl Willy Wagner: „Der Frequenzbereich von Sprache und Musik“, in: Elektrotechnische Zeitschrift 45 (1924), S. 451–456. 25 Vgl. E. Meyer/J. Klaes: „Über den Schlagton von Glocken“, in: Die Naturwissenschaften 21 (1933), S. 697–701.
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„Erzklang“ oder „missing fundamental“ ist man in der Lage, das Klangsignal von Turmglocken einer objektiven Tonhöhenanalyse zu unterziehen. Man gewinnt seit 1982 die Teiltonfrequenzen und -amplituden aus einem digitalen, mittels Fast Fourier Transform (FFT) berechneten Fourierspektrum.26 1940 publizierte, wie geschildert, der Niederländer Jan Schouten seine Residuums-Theorie. Schouten war glühender Anhänger der bereits von Helmholtz vertretenen Idee, dass die Basilarmembran in der Cochlea „imstande ist, […] Fourier-Analyse durchzuführen“.27 Nun macht aber das Ohr bei der Wahrnehmung eines aus verschiedenen Harmonischen bestehenden Klanges keinen Gebrauch von seiner Fähigkeit zur Analyse, sondern vermittelt nur den Eindruck eines Klanges von bestimmter Tonhöhe und Klangfarbe. Die Herstellung einer Klangfarbenidentität dominiert die Fähigkeit, den Ton in seine Obertöne aufzulösen. Nun weiß man, seitdem es technisch möglich ist, einen Klang in seine Obertöne zu zerlegen, dass wir einem Ton immer die Tonhöhe des Grundtones zuschreiben, auch wenn der Grundton im Klangspektrum gar nicht vorhanden ist.28 Vor allem das Telephon, das den ganzen Frequenzbereich unterhalb von 300 Hz abschneidet, lehrte die Akustiker die Einsicht in dieses Phänomen. In dem weggefilterten Frequenzbereich liegen zwar die Grundtöne der männlichen Stimme und zum Teil auch die der weiblichen, dennoch erfährt die Stimmhöhe des Sprechers keine Änderung. Bei Schoutens Versuchen mit periodischen Impulsen, die eine Obertonreihe ohne Grundschwingung darstellten, blieb dennoch ein „starker, scharfer Klang“ mit der Frequenz der real fehlenden Grundschwingung wahrnehmbar. Auch wenn weitere niedrige Harmonische aus dem Spektrum entfernt werden, bleibt dieser Ton hörbar. Er verschwindet erst, „wenn die höchsten Harmonien aus dem Klang herausgeholt werden“.29 Diese Klangkomponente nannte Schouten das „Residuum“. Es siedelt in einem Bereich, in dem die Harmonischen so dicht beieinander liegen, dass das Auflösungsvermögen des Ohres nicht ausreicht, um sie voneinander zu unterscheiden. Konkret verursachen Frequenzen von 2000, 2200, 2400 Hz usw. zusammen in der Basilarmembran eine Klangempfindung von 200 Hz. Die Frage ist nur, warum sie eine Komponente von so niedriger Tonhöhe bilden. Schoutens Erklärung: Nicht die Frequenz der Harmonischen und nicht ihr Abstand voneinander tragen zur
26 Vgl. Ernst Terhardt/Manfred Seewann: „Auditive und objektive Bestimmung der Schlagtonhöhe von historischen Kirchenglocken“, in: Acustica 54/3 (1984), S. 129–144, hier S. 131. 27 J. F. Schouten: „Tonhöhenempfindung“, S. 295. 28 Vgl. ebd., S. 296. 29 Vgl. ebd., S. 298.
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Bernhard Siegert
Abb. 1: Teiltonanalyse eines Glockentons; aus: Philips’ Technische Rundschau 5, 1940, H. 10, S. 300 Bildung des imaginären Grundtons bei, sondern die Frequenz ihrer Hüllkurve (Abb. 1 und 2). In einem anharmonischen Obertonspektrum wie dem der Glocke ist es – aus Sicht der physikalischen Akustik – Zufall, dass eine Anzahl von Frequenzen auftreten, die ganze Vielfache einer Grundschwingung sind, die es im Spektrum der Glocke gar nicht gibt, die aber als Residuum dieser Frequenzen hörbar wird.30 Heute spricht man von „virtual pitch“ oder auch „missing fundamental“. 31
V Eine Glocke ist also primär Klangfarbe, ihr akustisches Sein ist nicht durch die Tonhöhe bestimmt, sondern durch jenes Gemisch von Obertönen, die für die Klangfarbe zuständig sind. Der Grundton der Glocke ist ein Produkt der Klangfarbe. Ich will es nicht allzusehr zuspitzen und die Glocke als Dekonstruktion der abendländischen Schallkultur bezeichnen, aber man kann trotzdem soviel sagen, dass eine Glocke Obertonschwingungen ohne Grundtonschwingun30 Vgl. ebd., S. 302. 31 Bill Hibbert: „The Strike Note of Bells – an old mystery solved“, in: The Ringing World 20 (2003), S. 586.
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„Erzklang“ oder „missing fundamental“
Abb. 2: Schematische Darstellung der Residuums-Hypothese; aus: Philips’ Technische Rundschau 5, 1940, H. 10, S. 301 gen hat (was den Begriff „Oberton“ eigentlich sinnlos macht). In ihr schwingen Teiltöne mit, ohne dass es jenen Ton gibt, der die Rede von einem Mit-Schwingen rechtfertigen würde. In ihrem Klang geht das Sekundäre dem Primären voraus, ja, das Primäre, der Grundton, das Fundament der Tonhöhe, wird allererst durch seine Obertöne, seine Teiltöne projiziert. Teiltöne sind Teil von etwas, das sie erst hervorbringen. Was zwischen Signalanalyse und Kulturgeschichte vermittelt, ist die Lacansche Trias von Realem, Imaginärem und Symbolischem, die das Dispositiv der Glocke perfekt bestimmen. Das Symbolische ist die buchstäbliche Ordnung, in der die Glocke angeschrieben wird, in der sie nach ihrer Tonhöhe und ihrem Glockenprofil klassifiziert wird (Oktavglocke, Septimglocke, Sextglocke, Nonglocke).32 Das Symbolische ist im Fall der Glocke ein Effekt des Imaginären, das heißt, der Schlagton oder Grundton der Glocke wird allererst im Imaginären produziert. Wortwörtlich ist es das Imaginäre, in dem, um mit Goethe zu sprechen, „der Schall zum Ton sich rundet“, insofern nicht etwa Lacanianer, sondern nüchterne Physiker vom „imaginären Grundton“ oder „virtual pitch“ sprechen. Elektroakustiker vom Ende des 20. Jahrhunderts sprechen auch von „spektraler 32 Vgl. A. Weissenbäck/J. Pfundner: Tönendes Erz, S. 7.
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Bernhard Siegert Gestaltwahrnehmung“ (so Terhardt und Seewann 1984). Das Symbolische ist aber auch das Signal, welches der Schlag der Turmglocke ist, der Ruf, der die Menschen über die Grenzen der Pfarrgemeinde hinaus zur Versammlung ruft, zum Gotteswort, zum Feuer, zum Feind. Das Reale der Glocke ist schließlich das, was sich unmöglich anschreiben lässt und was erst technische Medien, Tonbandgeräte und Harmonic Analyzer aufzeichnen und verarbeiten können: das Reelle der absoluten Frequenzen, das im Fall der Glocke von einem „missing fundamental“, einem mangelnden Fundamental33, gekennzeichnet ist, das psychoanalytisch nichts anderes ist als ein fundamentaler Mangel. Insofern das Klangspektrum einer Glocke durch diesen fundamentalen Mangel gekennzeichnet ist, besteht ihr Klangspektrum also nur aus Obertönen. Da die Obertöne aber vor allem die Klangfarbeninformation transportieren, ist der Erzklang reine Klangfarbe, Amplitude und Nachhallzeit. Folglich ist die Glocke ein Schallerzeuger, bei dem die Tonhöhe durch die Klangfarbe erzeugt wird. Der zerstückelte Körper des Klangs geht der imaginären Ganzheit nicht nur voraus, sondern jener bringt diese allererst hervor, als ob das Imaginäre bereits auf physiologischer Ebene lokalisiert wäre, als ob das Ohr das Subjekt durch Bildung des Residuums vor dem Grausen eines zerstückelten Körpers schützen wollte. Filtert man das Residuum mittels Tiefpass heraus, stellt sich im Ohr der Wahnsinn des Realen her. Die Register des Imaginären und des Realen bezeichnen auch präzise die methodische Differenz zwischen musikwissenschaftlicher Campanologie, die in der auditiven Methode den Königsweg zu campanologischer Tonhöhenerkenntnis sieht, und experimenteller Akustik, die sich Medientechniken von der Drosselkette bis zum digitalen Harmonic Analyzer bedient. Musikalische Kultur und Experimentalkultur scheiden sich an der Frage des Erzklangs. Während Glockenforscher, die aus der Musikwissenschaft kommen und stolz auf ihr Gehör sind, darauf insistieren, dass der Schlagton von „jedem musikalischen Menschen“ gehört wird und „unbedingt als musikalisch reale Tatsache gewertet werden (muß)“,34 urteilen andere wie Johannes Biele, der Schlagton sei ein „imaginäres Tongebilde“.35 Für Musikwissenschaftler hingegen ist wiederum klar, dass Physiker nur deswegen die reale Existenz der Schlagtonhöhe negieren, weil sie generell „ohne gutes musikalisches Gehör“36 sind. Der mu33 In der englischen Literatur zum Schlagtonproblem ist die Rede einfach vom „missing fundamental“; vgl. B. Hibbert: „The Strike Note of Bells“, S. 586. 34 A. Weissenbäck/J. Pfundner: Tönendes Erz, S. 11. 35 Johannes Biehle: „Die Analyse des Glockenklanges“, in: Archiv für Musikwissenschaft 1/2 (1919), S. 289–312. 36 A. Weissenbäck/J. Pfundner: Tönendes Erz, S. 13.
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„Erzklang“ oder „missing fundamental“ sikwissenschaftliche Diskurs des Imaginären fußt am Ende auf dem Urteil der Überlegenheit bürgerlicher musikalischer Hochkultur. Mit den Flächentönern des Blues und des Jazz und mit der Elektrifizierung der Musikinstrumente durch die Rockmusik wurde nicht nur die buchstäbliche Ordnung der abendländischen Musik gesprengt. Mit Flächentönern, elektrischen Verzerrungen, Rückkopplungseffekten und dem Moog-Synthesizer ergriffen auch andere Soundkulturen von unseren Ohren Besitz – was unter anderem in den sechziger Jahren daran zu erkennen war, dass verschiedene Gruppen wie die Beatles oder Pink Floyd nicht nur zu Glocken, sondern auch bewusst zu asiatischen Instrumenten wie Sitar oder Gong griffen. Und es ist in diesem Kontext signifikant, dass Claude Lévi-Strauss an den Anfang seines großen Werkes über die Mythen der südamerikanischen Indianer eine lange Betrachtung über die musique concrète Pierre Schaeffers und die serielle Musik von Pierre Boulez stellte. Als wäre das Denken des Anderen erst durch die zusammengeschnittenen und verfremdeten Tonbandaufnahmen von Geräuschen einerseits und andererseits durch eine Kompositionsmethode eröffnet oder ermöglicht worden, „in der es keine vorgefaßte Tonleiter mehr (gibt)“.37 Aber die Turmglocken haben immer schon einen Pakt mit diesem Anderen der europäischen Klangkultur hergestellt. Um über die Grenzen ihrer Pfarrgemeinden hinweg die Christenheit zu versammeln, paktierte DAS Wort mit dem Realen, der Logos mit dem Alogischen. Sein anharmonischer Klangfarben-Schall, der den europäischen Menschen an seine Grenze beorderte (Grenze der Vernunft, des Krieges, seiner irdischen Endlichkeit), hatte schon immer den Abgrund der buchstäblichen Ordnung der europäischen Soundkultur aufgerissen.
37 Vgl. Claude Lévi-Strauss: Mythologica I: Das Rohe und das Gekochte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, S. 40–42, Zitat auf S. 42.
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Halbes Leben LAURENCE A. RICKELS
I Bevor er in Träumen Androiden von elektrischen Schafen?1 zum Testfall des Menschlichen wurde, hatte der Android eine Vorgeschichte in zwei früheren Romanen von Philip K. Dick: in Die Lincoln-Maschine2 und Simulacra.3 Dicks erste Androiden, frisch vom Fließband der Disney-Ideenerfinder der sechziger Jahre, saßen fest im Tau zweier Konsumentenprojektionen. Weil ihre Erfinder glaubten, dass die Nachstellung historischer Ereignisse die Zukunft der Unterhaltungsbranche sein würde, waren die ursprünglichen Androiden oder Simulacra Nachbildungen aus dem amerikanischen Bürgerkrieg. Für seine Investitionen im Weltraum plante der Unternehmer Barrows in Die Lincoln-Maschine, an den sich diese Erfinder zur Rücksprache wenden müssen, allerdings eher eine Massenproduktion von Androiden, die den Siedlern die Illusion von Leben in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft bieten und sie dadurch vor psychotisierender Einsamkeit schützen sollten. In Simulacra warf daher die erste Serie massenproduzierter Androiden in Dicks Zukunftswelten so genannte famnexdos-Einheiten ab, von denen jede einzelne aus einer Nachbar-Familie bestand. Nicht die begrenzte Lebenszeit künstlichen Lebens, sondern in erster Linie gegen dieses Arrangement rebellieren die Androiden in Träumen Androiden von elektrischen Schafen? Bei uns in Kalifornien oder nebenan auf dem Mars sind Androiden auch einsam. In Die Lincoln-Maschine diskutieren Barrows und das Lincoln-Simulacrum die letzten Unterschiede zwischen Maschine, Tier und Mensch. Lincoln beginnt mit der altbekannten Leier vom Menschals-Maschine, dessen Hinterlassenschaft stets mit Spezismus anfängt und aufhört. Barrows hält den Menschen für eine bestimmte 1 2
Siehe Philip K. Dick: Träumen Androiden von elektrischen Schafen? [1969], Zürich: Haffmans 1997. Siehe ders.: Die Lincoln-Maschine [1977], München: Heyne 2007.
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Siehe ders.: Simulacra [1964], München: Droemer Knaur 1978.
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Laurence A. Rickels Art von Tier (eines von der Art, sagt er, die ein Taschentuch in der Hosentasche trägt). Was aber ist dann ein Tier? Nicht etwas Hergestelltes, so wie du, erwidert Barrows. Lincoln hingegen behauptet, dass sich nicht nur eine Maschine durch „Herstellung“ definiert, sondern auch der Mensch. Übrig bleibt die Seele, die der Selfmademan Barrows am besten gleich zusammen mit dem Schöpfer ad acta legen möchte. Daraufhin entgegnet ihm das Lincoln-Simulakrum: „‚Dann sind auch Sie, Sir, eine Maschine. Denn auch Sie haben einen Schöpfer. Er hat sie genauso […] nach Seinem Bild gemacht. Ich glaube, Spinoza hatte diese Ansicht über Tiere – dass sie schlaue Maschinen sind. Der kritische Punkt ist, meine ich, die Seele. Eine Maschine kann alles, was ein Mensch kann – dem werden Sie zustimmen. Aber sie besitzt keine Seele.‘ ‚Es gibt keine Seele. Das sind Hirngespinste.‘ ‚Dann ist eine Maschine genau das Gleiche wie ein Tier. Und ein Tier ist genau das Gleiche wie ein Mensch.‘“4
In der Verfilmung des Romans Blade Runner wurde der AndroidenTest in Träumen Androiden von elektrischen Schafen? aus seinem Kontext gerissen und diente nun als Legende des Post-Humanen. Die Gleichsetzung zwischen Android und Mensch, mit der wir uns in Blade Runner abfinden müssen (im Gegensatz zum Roman eigentlich reine Propaganda für das Anliegen der Androiden), überprüft lediglich eine einzige Realität, nämlich die des Kinos. Auf der Leinwand könnten die menschlichen Darsteller genauso gut Androiden sein oder sogar die „hingewunderten“ Männer, denen Schreber begegnete, als er in die Genesungsphase seiner Psychose eintrat. Obwohl er in Träumen Androiden von elektrischen Schafen? als post-maschinisch konzipiert ist, fallen dem Filmzuschauer an dem auftauchenden Androiden dessen maschinelle Teile und Schichten durchaus ins Auge. Die künstlichen Tiere, die den Mangel an lebenden Tieren aufheben und im Gegensatz zu den Androiden maschinell sind, rufen ein Gefühl der Empathie bei uns hervor, gegen das die Androiden gewappnet sind. In Träumen hat Freud häufig Technik – Maschinen, Bauteile, Vorrichtungen – ausfindig gemacht, welche die Genitalien des Träumenden darstellen oder, wie Victor Tausk den Lexikoneintrag umformatierte, die bestehende oder gestörte Verbindung zwischen dem Körper der Mutter und dem eigenen ebenso repräsentieren wie verdrängen.5 Anders gesagt, wenn auch mit ähnlicher Terminologie und einer Interpretation von Hanns Sachs zufolge: Technik schaltet
4 5
Ders.: Lincoln-Maschine, S. 128. Vgl. Victor Tausk: „Über die Entstehung des ‚Beeinflussungsapparates’ in der Schizophrenie“, in: ders., Gesammelte psychoanalytische und literarische Schriften, Wien: Medusa 1983, S. 245–286.
