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German Pages [401] Year 2019
Alexander Kremling
Eingreifen und Schließen Interventionistische Kritik kausaler Erkenntnis
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ALBER THESEN
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Alexander Kremling
Eingreifen und Schließen Interventionistische Kritik kausaler Erkenntnis
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Alexander Kremling Intervention and Inference Interventionist critique of causal knowledge What role does practical knowledge play in the recognition of causes and effects? How can experimental results be used as arguments in the fields of evolutionary biology or therapeutic knowledge in medicine? Can limits of causal knowledge be tied to possibilities of intervention? The book explores these questions with a discussion of the philosophical theory of causation of interventionism and a series of science-theoretical case studies in physics, biology, evolutionary biology, psychology, medicine, and psychiatric and psychoanalytic research.
The Author: Alexander Kremling, born in 1986, studied philosophy at the Philipps-University Marburg. He then went on to study »Philosophy of Knowledge and Sciences« at the Technical University of Berlin. In 2017 he received his doctorate from the Free University of Berlin.
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Alexander Kremling Eingreifen und Schließen Interventionistische Kritik kausaler Erkenntnis Welche Rolle spielt Handlungswissen bei der Erkenntnis von Ursachen und Wirkungen? Wie argumentiert man etwa mit Experimentalergebnissen in der Evolutionsbiologie oder therapeutischem Wissen in der Medizin? Lassen sich Grenzen kausaler Erkenntnis gerade auch an Möglichkeiten des Eingreifens festmachen? Diesen Fragen geht das Buch nach – mit einer Diskussion der philosophischen Kausalitätstheorie des Interventionismus und einer Reihe wissenschaftstheoretischer Fallstudien aus der Physik, Biologie, Evolutionsbiologie, Psychologie, Medizin sowie psychiatrischer und psychoanalytischer Forschung.
Der Autor: Alexander Kremling, geboren 1986, studierte Philosophie an der Philipps-Universität Marburg. An der Technischen Universität Berlin folgte das Studium von »Philosophie des Wissens und der Wissenschaften«. 2017 wurde er an der Freien Universität Berlin promoviert.
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Alber-Reihe Thesen Band 72
Gedruckt mit Unterstützung der Ernst-Reuter-Gesellschaft e. V.
© VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: Alexander Kremling Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN Print 978-3-495-48972-7 ISBN E-Book (PDF) 978-3-495-81737-7
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Inhaltsverzeichnis 11
Einleitung
I
Kritik des Interventionismus
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Explikation 1.1 Interventionismus – ein vorläufiges Verständnis 1.2 Explikation – ein Modell 1.3 Der Streit als Explikationsdebatte
17 17 19 25
2 Die Explikationsdebatte um den Interventionismus 2.1 Der skeptische Einwand 2.1.1 Erste Folgen für Argumentrekonstruktionen: Umgang mit möglichem Handlungsirrtum 2.2 Der Zirkeleinwand 2.2.1 Explikationszirkel durch kausale Theorie der Handlungsfolge 2.2.2 Explikationszirkel durch kausale Theorie des Handelns 2.2.3 Einführungsoptionen zum Handlungsbegriff 2.2.4 Weitere Folgen für Argumentrekonstruktionen: Begründungsordnung 2.3 Der Einwand nicht manipulierbarer Kausalverhältnisse 2.3.1 Der Modelleinwand 2.3.2 Einwände gegen eine operationale Einführung 2.3.3 Weitere Folgen für Argumentrekonstruktionen: Modelle 2.4 Zusammenfassung 2.4.1 In explikativer Hinsicht
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38 41 45 49 52 56 61 67 71 84 90 90
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2.4.2
II
8
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In explanatorischer Hinsicht
Argumentationsschemata
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3 Vorüberlegungen 3.1 Handlungswissen 3.2 Zu den folgenden Argumenten 3.2.1 Analogieargumente 3.2.2 Galileis Erklärung der Gezeiten 3.2.3 Zur Form der kommenden Argumente
97 98 104 104 109 121
4 Spezielle Typen kausaler Schlüsse 4.1 Physik 4.1.1 Physikalische Argumente 4.1.2 Physikalische Argumenttypen 4.1.3 Anwendungen 4.2 Biologie I 4.2.1 Biologische Argumente I 4.2.2 Biologische Argumenttypen I 4.2.3 Tiermodelle 4.3 Biologie II: Evolutionsbiologie 4.3.1 Evolutionäre Argumente 4.3.2 Evolutionsbiologische Argumenttypen 4.3.3 Exkurs: Darwins Leistung 4.4 Psychologie 4.4.1 Wird ein Prinzip der Toleranz vorausgesetzt? 4.4.2 Was folgt aus Instruktionen? 4.4.3 Kausalaussagen und Handlungsstatus 4.4.4 Ego Depletion 4.5 Medizin 4.5.1 Medizinische Argumente 4.5.2 Argumentformen der Medizin 4.6 Psychiatrie 4.6.1 Psychiatrische Argumente 4.6.2 Tiermodelle in psychiatrischer Forschung 4.6.3 »Stop Searching for Big, Simple Explanations«?
125 128 133 142 147 161 165 184 188 192 196 211 218 224
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227 230 231 234 237 243 278 289 296 307 309
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4.6.4 4.7
4.8
Reduktionismus psychiatrischer Erklärungen Psychoanalyse 4.7.1 Psychoanalytische Argumente 4.7.2 Psychoanalytische Argumentformen 4.7.3 Psychoanalyse im medizinischen Forschungsprogramm? Schluss
311 317 321 332 337 342
5 Anhang 5.1 Zusammenfassung 5.2 Summary
349 349 362
Literatur
375
Personenregister
391
Sachregister
395
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Dank Aus den vielen kleinen und größeren Unterstützungen auf dem Weg zu dieser Arbeit möchte ich mich hier wenige besonders herausheben: Ich danke Prof. Dr. Holm Tetens und Prof. Dr. Jan Slaby für die Betreuung der Arbeit und ihr Vertrauen sowie allen Mitgliedern des Forschungskolloquiums von Prof. Tetens, die mit vielen Hinweisen für Verbesserung gesorgt haben. Besonders danke ich dabei Sebastian Cacean und David Löwenstein für detaillierte und konstruktive Kritik. Ich möchte Nils Naujoks für bedingungslose Unterstützung und Freundschaft danken, meinen Eltern für die Möglichkeit, bei der Philosophie zu bleiben, Dr. Matthias Warkus für Lektüre, unzählige kleine Hilfen und mentalen Support, Dr. Daniel Beis für den intensiven Austausch zu Biologie und Medizin. Zudem danke ich herzlich Prof. Dr. Winfried Löffler für einen folgenschweren Literaturhinweis und des weiteren für hilfreiche Kommentare Prof. Dr. Marco Buzzoni, Prof. Dr. Geo Siegwart, PD Stephan M. Fischer, Dr. Moritz Cordes, Karen Koch und Thomas Meyer. Und zuletzt natürlich Alamea – für Ablenkung und Ansporn.
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Einleitung Wissenschaftliches Wissen ist häufig faszinierend, aber nie unfehlbar. Ein erheblicher Teil wissenschaftlichen Wissens wird in Form von Aussagen über Ursachen und Wirkungen angegeben. Dieses Wissen um kausale Verhältnisse in der Welt hängt in vielerlei Hinsichten davon ab, was wir selbst als Handelnde in ihr bewirken können. Worin genau besteht diese Abhängigkeit des Wissens um Ursachen von unseren Fähigkeiten als Akteuren? Und wie kann man ihr philosophisch gerecht werden? Kann man sie vielleicht auch nutzen – zur Kritik wissenschaftlicher Erklärungsversuche, die ihren Ausgang von Experimenten nehmen? Diese Fragen werden die folgende Arbeit leiten. Dabei werden zwei traditionelle Bereiche der Philosophie miteinander in Kontakt gebracht, die meist getrennt voneinander betrieben werden: Die Sprachphilosophie, hier in Form der Philosophie der Kausalität, und die Angewandte Wissenschaftstheorie, hier in Form von Studien zu den tatsächlichen Bemühungen in verschiedenen Wissenschaften Ursachen zu erschließen. Während im einen Bereich im Anschluss an eine lange philosophische Tradition Definitionen von Kausalität, begriffliche Klärungen, Explikationen oder Unterscheidungen von Ursachetypen versucht wurden (und nach wie vor werden), wird im anderen Bereich untersucht, wie in den so unterschiedlichen Wissenschaften Ursachen erkannt werden. Das vorliegende Buch ist dieser Arbeitsteilung entsprechend in zwei Teile geteilt: Einen ersten, kausalitätstheoretischen, und einen zweiten, in dem im Detail unter anderem die Begründung von Ursachen so heterogener Vorgänge wie der Entstehung eines Sees in Sibirien, eines arttypischen Merkmals des menschlichen Auges, einer Infektionskrankheit oder einer psychischen Störung geht. Die Breite der im zweiten Teil vorgestellten Fallstudien aus 7 wissenschaftlichen Disziplinen (Physik, Biologie, Evolutionsbiologie, Psychologie, somatisch-medizinischer, psychiatrischer und psychoanalytischer Forschung) dient dem Zweck zu zeigen,
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Einleitung
dass zuvor eine Methode entwickelt wurde, die konkrete wissenschaftstheoretische Untersuchungen ermöglicht. Keine Disziplin wird bevorzugt oder als Idealtyp dargestellt. Vielmehr soll der gemeinsame Ausgangspunkt unser menschliches Eingreifen und das anschließende vernünftige Schließen daraus sein. Es soll davon überzeugt werden, dass sich so philosophisch, kritisch aber doch auch auf Detailebene einzelne kausale Erklärungsversuche von Wissenschaften darstellen und analysieren lassen. Entwickelt wird die Methode im ersten Teil der Arbeit – aus der Überzeugung, dass die Bereiche der Kausalitäts- und Angewandter Wissenschaftstheorie doch enger als üblich verknüpft gehören. Das stimmt sicher für die Kausalitätstheorie, um die es gehen wird – den handlungstheoretischen Interventionismus –, vielleicht aber auch generell: Kausalitätstheorien haben neben dem Versuch einer begrifflichen Klärung/Präzisierung/Definition immer auch die Fragen behandelt: »Was darf woraus geschlossen werden? Was nicht?« und »Wann darf unter Voraussetzung weiterer Annahmen auf ein Kausalverhältnis geschlossen werden?« Bei der Behandlung der Fragen, was Kausalität sei und wie man sie philosophisch fassen solle, wurde also immer auch das Implikationsverhältnis von Sätzen behandelt – das Erschließen von Ursachen und Wirkungen. Arbeitsteilung von Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie (andere sprechen von den separaten Projekten der Metaphysik und der Erkenntnistheorie) ist sicher nicht ganz unvernünftig. Inwiefern diese Trennung sinnvoll ist und inwiefern doch auch Abhängigkeiten und Einflüsse bestehen können – auch dafür kann das erste Kapitel als Fallstudie gelesen werden. Mit dem Interventionismus ist spätestens im 20. Jahrhundert eine Auffassung von Kausalität entstanden, mit der die Hoffnung auf eine besonders gut gelungene begriffliche Verknüpfung von Kausalität und menschlichem Handeln verknüpft war. Gerade angesichts der weiten Verbreitung experimenteller Praxen in Wissenschaften bietet sich der Interventionismus für einen genaueren Blick an. Tatsächlich ist ja das Experiment unverzichtbarer Bestandteil vieler Wissenschaften geworden. Eine Kausalitätstheorie also, die – angeblich – diesem Umstand Rechnung trägt, sollte man sich also genau anschauen. Die Arbeit ist motiviert durch die Vermutung, dass sich ein Teil der Erkenntnis-
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Einleitung
probleme von Wissenschaften und ein Teil der öffentlichen oder auch wissenschaftstheoretischen Dissense um Wissen und Geltungsansprüche diskutieren und im besten Fall lösen lassen, indem man das Verhältnis von Wissen um Ursachen und Wissen um die Folgen des eigenen Handelns untersucht. Der Interventionismus ist allerdings bis heute einigen Einwänden ausgesetzt. Die kritische Diskussion dieser Einwände sowie der Beispiele, die in der Debatte vorgebracht werden, soll das zweite Kapitel vorbereiten. Im ersten Kapitel wird also mehr die Rolle eines kritischen Moderators übernommen. Im zweiten Kapitel hingegen wird mit einer neu entwickelten Methode die Bedeutung von Handlungswissen für die Begründung von Kausalaussagen untersucht. Die Einwände und Gegeneinwände aus der Debatte um den Interventionismus sollen also nicht bis zum »Sieg« einer Partei ausgerungen, sondern plausibel rekonstruiert werden. Da dies für alle Einwände der Literatur, in expliziter Argumentform aus Prämissen und Konklusion sowie hinsichtlich einer Methodologie des Explizierens durchgeführt wird, soll durchaus ein Beitrag zur kausalitätstheoretischen Debatte geleistet werden. Eine Verteidigung oder Widerlegung des Interventionismus ist allerdings nicht das Ziel des ersten Kapitels. Letztlich geht es dort um die Frage: Was kann aus der Debatte für eine Angewandte Erkenntnis- bzw. Wissenschaftstheorie gelernt werden? Aus der Untersuchung des Interventionismus wird die Methode zur Kritik kausaler Erkenntnis entwickelt. Die Rekonstruktion der Auffassungen interventionistischer Autoren im ersten Teil und insbesondere die Diskussion der gegen sie vorgebrachten Einwände sollen Hinweise zum semantischen und inferentiellen Verhältnis von Kausalität und menschlichen Handlungen aufzeigen und für die Probleme beim Formulieren und Begründen von Kausalaussagen und Aussagen über Folgen unseres Handelns sensibilisieren. Die verschiedenen Hinweise und Erkenntnisse werden dann in einem argumentationstheoretischen Abschnitt zwischen den Kapiteln zu der erwähnten neuen Methode zur Analyse kausalen Schließens zusammengebracht – anhand einer Fallstudie zu Galileis Theorie der Gezeiten. Das anschließende Kapitel enthält dann die wissenschaftstheoretischen Fallstudien.
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Teil I Kritik des Interventionismus
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1 Explikation Als Hilfsmittel für einen neuen Zugriff auf die festgefahrene Diskussion um den Interventionismus soll eine Theorie des Explizierens vorgestellt werden, auf die die Einwände gegen den Interventionismus dann geordnet bezogen werden können. Zunächst jedoch soll ein erster Arbeitsbegriff zum Gegenstand der Debatte vorgestellt werden.
1.1 Interventionismus – ein vorläufiges Verständnis Unter »Interventionismus« sollen in einer ersten Näherung hier diejenigen Auffassungen gefasst werden, die mit der Rede über menschliches Handeln einen eigenständigen kausalitätstheoretischen Beitrag zu leisten versuchen. Somit gehören insbesondere die Arbeiten von Collingwood, Gasking, von Wright, Menzies/Price, Price und Gillies zum Interventionismus, wie auch einige Arbeiten von Autoren aus Methodischem Konstruktivismus beziehungsweise Methodischem Kulturalismus (Schneider, Tetens, Janich, Lange), die Unterscheidungen von Wrights aufgenommen und auf ihre eigene Art fortgeführt haben. Diese terminologische Entscheidung bedarf einer Erklärung, denn seit Woodwards »Making Things Happen« bezeichnet »interventionism« in der englischsprachigen Literatur eine Auffassung, die gerade ohne systematischen Bezug auf menschliches Handeln auszukommen versucht.1 Die Einwände, die von Woodward gegen den Interventionismus in dem eben vorgeschlagenen handlungstheoretischen Sinne vorgebracht wurden, werden noch im Verlauf diskutiert. Hier sei nur darauf hingewiesen, dass 1
Siehe Kapitel 3: »Interventions, Agency, and Counterfactuals« und zur Absetzung von handlungstheoretischen Aufsätzen besonders Kapitel 3.4 in: James Woodward: Making Things Happen. A Theory of Causal Explanation, Oxford: Oxford University Press, 2003, S. 94 f.
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1 Explikation
Woodwards »Manipulability Account« nicht unter mein vorläufiges Verständnis von Interventionismus fällt und dass es eine anhaltende Diskussion darüber gibt, ob Woodwards Ansatz systematisch ohne den Bezug auf menschliches Handeln ausführbar ist oder ob sein Verhältnis zu handlungstheoretischen Auffassungen widersprüchlich ist.2 [W]hile some may trace the history of interventionist accounts back to explicit expressions in Gasking [. . . ] or Collingwood [. . . ], or perhaps event [sic!] to Bridgman [. . . ], it has a much deeper and richer history.3
Ähnliche Auffassung und Zitate lassen sich finden, entsprechen aber nicht den Standards der modernen, eigenständigen kausalitätstheoretischen Debatte. Weder Bacon, noch Galilei4 oder Mill5 – dies sind die Autoren, die Zwier anführt und bespricht – arbeiten mit einem klarerweise interventionistischen Kausalitätsbegriff.6 Setzt man nur vage Kriterien an, dann ließen sich auch gleich Kant7 oder Aristoteles als Vorgänger des Interventionismus bezeichnen, aber vor dem sprachphilosophischen Hintergrund des 20. Jahrhunderts bedarf es nicht »irgendeines« Bezuges auf das 2
Huw Price: Causation, Intervention and Agency. Woodward on Menzies and Price, in: Helen Beebee/Christopher Hitchcock/Huw Price (Hrsg.): Making A Difference, zitiert nach Onlineausgabe, Oxford University Press, 2014, URL: http: //philsci-archive.pitt.edu/9930/. 3 Karen R. Zwier: Interventionist causation in physical science, English, 2014, URL : http://search.proquest.com/docview/1667406238?accountid=11004, S. 11. 4 Siehe Steffen Ducheyne: Galileo’s Interventionist Notion of Cause, in: Journal of the History of Ideas 67.3 (2006), S. 443–464, insbesondere ebd., S. 443. 5 Siehe Holm Tetens: Experimentelle Erfahrung. Eine wissenschaftstheoretische Studie über die Rolle des Experiments in der Begriffs- und Theoriebildung der Physik (Paradeigmata 8), Hamburg: Felix Meiner, 1987 (im Folgenden zit. als Tetens: Experimentelle Erfahrung). 6 Zwier sieht das anders, weil sie Kausalitätstheorie schlicht mit Theorie des kausales Schließens identifiziert. 7 Siehe Marco Buzzoni: The Agency Theory of Causality, Anthropomorphism, and Simultaneity, in: International Studies in the Philosophy of Science 28.4 (2014), S. 375–395, hier S. 387 f. und Bernhard Rang: Kants Antwort auf Hume, in: Jens Kulenkampff (Hrsg.): Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand (Klassiker Auslegen), Berlin: Akademie-Verlag, 1997, S. 95–113, hier S. 110 f., sowie Donald Gillies: An Action-Related Theory of Causality, in: British Journal for the Philosophy of Science 56 (2005), S. 823–842, hier S. 824.
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1.2 Explikation – ein Modell
Handeln von Menschen oder vorzugsweise Beispiele aus diesem Bereich8 , sondern vielmehr einer methodologisch expliziten Festlegung des Ursachenbegriffs. Aus diesem Grunde wird hier mit den oben genannten Autoren ab Collingwood gearbeitet. Den sprachphilosophischen Hintergrund möchte ich im nächsten Kapitel rekonstruieren – so weit es der Darstellung des Interventionismus und der Einwände gegen ihn dient.
1.2 Explikation – ein Modell In der Literatur wird die Debatte um den Interventionismus mit ganz heterogenen methodologischen Bezeichnungen und ohne explizite Gelingensbedingungen geführt – als »Begriffsanalyse«, »Begriffsklärung«, »Bedeutungsklärung«, »Explikation«, »Definition« oder als Angabe der Bedingungen, unter denen wir in der Lage sind, »den Begriff zu verstehen«. Die methodologische Lage lässt sich meines Erachtens präzisieren und somit auch für eine kritische Diskussion fruchtbar machen, indem die Debatte um den Interventionismus (mit einem Begriff von Siegwart) als »Explikationskontroverse« rekonstruiert wird.9 Im Folgenden soll daher die Methode der Explikation, soweit sie für einen Einstieg in die Debatte um den Interventionismus nötig ist, dargestellt werden. Auf Grund des Zwecks der Arbeit, letztlich die Begründung von Kausalaussagen zu diskutieren, sollen dabei besonders inferentielle Aspekte von Explikationen berücksichtigt werden. Explikationen können verstanden werden im Paradigma der Konstruktion einer präzisen Sprache: »Wer explikative Absichten verfolgt, ist wesentlich mit der Konstruktion einer Sprache, dem Aufbau einer Theorie, befasst.«10 Mit dieser Auffassung schließt Siegwart 8 Siehe die drei Beispiele in Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, hrsg. v. Jens Timmermann, Hamburg: Meiner, 1998, A 202 f. 9 Siehe Geo Siegwart: Vorfragen zur Wahrheit. Ein Traktat über kognititve Sprachen (Scientia Nova), München: Oldenbourg, 1997, speziell zur Explikation §24 und ders.: Explikation. Ein methodologischer Versuch, in: Winfried Löffler/ Edmund Runggaldier (Hrsg.): Dialog und System. Otto Muck zum 65. Geburtstag, Academia, 1997, S. 15–45. 10 Ders.: Johann Heinrich Lambert und die präexplikativen Methoden, in: Philosophisches Jahrbuch 1 (2007), S. 95–115, hier S. 114.
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1 Explikation
auch historisch an Carnap an, den »Urvater« der Methode der Explikation, – man denke nur an sein Projekt aus dem »Logischen Aufbau der Welt«.11 Entscheidender Teil der Explikation ist die Einführung eines Begriffs in die konstruierte Sprache, d.h. die Angabe einer Regel, deren Befolgung für die korrekte Verwendung des Ausdrucks in dieser Sprache sorgt und die insofern den Begriff festlegt: »Wer die korrekte Verwendung von Prädikatoren spezifiziert, bildet die zugehörigen Begriffe.«12 Begriffe können auf verschiedene Weisen eingeführt werden.13 Zunächst genügt für den Einstieg in die Debatte eine Beschränkung auf die Einführungsmethode der Definition. Später wird bei der Diskussion des Zirkeleinwandes die Methode der ostensiven Einführung zu betrachten sein. Schließlich wird anhand operationaler Einführungen, einer konstitutionssprachlichen Prozedur, zu diskutieren sein, inwiefern gerade ein entscheidbarer methodologischer Dissens über die Explikation des Ursachenbegriffs einen Teil der Debatte ausmacht. Unter »Definition« soll zunächst das Ergebnis einer Sprachhandlung fallen, die derart im Festlegen der Bedeutung eines Begriffs besteht, dass es erlaubt ist, stets den festgelegten Ausdruck durch die festlegenden Ausdrücke zu ersetzen (Eliminierbarkeit), d.h. auf Grund der definitorischen Regel vom definierten Begriff auf die angegebenen definitorischen Ausdrücke zu schließen und umgekehrt. Eine Definition kann deshalb durch zwei Wenn-dann-Sätze ausgedrückt werden: Wenn (festlegende Ausdrücke/»Definiens«), dann (festgelegter Ausdruck/»Definiendum«) und umgekehrt, was häufig durch den logischen Ausdruck ». . . genau dann, wenn. . . « ausgedrückt wird. Solche Sätze sind also nach diesem Verständnis nicht das Ergebnis der Explikation, sondern allenfalls ein definitorisches Mittel der Durchführung derselben. Für die Rede von notwendigen und hinreichenden Bedingungen gilt dann: Im Wenn-Teil eines Wenn-dann-Satzes wird 11
Siehe Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt, 3. Aufl., Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1966, S. X. 12 Siegwart: Explikation, S. 28. 13 Dazu siehe ebd., S. 259. Siegwart unterscheidet die »Einführungsverfahren« in das »Definieren«, das »Axiomatische Setzen bzw. (Bedeutungs)Postulieren« sowie »Konstitutionssprachliche Prozeduren« und (als später zu diskutierender Fall, siehe Seite 52) die »ostensive Einführung«, siehe ders.: Vorfragen zur Wahrheit, S. 239 ff.
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1.2 Explikation – ein Modell
eine hinreichende Bedingung für den Dann-Teil formuliert, während der Dann-Teil als notwendige Bedingung für den Wenn-Teil bezeichnet wird. Die Menge der definitorischen Bestimmungen ist also notwendig und hinreichend für den definierten Begriff und umgekehrt. »Notwendig« und »hinreichend« bezeichnen dabei bloß Implikationsverhältnisse ohne praktische oder kausale Konnotationen. Die Bedeutung eines Ausdrucks ist durch eine Definition insofern festgelegt, als sie eine Regel dafür darstellt, wie der neue Ausdruck richtig gebraucht werden kann. Die damit angedeutete Auffassung von Bedeutung ist also gebrauchstheoretisch und das Verstehen eines Begriffs zeigt sich im Gebrauch desselben: Jemand versteht einen Begriff oder kennt seine Bedeutung, wenn er den Begriff in der betreffenden Sprache korrekt verwendet. Was eine Definition im Einzelfall zu einer solchen macht, wird von Gelingensbedingungen geregelt, die sich von Gebiet zu Gebiet unterscheiden mögen, zu denen aber wohl wenigstens gehören wird, dass die festlegenden Begriffe auf irgendeine Weise bereits geklärt, selbst in die Sprache eingeführt, überprüfbar, »verfügbar« sein müssen. Einfache Beispiele stellen alltägliche Prädikate wie »x ist ein Schimmel« (gdw. x ist ein Pferd und x ist weiß), »x ist ein Junggeselle« (gdw. x ist ein Mann und x ist unverheiratet), »x ist Tochter von y« (gdw. x ist weiblich und x ist Kind von y) usw. dar. Weitere Beispiele können aus der Logik entnommen werden, wie etwa die Einführung der Implikation (»wenn. . . , dann«) definitorisch durch Konjunktion (»und«) sowie Negation (»nicht«): p → q gdw. ¬( p ∧ ¬q) Der Einführung des Begriffs werden bei einer Explikation vorbereitende Maßnahmen vorangestellt, die die Kontrolle der explikativen Adäquatheit des Begriffs nach der Einführung des »neuen« Begriffs ermöglichen sollen.14 Der (zum Beispiel durch Definition) in die Sprache eingeführte Begriff wird zu einer Menge an alltags- oder fachsprachlichen Aussagen, Redeweisen und Aussageformen in explikative Beziehung gesetzt. Er wird zum Expli14
Siehe ebd., S. 24, sowie speziell zu den vorbereitenden Maßnahmen ders.: Johann Heinrich Lambert und die präexplikativen Methoden.
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1 Explikation
kans dieses Explikandums. Daher gilt: »Das Explizieren ist eine an Verwendungsgepflogenheiten rückgebundene Form des Einführens.«15 Diese genannte Menge an Redeweisen wird üblicherweise als »unser Begriff« (des Wissens, der Wahrheit, der Verursachung usw.) bezeichnet. Richtig daran ist, dass das Explikandum bei typischen Debatten der Philosophie aus »unserer gewöhnlichen Sprache« stammt. Eher verwirrend hingegen ist, dass unser Verwenden von Wörtern im Alltag keinesfalls präzise und widerspruchsfrei sein muss – was die Rede von »unserem Begriff« allerdings gerade nahelegt. Zusätzlich wird so übergangen, dass die Redeweisen auch einer Fachsprache entnommen sein können und dass unter das Explikandum bloß Teile unserer Redeweisen fallen können, die zudem sowohl in der Alltags- als auch in einer Fachsprache gerade nicht streng geregelt und in genau dieser Hinsicht »unbegrifflich« sein können. Beim Thema »Kausalität« kann der fachsprachliche Bezug etwa in der Explikation von Redeweisen aus Physik oder aus neurowissenschaftlichen Texten bestehen, die den Ausdruck nicht zwangsläufig gleich verwenden. Es scheint daher sinnvoll, nur metaphorisch von »unserem Begriff« zu sprechen. »Begriff« legt nämlich Genauigkeit und Klarheit nahe, obwohl es für eine Explikation gerade entscheidend ist, die Vagheit und einen Bedarf nach Klärung zu belegen – jedenfalls dann, wenn der Zweck einer Explikation gerade in der Ausbesserung von Vagheiten der umgangs- oder fachsprachlichen Rede gesehen wird. Wie auch bei der Definition, so liegt eine Explikation erst dann vor, wenn wiederum eine Reihe von Gelingensbedingungen erfüllt sind. Verschiedene solche Bedingungen sind vorgeschlagen worden. Werden Explikandum als E1 und Explikans als E2 bezeichnet, dann sind solche z.B.: 1. E1 ist ein ungenauer Begriff, er ist klärungsbedürftig. 2. E1 sollte in einer präziseren Sprache durch E2 ersetzt werden. 3. E1 und E2 haben ähnliche Extensionen. Wer behauptet, eine Explikation geleistet zu haben, behauptet zugleich, die Gelingensbedingungen für das Einführungsverfahren 15
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1.2 Explikation – ein Modell
(z.B. das Definieren) und für die Explikation erfüllt zu haben. Er ist somit auf die These verpflichtet, dass die Gelingensbedingungen erfüllt sind. Für die Implikationsbeziehungen gilt also: Aus der These, mit einem Begriff eine Explikationsleistung vollbracht zu haben, darf auf die Erfüllung der explizit genannten oder implizit angewandten Gelingensbedingungen des Explizierens geschlossen werden. Ein Einwand gegen eine »Theorie von x« im Sinne einer Explikation hingegen kann als Folgerung eines Widerspruch zwischen erfüllter Gelingensbedingung und ihrer Negation nach folgendem Schema durchgeführt werden: Angenommen die Explikationsthese sei wahr, dann gilt, dass die Gelingensbedingungen erfüllt sind. Mindestens eine Gelingensbedingung aber ist nicht erfüllt. Also ist die Annahme falsch, dass die Explikationsthese wahr ist. Auf die von Carnap formulierten Gelingensbedingungen für Explikationen – Ähnlichkeit, Exaktheit, Fruchtbarkeit, Einfachheit – werde ich nicht weiter eingehen. Erwähnt werden sollte allerdings, dass Carnap ausführlich auf die pragmatischen Aspekte des Explizierens eingeht, während sich in der gängigen analytischen Praxis – und so auch der Diskussion um den Interventionismus – nahezu keine Überlegungen mehr dazu finden, wie sich verfolgte Zwecke auf Tätigkeit und Ergebnis des Explizierens auswirken. Durch einen an Carnap orientierten Ansatz geraten die vorbereitenden Maßnahmen des Explizierens stärker in den Blick. Siegwart unterscheidet das Vorgehen in der »vorbereitenden Phase« der Explikation in die Bearbeitung des Ambiguitäts- und des Synonymitätssyndroms.16 Ambiguität wird durch die »Auflistung der verschiedenen Bedeutungen [und] Angabe der explikationsrelevanten Bedeutung«17 nachgewiesen, während ein Synonymitätssyndrom nachgewiesen werden kann, indem »man die Synonyme auflistet und spezifiziert, wie man mit diesen Ausdrücken umzugehen gedenkt«18 . Eine Explikation wird von Siegwart also verstanden als das Ergebnis einer speziellen Redehandlung, der explikativen Einfüh16 17 18
Siehe ders.: Vorfragen zur Wahrheit, S. 257 f. Ebd., S. 259. Ebd., S. 258.
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1 Explikation
rung, d.h. einer Einführung, die im Gegensatz zu einer novativen19 keinen neuen Begriff einführt, sondern einen in einer Sprache bereits verwendeten. Der nach der Einführung zu kontrollierende Zweck der Sprachhandlung ist die Beseitigung von mit diesem Begriff verbundenen Schwierigkeiten bei Wahrung einer Reihe bereits üblicher Redeweisen. Aus dieser Darstellung ergibt sich folgendes Schema: »Begriff«1
≈
Begriff2 |
|
gdw.
{[1], [2], . . . [n]}
{z Einführung (hier: Definition) ↑ Gelingensbedingungen
}
{z } Explikation ↑ Gelingensbedingungen (extensionale Ähnlichkeit/ Identität, weniger Ambiguität. . . )
Den methodischen Ablauf des Explizierens fasst Siegwart in drei Schritten zusammen: α) Explikationsvorbereitende Prozeduren β) Durchführung der explikativen Einführung γ) Adäquatheitskontrolle. In einem ersten Schritt ist, gegebenenfalls nach der Markierung von Ambiguitäten und Synonymen, das Explikandum aus seiner Verwendung in der Explikandumsprache zu ermitteln; die durch die Explikation zu wahrenden Redemöglichkeiten werden anschließend zu einem Explikationsmaßstab verdichtet. Auf Basis dieser explikationsvorbereitenden Maßnahmen läßt sich die eigentlichen Einführung des Explikats in die Explikatsprache vornehmen. Endlich ist zu prüfen, ob die Explikation adäquat ist, d.h. ob die maßstäblichen Aussagen in der Explikatsprache unter Anziehung der Explikation folgen.20
19 20
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Siehe Siegwart: Vorfragen zur Wahrheit, S. 260. Ders.: Explikation, S. 29 f.
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1.3 Der Streit als Explikationsdebatte
1.3 Der Streit um den Interventionismus als Explikationsdebatte Ein Großteil der Debatte um den Interventionismus lässt sich anhand dieses Modell von Explikationen verstehen. Explikationsmethodologisch präzisiert gilt als Interventionismus hier also eine mit Anspruch auf Eigenständigkeit formulierte Einführung kausaler Ausdrücke bei der handlungstheoretische Ausdrücke im Einführungsverfahren verwendet werden. Um einen ersten Zugang zum Interventionismus und den gegen ihn vorgebrachten Einwänden zu finden, bedarf es also nur noch eines expliziten Einführungsvorschlages für die Relation »x verursacht y« (mit »Ursache« und »Wirkung« als einstelligen Prädikaten, die hinsichtlich dieser Relation eingeführt werden). Expliziert werden soll damit die Ausdrucksform »x verursacht y«, deren Anwendungsfälle die Aussagen sind, mit denen wir in Alltag oder Wissenschaft explizit von irgendetwas aussagen, dass es von irgendeinem anderen verursacht wurde. Somit sind auch Aussagen der Form ». . . ist Ursache von/hängt kausal ab von/hat kausalen Einfluss auf/ist Wirkung von/hat bewirkt, dass . . . « in allen Zeitformen in das Explikandum aufgenommen. Von einem Interventionismus soll also nun genauer die Rede sein, wenn zum Zweck einer Explikation des Ursachenbegriffs die Einführung desselben mit Sprachteilen geschieht, die sich auf menschliches Handeln beziehen. Die zu beurteilende zentrale gemeinsame These von Interventionisten lautet nun also, auf die je eigene Weise erfolgreich eine Explikation des Ursachenbegriffs vorgenommen zu haben. Der daraus folgende Vorschlag könnte daher auch »pragmatistische« oder »aktionistische Kausalitätsexplikation« genannt werden, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Begriff »Interventionismus« in den aktuellen Debatten der analytischen Philosophie für Überlegungen von Philosophen wie Woodward reserviert ist, die sich selbst gerade von einer handlungstheoretischen Position (»Action-Theory of Causation«) abgrenzen. An Stellen, wo Verwechslung mit dem Ansatz Woodwards droht, werden ich von »(Woodward-)Interventionismus« im Gegensatz zu »(handlungstheoretischem) Interventionismus« sprechen.
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1 Explikation
Eine erste interventionistische Einführung des Ursachenbegriffs kann als Definition direkt aus von Wrights »Erklären und Verstehen« entnommen werden. Dort heißt es: p ist eine Ursache relativ auf q und q ist eine Wirkung relativ auf p dann und nur dann, wenn wir dadurch, daß wir p tun, q herbeiführen könnten, oder dadurch, daß wir p unterdrücken, q beseitigen oder am Zustandekommen hindern könnten.21
Das »dann und nur dann, wenn« zeigt die Einführung als explizite Definition an. Sie verknüpft über ein »oder« zwei Handlungsarten von Menschen. Im Fall von Herbeiführungshandlungen sind nach von Wright22 die Ursachen als hinreichende Bedingungen der Wirkung zu verstehen, im Fall von Verhinderungshandlungen als notwendige Bedingungen. Das Eintreten von q im einen und sein Ausbleiben oder Verschwinden im anderen Fall stellen Handlungsfolgen (consequences) dar. Mit seinem Interventionismus kann von Wright so auch eine Teilexplikation üblicher Redeweisen anbieten, wo trotz grundsätzlich verschiedener Tätigkeitstypen (Herbeiführen und Verhindern) dennoch gleichmäßig von Ursache und Wirkung gesprochen wird. Das hingegen, was wir tun müssen, um überhaupt von einer bestimmten, vollzogenen Handlung sprechen zu können (in der Definition mit p bezeichnet) wird Handlungsergebnis (result) genannt. Das Ergebnis unseres Handelns ist der Sachverhalt, dessen Vorliegen logisch aus der These folgt, dass eine bestimmte Handlung vollzogen wurde.23 Von Wright stellt nun Ursachentypen anhand von Schemata von »Weltverläufen« dar, in denen mögliche zeitliche Entwicklungslinien von Systemen angegeben werden. Eine Analyse dieser möglichen Ereignisabfolgen kann dann unter anderem die Sätze bestätigen: »Unter den Umständen U folgt auf E1 stets E2 « 21 Georg Henrik von Wright: Erklären und Verstehen, Titel der Originalausgabe: »Explanation and Understanding« (1974), Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2008, S. 75. Siehe auch die Arbeitsdefinition bei Daniel M. Hausman: Causation, agency, and independence, in: Philosophy Of Science 64.4 (1997), S. 15–25, hier S. 15 »a causes b if and only if a can be used as a means to bring about b.« 22 Siehe zum Folgenden von Wright: Erklären und Verstehen, Kapitel II. 23 Siehe dazu auch Tetens: Experimentelle Erfahrung, S. 17 f. und Fußnoten.
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1.3 Der Streit als Explikationsdebatte
und »Vor E2 findet stets E1 statt«. Nach von Wright dient die Erkenntnis hinreichender Ursachen im ersten Teil der Definition der Erklärung des Eintretens eines Ereignisses in einem zeitlich geordneten Ablauf von Systemzuständen im Nachhinein: Das Eintreten eines Ereignisses E2 kann dadurch erklärt werden, dass zu gewissen anderen Systemeigenschaften noch E1 hinzu trat. So wird es möglich, das Eintreten von Ereignissen unter bestimmten gegebenen Umständen vorherzusagen: Tritt zu bestimmten Systemeigenschaften E1 hinzu, dann wird E2 eintreten. Die Erkenntnis notwendiger Ursachen im zweiten Satz dient dem Zweck, im Nachhinein das Ausbleiben von Ereignissen in sonst gleichen Abläufen zu erklären und kann damit so Wissen darüber bereit stellen, wie sich ein Ereignis unter bestimmten gegebenen Umständen verhindern lässt: E2 trat unter gegebenen Bedingungen nicht ein, weil E1 nicht eingetreten war. Indem wir das Eintreten von E1 verhindern, können wir E2 verhindern. Die Rede von notwendigen und hinreichenden Bedingungen ist bei von Wright also verbunden mit allquantifizierten Aussagen über zeitliche Abfolgen von Systemzuständen. Kausalaussagen über bestimmte Ereignisse sind dabei ersichtlich nur wahr, wenn das bei von Wright durch Graphen dargestellte System dem untersuchten Erkenntnisgegenstand tatsächlich entspricht und alle Entwicklungsmöglichkeiten des Systems dargestellt sind. Da wir aber keinen Überblick über alle Bedingungen und die vollständige Geschichte von Systemen haben, sind die Erkenntnisansprüche nur unter der Annahme vertretbar, dass wir alle relevanten Umstände aufgeführt und beobachtet haben. Wir können nur hoffen, dass wir damit recht haben und den entsprechenden Erkenntnisanspruch erheben. Spätere Beobachtung oder die Weiterentwicklung unseres technischen Vermögens mögen diese Sätze dann als falsch erweisen. Da von Wright seine Bestimmungen hinsichtlich vollständigen Überblicks über alle möglichen Entwicklungsmöglichkeiten des Systems vornimmt, kann die Auswertung seiner Weltläufe uneingeschränkte, allquantifizierte Aussagen liefern. Eine echte statistische, z.B. epidemiologische, Untersuchung kann dies natürlich nicht. Sie kann allenfalls stützen, was »bisher in jedem Fall« oder »bisher in keinem Fall« geschah.