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Halbes Leben im Fall von psychotischen Wahnvorstellungen auf Besserung um, indem sie eine Schonfrist von der Krise der Unheimlichkeit gewährt, die dann einsetzt, wenn die Zuflucht zu primärem oder körperbezogenem Narzissmus zu lange hinausgezögert wird.6 Aufblitzende Techno-Differenz zerteilt die Undifferenziertheit in Lebensform ebenso wie im Lebensverfall. Der post-maschinische Android existiert nicht als eine neue Spezies, nicht einmal potentiell. Wenn wir in dem Replikat trotzdem den plattgemachten, langsam schwindenden Poster Teen des Selbstmords zu erkennen glauben, vor dem wir in die uns zustehende Erholungspause abbiegen müssen, dann ist es noch immer unsere eigene mediale Rückfederung, die wir dabei aufheben und personalisieren oder neotenisieren. Den Glauben daran aufzugeben, dass die hingewunderten Figuren Menschen seien, und sie stattdessen als Mitmenschen zu akzeptieren, war jene Konzession an die Realität, die im Fall Schreber zur Herstellung seiner bürgerlichen Rechte erforderlich war. Eben dies ist auch erforderlich, um Genesung in der neuen Weltordnung der Mediatisierung für erfolgreich erklären zu können, nämlich stabilisiert oder verschachtelt in der Aufrechterhaltung diplomatischer Beziehungen mit denen die eigene Welt durchquerenden Außenwelten des Menschen. Wenn im Roman der Kopfgeldjäger-und-Tester Deckard, unsicher geworden in seinem Glauben an eine klare Trennung zwischen Mensch und Android, vorschlägt, den Tests zur Identifikation von Androiden weitere Fragen hinzuzufügen, die das Einfühlungsvermögen der Testperson in Androiden erfassen sollen, dann kommt er Dicks eigenen metaphorischen oder metaphysischen Überlegungen zu den Bedingungen der Unterscheidung relativ nahe, über die sich der Autor in zahlreichen Interviews und Aufsätzen geäußert hat. In Träumen Androiden von elektrischen Schafen? identifizieren wir allmählich die Projektion der so genannten Androiden durch das sehende Ich von Isidore, der ein durch Strahlen hervorgebrachter Schwachkopf ist. Dieser Kretin oder christliche Anhänger des Mercerismus – jenem hiesigen säkularen Kult der Empathie mit Tieren (der weitaus mehr mit einem Wort aus Nietzsches Zarathustra als mit der gesamten jüdisch-christlichen Tradition gemein hat) – nimmt schließlich eine kleine Gruppe von Flüchtlingen bei sich auf, die sich als Androiden entpuppen. Als er von Besorgungen zurückkehrt, die er für die Flüchtlinge gemacht hat, entdeckt Isidore im Treppenhaus eine Spinne, die als ein lebendes Tier dem Besten und Begehrenswertesten seiner elenden Welt gleichkommt. Die Androiden, die in seiner Wohnung herumlungern, sehen im Fernsehen die
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Vgl. Hanns Sachs: „Die Verspätung des Maschinenzeitalters“, in: Imago 20 (1934), S. 78–94.
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Laurence A. Rickels Übertragung einer Reportage über den Schwindel des Mercerismus, der von Buster Freundlich moderiert wird, bei dem es sich, wie bei den meisten der rund um die Uhr zur Verfügung stehenden Prominenten der Kulturindustrie, nur um einen weiteren verkappten Androiden handelt. Als Isidore zurückkommt, schwanken seine Gäste zwischen gespannter Aufmerksamkeit gegenüber Buster Freundlichs Nachrichten und gierigem Interesse an dem mitgebrachten Ansichtsexemplar der Spinne. Braucht sie wirklich acht Beine? Schnipp! Die Verstümmelung der Spinne ist eine Art Untersuchungsbericht der Androiden. Sie ist nicht mit einem harmlosen Kinderspiel zu verwechseln, sondern verdient als eine pubertäre Psychopathie unsere Aufmerksamkeit. Genauer gesagt, improvisieren die Androiden damit unwillkürlich einen Tierversuch, der zur verkehrten oder enteigneten Vorgeschichte des Empathie-Tests in der Neuen Weltordnung gehört. Androiden durchschauen unsere Anhänglichkeit an Tiere und das dafür verantwortliche Gruppenband als eine ideologische List, während ihnen gleiche Rechte nicht zugestanden werden. Doch diese Wendung zur Politik kaschiert als Regression und Resistenz den etwas direkteren Zusammenstoß zwischen der Rebellion der Androiden und der totemistischen Anleitung der Eltern oder Vorfahren, welche die Tiere als Anweisung zur Trauer weitervererben. In „Trauer und Melancholie“ übermittelt uns Freud wie nebenher seine Einschätzung, dass die durchschnittliche Zeit der Trauer ungefähr zwei Jahre dauert.7 Dass diese zwei Jahre tatsächlich die grundlegende Einheit in jeder Chronik der Nichttrauer ist, finden wir in okkulten Romanen immer wieder bestätigt. In Shelleys Frankenstein zum Beispiel erneuert Victor Frankenstein jeweils nach zwei Jahren seinen Schwur, unbetrauerbare Körperbildungen zu erfinden, anstatt das aufzugeben und zu begraben, was bereits verloren ist. In einem ähnlichen Beispiel aus der unbekannten Dimension des Psy-Fi-Komplexes, wie wir sie in den späten fünfziger Jahren in einer der von Wernher von Braun mitverfassten fiktionalisierten Projektionen der Raumfahrt finden, taucht die Dauer von zwei Jahren auch im Hinblick auf Zukunftsplanung auf: „Es gibt keine Möglichkeit“, schreibt von Braun, „den Gesundheitszustand irgendeines Individuums um mehr als zwei Jahre im Voraus zu ermitteln“.8 Die zwei Jahre sind also doppelt markiert: Sie bezeichnen einmal eine Zeit durchschnittlichen Immunseins von einer Unterbrechung durch Verluste oder weitere Verluste. Andererseits bezeichnen sie jene Periode, über die Trauerarbeit das Todesurteil 7 8
Vgl. Sigmund Freud: „Trauer und Melancholie“, in: ders., Studienausgabe, Bd. III, Frankfurt a. M.: Fischer 1975, S. 193–212. Wernher von Braun/Willy Ley: The Exploration of Mars, New York: Viking Press 1956, S. 132. Übers. Nicola Behrmann.
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Halbes Leben fällt: den Zeitraum oder den Moment, in dem Trauer in Nichttrauer umschlagen kann. Sie bezeichnen die zeitverändernde Dauer der Gegenwart hin zur jüngsten Vergangenheit und zugleich einen precog scan der unmittelbar bevorstehenden Zukunft. Dies ist der doppelte Standpunkt, um den herum der Android konstituiert ist. Dem Androiden ist eine Lebensdauer von vier Jahren gegeben: ein Paar von zwei Jahresspannen. Wenn ein Android sein oder ihr Alter angibt – was auch für den Androiden aufgrund von false memories und scheinbarem Alter schwierig festzustellen ist – sind immer zwei Jahre vergangen und zwei weitere liegen vor ihm. Als fertige Imitationsjugendliche und ganz wie unsere Haustiere überspringen die Androiden die Kindheit im menschlichen Sinne. Die auf einem metabolisch verstärkten Lebensplan stehenden Androiden sind in gewisser Weise, wie unsere Gefährten-Spezies, Teenager: sie sterben immer jung.
II In Dicks Oeuvre wird die schizoide Innenansicht von Entropie oder Todestrieb als Zweck und Triebkraft des Lebens entweder betont, oder ihr wird eine Pause gewährt, oder sie wird zwischenmenschlich durch eine erste Einsicht in dein menschliches Gegenüber initiiert, allerdings als skelettartiges, robotisches Gestell*. Vorerst überlebt dann der prothetische Rahmen der Techno-Relationen den Verfall, den er aufdeckt. Zusätzlich zur Widerstandsfähigkeit der internen Prothese gibt es für uns angesichts von Dissolution noch eine weitere Notbremse. Es ist die Wiederbelebung ausgestorbener Tiere, die den Kollaps in die sogenannte Grabwelt rückgängig machen und zur Rettung der untergehenden Welt führen kann. Das Wort Grabwelt stammt aus Ludwig Binswangers „Der Fall Ellen West“.9 Die umfassende Dialektik, die Binswanger bei der Aufklärung dieses Falls entwickelt, bezieht an ihrem anderen Ende die unerreichbar weit entfernte ätherische Welt mit ein. Binswanger erfasst die Bindung seiner Patientin in dem Wort Schlinge* [im Original Deutsch; Anm. d. Übers.]: eine Schleuder, Schlaufe oder sogar Falle, die sich als Tierfalle entpuppt. Verschlingen*, ein sich selbst durch die Schlinge ziehen, impliziert etwas herunterzuschlingen oder gierig zu essen wie ein Tier. Binswanger zufolge nimmt Ellen auf genau diese Art und Weise Essen zu sich, wenn sie isst, wie sie möchte oder muss: sie schlingt es herunter. In der Zeit ihrer Warte-
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Siehe Ludwig Binswanger: „Der Fall Ellen West. Eine anthropologisch-klinische Studie“ [1944/45], in: ders., Ausgewählte Werke, Bd. 4, Heidelberg: Roland Asanger 1994, S. 73–209.
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Laurence A. Rickels rei und ihrer Übergewichtigkeit zieht das Problem von Essen und Tod sie wie Schwerkraft in eine grabesschwere Welt. Dick hat sich mit der Grabwelt im Rahmen einer science fiction auseinandergesetzt, welche die eingleisige Opposition zur ätherischen Welt ausklammerte. Das zur ätherischen Welt gehörende Fantasy-Genre war nicht nur Dicks erster Kontakt mit der Literatur und wurde sein bevorzugtes Medium, sondern es beschäftigte ihn und seine Figuren als eine schicksalhafte Versuchung durch sein ganzes Werk hindurch. In einem Interview betonte Dick den Gegensatz zwischen Fantasy und Science Fiction innerhalb ihrer jeweiligen Aufbewahrungsdauer: „In der Fantasy glaubst du nicht wirklich wieder daran, dass es Trolle, Einhörner … und so weiter gibt. Aber in Science Fiction, da liest du es und auch wenn die hier geschilderten Dinge noch nicht Wirklichkeit geworden sind, werden sie es einmal sein. […] Es scheint so, als würde Science Fiction immer in alternativen […] Universen auftreten.“10
Für J. R. R. Tolkien in seinem Essay „On Fairy Stories“ ist der Grund der Faszination von Fantasy das Christentum: eine Fantasie, die auch wahr sein könnte.11 Das Happy End mag im normalen Alltag eskapistisch sein, aber am Ende (des Lebens) wird es zur Großen Flucht, zur Überwindung des Todes, die das Christentum anpreist. In diesem Leben gehen wir in der Fantasy ein und aus. Doch wenn wir sterben, betreten wir ganz im Ernst die andere Welt der Fantasy. Dick war zwar überzeugter Christ, aber auch paranoid und daher misstrauisch gegenüber dem Fehlen von Ambivalenz. Sogar in Ubik,12 wo das austauschbare Wesen der die Vollkommenheit anpreisenden Konsumentengötter sich selbst im letzten Werbespot als christlicher Gott ankündigt, gesteht der Roman der Werbung an keiner Stelle eine Wahrheit zu, welche der Fantasy-Moment in dieser doppelten Massenkultur sein würde. In einem erstaunlichen Akt der Verleugnung identifiziert Binswanger die einseitige Welt ätherischer Phantasien oder Wünsche als das gemeinsame Fachgebiet von Christentum und Psychoanalyse. Damit jedoch sicherte er einen Geheimplatz für seine eigene Identifizierung mit seiner Patientin, die vor ihm bereits zwei klassische Analytiker aufgesucht hatte. Binswanger beschloss, Ellens Vorliebe für die andere Welt zu unterstützen, obwohl er damit letzten Endes 10 Arthur Bryan Cover: „Vertex Interviews Philip K. Dick“, in: Vertex 1/6 (1974), S. 34–37, hier S. 34. Übers. Nicola Behrmann. 11 Vgl. J. R. R. Tolkien: „On Fairy-Stories“ [1947], in: The Monsters and the Critics and Other Essays, hg. v. Christopher Tolkien, London: Allen & Unwin 1983, S. 109–161, hier S. 155–156. 12 Siehe Philip K. Dick: Ubik [1977], München: Heyne 2003.
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Halbes Leben zu ihrem Selbstmord beitrug. Er war ebenso wie sie der Meinung, dass der Selbstmord ihre letzte Chance auf Befreiung und auf einen freien Akt überhaupt darstellte, da sie ansonsten nur Aussichten auf eine unaufhaltsam einsetzende chronische Schizophrenie hatte. Die abweichende Handlung, der Binswanger als letztem Versuch des Daseins zu sich selbst zu kommen den Vorzug gab, könnte die zufällige Form einer physischen Krankheit annehmen, des plötzlichen Todes eines Familienmitglieds, eines Angriffs oder Schocks – während uns auf Seiten des Ausagierens Selbstmord, Mord, andere Formen von Gewalt, Brandstiftung, oder das langsame Verbrennen einer Hand auf dem Herd begegnen. Im letzten Fall war es Binswangers Patientin Ilse, die auf diese Weise den Beginn ihres Zusammenbruchs markierte.13 Indem sie ihrem Vater ihre brennende Hand widmete, schob sie alles auf diesen und führte damit Binswanger eigenhändig zu ihrer Stabilisierung. Nach einem Jahr in der Klinik konnte Ilse, vollkommen geheilt von akuter Psychose, nach Hause entlassen werden. Vor ihrer Hospitalisierung und im Anschluss an ihr Handausstrecken beschäftigte sich Ilse mit allem Möglichen, mit anderen Worten: sie mutete sich zuviel zu, und sie las, wie Binswanger betont, Freud.14 Während eines Erholungsaufenthalts in einem nahe gelegenen Kurort, zu dem sie sich entschließt, bemerkt Ilse bei einer (laut vorgetragenen) Lektüre einer Novelle von Gottfried Keller, dass diese eine Reihe eindeutig auf sie bezogener Anspielungen enthielt. Mit Freud könnte diese letzte Zuflucht als der Moment bezeichnet werden, an dem Genesung tatsächlich mit dem Ausbruch von wahnhaften Anspielungen zusammenfällt. So hatte Ilse das Gefühl, sie werde „‚zum Mittelpunkt gemacht‘“. Weiter erklärt sie: „‚Man wollte eben den Versuch machen, wie ich auf alles reagieren würde.‘“15 Die Hand, die sie ihrem Vater und mittels der Vater-Übertragung auch den sie behandelnden Ärzten hinhielt, war also nicht ganz so aus dem Zusammenhang gerissen wie das Opfer, als das Binswanger diesen Vorfall deutet, sondern gehörte bereits zu einer Reihe von Tests. Testen bei paranoider Schizophrenie, wie Binswanger im Fall von Suzanne Urban, einer anderen Patientin von ihm, darlegte, bewohnt die Realitätsprüfung allerdings nur als ein für immer verurteiltes Terrain:
13 Vgl. Ludwig Binswanger: „Wahnsinn als lebensgeschichtliches Phänomen und als Geisteskrankheit“, in: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, 110/3–4 (1945), S. 129–160. 14 Vgl. ebd., S. 130. 15 Ebd., S. 131.
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Laurence A. Rickels „Während hier die Erfahrung von einem Erfahrungsschritt zum andern, also diskursiv, weiterschreitet, geleitet von der immer wieder der Prüfung unterstellten Zuverläßlichkeit, Beständigkeit und Konsequenz dieser (natürlichen) Erfahrungsweise, dreht sich die wahnhafte Erfahrung ständig im Kreise herum.“16
Während ihrer „Martyriologie“, als die sie selbst ihren Zustand bezeichnete,17 konnten Suzanne keine neuen Testfragen gestellt werden, die nicht zur wahnhaften Erfahrung gehörten. Erfahrung erweiterte nicht ihren Vorrat an Neuem, sondern bestätigte eher ursprüngliche Vorbehalte. Die wahnhafte Welt war daher fraglos zuverlässig, mit anderen Worten: nicht geprüft.18 Der Fluchtpunkt der Realität ist in Suzannes Fall von einer Folter-prüfenden Maschinerie eingefasst, die an Schrebers Wahnsystem erinnert. In seiner Interpretation reduzierte Binswanger diese allerdings auf eine Bühnenmaschinerie im Dienst unfreien Schauspielens oder von Handlungen, die sich auf schlichte Anordnungen beliefen: „Mit der Reduzierung der Welt dieses Wahns auf eine bloße Kontaktwelt hängt auch das Vorherrschen der Technik und der technischen Apparatur zusammen. Die Technik wird hier aber durchaus zur ‚Bühnentechnik‘ verwendet, d. h. sie dient mit ihren Apparaten lediglich der Verwirklichung einer bestimmten Absicht, hier also der Absicht der Kompromittierung, Verhöhnung, Marterung, Vernichtung.“19
Suzanne Urbans Wahn übersteigt jede Tragödie, er geht weiter als es dem Drama gelingen kann* – „auch“ (fügt Binswanger vergleichsweise hinzu) „dem schauerlichsten Drama des Barock“.20 Er trennt ausdrücklich die psychotische Phase der Martyriologie, in der Suzanne dem Wahn eines „‚blutigen Apparates der Zerstörung’“21 unterliegt, von eigentlicher Melancholie. Und doch hat Walter Benjamin, der hier unausgesprochen Freud folgte, die Melancholie im Trauerspiel mit dem endopsychischen Sensurround von Schrebers eigener Martyriologie als sogenannte „geprüfte Seele“ verbunden. Was anhand dieser Bruchstellen zum Vorschein kommt, ist die allzu oft verfehlte Verbindung zwischen Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels und seinen späteren medientheoretischen Aufsätzen, in denen das Testen im Vordergrund steht. Wie Benja-
16 Ludwig Binswanger: „Der Fall Suzanne Urban“ [1952], in: ders., Ausgewählte Werke, Bd. 4, Heidelberg: Roland Asanger 1994, S. 210–332, hier S. 281. 17 Vgl. ebd., S. 243. 18 Vgl. ebd., S. 281. 19 Ebd., S. 260. 20 Ebd., S. 270. 21 Ebd., S. 294.