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1 Explikation
Unser Handeln bekommt für von Wright seine Bedeutung in diesen Systemverläufen und den daran gebildeten Begriffen dadurch, dass Aussagen über Handlungen gerade weitreichende Implikationen für das Wissen um die Entwicklungsmöglichkeiten realer Systeme ermöglichen: Waren tatsächlich wir es, die einen Zustand q herbeiführten, dann folgt daraus, dass alle notwendigen Bedingungen für q vorlagen und zudem, dass nichts in dieser Geschichte des Systems bereits hinreichend für q war. Unser Handeln war unter diesen Umständen hinreichend, welche Umstände auch immer es waren. Tritt hingegen in einem immer gleich ablaufenden System ein Ereignis nicht ein, weil wir mit einer Handlung in die Entwicklungsmöglichkeiten des Systems eingriffen, dann sagen wir, dass unsere Handlung trivialer Weise dieses Ereignis verhinderte, also unter den Bedingungen der Handlung (welche es auch immer waren) hinreichend für das Nicht-Eintreten des Ereignisses war. Verständlich ist diese Darstellung nur, wenn wir begründete Überzeugungen dazu haben, welches Ereignis eingetreten wäre, wenn wir nicht gehandelt hätten. Wenn wir es mit gleichen Systemen zu tun haben bzw. eine Folge von Weltverläufen als gleiche Systeme auffassen, dann können wir wissen, dass unsere Handlung mindestens einen anderen Systemzustand verhinderte, der bei der bisherigen Entwicklung des Systems notwendig für das Eintreten eines Ereignisses war. Waren wir es, die etwas erfolgreich durch unseren Eingriff verhinderten, dann lag eine Konstellation von Umständen vor, die sonst hinreichend für q ist. Unser Handeln ermöglicht uns so nach von Wright einen »sehr starken logischen Schluß« über reale Systeme trotz unvollständiger Beobachtungsdaten.24 Führen wir eine Handlung aus und reden wir davon, dass ein eintretendes Ereignis durch uns herbeigeführt (bzw. verhindert) wurde, dann folgen daraus Aussagen über das System, in das wir eingriffen (»intervenierten«), die uns Schlüsse auf Kausalaussagen ermöglichen. Behaupten wir Kausalaussagen, dann lassen sich diese Aussagen als Aussagen über den Erfolg interve24
Siehe von Wright: Erklären und Verstehen, S. 64 f. Pearl beschreibt dies analog als gezieltes Brechen von Pfaden in grafischen Darstellungen möglicher Kausalverhältnisse und in mathematischer Hinsicht als Eliminierung einzelner Gleichungen aus Gleichungssystemen (siehe Judea Pearl: Causality. Models, Reasoning and Inference, 2. Aufl., Cambridge: Cambridge University Press, 2009, S. 70,416 f.).
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1.3 Der Streit als Explikationsdebatte
nierenden Handelns mit Systemen reformulieren, verdeutlichen und testen. Von Wright führt den Ausdruck »x verursacht y« explizit ein, hält diese Auffassung für kausalitätstheoretisch eigenständig und zudem seine mit Überlegungen über menschliche Eingriffsmöglichkeiten durchgeführten Analysen für sachlich erhellend (u.a. bezüglich der Asymmetrie der Kausalrelation, gleichzeitiger Verursachung, Retrokausalität). Das macht ihn nach zu Beginn vorgeschlagenem Verständnis zu einem Interventionisten.
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2 Die Explikationsdebatte um den Interventionismus Im Anschluss an die kurze Explikationsmethodologie und den Vorschlag von Wrights soll nun die Debatte um den Interventionismus als eine solche um die Explikation gängiger kausaler Redeweisen dargestellt werden. Dabei werden im Gegensatz zur Literatur die Einwände explizit in argumentationstheoretischer Form dargestellt und in ihrem teilweise engen dialektischen Verhältnis (im Sinne ihrer argumentativen Beziehung zueinander) erkennbar. Von Wrights Auffassung dient als Einstieg. Varianten werden im Verlauf entwickelt. Im Anschluss an die Diskussion der Einwände soll jeweils darauf hingewiesen werden, welche Lehren sich für den Zweck dieser Arbeit aus ihnen ziehen lassen. Auf diese Weise soll das spätere zweite Kapitel, die Rekonstruktion von Begründungsformen, durch die Beschäftigung mit dem Interventionismus vorbereitet werden.
2.1 Der skeptische Einwand Der sogenannte skeptische Einwand gehört nicht zur Explikationskontroverse. Der folgende Abschnitt soll zeigen warum. Diese These ist natürlich eine selbst explikationsmethodologische und auf diese Weise ist der Einwand dann doch (wenn auch indirekt) auf die Kontroverse bezogen. Obwohl es kein starker Einwand ist – den sogenannten skeptischen Einwand zu diskutieren ermöglicht es, die Bedeutung begrifflichen Einführens erneut zu verdeutlichen, zu erklären, weshalb Vertreter oder Sympathisanten des Einwandes selbst nicht recht von ihm überzeugt sind.1 Zuletzt gibt das Thema mit den 1
Der Einwand wurde zuerst von Heidelberger, dann ausführlicher von Keil diskutiert (Michael Heidelberger: Ist der Kausalbegriff abhängig vom Handungsbe-
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2 Die Explikationsdebatte um den Interventionismus
dazu vorgebrachten Beispielen für Kausalaussagen und ihren Begründungen zudem erste Anhaltspunkte für die späteren wissenschaftstheoretischen Fallstudien. Beim skeptischen Einwand werden Beispiele für Irrtum über Handlungswissen genutzt – Situationen also, bei denen Kausalaussagen wahr sind, die im Widerspruch zu Überzeugungen von Handelnden stehen: Beispiel I.1: Sonnentanz Der Tanz der Hopi-Indianer verursacht nicht, dass die Sonnenfinsternis wieder vergeht (obwohl sie glauben, sie können dies mit ihrem Tanz herbeiführen).2 Beispiel I.2: Fensteröffnen Das Drehen des Fenstergriffs verursachte nicht, dass sich das Fenster öffnete – dies geschah durch einen anderen Mechanismus (obwohl der Handelnde es glaubt).3
Beispiel I.3: Fahrstuhl Das Drücken am Fahrstuhlknopf verursachte nicht, dass sich die Tür schloss – es geschah automatisch (obwohl ein Handelnder nach Drücken auf die Knöpfe meint, er habe die Tür geschlossen).4
Mit diesen Beispielen, mystischem Glauben im ersten, verborgenen Mechanismen in den anderen beiden, werden Szenarien vorgestellt, in denen Menschen sich über die Wirksamkeit ihres Handelns täuschen.5 Wahr ist zwar, dass sie tanzen, drehen, drücken, griff? Zur interventionistischen Auffassung der Kausalität, in: Renate Breuninger (Hrsg.): Philosophie der Subjektivität und das Subjekt der Philosophie. Festschrift für Klaus Giel zum 70 Geburtstag, zitiert nach der Onlineausgabe, Königshausen & Neumann, 1997, S. 106–116, URL: http://www.uni-tuebingen.de/fileadmin/ Uni_Tuebingen/Fakultaeten/PhiloGeschichte/Dokumente/Downloads/ver% C3%B6ffentlichungen/heidelberger/Heidelberger_- _Ist_der_Kausalbegriff_ abh%C3%A4ngig_vom_Handlungsbegriff.pdf, Geert Keil: Handeln und Verursachen, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann GmbH, 2000, S. 417 ff.). Keil führt ihn später in einer Zusammenfassung trotz seines ursprünglichen Vorbehalts wieder auf: Auch in ihm liege ein »Körnchen Wahrheit« (siehe ders.: Making Something Happen. Where Causation and Agency Meet, in: Sire Granum Carson/Kjartan Koch Mikalsen/Truls Wyller (Hrsg.): Nature and Rational Agency, Frankfurt am Main: Lang, 2009, S. 9–28, hier S. 16). 2 Siehe Heidelberger: Ist der Kausalbegriff abhängig vom Handungsbegriff?, S. 5 f. 3 Siehe ebd., S. 5. 4 Siehe Keil: Handeln und Verursachen, S. 419 f. 5 Ich beschränke mich auf Beispiele mit Handlungen und Handlungsfolgen. Keil formuliert auch solche, in denen sich über den Vollzug einer Basishandlung selbst getäuscht werde (ebd., S. 417).
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2.1 Der skeptische Einwand
nicht aber, dass sie die Sonnenfinsternis beenden, das Fenster öffnen, die Tür schließen. Nicht in Frage steht also jeweils, dass gehandelt wurde, sondern ob erfolgreich gehandelt wurde, wobei dies auch je nach Beschreibung der Handlung als Frage danach aufgefasst werden kann, welche Handlung vollzogen wurde: Der Griff wurde angefasst und ein Fensteröffnen wurde versucht, blieb aber erfolglos, obwohl das, was erreicht werden sollte, eintrat. Im Zweifelsfall (oder wenn – wie in den Beispielen oben – klar ist, dass die Handlung keinen Erfolg brachte) wird klarer zwischen Handlung und Folge getrennt: Die Handlung war das Bewegen des Griffs, die erwünschte Folge der Zustand des geöffneten Fensters. Schwieriger wird die Handlungsbeschreibung allerdings, wenn man zusätzlich berücksichtigt, dass logische Beziehungen zwischen Handlungsbeschreibungen bestehen und jede Handlung korrekt auf verschiedene Weisen beschrieben werden kann. Am Beispiel: Jedes Drehen an einem Fenstergriff ist auch ein Anfassen desselben und ebenfalls ein Bewegen der Hand usw. Sind die »verborgenen Mechanismen« hinreichend ungünstig, dann kann der Irrtum über unser Handeln auch darin bestehen, dass wir weniger tun mussten, als wir dachten. So hätte es vielleicht ausgereicht, den Fenstergriff zu berühren (und damit einen Mechanismus auszulösen), während wir meinen, unser Drehen des Griffs als Drehen habe Erfolg gehabt. Im Tierpark Berlin drehen Kinder mit vollem Einsatz eine Kurbel (den Schwanz einer kleinen Elefantenfigur), damit Wasser aus einem Hahn (dem Rüssel des Elefanten) fließt. Ihr Kurbeln hat durchaus Erfolg – den Schwanz der Figur nach oben zu führen und dort zu halten würde allerdings ausreichen. Nur ein Teil der Handlung ist also »eigentlich« wirksam – nämlich ihr Bewegen des Hahns nach oben. Irrtum ist also auch möglich hinsichtlich dessen, was notwendigerweise zum Erreichen eines Zwecks bei einer erfolgreichen Handlung getan werden musste. Mit Beispielen über Handlungsirrtum wird die Prämisse (P1 ) der folgenden ersten Variante des skeptischen Einwandes belegt:
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Skeptischer Einwand1 (P1 )
(P2 )
(K1 )
Handlungswissen ist fehlbar. Es ist möglich, dass wir bezüglich unseres Handelns und seiner Folgen irren. Adäquatheitskriterium für Explikationen: Ist es möglich, dass wir uns bei der Prädikation von Begriffen des Explikans irren, dann können diese Begriffe nicht in Explikationen verwendet werden. erfüllte hinr. Bed. Aussagen über Handlungen und ihre Folgen können nicht in der Explikation des Ursachenbegriffs verwendet werden.
Prämisse (P2 ) zeigt, dass der methodologische Ort dieses Einwandes die Überprüfung der Gelingensbedingungen der Explikation, genauer gesagt der Ausstattung der Explikatsprache, ist. Zurecht wird der Einwand in dieser Form verworfen: Die Tatsache, dass wir uns über den Zusammenhang zwischen der eigenen Handlung und dem, was wir damit herbeiführen, täuschen können und damit auch über die Wahrheit von Behauptungen über Gesetzmäßigkeit und Kausalität, ist übrigens kein Gegenargument gegen den Interventionisten. Der Interventionist behauptet ja nicht, dass uns das Handeln immer die wahre Ursache der Dinge aufzeigt[.]6
Dieser Auffassung ist aus folgendem Grund zuzustimmen: Die Prämisse (P2 ) ist kein Adäquatheitskriterium von Explikationen. Gälte (P2 ), dann ließe sich nur mittels Aussagen explizieren, über deren Wahrheit man nicht im Irrtum liegen kann. In der Diskussion sollte jedoch beachtet werden, dass in explikativer Hinsicht aus dem Interventionismus – so wie er bisher vorgestellt und auch von Heidelberger und Keil aufgefasst wird – folgt, dass die Wahrheit von Sätzen mit Angabe von Handlungsfolgen in der Tat nach dem Vorschlag von Wrights ein Kriterium »absoluter Gewissheit« für Kausalaussagen ist und zwar 6
Heidelberger: Ist der Kausalbegriff abhängig vom Handungsbegriff?, S. 4. Siehe auch Keil: Handeln und Verursachen, S. 429.
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2.1 Der skeptische Einwand
aus definitorischen, also begrifflichen, Gründen: Handlungssätze, die Handlungfolgen nennen, implizieren nach dem Explikationsvorschlag nämlich in der Explikatsprache Kausalaussagen. Die Frage der Wahrheit der beteiligten Sätze ist davon nur insofern berührt, als gilt: Wenn der Handlungssatz wahr ist, dann ist die Kausalaussage wahr. Damit wird nicht ausgesagt, dass die Handlungssätze selbst nicht falsch sein könnten. Wird, ganz analog, der Begriff »Schimmel« über »weißes Pferd« eingeführt, dann folgt daraus schließlich auch nicht, dass wir uns nicht darüber irren könnten, ob vor uns ein weißes Pferd steht. Der Interventionist behauptet also nicht, dass uns das Handeln immer die wahre Ursache der Dinge aufzeigt, sondern behauptet, eine Explikation des Ursachenbegriffs mit einer Verwendungsregel zu leisten, nach der (unter anderem) aus einer wahren, die Handlungsfolge nennenden Handlungsbeschreibung eine wahre Kausalaussage folgt.Handlungswissen>Irrtum|) Der skeptische Einwand liegt aber auch in einer zweiten Variante vor. Er richtet sich gegen die oben an von Wright festgemachte, aber sicher implizit von vielen Interventionisten geteilte, Auffassung, dass aus der Bedeutung des handelnden Eingriffs in Systeme für die Begründung von Kausalaussagen etwas für die Explikation des Ursachenbegriffs folge. Ausgedrückt werden kann diese Auffassung etwa durch folgenden Satz: Im Explikans sollen Ausdrücke verwendet werden, die bereits vorexplikativ als sichere Beweismittel für Sätze des Explikandums verwendet werden. Man mag diesen Satz explikationsmethodologisch diskutieren wollen, weil man ihn als Fremdkörper im Verfahren empfindet. Eine gewisse Plausibilität mag er haben, weil auf diese Weise eine Ähnlichkeit von Verwendung der Explikat- und Explikandumsprache gewährleistet wird. Man könnte aber etwa diskutieren, wie die Sicherheit von Beweisen verglichen werden soll, ob es sich dabei um eine Art Klugheitsregel handelt und hinsichtlich welcher Zwecke ihr gefolgt werden sollte oder ob es sich dabei eher tatsächlich um eine (generelle) Adäquatheitsbedingung für Explikationen handelt. Mit der zweiten Variante des skeptischen Einwandes wird aber angedeutet, dass jene These für das Handlungswissen nicht erfüllt und dies für den Interventionismus relevant sei. Beobachtungswissen stehe in Sachen Sicherheit
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dem Wissen über Handlungen und seine Folgen in nichts nach – sei ihm sogar vorgeordnet. So schreibt ein Vertreter des Interventionismus, dass wir ohne die mentale Antizipation dessen, was ohne unser Zutun geschehen wäre, mit dem, was mit unserem Zutun geschieht, »nicht mehr in der Hand hätten als Generalisierungen von beobachteten Regularitäten«. Meine Antwort darauf ist nicht: Wir können auch ohne Handeln mehr in die Hand bekommen als nur die Generalisierung von Regularitäten. Vielmehr sage ich: Auch mit dem Handeln haben wir nicht mehr in der Hand. Der Interventionismus unterliegt in Bezug auf die Beweiskraft des Handelns einer Illusion.7
Heidelberger vertritt damit ein Bild unseres Handelns und des Erlernens von Handlungszuschreibungen, wonach wir Regularitäten nach unseren Tätigkeiten beobachtet haben und von diesen aus fehlbar auf uns als Akteure, »Bewirker«, schließen. Selbst beim Steinwurf ins Wasser und den darauf folgenden Veränderungen des Wassers, die das Kind fasziniert beobachtet8 , laufen demnach zunächst bloß Ereignissequenzen ab, aus denen erst Handlungsüberzeugungen gebildet werden, bei denen wir vor Irrtum ebenfalls »im Prinzip« nicht geschützt sind. Die empiristische Grundhaltung dieser Darstellung (empiristisch, weil es ja das Beobachtungswissen ist, das gegen das Handlungswissen gesetzt wird) entspringt durchaus erkenntniskritischen Absichten. Die Lehre daraus soll sein, dass Beschreiben oder Zuschreiben jeder Handlung keine unschuldige Tätigkeit, sondern nur unter bestimmten Annahmen korrekt ist und auch Handlungsfolgen erst beobachtet werden müssen. Die Frage hier ist nur, was daraus gegen den Interventionismus folgt:
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Heidelberger: Ist der Kausalbegriff abhängig vom Handungsbegriff?, S. 7. Hegel gibt dieses Beispiel für das Gewinnen einer Anschauung seiner Selbst nicht durch (theoretische) Reflexion auf sich selbst, sondern (praktisches) Entäußern seiner Selbst in die Natur (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik (Universalbibliothek 7976), Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1971, S. 76 f.). 8
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2.1 Der skeptische Einwand
Skeptischer Einwand2 (P1 ) (P2 )
(K1 )
Handlungswissen ist kein vergleichsweise sicheres Mittel zum Beweis von Kausalaussagen. Adäquatheitskriterium: Im Explikans können nur Ausdrücke verwendet werden, die bereits vorexplikativ als vergleichsweise sichere Beweismittel für Sätze des Explikandums verwendet werden. nicht erfüllte notw. Bed. Sätze, die Handlungswissen angeben, können nicht zur Explikation des Ursachenbegriffs verwendet werden.
An dieser Formulierung des Argumentes wird klar, warum der skeptische Einwand zu schwach ist, um als ernsthafter Einwand gegen den Interventionismus gelten zu können. »Sicher« in (P1 ) wird offenbar vergleichend verstanden, ohne dass klar wird, wie diese These durch Beispiele von Handlungsirrtum belegt werden kann. Geht es um relative Sicherheit von Begründungen, dann müsste geklärt werden, wie die in den obigen drei Beispielen ausgeführten (negierten) Kausalaussagen begründet werden. Was ist also die Begründung für die Kausalaussagen, dass die Sonnenfinsternis nicht beendet wurde, das Fenster nicht geöffnet, die Tür nicht geschlossen wurde? Es müsste gezeigt werden, wie etwa reine Beobachtung einen vergleichsweise sicheren Beweis dieser Aussagen relativ zu einem praktischen Test des Kausalverhältnisses gibt. Gerade ein Abfolgekriterium (von Handlung und vermeintlicher Handlungsfolge) ist in jedem dieser Fälle erfüllt – es kann also den Irrtum nicht belegen. Inwiefern nicht das bloße Unterlassen des Tanzens, Drehens, Drückens als Test der Kausalaussagen gelten könne, ist nicht einsichtig. Den Beispielen für Handlungsfolgenirrtum kommt also keine besondere Leistung hinsichtlich der zweiten Variante des Argumentes zu – sie können (P1 ) nicht belegen.9 Die entscheidende Prämisse (P1 ) ist durch die bisherigen skeptischen Überlegungen zum Handlungswissen also nicht begründet worden.
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Von den Beispielen wird weiterhin im Zirkeleinwand Gebrauch gemacht, der als nächster Einwand diskutiert wird.
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2.1.1 Erste Folgen für Argumentrekonstruktionen: Umgang mit möglichem Handlungsirrtum Nach der Diskussion des Einwandes soll nun mit Blick auf das spätere zweite Kapitel die Perspektive gewechselt werden. Die Überzeugung über kausales Schließen, die mit dem skeptischen Einwand verbunden sind, sollen herausgearbeitet werden, um die Arbeits- und Ideenliste für die spätere interventionistische Erkenntniskritik zu füllen. Heidelbergers Folgerungen aus den Beispielen, die zu skeptischen Bedenken gegen den Interventionismus vorgetragen werden, betreffen eindeutig nicht nur die explikatorische Frage, sondern auch Begründungsstrategien für Aussagen. So heißt es: Die einzige Möglichkeit nun, meine Überzeugung, dass ich handle (und nicht etwas oder jemand anders an meiner Stelle) zu überprüfen, besteht darin, dass ich meine Überzeugung an meinem übrigen Kausalwissen messe.10
Damit wird der Blick auf Begründungsleistungen gelenkt und gefragt, welche (relative) Bedeutung Handlungswissen zukommen kann, wenn man die Möglichkeit von Irrtum berücksichtigt – und zwar einerseits für das Implikationsverhältnis zu Kausalaussagen selbst, andererseits im Verhältnis zu anderen Wissensformen. Zwei Aspekte des skeptischen Einwandes geben wichtige Hinweise, auch wenn die vorgebrachten Beispiele keine schwierigen wissenschaftlichen Ergebnisse darstellen: Handlungwissen ist fehlbar und der korrekten Handlungsbeschreibung kommt eine entscheidende Rolle bei der Begründung von Kausalaussagen zu. Bei jeder experimentellen Praxis muss die Fehlbarkeit von Handlungsbeschreibungen zugestanden werden.11 Daraus folgt jedoch nicht, dass sich nicht doch Konsens über Handlungen und ihre Folgen erreichen ließe; dass solcher Konsens nicht über jeden 10
Heidelberger: Ist der Kausalbegriff abhängig vom Handungsbegriff?, S. 5. Ich beschränke mich auf Fälle, wo nicht das Handeln als Handeln in Frage steht. Überlegungen rechtspsychiatrischer Fragen der Schuldfähigkeit diskutiere ich ebenfalls nicht. Dort geht es meist ohnehin nicht darum, ob gehandelt wurde oder nicht, sondern darum, ob jemand »nicht schuldfähig handelte« (siehe Strafgesetzbuch, §20).
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2.1 Der skeptische Einwand
Zweifel erhaben ist, schließt ihn nicht als Grundlage kausalen Schließens aus. Argumentativ gesehen kann Handlungswissen also durchaus in Form einer falsifizierbaren Prämisse Teil eines Argumentes sein, dessen Konklusion eine Kausalaussage ist. Aus den Beispielen und den Belegen für die Möglichkeit von Irrtum soll der Hinweis entnommen werden, dass Handlungen sprachlich sensibel beschrieben werden müssen. Viele Handlungsprädikate können etwa im Versuchs- und im Erfolgssinn aufgefasst werden:12 Im Versuchssinn ist ein Fensteröffnen möglich, ohne dass das Fenster geöffnet wird (Misserfolg). Im zweiten Sinn ist dies ausgeschlossen. Im Zweifelsfall muss deutlich zwischen dem, was unproblematisch tatsächlich getan wurde und dem, was damit erreicht wurde, unterschieden werden. Allgemein dürfte es daher ratsam sein, bei Begründungen von Kausalaussagen die Handlung nicht so zu beschreiben, dass sie im Erfolgssinn aufgefasst wird und den Handlungserfolg schon impliziert, also etwa als »einen Sonnentanz tanzen«, »das Fenster öffnen«. Rekonstruiert man Begründungen als explizite Argumente für eine These, dann deutet Heidelberger ein Argument für einen Handlungssatz an, das als Prämisse eine Kausalaussage enthält (z.B. »Tänze verursachen nicht, dass Sonnenfinsternisse enden«). Für eine Analyse der Rolle von Handlungswissen bei der Begründung von Kausalaussagen ist allerdings genau die Begründungsstruktur der Kausalaussage von Interesse. Es ist schon bemerkenswert, dass dabei überhaupt nicht am Beispiel darauf eingegangen wird, dass sich zumindest Irrtum über die generelle Macht des Tanzes schon durch Unterlassen des Tanzens bei der nächsten Sonnenfinsternis überprüfen lässt. Im einfachsten Fall einer reproduzierbaren Situation impliziert das Behaupten einer Handlungsfolge bereits, dass nach Unterlassen der Handlung die Folge ausbleibt. Es müssen also gar nicht Kausalaussagen sein, die Handlungswissen kontrollieren und die richtige Handlungsbeschreibung identifizieren oder überhaupt über den Status der Handlung entscheiden. Weitere »Anschlusshandlungen« können dies ebenfalls leisten. Argumentativ kann dies, je nachdem, was für eine Kausalaussage begründet werden soll, durch weitere, fal12
Diesen und weitere allgemeine Hinweise zur Verwendung von Handlungsprädikatoren gibt z.B. Siegwart: Vorfragen zur Wahrheit, S. 100 ff.
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sifizierbare Annahmen über Handlungsvermögen ausgedrückt werden, die jedoch nicht selbst mit Experimentalergebnissen verwechselt werden dürfen: • »Wenn wir in Situationen S die Handlung X unterlassen, dann bleibt Y aus.« • »Wir können Y alleine durch Herstellen von X herbeiführen.« • »Wir können Y nur herstellen, indem wir X tun.« • »Wir sind nicht in der Lage, Y herbeizuführen, ohne Z herbeizuführen, d.h. immer wenn wir Y herbeiführen, führen wir auch Z herbei.« • »Wir können Y nicht herbeiführen, indem wir X herstellen.« Möglicher Handlungsirrtum kann so durch weitere, praktisch falsifizierbare Prämissen berücksichtigt werden. Bei der Rekonstruktion von Argumenten wird herauszuarbeiten sein, welche Schlüsse auf Kausalaussagen mit welchen zusätzlichen praktischen Annahmen gezogen werden und inwiefern die Argumente so anschlussfähig an weiteren Forschungsprozess werden – diesen vielleicht sogar durch den Entwurf neuer Experimente fördert. Durch einen skeptischen Blick auf Handlungswissen wird man auf ein zweites durchaus relevantes Erkenntnisproblem aufmerksam: Unter welcher Beschreibung ist die Handlung wirksam? War es tatsächlich das Verabreichen des Medikamentes oder das Verabreichen an sich – ist es das Verabreichen der Milch von Kühen, die an Tuberkulose erkrankt sind oder »eigentlich« bloß das Einbringen des (darin) enthaltenen Mikroorganismus? Kann das Handlungswissen also genereller oder spezieller ausgedrückt werden? Ist die Formulierung des experimentellen Handelns tatsächlich die Formulierung, unter der allein die Handlung wirksam ist? Wie kann argumentativ mit der Möglichkeit einer Situation umgegangen werden, die der Wasser»kurbel« auf dem Spielplatz entspricht – dass die Handlungsbeschreibung zu speziell ist, auch eigentlich Unnötiges getan wurde? Bei der späteren Rekonstruktion von Begründungsformen ist daher auf Grund der Fehlbarkeit von Handlungswissen auch
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2.2 Der Zirkeleinwand
zu erwarten, dass bei der Angabe desselben Probleme der korrekten Handlungsbeschreibung bestehen. In erkenntniskritischer Absicht muss dort dargestellt werden, wie mit diesen Problemen umgegangen werden soll und wie Konsens über das verfügbare praktische Wissen zu erreichen ist.
2.2 Der Zirkeleinwand Mit dem Zirkeleinwand wird ein Fehler im zweiten Schritt der Explikation, der Einführung des Explikat-Begriffs, unterstellt.13 Auch wenn der Einwand in verschiedenen Varianten und Formulierungen erhoben wird, ist der gemeinsame Grundgedanke, dass der Interventionismus falsch sei, da bestimmte handlungstheoretische Unterscheidungen oder der Handlungsbegriff selbst begrifflich abhängig vom Ursachenbegriff seien. Dieser Einwand kann als ein solcher eingeordnet werden, der lokal »die gewählte Explikatsprache zum Zielpunkt von Kontroverse/Kritik«14 macht: Eher lokale Bedenken gegen die Explikatsprache werden geltend gemacht, wenn die Tauglichkeit der im Explikans vorkommenden Teilausdrücke in Zweifel gezogen wird: Wer den Prädikator › . . . ist synonym. . . ‹ für ein in anspruchsvollen Kontexten untragbares Redemittel hält, wird ihn nicht unter die Explikantia von ›. . . ist analytisch wahr‹ einstellen; Folgediskussionen beschäftigen sich mit dieser Einschätzung, insbesondere mit der Explizierbarkeit bzw. mit Explikationsmöglichkeiten von ›. . . ist synonym. . . ‹. In diesen Kontext gehört auch der Vorwurf, ein (im Explikans benutzter) Redeteil sei (nicht nur für diesen oder jene unverständlich, sondern schlichtweg) nicht verstehbar; man denke an Auseinandersetzungen um das Definiens korrespondistischer Wahrheitsdefinitionen.15
Der Jargon, der laut Siegwart bei Einwänden gegen die Explikatsprache typisch ist, findet sich bereits bei der ersten Formu13
Siegwart geht auf Zirkularität bei Einführungsverfahren nicht eigens ein, spricht bloß von »sprachbedingten Verständigungsstörungen«, die durch »Korrektur einzelner Einführungen oder – tiefergehend – durch Revision der Einführungsstandards« behoben werden müssten (Siegwart: Vorfragen zur Wahrheit, S. 224). 14 Ebd., S. 265. 15 Ders.: Explikation, S. 38 f.
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lierung durch Rosenberg – dem zufolge der Interventionismus »hopelessly unilluminating«16 ist. So weit verbreitet und »kanonisch« der Zirkeleinwand ist, so knapp wird er auch vorgetragen.17 Ein expliziter Bezug zum Explikationsthema fehlt vollständig. Stattdessen wird methodologisch uneinheitlich von zirkulärem »Definieren«, »Explizieren«, »Analysieren«, »Klären der Bedeutung«, »Verstehen« der Begriffe usw. gesprochen. Die Begründungen für die These, dass der Interventionismus zirkulär sei, unterscheiden sich im Detail erheblich. Dass sich Aussagen, mit denen die Folgen von Handlungen angegeben werden, als Kausalaussagen reformulieren lassen, kann dabei explikationsmethodologisch bei definitorischer Einführung des Begriffs (wie der von Wrights) als Grund alleine nicht ausreichen. Implikative Beziehungen zwischen Definiens und Definiendum sind selbstverständlich und entsprechende umgangssprachliche Üblichkeiten sind in explikativer Hinsicht alles andere als hinderlich. Gerade diese bestehenden Verhältnisse können schließlich genutzt werden können, um eine plausible und den Gewohnheiten entsprechende Explikatsprache zu erzeugen. Für Definitionen ist die Eliminierbarkeit des Definiens eines der wichtigsten Merkmale18 und kein Anlass für Einwände. Wird »Schimmel« über »weißes Pferd« eingeführt oder »Wissen« über »wahre, gerechtfertigte Meinung«, dann können in Aussagen die entsprechenden Ausdrücke wechselseitig durcheinander ersetzt werden. Daran alleine ist nichts anstößig. Eine Rekonstruktion wie die folgende durch Woodward, die er zumindest zunächst für »prima facie« plausibel hält, kann also nicht die Explikationsdebatte gegen den Interventionismus entscheiden:
16
Alexander Rosenberg: Causation and Recipes. A Mixture as Before?, in: Philosophical Studies 24 (1973), S. 378–385, hier S. 378. 17 Exemplarisch: Monica Dullstein: Zur Rolle von Handlungen bei der Analyse des Kausalbegriffs, in: D. Bailer-Jones/M. Dullstein/S. Pauen (Hrsg.): Kausales Denken. Philosophische und psychologische Perspektiven, Paderborn: Mentis, 2007, S. 85–112, hier S. 90, nennt »zahlreiche Kritiker«, verweist aber nur auf Rosenberg und Freundlich, wobei letzterer den Einwand sogar zu widerlegen versucht: »Mere circularity in an analysis is not in itself a sufficient reason for deploring that analysis.«
(Yehudah Freundlich: The Causation Recipe, in: Dialogue 16.03 [1977], S. 475). Siehe Siegwart: Vorfragen zur Wahrheit, S. 240.
18
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Suppose that X is a variable that takes one of two different values, 0 and 1, depending on whether some event of interest occurs. Then for an event or process M to qualify as a manipulation of X, it would appear that there must be a causal connection between M and X: to manipulate X, one must cause it to change in value. How then can we use the notion of manipulation to provide an account of causation?19
Das logische Verhältnis von Definiens und Definiendum ist symmetrisch. Es ist nicht das logische Verhältnis, sondern die Verfügbarkeit der beteiligten Begriffe, die die Asymmetrie eines Definitionsverhältnisses ausmacht. Offensichtlich bestehen bei Vertretern des Zirkeleinwandes Überzeugungen über zur Einführung handlungstheoretischer Begriffe bereitstehende Sprachmittel der Explikatsprache. Dies deutet auf implizite Überzeugungen über eine »Explikationsordnung« hin: Die Explikationsordnung sagt, welche Begriffe wissenschaftlich respektabel sind und welche nicht. Sie soll gewährleisten, dass die unrespektablen Begriffe durch die respektablen Begriffe erklärt werden, und nicht umgekehrt. [. . . ] Da nicht jeder Begriff expliziert werden kann, braucht die Explikationsordnung eine Basis. Sie besteht aus solchen Begriffen, die keiner weiteren Explikation bedürfen und die den Ausgangspunkt für alle Explikationen bilden.20
In der dargestellten Explikationsmethodolgie wäre eine Explikation genau dann zirkulär, wenn Sprachmittel zur Einführung des Explikats verwendet werden, die selbst Teil des Explikats sind – sei es direkt oder vermittelt über die Einführungen der einführenden Begriffe usw. Zirkulär können danach also lediglich, in Siegwarts Worten, konstitutsprachliche Einführungsverfahren sein, solche also, bei denen Mittel einer bereits zur Verfügung stehen19
James Woodward: Causation and Manipulability, in: Edward N. Zalta (Hrsg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Winter 2013, http://plato.stanford. edu/archives/win2013/entries/causation-mani/, SEP, 2013, Introduction. 20 Dirk Greimann: Regeln für das korrekte Explizieren von Begriffen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 61.3 (2007), S. 261–282, URL: http://www. jstor.org/stable/20484683, hier S. 279.
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den Sprache verwendet werden.21 Ein Explikationszirkel wird danach innerhalb einer Sprache oder, schwächer formuliert, innerhalb einer Menge in ihrer Verwendung festgelegter Begriffe diagnostiziert. Der klarste Fall von Einführungszirkeln liegt bei Zirkeldefinitionen vor – und passender Weise wird daher von den Kritikern die Einführung des Ursachenbegriffs im Interventionismus auch als Definition gelesen. Sollte sich auf diese Weise die Zirkelthese begründen lassen, bleibt für die Argumentrekonstruktion noch zu klären, wie von Zirkularität auf Falschheit des Interventionismus geschlossen werden kann. Der gängige Vorwurf, man habe nach einer (zu engen?) Zirkeldefinition »nichts verstanden«, lässt sich im Rahmen der Explikationsmethode klarer ausdrücken: Schritt 1 der Explikation beinhaltete die vorbereitenden Maßnahmen und dabei den Nachweis von Ambiguität und Synonymen des Explikandumausdrucks und (damit auch) die Rechtfertigung – die Angabe des Zwecks –, die Explikation überhaupt durchzuführen. Wird nun also, sonst methodologisch korrekt, zirkulär expliziert, dann würden mit der Begriffseinführung genau solche Probleme des Explikandums noch nicht gelöst – oder, schwächer formuliert, zumindest nicht vollständig ausgeschlossen. Der Zweck des Explizierens rechtfertigt das Gebot, zirkuläre Einführungsverhältnisse zu vermeiden. Zirkeleinwand, letzter Schritt (P1 ) (P2 )
(K1 )
Der Interventionismus ist zirkulär. Wenn der Explikationsvorschlag einer Theorie zirkulär ist, dann wird der Zweck der Explikation, Missverständnisse das Explikandum betreffend zu beseitigen, verfehlt und die Theorie expliziert nicht erfolgreich. erfüllte hinr. Bed. Der Interventionismus expliziert nicht erfolgreich den Ursachenbegriff.
21
Zur Abgrenzung von konstitutionssprachlichen Verfahren siehe Siegwart: Vorfragen zur Wahrheit, S. 233 ff.
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Geht man von der definitorischen Lesart des Interventionismus aus, dann kann der Vertreter des Zirkeleinwandes vom Definiendum nun entweder behaupten, es sei bereits zirkulär definiert worden oder aber dass die Einführung im Verlaufe der Aufklärung über die definierenden Ausdrücke, also durch nachträgliche Einführung, zirkulär werden müsse. Die erste These ist für den Interventionismus nicht haltbar. Nirgendwo wurde, so viel ich weiß, ein expliziter Einführungszirkel begangen. Woodward schlägt zwar eine zirkuläre Definition seines Begriffs »Intervention« vor, seine Auffassung fällt allerdings nicht unter den hier vorgeschlagenen Begriff von Interventionismus.22 Es bleibt damit die zweite These, die vom Kritiker die Darlegung eines alternativlosen Explikationszirkels verlangt. Dabei sind zwei Strategien zu unterscheiden, die nacheinander diskutiert werden sollen: Der Verweis auf eine kausale Theorie der Handlungsfolgen und eine kausale Theorie des Handelns.
2.2.1 Explikationszirkel durch kausale Theorie der Handlungsfolge Offenbar wird in einer interventionistischen Einführung des Verhältnisses von Ursache und Wirkung gar nicht direkt vom Begriff »Handlung« Gebrauch gemacht. Folgerichtig wurden beim Zirkeleinwand die tatsächlich verwendeten Begriffe »Herbeiführen«, »Handlungsfolge« (von Wright), »manipulative Technik« (Gasking) oder das den Beispielen von Handlungen entnommene Schema »etwas tun, indem man etwas anderes tut« zum Gegenstand des Zirkeleinwandes. Dabei reicht es aus, die These zu vertreten, dass die einzigen plausiblen Einführungsregeln für diese Begriffe den Ursachenbegriff verwenden und dann eine Definition für die Explikatsprache vorzuschlagen (zum Beispiel: »Eine Person führt X herbei genau dann, wenn sie das Eintreten von X verursacht«).23 22
Siehe oben, Seite 17.
23
»Let us now proceed to analysing the relation of agenthood – that is, the relation between the agent and the result of his action. We obtain that relation by applying the concept of causality. The agent of an event is he whose free impulse is a cause of that event« (Tadeusz Kotarbinski: ´
Praxiology. An Introduction to the Sciences of Efficient Action, Frankfurt am Main: Pergamon Pr., 1965, S. 17).
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Verschärfen kann man das Argument durch die zusätzliche Behauptung, dass eine explizite Einführung der handlungstheoretischen Begriffe notwendig sei. Mehrere Kritiker wählen diesen Weg, indem sie zu zeigen versuchen, dass das bloß intuitive Verständnis der handlungstheoretischen Redeweisen ohne explizite Klärung zu unbefriedigenden Ergebnissen führe24 : Kim kommentiert von Wrights Definition mit solchen Sätzen der Form ». . . by. . . «, die nach gewöhnlicher Rede keine Kausalverhältnisse sind (»I signal for a turn by extending my left arm« und »by jumping six feet I outjump George, and by forgetting to mail a letter I break a promise«) und formuliert dann seinen Zirkeleinwand: [It] seems to me that the action concept is not something that should be taken as a primitive. [It] seems not unlikely that such a project would have to make use of causal concepts.25
Müsste man also Auskunft darüber geben, welche Sätze mit »indem« tatsächlich Handlungsfolgen angeben, dann müsste man, so Kim, zwangsläufig kausale Unterscheidungen einführen. Die meisten Kritiker allerdings treten bloß für die Einführung der Begriffe mittels des Ursachenbegriffs ein ohne zu erklären, was in der Sache eine Einführung notwendig mache. Immer wieder wurde der Einwand auf diese Weise und ohne substantiellen argumentativen Fortschritt von den bekanntesten Kritikern des Interventionismus vorgetragen: • Rosenberg in Auseinandersetzung mit Gasking – »But consider: what does ‘making’ mean here? The obvious answer is ‘causing’. [. . . ] What does ‘bring about’ mean here? The most plausible answer is: it means ‘cause’. I suspect that any analysis of the notion of manipulative technique presupposes the notion of cause or some other concept which can only be under-
24
Angedeutet ist damit ein Verstoß gegen die Anforderung, den Explikationsmaß-
stab zu erfüllen; siehe dazu Seite 62. 25
Jaegwon Kim: Explanation and Understanding by Georg Henrik von Wright, in: The Philosophical Review 82.3 (1973), S. 380–388, hier S. 282 f., Hervorhebung von mir, A.K.
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2.2 Der Zirkeleinwand
stood in terms of the concept of cause, so that an analysis of cause carried out in this way cannot fail but be circular.«26 – »Unfortunately the account leaves unexplained the notion of manipulative technique, and any analysis of this notion presupposes either the notion of cause or one of its cognates, like ‘produce’, ‘bring about’, ‘make’. Under what conditions does a particular series of events – actions, bodily movements – constitute a manipulative technique for bringing about some other event or state? Only if the connection between the former events – actions or bodily movements – and the state of affairs which follows them is determined to be non-accidental and asymmetrical, i.e. causal. But this determination requires prior agreement on the meaning of cause[.]«27 – »[The] answer trades on the controversial expression ‘bring about’, an expression whose clearest meaning is ‘cause to occur’.«28 – »[We] cannot explain ‘doing things’ or ‘interfering with nature’ unless we already have a grasp of causation.«29 • Tuomela: »Thus von Wright’s experimentalist analysis of causation circularly relies on the causal notion of bringing about, which is left without sufficient clarification.«30 • Tooley – »[The] paradigm case of causation will still be that involving personal action, and the concept of action will still be semantical26
Rosenberg: Causation and Recipes, S. 378 f. »Zahlreiche Kritiker haben eingewandt, dass diese Definition nicht verstanden werden könne, wenn nicht bereits ein Verständnis kausaler Zusammenhänge vorausgesetzt werde. Hervorrufen, so ihre Überlegung, bedeutet nichts anderes als verursachen« (Dullstein: Zur Rolle von Handlungen bei der Analyse des Kausal-
begriffs, S. 90). 27 Alexander Rosenberg: Propter Hoc, Ergo Post Hoc, in: American Philosophical Quarterly 12.3 (1975), S. 245–254, hier S. 274. 28 Tom L. Beauchamp/Alexander Rosenberg: Hume and the Problem of Causation, New York und Oxford: Oxford University Press, 1981, S. 204. 29 Ebd., S. 207. 30 Raimo Tuomela: Erklären und Verstehen menschlichen Verhaltens, in: KarlOtto Apel/Juha Manninen/Raimo Tuomela (Hrsg.): Die Erklären-VerstehenKontroverse in transzendental-pragmatischer Hinsicht, Suhrkamp, 1976, S. 30–58, hier S. 191 f. Wie Tuomela allerdings zu diesem Schluss kommt, ist unverständlich. Er vermischt offenbar mehrere Themen.
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ly prior to the concept of causal priority. And this seems quite counter-intuitive.«31 – »The concept of controlling, manipulating, producing, bringing about by means of, and so on, all involve the concept of causal priority, and appear to be semantically more complex than this concept. As a consequence it seems inescapable that any attempt to offer an analysis of causal priority in terms of such concepts will suffer from circularity.«32 – »[T]he concept of manipulation appears to involve causal concepts[.]«33 • Hausman: »[Agency] theories appear to be circular. [T]he notion of an intervention itself apparently calls for some sort of causal analysis.«34 So scheint mir die Auffassung der größten Gruppe von Vertretern des Zirkeleinwandes treffend durch folgendes Argument rekonstruiert – an das dann der vorherige Schluss auf Falschheit des Interventionismus angeschlossen werden kann: Zirkeleinwand1 (P1 )
(P2 )
(K1 )
Die plausibelsten Einführungen der für den Interventionismus relevanten handlungstheoretischen Unterscheidungen werden mit dem Ursachenbegriff durchgeführt. Wenn dies der Fall ist, dann ist der Interventionismus zirkulär. erfüllte hinr. Bed. Der Interventionismus ist zirkulär.
Die Antwort auf die Frage, ob die kausale Einführung der handlungstheoretischen Begriffe die plausibelste ist, d.h. die Wahrheit 31 Michael Tooley: Causation. A Realist Approach, Oxford: Clarendon Press, 1987, S. 239. Der Einwand wird gegen Gasking und ausgehend von der speziellen Frage nach einem nicht-zeitlichen Kriterium für die Asymmetrie von Kausalverhältnissen erhoben. 32 Ebd., S. 242. 33 Ebd., S. 378. 34 Hausman: Causation, agency, and independence, S. 17.
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von Prämisse (P1 ), hängt zum größten Teil (selbstverständlich) ihrerseits von der Einführung des Ursachenbegriffs ab. Die Vertreter des Einwandes müssten sich dafür eigentlich zu einer Kausalitätstheorie bekennen, um ihre Position zu stärken und einen entscheidenden explikativen Vorteil gegenüber dem Interventionismus zu gewinnen. Dass genau dies ausbleibt, liegt wohl daran, dass eher Konsens darüber besteht, dass die Explikationsversuche zum Ursachenbegriff bisher gescheitert sind. Wäre dies das letzte Wort der Debatte, muss man es eigentlich als Unding bezeichnen, dass es so verbreitet ist, in der Kritik einer Kausalitätstheorie einen Explikationszirkel zu diagnostizieren, ohne diesen als expliziten nachzuweisen oder selbst eine Einführung des Ursachenbegriffs vorzunehmen. Es mag nicht immer ratsam sein, in Debatten auf Einwände mit Umverteilung von Begründungs- (in diesem Fall: Explikations-)last zu antworten, aber der Vorwurf eines Einführungszirkels scheint mir aus begrifflichen Gründen ohne das Übernehmen der Begründungslast eines eigenen Ursachenbegriffs gar nicht möglich zu sein. Es muss allerdings festgehalten werden, dass über Einführung der handlungstheoretischen Begriffe von interventionistischer Seite aus ebenfalls kaum geschrieben wurde.35 Einen Defekt im Sinne eines Explikationszirkels zu diagnostizieren oder von beteiligten kausalen Ausdrücken zu sprechen ist dennoch mehr als ein Hinweis auf ein Defizit. Es scheint bei Kritikern eine gewissermaßen »apriorische Begründung« für eine anti-interventionistische Explikationsordnung zu geben. Bei beiden Varianten des Zirkeleinwandes spielt sie im Überzeugungshintergrund eine entscheidende Rolle. Besonders deutlich erkennbar ist die These bei den Kritikern, die ihren Einwand auf einer kausalen Handlungstheorie aufbauen.
2.2.2 Explikationszirkel durch kausale Theorie des Handelns Als Übergang kann ein weiteres Zitat Tooleys dienen, der in seiner Reihe von Einwänden beide Spielarten des Zirkeleinwandes vertritt: 35
Auf die Ausnahmen und mögliche Strategien werde ich später zurückkommen, siehe Seite 52 ff.
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In the third place, the analysis of causation offered still suffers from circularity, since the concept of manipulation appears to involve causal concepts, possibly in two ways. First, manipulation is a type of action, and it seems quite plausible that action necessarily involves a causal relation between mental states and the states brought about by the action.36
Damit spielt Tooley auf die klassische kausale Handlungstheorie Davidsons an. An diese asnchließend wird als »Handlung« genau das bezeichnet, was auf eine bestimmte Weise verursacht wird – bei Davidson diejenigen Körperbewegungen, die durch Gründe, Wunsch-Überzeugungs-Paare, verursacht werden. Auf Details von Davidsons Überlegung werde ich nicht weiter eingehen. De facto wurden die Auffassungen über ein kausales Verhältnis von mentalen Zuständen und Handlungen seit seinem Aufsatz von 196337 kaum weiterentwickelt. Vielmehr gerieten unplausible metaphyische und kausalitätstheoretische Konsequenzen seiner Auffassungen in den Blick.38 Auch Woodward vertritt in seiner Abgrenzung vom handlungstheoretischen Interventionismus eine Auffassung, die ihn, ohne weiteren Kommentar zu Davidsons Programm (oder einem alternativen), auf eine kausale Handlungstheorie festlegt. Wegen Passagen wie der Folgenden kann er selbst nicht zu den Interventionisten im Sinne der Eingangs des Kapitels vorgeschlagenen Auffassung gezählt werden: These writers claim, in contrast to the position that I have defended, that one can understand or grasp notions like 36
Tooley: Causation, S. 241. Donald Davidson: Actions, Reasons and Causes, in: Journal of Philosophy 64 (1963), S. 685–700. 38 So schreibt etwa Harras 2004, 20 Jahre nach dem Erscheinen ihrer Einführung in die Handlungstheorie: »Da sollte man meinen, dass sich eine ganze Menge getan hat. 37
Wenn man jedoch näher hinschaut, stellt sich heraus, dass die Erwartungen die Realitäten der philosophischen und linguistischen Bemühungen übersteigen: In der allgemeinen analytischen Handlungstheorie sind nach wie vor die Arbeiten DAVIDSONS, von WRIGHTS und GOLDMANS wegweisend[.]« (Gisela Harras: Handlungssprache und Sprechhandlung. Ei-
ne Einführung in die theoretischen Grundlagen, 2. Aufl., Berlin: De Gruyter, 2004, Einleitung). Eine umfangreiche Diskussion des Scheiterns der kausalen Handlungstheorie bietet das erste Kapitel von Keil: Handeln und Verursachen.
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agency and manipulation by a human agent independently of the notion of causation and that one can then use these notions to provide a noncircular “analysis” of causation. I argue that this theory is subject to the following set of dialectical difficulties. To show that the notion of agency is independent of or prior to the notion of causality, one needs to give human actions or manipulations a special status: these can’t be ordinary causal transactions. This in turn has two problematic consequences. First, it flies in the face of any plausible version of naturalism it makes agency out to be a fundamental, irreducible feature of the world and not just one variety of causal transaction among others.39
Ein Vorzug seiner eigenen Position sei hingegen, dass menschliche Handlungen ohne Sonderstatus gewöhnliche Ereignisse in der Natur seien.40 Aus der Wahrheit des Naturalismus folgt ihm zufolge die Natürlichkeit von Handlungen und daraus wiederum die Wahrheit einer kausalen Theorie des Handelns, wohl weil »Natur« als Inbegriff kausaler Zusammenhänge gilt. Damit wird bei Woodward die durchgängige skeptische Distanz zu handlungstheoretischen Begriffen bei zuversichtlicher Zuneigung zum Ursachenbegriff deutlich, als wäre, gewissermaßen »a priori«, Kausalitäts- gegenüber Handlungstheorie das einfachere philosophische Geschäft und der Interventionismus »immer schon« zirkulär – wie auch immer die kausalen Theorien seiner Grundbegriffe nun aussehen mögen und wie viele Versuche, sie zu formulieren, auch bisher gescheitert sein mögen.41 Diese Haltung scheint auch der Grund zu sein, weshalb der Zirkelein39
Woodward: Making Things Happen, S. 242.
40
»[T]here is nothing logically special about human action or agency: human interventions are regarded as events in the natural world like any other.« (Ebd., S. 104) 41 Optimistisch ist zunächst auch von Kutschera: »Es würde naheliegen, den Begriff des Bewirkens durch jene der Handlung und der Ursache zu definieren. Man bewirkt ja, daß ein Ereignis eintritt, indem man eine Handlung vollzieht, die Ursache dieses Ereignisses ist. Die Explikation des Ursachenbegriffs würde dabei keine großen Schwierigkeiten machen, wohl aber jene des Handlungsbegriffs« (Franz von Kutschera: Bewirken, in: Erkenntnis 24.3
(1986), S. 253–281, hier S. 266 f.). Später entwickelte er dann allerdings unter Verweis auf von Wright eine »aktionistische Kausalitätsauffassung« (siehe Franz Kutschera: Causation, in: Journal of Philosophical Logic 22.6 (1993), S. 563–588).
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wand in der ersten Variante durchgängig ohne Explikationsangebot für den Ursachenbegriff für so plausibel gehalten wird. Der argumentative Platz dieser Haltung ist die Prämisse (P1 ) und die explikative Konsequenz die Prämisse (P2 ) des folgenden Argumentes: Zirkeleinwand2 (P1 )
(P2 )
(P3 )
(K1 )
Der Naturalismus ist wahr: Menschliches Handeln unterscheidet sich nicht prinzipiell von anderen Vorgängen in der Natur. Wenn sich menschliches Handeln nicht prinzipiell von anderen Vorgängen in der Natur unterscheidet, dann ist eine kausale Handlungstheorie der einzige plausible Weg, den Handlungsbegriff einzuführen. Wenn dies wahr ist, dann ist der Interventionismus zirkulär. erfüllte hinr. Bed. Der Interventionismus ist zirkulär.
Besonders zur Einschätzung der problematischen Prämisse (P2 ) – Bedürfen etwa alle Ereignisse und Zustände einer »kausalen Einführung«, wenn sie natürliche Vorgänge sind? – aber auch alleine der argumentativen Fairness halber soll auch ein Blick auf die interventionistischen Äußerungen zur Einführung des Handlungsbegriffs (bzw. zu der Beziehung zwischen Zweck und Mittel oder Handlung/Handlungsergebnis und Handlungsfolge) geworfen werden. Vorschläge, die sich dazu finden lassen, möchte ich kurz innerhalb von Siegwarts Einführungs- und Explikationslehre diskutieren und anschließend wieder zu den Folgen des Zirkeleinwandes für das hier verfolgte Projekt übergehen.
2.2.3 Einführungsoptionen zum Handlungsbegriff Es ist zu erwarten, dass die Debatte um den Handlungsbegriff auf der Metaebene als eine um Zulässigkeit von Einführungsverfahren weitergeführt werden muss. Siegwart deutet möglichen Dissens auf diesem Gebiet explizit für die ostensive Einführung an:
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Wer bestimmten Einführungsformen, z.B. der imprädikativen Definition, der bedingten Definition, der ostensiven Definition usf., mit Skepsis begegnet, wird sie auch nicht zum Explizieren einsetzen. Deshalb ist im Zuge der Dissenslokalisierung stets zu überprüfen, ob der Auslöser von Explikationskontroversen im fundierenden einführungstheoretischen Bereich sitzt oder ob er explikationsspezifischer Natur ist.42
Gerade eine ostensive Definition ist es, die Menzies und Price für die Einführung des Handlungsbegriffs (in Analogie zu einer Einführung des Prädikates »rot«) vorschlagen. Damit sei der Zirkeleinwand widerlegt.43 Ostensive Einführungen, abgesehen davon, dass sie keine Definitionen im engeren Sinne sind, »sondern – falls man solche einzuräumen bereit ist – in irgendeiner Form zeigegestützte Einführungen nichtdefinitorischer Art«44 , folgen nach Siegwart der Strategie, »zeigend [eine] Zuordnung zwischen Ausdruck und Gegenstand« herzustellen.45 Wie genau eine solche Einführung aussehen könnte, bleibt offen – gerade weil es sich bei »Handlung« oder »Herbeiführen« um Abstrakta handelt, die nicht direkt durch Auffordern zu einer einzelnen Handlung (Wirf den Ball! Zerbrich die Scheibe! u.ä.) einführt werden könnten.46 Die Auffassung von Menzies und Price läuft darauf hinaus, dass es Elemente unseres alltäglichen Umgangs miteinander und unserer Selbsterfahrung gibt, die so vertraut und unkontrovers sind, dass sie es erlauben, die entscheidenden Begriffe bloß zeigend zu exemplifizieren. Hier ergeben sich unerwartete Parallelen, da die Einführung des Handlungsbegriffs (und die der anderen handlungstheoretischen Unterscheidungen) im Methodischen Kulturalismus auf ähnliche Weise vorgenommen wird. Im programmatischen Auf42
Siegwart: Explikation, S. 27. Peter Menzies/Huw Price: Causation as a secondary quality, in: British Journal for the Philosophy of Science 44 (1993), S. 187–203, URL: http://www.jstor.org/ stable / 687643, hier S. 194 f. Price wiederholt dieses Argument später gegen Woodward, siehe Price: Causation, Intervention and Agency, Abschnitt 2.2. 44 Siegwart: Vorfragen zur Wahrheit, S. 229. 45 Ebd., S. 253. 46 Auch Siegwart plausibilisiert lediglich knapp ostensives Einführen von Eigennamen als eigenständige Methode (Siehe ebd., S. 254 f.). 43
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satz Hartmanns kennzeichnet der Ausdruck »empraktisch« die Einführung der Begriffe, womit die Vertrautheit und das kulturelle und insbesondere vorwissenschaftliche, soziale Einüben der Unterscheidungen im Alltag gemeint sind: Ebenso, wie wir es empraktisch gelernt haben, Dinge von Geschehnissen und bei diesen wiederum Bewegungen von Regungen zu unterscheiden, läßt sich auch die Unterscheidung der Regungen in H ANDLUNGEN und bloßes V ERHALTEN erlernen und exemplarisch explizieren: Während das Schlagen des Herzens, das Gähnen oder das Stolpern typische Beispiele für bloße Verhaltensschemata bieten, finden wir Beispiele für Handlungsschemata etwa im Schreiben eines Briefes, im Anbringen eines Bücherregals oder im Schnitzen einer Pfeife.47
Auch Janich folgt bei seiner »Behandlung« des Handlungsbegriff dieser Strategie, die charakterisierenden Merkmale von Handlungen unseren geteilten Praxen im Umgang miteinander zu entnehmen und dafür Beispiele zu geben: Handlungen werden uns als »Verdienst oder Schuld von anderen Menschen zugerechnet«, können »Erfolg bzw. Misserfolg durch Erreichen bzw. Verfehlen des Zwecks«48 haben. Allenfalls im Methodischen Konstruktivismus (bzw. Methodischen Kulturalismus) fand eine methodologische Diskussion des Verhältnisses von Einführungsprozeduren und Handlungsbegriff statt. Dort wurde wiederholt die Frage nach dem Status der »lebensweltlichen Grundlagen« von Begriffen gestellt. Sie gehört gewissermaßen, über den Anschluss an Dingler und Heidegger, zum Gründungsthema des Konstruktivismus. Es bleibt jedoch unklar, inwiefern diese Überlegungen sich im Sinne eines eigenständigen, ostensiven Einführungsverfahrens lesen lassen. Eher scheint es so zu sein, dass Janich »Handlung« als Abstraktum zu Gegenständen eines unüblichen Einführungsverfahrens und dem Umgang mit diesem Verfahren (Loben, Tadeln, 47 Dirk Hartmann: Kulturalistische Handlungstheorie, in: Dirk Hartmann/Peter Janich (Hrsg.): Methodischer Kulturalismus. Zwischen Naturalismus und Postmoderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996, S. 9–69, hier S. 72 f. 48 Peter Janich: Sprache und Methode. Eine Einführung in philosophische Reflexion, Tübingen: A. Francke, 2014, S. 5.
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Auffordern u.a.) einführt. Dieses Verfahren, in der Logisch-pragmatischen Propädeutik erstmals dargestellt49 , wurde formal bisher nicht diskutiert – ganz zu schweigen von einer Beurteilung vom Explikationsstandpunkt aus. Die Grundintuition ist dabei die folgende: Über Ordinatoren (Gebotsoperatoren) – in Schriftform sind das Zeichen, die eine Aufforderung anzeigen – werden Handlungsprädikate eingeführt (die durch Befolgen der Aufforderung kontrolliert werden können). Die Einführung des Handlungsbegriffs geschieht dann offenbar so, dass immer dann, wenn die mit der Einführung verbundenen Tätigkeiten vollzogen wurden (also das Auffordern selber, Zurechnen durch Loben oder Tadeln, Beurteilen hinsichtlich des Erfolges und korrekter Einführung usw.), davon gesprochen werden darf, dass eine Handlung Gegenstand dieses Aufforderns, Zurechnens usw. war. Zirkulär ist diese Einführung nicht, denn es ist nicht notwendig, die Vollzüge, also auch das Auffordern, Tadeln usw. als »Handlungen« zu bezeichnen – auch wenn selbstverständlich später zu jedem Auffordern aufgefordert usw. werden kann. »Handlungsprädikat« gehört der systematisch späteren Metasprache zu diesen Tätigkeiten an. Am nächsten kommt diesem Verfahren in der vorgestellten Explikationsmethode die operationale Einführung. Siegwart identifiziert diese mit »Konstatierungsregeln« und erläutert das Verfahren am wissenschaftstheoretischen Beispiel der Einführung des Prädikats »ist schwerer als«: Wenn zwei Körper Θ1 , Θ2 jeweils auf eine Schale einer ungestörten Balkenwaage gelegt werden und die Θ1 -Schale tiefer sinkt als die Θ2 - Schale, dann darf man die aus der Anwendung von ›. . . ist schwerer als. . . ‹ auf Θ1 , Θ2 entstehende Elementaraussage konstatieren.50
Vom Vorliegen einer unkontroversen und nicht zirkulären Einführung des Handlungsbegriffs zur Lösung des Zirkeleinwandes kann dennoch keine Rede sein. Immerhin besteht ein quasiformaler Vorschlag von Janich, der anschlussfähig an Siegwarts 49
Ders.: Logisch-pragmatische Propädeutik. Ein Grundkurs im philosophischen Reflektieren, Weilerswist: Velbrück, 2001, S. 104 ff. 50 Siegwart: Explikation, S. 21.
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Überlegungen sein könnte – auch wenn Überlegungen dazu ein Desiderat sind.51 Offen bleibt auch, ob mit der Einführung von Handlungsprädikaten wie »Tadeln«, »Auffordern« usw. über eine Lehr- und Lernsituation nicht generell eine Lehrmethode mit einer begrifflichen Einführung verwechselt wird.52 Festgehalten werden darf allerdings, dass der interventionistische Jargon der »alltäglichen Vertrautheit« mit den handlungstheoretischen Unterscheidungen so immerhin einem Verfahren zugeordnet und explikationsmethodologisch diskutiert werden kann. Die Diskussion des Zirkeleinwandes soll an dieser Stelle verlassen werden. Für den Zweck dieser Arbeit, kritische Begründungsformen von Kausalaussagen zu untersuchen, können bereits einige wichtige Hinweise entnommen werden, die gleich aufgeführt werden sollen. Zusammenfassend kann aber zum Zirkeleinwand festgehalten werden, dass eine Entscheidung über Zirkularität des Interventionismus von der gewählten Explikatsprache, insbesondere der Rolle des Handlungsbegriffs und einer Einschätzung methodologischer Vorentscheidungen zur Rolle des Ursachenbegriffs abhängig ist. Im Sinne einer Explikationsdebatte besteht hinsichtlich Zirkularität ein Mangel an Diskussion der Einführung der zentralen Grundbegriffe auf beiden Seiten. Hinsichtlich des Einwandes bestehen allerdings durchaus explikative Optionen, keinen Explikationszirkel zu begehen. Insofern ist der Zirkeleinwand ein schwacher Einwand – vor allem auf Grund seiner unvollständigen Ausführung.
2.2.4 Weitere Folgen für Argumentrekonstruktionen: Begründungsordnung Dem Zirkeleinwand kann ein wichtiger Hinweis auf einen Konsens über das Implikationsverhältnis von Handlungssätzen und Kausalaussagen entnommen werden. Es scheint für Interventio51
Warkus stellt einen in diesem Zusammenhang interessanten Bezug der kulturalistischen Handlungstheorie zu Peirce’ Auffassung von einem »Begriff als eine strukturierte Summe von Handlungsmöglichkeiten her« und verteidigt beides (siehe Matthias Warkus: Veränderung in Zeichen. Studien zu einem semiotisch-pragmatischen Veränderungsbegriff, Münster: Mentis, 2015). 52 Diesen Vorwurf des »didactic switch« erhebt Siegwart generell in Richtung des Konstruktivismus (siehe Siegwart: Vorfragen zur Wahrheit, S. 223 ff., 226).
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2.2 Der Zirkeleinwand
nisten und Kritiker gleichermaßen unkontrovers zu sein, dass aus einer wahren Aussage über eine Handlung und eine Handlungsfolge eine wahre Kausalaussage über die beteiligten Ereignisse folgt. Wenn die Intuition der Vertreter des Einwandes richtig ist, dass ein Kausalverhältnis notwendige Bedingung des Verhältnisses von Handlung und Handlungsfolge ist, dann gilt auch, dass dieses hinreichende Bedingung für jenes ist. Das kausale Verhältnis dürfte somit aus dem praktischen geschlossen werden. Inferentiell sind sich beide Parteien offenbar einig. Mit dem skeptischen Einwand wurde bereits darauf hingewiesen, dass Irrtum bei Handlungsbeschreibungen möglich ist. Handeln wir aber in hinreichend übersichtlichen Situationen, so dass bezüglich der Ergebnisse und Folgen Einigkeit erzielt werden kann, dann lässt sich ein erstes Schema für einen praktisch gestützten Schluss auf eine Kausalaussage, eine erste Argumentform, formulieren:53 Von Handlungsfolgen zu Kausalität1 (P1 ) (P2 )
(K1 )
Wir können Y herbeiführen, indem wir X tun. (Interventionistisches Schlussprinzip1 :) Wenn wir Y herbeiführen können, indem wir X tun, dann gilt: X verursacht Y. erfüllte hinr. Bed. X verursacht Y.
Gleiches gilt für erfolgreich verhinderndes Handeln: Von Handlungsfolgen zu Kausalität2 (P1 ) (P2 )
(K1 )
Wir können Y verhindern, indem wir X tun. (Interventionistisches Schlussprinzip2 :) Wenn wir Y verhindern können, indem wir X tun, dann gilt: X verursacht, dass Y nicht eintritt. erfüllte hinr. Bed. X verursacht, dass Y nicht eintritt.
53
»Was wir so herbeiführen, sind die Wirkungen unserer Handlungen. Das, was wir tun, ist die Ursache dieser Wirkungen. Die Ursache werde ich auch das Ergebnis und die Wirkungen die Folgen unserer Handlung nennen« (von Wright: Erklären und Verstehen, S. 69).
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Die Schlussprinzipien sind zwar interventionistisch, aber daraus folgt keine erfolgreiche Explikation des Ursachenbegriffs. Sieht man nun von der Frage der Explikationsordnung ab, so bleibt doch die Frage der Begründungsordnung zu beantworten. Was spricht dafür, das Handlungswissen in (P1 ) als Ausgang von Begründungsrekonstruktionen zu nehmen? Entscheidender Vorteil ist letztlich, dass die Argumente so mit Sätzen beginnen, bei denen klar ist, was zu tun ist, wenn man sich von ihrer Wahrheit überzeugen will. Ich möchte dies an einem Beispiel klar machen. Nehmen wir an, folgende Kausalaussage lässt sich mit Mitteln der Physik begründen: Beispiel I.4: Flugzeugabsturz Ursache des Flugzeugabsturzes war die plötzliche Deformation der rechten Tragfläche und der daraus folgende größere Luftwiderstand der Tragfläche. Lassen wir Feinheiten der Begründung außer Acht und nehmen lediglich an, dass zur Begründung der Aussage eine einfache Experimentreihe aus der mechanischen Strömungslehre mit einer variablen Anfangsbedingung wesentlich beitragen kann – an einem Apparat, bei dem verschiedene Werkstücke so in einem Luftstrom fixiert werden, dass die Kraft gemessen werden kann, mit der »der Wind« gegen das Werkstück »drückt«. Ein empirisches Ergebnis ist, dass sich der Wert dieser Kraft als abhängig von der Form der Teile erweist und als formspezifischer Faktor zu Berechnungen des Strömungsverhaltens von Körpern bestimmter Formen zugefügt werden kann. Nehmen wir weiterhin an, dass eine kompliziertere luftfahrttechnische Erklärung nicht in relevanter Hinsicht anders ist und dass eine wichtige Prämisse der Erklärung ein Experimentalergebnis ist, das sich als Bewirkungswissen wie folgt beschreiben lässt: Beispiel I.5: Windkanal Wir können verschiedene, spezifische Luftwiderstandswerte erzeugen, indem wir bei sonst gleichbleibendem Aufbau Werkstücke verschiedener spezifischer Formen in einen Luftstrom bringen. Die entscheidende Frage ist: Inwiefern bedarf es nun zur Begründung dieses Handlungssatzes wieder des Nachweises eines kausalen Verhältnisses? Ein Kritiker der Begründung müsste nun
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2.2 Der Zirkeleinwand
entweder sagen, dass vorausgesetzt sei, dass die Bewegungen des Menschen bei der Veränderung des Aufbaus auf eine geeignete Weise verursacht wurden, weil wir sonst nicht von einer Handlung sprechen würden oder dass in dieser Beschreibung bereits vorausgesetzt sei, dass die Handlung »Einbringen eines bestimmten Werkstückes« den Wert des formspezifischen Faktors verursacht (und nichts Anderes), weil wir sonst nicht von einer Handlungsfolge, von etwas, das wir herbeiführen können, sprechen würden. Wie sähe tatsächlich der Umgang mit diesem Einwand aus? Es ist nicht ersichtlich, wo die Frage »Wurde überhaupt gehandelt?« bei tatsächlichen Begründungen von Kausalaussagen wirklich eine Rolle spielt. Ergänzen lässt sich, dass das »Finden« mentaler Eigenschaften (wie etwa der geeigneten ÜberzeugungsWunsch-Paare, die die kausale Handlungstheorie Davidsons verlangt), die Handlungen verursachen sollen, offenbar noch nicht zu einer erfolgreichen Wissenschaft gemacht wurde. Es liegt also gar keine Methode zur ernsthaften Kontrolle des Handlungstatus vor. Es scheint zudem offenbar in unserer Welt nur sehr wenige oder gar keine »Common-Cause-Mechanismen« gibt, die uns dazu zwingen würden, gelegentlich zu überprüfen, ob jemand handelte. Ein solcher »Mechanismus« wäre in der Lage, eine bestimmte Körperbewegung eines Menschen zu verursachen und wäre zugleich Ursache einer Veränderung in der Welt, die uns als Handlungsfolge erscheint. Man kann sich solche Beispiele ausdenken, aber das macht sie de facto noch nicht relevant.54 Die andere Frage hingegen (»War der Effekt überhaupt Wirkung der Handlung?«) ist experimentell gesehen die, ob der Effekt tatsächlich bloß durch Austausch des Werkstücks, also nur durch Variieren dieser Anfangsbedingung, herbeigeführt wurde oder ob nicht ein anderer Faktor relevant ist – technisch gesehen also die Frage nach der hinreichenden Abschirmung der experimentellen Apparatur.55 Diese Frage kann durchaus wichtig 54 Dieses empirische Argument zu Common-Cause-Szenarien menschlicher »Handlungen« habe ich dem Text von Victor Gijsbers/Leon de Bruin: How agency can solve interventionism’s problem of circularity, in: Synthese 2014, S. 1775–1791, hier S. 1785 f., entnommen. 55
»Our certainty may, of course, have been ›deceptive‹ in the sense that the result of our intervention was, in fact, due to some cause external to us. But in order to find this out and come to regard this external factor as a cause [. . . ], we should again have to go through the same epistemic
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sein, wenn die experimentelle Situation schwieriger ist. In einer laborwissenschaftlichen Situation würde man wohl erst dann tätig werden, wenn ein Verdacht besteht. Vorher bliebe nichts anderes übrig, als das Experiment noch einmal zum Beweis zu wiederholen (womit immerhin alle mit der Zeit veränderlichen Faktoren variiert wären). Es ginge dann nämlich um folgende Kausalaussage: Beispiel I.6: Luftwiderstandswert Die Veränderung der Form eines Körpers in einem Luftstrom verursacht verschiedene spezifische Luftwiderstandswerte. Bestünde hingegen ein konkreter Zweifel, dann würde man zur Widerlegung des Handlungssatzes versuchen, gemäß dem Zweifel das Experiment erneut so auszuführen, dass der Effekt entsteht, aber diesmal die vermeintlich effektive Handlung nicht vollzogen wird. Um den vermeintlich verantwortlichen Faktor als kausal nicht relevant auszuschließen, würde man das Experiment so umbauen, dass er nicht mehr wirken kann, das Experiment also gegen ihn »abschirmen«. Genau das würden wir auch erwarten, wenn jemand behauptet, die Laborbedingungen seien den Flugbedingungen nicht hinreichend ähnlich, um die Kausalaussagen zu begründen. Um diesen Verdacht zu erhärten sollte doch gezeigt werden, wie sich das Experiment durch Ergänzen dieser Bedingungen ändert. Geschieht dies, dann haben wir durch verändertes Handeln eine neue Kausalaussage begründet. An diesen aufeinander bezogenen Experimenten wird klar: Wir können die Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten unseres eigenen erfolgreichen Handelns aufdecken, indem wir systematisch unser Handeln verändern. In jedem Fall würde man also wieder auf ein Rezeptwissen abstellen, weil durch dieses, nicht aber durch die Kausalaussage, die Aussage allgemein nachvollziehbar überprüfbar wird. Der Zirkeleinwand gegen den Interventionismus macht also erstens auf eine gängige Implikationsbeziehung von Handlungsund Kausalaussagen aufmerksam und zweitens auf ein Anfangsproblem bei Begründungen. Der erste Hinweis kann im Sinne eiprocedure« (von Wright: On causal knowledge, Seite 94, zitiert nach Keil: Handeln
und Verursachen, S. 429).
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2.3 Der Einwand nicht manipulierbarer Kausalverhältnisse
ner einfachen Schlussform von einem praktischen auf ein Kausalverhältnis aufgenommen werden. Der zweite Hinweis macht auf den kritischen Vorzug praktischer Annahmen gegenüber Kausalaussagen aufmerksam. Daran anschließend soll später gezeigt werden, wie es möglich ist, die Wahrheit einer praktisch gestützten Kausalaussage mit praktisch einlösbaren Annahmen weiter zu stützen – also mit Annahmen, die klar machen, wie Aussagen durch anderes Handlungswissen korrigiert werden können.
2.3 Der Einwand nicht manipulierbarer Kausalverhältnisse Am breitesten diskutiert wird in der Literatur zum Interventionismus der »Einwand der nicht manipulierbaren Kausalverhältnisse«. Er liegt so nahe, dass von Wright ihn in der Formulierung seiner interventionistischen Definition schon zu vermeiden versucht. Die Formulierung seiner definitorischen Einführung im Konjunktiv soll nämlich dafür sorgen, dass die Rede von einem Kausalverhältnis auch dann zulässig ist, wenn der Vorgang nicht technisch kontrolliert wurde oder sogar (derzeit oder grundsätzlich) nicht kontrollierbar zu sein scheint. Damit ist folgender Einwand vorweggenommen: Einwand der nicht manipulierbaren Verhältnisse1 (P1 ) (P2 )
(K1 )
Annahme: Der Interventionismus expliziert definitorisch unseren Ursachenbegriff. Adäquatheitsbedingung: Wenn der Interventionismus unseren Ursachenbegriff definitorisch expliziert, dann sind für alle unproblematischen Kausalaussagen des Explikationsmaßstabes die in der Definition genannten notwendigen und hinreichenden Bedingungen erfüllt (d.h. die Aussagen sind Teil der Extension des interventionistischen Ursachenbegriffs und damit in der Explikatsprache aussagbar). erfüllte hinr. Bed. (Abhängig von (P1 ):) Alle Aussagen des Explikationsmaßstabes werden mit dem interventionistischen Ursachenbegriff in der Explikatsprache aussagbar.
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(P3 )
(K2 )
Es gibt Aussagen über nicht manipulierbare Kausalverhältnisse, die unproblematisch sind, daher in den Explikationsmaßstab gehören und nicht in der Explikatsprache ausgesagt werden können. Annahmebeseitigung Der Interventionismus expliziert nicht definitorisch unseren Ursachenbegriff.
Prämisse (P3 ) kann durch Beispiele belegt werden, für die gelten muss, dass sie (a) unproblematische Redeweisen der Umgangsoder einer Fachsprache sind, die in den Explikationsmaßstab aufgenommen werden sollen, und dass (b) für die Beispiele die definitorischen Einführungsbedingungen des interventionistischen Begriffs nicht erfüllt sind. Mit dem Einwand wird also behauptet, dass Explikans und Explikandum in unzulässiger Weise nicht übereinstimmen. Dabei zeigt die Argumentation für und über den »Maßstab« der Explikation, dass der Einwand im Sinne Siegwarts einer »internen maßstäblichen Kontroverse« – im Gegensatz zu einer »externen« – zuzuordnen ist: Maßstäbliche Kritiken/Kontroversen beziehen sich auf den erstellten Maßstab. Dabei sind zwei Varianten zu unterscheiden. Zum einen kann die Debatte der Frage gelten, ob mit der Explikation die maßstäblichen Aussagen tatsächlich Theoreme werden: interne maßstäbliche Kritik/Kontroverse. Das ist vor allem dann der Fall, wenn der Maßstab bezüglich der Beweisleistung aufwendige Elemente enthält oder das begriffliche Netz für Experten prima facie unüberschaubar ist. [D]ie früher erwähnten Debatten um »Erklärung« und »empirische Signifikanz«, aber auch die ›gettieristischen‹ Dispute um »Wissen« exemplifizieren ganz oder in weiten Teilen [diese] Sorte maßstäblicher Kritik/Kontroverse.56
Von Wrights Definition sollte gerade Aussagen über nicht manipulierbare Verhältnisse einschließen. Die Definition und zudem die von Interventionisten selbst verwendeten Beispiele belegen daher, dass nicht die Option einer externen Kontroverse darüber 56
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Siegwart: Vorfragen zur Wahrheit, S. 265.