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Halbes Leben min betont, war der barocke Märtyrerpomp bereits von dem einzigen Genre der Passion zurückgezogen, über das die Inquisitoren Bescheid wissen wollten. Dass der Märtyrer damit begann, eine Joboder Hiobs-Bewerbung auszufüllen, ist ein Hinweis auf das ungesicherte Treueband. Benjamin zufolge hatte das barocke Märtyrerdrama „mit religiösen Konzeptionen […] nichts gemein“. Der durch und durch in Immanenz verstrickte Märtyrer ist „ein radikaler Stoiker und legt sein Probestück aus Anlass eines Kronstreits oder Religionsdisputes ab, an dessen Ende Folter und Tod ihn erwarten“.22 Als ein Paralleluniversum zur Restauration der Ordnung durch die Tyrannei etabliert diese stoische Technik folglich einen Notstand der Seele oder der Psyche. Diese Ausgrabung oder Restauration von Testverbindungen bei Benjamin steht beispielhaft für einen metapsychologischen Umstand, den Avital Ronell in The Test Drive präsentiert hat: „Wenn sie dem Ruf offener Endlichkeit folgt, neigt gerade die Struktur des Testens dazu, die Gewissheit, die es etabliert, zu überholen.“23 Auf ihrem Weg zur Genesung durchlebte Binswangers Patientin Ilse eine Reihe wahnhafter Prüfungen und Torturen: „Die Kranke wird in unsere Anstalt verbracht, wo sich der Beziehungswahn wieter entwickelt, begleitet von einem Liebeswahn, der sich nicht nur darin äußert, daß Ilse glaubt, von den Ärzten geliebt und auf die Probe gestellt zu werden, sondern auch, daß sie die Ärzte lieben müsse.“24
Die Ärzte verstärkten „alle Triebe in ihr, damit sie sie reinigen solle, den Trieb zur Liebe und den Trieb zur Wahrheit. Darin bestünde ja die ‚Behandlung‘, aber sie greife sie sehr an. Bald sieht sie in dieser Behandlung aber nur noch eine Quälerei.“25 Auf die Verschaltung von Test und Tortur macht uns Binswanger lediglich in einer Fußnote aufmerksam. Er versichert uns, dass diese sogenannte Behandlung Ilses Wahn war und dass keine psychoanalytischen Versuche in ihrem Fall vorgenommen wurden.26 Während es Suzanne nie gelang, dem Geleise ihrer Martyriologie zu entkommen, verhalf sich Ilse selbst zur Restauration der Realitätsprüfung. Realitätsprüfung und Übertragung (und, nicht genannt, aber auf dieser Linie ebenfalls impliziert: Trauer) gehörte zu
22 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels [1928], in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. I.1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 203–240, hier S. 253. 23 Avital Ronell: The Test Drive, Urbana: University of Illinois Press 2005, S. 5. Übersetzung Nicola Behrmann. 24 L. Binswanger: „Wahnsinn als lebensgeschichtliches Phänomen“, S. 32f. 25 Ebd., S. 33. 26 Vgl. ebd.
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Laurence A. Rickels den zwei oder drei Dingen, die Freud über die Trennung oder borderline zwischen Normalen oder Neurotikern einerseits und Psychotikern andererseits wusste. Realitätsprüfung und Trauer stehen sogar noch enger zusammen als Anordnung und Ausführung. Die Trauer ist eine Realitätsprüfung: Es gibt keine Realität, die der eines Verlusts gleichkommen würde. Folglich ist (wie in der Melancholie) das Verhältnis zum Verlust das Ausschlaggebende einer Psychose. Wenn wir das nicht vorfinden, was normalerweise psychotische Zustände im Zuge ihrer Eliminierung definiert, so werden, wie der Fall Ilse und entgegen Binswangers Anordnungen zeigt, die borderlines der Lesbarkeit zwischen Neurose und Psychose innerhalb einer Psychose neu gezogen.
III In Das Offene. Mensch und Tier geht Giorgio Agamben in einem close reading von Heideggers Ausführungen über Mensch und Tier davon aus, dass nacktes Leben die letzte Bastion oder das letzte Verstehen von Mensch und Tier darstellt – dem Menschen als Tier – im einzig verbleibenden Kontext der Analyse gesellschaftlicher Beziehungen: dem der foucaultschen Biopolitik. Aber der nicht-maschinische Android, den Dick an dieser Stelle als Einbildungsprodukt unserer Teenagerzeit einführt, revalorisiert nacktes Leben als „electro cute“27 und erteilt somit zusammen mit der Massenpsychologie, ganz wie Nietzsche auf seinen Umwegen über das Christentum, eine verlängerte Garantie der Lesbarkeit. Ohne Tier-Zugang und totemistische Trauerarbeit schmieden die rebellierenden Androiden ihre Gruppenzusammengehörigkeit dennoch probeweise aus Leben oder Lebenstransmissionen: Drogen, Krankheiten und Medien. In dem engen Raum, den „Befreiung“ zwischen „Retten“ und „Erlösung“ erhält, schickt Agamben Benjamin vor, um durch das Beschwören einer „geretteten Nacht“ Heideggers Lektüre aus ihrer Sackgasse zu führen. Obwohl diese Nacht oder dieses Nichts nicht gerettet oder erlöst werden kann, qualifiziert sie sich dennoch als allegorische Rettung. Agamben gibt daher Benjamin das letzte Wort als letzte Möglichkeit, kurz vor dem Nichts innezuhalten, obwohl oder gerade weil er Benjamin als durch das Momentum und Gewicht der Heidegger-Lektüre vollständig überrollt inszeniert, oder besser: durch die Dynamik ihres Vorhers und Nachhers, ihrer Geschichte. Doch indem er Heidegger das Wort überlässt, kann Agam-
27 Das Wort „electrocute“ („Hinrichtung durch Stromschlag“) enthält auch eine Anspielung auf den „süssen“ („cute“) Teenager.
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Halbes Leben ben die Beschleunigung seiner Lektüre nicht noch mehr vorantreiben, sondern muss eben jene Unzulänglichkeit des Tieres ausbuchstabieren, mit der Heidegger selbst konfrontiert war. In Das Offene bleibt es daher Heidegger überlassen, den Freudschen Diskurs von Mensch und Tier zu akzeptieren (der auch Darwin eingeschrieben ist und von der Frankfurter Schule übernommen wurde, aber in Agambens Aufriss von Benjamins Denken fehlt). Agamben über Heidegger über Rilke: „Sowohl bei Nietzsche als auch bei Rilke ist jene Seinsvergessenheit am Werk, die dem ‚Biologismus des 19. Jahrhunderts und der Psychoanalyse‘ zugrunde liegt und ‚deren Folge eine ungeheuerliche Vermenschung […] des Tieres und eine entsprechende Vertierung des Menschen ist‘“. 28
Daher erfährt Rilkes Dichtung diese „‚geschichtegründend[e]‘ Entscheidung“ nicht und bleibt „der Gefahr einer ‚grenzen- und grundlosen Vermenschung des Tieres‘ ausgesetzt, die es sogar über den Menschen stellt und es zu einer Art ‚Über-menschen‘ macht“.29 Als Binswanger sich dem Durcharbeiten einer Phänomenologie der psychotherapeutischen Parameter in Richtung einer auf Heidegger basierenden sozialen Ontologie nähert, wendet er sich Jakob von Uexküll zu, dem Agamben seinerseits bis in jene letzten Winkel hinein gefolgt ist, in denen Heidegger die Tiere sicherstellte. Wenn die Menschheit zahllose Welten bewohnt und zugleich eine Welt gemein hat, dann passt der diese gemeinsame Welt überbietende Psychotiker in die Welt innerhalb der Welten, die von Uexküll den Tieren vorbehält. Binswanger: „Genau wie wir nun sagen würden: es sei nicht möglich, die Psychose eines Menschen zu beschreiben, wenn man nicht seine Welten völlig umschritten hat, genau so sagt v. Uexküll: ‚Es ist nicht möglich, die Biologie eines Tieres zu schreiben, wenn man nicht seine Funktionskreise völlig umschritten hat.‘ Und wie wir weiter sagen würden: deshalb ist man voll berechtigt, so viele Welten anzunehmen, als es psychotische Menschen gibt, sagt v. Uexküll: ‚Deshalb ist man voll berechtigt, so viele Umwelten anzunehmen als es Tiere gibt.‘“30
Im Hinblick auf den Komplex diverser Lektüren, welche mittlerweile die Umwelt des von Uexküllschen Korpus’ bilden, ist es der Begriff des Augenblicks in einer Welt der Markierungen und Notate, welche
28 Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 66. 29 Ebd., S. 67. 30 Ludwig Binswanger: „Über die daseinsanalytische Forschungsrichtung in der Psychiatrie“ [1946], in: ders., Ausgewählte Werke, Bd. 3, Heidelberg: Roland Asanger 1994, S. 231–257, hier S. 237.
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Laurence A. Rickels die hier vorliegenden Seiten bestimmt: als Schauplatz der Übersetzung ihrer Worte oder Welten der Differenz. Hier rekonstruieren wir das, was Agamben in Das Offene trotz seiner minutiösen Paraphrasierung des Abschnitts über die Zecke in von Uexkülls Streifzügen durch die Umwelten von Tieren und Menschen wegließ. Mit dieser 1933 erschienenen Broschüre hat von Uexküll seine Forschungen populär gemacht, die fünfundzwanzig Jahre vorher seinen Ruhm begründet hatten.31 Am Schluss seiner Darstellung der Umwelt oder des Wahrnehmungsfeldes der Zecke als einer verarmten aber sicheren Welt bemerkt von Uexküll, dass sich aus dieser einen Einsicht die grundlegenden Charakteristika der Bildung von Umwelten ableiten lassen, welche auf alle Tiere angewendet werden könnten. Doch es gibt noch eine weitere Fähigkeit, welche die Zecke auszeichnet und die, wie von Uexküll verspricht, „uns einen weiteren Einblick in die Umwelten eröffnet“.32 Zecken besitzen die Fähigkeit, über einen unbegrenzten Zeitraum auf das Überleben ihrer Gattung zu warten. Und dann bemerkt von Uexküll etwas, worauf Agamben nur gewartet hat: Im Zoologischen Institut in Rostock wurde eine Zecke mehr als achtzehn Jahre dadurch im Wartezustand gehalten, dass ihr die Nahrung entzogen wurde. Diese aus ihrem Kontext gerissene Andeutung, mit der ein Abschnitt in Das Offene endet, verbindet Agamben vage mit von Uexkülls Einführung des Augenblicks als kleinstmöglichen und grundlegendsten Zeitraum, in der die Welt stillsteht. Zumindest stilistisch, als ein Übergang, ist die Zecke hier beinahe freudianisch geworden. Die achtzehn Jahre der Rostocker Zecke erinnern an dieselbe Zahl in einem anderen Zusammenhang, nämlich in jenem Achtzehntel einer Sekunde, in der ein Augenblick des Menschen andauert. Den augenblicklichen Nachweis liefert an dieser Stelle eine Fußnote: „Den Beweis dafür liefert das Kino. Bei der Vorführung eines Filmstreifens müssen die Bilder ruckweise nacheinander vorspringen und dann stillstehen. Um sie in voller Schärfe zu zeigen, muss das ruckweise Vorspringen durch Vorbeiführen eines Schirmes unsichtbar gemacht werden. Die Verdunkelung, die dabei auftritt, wird von unserem Auge nicht wahrgenommen, wenn das Stillstehen des Bildes und seine Verdunkelung innerhalb einer Achtzehntelsekunde geschieht. Wird die Zeit länger genommen, so entsteht das unleidliche Flimmern.“33
31 Siehe Jakob von Uexküll: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten [1933], Hamburg: Rowohlt 1956. 32 Ebd., S. 29. 33 Ebd., Anm. 2.
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Halbes Leben Die Dauer eines Augenblicks ist von Tier zu Tier unterschiedlich. Doch wie lang auch immer wir den Augenblick der Zecke veranschlagen, liegt es jenseits des Möglichen, eine unveränderte Umwelt achtzehn Jahre lang zu überstehen. Von Uexkülls Annahme, dass ein schlafähnlicher Zustand die lange Zeit der Zecke suspendiert, liest oder übersetzt Agamben an dieser Stelle nicht ganz korrekt. Während von Uexküll davon ausgeht, dass dieser Zustand stets dann eintritt, wenn wir über einen längeren Zeitraum hinweg auf etwas warten müssen, geht Agamben davon aus, dass dieser Zustand jede Nacht im Schlaf eintritt. Dass wir wie Ellen West schlafen würden, um den Zeitverlust beim Warten zu halbieren, entgeht von Uexkülls Aufmerksamkeit in Bezug auf das Warten der Tiere. Was Benjamin als das optische Unbewusste bezeichnet hat, ist durch Möglichkeiten eröffnet worden, die Film und Projektion boten, beispielsweise die Beschleunigung und Verlangsamung unseres Wahrnehmungsfeldes. Benjamins Beispiele lassen sich mit dem Disney-Film Die Wüste lebt (1953) zusammenfassen: Wir müssen nur ein wenig Regenwasser hinzufügen und das Wachsen, Krabbeln, Blühen und Befruchten in der ganzen Wüste ist im Zeitraffer auf der Leinwand zu sehen. Doch von Uexküll betont, dass sich die Erweiterung des Wahrnehmungsfeldes unserer jetzt nicht mehr von Unsichtbarkeit gehinderten Ich-Sonde auch auf die Umwelten vorbeiflitzender oder auch nur vorbei kriechender Tiere erstreckt, die jetzt dank technischer Kalibrierung von uns wahrgenommen werden können. Dass die Wahrnehmung der Umwelt, zumindest was ihre Zeitigung angeht, eine andere Welt sein kann, ist das erste, was wir von Tieren und Psychotikern lernen, was von Uexküll durch das Kino belegt sieht. In Dicks Marsianischem Zeitsturz34 wird der autistische und schizophrene Junge Manfred als ein Versuchsobjekt verwendet für neue Theorien aus der Schweiz über die relativ langsame Wahrnehmung der Umwelt des Psychotikers, der die normale Umwelt oder die bekannte Welt nur als ein unerträglich schnelles Vorspulen registriert. Manfred springt weit in die Zukunft vor – und du weißt nur dann, dass du es mit der weder durch Wunscherfüllung noch Phantasien vermittelten Zukunft zu tun hast, wenn es die Grabwelt ist. Der von Schizophrenie geheilte Jack Bohlen wird angestellt, um eine Maschine zu bauen, die den Input der bekannten Welt in Audio- oder Videoaufzeichnung übersetzt, welche wiederum verlangsamt werden, um sich Manfreds Umwelt-Wahrnehmung anzupassen. Die Kommunikation des Jungen würde umgekehrt auf schnell gedreht werden, um unsere Ohren zu erreichen.
34 Siehe Philip K. Dick: Marsianischer Zeitsturz [1973], München: Heyne 2002.
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Laurence A. Rickels Um Kommunikation zu ermöglichen, modifiziert diese Zeitmaschine die Umwelt oder das Wahrnehmungsfeld in der Weise, in der Dressur Anspruch auf Dressierbarkeit erhebt. Im Schlusskapitel ihres Buches Adam’s Task bringt Vicki Hearne Autismusforschung in die interdisziplinäre Erkundung der Frage ein, inwiefern die Dressur von Hunden und Pferden als ein größtenteils veredelnder Test mit ihrer Dressierbarkeit übereinstimmt. Autismus könnte darauf hinweisen, dass so etwas wie Dressur – oder noch besser: Dressierbarkeit – ein noch bedeutsameres Kriterium für Relationalität und Möglichkeit darstellt als Sprechen oder Nichtsprechen. Doch wie die Langeweile, ein Heideggersches Supplement, das Agamben ebenfalls gegen die Animalisierung und Technologisierung der Menschheit aufzubieten versucht, verpflichtet uns die menschliche Krankheit Autismus nicht dazu, ein Kontinuum mit dem dressierbaren Tier zu teilen. Während Tiere so großzügig in ihren Erwiderungen uns gegenüber sind, kann die den Menschen konstituierende Fähigkeit des Sprechens immer auch beinhalten, dem anderen nicht zu antworten oder vom anderen nicht beantwortet zu werden. In dem Moment, in dem wir zum ersten Mal bemerken, dass ein von uns geäußerter Wunsch nicht unbedingt vom anderen erwidert werden muss, treiben uns, so vermutet Hearne, die sich darauf unweigerlich einstellenden Widersprüche und Verwirrungen zu Philosophie und Dichtung. Der daraus resultierende Fokus auf bestimmte Aspekte unseres Intellekts und unserer Imagination – zum Ausgangspunkt des Menschlichen zurückzukehren – endet mit einer, wenn auch weniger extremen Manifestation autistischer Selbststimulierung. Hearne zufolge und Ivar Lovaas zufolge wäre das autistische Kind dann das Nebenprodukt unserer einzigartigen evolutionären Entwicklung. Das dressierbare Tier, fügt Hearne hinzu, ist wichtig für „einen Stamm, so einsam und bedroht wie es der unsrige die meiste Zeit über ist.“35 Weil das Tier antwortet, bieten wir im Gegenzug und um unsere Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen die Dressur an. Mit seiner Studie über Tiere und Menschen Vom Spielraum der Freiheit. Die Bedeutung des Spiels bei Tier und Mensch betritt der Psychoanalytiker Gustav Bally ein mit Vorgängern – vor allem von Uexkülls und seiner Studenten – überlaufenes Feld, welches als Überinformation oder Überstimulierung seines Wahrnehmungsfeldes dem Tier ein freieres Spiel geistiger Fähigkeiten garantiert, während das eigentliche Ziel verschleiert wird. Bally führt diese Angst der Beeinflussung weiter aus und fasst Befunde zusammen, die in
35 Vicki Hearne: Adam’s Task. Calling Animals by Name, London: George Wiedenfeld 1987, S. 265.
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Halbes Leben Bezug auf Tierversuche nachweisen, dass die besten Resultate durch ein nicht-katastrophisches, aber unerwartetes Reizmittel erzielt werden. Tierversuche und die Studie von Tierverhalten und -lernen ergeben manchmal das gleiche Forschungsfeld. Reizmittel, die mit Strafen zusammenhängen, lassen das Tier vorsichtiger werden, erweitern die Sicht auf die nahe liegende Umwelt und führen zu neuen Lösungen. Ein maßvoller Elektroschock erweist sich als höchst effektives Alarmsignal bei der Erzeugung einer heilsamen Schreckreaktion. Der Alarmeffekt unbekannter Faktoren erweitert die unmittelbare Umwelt des Tieres und differenziert sie. Das Tier hält inne und beginnt mit dem Denken: „Das Tier ist nicht, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte, ganz zur Funktion seines sensorischen Apparates geworden, wie etwa ein in Meditation Versunkener. Es ist ganz […] mögliche Bewegung. […] Oft werden ganze Bewegungsfolgen wie zur Probe ausgeführt. […] Die Tiere denken bewegt. Denken, sagt Freud, ist ein Probehandeln.“36
Im zweiten Teil der Studie, die sich mit dem spielenden Menschen beschäftigt, betont Bally, dass einzig der Hund bereit ist, gute Eindrücke aufzunehmen, wozu selbst Schimpansen nicht fähig sind.37 Bereits ein Welpe kann dem menschlichen Fingerspiel folgen und sich daran erinnern, welche Hand das Fressen reicht. Die hündische Bereitschaft, die Eindrücke der Dressur oder des Testens aufzunehmen, übersteigt das einseitige Feld der Verhaltensforschung und -therapie und bezieht eine auf dem Austausch der verschiedenen Spezies beruhende Kommunikation mit ein.