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gewählt wird, welche Aussagen überhaupt expliziert werden sollen (das heißt, mit Siegwarts Worten, zum Explikationsmaßstab zu zählen sind). Stattdessen wird eine interne Kontroverse geführt. Es besteht gerade kein Dissens über den Gegenstand Explikation. Aussagen über nicht manipulierbare Verhältnisse werden dem Explikationsmaßstab zugehörig angesehen. Als problematische Elemente wurden angeführt: Beispiel I.7: Meeresspiegel »For example, one may say that the rise in mean sea-level at a certain geological epoch was due to the melting of the Polar icecap.«57 Beispiel I.8: Vesuv »Der Ausbruch des Vesuv war die Ursache der Zerstörung Pompejis.«58
Beispiel I.9: Längenkontraktion »[T]ravelling at the speed of light causes rigid rods to behave in peculiar manners.«59 . Beispiel I.10: Erdbeben von San Francisco »[The] 1989 San Francisco earthquake was caused by friction between continental plates.«60
Beispiel I.11: Uranzerfall »Uranium decays ‘only spontaniously’ in the sense that there is no deterministic, physically possible way to manipulate uranium such that it surely decays at a time t. Nonetheless, the decay of Uranium causes a flash on a screen (as a measurement in an experimental setup).«61
Beispiel I.12: Ursache der Gezeiten Eine Veränderung der Position des Mondes verursacht eine Veränderung der Gezeitenbewegung.62 Beispiel I.13: Big Bang Der Big Bang ist Ursache aller folgenden Ereignisse (und hat selbst keine Ursache).63
57
Douglas Gasking: Causation And Recipes, in: Mind 64 (1955), S. 479–487, hier S. 483. 58 Von Wright: Erklären und Verstehen, S. 72. 59 Rosenberg: Causation and Recipes, p. 381 60 Menzies/Price: Causation as a secondary quality, S. 195. Siehe auch Dullstein: Zur Rolle von Handlungen bei der Analyse des Kausalbegriffs, S. 89. 61 Alexander Reutlinger: A Theory of Causation in the Social and Biological Sciences, London: Palgrave Macmillan, 2013, S. 108. Ähnlich Dullstein: Zur Rolle von Handlungen bei der Analyse des Kausalbegriffs, S. 98. 62 Siehe Woodward: Making Things Happen, S. 129. 63 So z.B. Alexander Reutlinger: Getting Rid of Interventions, in: Studies in History and Philosophy of Biology 43 (2012), URL: http://philsci- archive.pitt. edu/9000/, S. 791.
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Die letzten 3 Beispiele werden von Kritikern aufgeführt, um – in einem Schritt des wohlwollenden Entgegenkommens – zu zeigen, dass Rede von Kausalität sogar dort plausibel ist, wo eine Intervention »physikalisch unmöglich« ist. Die Auffassung Woodwards, der auf der Suche nach der Bedeutung von »möglichen Interventionen« auf den Vorschlag kam, diese als »physikalisch mögliche« zu verstehen und damit den Diskussionshintergrund dieser Beispiele bildet, steht hier nicht zur Debatte. Die Beispiele gegen ihn dürften allerdings gleichfalls Beispiele gegen den (handlungstheoretischen) Interventionismus und hier daher zurecht aufgenommen sein. Woodward weist in diesem Zusammenhang (meines Wissens als einziger) darauf hin, dass generell ebenfalls singuläre Kausalaussagen, wie z. B. Beispiel I.8 von Wrights über den Untergang Pompejis, technisch nicht verfügbare Gegenstände betreffen – schlicht, weil sie meist Aussagen über vergangene Einzelereignisse sind.64 Interventionisten und Kritikern kann der gleiche Explikationsmaßstab unterstellt werden. Es bleibt also die Frage nach der internen Bewertung des Einwandes. Derzeitig scheint Gemeinplatz zu sein, dass der Einwand stark und die Antwort der Interventionisten unbefriedigend ist – wenn auch nicht ganz klar zu sein scheint, inwiefern. Auch hier ist die Deutung im Rahmen der Explikationsmethodologie hilfreich. Bei der Einschätzung der Bedeutung nicht manipulierbarer Verhältnisse für den Interventionismus geht es weniger um die Überzeugungskraft des eben angeführten Argumentes als um die genauere Fassung der Einführung. Die Interventionisten »antworten« nämlich in ihrem Umgang mit den Sätzen des Explikationsmaßstabes einheitlich mit einem »Verweis« auf manipulierbare Verhältnisse.65 . Diese Stra64 Woodward: Making Things Happen, S. 46. Keil sieht ebenfalls Probleme des Interventionismus mit singulären Kausalaussagen, allerdings nicht explizit deshalb, weil deren genannte Ereignisse vergangen und damit »außer Kontrolle« geraten sind, sondern weil eine Explikation des Ursachenbegriffs Wahrheitsbedingungen singulärer Kausalaussagen anzugeben habe (Keil: Handeln und Verursachen, S. 398 f., ders.: Making Something Happen, S. 16 f.). Keil argumentiert ontologisch für ein Primat singulärer gegenüber generischen Kausalverhältnissen. Siehe z.B. ders.: Handeln und Verursachen. 65 Zum Beispiel Beispiel I.10 von Dullstein siehe Menzies/Price: Causation as a secondary quality, S. 189.
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tegie ist hinsichtlich der Explikationsfrage bisher methodisch unklar geblieben. Gasking antwortet auf Beispiel I.7 wie folgt: Beispiel I.14: Wasserschmelzen Wir können den Wasserstand in einem Gefäß erhöhen, indem wir darin Eis schmelzen lassen.66 Von Wright antwortet auf Beispiel I.8 (der Untergang Pompejis) mit Teilereignissen der Geschehnisse, die uns dem Typ nach technisch verfügbar seien. All dies sind kausale Verknüpfungen, mit denen wir aufgrund unserer Erfahrungen vertraut sind und die so sind, daß der Ursache-Faktor typischerweise die Bedingungen der Manipulierbarkeit erfüllt.67
Gegen von Wright kann in Folge der, meines Erachtens einschlägige, Einwand erhoben werden, dass er nicht hinreichend klar macht, inwiefern die »konjunktivische« Definition seine Strategie im Umgang mit den Beispielen abbildet – er müsste deutlich machen, inwiefern die folgenden Sätze zum Beispiel I.8 belegen, dass es möglich wäre, Pompejis Untergang herbeizuführen, wenn man den Vesuv ausbrechen lassen könnte: Beispiel I.15: Steinwurf Wir können Dinge zerstören, indem wir Steine auf sie fallen lassen bzw. sie schützen, indem wir den Einschlag eines Steines verhindern. Beispiel I.16: Hauszerstörung Wir können Häuser zum Einsturz bringen, indem wir die Last auf ihre Dächer erhöhen.
Beispiel I.17: Verbrennen Wir können Lebewesen töten, indem wir sie verbrennen, bzw. sie vor dem Tod retten, indem wir das Feuer löschen. Es dürfte weiterhin das Problem bestehen, dass wir die Zerstörung eben nicht so wie der Vesuv herbeiführen können – und sei es auch nur in quantitativer Hinsicht.68 66
»But when one can properly say this sort of thing it is always the case that people can produce events of the first sort as a means to producing events of the second sort. For example, one can melt ice in order to raise the level of water in a certain area« (Gasking: Causation And Recipes,
S. 483). Diese Behauptung stimmt natürlich nur, wenn das Eis nicht schwimmt. 67 Von Wright: Erklären und Verstehen, S. 72. 68 Siehe Keil: Handeln und Verursachen, S. 398.
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Menzies/Price antworten auf Beispiel I.10 Beispiel I.18: Experimentelle Tektonik Seismologen können experimentell durch Modellierung von Kontinentalplattenbewegungen Erschütterungen erzeugen.69
Price spricht einerseits von faktischen Schlüssen von manipulierbaren auf nicht manipulierbare Verhältnisse (in der Sonne, in entfernten Galaxien und der Vergangenheit) und Schlussregeln (»inference licences«), die einen Übergang von einem auf den anderen Bereich erlaubten: [We] happily extend our causal notions into many regions in which we can be sure that we will never intervene[.] There are two possibilies at this point. One is that we rely on similarities in noncausal respects to ground the inference. [. . . ] The second option is that there are inference principles of some kind – perhaps grounded in physical symmetries and/or whatever else might be held to underpin the normal inductive procedures of science – that are taken to licence the inference directly.70
Gemeinsam ist diesen Antworten, dass die Interventionisten dadurch bei nicht manipulierbar Kausalverhältnissen dennoch eine manipulative Bedingung erfüllt sehen: In its weakened form, the agency account states that a pair of events are causally related just in case the situation involving them possesses intrinsic features that either support a means-end relation between the events as is, or are identical with (or closely similar to) those of another situation involving an analogous pair of means-end related events.71
Die Auffassung von Gasking, von Wright und Menzies/Price ist daraufhin im Sinne des folgenden explikativen, definitorischen 69 Siehe Menzies/Price: Causation as a secondary quality, S. 197 f., wo diese These durch analoge Antworten auf die Frage nach den Farben der Photosphäre der Sonne sowie von Rhodopsin und Fluorescein plausibilisiert wird. 70 Price: Causation, Intervention and Agency, S. 19. Siehe auch die Darstellung bei Buzzoni: The Agency Theory of Causality, Anthropomorphism, and Simultaneity, S. 378. 71 Menzies/Price: Causation as a secondary quality, S. 197, Hervorhebung von mir, A.K.
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Genau-dann-wenn-Satzes verstanden worden: x verursacht y genau dann, wenn wir in der Lage sind, ein zu y ähnliches Ereignis (also eines des gleichen Typs) mittels eines zu x ähnlichen Ereignisses (also eines des gleichen Typs) herbeizuführen.72 Zumindest ein Vorschlag zur Verbesserung der Überlegungen von Wrights in diesem Sinne, der seine konjunktivische Formulierung und echte Manipulation zusammen bringt, wäre die These: Die tatsächliche, erfolgreiche Manipulierung der Typen von an Einzelgeschehnissen beteiligten Teilereignissen belegt, dass es möglich gewesen wäre, die Wirkung herbeizuführen, wenn man die Ursache hätte herstellen können bzw. allgemein: Erfolgreiches Manipulieren von Verhältnissen eines bestimmten Typs belegt Manipulierbarkeit von Verhältnissen des gleichen Typs.
2.3.1 Der Modelleinwand Bezüglich dieser wiederum definitorischen Einführung wird der Modelleinwand gegen den Interventionismus erhoben. Mit ihm wird die Rede von Modellen und Ähnlichkeiten von Ereignissen in explikativen Einführungen für zirkulär erklärt. Der Kritiker fragt im Anschluss an die erneute Definition der Kausalbeziehung nach der Einführung von »ähnlichem Ereignis« bzw. »Ereignistyp« und sieht die Antwort in einer »kausalen Theorie der Ereignistypen«: A und B sind gleichen Typs genau dann, wenn sie gleiche kausale Eigenschaften haben. Die erste Formulierung stammt von Rosenberg, der das Problem an einem Beispiel formuliert: Ein Billiardball bewegt sich (A), stößt einen anderen an. Der Stoß verursacht (B) die Bewegungsänderung eines anderen Billiardballes. Und: Ein Meteorit schlägt auf einen Planeten ein (C) und verursacht die Bewegungsänderung desselben (D). Er fragt nun: Why should we say that the movements of A and C are similar in such a way that we can talk of the movement of C causing the subsequent movement upon impact of D, simply because we can produce an event of the same 72
»We could come rather closer to the meaning of ‘A causes B’ if we said: ‘Events of the B sort can be produced by means of producing events of the A sort’« (Gasking: Causation And
Recipes, S. 483).
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sort as the movement of D, viz. the movement of B upon impact, by producing an event of the same sort as the movement of C, viz. the movement of A? Surely their similarity is not one of colour or volume, of the objects. Rather, the relevant similarity which permits us to class these events as the same sort, are the causal relationships they share[.]73
Auch zur Aussage über den Anstieg des Meeresspiegels (Beispiel I.7) schreibt er: Consider Gasking’s own case: what are the relevant similarities between the events at the polar ice-cap and at the bucket of water, which makes them of the same ‘sort’? I suggest they are causal.74
Dullstein formuliert den gleichen Einwand an Beispiel I.10 – der Kausalaussage über das Erdbeben in San Francisco, falls denn auch für dieses Beispiele auf modellbildende experimentelle Verhältnisse verwiesen würde: Die spezifische Erdplattenreibung und das spezifische Erdbeben halten wir gerade deshalb für kausal verbunden, weil es einen Zusammenhang zwischen Erdplattenreibung und Erdbeben als Ereignistypen gibt. Dies ist nicht unumstritten, zumal sich für alle Ansätze dieser Art die Frage stellt, wie sich Ereignistypen konstituieren, d.h. anhand welcher Kriterien Ereignisse als ähnlich klassifiziert und zu einem Ereignistyp zusammengefasst werden. Die naheliegende Antwort, dass Ereignisse aufgrund ihrer kausalen Rolle als ähnlich klassifiziert werden, ist dabei nicht möglich ohne die entsprechenden Ansätze dem Vorwurf der Zirkularität auszusetzen.75
Für den weiteren Verlauf dieser Arbeit ist dabei zu beachten, dass auch den Beispieldiskussionen der Kritiker durchaus Überzeugungen über die Begründung der jeweiligen Kausalaussagen und 73
Rosenberg: Causation and Recipes, S. 382. Ebd. 75 Dullstein: Zur Rolle von Handlungen bei der Analyse des Kausalbegriffs, S. 90. Woodward schrieb bereits zum gleichen Beispiel in diesem Sinne: »I see no reason 74
to believe (and Menzies and Price provide no argument) that this notion of resemblance can be characterized in noncausal terms.« (Woodward: Making Things Happen, S. 125)
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typische Begründungsprobleme zu Grunde liegen. Bezüglich des Explikationsthemas ist der Einwand im Rahmen der vorgestellten Methodologie hingegen als Verstoß gegen die Gelingensbedingung für Definitionen zu lesen, nur in der Explikatsprache bereits verfügbare Ausdrücke im Definiens zu verwenden. Modelleinwand (P1 )
(P2 )
(K1 ) (P3 )
(K2 )
Def.1 : Zwei Ereignisse sind sich ähnlich/gehören zum gleichen Typ, genau dann, wenn sie die gleichen kausalen Eigenschaften haben. Wenn Def.1 , dann ist der Ursachenbegriff Teil der interventionistischen Definition des Ursachenbegriffs. erfüllte hinr. Bed. Der Ursachenbegriff ist Teil der interventionistischen Definition des Ursachenbegriffs. Adäquatheitsbedingung »Nichtzirkularität«: Ist ein zu explizierender Begriff Teil einer Definition, dann kann diese nicht zur Explikation des Begriff verwendet werden. erfüllte hinr. Bed. Die interventionistische Ursachendefinition kann nicht zur Explikation des gewöhnlichen Ursachenbegriffs verwendet werden, d.h. der Interventionismus expliziert nicht den Ursachenbegriff (und ist in dieser Hinsicht falsch).
Dabei bleibt unklar, ob es hier darum geht, dass zwei Ereignisse A und B des gleichen Typs sind oder dass zwei Ereignispaare {A, B} und {C, D} eine Ereignisfolge des gleichen Typs bilden, also die gleiche Relation instantiieren. Zu (P1 ) ist zu fragen, wo jemals eine solche Theorie durchgeführt worden wäre. Ist sie tatsächlich plausibel und alternativlos? Steckt hinter der Definition in der ersten Prämisse also mehr als eine Intuition? Zuletzt ist angesichts der Definition zu fragen, ob und wie in der Explikatsprache der verwendete Ursachenbegriff eingeführt ist. Hier muss wie beim Zirkeleinwand oben76 gefragt werden, wie es sein kann, dass gerade in Arbeiten, die Probleme der Explikation des Ursa76
Siehe Seite 41 ff.
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chenbegriffs diskutieren, ohne weiteres der Ursachenbegriff als unproblematisch verwendet wird. Wie beim Zirkeleinwand sollte beim Ausbleiben eines eigenen Explikationsvorschlags für den Ursachenbegriff der Vorwurf an den Interventionismus mindestens so abgeschwächt werden, dass nur behauptet wird, dass eine Einführung definierender Ausdrücke nötig, aber (noch) nicht vorgenommen sei. Die Beispielkommentare der Interventionisten müssen allerdings nicht direkt als Teil einer neuen Definition gelesen werden – auf die sich dann der Modelleinwand mit der eben beschriebenen eingeschränkten Berechtigung bezieht. Sie können auch im Sinne einer These über Kausalaussagen aufgenommen werden, dass diese Ergebnisse manipulativ gestützter Folgerungen sind.77 In ihrer Antwort auf den Extrapolationseinwand vertreten Gasking, von Wright und Menzies und Price offenbar die These, dass de facto im Fall anerkannter kausaler Verhältnisse, wenn schon nicht die direkte Manipulierbarkeit der beteiligten Ereignisse, dann doch wenigstens die Manipulierbarkeit solcher Ereignisse gegeben sei, die wir als typgleich ansehen. Damit sei dann auch de facto eine notwendige Bedingung technischer Kontrolle erfüllt. Die Bedingung manipulativer Kontrolle sei also für Kausalaussagen direkt erfüllt oder die Kausalaussage sei zumindest Konklusion eines modellgestützten Schlusses auf die Kausalaussage. Auch moderne Sympathisanten des Interventionismus äußern sich in diese Richtung: Apart from teleology, apart from the intentional and conscious planning of an experimental set-up and apart from the human actions which freely start or ‘set in motion’ the experimental machine, it would be impossible to identify causal relations in nature. In a word, there is no scientific knowledge without experimenting and there is no experimenting without our free agency, that is without the free interaction between our body and the surrounding empirical reality according to some cognitive purposes. [. . . ] It is only by reference to the implicit teleology of experimental
77
Diese Interpretation habe ich in Alexander Kremling: Handlungstheoretischer Interventionismus und Modelle, in: Kriterion – Journal of Philosophy 28.1 (2014), S. 98–115, URL: http://www.kriterion.at/articles.php zu entwickeln versucht.
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2.3 Der Einwand nicht manipulierbarer Kausalverhältnisse
‘machines’ or ‘mechanisms’ that we are able to give reliable causal explanations.78
Die gemeinsame Behauptung der Interventionisten wäre nach dieser Lesart, dass in einer Vielzahl von Fällen Kausalaussagen de facto Konklusionen praktisch gestützter inferentieller Verfahren sind und insofern ein Explikationsanspruch erhoben werden kann, der nicht direkt manipulierbare Verhältnisse in den Explikationsmaßstab einschließt. Im Interventionismus scheinen damit Kausalaussagen der Empirik der Explikatsprache79 zugeordnet zu sein. Die entscheidende Frage neben der Beurteilung der gewissermaßen empirischen These über tatsächliche Begründungen von Kausalaussagen ist nur: Kann diese Zuordnung tatsächlich das explikative Problem nicht-manipulierbarer Kausalverhältnisse lösen?
2.3.2 Einwände gegen eine operationale Einführung Könnte kausale Rede interventionistisch dem empirischen Teil der Explikatsprache zugeordnet und die Begriffseinführung operational vorgenommen werden? So ließe sich die erste Prämisse des ursprünglichen Einwandes nicht manipulierbarer Kausalverhältnisse umgehen, dass der Interventionismus überhaupt auf definitorischem Wege expliziere.80 Zugegebenermaßen wäre so zumindest in den Ansatz von Wrights stark eingegriffen. Dieser schlug schließlich eindeutig eine Definition vor. Man beachte jedoch andere Formulierungen, in denen er zunächst nur hinreichende Bedingungen für Kausalverhältnisse nennt, wie: »When by doing p we bring about q, it is the happening of p which causes q to come.«81 78 Marco Buzzoni: Teleology and Mechanism in Biology, in: Marta Bertolaso (Hrsg.): The Future of Scientific Practise: bio-techno-logos, Pickering & Chatto, 2015, S. 147–159, hier S. 153. 79 Siehe dazu die Darstellung der Beispielsprache D bei Siegwart: Vorfragen zur Wahrheit, S. 69 ff. 80 Zu operationalen Einführungen siehe ebd., S. 229. 81 Georg Henrik von Wright: Causality and Determinism, New York/London: Columbia University Press, 1974, S. 49. Vergleiche auch die Passage, die den Interventionsgedanken einführte: Der Eingriff in das System ermögliche einen
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Das Einführungsverfahren könnte auf diese Weise nicht als »strukturell-analytisch« wie das Definieren oder axiomatische Setzen, sondern als »operational-synthetisch«82 interpretiert werden. Das Schema dieses Verfahrenstyps umreißt Siegwart wie folgt: Musterbeispiele [. . . ] sind die Operationalisierungs- bzw. Konstatierungsregeln, die ungefähr folgendes Schema instanziieren: Wenn man beim Vollzug der Zubringeroperation Z bezüglich der Gegenstände k,. . . ,n zu den und den Ergebnissen gelangt, dann darf man eine Aussage der Art ›F(k, . . . ,n)‹ konstatieren. Beispiele wären eine Regel, die den genetischen Test für die Zuschreibung des Vaterprädikats beschreibt, oder eine Regel, die die Zuschreibung des Prädikats ›. . . ist so schwer wie. . . ‹ an das Hantieren mit einer entsprechend geeichten Balkenwaage bindet.83
Wenn es tatsächlich zulässige Verwendungen »nicht-diskursiver Zubringervollzüge«84 in Begriffseinführungen gibt (etwa der Vollzug der Wiegehandlungen), dann liegt es interventionistisch nahe, die Einführung des Ursachenbegriffs in Analogie als Angabe eines »Konstatierungsschemas« zu versuchen: Wird Y als Folge einer Handlung H mit dem Ergebnis X etabliert, dann darf ›X verursacht Y‹ ausgesagt werden. Dem entspricht die operationalisierte Übersetzung der Definition von Wrights durch Lange. Man beachte dabei das Ersetzen von »könnte« durch »kann« und »genau dann, wenn« durch »wenn«. Die Rede im Konjunktiv wird zu Gunsten der Rede vom tatsächlichen Vollzug aufgegeben: [Dem Konzept der interventionistischen Kausalität] zufolge gilt von zwei Ereignissen E1 , E2 : E1 ist Ursache von E2 und E2 ist Wirkung von E1 , wenn wir durch Ausführen einer Handlung, deren Ergebnis das Eintreten von E1 ist, E2 herbeiführen und durch Ausführen einer Handlung, de»sehr starken logischen Schluss« (von Wright: Erklären und Verstehen, S. 65). Siehe
dazu oben Seite 28. 82 Siegwart: Johann Heinrich Lambert und die präexplikativen Methoden, S. 101. 83 Ebd. Siehe ders.: Vorfragen zur Wahrheit, S. 248. Oben (siehe Seite 55) war bereits das Beispiel »x ist schwerer als y« angeführt worden. 84 Ders.: Explikation, S. 21.
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ren Ergebnis die Verhinderung von E1 ist, E2 beseitigen bzw. am Zustandekommen hindern können.85
Das Operationalisierungsverfahren erlaubt eine Verbindung der inferentiellen Beziehung im Sinne einer bloß hinreichenden Bedingung mit der begrifflichen Frage nach der Explikation des Ursachenbegriffs. Entscheidend ist die Tatsache, dass eine operationale Einführung als »Wenn-dann-Satz« verfasst wird und damit Sätze mit dem Explikandumbegriff in der Explikatsprache aussagbar werden, während, auf Grund der fehlenden notwendigen Bedingung, andere Verwendungsregeln noch nicht ausgeschlossen sind. Zur Erfüllung des Explikationsmaßstabes müsste die Einführung nun ergänzt werden durch eine Erweiterung der Redemöglichkeiten (oder eine »Verarbeitung« in der Sprache) und damit hier auch der Begründungsmöglichkeiten für Kausalaussagen in der Explikatsprache. Interventionistisch bleiben die Begründungen nur, wenn sie Folgerungen aus nach Handlungsvollzug konstatierten Aussagen sind. Das Problem nicht manipulativer Kausalaussagen ist damit strukturgleich zu dem eines operational eingeführten Prädikats ». . . ist schwerer als . . . «. Wir sind ja schließlich auch überzeugt, dass die Sonne ca. 2 12 × 107 kg schwerer als der Mond ist, können sie aber nicht auf eine Waage legen. Vielleicht kann man dies (bezüglich der Woodwardstrategie) auch als »physikalisch unmöglich« bezeichnen. Was soll es (bezüglich der von WrightStrategie) heißen, dass eine funktionierende Waage zur Sonnenseite hin ausschlagen würde, insofern man den Mond auf die andere Seite legen würde oder wie sollte man (bezüglich der Gaskingstrategie) von »Ähnlichem« her »schließen« (Price)? Hier besteht nun genügend Anlass, das Verhältnis praktischen Wissens zu Kausalaussagen zu untersuchen – und genau das soll auch im zweiten Teil dieser Arbeit geschehen. Analog 85
Rainer Lange: Vom Können zum Erkennen. Die Rolle des Experimentierens in den Wissenschaften, in: Dirk Hartmann/Peter Janich (Hrsg.): Methodischer Kulturalismus. Zwischen Naturalismus und Postmoderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996, S. 157–196, hier S. 163 f. Siehe auch ders.: Experimentalwissenschaft Biologie. Methodische Grundlagen und Probleme einer technischen Wissenschaft des Lebendigen, Würzburg: Königshausen und Neumann, 1999, S. 120.
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könnte man die Rechtfertigung von kosmologischen Masseangaben im Verhältnis zu operationalen Einführungen des Massebegriffs, also z.B. zu Wägehandlungen untersuchen. Hier ist aber zu diskutieren, wie es um das »Explikationsprojekt Interventionismus« steht, wenn man Fragen der Rechtfertigung von Kausalaussagen in die Einführungsprozedur einbezieht.86 Zudem muss weiterhin berücksichtigt werden, dass der Explikationsmaßstab des Interventionismus nicht ausschließlich aus solchen Kausalaussagen besteht, die direkte experimentelle Ergebnisse sind. In der Literatur hat es sich diesbezüglich eingebürgert, den Interventionismus mit einer Art diplomatischer Geste aus dem Gebäude der Kausalitätstheorie zu verweisen und ihm ein kleines Häuschen auf der anderen Straßenseite zuzuteilen, in das er gehöre und das er sich mit anderen (z.B. Probabilisten) teilen dürfe. So formuliert Heidelberger: Der Interventionismus gibt keine Antwort auf die Frage, was Kausalität ist, sondern auf die Frage, wie ich am besten eine kausale von einer akzidentellen Regelmäßigkeit unterscheide.87
Keil meint entsprechend, dass am Interventionismus »lediglich« richtig sei, dass zur Prüfung von Kausalaussagen gehandelt wird und unsere Fähigkeit zu kontrafaktischem Denken aus unserer Handlungsperspektive »stammt«.88 Falkenburg schließlich stellt fest, der Interventionismus sei »verquer« und nur als ein pragmatischer Ansatz dafür zu verstehen, wie die Naturwissenschaftler ihre experimentellen Hypothesen gezielt durch Manipulation überprüfen. Doch als eigener philosophischer Ansatz behauptet die interventionistische Theorie der Kausalität mehr – nämlich, dass sich die Kausalität, 86
Das analoge Verhältnis von Protophysik und Explikation (z.B. des Massebegriffs) klammere ich hier ganz aus. Je nach operationaler Einführung des Massebegriffs kommt etwa das Wiegen im Moment der für die Begründung der Massen entscheidenden Bestimmung der Gravitationskonstante ins Spiel. Der Konstruktivismus bietet gleich vier konkurrierende operationale Massedefinitionen (siehe Peter Janich: Die Eindeutigkeit der Massenmessung und die Definition der Trägheit, in: Philosophia Naturalis 22 (1985), S. 87–103). 87 Heidelberger: Ist der Kausalbegriff abhängig vom Handungsbegriff?, S. 6. 88 Siehe Keil: Making Something Happen, S. 28.
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2.3 Der Einwand nicht manipulierbarer Kausalverhältnisse
die sich in naturwissenschaftlichen Experimenten zeigt, komplett auf die Intervention der Experimentatoren reduziere.89
Das Argument soll hier explizit als explikationstheoretisches vorgestellt werden. Es handelt sich um einen methodologischen Einwand, der bestreitet, dass der Interventionismus überhaupt den Ursachenbegriff expliziert – und zwar nicht in dem Sinne, dass er keine Explikation beanspruche, sondern, dass er diese wegen eines unzulässigen Einführungsverfahrens nicht leisten könne. Der Anspruch, eine Explikation zu leisten, kann schließlich gut belegt werden: Die Interventionisten versuchen explizit, kausalitätstheoretische Fragen zu beantworten und grenzen sich von anderen Kausalitätstheorien ab. Explizit weist von Wright eine bloß »epistemische« Deutung zurück.90 Der Einwand könnte zunächst die Zulässigkeit operationaler Verfahren überhaupt bestreiten (und damit in Opposition zu Siegwarts Überzeugung treten, dass »alle Einführungsprozeduren [. . . ] dafür in Frage«91 kommen). Mit dieser Argumentation wäre dem beobachtbaren, generellen »Definitionshang« bei Explikationen Rechnung getragen: Methodologischer Einwand (P1 ) (P2 )
(K1 )
Der Interventionismus führt den Ursachenbegriff (teilweise) operational ein. Gelingensbedingung für Explikationen: Operationale Einführungen sind in Explikationen nicht zulässig. Wird operational eingeführt, dann ist der Explikationsvorschlag unzulässig ausgeführt. erfüllte hinr. Bed. Der Interventionismus ist unzulässig ausgeführt.
Zur Beurteilung des methodologischen Einwandes sind es im Rahmen einer Explikationsdebatte Überlegungen zum Verhält89
Brigitte Falkenburg: Mythos Determinismus, Berlin/Heidelberg: Springer, 2012, S. 274. 90 Siehe von Wright: Causality and Determinism, S. 50 mit dem Schlussatz: »The dependence of causation upon action is conceptual.« 91
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nis von Explikationsansprüchen und Begründungen von Aussagen nötig. Zur Stützung der zweiten Prämisse ließen sich Thesen anführen, dass eine Angabe von Schlussregeln nicht über die Bedeutung eines Begriffs aufklärt. Oftmals scheinen es ontologisierende oder »metaphysische« Hintergrundmethodologien zu sein, die (implizit) für Akzeptanz von Prämisse (P2 ) sorgen, so als müsste zwangsläufig eine Begriffsklärung menschenunabhängige Wahrheitsbedingungen, die »erkenntnisunabhängig existierenden Wahrmacher« in der Welt, benennen. Zunächst scheint es jedoch unproblematisch zu sein, hinreichende Bedingungen und selbst Teile von ihnen als Regeln des Gebrauchs eines Begriffs zu akzeptieren und ihnen somit zumindest eine partielle Bedeutungsfestlegung für Begriffe zuzugestehen: Wer eine experimentelle Wissenschaft betreibt, mit den Begriffen nicht vertraut ist und nun eine praktische, inferentielle Lizenz genannt bekommt, der kennt ab diesem Moment durch eine Schlussregel eine Möglichkeit zur korrekten Verwendung des Begriffs. Begründungsformen dürften für Explikationen also zumindest relevant sein. Andererseits ist es möglich, mit den Beispielen nicht manipulierbarer Verhältnisse aus dem Explikationsmaßstab dafür zu argumentieren, dass gerade eine operationale Einführung für eine umfassende Explikation des Ursachenbegriffs untauglich ist. Im Gegensatz zum vorherigen muss in diesem Argument allerdings angenommen werden, dass die Einführung ausschließlich operational ist. Eben dies, das zeigten die Erwiderungen der Interventionisten auf vorgebrachte Beispiele, kann aber nicht der Fall sein. Welche Möglichkeiten gibt es, explikationsmethodologisch sowohl operational einzuführen als auch darüber hinaus weitere Ausdrucksverwendungen zu ermöglichen? Siegwart beschreibt (knapp) die Möglichkeit gemischtsprachlicher Verfahren für Prädikatoren, die konstatiert werden. Als Beispiel dient ihm die Erweiterung des Prädikates ». . . ist Parallele von. . . «, dessen operationale Einführung um ein Axiom ergänzt wird, das zumindest die (durch Ausführung einer Parallelverschiebung nicht einlösbare) Reflexivität des Prädikates sichert.92 So ist immerhin der explikationstheoretische Ort eines »principle of analogical rea92
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soning«93 und das explikationsmethodologische Desiderat des Interventionismus angegeben: Wie eine (gar axiomatische) Ergänzung einer operationalen Einführung im Sinne des Interventionismus aussehen könnte, ist ungeklärt. Wieder kann gegen dieses Verfahren allgemein methodologisch argumentiert werden (nämlich mit der These: »Gemischtsprachliche Einführungsverfahren in Explikationen sind unzulässig«) oder aber es kann alternativ gegen den Interventionismus argumentiert werden, indem ganz zu Recht dessen fehlende Ausarbeitung festgestellt und er deshalb als Explikationsvorschlag zurückgewiesen wird. Einwand der nicht manipulierbaren Verhältnisse2 (P1 )
(P2 )
(K1 )
Im Interventionismus wird (bisher) keine das operationale Verfahren ergänzende Prozedur angegeben, die es erlaubt, den Explikationsmaßstab vollständig zu erfüllen. Gelingensbedingung für Explikationen: Wenn in einem Explikationsvorschlag keine dem Explikationsmaßstab angemessene Einführungsprozedur angegeben wird, dann ist dieser Vorschlag abzulehnen. erfüllte hinr. Bed. Der Interventionismus ist abzulehnen.
Genau dieses Argument scheint mir das korrekte Ergebnis der bisherigen Debatte um nicht manipulierbare Kausalverhältnisse im Interventionismus zu sein, wenn man sowohl die Beispiele, die Erwiderungen als auch die Einwände berücksichtigt, die sich aus dem Wechselspiel von Argumenten, Gegenargumenten und Thesenveränderungen ergeben. Es scheint mir bezüglich vorliegender interventionistischer Positionen durchaus entscheidbar, weil Prämisse (P1 ) wahr ist. Es ist damit angezeigt, wo, neben einer allgemeinen Verteidigung (auch) operationaler Einführungen in Explikationen, nachzubessern wäre: Der Interventionismus müsste zeigen, wie z.B. über axiomatische Setzung ein partiell operational eingeführter Ursachenbegriff so erweitert werden kann, dass nicht manipulierbare Kausalverhältnisse des Explika93
Menzies/Price: Causation as a secondary quality, S. 197.
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tionsmaßstabes ausgesagt werden können. Überlegungen dazu sind aber bei keinem der vorliegenden Ansätze in Sicht. Realistische Einwände gegen operationale Einführungen Zusätzlich zu dem vorherigen ist ein weiterer Einwand formuliert worden, der sich gegen antirealistische Konsequenzen einer operationalen Einführung richtet. Auch hier lassen sich aus den Beispielen, die angeführt werden, Ideen für das zweite Kapitel entnehmen. Ein typisches interventionistisches Vorgehen zur Rechtfertigung des eigenen Kausalitätsvorschlags besteht darin zu zeigen, dass asymmetrische Kausalaussagen über gleichzeitige Ereignisse, funktional in Bezug gesetzte Messgrößen (»Zustandsgesetze«) und alltägliche »Favorisierungen« von Ursachen gegenüber Randbedingungen in den Explikationsmaßstab aufgenommen werden können. Gegen Analysen dieser Art ist der Einwand erhoben worden, dass sich Kausalaussagen folglich abhängig von menschlichem Handlungsvermögen ändern würden. Ich werde dafür argumentieren, dass der Einwand fehlschlägt, wenn die interventionistische Explikationsidee im Rahmen einer operationalen Einführung gedeutet wird und die gegebenen Beispiele so verstanden werden, dass sie belegen sollen, dass wir beim Aufstellen von Kausalaussagen einer operationalen Schlussregel folgen. Der Einwand ist hingegen für eine Reihe von Beispielen korrekt, wenn der Vorschlag zur Explikation so verstanden wird, dass er auch eine Regel dafür beinhaltet, wann kein Kausalverhältnis vorliegt. Typische Beispiele, mit denen Interventionisten in diesem Zusammenhang ihre Position stärken wollen, vergleichen zwei oder mehr Kausalaussagen mit gleichem Gegenstand. Beispiel I.19: Autounfall »For example, a car skids while cornering at a certain point, strikes the kerb, and turns turtle. From the car driver’s point of view the cause of the accident was cornering too fast and the lesson is that one must drive more carefully. From the county surveyor’s point of view the cause was a defect in the surface or camber of the road, and the lesson is that greater care must be taken to male roads skid-proof. From the motor manufacturer’s
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point of view the cause was defective design in the car, and the lesson is that one must place the center of gravity lower.«94
Beispiel I.20: Erhitzen und Glühen »We say that the high temperature causes the glowing, not vice-versa« bzw. unter dem fiktiven Umstand anderer Fähigkeiten: »Who can doubt that in this imaginary world we should have said that the glowing of the iron caused its temperature to rise, and not vice-versa?«95
Beispiel I.21: Streichholz »Das Anreißen eines Streichholzes verursacht sein Brennen« bzw. in einer anderen Situation: »Das Einströmen von Sauerstoff verursacht das Brennen des Streichholzes.«96
Beispiel I.22: Knopf-Mechanismus Das Drücken von Knopf A verursacht, dass sich Knopf B senkt (und nicht anders herum, auch wenn dies gleichzeitig geschieht).97 Beispiel I.23: Temperatur und Druck »Eine Veränderung der Temperatur eines Mediums verursacht eine Veränderung des Drucks«, bzw. in einer anderen Situation: »Eine Veränderung des Drucks verursacht eine Veränderung der Temperatur.«98
In jedem Fall soll gelten, dass die klare Intuition über die Kausalaussage auf der Situation der Handelnden beruhe und – abgesehen vom letzten Beispiel –, dass sich die Aussage, die wir treffen würden, ändert, wenn sich ihre Handlungssituation ändert.99 94 Robin G. Collingwood: An Essay on Metaphysics, Oxford: Clarendon Press, 1940, S. 304. »The principle may be stated by saying that for any given person the cause. . . , of a given thing is that one of its conditions which he is able to produce or prevent« (ebd.). 95 Gasking: Causation And Recipes, S. 480 f. 96 Siehe die Kritik an Gasking bei Rosenberg: Causation and Recipes, S. 384. 97 Siehe von Wright: Erklären und Verstehen, S. 76 f. 98 Analoge Beispiele lassen sich für jeden Zusammenhang von Temperatur, Druck und Volumen entwerfen, sowie für das Ohm’sche Gesetz. Arthur Pap: Analytische Erkenntnistheorie, Wien: Springer, 1955, S. 127 argumentiert mit dem Beispiel dafür, dass der Ursachenbegriff »anthropomorph« sei und zugunsten des Funktionsbegriffs aufgegeben werden sollte. Hans-Julius Schneider: Die Asymmetrie der Kausalrelation. Überlegungen zur interventionistischen Theorie G.H. von Wrights, in: Jürgen Mittelstraß/Manfred Riedel (Hrsg.): Vernünftiges Denken. Studien zur praktischen Philosophie und Wissenschaftstheorie, Berlin, New York: De Gruyter, 1987, S. 217–234, hier S. 232 hat korrekt bemerkt, dass dies allerdings nicht die Begründung Russells (Bertrand Russell: On the Notion of Cause, in: Proceedings of the Aristotelian Society 13 (1912), S. 1–26) ist. 99 Beim Beispiel der Veränderung der Länge eines Pendels als Ursache der Veränderung der Schwingungsfrequenz (siehe Schneider: Die Asymmetrie der Kausalrelation, S. 223 ff.) ist die zweite Bedingung nicht erfüllt.
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Nur ausgehend von einer bestimmten Lesart des Interventionismus kann der anschließende Einwand erhoben werden – nämlich nur dann, wenn angenommen wird, dass die interventionistische Einführung auch ein nicht-relatives Kriterium dafür bietet, wann kein Kausalverhältnis vorliegt. Das Argument ist nur gültig, wenn aus dem Misserfolg von Handlungen gefolgert werden darf, dass, z.B. generell das Anreißen nicht das Brennen von Streichhölzern verursacht. Nur dann folgen aus den jeweils verglichenen zwei Varianten der Beispiele kontradiktorische Aussagen. Misserfolg mit einer Handlung zu haben heißt dabei, dass trotz gelungenen Vollzuges der Handlung die Handlungsfolge ausbleibt. Im Falle der Wägehandlungen hieße gelungener Vollzug, dass die Waage funktioniert, für die Körper geeignet ist und die beiden Wägestücke platziert wurden. Können die Zubringerhandlungen der operationalen Einführung gar nicht vollzogen werden, kann der Begriff auch nicht vernünftigerweise prädiziert werden. Es kann also keine Rede davon sein, dass der Interventionismus (wegen der Verwendung eines operationalen Verfahrens) impliziere, dass erst mit der Existenz von Menschen Kausalbeziehungen entstünden. Genauso wenig folgt, dass die entsprechenden Aussagen je nach Entstehen oder Verschwinden von Fähigkeiten oder Menschen überhaupt mal wahr oder falsch würden, so wie es Keil unterstellt: »Wurden Brände erst zu dem Zeitpunkt Ursachen, zu dem die Frühmenschen Feuer machen konnten? Das erscheint absurd.«100 Woodward wendet analog gegen Menzies und Price ein: [It] is built into the notion of a relationship that will support manipulations in this way that (3.3.2) such a relationship would continue to hold even if we do not or cannot manipulate X, or if our beliefs and attitudes were different, or even if we did not exist at all. 101
Alles andere, so Woodward weiter, laufe auf eine bizarre, magische Auffassung hinaus, nach der Menschen mit quasi göttlicher Macht durch ihr bloßes Existieren Weltverhältnisse erzeugte. 100 101
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Keil: Handeln und Verursachen, S. 397. Woodward: Making Things Happen, S. 120.