IV Während Vicki Hearne ihrer philosophischen Studie ein kurzes Nachwort anfügte, in dem sie zur einer Ausweitung der Rechte von Blindenhunden auf alle dressierten Begleithunde aufrief, hat Donna Haraway versucht, die Beziehung zu unserer „Gefährten-Spezies“ entlang jener Funktionen neu zu verknüpfen, denen wir unsere Arbeitsbeziehung verdanken.38 Ich unterstütze den Arbeitseinsatz von Schafe hütenden Hunden in einem letzten Ende durch das Internet möglich gemachten Clearing. Aber während ich in Unterstützung zurückbellen möchte, komme ich nicht so einfach um die ursprüng36 Gustav Bally: Vom Spielraum der Freiheit. Die Bedeutung des Spiels bei Tier und Mensch, Basel: Schwabe 1966, S. 37. 37 Vgl. ebd., S. 65. 38 Vgl. Donna Haraway: The Companion Species Manifesto: Dogs, People, and Significant Otherness, Chicago: Prickly Paradigm Press 2003.
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Laurence A. Rickels liche Zeit herum, die unausweichlich unsere ersten Interspezies-Beziehungen vermittelt und sie auf der Bühne oder in der Phase des Trauerspiels zutiefst allegorisch färbt. Dies sei an dieser Stelle meine Intervention. Im Ursprung des deutschen Trauerspiels beschreibt Benjamin den Hund als eine allegorische Figur der Melancholie. Der Hund wirft seinen Schatten auf das Und. Er steht emblematisch für die finstere Seite der Melancholie durch den tollwütigen oder manischen Aspekt des Verfalls des fragilen Spleens bei melancholischen Menschen und befallenen Hunden. Aber auf der lichten Seite, mit der Benjamin diese Emblemaufschrift beschließt, sind es ebenso die Ausdauer und der Spürsinn des Hundes, die das Bild des unermüdlichen Grüblers – dem anderen Melancholiker – inspiriert haben. Diese Doppelbedeutung des Hundes als Maskottchen der Melancholie findet sich auch in Kafkas „Forschungen eines Hundes“. Wenn wir uns seine Vergangenheit anschauen, ist der hündische Protagonist hier manisch-depressiv, erweist sich jedoch durch die ganze Erzählung als ein melancholischer Grübler, dessen endlose Forscher-Irrwege an einer kritischen Stelle des Textes einer von den „Urvätern“ in die Wege geleiteten Abirrung zugeschrieben werden. In einem auf den 17. Dezember 1934 datierten Brief reagiert Adorno auf Benjamins „Kafka“-Aufsatz, wobei er zweimal unter Rückgriff auf das Vokabular in Benjamins Ursprungsbuch interveniert. Weil Odradek im Haus seines Vaters als dessen Sorge* und „Gefahr“ wohnt, werde uns hier, so Adorno, die Präfigurierung der Überwindung des kreatürlichen Schuldverhältnisses aufgezeigt. Diese Sorge* – „wahrhaft ein auf die Füße gestellter Heidegger“39 – ist die verheißungsvolle Chiffre der Hoffnung. Dankbar erwidert Benjamin am 7. Januar 1935, er könne nun zum ersten Mal auch Kafkas „Forschungen eines Hundes“ thematisieren (die er fälschlich als „Aufzeichnungen eines Hundes“ erinnert und ihnen damit ein kommunikatives Potential zuschreibt). Vor Adornos Interventionen habe gerade diese Geschichte ihm, Benjamin, wie ein Fremdkörper ihr „eigentliches Wort“ zurückbehalten.40 In der jüngeren Vergangenheit haben Forschungen über den Ursprung von Hund/Und* Schlagzeilen gemacht. In evolutionärer oder in Sci-Fi-Terminologie ausgedrückt, stellte diese Hypothese (sogar als bloßes Hirngespinst) eine Herausforderung dar an die herkömmliche Vorstellung von Evolution als einer aufsteigenden Linie, die uns einen Schimpansen auf die Schulter gesetzt hat. Der neuen Theorie zufolge ist so etwas wie alternative Realität an den Seiten39 Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, 17.12.1934, in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. II.3, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 1176. 40 Walter Benjamin an Theodor W. Adorno, 7.1.1935, in: ebd., S. 1177.
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Halbes Leben linien emporgewachsen, die in einer plötzlichen Mutation (und nicht Domestizierung) eine Anzahl von Wölfen in eine neue Spezies verwandelt hat, die entweder dazu getrieben wurden oder darauf programmiert waren, unsere nonverbale Kommunikation zu lesen und zu verstehen. Vermutlich musste sich diese Beziehung einigen Prozessen oder Versuchen unterziehen. Die mit uns Kontakt aufnehmenden Hunde näherten sich unserem Lagerplatz und wurden durch unser Unverständnis und unseren Hunger auf eine heftige Probe gestellt. Daher geht auch Freuds Urvater-Mythos zu den Hunden. DNA-Tests zufolge befindet sich der gemeinsame Ursprungsort aller Hunde dieser Welt in Ostasien. Dies ist auch der Erdteil, an dem die ambivalente Beziehung zu Hunden noch immer ausgelebt wird. Irgendwann müssen wir bemerkt haben, dass der Hund uns als ein Leser und Lehrer begegnet und nicht als freiwillige Beute. Ganz wie, oder genauer gesagt: als der Urvater, der einst von seinen Söhnen verschlungen wurde, führt der Hot Dog Trauer als Problem, Kondition und Erbe ein (wofür dann seine hündischen Nachfolger, die Embleme der Melancholie, als Maskottchen dienten). In Wagners Tristan und Isolde verflucht Isolde das Und, das sie an Tristan bindet und sie von ihm trennt – und sie beide dennoch leben lässt. In ihrem Liebestod versucht sie, das Und zu beseitigen: „Doch dieses Wörtlein: und, – / wär’ es zerstört, / wie anders als / mit Isoldes eignem Leben / wär’ Tristan der Tod gegeben?“ Nichts umgeht Trauer (oder Nichttrauer) so unverzüglich wie massenhafte Selbstzerstörung. Dicks nicht-maschinische Androiden lassen sich diesen Subtraktionen noch hinzufügen, wobei sie bereits im Namen oder Spitznamen – als Andy – ihre eigenen möglichen Additionen subtrahieren, personalisieren und aufnehmen. Nur mit dem Überleben oder dem Vorübergehen der Adoleszenz wird die einzigartige Evolution des Menschen übertragen. Der Übermensch, so korrigiert Freud Nietzsche, gehört nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit. Über uns steht weiterhin der Urvater der Vorgeschichte. Aber es gibt noch eine andere Vorgeschichte, wie Adorno in einem auf den 4. August 1935 datierten Brief an Benjamin und wieder mit Referenz auf das UrsprungBuch mitteilte: der am meisten verdrängte Zeitraum ist die jüngste Vergangenheit, die uns daher stets als Vorgeschichte erscheint und uns nur als Katastrophe und Wiederkehr begegnet. Diese unterdrückte jüngste Vergangenheit wird in der Zeit der Trauer wieder ausgegraben. Darwins Evolutionstheorie wird häufig als eine progressive Entwicklung der Spezien verstanden, welche über Leichen geht, die nicht einzeln gezählt, sondern nur als Teil eines Milieus für die Selektion überlebender Eigenschaften erfasst werden. Doch in der Zeitspanne zwischen der jüngsten Vergangenheit und der Trauer über diejenigen, die uns am nächsten gestanden haben,
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Laurence A. Rickels lässt die Evolutionstheorie zugleich die Möglichkeit einschneidender grundlegender Veränderungen offen, wie sie etwa von der Erfindung und Einführung neuer technischer Prothesen herrühren kann. Übertragen auf technologische Veränderungen hat die Evolutionstheorie zahllose Phantasien und Fiktionen von engen Begegnungen mit Tier-, Pflanzen- und Maschinenarten inspiriert, die sich über uns hinaus durch das Rückspulen und die Playback-Funktionen evolutionärer Zeit vorwärts bewegten. Die Phantasie von Zeitreisen rechnet ferner mit neuen Zeiteinheiten, die uns die technische Evolution gebracht hat. Zum größten Teil zeigen uns die Zeitreise-Fiktionen allerdings die Vergangenheit in der Zukunft, vor der auszuweichen wir in Form einer Warnung gerade noch die Möglichkeit erhalten. Dick hat in seinen Geschichten die Zeitreise immer weiter differenziert und internalisiert. Bei ihm reist man vor allem durch die jüngste Vergangenheit, um die Toten entweder in medien-technologische Echtzeit oder in ausgedehnte Lebenszeit zu zerren, eben dorthin, wo sie noch besucht werden können. Wie in seiner Verwaltung von Zeitreisen verkuppelte Dick den Einsatz von alternativer Geschichte oder alternativer Realität mit einer auf die jüngste Vergangenheit gerichteten Gegenwart. Die Faszination mit vergangenen Leben lehnte Dick als eine gewöhnliche Fantasy ab. Er trieb stattdessen seine Konzeption alternativer gegenwärtiger Realitäten voran (welche durch Zeitreisen mit der jüngsten Vergangenheit verschaltet werden, die ihrerseits durch den Wechsel gestaffelt werden, aber niemals verändert werden kann). Innerhalb eines sich ausweitenden Archivs von Endlichkeit demontiert Dick die Gegenwart dann als Fluchtpunkt der jüngsten Vergangenheit, dem großen Verdrängten, wo sich die Toten befinden. In Dicks Ubik ist das „halbe Leben“ eine Variante des Fahrplans durch alternative Zeiten, in der die Toten und die Überlebenden in Kontakt bleiben. In der Kondition des halben Lebens wird der Verstorbene als geisterhafter Gesprächspartner zwischen erstem und zweitem Tod suspendiert. In einem Halb-Leben stirbt man zwar, aber nicht so schnell, oder besser gesagt: die Endgültigkeit ist fürs erste durch einen fehlenden Zusammenhang disloziert worden, wie etwa bei jenem kreatürlichen Zustand von Kafkas Jäger Gracchus. Als technologische Erfüllung modernen Spiritualismus’ setzt die Kontrolle des halben Lebens die Grabwelt an jener undichten Stelle frei, von der es die Überlebenden und Untoten gleichermaßen anspringt. Der Teenager im Herzen des Untodes treibt die besten Pläne der Wiedervereinigung und Erinnerung auseinander. So dreht der als Teenager gestorbene Jory unter den Halb-Lebenden durch, indem er die verschlingt, mit denen er verbunden ist und damit Endlichkeit selbst in dem lang anhaltenden Nachleben des halben Le-
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Halbes Leben bens oder des Gespenstischen leugnet. Dadurch macht er für alle anderen den Aufschub des zweiten Todes rückgängig und wendet den liminalen Bereich des halben Lebens in die Grabwelt zurück, welche wiederum in die Welt des ganzen Lebens hineinreicht. Doch wann immer in Ubik die Welt des ganzen Lebens als letzte Chance oder Alternative verkündet wird, halbiert Dick sie durch Hinzufügung eines Details, das nur zu den das halbe Leben umfassenden Wahnvorstellungen gehören kann. Und denen, welche glauben, in das halbe Leben eingelassen zu sein, erscheint die Beziehung zu denen, die aus der Welt des ganzen Lebens Kontakt aufzunehmen versuchen, lediglich als eine Geisterverbindung: „[Er dachte:] Geister sind für uns tätig. Mit gesprochenen und geschriebenen Worten kommen sie in unsere neue Welt. Wachsame, weise, leibhaftige Geister aus der Welt des ganzen Lebens, die uns zwar mitunter bedrängen, aber zumeist so beruhigend pulsieren wie früher das Herz.“41
In Dicks alternativer Realität von Trauer oder Nichttrauer als halbes Leben besteht die Gemeinsamkeit von Verstorbenen und Überlebenden immer darin, dass sie beide einander verloren haben. Daher wird es möglich, durch eine Zeit zu reisen, in der nicht entschieden werden kann, wer vor wem gestorben ist. In der nahen Zukunft bleiben dann die Lebenden und die Und-Toten* – gerade so wie die Gegenwart und die jüngste Vergangenheit – in einer austauschbaren, aber unkalkulierbaren Verbindung. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Nicola Behrmann
41 Ph. Dick: Ubik, S. 264. Übers. modifiziert, Nicola Behrmann.
265
Lichtenbergs Messer. Eine medienwissenschaftliche Lektüre ANNA TUSCHLING
Einleitung Georg Christoph Lichtenbergs bekannter Aphorismus vom „Messer ohne Klinge, an welchem der Stiel fehlte“ weist ungeachtet seiner Berühmtheit eine überraschend wechselhafte Entstehungs- und Interpretationsgeschichte auf. Sie bildet hier die Folie für einige Überlegungen bezüglich der medienwissenschaftlichen Relevanz aphoristischer Logik. Lichtenberg vielleicht nicht einmal zu recht zugeschrieben, hat das Messer ein Eigenleben als geflügeltes Wort geführt. Dieser Umstand allein legt schon eine Befragung nahe, denn warum sollte ein solch offensichtlicher Widersinn – ja solch blanker Unsinn – stets aufs Neue gedeutet und verwendet werden? Was macht seinen zeitlosen Witz, seinen Esprit aus? Und weshalb schließlich kann der Halbsatz für Fragen der Medienwissenschaft überhaupt von Bedeutung sein? Es zeigt sich, dass der Messer-Aphorismus nicht nur eine gewisse Relevanz, sondern große Aufschlusskraft für die Mediengeschichtsschreibung haben kann. Bestens vermag ein Messer, das all seiner definitorischen Merkmale verlustig gegangen ist, jene Zweckoffenheit auszudrücken, wie sie nur vermeintlich die Medientechnik erst des 20. Jahrhunderts bestimmt. Computer brechen radikal mit jeder Werkzeugdefinition, weil sie einander äquivalent und in umfassendem Sinne zwecklos sind. Das Messer führt nicht nur, wie häufig behauptet, die Sprache an sich vor oder karikiert Subjektivität, sondern es gemahnt – als Witz – daran, mediengeschichtliche Abläufe zu reflektieren. Es erinnert an die generelle Möglichkeit, den universellen Rechenmaschinen zwar nicht in ihrer medientechnischen Umsetzung, wohl aber in ihren Charakteristika auf gewisse Weise vorzugreifen. Lichtenbergs Aphorismus stellt nichts weniger als eine hervorragende Charakterisierung des Computers dar, bevor es solche überhaupt gab, und sollte der These nach zu einer abseitigen Ideen267
Anna Tuschling geschichte des Digitalen gezählt werden. Dies hebt hervor, was die Mediengeschichte ohnehin belegt: Wenn der Computer – mathematisch sowieso, aber eben auch aphoristisch – vor dem gebauten Computer definiert und beschrieben werden konnte, gehört das Digitale nicht allein dem faktischen Digitalrechner in all seinen bislang realisierten Gestalten an. Weder aber will der allgemeine Diskurs über neue Medien von der umfassenderen Geschichte des Digitalen wissen, noch hat sie bis auf wenige Ausnahmen in der Medienkulturwissenschaft Raum gefunden, da diese sich meist auf ästhetische und gesellschaftliche Fragen der Netzwerkbildung konzentriert oder immer noch häufig technische Medien oder eben Medienbegriffe fokussiert. Dieser Beitrag versteht sich als Plädoyer für ein genuin medienwissenschaftliches Verständnis des Digitalen, vorgestellt anhand einer Lektüre Lichtenbergs, die selbst nichts mehr ist als eine Anmerkung zu Desideraten der Medienforschung. Vielleicht bedarf es gerade einer solchen „Unsinnstechnik“, wie sie Lichtenbergs Messer darstellt, um eine griffigere Geschichte des Digitalen anmahnen zu können, die wesentlich weiter zurückreichen muss als bis in das 20. Jahrhundert.1
Zur Entstehungsgeschichte des Messers Mit dem „Messer ohne Klinge“ begründet Lichtenberg die literarische Tradition der so genannten Auktions- und Messkataloge, bei denen der Sprachwitz über allerlei Unsinnstechniken und Gerätschaften triumphiert. Die komische Beschreibung des Materials und seine nur scheinbar ernsthafte Anordnung – respektive Listung – stellen hierbei ganz offensichtlich den eigentlichen Zweck dar, und gerade nicht die Zweckhaftigkeit der aufgeführten Dinge von solch eigentümlicher Art wie: 1) 2) 3)
Ein künstliches Instrument, sich selbst mit Leichtigkeit zu trepanieren. Einige Arzneien, des Tags dreimal zu nehmen. Ein Schnapsgläschen mit Kette und Heken, an den Bettvorhand zu hän-
4) 5)
gen, für Kranke und Personen, des des Nachts schnapsen. Eine Mäusefalle, nebst den Mäusen dazu. Eine Büste von Wilhelm Tell, in Schweizerkäse geschnitten.
6)
1
Sehr bequem eingerichtete Nachtwächterhörner, womit man sich des Nachts die Stunden selber blasen kann.
Für die mathematische Geschichte des Digitalen vor dem Digitalrechner siehe Bernhard Siegert: Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1500–1900, Berlin: Brinkmann & Bose 2003.
268
Lichtenbergs Messer 7)
Eine noch ganz neue Kanzel mit Schallbret und Resonanzbogen. Auch eine Sanduhr für große und kleine Stunden.
8)
Ein Schächtelchen mit Pillen, alle 50 Jahre eine zu nehmen. Drei davon, wenn nur in der Zeit des Einnehmens kein Fehler begangen wird, sind im Stande, einem Menschen das Leben auf 150 Jahre zu verlängern. Sie sind
9) 10)
vom Grafen Cagliostro. Einige Brillen für alte Jagdhunde, die nicht gut in die Ferne sehen. Ein messingenes Schlüsselloch.