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Über Situationen, in denen gar nicht gehandelt wurde, kann aber nicht sinnvoll gesagt werden, dass dort der Handlungserfolg ausblieb (und deshalb eine negierte Kausalaussage begründet wäre). Problematisch sind allein Fälle, in denen unter zwei verschiedenen Umständen nach erfolgreichem Handeln verschiedene, generelle Kausalaussagen akzeptiert werden müssten, von denen gilt, dass sie nicht zugleich wahr sein können. Realistischer Einwand (A1 ) (P1 )
(P2 )
(K1 )
(P3 )
(K2 )
Annahme: Die Explikation des Ursachenbegriffs wird mit einer operationalen Einführung vorgenommen. Wenn (A1 ) gilt, dann kann sich der Wahrheitswert von Kausalaussagen abhängig von Handlungssituationen oder verfügbaren kulturellen Techniken ändern. Handlungssituationen und Verfügbarkeit kultureller Techniken sind kontingente Eigenschaften der Welt. erfüllte hinr. Bed. [Abhängig von (A1 ):] Der Wahrheitswert von Kausalaussagen kann sich abhängig von kontingenten Eigenschaften der Welt ändern. Gelingensbedingung von Explikationen des Ursachenbegriffs: Wenn aus einer explikativen Einführung des Ursachenbegriffs folgt, dass sich der Wahrheitswert von Kausalaussagen abhängig von kontingenten Eigenschaften der Welt ändern kann, dann ist der Explikationsvorschlag inadäquat. Annahmebeseitigung Wird die Explikation des Ursachenbegriffs operational vorgenommen, dann ist der Explikationsvorschlag inadäquat.
Diskutiert werden müssen Prämisse (P1 ) daraufhin, ob sie durch die Beispiele belegt ist, und Prämisse (P3 ), die als begriffsspezifische, realistische Adäquatheitsbedingung dem Argument sei-
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nen Namen gibt.102 Prämisse (P1 ): Für die Beurteilung der Prämisse kommt es an einem Beispiel wie dem brennenden Streichholz (Beispiel I.21) auf das genaue Verhältnis von vier Aussagen und den darin behaupteten Sachverhalten an. Zwei der Aussagen sind singulär, zwei generisch formuliert: (a) Das Einströmen von Sauerstoff verursacht das Brennen des Streichholzes. (b) Das Anreißen eines Streichholzes verursacht sein Brennen. (c) Das Anreißen des Streichholzes verursachte in jener Situation, dass es zu brennen begann. (d) Das Einströmen von Sauerstoff verursachte in jener Situation, dass das Streichholz zu brennen begann. Liest man (a) und (b) als ». . . ist die Ursache von. . . «, dann verleitet der bestimmte Artikel zu der Annahme, dass beide Aussagen könnten nicht zugleich wahr sein können und dass aus einem operationalen Kriterium für Kausalität also je nach Handlungssituation widersprüchliche generische Kausalaussagen folgen.103 Für die singulären Aussagen (c) und (d) besteht dieses Problem nicht. Der Grund ist klar: »In jener Situation« verweist auf alle einzelnen Bedingungen des Vorgangs. Über dieses und ähnliche Beispiele ist in der Kausalitätstheorie viel geschrieben worden und auch intuitiv ist klar: Unter verschiedenen Umständen können verschiedene Handlungen hinreichend sein, um Handlungserfolg zu erreichen und unter verschiedenen Umständen können gleiche Handlungen mal erfolgreich und mal erfolglos sein. Aus Erfolg/Misserfolg in einer Situation folgt nicht Erfolg/Misserfolg in einer Handlungssituation mit anderen Umständen. Das heißt aber, dass sich die Aussagen a) und (b) nur bei einer strengen Lesart widersprechen. Die dort genannten Ursachen müssen nicht als generell und notwendig gelesen werden. 102
Das Argument ist verkürzt dargestellt: (K1 ) kann Mittels einer Zwischenkonklusion aus (A1 ), (P1 ) und (P2 ), sowie (K2 ) mit einer Zwischenkonklusion aus (K1 ) und (P3 ) gefolgert werden. 103 Kim formuliert einen Einwand anhand des Knopf-Mechanismus, den von Wright beschrieb. Die Ursache würde dort von Fall zu Fall wechseln, je nachdem, welchen Knopf man drückt (Kim: Explanation and Understanding by Georg Henrik von Wright, S. 383).
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Aussagen über notwendige Ursachen, also Ereignisse, die stets eine bestimmte Ursache haben, sind starke Aussagen, die selten getätigt werden und mit einigen Begründungsverpflichtungen verbunden sind. Solche Ansprüche gehen sicher über das hinaus, was im Alltag an einer Streichholzschachtel demonstriert werden kann und mit (a) oder (b) ausgedrückt wird.104 Damit ist für die Falschheit von Prämisse zwei argumentiert: Werden Ursachen operational eingeführt, dann folgt nicht, dass sich der Wahrheitswert von Kausalaussagen abhängig von Handlungssituationen oder verfügbaren kulturellen Techniken ändert. Eine Debatte um Realismus und Antirealismus muss somit hier nicht geführt zu werden. Zu einem realistischen Adäquatheitskriterium für Explikationen des Ursachenbegriffs und damit zu Prämisse (P3 ) ist nur generell zu sagen, dass sich Explikationen in der Regel nach dem üblichen Sprachgebrauch richten. Sollte die Alltagssprache antirealistische Züge haben, dann müssten Explikationszwecke genannt werden, die sich nur erreichen lassen, wenn diese antirealistischen Züge des Explikandums nicht abgebildet werden. Ich denke dabei an folgende Situation: Wenn es tatsächlich sein sollte, dass, wie Collingwood und Gaskings Beispiele es andeuten, alltägliche Überzeugungen über Kausalverhältnisse standpunktabhängig sind105 und diese nicht konsistent vertretbar sind, dann wäre ein entsprechendes Explikans ohne weitere Begründung einer realistischen Gelingensbedingung adäquat. Mit dem Interventionismus könnte sogar eine Erklärung dafür gegeben werden, warum unsere alltägliche Rede antirealistisch zu sein scheint. So ist es letztlich naheliegend, dass interventionistisch die entsprechenden Kausalaussagen relativ zu Hintergrundbedingungen der vollzogenen Handlungen verstanden werden, die Wahrheit dieser Aussagen dann aber feststeht (und sich auch mit dem Verschwinden von Menschen oder Fähigkeiten nicht ändert). Ganz in diesem Sinne spricht Kim in seiner frühen Rezep104
Diese ganze Überlegung ist natürlich Wasser auf die Mühlen von Kausalitätstheoretikern, die meinen, dass Kausalaussagen »eigentlich« ohnehin nur sinnvoll über Einzelepisoden getroffen werden können. 105 Huw Price: Causal Perspectivalism, in: Causation, Physics, and the Constitution of Reality. Russell‘s Republic Revisited, Oxford: Clarendon Press, 2007, S. 250–292 entwickelt eine solche Position.
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tion von Erklären und Verstehen von Interventionisten als relativistischen Realisten.106 Zusammengefasst nimmt die Explikationsdebatte um den Interventionismus beim Thema nicht manipulierbarer Kausalverhältnisse einige dialektische Wendungen – von korrigierten interventionistischen Auffassungen bis zu methodologischen Fragen zur Einführungsmethode. Der härteste Einwand bei wohlwollender Lesart des Interventionismus ist die Verbindung einer maßstäblichen Kritik an einer ausgebliebenen Ergänzung eines operationalen Einführungsvorschlages.
2.3.3 Weitere Folgen für Argumentrekonstruktionen: Modelle Der Einwand der nicht manipulierbaren Verhältnisse Drei Folgen hat die komplexe Debatte um nicht manipulierbare Kausalverhältnisse für das spätere, zweite Kapitel: Der erste Hinweis ist, wie gesagt, durch die Beispiele gegeben: Es gibt (viele) Fälle von Kausalaussagen, deren Relata sich nicht direkt herstellen bzw. direkt herbeiführen lassen. Wie werden Aussagen über solche Verhältnisse begründet und welche Rolle spielt Handlungswissen dabei? Zweitens ist der Debatte der Hinweis zu entnehmen, dass bei ihrer Begründung technische Modelle des Kausalverhältnisses verwendet werden könnten, deren Begründung aber, drittens, problematisch ist und daher besonderer Rechtfertigung bedarf. Modelleinwand Wie gesehen halten die Interventionisten die Bedingung manipulativen Wissens in den meisten Fällen plausibler Kausalaussagen für erfüllt – was sogar zu der Lesart veranlasste, manipulatives Wissen zumindest von Modellen für notwendig zu halten. Die Kausalaussagen werden danach im Fall nicht-manipulierba106
»Philosophers like Collingwood, von Wright, and Gasking, who attempt to explain causation in terms of concepts pertaining to human actions, are best classified, I believe, as relativistic causal realists [. . . ]« (Jaegwon Kim: Causes As Explanation: A Critique, in: Theory
and Decision 1981, S. 293–309, hier S. 306.
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rer Ereignisse anhand von Modellen mit praktischen Sätzen über Handlungen und Handlungsfolgen begründet. Praktische Sätze über Handlungen und deren Folgen und Kausalaussagen stehen damit im Fall nicht-manipulierbarer Ereignisse in einem Begründungsverhältnis: Die Eisschmelze im Experiment soll offenbar die Kausalaussage über die Folgen globaler Erwärmung begründen oder zumindest, wie Price nahelegt, Teil der Begründung sein. Unser praktisches Wissen um Hitzetod und Steinschlag soll die These stützen, dass es überhaupt möglich ist, dass ein Vulkanausbruch eine ganze Stadt zerstören kann. Praktische Sätze sollen danach offenbar alternativlose Teile von Begründungen – und das heißt gerade: notwendige Bedingungen – für die Kausalaussagen darstellen. Damit wird die starke These aufgestellt, es gebe keine Kausalaussage, die man berechtigterweise vertreten könne, ohne dass das Kausalverhältnis Instanz eines Verhältnistyps sei, der tatsächlich auch erfolgreich praktisch beherrscht wird. So läuft die interventionistische Auffassung in erkenntnistheoretischer Hinsicht zunächst auf die These hinaus: Nur wenn wir in der Lage sind, dem nicht manipulierbaren Verhältnis »entsprechende« Ereignisse in ein technisches Verhältnis zu bringen, sprechen wir dort berechtigterweise von einem Kausalverhältnis. Um den Zusammenhang zwischen Ähnlichkeit (Gasking), Ereignistypen (von Wright) und inferentieller Praxis (Price) herzustellen, wurde der Interventionismus unter dem Thema der Modellbildung weiter diskutiert und kritisiert. Es ist nämlich der Modellbegriff, der es erlaubt, die in inferentieller Hinsicht entscheidende »nicht beliebige« Ähnlichkeit zwischen zwei Ereignissen oder Verläufen – die Art und Weise, wie sie sich »entsprechen« müssen – zum Thema zu machen. Ihre Ähnlichkeit wäre ihre Gleichheit hinsichtlich ihrer kausalen Struktur. Die Position ließe sich so explizit machen: Wenn wir berechtigt sind, eine Kausalaussage zu behaupten, dann sind wir in der Lage, ein Verhältnis technisch zu kontrollieren, das wir für in kausaler Hinsicht gleich (d.h. in genau dieser Hinsicht für ähnlich) halten. Das heißt, dass wir es für ein gültiges Kausalmodell des nicht manipulierbaren Verhältnisses halten. Als erkenntnistheoretische These muss diese Überzeugung der Realität wissenschaftlichen Begründens gerecht werden. Was
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die Interventionisten für immer wahr halten, kann erkenntnistheoretisch zumindest der Häufigkeit nach untersucht werden: Wie groß ist der Anteil solcher Begründungen von Kausalaussagen, bei denen mit praktisch kontrollierten Modellen argumentiert wird, und welche Bedeutung kommt ihnen in welchen wissenschaftlichen Disziplinen zu? Die in der Debatte vorgebrachten Beispiele zeigen, dass eine Untersuchung dieser Frage vielversprechend ist. Denn wie beim skeptischen Einwand sind auch hier mit den von beiden Seiten in Beispielen vorgebrachten Kausalaussagen Überzeugungen verbunden, die Begründungsschritte für Kausalaussagen betreffen.107 Die Überlegungen zum Modelleinwand sind selbst auch solche über korrektes Schließen auf nicht manipulierbare Kausalverhältnisse, beziehen sich also auch auf die Begründungsverhältnisse und dies bereits seit der ersten Formulierung des Einwandes durch Rosenberg.108 Die schon bekannten Beispiele geben genug Anlass, die Rolle von Handlungswissen bei ihrer Begründung zu untersuchen. Es geht aus dieser Perspektive, um nur ein Beispiele zu nennen, gar nicht darum, ob man etwa den Urknall herbeiführen kann oder nicht, sondern darum, ob und inwiefern er eine empirische Hypothese mit auch experimentellem Gehalt ist. Für die meisten vorgebrachten Kausalaussagen gibt es relevantes Handlungswissen, dessen Beziehung zu Kausalaussagen und dessen praktischer Gehalt untersucht werden kann: • Auf die Beispiele des Meeresspiegels und des Erdbebens hatten die Interventionisten selbst schon geantwortet. Die Antwort von Wrights auf das eigene Pompeji-Beispiel blieb zwar als explikatorische Lösung unklar – aber richtige Hinweise auf Teilereignisse des Untergangs Pompejis hat er doch gegeben. Ergänzt werden können sie um den Hinweis auf heutige experimentelle Vulkanologie, die selbstverständlich auch Ergebnisse zum Unter107
Keil hingegen verweist nur auf den Einwand Rosenbergs und Heidelbergers und diskutiert die Frage relevanter Ähnlichkeiten für kausales Schließen selbst nicht. Siehe Keil: Handeln und Verursachen, S. 397 f. 108 Buzzoni scheint den Zirkeleinwand generell mit der These widerlegen zu wollen, dass kein grundsätzlicher Unterschied in der Erkenntnis experimenteller Systeme und solcher, die mit Modellen erschlossen werde müssen, bestehe (siehe Buzzoni: The Agency Theory of Causality, Anthropomorphism, and Simultaneity, S. 378 ff.).
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gang Pompejis stützen kann (sowohl quantitativ als auch qualitativ). • Längenkontraktion eines Stabes (Beispiel I.9, Seite 63): Welches merkwürdige Verhalten des Stabes ist gemeint? Gibt es z.B. eine experimentelle Bestätigung der Lorentzkontraktion? Muss ein Unterschied von »scheinbarer« zu »realer« Wirkung, d.h. (mechanischer) Verkürzung, gemacht werden? • Uranzerfall (Beispiel I.11, Seite 63): Selbstverständlich kann auch Kernspaltung kontrolliert werden – die von Uran seit 1938. Daran ändert sich auch nichts, wenn man von Quantenmechanikern die Auskunft bekommt, dass für den Zerfallszeitpunkt prinzipiell nur Wahrscheinlichkeiten angegeben werden können. Die Frage des genauen Zeitpunktes dürfte für den Status des Ereignisses als Ursache wohl unerheblich sein. Gilt für diese Kausalaussagen aber nicht, dass sie über die Analogie begründet wird, dass sich das System immer wieder verhält wie z.B. ein (winziger) rotierender Magnet und eine (hochsensible) Spule – und aus dieser Tatsache (und anderen) mittels eines Teilchenmodells auf eine Kernspaltung geschlossen wird? • Gezeiten (Beispiel I.12, Seite 63): Inwiefern gilt das Gravitationsgesetz universell? Welche Rolle spielen bei der Begründung des Gesetzes Gravitationsexperimente (z.B. das Cavendishexperiment)? • Big Bang (Beispiel I.13, Seite 63): Experimentelle Daten spielten eine entscheidende Rolle etwa für das berühmte Alpha-BetaGamma-Papier von 1948. • Die Kollision zweier Himmelskörper109 : In welchem Verhältnis stehen die Ergebnisse von Stoßexperimenten zu natürlichen Kollisionen110 mit individuellen Körpereigenschaften und Energieumwandlungen – insbesondere hinsichtlich der Geltung von Erhaltungssätzen?
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S.o., Seite 67. Siehe Thomas Kenkmann u. a.: Cosmic Collisions in the Experimental Chamber, in: German Research 37.1 (2015), S. 30–37, URL: http://dx.doi.org/10.1002/ germ.201590016.
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Es gibt eine zweite Frage, die dem Modelleinwand angesichts des Zwecks dieser Arbeit entnommen werden kann: Inwiefern können die Annahmen, die die Adäquatheit eines Modells sichern sollen, selbst wieder technisch formuliert werden – zumindest derart, dass ersichtlich wird, welche Art von Experiment gelingen müsste um zu zeigen, dass ein Modell inadäquat ist? Wieder scheinen Kritiker des Interventionismus mit Überzeugungen über Begründungswege aufzutreten. Rosenberg etwa behauptet, man solle die Kausalaussagen zu Billiardstoß und kosmischer Kollision voneinander unabhängig mit Kausalgesetzen erklären. Die Problemlage ist hier ähnlich der beim früher diskutierten skeptischen Einwand, wo die Fehlbarkeit von Handlungswissen diskutiert wurde: Hält man Modellsystem und modelliertes System für hinreichend ähnlich, dass sich eine Kausalaussage vom einen auf das andere übertragen lässt, dann sollte es nicht möglich sein, ein weiteres Experiment zu entwerfen, bei dem sich ein Unterschied zwischen beiden Systemen als manipulativ relevant erweist. Am Beispiel Gaskings (Beispiel I.7, Seite 63) hieße dies: Soll das Schmelzen eines Eiswürfels in einem Glas begründen, dass ein Schmelzen der Arktis einen Anstieg des Meeresspiegels verursacht, dann müssen die beiden Systeme hinreichend ähnlich sein. Experimentell darf die Ergänzung des Systems um einen Aspekt A∗ , der auf das modellierte System zutrifft, nicht den Effekt des Pegelanstiegs zum Verschwinden bringen. Genau dies ist im Beispiel aber der Fall: Die Arktis ist eine schwimmende Eismasse (A∗ ). Schwimmt der Eiswürfel im Wasserglas, dann steigt der Pegel nicht, wenn das Eis schmilzt. Das um A∗ ergänzte Experiment widerlegt die Annahme, dass sich die beiden Systeme hinreichend ähnlich sind: Die Ergänzung eines bestehenden Unterschiedes beider Systeme war Mittel, den Effekt »Pegelanstieg« zu unterdrücken. Später soll untersucht werden, wie sich mit Annahmen dieser Art Erkenntnisgrenzen und Dynamiken von Experimentalpraxen bei modellgestützten Schlüssen auf Kausalaussagen darstellen lassen.
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Realistischer Einwand Die Beispiele und Thesen im Zusammenhang mit dem letzten vorgestellten Einwand machen auf einen explanatorisch wichtigen Aspekt aufmerksam: Unser Versuch kann uns nur zeigen, dass eine Handlung unter bestimmten Bedingungen hinreichend für eine Handlungsfolge sein kann. Misserfolg unter bestimmten Bedingungen schließt Misserfolg unter anderen Bedingungen aber nicht aus. Folgen experimentellen Handelns werden relativ zu den vorliegenden Experimentalbedingungen festgestellt. Damit wird folgende Argumentform zur Form eines Fehlschlusses, weil (P2 ) falsch ist. Fehlschluss aus Misserfolg (P1 ) (P2 )
(K1 )
Wir können Y nicht herbeiführen, indem wir (unter Bedingungen B) X tun. Wenn wir Y nicht herbeiführen können, indem wir (unter Bedingungen B) X tun, dann ist X ist nicht Ursache von Y. erfüllte hinr. Bed. X ist nicht Ursache von Y.
Prämisse (P1 ) dieses Argumentes ist natürlich zu unterscheiden von der generellen Annahme: Wir können Y nicht herbeiführen, indem wir X herstellen. In dieser Form formuliert ist dies eine Aussage, die durch einzelne Experimente gar nicht bewiesen, sondern allenfalls an einzelnen Experimenten scheitern kann. Um dies anzuzeigen, ist die Aussage besser formuliert als: Es gibt kein Experiment, in der X Mittel ist, um Y herbeizuführen.111 Diese Bedingungen müssen nicht bekannt sein, aber können durch Variieren des Experimentes untersucht werden. Eine Besonderheit unseres Handelns und der Schlüsse, die wir daraus ziehen, ist, dass zum Feststellen von Handlungserfolg Wissen um Randbedingungen nicht nötig ist. Deshalb scheint es sprachlich üblich zu sein, so zeigen Beispiele wie das des brennenden Streichholzes, bei der Behauptung von Kausalaussagen nicht ei111
Angewandt werden diese Überlegung z.B. auf die Beispiele des Industriemelanismus (S. 197), den Tschekosee (S. 152) und in einem Kommentar zur AIDS-Debatte (S. 283).
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gens zu formulieren, dass sie sich auf übliche Handlungsgegenstände und -situationen beziehen, hinsichtlich dieser formuliert werden und damit einen eingeschränkten Geltungsbereich haben. Welche Rolle spielen solche Argumente und sprachlichen Üblichkeiten für tatsächliche wissenschaftliche Kausalaussagen? Später soll daher untersucht werden, welcher Geltungsanspruch mit verschiedenen begründeten Kausalaussagen tatsächlich erhoben wird. Welche Prämissen und Strategien können genutzt werden, um stärkere Geltungsansprüche zu erheben – ähnlich also eines argumentativen Übergangs von unserem gewöhnlichen Anzünden von Streichhölzern zu einer generellen Aussage über die Ursache ihres Brennens überhaupt? Wie können Kausalaussagen relativ zu bestimmten Randbedingungen begründet werden?
2.4 Zusammenfassung Die Ergebnisse dieses ersten Kapitels sollen nun zusammengefasst werden. Dabei müssen die Ergebnisse für die Diskussion um die Explikation des Ursachenbegriffs unterschieden werden von den Ergebnissen, die für das zweite Kapitel hinsichtlich kausaler Erklärungen besonders wichtig sind.
2.4.1 In explikativer Hinsicht Durch Anwendung der Explikationslehre Siegwarts konnte die Diskussion um den handlungstheoretischen Interventionismus in expliziten Argumenten als Kontroverse um die Erfüllung von Gelingensbedingungen für Explikationen dargestellt werden. Skeptischer Einwand und Zirkeleinwand erwiesen sich als schwache Einwände, ersterer wegen fehlenden Bezugs der vorgebrachten Beispiele von Handlungsirrtum auf die relative Begründungsstärke von Handlungswissen, letzterer vor allem wegen ungerechtfertigter Unterstellung eines expliziten Einführungszirkels, fehlenden Explikationsvorschlags für den Ursachenbegriff und offenbar »ideologisch« begründeten Verzichts auf eine Einführung des Ursachenbegriffs.
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2.4 Zusammenfassung
Der interne maßstäbliche Einwand zu nicht manipulierbaren Kausalaussagen hingegen ist letztlich einschlägig. Hier wurde das dialektische Verhältnis verschiedener Einwände und Verbesserungsstrategien der Diskursparteien sichtbar. Über Versuche, die »konjunktivische« Definition von Wrights zu umgehen oder zu verändern, konnte ein Desiderat der Debatte bei Vertretern und Kritikern des Interventionismus markiert werden: die Diskussion operationaler Einführungen sowie die methodologische Diskussion der Ergänzung einer operationalen Einführung zu einem gemischt-sprachlichen Einführungsverfahren. Obwohl sich die relativistischen Bedenken ausräumen lassen, bleibt offen, inwiefern operationale Verfahren in Explikationen zulässig sind: Können die notwendigen Verfahren zur Erweiterung der Einführung für eine interventionistische Explikation des Ursachenbegriffs etwa als axiomatische Setzungen plausibel gemacht werden? In explikativer Hinsicht ist die Debatte um den Interventionismus in vielen Punkten verbesserungsbedürftig. Immer wieder war es nötig, implizite Einführungsvarianten zu rekonstruieren und sie in inferentieller Hinsicht auch über die Autoren hinaus besser greifbar zu machen. Die Lösung der Kontroverse besteht meines Erachtens in einer methodologischen Diskussion nicht-definitorischer Einführungsverfahren, wie etwa der Zulässigkeit operationaler Einführungen für Explikationen. »Einführung« sollte in der Debatte nicht auf »Definition« reduziert werden und es sollte methodologisch wieder bedacht werden, dass bei Explikationen stets auch ein Anfangsproblem besteht. Dieses grundlegende sprachphilosophische Problem wurde Anfang des 20. Jahrhunderts intensiv diskutiert112 , scheint aber durch das Aufgeben einer expliziten Explikationsmethodologie in Vergessenheit geraten zu sein. Ohne Reflexion auf methodische Fragen zur Explikationsordnung lässt sich gerade die Debatte um den Interventionismus nicht beurteilen und einer Entscheidung zuführen. Vor allem von Kritikerseite aus sollten für Einwände entscheidende Hintergrundannahmen besser explizit gemacht und als Gelingensbedingungen für Explikationen gerechtfertigt werden. 112
Man denke etwa an Hans Albert: Traktat über kritischer Vernunft, Tübungen: Mohr, 1968.
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2.4.2 In explanatorischer Hinsicht Die Debatte um den Interventionismus ist auch durchzogen von mal mehr und mal weniger starken Thesen über wissenschaftliches Begründen von Kausalaussagen. Auch moderne Vertreter eines (handlungstheoretischen) Interventionismus warten mit solchen Thesen auf. Quer zur Explikationsdebatte läuft eine Debatte um das korrekte Schließen auf Kausalaussagen. Die Beantwortung der Frage, inwiefern die Begründung von Kausalaussagen tatsächlich manipulativ geschieht und inwiefern tatsächlich insbesondere auch nicht manipulierbare Kausalverhältnisse mittels technisch verfügbarer Modelle begründet werden können, ist von dem explikatorischen Thema unabhängig113 und führt zu einer Reihe von Fragen, mit denen an die Explikationsdebatte um den Interventionismus erkenntnistheoretisch angeknüpft werden kann: • Welche Schwierigkeiten ergeben sich bei solchen Argumenten hinsichtlich der Formulierung von Handlungswissen ? Wie kann mit der Möglichkeit von Irrtum und zu speziellen oder zu generellen Handlungsbeschreibungen umgegangen werden? • Wie weit können dabei die handlungstheoretischen Termini aus der Debatte um den Interventionismus eingesetzt werden? • Welche Rolle spielen solche Handlungen, die an experimentelles Handeln anschließen, für Generalisierung und Falsifikation der entsprechenden Kausalaussagen? • Welches Ausmaß hat Handlungswissen bei tatsächlichen Begründungsstrategien für Kausalaussagen in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen? Welche Verhältnisse zu nicht-instrumentellen Begründungen gibt es? • Wie weit kann man darin gehen, Kausalaussagen mit technischen Prämissen zu begründen, ohne inadäquate Argumentrekonstruktionen vorzunehmen? 113
Eine aktuelle Arbeit, in der diese Unterscheidung völlig übergangen wird (und zudem der Woodward-Interventionismus doch einfach als handlungstheoretischer Interventionismus angewandt wird) ist die von Zwier: Interventionist causation in physical science.
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2.4 Zusammenfassung
• Lassen sich spezielle interventionistische Schlussprinzipien – Inference Principles114 – finden? • Welche Erkenntnisprobleme ergeben sich gerade aus dem Umstand, dass Handlungswissen in Begründungen von Kausalaussagen verwendet wird? Im folgenden zweiten Kapitel soll ausgehend von diesen Fragen versucht werden, an Beispielen Begründungen von Kausalaussagen zu rekonstruieren. Diese sollen als explizite Argumente rekonstruiert und anschließend ihre Argumentform diskutiert werden. Diese Typen von Argumenten werden als zustimmungsfähige Muster der Begründung von Kausalaussagen aufgefasst. Sie sollen so weit wie möglich interventionistisch verfasst werden, also unter Verwendung von Prämissen, die sich auf praktisches Wissen beziehen. Zu einem erheblichen Teil ist die Bedeutung experimentellen Wissens eine empirische Frage. Allerdings wird durch die häufige Verwendung einer bestimmten Wissensform die Frage noch nicht beantwortet, inwiefern ihr Einsatz legitim ist. Es wird also auch darauf ankommen, die Erklärungen nach bestem Wissen zu bewerten. Die explanative Fragestellung, die im Folgenden leitend ist, sollte aber nicht als empirische Überprüfung des Interventionismus missverstanden werden. Alle gestellten Fragen lassen sich unabhängig von der Explikationsfrage beantworten. Für die erkenntnistheoretische Untersuchung ist der Interventionismus als Kausalitätstheorie also keine Voraussetzung. Die Debatte um ihn aber ist Anlass und nützliche Inspiration.
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Siehe oben, Seite 66.
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Teil II Argumentationsschemata
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3 Vorüberlegungen »Handlungsergebnis« (»result«) und »Handlungsfolge« (»consequence«) werden von von Wright als handlungstheoretische Termini übernommen. Den Unterschied macht von Wright an alltäglichen Beispielen klar: Dadurch, daß wir ein Fenster öffnen, lassen wir frische Luft in das Zimmer (führen eine Luftzirkulation herbei) oder senken die Temperatur oder führen einen Zustand herbei, in dem sich eine im Zimmer befindliche Person unwohl fühlt, zu niesen anfängt und sich eventuell erkältet. Was wir so herbeiführen, sind die Wirkungen unserer Handlungen. Das, was wir tun, ist die Ursache dieser Wirkungen. Die Ursache werde ich auch das Ergebnis und die Wirkungen die Folgen unserer Handlung nennen.1
Handlungsergebnis und Handlungsfolge können als Verhältnis eines als unmittelbar verfügbar angenommenen Handlungsschemas zu einem damit bezweckbaren Ereignis verstanden werden. Wer zu einem Zweck handelt, der verfolgt das Ziel, mit seiner Handlung einen Sachverhalt zu erreichen und diesen damit zur Folge des »in seiner Macht stehenden« Handlungsergebnisses zu machen. Was als Handlungsergebnis zählt, hängt nach diesem Verständnis davon ab, was in einer Situation als unproblematische Beschreibung einer vollzogenen Handlung gilt.2 Es kann durchaus sein, dass in Extremsituationen etwa Körperbewegungen, die sonst unproblematisch als Handlungsvollzüge angese1
Von Wright: Erklären und Verstehen, S. 69. Zum Thema »Basishandlungen« siehe Arthur C. Danto: Basis-Handlungen. Handlungsbeschreibungen, in: Georg Meggle (Hrsg.): Analytische Handlungstheorie, Bd. 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985, S. 89–110 und zu Wrights Bezugnahme von Wright: Erklären und Verstehen, S. 70. 2 Janich: Sprache und Methode, S. 14 ff., spricht terminologisch bei Handlungergebnissen vom Gelingen bzw. Misslingen der Handlungen und beim Eintreten der bezweckten Handlungsfolge vom Erfolg bzw. Misserfolg der Handlung.
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3 Vorüberlegungen
hen werden, durch den Vollzug von Einzelhandlungen neu erlernt und damit als Handlungsfolge beschrieben werden. Man denke an Patienten, die nach einem Schlaganfall oder einer Verletzung des Rückenmarks neu das Gehen lernen. Auch in einem solchen Fall ist die Trennung der beiden Aspekte des Handelns aber tief in das menschliche Selbstverständnis und die zwischenmenschliche Kommunikation eingelassen. In diesen Ausnahmefällen wird mit Teilhandlungen (»Heben des Beines« usw.) als einem Handlungsergebnis und dem zu erlernenden Schema (einem »Schritt«) als einer Handlungsfolge umgegangen. Eine auf das Experimentieren bezogene Formulierung der Unterscheidung von Wrights gibt Lange3 Das Handlungsergebnis des Startens ist der Sachverhalt S1 , dem der eigentliche V ERLAUF V des Experimentes folgt, an dessen Ende mit dem V ERSUCHSERGEBNIS ein neuer Sachverhalt S2 steht. Dieser Sachverhalt ist eine Handlungsfolge des Startens unter den mit der Versuchsanordnung bestimmten Bedingungen [.]4
Die Rede davon, dass »wir etwas können« soll im Sinne eines reproduzierbar, erfolgreich aktualisierbaren Handlungsschemas verstanden werden5 , wobei es nicht darauf ankommt, dass alle jederzeit in der Lage sind, die Handlungsfolge auf dem vorgeschriebenen Weg zu erreichen, aber doch darauf, dass, sofern alle Mittel zur Verfügung gestellt werden, dazu angeleitet werden kann.
3.1 Handlungswissen »Handlungswissen« bezeichnet dasjenige Wissen, das wir durch das Erreichen von Handlungsfolgen erwerben. Es gibt das Wissen um die Folgen unseres Handelns an, gibt an, mittels welcher Handlungen wir welche Sachverhalte herbeiführen können. Handlungswissen ist Wissen der Form »Wir können y erreichen, indem wir x tun.« 3 Als alltäglichen und vertrauten Vorläufer des physikalischen Experimentes gibt Tetens das Kochen an (siehe Tetens: Experimentelle Erfahrung, S. 15). 4 Lange: Vom Können zum Erkennen, S. 160. 5 Siehe Hartmann: Kulturalistische Handlungstheorie, S. 86.
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3.1 Handlungswissen
Kausales Schließen mit handlungstheoretischen Begriffen zu analysieren ermöglicht es, an eine Reihe weiterer allgemein und intuitiv zugänglicher Unterscheidungen von Merkmalen unseres Handlungwissens anzuknüpfen. Die erste ist ein grundsätzlicher Unterschied zwischen »herstellen« und »verhindern«. Während das Herstellen von etwas ein Handlungsergebnis ist, liegt es nahe, vom »Verhindern« stets im Sinne einer Handlungsfolge zu sprechen. Wir sagen alltäglich zwar »Wir können das Klingeln des Weckers verhindern, indem wir verhindern, dass sich sein Zeiger weiter dreht«, aber gehen doch dabei selbstverständlich davon aus, dass wir in diesem Fall etwas tun können, das den stillstehenden Zeiger als Folge hat – Zugreifen, Klebeband aufkleben, Batterie entfernen. Passend dazu sind einfache Aufforderungen zum Nicht-Eintretenlassen von Ereignissen (»Haltet den Dieb!«, »Nicht fallen lassen!«) häufig so gemeint, dass der Adressat aus den ihm verfügbaren Handlungsmitteln eines wählen soll, das den erwünschten Erfolg bringt. Diesen Handlungsmitteln selbst lassen sich wieder positive Handlungsergebnisse zuordnen (»ihm ein Bein stellen«, »zufassen« bzw. »mit beiden Händen zufassen«, »beim Tragen langsam gehen und geradeaus schauen«). Äußerungen, wonach jemand einen Zweck erreichte, »indem er x verhinderte«, geben also keine Hinweise auf die tatsächlich vollzogene Handlung, sondern nur auf eine Folge einer Handlung, die wiederum eine weitere Folge hatte. Aus der vollzogenen Handlung muss zuerst erschlossen werden, dass die erfolgreiche Handlung »auf dem Weg erfolgreich war, x zu verhindern«.6 Über diesen Unterschied hinaus wissen wir zudem, dass wir die gleichen Zwecke mit verschiedenen Handlungen erreichen können und sind es im Alltag schon gewöhnt, verschiedene Techniken für etwas zu haben. Eine Scheibe lässt sich einschlagen, einwerfen, durch Töne oder Biegen zerstören. Verfügbare Mittel klären aber nicht über mögliche Mittel anderer Art auf. Hier deutet sich schon an, dass es besonderer Rechtfertigung bedarf, wenn wir mit einer Kausalaussage tatsächlich behaupten wollen, dass nur ein bestimmter Typ von Ereignissen Ursache eine be6
Zu Argumenten welcher Form dies letztlich führt und wie ein »von WrightPrinzip« verhindernden Handelns darin zu verstehen wäre, dazu siehe unten, Seite 266 (Fußnote).
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3 Vorüberlegungen
stimmten Vorgangs ist – wenn die Ursache also in logischer Hinsicht notwendig sein soll.7 »Notwendigkeiten« nennen wir praktisch solche Handlungen (oder Umstände einer Handlung), »ohne die es eben nicht geht«, ohne die wir nicht zum Erfolg kommen. Zur Rechtfertigung notwendiger Ursachen bietet es sich also an zu überprüfen, inwiefern argumentiert werden kann, dass es außer der gewählten Handlung keine andere erfolgreiche Handlung gibt, mit der ein Effekt herbeigeführt werden kann. Unmöglichkeitsbehauptungen über Handlungen – dass wir Y nur herstellen können, indem wir X tun u.ä. – könnten nun aber gerade anfällig für solchen Handlungsirrtum sein, wie er beim skeptischen Einwand gegen den Interventionismus diskutiert wurde. Unsere Rede vom »Können« zeigt sich dabei anfällig für ein typisches Missverständnis. Meistens meinen wir mit »wir können nicht. . . «, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt keine Handlungsoptionen zur Verfügung haben. Manchmal treffen wir aber auch eine »modale« Aussage über eine Unmöglichkeit über den jetzigen Stand unseres Handlungswissens hinaus (»Wir können kein Perpetuum Mobile bauen«). Wir sind weiterhin vertraut damit, dass unsere Handlungen mehr oder weniger erfolgreich sein können. Selbst wenn ein vollständiger Erfolg einer Handlung, das uneingeschränkte Erreichen des Zwecks, denkbar ist, aber nicht erreicht wird, sprechen wir ganz unproblematisch von erfolgreichem Handeln. Es gibt also im Alltag so etwas wie graduellen Handlungserfolg. Ein besonders guter Dartspieler wirft nicht jedes Mal Triple-20 und hat doch, so würden wir sagen, mit seinen Würfen mehr Erfolg als wir – er kann besser werfen als wir. Handlungserfolg muss nicht in dem Sinne »absolut« sein, dass die bezweckte Handlungsfolge stets eintritt. Genauso vertraut ist uns relativer Handlungserfolg. Wer in einer Sportart eine neue Wurf- oder Sprungtechnik erlernt, kontrolliert seinen Handlungserfolg relativ zu der Weite seiner Würfe oder Sprünge davor. Das Verändern der Technik ist (in der Regel) dann erfolgreich, wenn im Rahmen der Regeln weiter gesprungen/geworfen wird als zuvor. Handlungserfolg kann also relativ zu einem vorher bereits erreichten Erfolg festgestellt werden. 7 Inbesondere in den späteren Kapiteln zur Medizin sowie psychiatrischen und psychoanalytischer Forschung wird dieses Thema wieder aufgegriffen.
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3.1 Handlungswissen
Wenn es uns sinnvoll erscheint, können wir das Ausmaß sowohl graduellen, als auch relativen Handlungserfolges angeben (»Auf diese Weise springe ich bei der Hälfte meiner Sprünge gut 20 cm weiter«). Ein zentrales Ziel beim Durchführen eines Experimentes ist es, durch die Formulierung von Reproduktionsanleitungen Wissen zu erreichen, das über die Einzelinstanzen des Experimentes hinausgeht. Handlungswissen aus Experimenten ist »generisches« Wissen, bei dem nicht bloß im Nachhinein eine Abfolge, das Eintreten eines Ereignisses nach einer einzelnen Handlung des Experimentators, festgestellt wird, sondern das Schema einer (komplexen) Handlung inklusive ihrer Vorbereitung samt den so erreichbaren Handlungsfolgen angegeben wird. Zwar werden Experimente mit Einzelverläufen zu bestimmten Zeitpunkten, an bestimmten Orten usw. ausgeführt. Experimente kann man sich aber eher als prinzipiell nie abgeschlossene Ausführungen eines in der Beschreibung des Versuchs festgehaltenen Handlungsschemas vorstellen, aus dem nach endlichen Aktualisierungen ein empirisches Ergebnis für alle zukünftigen Durchführungen erschlossen wird. Gerade in diesem Übergang von Einzelverläufen zu generischem Wissen mittels der Versuchsbeschreibung besteht ein wichtiger Teil des wissenschaftlichen Wertes von Experimenten. Die Merkmale alltäglichen Handlungswissens finden sich in Eigenschaften experimenteller Praxen und der Darstellung von Ergebnisse wieder. Ergebnis eines Experimentes kann sein, dass eine Handlung unter den erzeugten Bedingungen einen Sachverhalt zur Folge hat oder aber dass sich ein solcher mit einer bestimmten Handlung oder einer veränderten Startbedingungen verhindern lässt. Dabei können experimentelle Handlungsfolgen auch durchaus darin bestehen, dass ein Sachverhalt stets bzw. häufig eintritt oder ausbleibt (vollständiger bzw. gradueller Erfolg) oder seltener bzw. häufiger eintritt oder ausbleibt (relativer Erfolg) und beides kann gegebenenfalls quantitativ angegeben werden. Im Verlauf der Diskussion des Zirkeleinwandes wurden bereits zwei Vorschläge für einfache Schlüsse von Handlungswissen auf Kausalaussagen vorgestellt, die diesen beiden Experimentalergebnissen entsprechen.8 Führen wir erfolgreich herbei 8
Siehe oben, Seite 57 f.
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3 Vorüberlegungen
oder verhindern beziehungsweise beseitigen wir erfolgreich mit unserem Handeln, dann verursachte unser Handlungsergebnis (unter diesen Umständen) das Eintreten bzw. Ausbleiben (oder Verschwinden) eines Ereignisses. Bei der Formulierung von Experimentalergebnissen ist stets zu klären, wie stark es generalisiert werden kann. Eine Testreihe besteht schließlich aus Einzelvollzügen und -vorgängen, die an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit und mit bestimmten, individuellen Mitteln ausgeführt werden. Schon einfache Schulexperimente der Physik sollen aber häufig Aussagen stützen, die für große und nur teilweise getestete Gegenstandsbereiche gelten: Mit einem Drehstuhlexperiment etwa sollen keine Aussagen über Drehstühle begründet werden und erst recht nicht über Drehstühle einer bestimmten Form oder Marke (jedenfalls nicht typischer Weise), sondern Aussagen über Drehbewegungen generell und Verhältnisse beteiligter Größen. Mit Experimenten werden also häufig Aussagen über ganze Klassen von Gegenständen gewonnen. Zu diesem Zweck wird der Versuchsaufbau verändert, aber es werden dennoch keinesfalls alle Gegenstände des Geltungsbereichs wie auf einem Prüfstand getestet. Beim Angeben des etablierten, experimentellen Handlungswissens darf also die Menge der Handlungsgegenstände und getesteten Variationen weder zu eng noch zu weit formuliert werden. Die verschiedenen Probleme, eine korrekte generelle Formulierung des Handlungswissens aus einer endlichen Anzahl von Experimenten zu finden, sollen später nicht diskutiert werden. Es wird jeweils unterstellt, dass Einigung erreicht wurde und dass im Zweifelsfall die in der konkreten Versuchsanleitung angegeben Gegenstände und Handlungen die minimale Basis bieten, von der aus Schlüsse auf Kausalaussagen vollzogen werden können.9 Gleichermaßen unberücksichtigt bleiben alle Strategien, mit denen aus leicht abweichenden Folgen der Einzelversuche über Fehlerrechnung und »Glättung« der Ergebnisse eine einheitliche Handlungsfolge bestimmt wird.
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Einige – nicht nur auf die Physik zugeschnittenen Methoden, die angewandt werden, werden aufgezählt in: Allan Franklin/Slobodan Perovic: Experiment in Physics, in: Edward N. Zalta (Hrsg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Winter 2015, SEP, 2015, Abschnitt 1.1.2.
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3.1 Handlungswissen
Mit der Annahme, dass hinreichende Einigung über die zulässige Handlungsbeschreibung samt der Handlungfolge erzielt wurde, werden, so interessant sie auch sind, ebenfalls Erkenntnisprobleme wie solche von »Unschärfe« und Artefakten ausgeblendet. Es dürfte disziplinspezifische Prämissen geben, die den Einfluss der Beobachtung bzw. der selbige vorbereitenden Methoden auf das Beobachtungsergebnis ausschließen – hier aber wird davon ausgegangen, dass solche experimentellen Artefakte und technisch bedingte Beobachtungsgrenzen bereits ausgeschlossen bzw. berücksichtigt sind, wenn das kausale Schließen beginnt. Die einfachste Formulierung einer Kausalaussage als Ergebnis eines Experimentes setzt das Handlungsergebnis und die Veränderungen der Beobachtungsinstrumente in Bezug. Die Formulierung ist deshalb am einfachsten, weil nur die sprachlichen Mittel genutzt werden, durch die sich auch zu dem Experiment anleiten lässt. Sie ist theoretisch gedeuteten Beschreibungen insofern vorgeordnet, als durch solche alleine gerade nicht klar würde, was getan werden muss, um das Experiment zu reproduzieren. Diese Einschränkung hat argumentative Folgen für die Rechtfertigung »theoretischer« Relata in Kausalaussagen.10 Die in typischen Experimentalstudien aufgeführte Versuchsbeschreibung dient genau dazu, eine Minimalbeschreibung des erfolgreichen Handelns zu finden – in diesem Zeitraum, mit dieser Technik, in jener Umgebung, an jenen Tieren usw. Die Handlungsumstände müssen dabei nicht vollständig bekannt oder formulierbar sein – und erst recht nicht in ihrem Einfluss auf das Ergebnis abgeschätzt werden können. Sie können aber bekannt sein, besonders dann, wenn es sich, wie häufig, nicht um natürliche Umstände handelt, sondern um hergestellte. Für die Physik ist hinreichend bekannt, dass mit genormten Gegenständen experimentiert wird, deren Eigenschaften also in vielen Hinsichten identisch hergestellt werden können. Ähnliches ist auch in anderen Experimentalpraxen zu finden (bei Reagentien, Reinzuchtformen u.A.). Die Wiederholbarkeit von Experimentalergebnissen ist besonders dort ein echtes Problem, wo komplexe, neue 10 Siehe das Plädoyer Hackings für theorie-unabhängige Beobachtungen anhand wissenschaftsgeschichtlicher Beispiele: Ian Hacking: Representing and Intervening. Introductory Topics in the Philosophy of Science, Cambridge: Cambridge University Press, 1983, S. 152 ff.
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3 Vorüberlegungen
Beobachtungsmethoden eingesetzt werden, deren Daten zudem maschinell unter Einsatz komplizierter mathematischer Verfahren ausgewertet werden und sicher eigener erkenntniskritischer Überlegungen wert. Argumentativ betrachtet gehört dieses Problem aber zur Formulierung und Absicherung des Experimentalergebnisses. Im Folgenden geht es aber um die Möglichkeiten kausalen Schließen, insofern Einigkeit über Handlungswissen einer bestimmten Art erzielt wurde.
3.2 Zu den folgenden Argumenten Im folgenden Kapitel werden die Ergebnisse aus dem ersten Teil der Arbeit das erste mal umgesetzt. An einem wissenschaftsgeschichtlichen Beispiel soll vorgeführt werden, wie die im weiteren Verlauf rekonstruierten Kausalerklärungen argumentationstheoretisch einzuschätzen sind. Hier wird also die interventionistische Methode der weiteren Kapitel vorgestellt und begründet.
3.2.1 Analogieargumente Im zweiten Teil der Arbeit werden Schlüsse auf Kausalaussagen wie die Einwände gegen den Interventionismus mit Prämissen und Konklusionen dargestellt. Da in vielen Punkten auf Ergebnisse der Argumentationstheorie11 zurückgegriffen wird und bereits wiederholt von Modellierung, Ähnlichkeiten, »analogical reasoning« usw. gesprochen wurde, ist das Verhältnis der Rekonstruktionen zu Analogieargumenten zu bestimmen. Was sind Analogieargumente, welche Probleme bereitet Argumentieren mit ihnen und werden die späteren Argumente im Sinne der Argumentationstheorie Analogieargumente sein? Solche Argumente werden als Instanzen der folgenden Argumentform vorgestellt:12 11
Holm Tetens: Philosophisches Argumentieren. Eine Einführung, 2., durchgesehene Auflage, München: C.H. Beck, 2006. 12 Ebd., S. 177. Varianten dieser Darstellung nennt und diskutiert David Löwenstein: Analoge Argumente und Analogieargumente, in: Gregor Betz u. a. (Hrsg.): Weiter denken – über Philosophie, Wissenschaft und Religion, De Gruyter, 2015, S. 105–124.
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3.2 Zu den folgenden Argumenten
Analogieargument-Schema (P1 )
(P2 ) (P3 )
(P4 )
(K1 )
Gegenstand a verhält sich hinsichtlich des Aspekts A genauso wie Gegenstand b hinsichtlich des Aspekts B. Hinsichtlich des Aspekts B trifft auf b der Sachverhalt F zu. Dem Sachverhalt F entspricht hinsichtlich des Aspektes A der Sachverhalt F* für den Gegenstand a. Analogieschlussprinzip: Verhalten sich Gegenstände X in Bezug auf den Aspekt Z* genauso wie Gegenstände Y in Bezug auf den Aspekt Z, trifft auf Gegenstände Y in Bezug auf den Aspekt Z S zu und entspricht der Sachverhalt S* hinsichtlich des Aspekts Z* dem Sachverhalt S, so trifft auf Gegenstände X S* zu. Also trifft auf a F* zu.
Mittels des Schlussprinzips – hier (P4 ) – wird mit drei Prämissen von einer Aussage über einen »Startgegenstand« (oder »Startsystem«) auf eine Aussage über einen »Zielgegenstand« (oder »Zielsystem«) a geschlossen. Die erste Prämisse (die »Strukturgleichheitsprämisse«) behauptet die Ähnlichkeit zweier Gegenstände/Systeme a und b, d.h. deren Gleichheit in einer bestimmten Hinsicht. Die zweite Prämisse konstatiert für den Startgegenstand einen Sachverhalt, der mit der Prämisse (P3 ) einem Sachverhalt der gleichen Hinsicht des Zielgegenstandes »zugeordnet« wird. Prämisse (P4 ) fasst lediglich die drei Prämissen und die Konklusion schematisch zu einem Wenn-dann-Satz zusammen, so dass mit dem Schlussstrich von diesem Satz und seinem erfüllten Wenn-Teil auf den Dann-Teil übergegangen werden kann. Mit der Konklusion wird einen Sachverhalt für den Zielgegenstand konstatiert. Argumente dieses Schemas sind in folgendem Sinne deduktiv schlüssig: Wenn die Prämissen wahr sind, dann ist auch die Konklusion wahr.13 13
Üblich ist der Ausdruck »deduktiv gültig«. Zum terminologischen Vorschlag von Tetens siehe Tetens: Argumentieren, S. 304, Fußnote 5.
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3 Vorüberlegungen
Analogieargumente werden insgesamt als charakteristische Mittel des Argumentierens experimenteller Wissenschaft vorgestellt: Werden Aussagen über einen Gegenstand beziehungsweise ein System gewünscht, das zu klein, zu groß, nicht quantifizierbar oder zu komplex ist, dann werden Erkenntnisse eines anderen Bereichs genutzt, der besser zugänglich ist und über den daher (relativ) sicheres und überprüfbares Wissen bereit steht. »Ohne Analogieargumente lassen sich oftmals Sachverhalte gar nicht in übergreifende Strukturmuster einordnen« – dieser Satz habe »die geballte Erfahrung der fast 400-jährigen Geschichte der Naturwissenschaften hinter sich.«14 Eine Pointe die Physik betreffend ist dabei, dass die Struktur, die Start- und Zielsystem gemeinsam ist, gerade durch mathematische Gleichungen ausgedrückt werden kann und die Analogiebildung auch dazu dienen soll, vorerst nichtquantifizierte Begriffe anschließend messend bestimmen zu können.15 So sollen es dann explizit Analogieschlüsse sein, die zur Darstellung der Wellentheorie des Lichts geeignet sind. Später wird ebenfalls die Erklärung des fotoelektrischen Effektes durch Einstein in Analogieform dargestellt.16 Insofern liegt es zunächst nahe, auch Argumente, in denen über Experimentalsysteme hinaus geschlossen wird, als Analogieargumente zu rekonstruieren. Analogisches Argumentieren ist mit einem typischen Problem verbunden – in der englischsprachigen Literatur etwa als »Extrapolator’s Circle« bezeichnet. Am Beispiel mit Analogien begründeter Kausalaussagen formuliert es etwa Steel wie folgt: Additional information about the similarity between the model and the target – for instance, that the relevant mechanisms are the same in both – is needed to justify the extrapolation. The extrapolator’s circle is the challenge of explaining how we could acquire this additional information, given the limitations of what we can know about the target. In other words, it needs to be explained how we could know that the models and the target are similar
14
Tetens: Argumentieren, S. 183 und Fußnote. Siehe Tetens: Experimentelle Erfahrung, S. 83. 16 Siehe ebd., S. 84 f. sowie Holm Tetens: Selbstreflexive Physik. Transzendentale Physikbegründung am Beispiel des Strukturenrealismus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54.3 (2006), S. 431–448, hier S. 438. 15
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3.2 Zu den folgenden Argumenten
in causally relevant respects without already knowing the causal relationship in the target.17
In der Argumentationstheorie wird dieses Problem am oben dargestellten Schlussschema erläutert.18 Das Schema ist in dem Sinne problematisch, als es alsbald zu einer zirkulären Argumentation kommen kann, wenn nach der Geltung von Prämisse (P1 ) gefragt wird.19 Es liegt der Verdacht nahe, dass in ein Argument für (P1 ) doch schon (K1 ) eingehen müsse. Zu diesem Problem werden in Arbeiten zu oben vorgestelltem Schema folgende Thesen vertreten: • Ein Analogieargument diene vor allem dem Zweck, zu zeigen, dass (K1 ) mit weiteren plausiblen Prämissen aus einer Strukturgleichheitsprämisse folgt. Das Ergebnis könne man einerseits als Hypothese nutzen und dann eine Untersuchung anstellen, ob denn tatsächlich (K1 ) zutrifft, oder wir könnten einen uns bereits bekannten Sachverhalt (z.B. den fotoelektrischen Effekt) deduzieren, auf diese Weise erklären und nun die entscheidende Prämisse (P1 ) weiter »explorativ« nutzen, also schauen, ob die Annahme einer Strukturgleichheit sich weiter bewährt. In beiden Fällen wäre diesem in der Argumentationstheorie vorgestellten Zweck von Analogien auch Rechnung getragen, wenn in der Argumentform (P1 ) explizit als Annahme gekennzeichnet und die Konklusion dann konditional formuliert wird als »Wenn (P1 ), dann (K1 )«. • (Viele) Analogieargumente lassen sich als induktive Schlüsse auf die beste Erklärung (SbEs) reformulieren. Mit »besten Erklärungen« sind dabei Erklärungen gemeint, die hinsichtlich explizit gemachter Kriterien relativ zu Erklärungsalternativen besser sind. 17
Daniel Steel: Across the Boundaries. Extrapolation in Biology and Social Sciences, New York: Oxford University Press, 2008 (im Folgenden zit. als Steel: Across the Boundaries), S. 78 f., zitiert nach Francesco Guala: Extrapolation, Analogy and Comparative Process Training, in: Philosophy of Science 77.5 (2010), S. 1070–1082, hier S. 1072. 18 Siehe Tetens: Argumentieren, S. 174 f. und ders.: Selbstreflexive Physik, S. 439. 19 Betz hält zirkuläres Argumentieren unter Umständen dialektisch für völlig legitim, aber offenbar nur in der Argumentationsstruktur einer Debatte mit mehr als 2 Beteiligten (siehe Gregor Betz: Petitio principii and circular argumentation as seen from a theory of dialectical structures, in: Synthese 2010, S. 327–349).
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3 Vorüberlegungen
• Für induktive SbEs wiederum lassen sich Argumente formulieren, mit denen begründet wird, warum es rational ist, die Konklusion des Argumentes zu akzeptieren.20 Ein solches Metaargument begründet, warum die Strukturprämisse akzeptiert werden sollte. Wegen der Bezugnahme von Analogien auf Schlüsse auf die beste Erklärung können auch deren Konklusionen auf diese Weise metaargumentativ gerechtfertigt werden.21 Aus dieser Sicht wird also bei einer Begründung einer Kausalaussage über ein Zielsystem, das manipulativ nicht zugänglich ist, aus einer Annahme über kausale Strukturgleichheit und einer Aussage über ein Modellsystem gefolgert und zudem die Annahme relativ zu verschiedenen Kriterien als die beste verfügbare kausale Erklärung des Wirkungsereignisses nachgewiesen. Solchen Kriterien sind nach Betz22 Umfang (der erklärten Sachverhalte), Präzision, Einfachheit, Vereinheitlichung, Plausibilität – deren Verhältnisse, Vollständigkeit und möglicherweise Berechenbarkeit hier nicht weiter diskutiert werden soll. Diese Haltung zu Analogienargumenten ist durchaus überzeugend. Analogien und Begründungen von Aussagen mit Modellen können auf diese Weise dargestellt werden. Hier ist allerdings die Frage, ob Analogieargumente die beste Darstellungsform für praktisch vermittelte Schlüsse auf Kausalaussagen sind oder ob es doch Schlüsse auf die beste Erklärung oder etwa diejenigen Argumente sind, die angeben, warum eine gute Erklärung vorliegt. Weiterhin ist die Frage, welche Darstellungsform gewählt werden soll, um der entwickelten Idee des durch weitere Prämissen vermittelten Schließens von Handlungswissen auf Kausalaussagen Rechnung zu tragen und wie ihr Bezug zu den Schemata der Argumentationstheorie ist. Es gibt Vor- und Nachteile der Analogieargumentform, die ich am Beispiel von Galileis Gezeitenerklärung herausarbeiten möchte. Die Erklärung ist so20
Zur dieser Idee siehe Tetens: Argumentieren, S. 183 f. und Gregor Betz: Justifying Inference to the Best Explanation as a Practical Meta-Syllogism on Dialectical Structures, in: Synthese 190.16 (2013), S. 3553–3578, der zudem eine Berechnung von Überzeugungsgraden für möglich hält. 21 Aus diesem Grund bezieht sich auch die transzendentale Rechtfertigung von Analogieschlüssen überhaupt auf (relativ) beste Erklärungen (Tetens: Argumentieren, S. 183 f.). 22 Siehe Betz: Justifying Inference to the Best Explanation as a Practical MetaSyllogism on Dialectical Structures, S. 3567.
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3.2 Zu den folgenden Argumenten
mit auch erster Anwendungsfall für die an den Einwänden gegen den Interventionismus gewonnenen Ideen für Begründungsstrategien und soll einen ersten Eindruck von den später rekonstruierten Argumenten geben.
3.2.2 Galileis Erklärung der Gezeiten Galileis Gezeitentheorie ist ein wichtiger Teil seiner Argumentation im Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme. Dort möchte er gegen die ptolemäische und für die kopernikanische kosmologische These argumentieren, dass die Erde sich um sich selbst und die Sonne dreht. Die Gezeitentheorie soll diese These stützen, indem sie eine »ganz exakte Erklärung«23 der Gezeiten gibt, aus der folgt, dass die Erde sich dreht. Galilei argumentiert für die Gezeitentheorie im Sinne einer Kausalerklärung mit einer Analogie zu einem Experimentalsystem.24 Wegen dieser drei Aspekte wird das Beispiel hier aufgenommen. Galilei beginnt seine Überlegungen mit einer Darstellung der bisherigen gescheiterten Kausalerklärungen der Gezeiten (auch der unsinnigen These, der Mond habe etwas mit den Gezeiten zu tun) und fordert eine experimentelle Analogie: Dafür aber, daß die wahre Ursache der Gezeiten zu dem Unerforschlichen gehöre, habt Ihr vermutlich keinen anderen Anhaltspunkt, als daß Ihr bemerkt, wie unter allen bisherigen Erklärungsversuchen keiner ist, auf Grund dessen, mag man sich anstellen, wie man will, eine ähnliche Erscheinung künstlich hervorgerufen werden kann. Weder mit Mond- noch mit Sonnenlicht, noch mit temperierter Wärme, noch durch verschiedene Tiefen wird man jemals künstlich bewirken können, daß in einem unbewegten Gefäße das darin enthaltene Wasser hin- und widerströmt, an einer Stelle steigt und fällt, an anderen nicht. Wenn ich Euch aber ohne jeden besonderen Kunstgriff, 23 Galileo Galilei: Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme. Das ptolemäische und das kopernikanische, hrsg. v. Roman Sexl/Karl von Meyenn, übersetzt von Emil Strauss, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1982, S. 440 f. 24 Siehe auch Zwier: Interventionist causation in physical science, S. 33 ff.
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auf die einfachste Weise, durch Bewegung des Gefäßes alle jene Änderungen genau so vor Augen führen kann, wie sie bei den Meeresgewässern stattfinden, warum wollt Ihr diese Erklärung dann von der Hand weisen und zum Wunder Eure Zuflucht nehmen?25
Die Barken Venedigs, mit denen Süßwasser in die Stadt gebracht wird, nennt er als anschauliches Beispiel für ein System, mit dem der über Beobachtung hinausgehende Anspruch erhoben werden kann, sowohl für die Ursache vom Auf und Ab der Gezeiten, als auch für weitere zum Phänomen beitragende Ursachen ein technisch beherrschbares Modell zur Verfügung zu haben.26 An einem verbesserten Modell könne man die Wasserstandsschwankungen sogar durch solche Rotationen herbeiführen, wie sie bei der um die Sonne und sich selbst drehenden Erde vorlägen: Mag es vielen auch unmöglich erscheinen, durch künstliche Apparate und Gefäße die Wirkungen eines solchen Umstandes experimentell zu prüfen, so ist es doch nicht ganz unmöglich. Ich besitze den Entwurf eines Apparates, an welchem gerade die Wirkung dieser merkwürdigen Zusammensetzung von Bewegungen sich veranschaulichen läßt.27
Auch eine passende Strukturgleichheitsprämisse im Sinne eines Analogieargumentes wird wortwörtlich vorgebracht: Nun, meine Herren, wie sich die Barke bezüglich des in ihr enthaltenen Wassers und wie sich das Wasser bezüglich der es enthaltenden Barke verhält, aufs Haar ebenso verhält sich das Becken des mittelländischen Meeres zu den darin befindlichen Wassermassen und die umschlossenen Wassermassen zu dem sie umschließenden mittelländischen Meeresbecken.28
25
Galilei: Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme, S. 440 f.
26
»Diese Erscheinung steht unzweifelhaft fest, ist leicht zu verstehen und kann jederzeit durch den Versuch bestätigt werden« (ebd., S. 444). Siehe auch ebd., S. 447 ff. 27 28
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Ebd., S. 450 f. Ebd., S. 445.
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3.2 Zu den folgenden Argumenten
Eingesetzt in obige Schlussform lässt sich das Argumentation als Analogieargument rekonstruieren: Galileis Gezeitentheorie Analogieargument (P1 )
(P2 ) (P3 )
(K1 )
Gezeiten und Erdbewegungen sind hinsichtlich der Ursache- und Wirkungsbeziehung strukturgleich zu ungleichförmig beschleunigten Behältern mit Wasser. Die Wasserbewegungen im Experiment werden durch ungleichförmiges Beschleunigen verursacht. Der Ursache der Bewegung des Wassers im Eimer entspricht die Erdrotation um sich selbst und um die Sonne als Ursache der Gezeiten. Analogieschluss Die Gezeiten werden verursacht durch die Drehung der Erde um sich selbst und um die Sonne.
Die zwei Wirklichkeitsbereiche werden hinsichtlich ihrer kausalen Struktur analogisiert. Die kausale Analogie wird hier also Anwendung des Analogieschemas dargestellt. Als Instanz eines induktiven Schlusses auf die beste Erklärung lautet das Argument: Galileis GezeitentheorieSbE (P1 ) (P2 )
Es gibt das Naturphänomen der Gezeiten. Dass die ungleichförmige Beschleunigung der Erde die Gezeiten verursacht, erklärt diese am besten.
(K1 )
Die ungleichförmige Beschleunigung der Erde verursacht die Gezeiten.
Alternativ ließe sich auch ein Schluss auf die beste Erklärung formulieren, mit dem noch nicht auf die Konklusion des Analogieargumentes geschlossen wird, sondern zunächst auf die Strukturgleichheitsprämisse – (P1 ) des Analogieargumentes:29 29
Aus dieser Sicht wäre ein SbE mit der Kausalaussage selbst als Konklusion zwar nicht falsch, aber verkürzt (– siehe das Beispiel bei Tetens: Argumentieren, S. 184 mit dem Unterschied »wie ein Uhrmacher« bei Annahme in (P2 ) und
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3 Vorüberlegungen
Galileis GezeitentheorieSbE2 (P1 ) (P2 )
Es gibt das Naturphänomen der Gezeiten. Die Annahme, dass sich Gezeiten und Erdbewegungen in kausaler Hinsicht verhalten wie der Wasserstand in ungleichförmig beschleunigten Wasserbehältern, erklärt die Gezeiten am besten.
(K1 )
Die Gezeiten auf der Erde verhalten sich in kausaler Hinsicht wie der Wasserstand in ungleichförmig bewegten Wasserbehältern.
Nun wird anschließend in einem Metaargument behauptet, dass unser Überzeugungssystem (vorausgesetzt das Phänomen Gezeiten soll überhaupt erklärt werden) mit der Konklusion des SbE relativ zu allen anderen verfügbaren Erklärungen am besten verfasst ist, und daraus wird gefolgert, dass es vernünftig ist, die Annahme aus (P2 ) zu akzeptieren.30 Dem Schluss auf die beste Erklärung kommt also die Rolle zu, für die Strukturgleichheitsprämisse eine induktive Begründung zu geben, in der die Kausalaussage des Analogieargumentes nicht vorkommt. Dieses induktive Argument wird dann selbst durch die Erfüllung von Gütekriterien für Erklärungen gerechtfertigt: Galileis Gezeitentheorie (Praktisches Metaargument)nach Betz (P1 )
(P2 ) (P3 )
Davon auszugehen, dass sich die Gezeiten und die Erdbewegungen in kausaler Hinsicht verhalten wie der Wasserstand in einem ungleichförmig beschleunigten Gefäß, verbindet unser kosmologisches Wissen und Wissen über die Erde auf die beste Weise. Es ist vernünftig, eine bestmögliche Verbindung unserer Wissensbestände zu verfolgen. Einer der Erklärungsvorschläge sollte akzeptiert werden.
Konklusion) und müsste durch das Analogieargument ergänzt werden, bevor die Konklusion erschlossen werden kann. 30 Siehe Betz: Justifying Inference to the Best Explanation as a Practical MetaSyllogism on Dialectical Structures, S. 3558.
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3.2 Zu den folgenden Argumenten
(K1 )
Es ist vernünftig, zu akzeptieren, dass sich die Gezeiten auf der Erde in kausaler Hinsicht verhalten wie der Wasserstand in einem ungleichförmig beschleunigten Gefäß.
Soweit am Beispiel von Galileis Erklärung der Gezeiten die Haltung der Argumentationstheorie zu Analogieargumenten. Welche Form soll nun die Rekonstruktion der Erklärung im Folgenden haben? Galileis Gezeitentheorie halten wir heute für falsch. Wir sehen es als bessere Erklärung an, dass der erste Tidenhub durch gravitative Wirkung des Mondes auf die Wassermassen verursacht wird und die gemeinsame Drehbewegung von Mond und Erde bei Trägheit der Wassermassen den zweiten Wellenberg erklärt, während die individuelle Oberflächengestalt der Erde und gravitativer Einfluss der Sonne lediglich die genauere Verteilung der Gezeiten erklärt. Wir können zwar rhythmische Veränderungen von Flüssigkeitspegeln durchaus durch Dreh- und Bremsbewegungen eines Gefäßes herbeiführen, aber daraus folgt offenbar noch nicht, dass die Gezeiten auf diese Weise entstünden. Galilei verließ sich auf das falsche technische Modell. Korrekt für den ersten Wellenberg wäre etwa ein Gravitationsexperiment, zu dessen Festkörpern Mond und Meere über den Strukturbegriff »Masse« analogisiert werden. Erstes experimentelles Handlungswissen zu Gravitationseffekten konnte allerdings erst nach Galileis Zeiten erworben werden.31 Welche falschen Annahmen machte Galilei und wo sind die falschen Prämissen in den Rekonstruktionen seiner Argumentation? In seinen eigenen Überlegungen versuchte Galilei generellen Modellierungsproblemen wohl durch das Prinzip »Für einen Effekt gibt es nur eine primäre Ursache«32 Rechnung zu tragen. Mit diesem Prinzip ist es ihm offenbar möglich, von einem Ereignistyp auf seine Ursache zu schließen, wenn nur einmal eine Ursa31 Zu einer Wissenschaftsgeschichte der Experimente siehe Steffen Ducheyne: Testing universal gravitation in the laboratory, or the significance of research on the mean density of the earth and big G, 1798-1898: changing pursuits and long-term methodological-experimental continuity. In: Archive for History of Exact Sciences 65.2 (2011), S. 181–227, URL: http://search.ebscohost.com/login. aspx?direct=true&db=aph&AN=59200157&site=ehost-live. 32 So die Darstellung bei ders.: Galileo’s Interventionist Notion of Cause, S. 458 f.
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3 Vorüberlegungen
che eines Ereignisses des gleichen Typs (hier: des Experimentaleffektes) erkannt wurde. Nur stellt sich, selbst wenn das Prinzip gültig ist, die Frage, wie genau der Ereignistyp benannt werden soll. Rekonstruiert als Analogieargument ist die erste Prämisse falsch, im SbE relativ zu heutigem Wissen33 die zweite Prämisse, im Metargument entsprechend die erste Prämisse. Der Vorzug des Analogieargumentes ist es, überhaupt die Kausalaussage über das Modellsystem zu nennen, auf das Galilei schließlich so viel Wert legte. Ein Vorteil des SbEs gegenüber dem Analogieargument ist, überhaupt anzuzeigen, dass es sich um eine Erklärung handelt. Das Argument um das Metaargument zu erweitern deutet zusätzlich an, dass es für eine gute Erklärung um ein bestimmtes Einbinden von Wissensbeständen geht. So ahnt man sowohl, wo die Schwachstelle der Theorie liegen könnte – nämlich schlicht im Einbinden von Fakten über die Gezeiten – als auch, warum es darüber hinaus Widerstand gegen die Theorie geben könnte – nämlich wegen der These der unbewegten Erde als tradiertem kosmologischen Wissenbestand. So liegt es nahe, die Argumentation als SbE mit zugehörigem Metaargument und anschließendem Analogieargument zu rekonstruieren. Was auf diese Weise verloren geht – und darin liegt der Bezug zur Diskussion um den Interventionismus – sind die konkreten Vorzüge, die Galilei an seiner Erklärung sieht. Dies sind gerade seine technischen Forderungen und Annahmen. So ist bisher nicht ersichtlich, dass die Kausalaussage über das Modell als Experimentalergebnis formuliert werden kann. Ebenfalls nicht abgebildet sind seine Bemühungen, das Modell durch technische Verfeinerung des Experimentes an das im Detail vielfältig Phänomen der Gezeiten anzupassen, also durch Anpassung adäquat zu machen und zuletzt die methodologische Forderung überhaupt, man solle doch den Effekt vorführen können. Mit Blick auf das Metaargument ist das experimentelle Wissen Teil des Wissensbestandes über Welt unter anderem. Stattdessen liegt es nahe, eine regionale, auf Kausalerklärungen bezogene, stärkere Gewichtung des Experimentalwissens zu versuchen, so wie es auch Galilei zu fordern scheint. Ich schlage deshalb ei33 Auf die Frage nach der Stärke der Erklärung bei damaligem Wissensstand werde ich nicht eingehen.
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3.2 Zu den folgenden Argumenten
ne Argumentrekonstruktion vor, die die technischen Annahmen und Ergebnisse explizit nennt. Sie ist näher am Text, soll aber vor allem dem kritischen Zweck dienen, die Probleme erkennbar zu machen, die bei einer experimentell gestützten Begründung bestehen. Auf den grundlegenden Fehler Galileis deutet das Zitat oben hin: Es gibt durchaus weitere technische Möglichkeiten, Massen in Bewegung zu setzen – mit einer anderen Masse allein –, also Gravitationseffekte. Er unterliegt, wohl ausgehend von dem Irrtum, mechanisches Bewegen sei die einzige Möglichkeit, Schwankungen des Wasserstandes zu erzeugen, einem Irrtum über Handlungsmöglichkeiten und überschätzt die Erklärungsstärke des eigenen Experimentalsystems bei der Reproduktion grundsätzlicher Eigenschaften der Gezeiten durch Verbesserung seines Experimentalsystems. Es ergibt sich das folgende Argument: Galileis Gezeitentheorie (P1 )
(P2 )
(P3 )
(P4 )
(K1 )
Wir können den Wasserstand in Gefäßen rhythmisch verändern, indem wir sie ungleichförmig beschleunigen. Die rhythmischen Wasserstandsveränderungen im Experiment können nicht abgestellt werden, indem die Eigenschaften des Experimentalsystems an die Erde und ihre ungleichförmige Bewegung angeglichen werden. Durch solches Angleichen werden keine Verläufe herbeigeführt, die unserem Wissen über zeitliche und quantitative Eigenschaften der Bewegung der Erde und dem Verlauf der Gezeiten widersprechen. Wir können mit keiner anderen Technik rhythmische Wasserstandsänderungen herbeiführen und den Verlauf zu einem adäquaten Experimentalmodell der Gezeiten machen. Also werden die Gezeiten verursacht durch eine ungleichförmige Beschleunigung der Erde.
Zu (P1 ): Die erste Prämisse nennt das experimentelle Ergebnis. Es ist zu beachten, dass hier das Handlungswissen gleich invari-
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3 Vorüberlegungen
ant zu konkreten Gefäßen formuliert ist. Es wird also behauptet, dass das Ergebnis für Barken, Eimer, Gläser usw. gleichermaßen gilt. Galileis »Veröffentlichung« seiner »experimentellen Studie« erfüllt dabei selbstverständlich nicht heutige Standards. Dass er aber beansprucht, ein derart generalisiertes Experimentalergebnis erzielt zu haben, kann hingegen den obigen Zitaten entnommen werden. Da die Beschreibung des Experimentalergebnisses in dieser Form nicht auf die Gegenstände eines tatsächlich durchgeführten Experimentes verweisen kann – es ist dafür zu generell formuliert – ist nicht ausgeschlossen, dass ein Irrtum über die Reichweite des verfügbaren Handlungswissens besteht. Im Zweifelsfall müsste man das Ergebnis bezogen auf die wirklich durchgeführten Experimente formulieren oder beurteilen, ob die Generalisierung tatsächlich zulässig ist. Zu (P2 ): Bei der zweiten Prämisse denke man etwa an Maßstabsveränderungen: Eine schrittweise Vergrößerung des Experimentes etwa darf nicht dazu führen, dass das Wasser nicht mehr hin und her schwappt. Galileis Hinweis auf einen Apparat, der beide Rotationsbewegungen gemeinsam zu simulieren erlaubt34 , dient so rekonstruiert genau dem Zweck, (P2 ) zu belegen. Dass er dem Leser eine Zeichnung oder Details vorenthält, deutet dabei auf ein bestehendes Erkenntnisproblem bei der Adäquatheitskontrolle von Modellen hin, das später im Kapitel zur Physik diskutiert werden soll: Es dürften technische Grenzen der Aggregation des Wasser- und des Rotationsexperimentes bestehen. Gelingt ihm die Konstruktion dieses Apparates selbst nicht, dann könnte er auf Grund einer technischen Grenze allerdings zwei Apparate erstellen, die getrennt Umstände auf kausale Relevanz testen. Zu (P3 ): Für die dritte Prämisse argumentiert Galilei ausgiebig. Es sei z.B. ein Fakt, dass im Roten Meer kaum Wasserstandsveränderungen zu beobachten seien. Allerdings sei es von Nord nach Süd gestreckt, damit schmaler als das Mittelmeer in Bewegungsrichtung der Erde (Ost-West) und nachweislich die Wasserstandsveränderung im veränderten Experiment quantitativ von der Länge der Behältnisse in Bewegungsrichtung abhängig.35 Das Berücksichtigen weiterer Nebenursachen kann ihm zufolge die Ver34
Siehe Galilei: Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme, S. 449 f. und Anmerkung 10. 35 Siehe ebd., S. 453.
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3.2 Zu den folgenden Argumenten
läufe an die realen, sehr komplexen Gezeitenphänomene angleichen.36 Galilei selbst argumentiert auch gegen andere Erklärungen der Gezeiten mit Verstößen gegen (deren) Prämisse (P3 ). So folgten etwa aus der These, die Flutberge seien durch das Einströmen neuen Wassers verursacht, für das Mittelmeer (insbesondere bei Gibraltar) Strömungen, die nicht vorliegen.37 Er leitet dann seine eigenen Überlegungen zur Anpassung seines Experimentalsystems wie folgt ein: [Gehen] wir dazu über zu versuchen, ob die Bewegung des Behälters ihrerseits eine Wirkung hervorzubringen vermag, deren Eigentümlichkeit den beobachteten Thatsachen entspricht.38
Auch die heutigen Einwände gegen seine Erklärung beziehen sich auf (P3 ). Gerade wenn man berücksichtigt, dass Galilei eine »exakte« Erklärung geben wollte, dann kann hervorgehoben werden, dass auffällige Tatsachen über das Gezeitenphänomen nicht erklärt werden. Durch das Ausführen einer kombinierten Drehbewegung lässt sich noch kein Verlauf erzwingen, der auffälligen quantitativen und zeitlichen Details der Gezeiten entspricht (z.B. der relativen Position beider Wellenberge zum Mond und der täglichen Verschiebung um 50 Minuten). Mit Prämisse (P4 ) wird die Ursache zu einer notwendigen Ursache des Naturphänomens der Gezeiten. Galilei argumentiert im Sinne dieser Prämisse etwa mit folgender Überlegung, bei der er einer ganzen Klasse von Handlungen (eingießen) abspricht, zu einem Modell der Gezeiten ausgebaut werden zu können: Wie will man eine Art ersinnen, um neues Wasser in ein unbewegtes Gefäß einzugießen derart, daß es nur an einem bestimmten Punkte steigt, aber an keinem anderen?39
Aus heutiger Sicht kann man zwei Experimentalmodelle als korrekt für je einen der Flutberge ansehen – ein gravitatives und eines zu Fliehkräften zweier Massen, die um einen gemeinsamen 36 37 38 39
Siehe ebd., S. 495. Siehe ebd., S. 442 f. Ebd., S. 443. Ebd., S. 442 f.