11) 12)
Etliche Bücher für Personen die links sind. Ein Gesangbuch für Stammelnde.2
Besteht der Lustgewinn hier auch wesentlich in der sprachlichen Demontage technischer Überlegenheit, so kommt Lichtenberg der Einfall zum Messer-Aphorismus gerade bei der Planung zur Anschaffung eines tatsächlichen Geräts, einer nicht funktionsfähigen Camera Obscura. In einem Brief vom 23. Juli 1795 schreibt Georg Christoph Lichtenberg an seinen regelmäßigen Korrespondenten Christian Gottlob Heyne über eine defekte Camera Obscura, die man zu erwerben gedenkt. Sowohl der Kasten als auch das „Convex=Glas“ des Apparats müssen erneuert werden. Es funktioniert also weniger als Nichts an diesem Gerät. Dazu sei ihm das Messer ohne Klinge eingefallen, an welchem der Stil fehlte, so Lichtenberg an Heyne.3 Heyne (1729– 1812) war seines Zeichens Ordinarius für Rhetorik und Bibliothekar in Göttingen. Offenbar hatte er darüber hinaus zahlreiche weitere Funktionen wie etwa diejenige, das Pädagogium im kleinen Harzgebirgsstädtchen Ilfeld bei Göttingen zu inspizieren, um dessen In– strumentenbestand es in jenen Briefen vom Juli 1795 geht.4 In der Lichtenberg-Forschung gilt das unsinnige Messer als Auftakt und erster Posten jener im 18. Jahrhundert beliebten und viel kopierten Auktionskataloge sowie den damit eng verwandten Messkatalogen, die eine literarische Gattung besonderer Art sind. Die Kataloge lassen sich nicht einfach als gewöhnliche Objekte der Literatur- und Kulturforschung handhaben und einordnen. Einerseits sprengen sie die Gattungen, wie dies der Messer-Aphorismus als Prototyp Lichtenbergscher Aphorismen überhaupt tut. Andererseits schmiegen sich die fiktionalen Kataloge zu stark an naturwissenschaftliche Gepflogenheiten an: Sie stellen bewusst eine grundsätzliche Ironisierung des Sammelns, Klassifizierens sowie des Messens
2
Zit. nach Georg Achenbach: „Im Anfang war das Wort. Etwas Stoff zu Lichtenbergs Auktionskatalog, seiner Nummer eins und den Folgen“, in: Lich-
3
tenberg-Jahrbuch, Saarbrücken: SDV 1993, S. 24–55. Siehe Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel, Bd. 4: 1793–1799, hg. v. Ulrich Joost/Albrecht Schöne, München: C. H. Beck 1992, S. 487.
4
Siehe ebd.
269
Anna Tuschling dar. Achenbach hält die komischen Kataloge außerdem für eine Fortsetzung des christlichen Reliquienkults, angefacht durch die Sammelleidenschaft der Aufklärung.5 Lichtenbergs Auktionskatalog inszeniert zu einer Zeit die Form des Registers selbst, in der Akten und staatliche Aufzeichnungsverfahren sich anschicken, eine neue Ära der Medientechnik mitzubegründen.6 Das nicht öffentliche Sammeln wiederum untersucht Jacques Lacan – dieser Großmeister geistiger Register – im Rahmen seines Seminars über die Ethik als Paradigma der Sublimierung. Auch hierbei steht nun seine Eigenschaft im Vordergrund, Teil einer Verweisordnung oder eben einer Sammlung zu sein und nicht mehr die Zweckhaftigkeit eines Gegenstandes als solchem.7 Lichtenberg eröffnet mit seinen Aphorismen und Auktionskatalogen die Möglichkeit zur sprachlichen Verwertung technischer Neuerungen; des Weiteren beteiligt er sich aber auch aktiv am wissenschaftlichen Fortkommen. In den unterhaltsamen Sammlungen erdachter Kuriositäten und Forschungswerkzeuge gibt sich jene Interdisziplinarität zu erkennen, wie sie die Person Lichtenberg hervorragend verkörpert. Er ist ein „witzelnder“, dichtender Naturwissenschaftler mit atemberaubender Gabe, auf Späteres vorzugreifen, und war mit dem medientechnischen Höchststand der Produktivkraft seiner Zeit nicht nur vertraut, sondern beherbergte sie in seinem Heim: In Göttingen wohnt Lichtenberg im Haus eines Verlegers und gibt – anstelle Mietzins zu zahlen – über dreißig Jahre lang den Göttinger Taschen Calender heraus.8 Deshalb stinken die Stube und Schloss der Stubentür Lichtenbergs eigenen Worten nach vor Druckerschwärze.9 Deshalb, so Winthrop-Young, schreibe und drucke Lichtenberg soviel über das Schreiben und Drucken.10 Lichtenberg war darüber hinaus aber auch Mathematiker und Experimentalwissenschaftler, der seine Antrittsvorlesung zur Wahrscheinlichkeitstheorie hielt; und seine elektrostatischen Experimente brachten die Entdeckung der bekannten Lichtenberg Figuren.11
5 6
Vgl. G. Achenbach: „Im Anfang war das Wort“, S. 51. Siehe dazu Cornelia Vismann: Akten: Medientechnik und Recht, Frankfurt a. M.: Fischer 2000.
7
Vgl. Jacques Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar Buch VII, Weinheim/Berlin: Quadriga 1996, S. 141–142. Vgl. Geoffrey Winthrop-Young: „‚Apostel, Apostille, Postille‘. Über das
8
Schreiben, Drucken und Telegraphieren bei Lichtenberg“, in: Charlotte M. Craig (Hg.), Lichtenberg: Essays Commemorating the 250th Anniversary of his Birth, New York: Lang 1992, S. 23–54, hier S. 27–28. 9 Vgl. ebd., S. 29. 10 Vgl. ebd., S. 27. 11 Vgl. Holger Steinmann: „‚Die Schlüsse aus der Analogie sind sehr unsicher.‘ Lichtenbergs Notate im Schnittpunkt von Rhetorik, Naturwissenschaft und
270
Lichtenbergs Messer Lichtenbergs literarischer Nachruhm gründet sich dagegen in erster Linie auf die postum veröffentlichten Sudelbücher, die sich der klaren Kategorisierung literaturwissenschaftlicher Zugriffe stets entzogen haben. Ohne dies zu intendieren begründet Lichtenberg mit ihnen die Textgattung der Aphoristik.12 Neumann wertet den Aphorismus als eigenen Motivkanon und sogar als neue Mythologie.13 Der Bekanntheitsgrad des Messers geht jedoch noch weit über den vieler anderer Redensarten aus der Feder Lichtenbergs hinaus. Keineswegs ist aber gesichert, dass Lichtenberg die alleinige Urheberschaft für das Messer ohne Klinge, dem der Stiel fehlt, beanspruchen kann – was er im Übrigen auch nie getan hat – weil der Aphorismus eventuell auf einer der Englandreisen und durch das Interesse an Swift zufällig in Notizen gefunden wurde.14 Es könnte allerdings genauso im Sinne des gewitzten Erfinders gewesen sein, den Ursprung dieses „Gedankenblitzes“ zu verdunkeln.15 Die Lektüren des Messers wiederholen und verstärken die Motive seiner Entstehungsgeschichte wie insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen Sinn, Unsinn und Technik. Im folgenden soll ein kurzer Gang durch die früheren Lektüren von Freuds Unsinnstechnik über die Sprachkritik bis hin zu Marvin Minskys Aufhebung des Witzes dazu dienen, das Messer als besondere Form der Medienreflexion zu lesen.
Das Messer als Unsinnstechnik Georg Christoph Lichtenberg zählt zu den wenig genannten, aber beachtlichen Einflüssen auf die Psychoanalyse. Neben der antiken Mythologie und klassischer Literatur zieht Sigmund Freud in seinen Studien Kurioses wie die Sudelbücher heran, und es liegt nahe, dass Lichtenbergs literarische Arbeiten dabei besonders für die Psychoanalyse des Witzes Bedeutung haben. Für sie waren Lichtenbergs Notizen vielleicht nicht gerade eine „ungetrübte“, sicherlich
Mediengeschichte“, in: Alexander Böhnke/Jens Schröter (Hg.), Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Beiträge zu Geschichte und Form einer Unterscheidung, Bielefeld: transcript 2004, S. 213–229, hier S. 218. 12 Vgl. Gerhard Neumann: Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe, München: Wilhelm Fink 1976.; vgl. auch H. Steinmann: „‚Die Schlüsse aus der Analogie sind sehr unsicher.‘“, S. 216. 13 Vgl. G. Neumann: Ideenparadiese, S. 803. 14 Siehe G. C. Lichtenberg: Briefwechsel, S. 487, Anm. 2; vgl. G. Achenbach: „Im Anfang war das Wort“, S. 41 u. 45. 15 Siehe G. Neumann: Ideenparadiese.
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Anna Tuschling aber eine überaus reichhaltige Quelle.16 Freud widmet sich bei der Exposition seiner Witztheorie dem Messer-Aphorismus als besonderer Witzform. Was bei Lichtenberg als Assoziation zu einer defekten Camera obscura begann, wird bei Freud schließlich zu einer „Technik“ des Witzes, und zwar zu einer „Unsinnstechnik“: „Eine […] Unsinnstechnik ergibt sich, wenn der Witz einen Zusammenhang aufrecht erhalten will, der durch die besonderen Bedingungen seines Inhalts aufgehoben erscheint. Dazu gehört Lichtenbergs Messer ohne Klinge, wo der Stiel fehlt.“17
Freud erklärt Lichtenbergs hingeworfene Bemerkung nicht nur zu einem vollgültigen Witz, sondern nimmt ihn als Beispiel dafür, wie dieser das Funktionieren geistiger Operationen ausstellt und vorführt. Dort, wo Verstandesoperationen gleichsam leer laufen, zeigt sich besonders klar und deutlich, wie sehr Vernunft und Esprit wortwörtlich auf den Unsinn als das von ihnen ausgesonderte angewiesen bleiben. Genauso wie der Sinn gewissermaßen vom Unsinn lebt, zehrt das Philosophieren nach Avital Ronell von der Dummheit.18 Der Witz oder eben Esprit meint bei Freud an dieser Stelle in doppelter Weise die sprachliche Kreation und den Verstand. Lichtenbergs Aphorismus versuche einerseits einen Zusammenhang aufrechtzuerhalten – etwas sei eben ein Messer – der jedoch andererseits schon dadurch aufgehoben sein muss, dass nichts mehr die Bezeichnung des Gegenstands als Messer rechtfertigt. Im witzigen Unsinn treffen Sprache und Verstand gerade deshalb auf ihre eigenen Grundlagen, weil sie dort strategisch – oder eben technisch – ihrer üblichen Verkleidung (des sprachlichen Sinns) beraubt sind.
Von der Sprachkritik zur Medienreflexion Nachfolgende Leser erweitern Freuds sprachtechnisches Verständnis zu einer allgemeinen Sprachkritik, die man bei Lichtenberg im Messer-Aphorismus angelegt sieht. Gerade weil es sich für manch einen Leser um blanken Unsinn handelt, muss das Messer in seinem Fehlgehen etwas exakt auf den Punkt bringen, denn sonst wäre es nicht immer und immer wieder aufgegriffen worden: Zu den 16 Vgl. Martin Stingelin: „‚Meinungen und Fische‘. Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud und Ludwig Wittgenstein lesen Georg Christoph Lichtenberg“, in: Lichtenberg-Jahrbuch, Saarbrücken: SDV 1998, S. 136–154, hier S. 138. 17 Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten [1905], in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 6, Frankfurt a. M.: Fischer 1999, S. 64. 18 Siehe Avital Ronell: Stupidity, Illinois: University of Illinois Press 2001.
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Lichtenbergs Messer Interpreten des Ausspruches zählen neben Freud unter anderem André Breton, Ludwig Wittgenstein, Jean Baudrillard aber auch Marvin Minsky. Nicht zufällig lesen sie alle bis auf Minsky den Aphorismus als Sprachkritik: Für Wittgenstein stellt sich daran ähnlich und doch so ganz anders als für Freud die Frage des Unsinns, die bei ihm nicht von der Wendung selbst, sondern entsprechend seiner Sprachphilosophie vom Wortgebrauch abhängt. In den 1939 gehaltenen Vorlesungen über die Grundlagen der Mathematik fragt er: „Sollen wir sagen, dies sei Unsinn? Und wann sagen wir, etwas sei kein richtiger Gebrauch des Wortes ‚Messer‘ mehr, sondern eine unsinnige Gebrauchsweise“.19 Für Baudrillard bedeutet der Spruch in starker Überzeichnung nichts weniger als die Aufhebung des „Identitätsprinzips der Wörter“ bzw. eine buchstäbliche Sinn-Explosion, obgleich er weder zeigt, worin das „Identitätsprinzip“ allererst bestehen, noch wie es eben aufgehoben oder gar auseinanderfallen oder „explodieren“ soll.20 Baudrillard bringt den Witz ähnlich seiner großen Vorgänger mit Unsinn und zusätzlich mit der Verneinungsfunktion zusammen, setzt letztere dabei aber fälschlicherweise absolut: So definiert er Lichtenbergs Messer als Nicht-Messer. Das Messer sei in seiner Existenz auf das – namentlich – getrennte Vorhandensein von Klinge und Griff angewiesen. Wenn man deren Trennung aufhebe, bleibe außer Genuss nichts übrig. Auch könne man die Trennung von Klinge und Griff nur aufheben, wenn man sie in ihrem Verschwinden vereinige, wie es bei Lichtenberg geschehe.21 Die mit dem Messer verbundene Erwartung löse sich in nichts auf und es gebe keinen Primärprozess, kein Eindringen irgendeiner Sache: hinter der Klinge oder dem Griff gebe es nichts: „Schluss mit der Trennung, Schluss mit der Kastration, Schluss mit der Verdrängung, Schluss mit dem Unbewussten. Totale Auflösung, totaler Genuss.“22 Baudrillards Behauptungen kritisch zu diskutieren, ist hier nicht der Ort, aber fest steht, dass er zwar implizit und fast wider Willen eine Art medientechnischer Analyse der Sprache als operierendem System diskreter Einheiten andeutet, aber gerade die spezifische Funktion der doppelten Verneinung übersieht. Martin Stingelin greift schließlich wie Baudrillard diesen Topos der Verneinung auf und führt etwas zu verdichtet aus, dass im Messer aus folgendem Grund Sprachkritik als Ontologiekritik auftreten könne: Sprache werde als einziger Ort vorgeführt, an dem man Dinge zum Verschwinden bringe, die es gar nicht gegeben 19 Zit. nach M. Stingelin: „‚Meinungen und Fische‘“, S. 148. 20 Vgl. Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, Matthes & Seitz: München 1991, S. 348. 21 Vgl. ebd. 22 Ebd.
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Anna Tuschling habe.23 Implizit benennt er also die Verneinung als doppelte Verneinung, welche als Markzeichen von Subjektivität zu werten sei. Kittler wird sie aber als Funktionsweise des Computers gelten. Stingelin jedenfalls beurteilt Lichtenbergs Messer zeitgemäß als ein „Emblem der Moderne unter dem Vorzeichen der Sprachkritik“,24 was auch Freuds Liebesbeziehung zu dieser Wendung erkläre. Lichtenberg ist für Stingelin ganz Vorreiter des so genannten linguistic turn.25 Neben der Sprache würden bei Lichtenberg Subjektivität und Selbstreflexion parodiert. Das Subjekt verhalte sich beim Versuch, sich selbst unmittelbar zu vergegenwärtigen gleichsam als Messer ohne Klinge, an welchem der Stiel fehle. 26 Marvin Minsky deutet das Messer wiederum ganz anders und aus Perspektive der KI-Forschung als logische Absurdität.27 Für Minsky besteht die Hauptqualität humoristischer Phänomene darin, logische Systeme in Frage zu stellen und in gewisser Weise zu testen. Als Beispiel für eine solche Herausforderung der Logik gibt er die klassische jüdische Geschichte eines aberwitzigen KonditoreiBesuchs wieder. War bei Freud die absurde Geschichte bestes Beispiel für lustvolle „Denkfehler“, so sucht Minsky sie in seiner Analyse logischer Verstandesoperationen neben dem Messer Lichtenbergs als geistigen Sonderfall und Absurdität zu erklären: „Ein Herr kommt in eine Konditorei und lässt sich eine Torte geben; bringt dieselbe aber bald wieder und verlangt an ihrer Statt ein Gläschen Likör. Dieses trinkt er aus und will sich entfernen, ohne gezahlt zu haben. Der Ladenbesitzer hält ihn zurück. ‚Was wollen Sie von mir?‘ – ‚Sie sollen den Likör bezahlen.‘ – ‚Für den habe ich ihnen ja die Torte gegeben.‘ – ‚Die haben Sie ja auch nicht bezahlt.‘ – ‚Die habe ich ja auch nicht gegessen.‘“28
Bei Minsky bleiben die kulturellen Implikationen und feinen Anspielungen des Witzes außer Acht, ebenso wie bei der Analyse des Messers, auf das er sich ausschließlich durch Freud vermittelt bezieht. Der Messer-Aphorismus stellt für ihn schlicht einen Missbrauch von Repräsentationstechniken dar und man könnte mit und gegen Minsky anfügen: ganz so wie der Computer alle anderen Medien und überhaupt alles im Sinne eines ursprünglichen „Missbrauchs“ zu simulieren erlaubt. Minsky schließt an sein Urteil über das Messer einen bemerkenswerten Vergleich an: Es handle sich bei den
23 M. Stingelin: „‚Meinungen und Fische‘“, S. 139–140. 24 Ebd., S. 148. 25 Vgl. ebd., S. 139. 26 Vgl. ebd., S. 149. 27 Siehe Marvin Minsky: „Jokes and the cognitive unconscious“, 1980, http:// web.media.mit.edu/~minsky/papers/jokes.cognitive.txt vom 21. Juli 2011. 28 S. Freud: Der Witz.
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Lichtenbergs Messer Witzen also um den falschen Gebrauch von Repräsentationstechniken, „wie ein Rahmen ohne Bild“.29 Medien sind bekanntermaßen häufig durch Missbrauch ihrer Zwecke ins Leben gekommen. Und wenige Jahre nachdem Minsky vom unsinnigen Witz als Rahmen ohne Bild sprach, traten universelle Bilderrahmen unter dem Namen Windows ihren Siegeszug an. Winthrop-Young hat sich wahrscheinlich als einer der ersten Anfang der 1990er Jahre mit Lichtenberg als Medientheoretiker avant la lettre befasst: So bezeichnet er ihn als „medienbewussten Graphomanen“, der sich schon epistemotechnische Gedanken zur Telegraphie gemacht habe.30 Winthrop-Young äußert sich zu Lichtenbergs Einschätzung und Beschreibung der frz. Revolution als Grundlegung moderner Massenmedien bzw. der modernen massenmedialen Matrix (dies im Anschluss an die Untersuchungen Manfred Schneiders zur mediengeschichtlichen Bedeutung der französischen Revolution). Damit kann Winthrop-Young Anfang der 1990er Jahre unter dem Eindruck von Kittlers Aufschreibesystemen „Medienanalyse ins Zentrum der Aufklärungsforschung“ rücken, mithin die Aufklärung als erstes Informationszeitalter und die Revolution als Informationskreislauf untersuchen.31 Dabei stehen jedoch Druck und die Entstehung des modernen Zeitungswesens im Vordergrund: Medienkritik und Medienbewusstsein bildeten den Unterbau des Lichtenberg’schen Denkens.32 Winthrop-Young beschreibt bei Lichtenberg die Vorwegnahme moderner Aufzeichnungstechniken, aber auch seine besondere Beziehung zu optischen Medien wie der Camera obscura. Er hebt insbesondere das Begehren Lichtenbergs hervor, über Löschtechniken zu verfügen, wie sie erst der Computer mit seiner Trennung von Schreiben und Speichern ermöglicht habe. Zur Frage der Speicherungsmodalitäten sei noch der Hinweis gestattet, dass nicht zuletzt Lichtenbergs Speicherungsbemühungen bei der Entdeckung der berühmten Lichtenbergfiguren wirksam gewesen sein müssen. Lichtenbergs gleichsam seismographisches Verständnis für technische Dynamiken rechtfertigt es, auch seine aphoristischen Arbeiten als eine Art Medienreflexion aufzunehmen.
29 M. Minsky: „Jokes and the cognitive unconscious“. 30 Vgl. G. Winthrop-Young: „‚Apostel, Apostille, Postille‘“, S. 25 u. 27. 31 Vgl. ebd., S. 25, 27 u. 34. 32 Vgl. ebd., S. 42.
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Anna Tuschling
Das doppelt verneinte Schneidwerkzeug Das Messer ohne Klinge mit fehlendem Stiel – diese Unsinnstechnik – setzt nicht, wie die bisherigen Lesarten meinen, allein die Sprache selbst, sondern auch die Kulturtechnik des Schneidens ins Bild oder eher gesagt: ins Nicht-Bild. Die Kulturtechnik des Schneidens vermag wiederum auf den Vorgang der Zerteilung, der „Diskretisierung“ und die Produktion diskreter Einheiten anzuspielen, welche für elektronische Verarbeitung eine Grundvoraussetzung sind. Bei der medienwissenschaftlichen Lektüre treten zwei Elemente hervor, die den Aphorismus prägen: das Messer in seiner Gegenständlichkeit und die Tatsache, dass es sich bei diesem merkwürdigen Halbsatz um eine doppelte Verneinung handelt. Beide zusammen – Diskretisierung und doppelte Verneinung – dienen aufs Treffendste der Charakterisierung des Computers, fast mehr noch als einer Metaphorisierung der Sprache. Marcel Mauss begreift das Essen mit Messer und Gabel als Körpertechnik, die Bernhard Siegert als stumme Technik bezeichnet.33 Auch das Schreiben, Lesen und Rechnen seien in diesem ethnographischen Sinne Körpertechniken, keine Geistestechniken.34 Und bereits Jacques Derrida hat in seinem Werk über das Archiv Schneiden, Beschneidung und Aufschreiben kategorisch verbunden.35 Doch nur bedingt erweist sich die Isolierung des Messers als legitim. Denn das Messer ist ein bestimmtes weder/noch bzw. eine bestimmte Verneinung. Seine definierenden Bestandteile Klinge und Stiel werden nacheinander beide verneint. Damit verkörpert das Messer auf gewisse Weise die Absage jeder Definition und wird Selbstzweck, was der Zweckoffenheit des Computers nahekommt. Medienforschung kann sich von der aphoristischen Logik Lichtenbergs anregen lassen, den Funktionsweisen des erratischen Digitalen an nur vermeintlich entlegenen Orten wie dem Sprachspiel nachzuspüren. Weist der Alltagsgegenstand Messer auf die Operation der Trennung in einzelne, getrennt zu verarbeitende Bestandteile hin, so setzt die doppelte Verneinung der Messer-Analogie wiederum Grenzen, denn es soll hier gerade keine positivierbare Zweck-Mittel-Relation und nichts Werkzeughaftes angesprochen sein. Das Messer gemahnt damit in allen seinen Widersprüchen an 33 Vgl. Bernhard Siegert: „Kakographie oder Kommunikation? Verhältnisse zwischen Kulturtechnik und Parasitentum“, in: Lorenz Engell/Joseph Vogl (Hg.), Mediale Historiographien (Archiv für Mediengeschichte 1), Weimar: Universitätsverlag 2001, S. 87–99, hier S. 88. 34 Vgl. ebd. 35 Vgl. Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben, Berlin: Brinkmann und Bose 1997.
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Lichtenbergs Messer die eigentümliche Verfasstheit von Digitalmedien, von deren volleren Verständnis die Wissenschaften immer noch entfernt sind.
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Das Phantasma der Signale MARIE-LUISE ANGERER
Von der Lust am Schauen zur Emotionsmaschine 1 Etwa zehn Jahre – von Mitte der 70er bis Mitte der 80er Jahre – besetzte die Apparatustheorie innerhalb der Filmtheorien eine hegemoniale Position. Sie stand sowohl auf einem ideologisch-marxistischen als auch auf einem psychoanalytischen Bein. Das Kino war ihrem Verständnis nach nicht nur ein ideologischer Staatsapparat (im Sinne Althussers) unter vielen anderen, sondern der Staatsapparat schlechthin, der die Zuschauer – Kleinkindern ähnlich – im Dreieck von Screen, Kamera und Blick einspannte. Alles, was sich zwischen dem Zuschauer und der Leinwand ereignet, wurde als Frage dieser drei Momente und ihrer imaginären Produktionen analysiert. Die Apparatustheorie war nicht an der Wirkung des Films interessiert, sondern vielmehr an der Frage, warum die Bilder des Filmischen eine derart starke libidinöse Anziehungskraft entfalten können. Ihre Antwort: Sexualität und Begehren sind als Triebkräfte des Subjekts immer schon in das Feld des Sichtbaren (Vision) eingeschrieben bzw. entschwinden in diesem.2 Neben der Konzentrierung auf den ideologischen Charakter des cinematischen Apparats rückte dann vor allem mit Christian Metz und seinem Konzept des „imaginären Signifikanten“ der Zuschauer und der Filmwissenschaftler ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Der imaginäre Signifikant wurde von Metz in Weiterentwicklung der Apparatustheorie von Jean-Louis Baudry, Jean-Louis Comolli und Laura Mulvey sowohl als eine technisch-materielle als auch eine semiotische Entität verstanden. Im Unterschied zu der ersten Genera1
Vgl. Ed S. Tan: Emotion and the Structure of Narrative Film: Film as an Emotion Machine, New Jersey: Lawrence Erlbaum 1996.
2
Für eine ausführliche Darstellung und Diskussion der Positionen und ihrer Verschiebungen in der psychoanalytischen Filmtheorie siehe Marie-Luise Angerer: body options. Körper.Spuren.Medien.Bilder, Wien: Turia + Kant 1999, S. 56–99.
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Marie-Luise Angerer tion der Apparatustheorie, die den Kinoapparat mit dem psychischen Apparat vorzugsweise unter einem ideologischen Gesichtspunkt analysierte, fokussierte Metz seine psychoanalytische Filmtheorie insbesondere auf die Frage des Zuschauer/Betrachter-Subjekts. Metz führte hierzu die Begriffe des Begehrens, des Genießens, des Phantasmas und des guten Objekts (Melanie Klein) ein und richtete sein Interesse auf die Subjektpositionen, die dem Rezipienten durch das Kino zugewiesen werden und ihm ein phallisch-imaginäres Genießen ermöglichen würden. Die Kritik an der Apparatustheorie erfolgte vor allem von Seiten feministischer Autorinnen und kann in vielen Punkten durchaus als berechtigt gelten. Auch wenn Laura Mulvey als Pionierin der feministischen Filmtheorie betrachtet werden kann, wurde ihr Aufsatz Visual Pleasure and Narrative Cinema3 ebenfalls – auch von feministischer Seite – kritisiert und ihrer Analyse Lustfeindlichkeit, Einseitigkeit und Alternativlosigkeit vorgeworfen. Jedoch waren die Stimmen des feministischen Counter-Cinema nicht die einzigen und sicherlich nicht die lautesten. Diese kamen vielmehr von Autoren wie Noèl Carroll, der in Mystifying Movies und Post-Theory4 die Apparatustheorie in Grund und Boden vernichtete: Sie sei ahistorisch, generalisierend und nur auf das narrative Kino konzentriert, waren dabei die harmloseren Kritikpunkte. In der Zwischenzeit konnte die kognitive Filmtheorie ihre Vorherrschaft innerhalb der Filmwissenschaft ausbauen und bestimmt heute weitgehend die Diskussion: Sie fragt nicht nach Subjektpositionen, sondern nach dem emotionalen response des Kinozuschauers. Hierbei stützt sie sich auf die Psychologie und ihr Repertoire empirischer Emotionstheorien. Die Techniken des Films werden mit der kognitiven Beschaffenheit der Zuschauer in Verbindung gesetzt bzw. diese Verbindung soll erklären, weshalb das Kino emotional wirksam sein kann. Wie produzieren die dargestellten, inszenierten Emotionen die gefühlten, „echten“ Emotionen der Zuschauer, lautet zusammengefasst die Frage von David Bordwell und Kristin Thompson. Für diesen Aufschwung der kognitiven Filmtheorie mitverantwortlich ist sicherlich die seit Jahren in der Gehirnforschung beobachtbare Tendenz, mittels digitaler Rechen- und Aufzeichnungsverfahren Gefühlen und Affekten auf die Spur kommen zu wollen. Doch all dies zusammen erklärt nicht ausreichend, warum heute 3
Vgl. Laura Mulvey: „Visuelle Lust und narratives Kino“, in: Gislind Nabakowski/Helke Sander/Peter Gorsen (Hg.), Frauen in der Kunst, Bd. 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 30–46.
4
Vgl. Noèl Carroll: Mystifying Movies. Fads and Fallacies in Contemporary Film Theory, New York: Columbia University Press 1988; Noèl Carroll/David Bordwell (Hg.): Post-Theory: Reconstructing Film Studies, Wisconsin: University of Wisconsin Press 1996.
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Das Phantasma der Signale die gesamte Kultur- und Medienwissenschaft „auf den Affekt“ gekommen zu sein scheint. So haben Andreas Keil und Jens Eder im Band Mediale Emotionen5 das Verhältnis von audiovisuellen Medien und emotionalen Netzwerken zusammengefasst und dabei deutlich gemacht, dass heute unter „affektiven Phänomenen“ beinahe alles verstanden wird. Dies reiche von intensiven, kurzfristigen Emotionen, wie bei einem romantischen Happy End, über diffuse, unterschwellige Stimmungen, wie am Anfang eines Horrorfilms, und reflexhafte Affektreaktionen, wie bei den Explosionen eines Action-Spektakels, bis zu Empathie, Sympathie und Begehren, ästhetischem Genuss sowie politisch-ideologischem Betroffensein.6 Gleich zu Beginn führen die Autoren in einer Fußnote aus, dass Anfang der 90er Jahre eine Verschiebung in der Filmtheorie festzustellen gewesen sei, wodurch „psychoanalytische Affektlehren“ (!) wie jene von Laura Mulvey und Louis Baudry verdrängt worden seien. Von den kognitiven Emotionstheorien werde diesen nämlich vorgeworfen, undifferenziert und empiriefern gewesen zu sein.7 In Affekte. Analysen ästhetisch-medialer Prozesse stimmt Mieke Bal diesem Befund zu und meint, der Affekt würde sich den Kulturwissenschaften zwar nicht als neue, jedoch heute als besonders geeignete Kategorie anbieten, ehemals getrennte Felder als „Effekte […] unter einer Rubrik zu vereinen, die nicht wie das vorangegangene Primat der Repräsentation von der figurativen Qualität eines Kunstwerks abhängig ist. Tatsächlich bietet der Begriff des Affekts den kulturwissenschaftlichen Disziplinen ein nützliches Konzept, so verschiedene Kunstformen wie Malerei, Film, Video, Musik und Ausstellungspraxis unter einem Gesichtspunkt zusammenzuführen.“8
Darüberhinaus gibt es ein unübersehbares Interesse von Geistesund Kulturwissenschaftler_innen an naturwissenschaftlichen Theorien des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts sowie an neuen Forschungs-Strategien in den Künsten, die allesamt zu einer Art „affektivem Wissensdispositiv“ beitragen. Dass dies auch von 5 6
Vgl. Oliver Grau/Andreas Keil (Hg.): Mediale Emotionen. Zur Lenkung von Gefühlen durch Bild und Sound, Frankfurt a. M.: Fischer 2005. Vgl. Andreas Keil/Jens Eder: „Audiovisuelle Medien und neuronale Netzwerke“, in: Oliver Grau/Andreas Keil (Hg.), Mediale Emotionen. Zur Lenkung von Gefühlen durch Bild und Sound, Frankfurt a. M.: Fischer 2005, S. 224– 241, hier S. 224.
7 8
Vgl. ebd., S. 238 und E. S. Tan: Emotion. Mieke Bal: „Vorwort“, in: Antje Krause-Wahl/Heike Oehlschlägel/Serjoscha Wiemer (Hg.), Affekte. Analysen ästhetisch-medialer Prozesse, Bielefeld: transcript 2006, S. 7–19, hier S. 7 f.
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Marie-Luise Angerer hochschulpolitischem Gewicht sein kann, ist sicherlich unbestreitbar.9 Man kann gegenwärtig also einen großen gemeinsamen Nenner ausmachen, der sich als „Begehren nach dem Affekt“10 artikuliert. Diese Entwicklung führt jedoch beinahe selbstverständlich zur Abwertung ehemaliger wissenschaftlicher Paradigmen, wobei nicht selten das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Die Wissenschaftsgeschichte hat derartige Paradigmenwechsel natürlich immer wieder erlebt, und so unterschiedlich diese epistemologischen Umbrüche auch waren und sein mögen, in einem Punkt stimmen sie alle überein, darin nämlich, dass der Umbruch über sie hinaus weist. Die Ursachen des Umbruchs überschreiten den Rahmen der Wissensproduktion und mäandern durch das gesellschaftliche Ensemble. Wenn also Bal davon spricht, man hätte mit dem Affekt eine Kategorie gewonnen, die eine Zusammenschau ermöglicht, so hat sie nur nachträglich recht. Retrospektiv lässt sich über den Affekt Zusammenhängendes konstatieren, jedoch nicht die Frage beantworten, weshalb dem Affekt heute diese Bedeutung zugesprochen wird.
The Return of the Repressed (of Cinema) Gegen Metz’ Filmtheorie war bereits der Vorwurf erhoben worden, dass eine linguistisch ausgerichtete Semiologie dem Medium Film letztlich nicht gerecht werden könne. Dieser Vorwurf erwies sich als der folgenreichste – denn er wurde auch von Gilles Deleuze erhoben und in seiner zweibändigen Theorie des Kinos untermauert. Deleuze hielt zwar daran fest, dass die Filmtheorie subjekttheoretisch zu entwickeln sei, machte jedoch geltend, dass der Film keine Sprache ist. Wollte die Filmtheorie nicht ihren eigenen Gegenstand – die Zeitlichkeit des Bildes im Kino – verlieren, sei sie gehalten, Subjektivität als Zeitstruktur zu begreifen. Mit seinen zwei Kino-Büchern L’image mouvement und L’image-temps11 hat Deleuze eine andere Kino-Sprache und einen anderen theoretischen Zugang zum Filmischen vorgeführt. Vom Körper des Zuschauers ist von nun an die Rede, vom Affekt, von framing und von informatics. Im Gefolge von Deleuzes Publikationen zum Kino erscheinen zahlreiche Aufsätze und Bücher, die sich nun mehr oder weniger explizit gegen die 9
Siehe zum Beispiel der Exzellenz-Cluster Languages of Emotion an der FU Berlin: http://www.languages-of-emotion.de.
10 Vgl. Marie-Luise Angerer: Vom Begehren nach dem Affekt, Zürich/Berlin: diaphanes 2007. 11 Vgl. Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989; Ders.: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991.
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Das Phantasma der Signale psychoanalytische Filmtheorie aussprechen und diese als dem Filmischen in seiner Bewegung nicht adäquat kritisieren. Anfang der 90er Jahre haben die Körper der Zuschauer sich in der Theorie zu bewegen begonnen12 und damit auch die Rückkehr älterer Analysen kurzfristig wieder ermöglicht. So wurde etwa die phänomenologische Filmanalyse von Vivian Sobchack aufgegriffen, die noch in den 80er Jahren angefangen hatte, das Kino gegen die neuen digitalen Bilder heroisch zu verteidigen. Der Erfahrungskörper des Zuschauers, so Sobchack, werde durch die Filmleinwand zum Leben erweckt. Da der Film nicht als Ding erlebt werde, sondern als Darstellung, die eine objektive Welt vorstelle, könne der Betrachter an dieser verkörperten Erfahrung teilhaben. Während der Film erlebbar mache, mumifiziere die Fotografie und die elektronischen Medien würden eine Meta-Welt aufbauen, in der sich alles um „Darstellung-in-sich“ drehe. Die Neuen Medien produzierten ein Simulationssystem ohne Referenz Aus Referentialität werde Intertextualität und an diese sei ein Prozess der Entkörperlichung gebunden.13 Diese Körpereinholung im Filmischen war jedoch – im Unterschied zum heute adressierten affektiven Sog der filmischen Bilder – keine unmittelbare, sondern wurde in ihrer symbolischphantasmatischen Dimension gesehen. Man kann hier auch auf zwei künstlerische Bewegungen – aus dem Kino heraus – verweisen, die sich ebenfalls um die Sprache des Filmischen sowie die seiner Körper aufgebaut haben: auf die Tradition des „Körper-Kinos“ von Maria Klonaris und Katharina Thomadaki zum einen sowie auf die „Expanded Cinema“-Bewegung der 60er und 70er Jahre zum anderen (Gene Youngblood, Valie EXPORT, Peter Weibel, Birgit und Willhelm Hein). An beiden kann man den Kampf um das (filmische) Subjekt ablesen, der sich zwischen der Materialität des Kinoapparats und der Schrift des Kinematographischen abspielte.14 Während Sobchack die digitalen Medien jedoch noch aufgrund ihrer kalten Referenzlosigkeit ablehnte, kann Mark B. Hansen zwei
12 Was sicherlich auch den aufkommenden Video- und Computerspielen und ihren Analysen zuzuschreiben ist; vgl. Serjoscha Wiemer: „Horror, Ekel und Affekt – Silent Hill 2 als somatisches Erlebnisangebot“, in: Britta Neitzel/ Matthias Bopp/Rolf F. Nohr (Hg.), „See? I’m real …“. Multidisziplinäre Zugänge zum Computerspiel am Beispiel von ‚Silent Hill‘ (= Medienwelten 4), Münster/Hamburg/Berlin: Lit Verlag 2005, S. 177–192. 13 Vgl. Vivian Sobchack: „The Scene of the Screen“, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 416–427, hier S. 426 f. 14 Vgl. http://www.medienkunstnetz.de, dort: Kunst & Kinematographie; XSCREEN, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Wien 2004; Webseite von Maria Klonaris und Katharina Thomadaki: http://www.perso.wanadoo. fr/astarti/artsite.htm vom 10. April 2009.