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3 Vorüberlegungen
Schwerpunkt rotieren. Hinsichtlich je eines Flutberges wäre eine (P4 ) entsprechende Prämisse für eine notwendige Ursache erfüllt. Das vorgestellte Argument macht größtmöglichen Gebrauch von Annahmen technischen Wissens. Weder explizite Kausalaussagen werden genutzt noch Aussagen über Strukturähnlichkeit oder Naturgesetze. Aus dem Argument ergibt sich direkt, an welchen Experimenten die Erklärung falsifiziert werden kann: Zeige, dass sich die Experimente nicht reproduzieren oder sich das Handlungswissen nicht angemessen generalisieren lässt und damit eine Form von Irrtum über Handlungsfolgen vorliegt. Führe vor, dass entsprechende Experimente bei empirisch adäquatem Angleichen an reale Gegebenheiten scheitern. Führe vor, dass Ergebnisse des Experimentes auch nach Angleichen Eigenschaften der Gezeiten widersprechen oder die Folgen quantitativ unpassend sind. Führe vor, dass das Modell nicht alternativlos ist. Der Zweck der Gezeitentheorie Galileis ist, im Werkkontext gesehen, ein Argument für die These, dass die Erde kontinuierlich um die Sonne und die eigene Achse rotiert. Da diese These nicht anerkannt ist, sogar der vorherrschenden ptolemäischen Haltung zufolge falsch ist, scheinen (P2 ) und (P3 ) gar nicht belegbar. Einfach anzunehmen, dass die entsprechenden Erdbewegungen vorliegen und dann darzulegen, dass (mit weiteren Annahmen) eine plausible Gezeitentheorie folge, hält auch Dialoggegner Simplicio für eine schwache Argumentationsstrategie »ex suppositione«.40 Er erhebt den Einwand, dass mittels eines Argumentes, das diese Prämisse enthält, zirkulär auf die Wahrheit dieser Prämisse geschlossen werden solle. Entgegen dieser Darstellung mit einem einfachen argumentativen Fehler lässt sich Galileis durchaus vernünftige Überlegung dagegen eher wie folgt verstehen: Wenn aus einem technischen Modell eines Vorgangs nicht offensichtlich falsche Eigenschaften über das System folgen, das Erkenntnisgegenstand ist, dann stützt eine mit dem Modell erreichte, starke Erklärung eines vorliegenden Systemphänomens die These, dass diese Eigenschaften des Systems tatsächlich vorliegen. Die Gezeitentheorie dient genau in diesem Sinne einer positiven Stützung der kopernikanischen Auffassung, während andere Passagen des Dialogs der Destruktion von Argumen40
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Galilei: Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme, S. 456.
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3.2 Zu den folgenden Argumenten
ten dienen, dass diese Auffassung offensichtlich falsch ist. Galilei würde in der rhetorischen Haltung des Dialogs sicher von einem »Beweis« des Kopernikanismus sprechen. Zumindest abgeschwächt als »Plausibilisierung« scheint seine Strategie aber eine sowohl adäquate als auch legitime Argumentationsstrategie zu sein. – Wie später deutlich wird, wird diese Strategie auch mit moderneren Kausalerklärungen verfolgt. Ich werde sie deshalb dort als Galilei-Strategie bezeichnen, was aber keineswegs heißen soll, dass es sich um eine »argumentative Erfindung« Galileis handelt. Ist seine Erklärung der Gezeiten aber stark? Das Argument hat bisher keine deduktive Form. Es wäre dafür also mindestens eine Prämisse zu ergänzen. Mindestens fehlt eine Prämisse, die die Argumentationsstrategie in Form eines Wenn-dannSatzes ausdrückt – analog zum Analogieprinzip oben. Für das Argument mit den derzeitigen Prämissen könnte es unter Aufgreifen der interventionistischen Redeweisen aus dem ersten Kapitel lauten: »(P5 ) Physikalisches Modellprinzip: Wenn wir bei einem Apparat SE YE herbeiführen können, indem wir XE tun und Angleichen von SE und XE an das Zielsystem SZ und Ereignis XZ kein Mittel ist, um YE zu unterdrücken, solches Angleichen keine Verläufe zur Folge hat, die unserem Wissen über SZ und YZ widersprechen und wir mit keiner anderen Handlung X 0 an einem Apparat YE herbeiführen und den Verlauf zu einem adäquaten Modell der Entstehung von YE machen können, dann verursacht XZ YZ .« Wie verhält sich der Rekonstruktionsversuch zur Argumentationstheorie, wenn die Prämisse ergänzt wird? (P1 ) konstatiert den Sachverhalt über das Startsystem – dies entspricht (P2 ) des Analogieargument-Schemas –, während (P2 ) und (P3 ) die Strukturgleichheitsprämisse (P1 ) stützen und die Konklusion (K1 ) der des Analogieargument-Schemas entspricht. Bezüglich des Schließens auf die beste Erklärung lassen sich die drei Prämissen als solche Thesen auffassen, die in die metaargumentative Beurteilung der (relativen) Erklärungsleistung eines Schlusses auf die beste Gezeitenerklärung eingehen. (P1 ) sorgt für eine personenunabhängige Überprüfbarkeit des grundlegenden Verhältnisses, (P2 ) für Adäquatheit und Falsifizierbarkeit der Erklärung (P3 ) alleine für Konsistenz mit verfügbarem
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3 Vorüberlegungen
Hintergrundwissen. Das (implizite) Schlussprinzip könnte nun als These Galileis verstanden werden, dass Experimente und experimentelle Kriterien der von ihm vorgestellten Art in der von ihm betriebenen Wissenschaft hinreichend sind, um den Schluss auf eine Kausalaussage zu vollziehen und somit als Behauptung eines gültigen kausalen Schlussprinzips. So ließe sich die Argumentation als Angabe praktisch beweis- oder widerlegbarer Thesen einordnen, die zu dem Zweck verwendet werden können, die Erklärungsleistung einer Analogieaussage über ein Experimentalund ein Zielsystem zu beurteilen. Zwei Merkmale des Argumentes könnten Anlass dazu bieten, es bei dieser Deutung als unplausible Rekonstruktionsform zu bezeichnen: die Tatsache, dass keine relative Erklärungsstärke angenommen wird und der deduktive Charakter des Argumentes. Beide Bedenken lassen sich meines Erachtens aufheben: Zu einem Schluss auf die beste Erklärung gehört sehr wohl der Vergleich der Leistungen verschiedener Erklärungen. Im Argument ist dieser Vergleich nicht als Teil der Kausalerklärung selbst angeführt worden. Die Idee dabei ist, dass zuerst und unabhängig die Formulierung einer möglichst guten Erklärung (z.B.) in Form des obigen Argumentes vorgenommen wird und erst dann die relative Beurteilung – die hier, wie gesagt, davon abhängt, für welche Bereiche (P2 ) und (P3 ) mit welchem Präzisionsgrad als bewährt gelten können. Die Frage, ob Prämissen dieser Art tatsächlich hinreichend für einen Schluss auf eine Kausalaussage sind, kann als Diskussion um die Wahrheit und den Status des Modellprinzips (P5 ) geführt werden. So scheint klar zu sein, dass es sich bei der Prämisse nicht um eine begriffliche Wahrheit handelt. Zu schnell sollte allerdings nicht der Einwand erhoben werden, dass Galileis Erklärung – wie physikalische Erklärungen generell – doch induktiver Natur sein müsse und damit eine deduktive Rekonstruktion falsch. Beachtet werden sollte nämlich, dass die Prämissen (P2 ) (P3 ) und (P4 ) Allaussagen sind, also im experimentellen Prozess nicht vollständig werden bestätigt können. Andersfalls läge ja gerade ein technisch manipulierbares Kausalverhältnis vor. Der induktive Charakter der Erklärung könnte also gerade in den Argumenten für diese Prämissen zur Geltung kommen.
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3.2 Zu den folgenden Argumenten
Der Rekonstruktionsvorschlag scheint mir daher keiner Rekonstruktion von Galileis Erklärung in Form eines Analogieargumentes oder eines Schlusses auf die beste Erklärung zu widersprechen. Allerdings bringt er meiner Meinung nach in der Darstellung Vorteile gegenüber den Rekonstruktionsalternativen mit sich, wegen derer im Folgenden Argumente dieser und ähnlicher Art und keine Rekonstruktionen in Form von Analogieargumenten oder eines SbE vorgenommen werden: 1. Es können detaillierter diejenigen Thesen diskutiert werden, für die im Werk argumentiert wird und auf die sich (gegenwärtige) Widerlegungen beziehen. Es können damit Schwachstellen und Stärken der Argumentation besser identifiziert werden. 2. Das Argument trägt dem Umstand Rechnung, dass angeblich eine besondere Stärke im experimentellen Gehalt der Erklärung liegen soll. 3. Es wird über die explizite Formulierung des Handlungswissens ersichtlich, wo Irrtum über das verfügbare Handlungswissen bestehen könnte. 4. Es lässt sich erkennen, welcher Form die Experimente sein müssten, mit denen gegen die Erklärung argumentiert werden könnte – selbst wenn man (P1 ) akzeptiert. 5. Mittels deduktiver Formulierung mit einem Schlussprinzips kann diskutiert werden, inwiefern auch andere Erklärungen der gleichen Argumentationsstrategie folgen und plausibel sind.
3.2.3 Zur Form der kommenden Argumente Ein erstes Beispiel für die Rekonstruktion der Begründung einer Kausalaussage gemäß den hier verfolgten Zwecken ist damit an Galileis Gezeitentheorie vorgestellt worden. Gemäß der üblichen Darstellung in der Argumentationstheorie wird eine Menge an Prämissen (P1 , P2 . . . Pn ) angegeben, aus der mittels einer Schlussregel (S) auf eine Konklusion (K) geschlossen wird. Der
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3 Vorüberlegungen
Schluss wird mit einem horizontalen Strich gekennzeichnet. Gegebenenfalls werden in einem Argument mehrere Schlüsse vollzogen. Konklusionen, die später in einem Argument für einen weiteren Schluss genutzt werden, werden Zwischenkonklusionen genannt. Sollte die Konklusion nicht ausschließlich aus der letzten Zwischenkonklusion und darunter stehenden Prämissen und Schlussprinzipien gefolgert werden, dann werden die relevanten Sätze vor der Konklusion angeführt [z.B. »Also, aus (P5), (K1 ): . . . «, wenn auf den Satz aus (P5 ) und (K1 ) geschlossen wird]. Die Schlussprinzipien werden im Folgenden in zwei Situationen nicht angegeben, nämlich (1.) dann, wenn sie als hinreichend einfache und unkontroverse Regeln des umgangssprachlich vertrauten Folgerns gelten dürften. Dies ist etwa dann der Fall, wenn sie angeben, dass aus einem Wenn-dann-Satz auf den Dann-Teil geschlossen werden darf, wenn der Wenn-Teil erfüllt ist – dies war in den Argumenten im ersten Kapitel der Fall. In einem solchen Fall wird das Prinzip im vertikalen Strich durch eine Abkürzung angegeben (hier: erfüllte hinreichende Bedingung, »erfüllte hinr. Bed.«). Ein weiteres einfaches Schlussprinzip, das nicht aufgeführt wird, ist das des Kettenschlusses: Aus »Wenn A, dann B« und »Wenn B, dann C» darf »Wenn A, dann C« gefolgert werden. Die Schlussregeln enthalten Variablen, für die bei einem gültigen Argument gelten muss, dass aus begrifflichen Gründen die in den Prämissen verwendeten Ausdrücke Instanzen der mit den Variablen versehenen Ausdrücke sind. Argumentschema (P1 ) . ( .. )
... .. .
(Pn ) (S1 )
... Wenn X (P1 – Pn ), dann Y. erfüllte hinr. Bed. Y
(K1 )
Der zweite Fall, in dem eine Schlussregel nicht eigens angeführt wird, liegt vor, wenn zuvor ein Wenn-Dann-Satz explizit als spezielles Schlussprinzip eingeführt wurde.
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3.2 Zu den folgenden Argumenten
Schema mit Schlussprinzip (P1 ) . ( .. )
... .. .
(Pn )
...
(K1 )
...
Schlussprinzip Im einfachsten, oben beim Zirkeleinwand bereits dargestellten41 , Fall würde also (und wird im Folgenden) mit »interventionistisches Schlussprinzip1 « auf »Wenn wir Y herbeiführen können, indem wir X tun, dann gilt: X verursacht Y« verwiesen. Bei Galileis Gezeitenerklärung würde entsprechend im »Schlussstrich« auf Prämisse (P5 ) referiert, wenn diese zuvor eigens explizit gemacht wurde. Die Darstellung dient dann der Übersichtlichkeit und kann zudem wie folgt motiviert werden: Dem komplexen Schlussprinzip in Form eines Wenn-Dann-Satzes kommt selbst nicht die erklärende Funktion zu. Wird es als Schlussregel gekennzeichnet, dann ist jedoch klarer zu erkennen, welche (meist empirischen oder zumindest empirisch falsifizierbaren) Prämissen die Grundlage für den Schluss bilden. Damit soll aber keineswegs behauptet werden, dass das Schlussprinzip unkontrovers sei. Es ist schließlich als die These zu lesen, dass die angegebenen Prämissen hinreichend kausal erklärend sind. Vielmehr soll damit angezeigt werden, dass es hier als korrektes Schlussprinzip verstanden wird, dem Argument seine Form gibt und so die argumentative Strategie des Argumentes ausdrückt. Die Schlussprinzipien sind damit das eigentliche Ergebnis der Argumentrekonstruktionen, denn gerade sie sollen als komplexe Wenn-Dann-Sätze solche Bedingungen angeben, die in vielen Fällen (und berechtigter Weise) als hinreichend erachtet werden, um auf eine Kausalaussage zu schließen. Aus diesem Grund kann auch, wie beim Analogieschlussprinzip, die Schlussform durch das Prinzip (als Schlussregel) ausgedrückt und die Gültigkeit der Form anhand der Plausibilität des Prinzips diskutiert werden. Wie am Beispiel der Gezeitentheorie beschrieben, sehe ich die Möglichkeit, die speziellen Schlussprinzipien so an die Argumentationstheorie anzuschließen, dass sie als Sätze aufgefasst 41
Siehe oben, Seite 57.
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3 Vorüberlegungen
werden, die abstrakt Bedingungen angeben, die für gewöhnlich beim Beurteilen von Analogieargumenten in bestimmten wissenschaftlichen Disziplinen als hinreichend erachtet werden, um eine Kausalaussage als plausibel zu akzeptieren und die hinreichend die Wahrheit der entscheidenden Prämissen von Analogieargumenten stützen.
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4 Spezielle Typen kausaler Schlüsse Im Folgenden sollen an Beispielen Argumentationsschemata interventionistischer Begründungen rekonstruiert werden. So entsteht eine Typik von Schlüssen, die wesentlich von handelnd erworbenem Wissen Gebrauch machen. Ziel sind der Erkenntnispraxis in Alltag und Wissenschaft angemessene Argumentationsformen. An deren Prämissen sollen sich Dynamiken der Wissensentwicklung, Verhältnisse von Disziplinen und Erkenntnisgrenzen experimentell gestützten Argumentierens einfach nachvollziehen lassen. Der verfolgte Zweck ist der, mit den Mitteln kritischer Wissenschaftstheorie zu einem undogmatischen Verständnis legitimer wissenschaftlicher Erkenntnisansprüche beizutragen. Mit den folgenden Fallstudien soll also ein Beitrag zu der allgemeinen wissenschaftstheoretischen Frage geleistet werden, wie in verschiedenen Wissenschaften Kausalaussagen begründet werden und welche Rolle der philosophischen Reflexion der Begründungen zukommen kann. Für verschiedene exemplarische Bereiche werden zunächst typische, vorfindliche Kausalaussagen aufgeführt.1 Nach einem Blick auf typische, vorfindliche Handlungsweisen wird anschließend in Detailstudien zu ausgewählten Aussagen ein Blick auf deren tatsächliche Begründung geworfen und eine argumentative Rekonstruktion vorgenommen. Dabei wird versucht Begründungstypen in Form von Schlussprinzipien zu erstellen, die auf möglichst weite Bereiche kausaler Rede angewandt werden können. Die Überlegungen aus der Explikationsdebatte im ersten Kapitel aufnehmend ist die methodische Vorgabe dabei zunächst, zwei Fragen zu bearbeiten. Diese machen den argumentationstheoretischen Bereich des Kapitels aus: 1 Dabei formulierte, generelle Eindrücke sind meist Ergebnis einer Suche nach »caus∗ «, »kausal∗ «, »∗ ursach∗ «, »∗ wirk∗ « und »∗ effekt∗ « in digitalisierten, aktuellen Lehrbüchern.
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4 Spezielle Typen kausaler Schlüsse
A1 Welche typischen plausiblen Argumente für Kausalaussagen lassen sich unter Verwendung von Handlungswissen in der jeweiligen Wissenschaft rekonstruieren und welche argumentative Rolle genau kommt dem Wissen dabei zu? A2 Welche Prämissen bei den Begründungen lassen sich gerade nicht technisch einlösen und in welchem Verhältnis stehen sie wiederum zu explizit technischen Begründungen oder weiteren Annahmen über Handlungswissen? Um Missverständnisse zu vermeiden sei angemerkt, dass eine bestimmte Darstellungsweise wissenschaftlicher Erkenntnis damit aus dem Blick gerät, nämlich die eines Wechselspiels von Theorie und Experiment. Dieser Darstellung nach werden ausgehend von Grundgesetzen einer Wissenschaft Experimente designt und die Gesetze werden so einem indirekten Test auf Bewährung unterzogen.2 Diese theoretische Architektur der Wissenschaftsgebiete und das vernünftige Entwerfen von Experimenten spielt im Folgenden eine untergeordnete Rolle. Es wird also nicht darum gehen, warum dieses und genau dieses Experiment durchgeführt wird und welche Rolle ihm für die Theoriebildung zukommt. Eine »induktive« Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnis wird damit keinesfalls einer deduktiven gegenübergestellt. Es lediglich darum, wie – sofern ein Experiment bereits durchgeführt wurde – damit Kausalaussagen gerechtfertigt können, nicht hingegen um die Frage, wie Zwecke und Theorien zur Durchführung von Experimenten anleiten können. Ziel des Kapitels ist also weder eine allgemeine Theorie der Kausalität noch eine spezielle Wissenschaftstheorie des jeweiligen Fachs. Vielmehr soll ein Beitrag zum wissenschaftstheoretischen Teilgebiet der speziellen Theorie des kausalen Schließens mit Konzentration auf manipulativ gestütztes Schließen. Schließlich soll die rekonstruktive Arbeit mit diesem technischen Blick zur Beantwortung von drei wissenschaftstheoretischen Fragen genutzt werden.
2
Mit Bezug zur Physik siehe Tetens: Experimentelle Erfahrung. Für die Psychologie siehe Dirk Hartmann: Naturwissenschaftliche Theorien. Wissenschaftstheoretische Grundlagen am Beispiel der Psychologie, Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: BI-Wissenschafts-Verlag, 1993.
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4.0 Spezielle Typen kausaler Schlüsse
B1 Auf welche Begründungsprobleme lässt sich mit den rekonstruierten Begründungsformen aufmerksam machen? B2 Gibt es nach Wissensgebieten unterscheidbare Unterschiede in den Begründungen und gibt es fachübergreifend wiederkehrende argumentative Muster? B3 Gibt es innerfachliche, interdisziplinäre oder wissenschaftstheoretische Diskurse und Dispute, die sich auf diese Weise gut darstellen, moderieren oder sogar lösen lassen? Zwei Bemerkungen sollen noch zu Themen vorweggestellt werden, die im Folgenden nicht diskutiert werden: Keine Bedeutung wird dem Kausalprinzip (»Jedes Ereignis hat eine Ursache«) zukommen. Hier sympathisiere ich mit der Auffassung, dass das Prinzip wissenschaftlich nicht relevant ist. Behauptet wird aber (in kantischem Stil) immer wieder, dass mit dem kausalen Erklären der Naturwissenschaften bereits vorausgesetzt sei, dass alles eine Ursache habe.3 Argumentativ könnte das heißen, dass das Prinzip stets als Prämisse in Kausalerklärungen eingeht. Wie solche Argumente aussehen sollen, ist mir unklar. Ein argumentativer Ort des Prinzips scheint eher dort zu sein, wo jemand behauptet herausgefunden zu haben, dass ein Ereignis unverursacht sei. Plausibler scheint mir zu sein, dass Wissenschaften versuchen, Ereignisse kausal zu erklären – aber deshalb nicht im Sinne einer Prämisse vom Kausalprinzip »ausgehen« (es »voraussetzen«), sondern dass sich ihre Erklärungspraxis so beschreiben lässt, als folge sie der Maxime: Gib zu jedem Ereignis deines Gegenstandsgebietes eine kausale Erklärung! Wie auch immer es um diese Auffassung steht – die Rekonstruktion von Kausalerklärungen scheint ohne das Kausalprinzip auszukommen und deshalb wird es hier nicht weiter diskutiert. 3
Stellvertretend diagnostiziert etwa Illies der Evolutionstheorie, »dass die Wirklichkeit streng kausal geordnet« sei (Christian Illies: Biologie statt Philosophie? Evolu-
tionäre Kulturerklärungen und ihre Grenzen, in: Volker Gerhardt/Julian NidaRümelin (Hrsg.): Evolution in Natur und Kultur, Berlin: de Gruyter, 2010, S. 15–38, hier S. 34). Auch generell gelte: »Science starts from the assumption that we find (causal) order or intelligibility in the world – thus the principle of sufficient reason« (ders.: Darwin’s Apriori Insight. The Structure and the Status of the Principle of Natural Selection, in: Vittorio Hösle/Christian Illies (Hrsg.): Darwinism and Philosophy, Notre Dame: University of Notre Dame Press, 2005, S. 58–82, hier S. 61).
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4 Spezielle Typen kausaler Schlüsse
Zudem werde ich nicht gesondert auf Computersimulationen eingehen – auch wenn ihnen immer größere Bedeutung zukommt. Auch bei solchen Simulationen wird experimentiert, wobei eine unverkürzte Darstellung wohl nur möglich ist, wenn man als Handlungsgegenstände den Computer mit der programmierten Software und als Handlungsfolge dessen Ausgabe begreift. Dieses Thema müsste aber umfangreicher ausgearbeitet werden.
4.1 Physik Im Folgenden soll exemplarisch gezeigt werden, wie unter Verwendung experimentellen Wissens plausibel auf physikalische Kausalaussagen geschlossen werden kann (Fragebereich A). Die Leistungsfähigkeit der rekonstruierten Argumente für die Diskussion spezifischer Erkenntnisprobleme soll dabei belegt werden (Fragebereich B). Es soll also argumentativ dargestellt werden, wie kausale Erkenntnis in der Physik gewonnen kann und es soll gezeigt werden, dass die Darstellung kritische Diskussion ermöglicht. Der wissenschaftstheoretische Nutzen kann in der Kritik einzelner Erklärungen bestehen, aber auch in einem Beitrag zum Thema »Kausalität in der Physik« generell. Ein wichtiges Thema ist durch die obigen Beispiele aus der Interventionismusdebatte vorgegeben: Es muss diskutiert werden, in welchem Verhältnis experimentelle Praxis zu Aussagen steht, deren Gegenstände sich nicht im Labor beherrschen lassen. Im besten Fall lässt sich zeigen, dass Begründungsrekonstruktionen mit manipulativem Wissen als Prämisse etwas zur kritischen Analyse der Geltung dieser Aussagen beisteuern können. Der universelle Geltungsanspruch der Physik mit präzisen, quantitativen Aussagen zusammen mit der umfangreichen Laborpraxis bieten dabei eine spannungsreiche Ausgangslage für Probleme des Übertragens von Erkenntnissen aus dem Labor auf reale Vorgänge. Laborphänomene sind aufwändig konstruiert und auf diese Weise in der Natur häufig so nicht anzutreffen. Die Natur ist komplex, das Labor hingegen isoliert und die eigentlichen Erklärungsgegenstände je nach Gebiet zu heiß, zu groß, zu klein oder zu schnell, um sie in das Labor zu holen.
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4.1 Physik
Ein bekanntes Thema aus der Wissenschaftstheorie der Physik bietet sich zur besonderen Berücksichtigung für den zweiten Fragebereich an. Im Gegensatz zu der Intuition, dass Physik als exakte Naturwissenschaft schlechthin auch der Ort von Kausalität schlechthin ist, wird nämlich bei kaum einer anderen Wissenschaft so nachdrücklich von Philosophen bestritten, dass sie überhaupt kausale Erklärungen gebe. Wenn dies doch geschehe, so die klassische These von Bertrand Russell, dann deute dies auf einen noch nicht entwickelten Bereich der Wissenschaft.4 Die Erkenntnis der (in logischer Hinsicht asymmetrischen) Kausalverhältnisse werde zunehmend und zurecht durch die Erkenntnis (in logischer Hinsicht symmetrischer) funktionaler Verhältnisse in mathematischen Formeln ersetzt. Diese These Russells lässt sich nicht rein empirisch durch Zählen von Ausdrücken in Publikationen beweisen oder widerlegen. Es kommt schließlich auch darauf an, wie man die nachweisbare kausale Rede gewichtet und beurteilt – inwiefern man sie für reduzierbar und für verzichtbares rhetorisches Beiwerk hält. Es muss also noch wissenschaftstheoretisch Stellung zu der Tatsache genommen werden, dass in aktuellen physikalischen Lehrbüchern nachweislich reichlich von (Wechsel-)Wirkungen, Ursachen und Kausalität gesprochen wird.5 Ich gehe hier davon aus, dass die Russell-These zumindest in dem Sinne falsch ist, dass kausale Rede in der Physik verbreitet und auch nicht absehbar ist, inwiefern sie sich aus der Physik entfernen ließe.6 Je plausibler die rekonstruierten, interven4
Russell: On the Notion of Cause. Erhard Scheibe: Die Philosophie der Physiker, München: C.H. Beck, 2006, S. 216, weist darauf hin, dass Ernst Mach diese Position schon 1905 formulierte. 5 So gibt es etwa insgesamt 40 Treffer für »*ursach*« und »*kausal*«, und nochmals etwa 130 Treffer für »*wirkung*« in einem Lehrbuch wie Wolfgang Demtröder: Experimentalphysik 1. Mechanik und Wärme, 7. Aufl., Bd. 1 (Experimentalphysik), Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum, 2015. Ähnliche Zahlen in Peter Hertel: Theoretische Physik, Berlin, Heidelberg: Springer, 2007, etwas weniger, dafür aber zusätzlich eine explizite Thematisierung von »Kausalität« bei Helmut Günther: Die Spezielle Relativitätstheorie. Einsteins Welt in einer neuen Axiomatik, Wiesbaden: Springer, 2013. 6 Die wissenschaftstheoretische letzte These vertritt Mathias Frisch in einer Reihe von Aufsätzen (z.B. Mathias Frisch: Kausalität in der Physik, in: Philosophie der Physik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2012, S. 411–426, zuletzt ders.: Physics and the Human Face of Causation, in: Topoi 2014, S. 407–419). Alleine ein »Causal-Set Approach« als (zumindest diskutabler) Theorie der Quantengravitation solle
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4 Spezielle Typen kausaler Schlüsse
tionistischen Argumente, desto besser lässt sich die These vertreten, dass (zumindest Teile von) Erklärungen der Physik in nachvollziehbarer Weise als kausal bezeichnet werden können. Angesichts der Russell-These wird in diesem Kapitel daher auch, als Beitrag zum Fragebereich B, das Verhältnis von Funktionen zu kausalen Aussagen in den Blick genommen. Die folgende Liste führt repräsentative Aussagen mit kausalen Ausdrücken an. Sie soll einen Eindruck davon geben, was für unterschiedliche Kausalaussagen es in der Physik gibt und somit auch klar machen, was letztlich Gegenstand dieses Kapitels über kausales Schließen in der Physik ist: Beispiel II.24: Ostabweichung »Da cos φ stets positiv ist, bewirkt die Erdrotation (ω 6= 0) auf beiden Erdhalbkugeln eine Ostabweichung.«7 Beispiel II.25: Phasenunterschied »Der Wegunterschied zwischen benachbarten Teilwellen ist ∆s = D · sinθ. Er verursacht einen Phasenunterschied 2π ∆ϕ = 2π λ δs = λ d · sin θ
zwischen benachbarten Teilwellen.«8
Beispiel II.26: Präzession »Die Präzession der Kreiselachse mit Ω wird durch die Rotation der Erde mit der Winkelgeschwindigkeit ω verursacht.«9
Beispiel II.27: Blitz »[Es dauert] nur wenige Sekunden, bis der vom Blitz verursachte Abbau der Spannungsdifferenz durch Luftströmungen wieder regeneriert.«10
Beispiel II.28: Raumkrümmung »Der Grund [für die experimentell beobachtete Lichtablenkung] ist, daß die Masse der Sonne eine erst durch
hinsichtlich der Verzichtbarkeit des Ursachenbegriffs vorsichtig stimmen (siehe Frisch: Physics and the Human Face of Causation, S. 410, Fn. 3). Siehe auch Karen R. Zwier: An Epistemology of Causal Inference from Experiment, in: Philosophy of Science 80.5 (2013), S. 660–671, URL: http://search.ebscohost.com/login.aspx? direct=true&db=aph&AN=93642195&site=ehost-live. 7 Wolfgang Nolting: Theoretische Physik. Klassische Mechanik, 10. Aufl., Bd. 1, Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum, 2013, S. 406. 8 Wolfgang Demtröder: Experimentalphysik 2. Elektrizität und Optik, 7. Aufl., Bd. 1 (Experimentalphysik), Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum, 2013, S. 320. Ähnlich ebd., S. 6, wo durch eine Ladung bewirkte Kraft funktional dargestellt wird. 9 Torsten Fließbach: Allgemeine Relativitätstheorie, 6. Aufl., Berlin [u.a.]: Springer, 2012, S. 170. 10 Demtröder: Experimentalphysik 2, S. 36.
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4.1 Physik
die ART erklärbare Krümmung der Raum-Zeit in der Umgebung der Sonne bewirkt, die zu einer zusätzlichen Ablenkung führt.«11
Beispiel II.29: Kontraktion und Dilatation »[Um der Unmöglichkeit zu entkommen, keine Ursachen dieser Prozesse angeben zu können], wollen wir von der Vermutung ausgehen, dass die Ursachen für die Längenkontraktion und die Zeitdilatation bereits in der Struktur unseres physikalischen Vakuums angelegt sind.«12
Beispiel II.30: Signalstörung »[S]purious features [are] originating from [. . . ] anomalous signals caused by particles depositing energy in the silicon avalanche.«13
Beispiel II.31: Entropie »Die Entropie S eines geschlossenen Systems ändert sich infolge zweier verschiedener Ursachen: durch den an Wärme gekoppelten Transport von Entropie über die Systemgrenze und die Erzeugung von Entropie durch irreversible Prozesse im Systeminneren.«14 Beispiel II.32: Lichtgeschwindigkeit Lichtgeschwindigkeit c ist »die maximale Geschwindigkeit, mit der sich irgendeine Wirkung ausbreiten kann«.15
Beispiel II.33: Aufgabe der Physik »Nun beobachten wir überall in unserer Umgebung Änderungen in den Bewegungszuständen gewisser Körper, ohne dass unsere Muskeln direkten Einfluss hätten. Ihre Ursache sehen wir ebenfalls in Kräften, welche in gleicher Weise wie unsere Muskeln auf die Körper einwirken. Die Erforschung der Natur solcher Kräfte stellt eine zentrale Aufgabe der Physik dar.«16 Beispiel II.34: Elektrostatik »Die Elektrostatik behandelt Phänomene, die durch ruhende elektrische Ladungen verursacht werden.«17
11
Eckhard Rebhan: Theoretische Physik. Relativitätstheorie und Kosmologie, Heidelberg [u.a.]: Spektrum Akademischer Verlag, 2012, S. 92. Fließbach diskutiert zudem »Effekte der Krümmung« (Fließbach: Allgemeine Relativitätstheorie, S. 304). 12 Günther: Die Spezielle Relativitätstheorie, S. 300. 13 S. Chatrchyan u. a.: Observation of a new boson at a mass of 125 GeV with the CMS experiment at the LHC, in: Physics Letters B 716.1 (2012), S. 30–61, URL: http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0370269312008581, hier S. 32. 14 Hans Dieter Baehr/Stephan Kabelac: Thermodynamik. Grundlagen und technische Anwendungen, 15. Aufl., Berlin, Heidelberg: Springer, 2012, S. 101. 15 Torsten Fließbach: Mechanik. Lehrbuch zur Theoretischen Physik, 7. Aufl., Bd. 1, Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum, 2015, S. 306. 16 Nolting: Theoretische Physik, S. 173. Man denke auch an die Übersetzung der »viribus impressis« aus dem ersten Newtonschen Gesetz als »einwirkende Kräfte«. 17 Demtröder: Experimentalphysik 2, S. 2.
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4 Spezielle Typen kausaler Schlüsse
Zu dieser Liste von Aussagen einige Beobachtungen: In der Physik wird häufig das Ausmaß einer Wirkung quantitativ durch eine Funktion mit physikalischen Größen formuliert (Beispiel II.24, Beispiel II.25). Als Ursachen werden diejenigen Größen von Ereignissen und Ereignistypen (»Rotation mit ω«) bezeichnet, aus denen nach einer Funktion die Größe einer anderen Variablen mathematisch folgt. In Einzelerklärungen wird häufig das Ausmaß einer Wirkung abhängig von physikalischen Größen funktional dargestellt (Beispiel II.25). Ereignisse und Objekte der Apparatumgebung werden als störende Ursachen von abweichenden Messergebnissen angegeben (Beispiel II.30). Mit manchen Aussagen werden ganze Teilgebiete der Physik kausal charakterisiert (Beispiel II.34 zur Elektrostatik). Für jede einzelne Erklärung der so charakterisierten Disziplin impliziert das, dass sie sich als explizite Kausalerklärung darstellen lässt. In dieser Hinsicht sind solche aufgeführten Beispiele also meta-explanative Aussagen (so auch Beispiel II.32 zur Lichtgeschwindigkeit). Typisch für die Physik ist zudem in der Tat das Einbringen von mikrophysikalischen Objekten in Beschreibungen von Handlungen (Beispiel II.30). Auch Hackings berühmter Satz »If you can spray them, then they are real«18 nennt als Handlungsgegenstände Elektronen, die versprüht werden. Wer von einem »Teilchendetektor« spricht, deutet an, dass die Handlungsfolgen der entsprechenden Experimente erzeugte Teilchen sind. Weit verbreitet ist die Rede von Wechselwirkungen. Was sollten die aber sein, wenn nicht spezielle Kausalverhältnisse, die sich durch Aussagen über Ursachen und Wirkungen ausdrücken lassen? In grundlegenden Überlegungen zur Physik finden sich zudem auch explizit kausale Aussagen in Form von Prinzipien wie »Nichts geschieht ohne Ursache«, die etwa zur Herleitung von Erhaltungssätzen genutzt werden.19
18
Hacking: Representing and Intervening, S. 24. Für drei Beispiele (Mayer, Helmholtz, Mach) siehe Tetens: Experimentelle Erfahrung, S. 143 f.
19
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4.1 Physik
4.1.1 Physikalische Argumente Nun sollen Argumente rekonstruiert und diskutiert werden. Dabei gilt die methodische Vorgabe dieser Arbeit, dass die Argumente wesentlich Handlungswissen beinhalten sollen. Verschiedene Tätigkeiten von Physikern stehen als mögliche argumentative Ausgangspunkte zur Verfügung. Das systematische Experimentieren gehört spätestens seit dem Entstehen der neuzeitlichen Physik im 17. Jahrhundert zum zentralen Methodenarsenal. Die Erklärungsansprüche der Physik gehen hingegen seit jeher weit über das Labor hinaus. Dabei werden systematisch Anfangsbedingungen von Verläufen variiert und dann quantitativ Veränderungen und zeitliche Verläufe aufgezeichnet. Die Manipulationen und Messungen der Handlungsfolgen finden selbst instrumentell und computergestützt statt. Der technische Aufwand nimmt dabei zu – so sehr, dass Versuchsaufbauten teilweise nur noch arbeitsteilig herstellt werden können und nur noch für Spezialisten nachvollziehbar sind. Während früher noch per Hand losgelassen, angeschoben, geworfen, gezogen wurde usw., wird heute stattdessen meist nur ein Knopf gedrückt oder eine Softwareeingabe gemacht, als deren Folge dann das frühere direkte Handlungsergebnis steht.20 Die Veränderungen auf mikrophysikalischer »Ebene« werden aus dem Verhalten von Messgeräten erschlossen und sind nicht direkt beobachtbar.21 Fallexperiment Bei einem Fallexperiment wird die Falldauer für eine bestimmte Strecke als Folge des Loslassens für verschiedene Objekte und Randbedingungen quantitativ bestimmt. Die mathematische Bestimmung der Geschwindigkeitsveränderung ergibt eine mit einem bestimmten Wert beschleunigte Bewegung des Objektes als Folge des Loslassens. Als frei gilt der Fall, bei dem alleine die Gravitationskraft der Erde auf das fallende Objekt wirkt. Die Kau20
Für eine schematische Darstellung siehe Holm Tetens: Das Labor als Grenze der exakten Naturforschung, in: Philosophia Naturalis 43 (2006), S. 31–48, hier S. 32 ff. 21 Zu der Auseinandersetzung zwischen Positivisten und Realisten, festgemacht an Ernst Mach und Max Planck, die gerade von diesem Umstand ihren Ausgang nimmt, siehe Scheibe: Die Philosophie der Physiker, S. 51 ff.
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salaussage über den Freien Fall gibt einen je nach Lage auf der Erde einen relativ konstanten Wirkungsfaktor der Erdanziehung, die Fallbeschleunigung g ≈ 9, 8 sm2 , an. In theoretischer Hinsicht ist dieser Wert insofern von Bedeutung, als er nicht nur als »irdische« Konstante in Gleichungen für alle Objekte mit Masse auf der Erde eingeht, sondern dass sich dieser Wert selbst aus den Massenverhältnissen zu dem beteiligten Erdkörper und der universellen Gravitationskonstante aus dem Newton’schen Gravitationsgesetz herleiten lässt. Insofern kommt dem Experiment eine große Bedeutung im weiteren theoretischen Rahmen der Physik zu. Eine Kausalaussage über frei fallende Objekte kann aber davon unabhängig begründet werden. Auf Experimentalsysteme bezogen ist eine quantitative Aussage über den Freien Fall also gerade eine Aussage, die für eine bestimmte Handlung, besser gesagt ein Handlungsschema (Loslassen eines Gegenstandes auf der Erde), eine Handlungsfolge mit stets gleichem Ausmaß (die mit g ≈ 9, 8 sm2 beschleunigte Bewegung) angibt, sofern das Fallmedium, magnetische Einflüsse usw. so weit wie möglich entfernt wurde. Die Entfernung des Mediums, heutzutage vor allem durch Vakuumpumpen, ist insofern hier von Bedeutung, als wiederum die kausale Beschreibung des Mediums als »kausaler Umwelteinfluss« usw. ersetzt werden kann durch die Rede von einer technischen Methode zur Steuerung von Fallbewegungen: Man denke hier an den Fall in Luft, Wasser und Öl im Vergleich. Selbstverständlich gibt es diverse solcher Steuerungsmethoden, von denen manche durch die Handlungsbeschreibung »Fallenlassen« ausgeschlossen sind (ein Antrieb etwa müsste gestartet oder gezündet werden) und andere hingegen (magnetische Wirkung der Apparatmaterialien, Turbulenzen im [Rest-]Medium) zusätzlich zum Medium selbst ausgeschlossen werden müssen. In die Start- und Randbedingungen von Experimenten zum Freien Fall geht also selbst Handlungswissen ein. Eine einfache Überlegung macht das klar: Wer es sich (warum auch immer) zum Zweck macht, dass sich eine Feder im Fallturm nach dem Loslassen auf eine bestimmte Weise bewegt, der kann eine zusätzliche, leichte Luftbewegung, Metallteilchen und Magneten als Mittel einsetzen, Luft nicht vollständig evakuieren usw. Störfaktoren
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sind in diesem Fall also technisch gesehen Methoden, mit denen zusätzlich zum bloßen Loslassen Bewegungen beschleunigt und verzögert werden können.22 In einfachster Form lautet das Argument: Fallexperiment (P1 )
(K1 )
Wir können eine mit ca. 9,8 sm2 beschleunigte Fallbewegung beliebiger Objekte herbeiführen, indem wir sie bei reduziertem Luftwiderstand und ohne mechanische oder magnetische Ablenkung des Fallkörpers auf der Erde loslassen. Interventionistisches Prinzip1 Das Loslassen eines Objektes unter den genannten Bedingungen verursacht bei jedem Objekt auf der Erde eine mit ca. 9,8 sm2 beschleunigte Fallbewegung.