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Marie-Luise Angerer Jahrzehnte später das Gegenteil behaupten. Nirgendwo sei der Körper mehr gefragt als angesichts digitaler, rahmenloser Bilder: „[T]he body functions as a kind of filter which selects, from among the universe of images circulating around it and according to its own embodied capacities, precisely those which are relevant to it. And the body is able to perform this filtering function precisely because of its own material singularity: its own constitution as a concretely configured processor of images.“ 15
Mark Hansen geht von Deleuze zurück zu Bergson, dem Philosophen, der zur Frühzeit des Kinos eine Theorie der Wahrnehmung vorgelegt hat, die heute offenbar wieder den Nerv der Zeit trifft. Henri Bergson hatte ein Jahr nach Freuds Entwurf16 sein Werk Materie und Gedächtnis 17 publiziert. Beide, der zukünftige Psychoanalytiker Freud und der Philosoph, gehen dabei von Empfindungen aus, von Reizen, die über die Nervenbahnen ins Gehirn gelangen, um dort Reaktionsbefehle auszulösen. In der Traumdeutung 18, die eine Fortsetzung des Entwurfs darstellt, wird Freud Wahrnehmung und Gedächtnis als Differenz von Bahnungen und Engrammen bestimmen. Bergson wird den affektiven Körper (Leib) als Zentrum des Bilderuniversums benennen. Ein affektiver Körper, der, wie es dann bei Hansen heißt, nicht so sehr sieht, als vielmehr fühlt und eine affektive Antwort produziert, die sich im Körper er-öffnet: „[T]he affective response produces a place within our bodies, an internal interval that is radically discontinuous with, but that nonetheless […] forms an affective correlate to the digital topological manipulation of space.“19
Henri Bergson hat sich immer wieder kritisch und negativ über die Sprache geäußert, sie der Verzerrung der Wirklichkeit beschuldigt und ihr vorgeworfen, dem Prozessualen des Erlebens nicht gerecht werden zu können. Er interpretiert dies, im Unterschied zu Wittgenstein, der davon ausging, dass Sprache nicht alles sagen kann20, als 15 Ders.: „Framing the Digital-Image: Embodiment and the Aesthetics of New Media: Introduction“, http://www-leland.stanford.edu/dept/HPS/Writing Science/Framing-Introduction2002.pdf vom 17.04.2009. 16 Vgl. Sigmund Freud: „Der Entwurf“ [1895], in: Ders., Gesammelte Werke, Nachtragsband, Frankfurt a. M.: Fischer 1987, S. 375–486. 17 Vgl. Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist [1896], Hamburg: Meiner 1991. 18 Sigmund Freud: Die Traumdeutung [1900], in: Ders., Studienausgabe, Bd. II, Frankfurt a. M.: Fischer 1972. 19 Mark B. N. Hansen: New Philosophy for New Media, Cambridge/London: MIT Press 2004, S. 232. 20 „Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen.“
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Das Phantasma der Signale negative Dimension der Sprache und konzentrierte sich daher verstärkt auf die Intuition, das Affektive und das Bild.21 Das Bild ist bei Bergson kein Bild im üblichen Sinne, also keine Repräsentation, sondern vielmehr eine Präsentation zwischen Vorstellung und Ding. Das Bild muss sowohl gegen die Repräsentation als auch gegen das von innen kommende Fühlen abgegrenzt werden.22 Hier drängt sich der Vergleich mit Freuds Unterscheidung von Wort- und Dingvorstellung auf, die in Bezug auf die Verdrängung (des Affekts) eine große Rolle spielt. Während bei Bergson Gefühle, Vorstellungen und Empfindungen im Bild zusammentreffen, unterscheidet Freud klar zwischen dem Somatischen und seiner Repräsentation und stellt hinsichtlich des Triebs klar, dass wir diesen immer nur in seiner Repräsentanz, nicht jedoch per se erfassen können. Der Begriff der Vorstellungsrepräsentanz wurde von Freud eingebracht, um ein „ideative[s] Element im Gegensatz zum affektiven Element“23 positionieren zu können. Verdrängung kann nach Freud nur die Repräsentanz betreffen, nicht den Affekt. Freud platziert den Trieb als Schwellenbegriff zwischen Soma und Psyche, Bergson lässt im Körper innere Empfindungen und äußere Bilder aufeinander treffen. Dieser Körper ist nicht nur eine passiv empfangende Instanz, sondern ein „Handlungszentrum“, das die Auswahl der Bilder vornimmt, die für mögliche Handlungen relevant sind.24 Hierbei fungiert der Körper als Körpergedächtnis, das sich durch die wiederholenden Bewegungen produziert, d. h. der Körper selektiert nicht nur die Bilder der Realität, sondern vereinfacht die Selektion derselben, indem Handlungsschemata dem Körpergedächtnis sich eingravieren oder diesem in Erinnerung bleiben.25 Bergson spricht vom Bild als „fotografische[r] Platte“, ein Vergleich, der die Assoziationen mit Freuds Gleichsetzung des psychischen Apparats mit dem Medium Fotografie anklingen lässt. Nach Bergson entsteht ein Bild durch Kontrastbildung, durch Selektion und Vereinfachung.26 Freud hingegen hat den Vergleich mit der bilderproduzierenden Fotografie bald wieder verlassen, um zum Begriff der Spur zu wechseln, nicht etwa, um diese als affektive Eingrabung zu begreifen, sondern vielmehr als Einschreibung im Sinne einer Zeichenritzung. Ludwig Wittgenstein: „Philosophische Untersuchungen 115“, in: Ders., Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1960, S. 343. 21 Vgl. Mirjana Vrhunc: Bild und Wirklichkeit. Zur Philosophie Henri Bergsons, München: Fink 2002, S. 191. 22 Vgl. ebd., S. 138 u. 159. 23 Jean Laplanche/Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973, S. 628. 24 Vgl. M. Vrhunc: Bild und Wirklichkeit, S. 168 u. 171. 25 Vgl. ebd., S. 172. 26 Vgl. ebd., S. 171.
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Marie-Luise Angerer Der Künstleringenieur Olafur Eliasson hat im Jahr 2008 mitgeholfen, die Gesellschaft für Neuro-Ästhetik in Berlin aus der Taufe zu heben. Eliasson wird von vielen als ein neuer/alter Künstlertypus gefeiert, der nicht mehr im Atelier, sondern im Labor produziere – eine Produktion betreibe, die die Natur nachbilde. Für Bruno Latour ist Eliasson der Künstler, der an die Wahrnehmungs-Experimente des 19. Jahrhunderts anschließt, um die heutigen Bedingungen des Überlebens zu erforschen. Man mag nun darüber streiten, ob das Weather Project unser Überleben erforscht, Tatsache ist, dass Projekte wie dieses viele wieder „glauben machen“. So meinte Friedrich Kittler im Kunstforum Denken 3000: „Peter Weibel hat mich von Eliasson überzeugt. Das fanden wir einfach hinreißend. […] Die sollen heilig bleiben, die Bilder.“27 Mit „Leg Dich hin und sei still!“28 hat ein Journalist die Glaubensgemeinde in der Tate Modern in London beim Eintauchen in das Weather Project beschrieben. „Alles bleibt gut“, ließe sich das gegenwärtige Motto der Gehirnforschung im Verbund mit dieser Kunstrichtung umschreiben. Kunst macht demnach nicht nur wieder Sinn, sondern dient der Sinnproduktion, die den Riss zwischen Subjekt und Welt zu schließen imstande ist. Doch nicht nur die Kunst arbeitet daran, die Kollateralschäden der Sprache auszugleichen, auch die Medien haben den affektiven turn längst vollzogen.
Medien als Signale/Signale der Medien Derrick de Kerckhove, Leiter des McLuhan Instituts in Toronto, hat den digitalen Medien die Aufgabe übertragen, die durch das Alphabet hervorgerufenen Kollateralschäden auszugleichen. Computer und Gehirn sind seiner Meinung nach parallele Einrichtungen, die eine nicht mehr umkehrbare Synthese eingegangen sind, die einschneidende Konsequenzen für den Menschen, seine Wahrnehmung sowie seine Handlungen nach sich ziehen werde. Denn der menschliche Körper wird zukünftig mit allen seinen Sinnen in die MedienApparaturen integriert/eingespannt sein, weshalb seine sinnlichen, präbewussten, präsprachlichen Reaktionen eine besondere Rolle spielen werden. Die Kommunikation werde durch die digitalen Medien das Stadium der Wort-Werdung überspringen und eine direkte Verbindung mit dem physischen Körper aufnehmen. Ein Hinweis darauf, wie sehr die neuen Medienmaschinen die Körper bereits erobert haben, sieht de Kerckhove mit der Konjunktur der Computer27 Kunstforum International: Denken 3000, Bd. 190, 2008, S. 113 u. 111. 28 Stefan Kaufer: „Leg dich hin und sei still. Olafur Eliasson hat in der Galerie Tate Modern in London ein überwältigendes Szenario installiert“, Frankfurter Rundschau, 04.01.2009, http://www.fr-online.de vom 10.04.2009.
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Das Phantasma der Signale spiele gegeben. Dieses Eintauchen und Hineingezogenwerden gehört für ihn zu den überzeugendsten Neuerscheinungen unseres Alltags: Ein „Sog“, der zum „Ende der Theorie“ und der sie begleitenden Distanz sowie zu einem „Ende der Dominanz des Visuellen“ führen wird. Riechen, Tasten und Hören erfahren in diesem Prozess eine „cyberkulturelle“ Adaption.29 Bereits in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts hat es eine (wieder-)belebte30 „physiologische“ Orientierung innerhalb der Medienforschung in Deutschland gegeben, die allerdings sehr schnell verebbte – und heute über Umwege ihre Reanimation zu feiern scheint. Ich spiele damit auf die Forschungsgruppe um Hertha Sturm an, die die berühmte „fehlende Sekunde“ empirisch feststellte und dem Fernsehen a) zu rasche Bilderabfolge sowie b) ein Auseinanderklaffen von Bild und Text bescheinigte.31 Wahrnehmung und Bewusstsein weisen, wie diese Untersuchungen empirisch zu belegen vorgaben, eine zeitliche Kluft auf, die das Fernsehen schließen müsse, um Bedeutung übertragen zu können. Diese Forschungen folgen Befunden, wie sie beispielsweise von dem Biologen Jakob von Uexküll in seiner Theoretischen Biologie32 formuliert worden sind. Uexküll geht dort von einer 1/18 Sekunde aus, die dem Menschen aufgrund seines Wahrnehmungsapparats entgeht: 18 Stöße in einer Sekunde werden als gleichmäßiger Druck empfunden, 18 Luftschwingungen in einer Sekunde als einheitlicher Ton gehört, usw.. Exemplarisch und am überzeugendsten hat dies wohl das Kino als „[d]as technische Medium […], das Bewegung als Infinitesimalkalkül implementiert“33, vorgeführt. Ebenfalls am Film macht Brian Massumi seine Kulturtheorie des Affekts fest und lässt seine Analyse mit einem traumatischen Erlebnis Ronald Reagans als Filmschauspieler beginnen. Reagans Autobiographie trägt den Titel Where is the rest of me?, ein Satz, den Reagan im Film Kings Row (Sam Wood, 1942) stammelt, als er nach
29 Vgl. Simone Mahrholz: „Derrick de Kerckhove – Medien als Psychotechnologien“, in: Alice Lagaay/David Lauer (Hg.), Medien-Theorien. Eine philosophische Einführung, Frankfurt a. M./New York: Campus 2004, S. 69–95, hier S. 86 f. 30 Wiederbelebung in Anspielung auf die immer wieder unternommenen Körperexperimente beim frühen Kino; vgl. Ute Holl: Kino, Trance & Kybernetik, Berlin: Brinkmann und Bose 2002. 31 Ich habe noch zu Beginn meines Studiums der Kommunikationswissenschaften Ende der 70er Jahre in Wien diese Ergebnisse als Orientierungsanleitung für Fernsehmacher_innen vorgetragen gehört. 32 Vgl. Jakob von Uexküll: Theoretische Biologie [1928], Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973. 33 Stefan Rieger: Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 137 u. 183.
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Marie-Luise Angerer einem Autounfall aus der Bewusstlosigkeit erwacht und feststellen muss, dass ihm beide Beine fehlen, die ihm aus Rache für sein Liebesverhältnis mit der Tochter des Chirurgen amputiert worden sind. Soweit die Filmgeschichte. Massumi hat für sein Anliegen ein anderes Moment in den Vordergrund gerückt. Er betont nicht die Amputation, sondern das Umkippen als zentrales Moment, wenn für Reagan, den Schauspieler, sein Satz – für den Bruchteil eines Augenblicks – real wird. Seine Beine sind nicht mehr da, die Hälfte seines Körpers fehlt: „Where is the rest of me?“ Was Reagan hier beschreibt, ist jener Augenblick, jener Event, der sich nicht benennen lässt, der jedoch, wie Massumi ausführt, einen Raum markiert, wo sich die Unmöglichkeit des Subjekts zeigt, sich in Bewegung zu sehen: „He is in the space of duration of an ungraspable event.“ 34 In der Bewegung des Körpers blitzt eine Leere auf, die sich als Bild verschleiert und im Affekt Bewegung verschafft. Alle diese Definitionsmomente sowie empirischen Ansätze, dem Affektiven der Medien auf die Spur zu kommen, können jedoch ohne weiteres mit einer Affekt- bzw. Signalbestimmung der Psychoanalyse zusammen geführt werden. Freud hat auf den Affekt als Signal mehrfach aufmerksam gemacht. So stellt er z. B. in der 25. Vorlesung über „Die Angst“ diese mit dem Signal und dem Affekt in Beziehung. Nach Freud kommt der Affekt dann ins Spiel, wenn die Angstentwicklung sich auf ein Signal reduziert.35 Auch Lacan hat den „Affekt-als-Signal“ aufgegriffen und betont, mit Freud sei unmissverständlich klar geworden, dass Affekte einen konventionellen, künstlichen Charakter aufweisen, sie jedoch keine Signifikanten seien, sondern Signale. „Die Angst ist ein Affekt. Es ist absurd zu sagen, ich interessiere mich nicht für Affekte. Ich sage nur, dass Affekte nicht das in seiner Unmittelbarkeit/Unvermitteltheit gegebene Sein sind, noch das Subjekt in seiner rohen Form. Er ist keinesfalls protopathique. Der Affekt ist nicht verdrängt – er ist verrutscht (wie eine Schiffsladung), er driftet, er ist verschoben, verrückt, verkehrt […] aber nicht verdrängt.“36
Wie die „verrutschte Schiffsladung“ schön zum Ausdruck bringt, ist der Affekt – als Signal – gedoppelt, denn das Signal als konkretes physikalisches Ereignis speichert oder überträgt die Zeichen mit
34 Brian Massumi: „The Bleed: Where the Body meets Image“, in: John C. Welchman (Hg.), Rethinking Borders, Minneapolis: University of Minnesota Press 1996, S. 18–40, hier S. 29. 35 Vgl. Sigmund Freud: „Die Angst“ [1916–17], in: Ders., Studienausgabe, Bd. I, Frankfurt a. M.: Fischer 1969, S. 380–397, hier S. 382 f. 36 Jacques Lacan,: Le Séminaire. Livre X: L’angoisse, Paris: Seuil 2004, S. 23 (deutsche, nicht publizierte Übersetzung von Gerhard Schmitz).
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Das Phantasma der Signale Hilfe einer geeigneten Codierung. Doch die beiden Seiten einer Medaille adressieren, wie Bernhard Siegert beschrieben hat, je andere „Qualitäten“: „Während Zeichen das Vorstellungs- bzw. Erkenntnisvermögen (Seele oder Verstand) adressieren, sind Vorstellung und Erkenntnis im Fall des Signals nur Relais für die Auslösung einer motorischen Aktion oder Reaktion.“37 Siegerts informationstheoretische und psychoanalytische Bestimmung weist deutlich in Richtung der Freudschen Affektdefinition, die klar zum Ausdruck bringt, dass der Affekt keiner Verdrängung unterliegen kann. Dies kann nur einer Vorstellung passieren. Diese subtilen Unterschiede sind heute jedoch nicht mehr gefragt. Mit Modellen und generalisierenden Gesten versuchen die Neurowissenschaften vielmehr, Freuds Psychoanalyse in ihren Dienst zu nehmen und seinen psychischen Apparat in ihre Sprache zu übertragen. Edith Seifert hat in Seele-Subjekt-Körper. Freud und Lacan in Zeiten der Neurowissenschaft diese Übersetzung einer kritischen Untersuchung unterzogen und geschlussfolgert, dass beide Pole sich in zentralen Punkten unüberbrückbar gegenüberstehen. Die Psychoanalyse als Metatheorie ist eine Wissenschaft, die nicht durch neue empirische Befunde der Neurowissenschaften ihren Mangel beheben könnte. Ihr Wissen ist eines, das den „anderen Schauplatz“ immer mit einbezieht. „Ein Wissen, über das, weil es ein Wissen des Unbewussten ist, immer ein ethisches ›non licet‹ wacht.“38 Die tiefe Spaltung zwischen beiden Wissenschaften verläuft quer durch ihr jeweiliges Verständnis von Sprache. Ist diese für die Neurowissenschaften Kommunikation und Informationsübertragung, ist sie in der Psychoanalyse immer auch Artikulation eines Begehrens und Anspruchs. Vergleicht man diese anachronistisch klingenden Bestimmungen von Sprache und Affekt mit neueren Tendenzen innerhalb der Medienwissenschaften, wird eine Verlagerung deutlich, die darin besteht, dem Körperlichen, Affektiven, Signal-Reiz-Reaktionen und dergleichen den Vorzug zu geben. Hatte die Filmtheorie der 70er Jahre kein Interesse am Gefühl und seinen Wirkungen auf den Zuschauer, verfolgen die Medien-Untersuchungen heute keine imaginäre Identifikation mehr, sondern sind vor allem an den Gehirnarealen und deren Aktivierungen interessiert bzw. folgen dem Körper in seinen Reisen durch die audiovisuellen Umgebungen. Das im Titel angekündigte „Phantasma der Signale“ unterwandert diese Verschiebung, verweist auf ein Imaginäres der Medien37 Bernhard Siegert: Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1500–1900, Berlin: Brinkmann und Bose 2003, S. 256. 38 Edith Seifert: Seele-Subjekt-Körper. Freud und Lacan in Zeiten der Neurowissenschaft, Gießen: Psychosozial Verlag 2008, S. 308.
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Marie-Luise Angerer wissenschaften, das – wie im Kino der 70er Jahre – an eine Wirklichkeit vor der Wirklichkeit appelliert: Ich weiß, aber dennoch. Doch an unerwarteter und unliebsamer Stelle zeigt sich die Brüchigkeit dieses Appells. Computerspielsüchtige kids wissen, wo die Grenzen ihrer Spiele verlaufen, und auch jugendliche Amokläufer haben nie eindeutig ihr Spiel auf ihre Realität übertragen, vielmehr ist diese – die Realität – überwältigend; und der Sog in die virtuellen Welten bietet in diesem Fall nicht länger Puffer.
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Autorinnen und Autoren
SIGRID ADORF ist Kunstwissenschaftlerin und Dozentin am Institute
for Cultural Studies in the Arts der Zürcher Hochschule der Künste. Sie arbeitet u. a. zu (Medien-)Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts und zu Bild- und Medientheorien. Studium der Kunstwissenschaft/ Kunstpädagogik und Biologie in Marburg und Bremen. Seit 2006 Redaktionsmitglied von FKW Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur (Marburg). Veröffentlichungen u. a.: Operation Video. Eine Technik des Nahsehens und ihr spezifisches Subjekt (Bielefeld 2008); Hg. (gem. m. J. John): „Das Private bleibt politisch. Symptomatische Subjektentwürfe der Gegenwart“ (FKW Zeitschrift für Geschlechterforschung und Visuelle Kultur 49/2010); „Performances für die Kamera als Medienkritik: ‚so bin ich gegen Bilder auch stärker und größer geworden‘ (Anna Winteler)“ (S. Gebhardt et al., Hg., Performance Chronik Basel, Zürich 2011, im Erscheinen). MARIE-LUISE ANGERER ist Professorin für Medien- und Kulturwissen-
schaften an der Kunsthochschule für Medien Köln, deren Rektorin sie von 2007 bis 2009 war. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Medientheorie des Affektiven, NatureMedia und Subjektivität im Zeitalter der virtuellen Anderen. Veröffentlichungen u. a.: Vom Begehren nach dem Affekt (Zürich/Berlin 2007); Hg. (gem. m. C. König), Gender goes Life. Die Lebenswissenschaften als Herausforderung für die Gender Studies (Bielefeld 2008); „Gefühlsblindheit oder von der Schwierigkeit, Gefühle wissenschaftlich zu erklären“ (Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 2/2010); Redaktion (gem. m. K. Harrasser) Menschen & Andere (= Zeitschrift für Medienwissenschaft 1/2011). JOHANNES BINOTTO ist Assistent am Englischen Seminar der Universi-
tät Zürich. Er arbeitet zu Psychoanalyse, Literatur und Film. Studium der Germanistik, Anglistik und Philosophie in Zürich. Promotion mit einer Studie zum Freud’schen Unheimlichen und dessen räumlicher Repräsentation in Bildender Kunst, Literatur und Film. Seit 2005 Leitung des Seminars „Film & Psychoanalyse“ am Zürcher Lacan-Seminar. Freier Journalist und Autor u. a. für die Neue Zürcher Zeitung. Veröffentlichungen u. a.: „Höhle und Gang. Vom unheimlichen Raum des Films“ (S. Rüttimann, Hg., Im Untergrund, 291
Medias in res Nürnberg 2007); „Das Verbrechen des Schauplatzes. Unheimliche Tatorte in der Fotografie“ (U. Stahel, Hg., Darkside II, Göttingen 2009); „Schnittechnik des psychischen Apparats“ (Y. Frenzel Ganz/ M. Fäh, Hg., Cinépassion, Gießen 2010); „Che vuoi? Mafia und die Hysterie der Männer“ (M. Läubli/S. Sahli, Hg., Männlichkeiten denken, Bielefeld 2011) LORENZ ENGELL ist Professor für Medienphilosophie an der Universität
Weimar und Direktor (gem. m. Bernhard Siegert) des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie in Weimar. Er arbeitet zu Film und Fernsehen als philosophischen Apparaturen und Agenturen, medialen Historiographien und Zeichensystemen. Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, Romanistik und Kunstgeschichte in Köln. Gründungsdekan der Fakultät Medien der Universität Weimar. Veröffentlichungen u. a.: Bewegen Beschreiben. Theorie zur Filmgeschichte (Weimar 1995); Playtime. Münchener Film-Vorlesungen (Konstanz 2010); „Medien waren: möglich. Eine Polemik“ (C. Pias, Hg., Was waren Medien? Zürich 2011). HELGA FINTER ist Professorin für Theorie, Ästhetik und Geschichte des Theaters an der Universität Gießen. Sie arbeitet u. a. zur Ästhetik der Stimme, zur Theatralität postdramatischer Texte sowie zum Verhältnis von Theater und Medien. Studium der Romanistik und Geschichte in Freiburg, Konstanz und Paris. Gastseminare am Collège de Philosophie, Paris und an den Universitäten Venedig, Straßburg und Avignon. Redaktionsmitglied von New Theatre Quarterly und Herausgeberin der Reihe theaomai. Studien zu den performativen Künsten. Veröffentlichungen u. a.: Der subjektive Raum (Tübingen 1990); Hg., Das Reale und die (neuen) Bilder (Frankfurt a. M. u. a. 2008); „Theater als Ort des Denkens“ (Vorwort zu J.-L. Nancy, Nach der Tragödie, Stuttgart 2008). URSULA VON KEITZ ist Professorin für AV-Medienwissenschaft mit dem
Schwerpunkt Film an der Universität Bonn. Sie arbeitet zur Geschichte, Ästhetik und Theorie des Films, zu Gender Studies und zur historisch-kritischen Filmedition. Koordinatorin der Arbeitsgruppe „Filmwissenschaft/Cinema Studies“ in der Gesellschaft für Medienwissenschaft. Studium der Germanistik, Philosophie und Sprecherziehung an den Universitäten Regensburg und München. Mitglied des Graduiertenkollegs Theorie der Literatur, Kommunikation und Medien an der Universität Konstanz (1994 bis 1995). Leitende Kuratorin und stellv. Direktorin des Deutschen Filminstituts Frankfurt a. M. (1998 bis 2000). Oberassistentin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich und Dozentin für Filmtheo-
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Autorinnen und Autoren rie an der Zürcher Hochschule der Künste (2003 bis 2007). Veröffentlichungen u. a.: Im Schatten des Gesetzes. Schwangerschaftskonflikt und Reproduktion im deutschsprachigen Film 1918–1933 (Marburg 2005); Hg. (gem. m. H. G. v. Arburg et al.), Mehr als Schein. Oberflächenphänomene in Film, Kunst, Literatur und Theater (Zürich/Berlin 2008); „Körper – Fleisch – Ding. Zur weiblichen Figur in G. W. Pabsts Die freudlose Gasse“ (A. Loacker, Hg., Wien, die Inflation und das Elend, Wien 2008). SYBILLE KRÄMER ist Professorin für theoretische Philosophie an der
Freien Universität Berlin. Sie arbeitet u. a. zur Philosophie der Sprache und des Geistes, zu Theorien der Medien und des Performativen sowie zur Philosophie des Bildes, der Diagramatik und der Schrift. Studium der Philosophie, Geschichte und Sozialwissenschaften in Hamburg und Marburg. Gastprofessuren in Zürich, Wien, Graz und Luzern. Seit 2007 Mitglied im Scientific Panel des European Research Council, seit 2010 Mitglied in Senat und Hauptausschuss der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Sprecherin des Graduiertenkollegs Schriftbildlichkeit und Projektleiterin „Diagrammatik in systematischer und historischer Perspektive“ im Exzellenzcluster TOPOI. Veröffentlichungen u. a.: Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in geschichtlichem Abriss (Darmstadt 1988); Sprache, Sprechakt, Kommunikation (Frankfurt a. M. 2006, 3. Aufl.); Hg., Computer, Medien, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien (Frankfurt a. M. 2009, 4. Aufl.); Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität (Frankfurt a. M. 2008); „Operative Bildlichkeit“ (M. Hessler/D. Mersch, Hg., Logik des Bildlichen, Bielefeld 2009) HANS-JOACHIM LENGER ist Professor für Philosophie an der Hochschule
für bildende Künste Hamburg. Er arbeitet u. a. zur Ästhetik ‚neuer‘ Medien und zum Denken des Politischen. Chefredaktor der Zeitschrift Spuren (1983 bis 1991). Zahlreiche Beiträge in Zeitschriften und Rundfunksendungen. Veröffentlichungen u. a.: Hg. (gem. m. G. C. Tholen), Mnêma. Derrida zum Andenken (Bielefeld 2007); Marx zufolge (Bielefeld 2004); Hg. (gem. m. M. Ott et al.), Virtualität und Kontrolle (Hamburg 2010). RAINER LESCHKE ist Professor für Medienwissenschaft an der Universi-
tät Siegen. Er arbeitet zur Theorie, Ethik, Geschichte und Ästhetik der Medien. Studium der Germanistik und Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Seit 1990 wissenschaftlicher Koordinator im Fach Medienwissenschaften an der Universität Siegen. Veröffentlichungen u. a.: Einführung in die Medienethik (München 2001); Ein-
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Medias in res führung in die Medientheorie (München 2003); Medien und Formen. Eine Morphologie der Medien (Konstanz 2010). DIETER MERSCH ist Professor für Medienphilosophie und -theorie an der Universität Potsdam. Er arbeitet u. a. zur Medien-, Kunst- und Sprachphilosophie. Studium der Mathematik und Philosophie in Köln und Bochum. Dozent für Wirtschaftsmathematik an der Universität und der Fachhochschule Köln (1983 bis 1994), wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Darmstadt (1997 bis 2000), Gastprofessor für Kunstphilosophie an der Muthesius-Hochschule für Kunst und Gestaltung in Kiel (2001 bis 2004). Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: Ereignis und Aura (Frankfurt a. M. 2002); Medientheorien zur Einführung (Hamburg 2006); Posthermeneutik (Berlin 2010). KARL PRÜMM ist Professor em. für Medienwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Er arbeitet u. a. zur Filmgeschichte und -theorie, zur Kameraarbeit und Kameraanalyse, zum Verhältnis von Literatur und Film sowie zur Geschichte und Ästhetik des Fernsehens. Studium der Germanistik und Geschichtswissenschaften in Marburg und Saarbrücken. Professor auf Zeit für Literaturwissenschaft und Medienwissenschaft an der Universität Siegen (1981 bis 1986), Professor für Theaterwissenschaft im Bereich Film und Fernsehen an der Freien Universität Berlin (1986 bis 1994). Begründer des Marburger Kamerapreises. Veröffentlichungen u. a.: (gem. m. B. Felsmann) Kurt Gerron. Gefeiert und gejagt. Das Schicksal eines deutschen Unterhaltungskünstlers (Berlin 1992); Hg. (gem. m. S. Bierhoff/M. Körnich), Kamerastile im aktuellen Film. Berichte und Analysen (Marburg 1999); Hg. (gem. m. H. B. Heller et al.), Über Bilder Sprechen. Positionen und Perspektiven der Medienwissenschaft (Marburg 2000); Hg. (gem. m. A. Kirchner/M. Richling), Abschied vom Zelluloid? Beiträge zur Geschichte und Poetik des Videobildes (Marburg 2008). LAURENCE A. RICKELS ist seit 2011 Professor für Kunst und Theorie an
der Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe. Er arbeitet zur Psychoanalyse und zur Kritik der modernen Massenmedienkultur. Studium der Anglistik, Germanistik, Komparatistik und Philosophie an der University of Pennsylvania, der Freien Universität Berlin und der Princeton University. Professor für Deutsche Literatur und Komparatistik und außerordentlicher Professor für Kunst und Film an der University of California, Santa Barbara (1981 bis 2011), Professor für Medientheorie und Philosophie an der European Graduate School in Saas-Fee (seit 2005). Veröffentlichungen u. a.: Der
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Autorinnen und Autoren unbetrauerbare Tod (Wien 1990); Vampirismus Vorlesungen (Berlin 2007); Geprüfte Seelen (Wien 2011). AVITAL RONELL ist Professorin für vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik und Englisch an der New York University und Professorin für Philosophie an der European Graduate School in SaasFee. Studium u. a. bei Jacob Taubes in Berlin, Promotion in Germanistik an der Princeton University, danach Professorin für vergleichende Literaturwissenschaft an der University of California at Berkeley. Sie arbeitet zur Dekonstruktion, Philosophie und literarischen Diskursen, zu feministischer Theorie, zur Psychoanalyse, Medientheorie und Performancekunst. Veröffentlichungen u. a.: Der Goethe-Effekt. Goethe – Eckermann – Freud (München 1994); Das Telefonbuch. Technik, Schizophrenie, elektrische Rede (Berlin 2001); The Test Drive (Illinois 2005); Dummheit (Berlin 2005). MANFRED SCHNEIDER ist Professor für Neugermanistik, Ästhetik und literarische Medien an der Universität Bochum. Er arbeitet u. a. zu Literatur und Recht, zu Diskurstheorie und Kulturkritik. Studium der Germanistik, Romanistik, Musikwissenschaft und Philosophie an der Universität Freiburg i. Br. Privatdozent in Freiburg (1979 bis 1981), Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Essen (1981 bis 1999), Gastprofessuren in Paris, Japan und den USA. Veröffentlichungen u. a.: Die erkaltete Herzensschrift (München/Wien 1986); Der Barbar. Endzeitstimmung und Kulturrecycling (München/Wien 1997); Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft (Berlin 2010). BERNHARD SIEGERT ist Professor für Geschichte und Theorie der Kultur-
techniken an der Bauhaus-Universität Weimar und Direktor (gem. m. Lorenz Engell) des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie in Weimar. Er arbeitet u. a. an einer Kultur- und Mediengeschichte der Seefahrt, an einer Theorie des Klappobjekts sowie zu Medien der Architektur. Studium der Germanistik, Philosophie, Allgemeinen und Vergleichenden Sprachwissenschaft, Judaistik und Geschichte an der Universität Freiburg i. Br. Mitbegründer und Sprecher (2006 bis 2008) des Graduiertenkollegs Mediale Historiographien. Senior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaft in Wien (2004/05), Gastprofessor an der University of California, Santa Barbara (2008 und 2011). Veröffentlichungen u. a.: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post (1751–1913) (1993); Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1500–1900 (2003); Pas– sagiere und Papiere. Schreibakte auf der Schwelle zwischen Spanien
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Medias in res und Amerika (2006); Mitherausgeber des Archivs für Mediengeschichte und der Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung. ANNA TUSCHLING ist Juniorprofessorin für Medien und anthropologisches Wissen an der Ruhr-Universität Bochum und Mitglied der Mercator-Forschergruppe „Räume anthropologischen Wissens“ sowie im DFG-Netzwerk „Spielformen der Angst“. Studium der Psychologie, Germanistik und Medienwissenschaft in Marburg, Trier, Bremen und Basel. Sie arbeitet an einem Buch zu Medialität und Angst; weitere Forschungsschwerpunkte sind: Kritische Medienanthropologie, Medientheorie des Unbewussten, Lernregimes und Lerntechniken. Veröffentlichungen u. a.: Klatsch im Chat (Bielefeld 2009); „Deutungswahn und Wahnanalyse. Die Paranoia ein Medienapriori?“ (M. Krause/A. Meteling/M. Stauff, Hg., The Parallax View, München 2011); „Lebenslanges Lernen als Bildungsregime der Wissensgesellschaft“ (Berliner Debatte Initial 4/ 2009).
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MedienAnalysen Anton Bierl, Gerald Siegmund, Christoph Meneghetti, Clemens Schuster (Hg.) Theater des Fragments Performative Strategien im Theater zwischen Antike und Postmoderne 2009, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-999-2
Regine Buschauer Mobile Räume Medien- und diskursgeschichtliche Studien zur Tele-Kommunikation 2010, 364 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1246-2
Nadja Elia-Borer, Samuel Sieber, Georg Christoph Tholen (Hg.) Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien September 2011, 346 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1779-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
MedienAnalysen Till A. Heilmann Textverarbeitung Eine Mediengeschichte des Computers als Schreibmaschine Dezember 2011, ca. 260 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1333-9
Stefan Münker Philosophie nach dem »Medial Turn« Beiträge zur Theorie der Mediengesellschaft 2009, 224 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1159-5
Claudia Reiche Digitale Körper, geschlechtlicher Raum Das medizinisch Imaginäre des »Visible Human Project« April 2011, 398 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1713-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
MedienAnalysen Andy Blättler, Doris Gassert, Susanna Parikka-Hug, Miriam Ronsdorf (Hg.) Intermediale Inszenierungen im Zeitalter der Digitalisierung Medientheoretische Analysen und ästhetische Konzepte
Anna Tuschling Klatsch im Chat Freuds Theorie des Dritten im Zeitalter elektronischer Kommunikation 2009, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-952-7
2010, 262 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1191-5
André Eiermann Postspektakuläres Theater Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste 2009, 424 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1219-6
Michael Harenberg, Daniel Weissberg (Hg.) Klang (ohne) Körper Spuren und Potenziale des Körpers in der elektronischen Musik 2010, 256 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1166-3
Dominik Landwehr Mythos Enigma Die Chiffriermaschine als Sammler- und Medienobjekt 2008, 258 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-893-3
Joachim Michael Telenovelas und kulturelle Zäsur Intermediale Gattungspassagen in Lateinamerika 2010, 404 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1387-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
:F+ :EITSCHRIFTFàR+ULTURWISSENSCHAFTEN DYj]fÛD+`jaf_Û]f]jYlagfÛafl]j\akrahdafj]jÛGagfa]j]Ûfg[`Ûo]fa_Û]jk[`dgkk]f @fÛ\a]k]jÛJalmYlagfÛkgddÛ\a]ÛQ]alk[`ja^lÛ^1jÛBmdlmjoakk]fk[`Y^l]fÛ]af]ÛGdYll^gjeÛ^1jÛ ;akcmkkagfÛmf\ÛBgfljgn]jk]Û1Z]jÛBmdlmj Ûmf\Û\a]ÛBmdlmjoakk]fk[`Y^l]fÛZa]l]fÛ ;a]Û>]_]foYjlÛZjYm[`lÛe]`jÛ\]ffÛb]Ûj]^d]cla]jl]ÛBmdlmjÛ`aklgjak[`Ûkalma]jl]kÛmf\Û kgraYdÛn]jYflogjl]l]kÛNakk]fÛ8mkÛ\]fÛ]¤Û k[`a[`l]Ûmf\Û>]\[`lfakÛngfÛ