(P1 ) nennt ein quantitatives Experimentalergebnis. Dass von »beliebigen Objekten« gesprochen wird, zeigt an, dass das Ergebnis sich auf eine ganze Versuchsreihe bezieht und unabhängig von den verwendeten Gegenständen gelten soll. Beliebig sind die Gegenstände, weil die Handlungsfolge für alle Objekte, die überhaupt im Versuch testbar sind, gleich ist. Grundsätzlich ist die durchgeführte Veränderung des Apparates, deren Folge beobachtet wird, das Freigeben des Objektes. Die räumliche Lage wird zeitlich registriert und über zeitliche Ableitungen die Geschwindigkeitsveränderung bestimmt. Diese erweist sich nach weiteren Variationen mit 9,8 sm2 als Maß einer experimentellen Invariante23 von Beschleunigungswirkung bei Fallversuchen auf der Erde. Dieses Maß ist – bei genauerer Angabe – relativ zu verschiedenen Orten der Erde geringfügig variabel. Das Ergebnis 22 In der konstruktiven, bzw. kulturalistischen, Wissenschaftstheorie wird dies praktisch gerechtfertigt: »Störungsvermeidung soll gerade den Widerfahrnischarakter von
Handlungsfolgen umwandeln in die Sicherheit von Leistungen, die durch die Ausübung von Fähigkeiten erbracht werden. Die geforderten Invarianzen – bezüglich Zeit, Ort, Person und Geräten – ergeben sich daraus, daß nicht individuelle Handlungsweisen, sondern Praxen gestützt werden sollen, also schematisierte und personeninvariant aktualisierbare Handlungszusammenhänge.« (Lange: Vom Können zum Erkennen, S. 188) 23
Zum diesem Begriff siehe Tetens: Experimentelle Erfahrung, S. 24.
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ist relativ zu bestimmten Handlungsbedingungen formuliert. Gemeint sind also Generalisierungen von Bedingungen der tatsächlich durchgeführten Versuche. Mit »mechanisch« sind Wirkungen wie sichtbare Stöße an die Wände eines schwankenden Fallturms oder Ähnliches gemeint.24 Den angeführten Bedingungen gemeinsam ist, dass sie selbst Mittel sind, um Fallbewegungen zu steuern: Stoßen, Luftwiderstand erhöhen, ein Magnetfeld erzeugen usw. Charakteristisch für den (näherungsweise realisierten) Freien Fall ist, dass für viele Objekte gerade nicht mehr getan werden muss, als sie zum Fall freizugeben und dass durch eine typische Steuerungsmöglichkeit von Fallgeschwindigkeiten im Alltag – nämlich die Wahl der Form des Objektes – im Vakuum die Handlungsfolge nicht verändert werden kann. Man sagt: In luftevakuierten Räumen ist die Handlungsfolge mit dem spezifischen Ausmaß zunehmend nicht mehr von der Form des fallenden Objektes abhängig. Die kausale Bedeutung dieses »abhängig« ist nun deutlich zu erkennen. Mit der Relativierung der Kausalaussage auf die Experimentalbedingungen ist allerdings einer für die Physik typischen Formulierung hinsichtlich idealer Versuchsbedingungen nicht Rechnung getragen. Das Ausmaß von Wirkungen soll schließlich häufig »für den Idealfall« angegeben werden. Deutlich wird dies bei Experimenten zu Erhaltungssätzen. Letztlich soll ein Stoßexperiment zum Energieerhaltungssatz doch die tatsächliche Erhaltung der Energie demonstrieren. Um für solche idealen »Wirkungsausmaße« in Kausalaussagen mit Experimentalergebnissen zu argumentieren, muss also mindestens eine weitere Prämisse ergänzt werden. Dies kann, entsprechend der Vorgaben zur interventionistischen Form der rekonstruierten Argumente, durch eine weitere technische Annahme über experimentelle Handlungen begründet werden, nämlich dann, wenn zusätzlich zum experimentellen Ergebnis angenommen wird, dass sich Abweichungen von einem bestimmten Ausmaß einer Handlungsfolge durch Verbesserung der Experimentalbedingung beseitigen lassen. Man stelle sich im Folgenden also eine Experimentreihe, etwa wie früher in einem Bergwerksschacht, vor, bei der die Ergebnisse bei verschiedenen 24
Um solche zu vermeiden, ist beispielsweise der Bremer Fallturm eine freistehende Röhre in einer Röhre.
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Fallkörpern auseinanderfallen, also relativ zur Form des Probekörpers eine Abweichung nachgewiesen wird. Mit der Strategie des obigen Argumentes – seiner Form – ließe sich keine generelle Aussage über einen idealen Fall begründen, sondern lediglich Kausalaussagen über die verschiedenen fallenden Körpertypen.25 Es kann also eine Annahme einer verbesserten Erfüllung der Versuchsbedingungen hinzugefügt werden. So wird allerdings auch ein entsprechend ergänztes Schlussprinzip nötig – womit sich dann ein Schluss nach einem neue interventionistischen Schlussschema ergibt: Freier Fall (P1 )
(P2 )
(S1 )
(K1 )
Wir können Objekte mit einer formabhängigen Abweichung von ±0, 2 mit ca. 9, 8 sm2 beschleunigen, indem wir sie bei reduziertem Luftwiderstand und ohne mechanische oder magnetische Ablenkung des Fallkörpers auf der Erde loslassen. Wir können uns an einen objektunabhängigen Beschleunigungswert von ca. 9,8 sm2 annähern, indem wir Luftwiderstand und mechanische oder magnetische Ablenkung weiter beseitigen. Prinzip idealer Bedingungen: Wenn wir Y mit dem Ausmaß A herbeiführen können, indem wir unter reduzierten Störeinflüssen S X tun und wir A an Ausmaß A0 annähern können, indem wir S weiter reduzieren, dann verursacht X unter Abwesenheit von S Y mit dem Ausmaß A0 . Das Loslassen beliebiger Objekte auf der Erde verursacht in Abwesenheit der genannten Einflüsse eine mit ca. 9,8 sm2 beschleunigte Fallbewegung.
(P2 ) ist offenbar nicht falsifizierbar, lediglich für einen bestimmten Wertbereich experimentell verifizierbar, aber kann sich zunehmend bewähren. Auf weitere Abweichungen kann stets mit 25
Hieraus lässt sich ein weiterer Beispiel für den Relativismuseinwand (s.o., Seite 78) erzeugen. Das folgende Argument wäre dann der explanatorische (nicht explikative) Kommentar zum Problem.
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der Annahme reagiert werden, dass im Rahmen weiterer technischer Verbesserung des Experimentes (z.B. einer besseren Pumpe) die Prämisse weiter bestätigt werden kann. (K1 ): Ist ein Fall unter vollständig beseitigten Störeinflüssen ein »Freier Fall«, dann gilt der angegebene Beschleunigungswert für den Freien Fall von Objekten auf der Erde unabhängig von ihrer Form.26 Das Beispiel zum Freien Fall zeigt exemplarisch die Begründung einer quantitativen physikalischen Kausalaussage für ein Verhältnis unter idealen Bedingungen mittels einer experimentellen Aussage und einer Aussage über die Verbesserung der Experimentalbedingungen. Damit ist gezeigt, dass sich die grundlegenden Überlegungen zum kausalen Schließen im Interventionismus zu einem Argument erweitern lassen, das Eigenheiten physikalischer Aussagen wie zum Beispielen deren »idealsiertem Gehalt« gerecht wird. Sonnenfinsternisse Physikalisch werden nicht nur Aussagen über Laborsituationen aufgestellt, sondern auch Phänomene und Sachverhalte außerhalb des Labors erklärt. Die Aussagen über Fallbeschleunigung auf der Erde sollen ja ebenfalls letztlich für Objekte gelten, die nicht ins Labor geholt werden können. Wie sehen interventionistische Schlüsse in solchen Fällen aus? Galileis Gezeitenerklärung war ein erstes Beispiel. Auch Sonnenfinsternisse sind Naturphänomene und sie sind ebenfalls deskriptiv zugänglich (Berichte, Fotos, Videos, Messdaten). Also ist eine ähnliche Lage wie bei den Gezeiten zu erwarten. Von einer generellen Erklärung von Sonnenfinsternissen erwarten wir ebenso, dass sie den Ereignissen, die tatsächlich stattfanden und Daten über sie nicht widersprechen, also unserem (gewissermaßen auch zukünftigen) Hintergrundwissen in historischer und deskriptiver Hinsicht.
26
Theoretische Gründe dafür, vorab auf die Unabhängigkeit der Ergebnisse von bestimmten Einflüssen abzustellen (also im Experimentdesign etwa gerade die Unabhängigkeit vom Medium zu etablieren) und so auch gewünschte von störenden Einflüssen zu unterscheiden, sollen hier nicht diskutiert werden.
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Die Erklärung der Sonnenfinsternis ist unkontrovers. Es gibt keine alternativen Erklärungen abseits von mythischen Erzählungen. Dennoch können Sonnenfinsternisse stellvertretend als Anschauungsobjekt dienen, denn Wissen um ihre Ursache scheint eine Sache der bloßen Beobachtung zu sein. Lässt sich hier dennoch eine explizite und plausible Erklärung rekonstruieren, die technische Annahmen verwendet? Ist also eine interventionistische Begründung dennoch nicht ausgeschlossen? Anzunehmen, dass Handlungswissen für eine Erklärung von Sonnenfinsternissen tatsächlich nicht relevant sei, dürfte eine Verwechslung des Gedankenverlaufs im Erkenntnissubjekt mit einer Rekonstruktion der Begründung sein. Sehen wir im Alltag eine Episode aus einem fliegenden Stein und einer brechenden Fensterscheibe, so schließen wir sofort auf Ursache und Wirkung und deshalb reicht zur Begründung gewöhnlich auch das »Augenzeugnis« aus. Es wäre aber naiv anzunehmen, dass wir uns als handelnde Wesen nicht bereits vor jeder wissenschaftlichen Forschung praktisch in die Welt eingeübt hätten und ebenso falsch, so zu tun, als würden wir bei der alltäglichen kausalen Beurteilung von Vorgängen auch nur einen Moment darauf reflektieren müssen. Das entscheidende Wissen bei der Sonnenfinsternis – nämlich das Werfen und Ausnutzen eines Schattens – ist so alltäglich und wissenschaftsunabhängig vertraut (Dächer, Sonnenschirme und -mützen, ein Picknick im Sommer unter einem Baum), dass es keiner expliziten Erwähnung bedarf. Basale Formen des Umgangs mit der Welt (Schieben, Heben, Zerdrücken, Reiben, Werfen usw.), in die sich bereits Kinder einüben, sind so selbstverständlich, dass nicht mehr klar ist, dass Erklärungen von Naturvorgängen als Analogisierungen mit ihnen aufgefasst werden können und im Zweifelsfall auch werden.27 Experimentell geschieht dies über das Herstellen von Modellen der Vorgänge. Quantitative und hochtechnisierte Naturwissenschaft ist für eine Erklärung schlicht nicht nötig. Alltagsgegenstände, alltäglich verfügbares Handlungswissen und alltägliche, nicht gerätegestütze Beobachtung reichen für den Entwurf 27
Eine allgemeine Darstellung der Rolle von Analogien im Denken geben Douglas R. Hofstadter/Emmanuel Sander: Surfaces and Essences: Analogy as the Fuel and Fire of Thinking, eng, New York, NY: Basic Books, 2013, XIV, 578 S. : Ill., Kt.–XIV, 578 S. :, Ill., Kt.
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und die Kontrolle des Modells aus. Im Zweifelsfall kann so am Modell eine Sonnenfinsternis imitiert und eine an Alltagswissen rückgebundene einfache Erklärung gegeben werden. Genau aus diesem Grund wird im Schulunterricht nicht darauf verzichtet, das entsprechende Experiment auch durchzuführen. Einerseits wird so nämlich die Kausalerklärung der Sonnenfinsternis gegeben, andererseits aber auch eine physikalische Erklärungsmethode vorgeführt. Sonnenfinsternis (P1 )
(P2 )
(P3 )
(P4 )
(K1 )
Wir können einen Schatten auf einer Fläche herbeiführen, indem wir eine Pappscheibe zwischen eine Fläche und eine Lampe führen. Angleichen von Lampe, Scheibe und Fläche und ihrer Bewegung an Erde, Mond und Sonne und deren Bewegung ist kein Mittel, das Entstehen des Schattens zu verhindern. Solches Angleichen hat keinen Verlauf zur Folge, der zu unserem Hintergrundwissen über das System Erde-Mond-Sonne und Sonnenfinsternisse in Widerspruch steht. Wir können mit keiner anderen Handlung X 0 Oberflächen verdunkeln und den Verlauf zu einem adäquaten experimentellen Modell der Sonnenfinsternis machen. Physikalisches Modellprinzip Also werden Sonnenfinsternisse verursacht durch die Bewegung des Mondes zwischen Erde und Sonne.
Das Handlungswissen ist in (P1 ) so formuliert, dass es für ein einziges Experiment gilt. Typischer Weise würde man runde Objekte für Mond und Erde wählen oder Kugeln. Mit (P2 ) wird behauptet, dass empirisch adäquate Veränderungen (brennende Lichtquelle, Abstände, Bewegungen, Körperformen) den Effekt nicht beseitigen. Je nachdem, welche dieser Veränderungen man schon für unproblematisch hält, kann man das Handlungswissen auch gleich so formulieren, dass es für ganze Klassen von Experimenten gilt, z.B. ». . . vor eine Lichtquel-
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le führen«. Dass die Größenordnungen nicht tatsächlich hergestellt werden können, ist zugleich Anlass, Problem und Chance des Argumentes. Anlass dafür, ein Modell zu verwenden, ist gerade die Größenordnung der beteiligten Gegenstände. Das Problem besteht darin, dass (P2 ) nicht endgültig beweisbar, sondern nur plausibel gemacht werden kann. Chance des Argumentes ist allerdings, dass zur Widerlegung von (P2 ) ein Experiment erforderlich wird: Wer also meint, dass ein Abstand von über 100 Millionen Kilometern zur Lichtquelle, die Massen oder die Kernfusionen der Sonne relevant sei, der müsste einen entsprechenden Effekt wenigstens an einem Modell vorführen. Bei (P3 ) ist z.B. an die verschiedenen Formen von Sonnenfinsternissen zu denken. Die Prämisse ist nicht trivial. Es könnte unter den zahlreichen, speziellen Teilphänomenen bei Sonnenfinsternissen (z.B. messbare Eigenschaften des Lichts oder zeitliche Feinheiten) solche geben, deren Erklärung sich schwieriger gestaltet. Es ist aber selbstverständlich, anzunehmen, dass dies auch experimentell geleistet werden kann – und sei es auch in einem neuen Experiment, das nur dieses Teilphänomen vorführt. Im Zweifelsfall würden in einem gut bestätigten Fall wie der Sonnenfinsternis experimentelle Wege zur Aufhebung der Unstimmigkeiten gesucht und es nicht ernsthaft in Betracht gezogen, die Kausalerklärung aufzugeben. Dieses Argument und das Galileis gehören zur gleichen Argumentform. Sie teilen daher auch die gleichen prinzipiellen Erkenntnisprobleme, nur dass in diesem Fall die Erklärung tatsächlich so sehr über Zweifel erhaben ist, wie es Salviati in Galileis Dialog dem Leser für die Gezeitentheorie weismachen will. Das liegt auch daran, dass hinsichtlich der Prämisse (P3 ) das Anwenden der Galilei-Strategie28 nicht notwendig ist: Die relative Bewegung ist beobachtbar und sogar unabhängig von einem kosmologischen Modell oder Wissen um die Form der Himmelskörper und der Erde feststellbar. Die Abläufe im Zielsystem sollen nicht erst durch die Erklärung erschlossen werden – wobei sich ähnlich durchaus mit Sonnenfinsterniserklärungen dafür argumentieren ließe, dass der Mond lichtundurchlässig ist.
28
Siehe oben, Seite 118.
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4.1.2 Physikalische Argumenttypen Die drei einfachen Beispiele können zu Argumentformen generalisiert werden. Welche Rolle kann danach Handlungswissen bei der Begründung von Kausalaussagen in der Physik spielen? Die Aussage zum Freien Fall wurde zunächst mit einem einfachen Argument von Experimentalergebnis auf Kausalaussage erschlossen und auf die technische Bedeutung sowohl des quantitativen Maßes der Wirkung als auch der in den Handlungsbedingungen aufgeführten »Störfaktoren« hingewiesen. Das Argument ist seiner Form nach für viele Bereiche und Aussagen der Physik adäquat, wie beim Zusammenhang von Neigung einer schiefen Ebene zu Beschleunigung einer Kugel, von Stromstärke und Spannung bzw. Widerstand, von Veränderung von Luftwiderstand durch verschiedene Körperformen im Windkanal, von Anziehungskräften auf Drehwaagen und Masse der Probekörper usw.29 Auch elektromagnetische oder optische Veränderungen von Teilchendetektoren nach der komplexen elektromagnetischen Beschleunigung von Ladungen lassen sich so kausal formulieren. Im einfachsten Fall sind Kausalaussagen der Physik danach direkt experimentell testbar und lassen sich direkt aus dem Experimentalergebnis folgern – etwa aus »Wir können die Beschleunigung im Fallrinnenexperiment verändern, indem wir die Kugel unter einem veränderten Winkel hinunterrollen lassen«. Die Veränderung von Messgrößen nach Veränderung einer Startbedingung wird registriert und auf diese Weise als Ursache der eintretenden Veränderung nachgewiesen. Die Folgen müssen dabei keine räumlichen und zeitlichen Verläufe sein. Die Art der variierbaren Anfangsbedingungen und auch die registrierten Folgen unterscheiden sich nach Teilgebieten der Physik. Es genügt auch der bloße Ausschlag eines Messgerätes – etwa des Zeigers eines Voltmeters nach Erhöhung des Widerstandes in einem Stromkreis. Um »experimentelle Invarianten« nachzuweisen kann eine mathematische Behandlung der Messergebnisse oder Berücksichtigung von Produkten oder Quotienten von Messgrößen not29
Siehe auch die kausale Darstellung von Gasparo Bertis Experiment zu Wasserstand und Saugwirkung bei Zwier: Interventionist causation in physical science, S. 73.
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wendig sein – etwa bei Energie- oder Impulserhaltung in Stoßexperimenten.30 Die Aussage bezieht sich in ihrer einfachsten Form ausschließlich auf dieses Experiment bzw. eine Menge von Experimenten und die dort getesteten Bereiche von Größen. Es gilt dann, dass das Starten des Experimentes unter den hergestellten Umständen (Start- und Randbedingungen) Handlungsergebnis und die eintretende Veränderung des Apparates die Handlungsfolge ist. Daraus wird direkt auf die Kausalaussage geschlossen.31 und dies auch dann, wenn das Ergebnis grob quantitativ oder in Verhältnisangaben formuliert wird (z.B. beim Weg-ZeitGesetz). Die Handlungsfolge kann ein bestimmtes Ausmaß haben, das funktional als Faktor angegeben wird. In der erschlossenen Kausalaussage findet es sich als »Wirkungsfaktor« wieder. Dort, wo Naturkonstanten experimentell bestimmt werden (z.B. die Gravitationskonstante), haben diese die eben genannte kausale Bedeutung eines konstanten Maßes der Beziehung zwischen Handlungsergebnis (z.B. dem Verschieben der Massen auf Drehwaagen) und Handlungsfolge (deren Beschleunigung) unter Bedingungen reduzierter Störfaktoren. Am Freien Fall wurde eine Aussage begründet, die Wirkungen (quantitativ) präzise unter idealen Bedingungen bestimmt. Das Argument hatte die Form: Ideale Bedingungen (P1 ) (P2 )
(K1 )
Wir können Y mit dem Ausmaß A herbeiführen, indem wir unter reduzierten Störeinflüssen S X tun. Wir können A an Ausmaß A0 annähern, indem wir S weiter reduzieren. Prinzip idealer Bedingungen X verursacht unter Abwesenheit von S Y mit dem Ausmaß A0 .
30
Zu vielen Details, auch zu einer generellen »experimentalistischen« Begründung der Tatsache, dass Theorien mit Differentialgleichung aufgestellt werden – den »›Repräsentanten‹ des metatheoretischen Kausalitätsbegriffs innerhalb der physikalischen Theorien« (Tetens: Experimentelle Erfahrung, S. 29) –, siehe ebd., S. 22 ff. 31
»Nach dem oben zitierten Kriterium von von Wright ist die Präparation der Versuchsanordnung die Ursache für die Veränderungen, die nach dem Einschalten der Apparaturen auftreten«
(ebd., S. 19)
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Durch (P2 ) kann der Schritt zu einer Kausalaussage vollzogen werden, die einen Idealfall darstellt. Die Prämisse zeigt an, was getan werden muss, um einen genauen quantitativen Wert in der Aussage gegen vermeintlich falsifizierende Aussagen zu verteidigen oder die Aussage zu falsifizieren. Sie ist eine zum Experimentalergebnis hinzukommende technische Annahme zur Möglichkeit, Störfaktoren hinreichend zu beseitigen. Die Argumentform ist deshalb ebenfalls interventionistisch. Allerdings ist (P2 ) eine starke Prämisse, die sich angesichts verfeinerter Messergebnisse bewähren muss.Die Geltung des Gesetzes kann jedoch auf bestimmte Bedingungen eingeschränkt werden, wenn Gründe bestehen, (P2 ) in zu genereller Formulierung für falsch zu halten. Mit dem Übergang von newtonscher zu relativistischer Mechanik ist ein solcher Fall gegeben, bei dem die Geltung von Gesetzesaussagen der klassischen Mechanik (z.B. der Erhaltungssatz des klassischen Impulses) eingeschränkt wird auf die Bedingung (im Experiment die Startbedingung) der Bewegung mit relativ zum Licht geringer Geschwindigkeit. Mit (P2 ) ist also ein typisches Erkenntnisproblem verbunden: Verfeinerung des Versuchsaufbaus kann stets versucht werden, aber Abweichungen können häufig nicht vollständig beseitigt werden. Im Einzelfall kann es daher notwendig werden, zuvor als idealisierbar angenommene Verläufe neu einzuschätzen und bisher nicht bekannte Einflüsse in die Randbedingungen mit aufzunehmen oder das Ergebnis auf einen bestimmten Anwendungsbereich zu beschränken. Dieses Problem ist ein Problem des Argumentes qua seiner Argumentform. Lässt sich also ein Beispiel aus der Physik nach dem Schema rekonstruieren, dann kann sogleich dieses Erkenntnisproblem in Betracht genommen werden. Die Formulierung des Experimentalergebnisses als Funktion kann die Einschränkung des Ergebnisses auf die Experimentalbedingungen »vertuschen«, da in Variablen beliebige Werte eingesetzt werden. So kann zwar die prognostische Verlässlichkeit der Funktion für Größen und Verläufe überprüft werden (und sich gegebenenfalls bewähren), aber nicht durch das Experiment als bewiesen angesehen werden. Wegen (P2 ) ist die Erklärung aber an einen wissenschaftlichen, gewissermaßen »experimentellen Diskurs« anschlussfähig.
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Den Übergang zu (qualitativen) Kausalerklärungen von natürlichen Vorgängen und Phänomenen bildete das alltagsnahe Beispiel der Sonnenfinsternis. An einem Apparat wird reproduzierbar eine Handlungsfolge etabliert, die nach folgender Argumentform über drei weitere Prämissen zu einem historisch adäquaten Modell eines Naturphänomens erklärt wird. Zwei der Prämissen sind falsifizierbare Annahmen über technisches Bewirken, während mit einer weiteren die Notwendigkeit der vollzogenen Handlung als Grundlage eines Erklärungsmodells behauptet wird. Das Argument hatte die folgende Form, die an Galileis (gescheiterter) Gezeitenerklärung bereits ausgeführt wurde: Extrapolationsschluss (P1 ) (P2 )
(P3 )
(P4 )
(K1 )
Wir können am Apparat SE YE herbeiführen, indem wir (unter Bedingungen BE ) XE tun. Angleichen von SE und XE an SZ und Ereignis XZ (sowie BE an die natürlichen Bedingungen BZ ) ist kein Mittel, um YE zu unterdrücken. Solches Angleichen hat keine Folgen, die zu unserem Hintergrundwissen über SZ und YZ in Widerspruch stehen. Wir können mit keiner anderen Handlung X 0 an einem Apparat YE herbeiführen und den Verlauf zu einem adäquaten Modell der Entstehung von YE machen. Physikalisches Modellprinzip XZ verursacht (unter den Bedingungen BZ ) YZ .
Für eine Begründung des Beispiels zur Ostabweichung des Freien Falls auf der Erde etwa (Beispiel II.24) wäre ein Argument dieser Form führbar, wie auch für Regenbögen, Polarlicht oder die Reflektion von Radiowellen in der Ionosphäre. Der Form nach werden so auch Schlüsse aus Eigenschaften eines Einstein-BoseKondensats auf Eigenschaften des expandierenden Universums gezogen oder aus Eigenschaften eines akustischen »schwarzen Lochs« für kosmische schwarze Löcher.32 Dass die letzten bei32
Siehe zu einer Darstellung beider Beispiele samt argumentativer Schwierigkeiten James Mattingly/Walter Warwick: Projectible predicates in analogue and simulated systems, in: Synthese 169.3 (2009), S. 465–482, hier S. 472 ff.
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den genannten Experimente technisch aufwändig sind und das Ziel der Erkenntnis so deutlich unterschieden vom Experimentalgegenstand33 , bedeutet lediglich, dass (P2 ) und (P3 ) nur grob abgeschätzt werden können und dass es sein kann, dass die relevanten Beobachtungen zur Bestätigung von (P3 ) nicht vorliegen. Diesem Umstand entspricht es, dass die Ergebnisse kontroverser als bei der Sonnenfinsternis diskutiert werden. Die Hoffnung ist hier aber, dass die entsprechenden Erkenntnisprobleme durch eine Anwendung der Argumentform sogleich Beachtung finden. Auch die Big-Bang-Theorie kann in diesem Sinne als eine Aussage aufgefasst werden, die die Ursache grundlegender Ereignisse und Zustände des Universums angibt. Wissenschaftsgeschichtlich war der Durchbruch der Hypothese vom Urknall die Verbindung von Hochrechnungen der Ergebnisse experimenteller Elementarteilchenphysik mit Messungen der Häufigkeitsverteilung im Universum vorfindlicher chemischer Elemente (im berühmten »Alpha-Beta-Gamma«-Aufsatz34 ). Später kam es zur (zufälligen) Bestätigung daraus folgender Strahlungseigenschaften »dunklen Raums«, der »kosmischen Hintergrundstrahlung«. Der Urknall »Big Bang« bezeichnet den Übergang von einem heißen, dichten Elektronengas zu einem Zustand bewegter, ausdifferenzierter Stoffelemente und Materieansammlungen der Gegenwart durch räumliche Ausbreitung alleine. Er ist damit ein historisches Einzelereignis, von dessen Spuren (z.B. Materieverteilung und -bewegung im Universum, Elementverhältnisse, kosmische Hintergrundstrahlung) jeweils gezeigt wird, dass es adäquate Laborprozesse in geringeren Dimensionen gibt.35 Dass er stattgefunden hat, wird (auch) durch empirische Daten der Gegenwart 33
»This is extraordinary on its face. What could be less like the universe with its distribution of objects on every length scale and its curved spacetime geometry than a small container of gas (on the order of 109−10 atoms) with fluctuations in the phase velocity of sound propagating through it?« (Mattingly/Warwick: Projectible predicates in analogue and simulated
systems, S. 474). 34 Ralph Alpher/Hans Bethe/George Gamow: The Origin of Chemical Elements, in: Physical Review 73.7 (1948), S. 803–804. 35 Für die Big-Bang-These ist es dabei völlig unerheblich, ob dieser selbst Ursachen hat und es Zustände vor ihm gab, die etwa heutige kosmische Asymmetrien erklären. Es reicht aus, für möglichst viele Beobachtungen der Kosmologie eine einfache Ursache begründen zu können. Ab einer gewissen Dichte stehen (aus technischen Gründen?) ohnehin bisher keine akzeptierten physikalischen Theorien bereit, mit denen sich frühste Zustände extremer Dichte vor der Ausdehnung beschreiben ließen (siehe Rebhan: Theoretische Physik, S. 519).
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erschlossen bzw. bestätigt, die damit zu Spuren des Big-Bang-Ereignisses werden. Bei Argumenten dieses dritten Typs müsste detaillierter als hier möglich das Hintergrundwissen über die zeitliche Struktur des Zielsystems diskutiert werden. Schon bei Galileis Erklärung lag schließlich die Ursache gewissermaßen gleichzeitig zum Effekt vor. Auch bei Sonnenfinsternissen könnte man behaupten, dass mit dem Eintreten der Position des Mondes zwischen Sonne und Erde die Sonnenfinsternis eintritt. Bei genauerem Blick scheint es aber so zu sein, dass physikalisch stets wieder minimale, zeitliche Asymmetrie von Kausalverhältnissen durch Grundgesetze hergestellt wird und die Gleichzeitigkeit nur scheinbar ist. Dies gilt für Kants Beispiel des Ofens, in dem es zugleich mit dem geheizten Raum brennt (thermodynamisches Fließgleichgewicht), wie auch für Sonnenfinsternis (endliche Geschwindigkeit des abgestrahlten Lichts) und Gezeiten (Ausbreitung gravitativer Wirkung bzw. bei Galilei Auswirkung der Beschleunigungsveränderung des Behältnisses auf die Wassermoleküle). Mit (P2 ) und (P3 ) werden Argumente dieser Form experimentell anschlussfähig. Die Prämissen zeigen an, was getan werden muss, um die Erklärung zu widerlegen. Zur Klärung der Adäquatheit der Erklärung ist Wissen um das Zielsystem erforderlich. Die Erkenntnismöglichkeiten bei Ereignissen, die nicht kontrolliert werden können, sind dabei durch die Spuren der Ereignisse mehr oder weniger stark begrenzt. Die Möglichkeiten, dieses Wissen zu erwerben bereiten so charakterische Erkenntnisprobleme und-grenzen. (P4 ) kann genutzt werden, um für Ursachen zu argumentieren, die in jedem Fall vorliegen und in diesem Sinne notwendig sind. In Kausalerklärungen von Einzelereignissen fällt, wie am nächsten Beispiel klar wird, diese Prämisse daher weg.
4.1.3 Anwendungen Im Folgenden sollen die vorherigen Überlegungen auf ein aktuelles und kontroverses Beispiel angewandt werden, um den praktischen Nutzen der Argumentformen zu belegen. Zunächst soll es um die kritische Analyse einer Fachdebatte gehen, dann um
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einen Vorschlag zum Verhältnis von Kausalität und funktionalen Aussagen und zuletzt an zwei Beispielen um die Erklärung möglicherweise problematischer Verwendungen des Ursachenbegriffs in der Physik. Tschekosee Für die Begründung der Aussagen über Einzelereignisse stellt die Physik Wissensbestände über die beteiligten Prozesse bereit, die mit Beobachtungsdaten und Wissen anderer Disziplinen verbunden werden. Argumente können in der Form von Modellargumenten rekonstruiert werden aber bei der Rechtfertigung der Prämissen treten spezifische Begründungsprobleme auf. Als Beispiel für eine singuläre Kausalaussage und als einen Beleg für die Leistungsfähigkeit der obigen Argumentform sowie den allgemeinen Überlegungen aus der Interventionismusdebatte zu Handlungswissen möchte ich den Streit um die Frage anführen, ob der sibirische Tschekosee ein Meteoritenkrater ist, der im Zusammenhang mit dem sogenannten »Tunguska-Ereignis« 1908 entstand oder nicht. Beiden Optionen entsprechen Kausalaussagen: »Das Entstehen des Tschekosees wurde/wurde nicht durch den Einschlag des Meteoriten verursacht.« Die fachliche Diskussion steht beispielhaft für die Erkenntnisprobleme um das modellgestützte Schließen auf Einzelereignisse und das bloße Schließen aus Beobachtungsdaten ohne Anspruch auf reproduzierbares Wissen. Es steht auch stellvertretend für Argumente, die mit Thesen über technische Unmöglichkeiten argumentieren und so Kausalaussagen ausschließen möchten. Hier wäre das die Aussage, dass der Tschekosee kein Meteoritenkrater ist. Der Tschekosee ist ca. 700 × 500 m lang und hat eine leicht elliptische Oberflächenform. Er liegt geografisch im Bereich der größten eindeutig dokumentierten Folgen des Tunguska-Ereignisses (Entlaubung, umgestürzte Bäume), wenn auch nicht genau in dem Bereich, von dem aus sich die enorme Wirkung nach allen Seiten hin ausbreitete. Der Mittelpunkt wurde anhand der Richtung bestimmt, in der die geschätzt 80 Millionen umgestürzten Bäume lagen. Über die Ursachen der Zerstörung und anderer Phänomene (darunter explosionsartige Geräusche, tagelanges Himmelsleuchten) gibt es viele Hypothesen, darunter Fol-
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gen von Experimenten Nicola Teslas, Mückenschwarmexplosionen, vulkanische Prozesse, Gasexplosionen bis hin zu – natürlich – Ufokollisionen). Die gängigste und bei der folgenden Rekonstruktion der Debatte unkontroverse Hypothese ist das Eindringen eines Meteoriten in die Erdatmosphäre und eine Explosion desselben über oben genanntem Mittelpunkt. Damit ist eine Kausalaussage über das Tunguskaereignis bereits geteilt36 und auch impliziert, dass überhaupt Meteoriten auf die Erde einschlagen können. Unkontrovers ist auch, dass solche Meteoriten dauerhafte Krater hinterlassen können. Ob aber der Tschekosee der wassergefüllte Krater eines Bruchstücks des Meteoriten ist, das wird intensiv diskutiert – umso hitziger, weil die Entdeckung eines Meteoritenkraters hohe wissenschaftliche Anerkennung mit sich bringt. Mit den beiden Thesen zum Tschekosee stehen sich zwei Gruppen mit bezeichnender Weise unterschiedlichen Methoden gegenüber – einerseits Geologen und andererseits Vertreter experimenteller Impaktforschung. Beide Seiten tragen verschiedene Hinweise für oder gegen die Impakt-These vor. Die Debatte hat die typische Form eines Indizienbeweises. Charakteristisch für den der Beobachtung zugänglichen Gegenstand ist, dass immer feinere und neue Beobachtungsmittel eingesetzt werden können: Mit jeder technischen Weiterentwicklung (neue Scanner, bessere Kameras usw.) oder einer Veränderung der Untersuchungsmethode (z.B. Bohrungen) sind neue oder feinere Beobachtungsdaten zu erwarten – was heißt, dass auch immer neu zu berücksichtigende Fakten zu erwarten sind. Trivialerweise, da es sich um ein vergangenes Einzelereignis handelt, ist die Entstehung des Tschekosees nicht wiederhol- und nicht mehr beobachtbar. Wegen der Größe und der gravitativen Beschleunigung ist er auch generell als Instanz des Ereignistyps »Einschlag eines Meteoriten« nicht wiederholbar. Für die Einschlagthese wird zunächst angeführt, dass der See sich nur 10 km entfernt von der vermuteten Tunguska-Explosion befindet, seine Lage in etwa der Verlängerung der vermuteten Flugbahn entspreche und er das richtige 36
»[It] is now agreed that the TE was caused by the explosion in the atmosphere, between 10 and 5 km above the ground, of an extraterrestrial object [. . . ], a comet or an asteroid, called the Tunguska Cosmic Body (TCB)« (Luca Gasperini/Carlo Stanghellini/Romano Serra:
The origin of Lake Cheko and the 1908 Tunguska Event recorded by forest trees, in: Terra Nova 26.6 (2014), S. 440–447, hier S. 441).
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Alter habe. Kritiker führen daraufhin eine Reihe von Argumenten an, die gemeinsam das Impakt-Szenario unwahrscheinlich (»highly unlikely«)37 machen sollen. Neben anderen (bisher kein Impaktmaterial, kein typisches Kraterfeld, u.a.) geben sie auch als Spezialisten für experimentelle Impaktforschung folgendes Argument: Very few impact craters are elliptical in plan view like Lake Cheko, which has an ellipticity of ∼4/3. Impact experiments and statistical analysis of crater shapes on the teresstrial planets show that crater ellipticity is controlled by impact angle (to the target plane) and that departure from circularity occurs only for very oblique (< 10◦ ) impacts[.] If Lake Cheko was formed at the same time as the 1908 Tunguska event, then it’s location relative to the blast epicentre (8 km downrange) and the estimated altitude of the main explosion (5-10 km) imply an impact angle 30-50◦ . A high-velocity impact at this angle produces an almost cicular crater.38
Nach der Diskussion des Interventionismus und den zwei prototypischen Beispielen zu modellgestützten Kausalaussagen lassen sich die Struktur und Probleme der Debatte übersichtlich darstellen. Angesichts des Zwecks dieser Arbeit, die Möglichkeit systematischer Erkenntniskritik kausalen Schließens im Anschluss an den Interventionismus zu belegen, ist das der entscheidende Punkt. Die Argumentation der Experimentalphysiker liest sich zunächst wie ein deduktiver Schluss auf die Negation der Impaktthese. Danach folge aus dem Experimentalergebnis, dass der damalige Meteorit (wenn er denn diesen Einschlagwinkel hatte), keinen elliptischen Krater verursachen konnte, weil die Schussexperimente nur unter einer Bedingung gelängen, die beim Tunguskaereignis nicht erfüllt sei.
37
G. S. Collins u. a.: Evidence that Lake Cheko is not an impact crater, in: Terra Nova 20.2 (2008), S. 165–168, hier S. 167. 38 Ebd.
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Tschekosee1 (P1 )
(P2 )
(K1 ) (P3 ) (P4 )
(K2 )
Wir können elliptische Einschlagkrater nur durch Beschuss aus einem Winkel < 10◦ (relativ zur Horizontalen) erzeugen. Wenn wir Y nur herstellen können, indem wir X tun, dann wird Y nur durch X verursacht. Also werden elliptische Einschlagkrater nur durch Einschläge aus einem Winkel < 10◦ verursacht. Der Tschekosee hat die Form eines elliptischen Kraters. Der Tunguska-Meteorit näherte sich der Erde mit einem Winkel > 10◦ . Der Tschekosee wurde nicht durch einen Einschlag des Tunguska-Meteoriten verursacht.
Der zweite Schluss ist unproblematisch – interessant ist der erste. An (P1 ) lässt sich das bekannte Probleme festmachen, wie mit technischem Unvermögen umgegangen werden soll. Während tatsächliche Experimente stets nur Ergebnisse für eine begrenzte Anzahl an Start- und Randbedingungen liefert, gilt (P1 ) scheinbar für alle Einschläge in einem bestimmten Winkelbereich schlechthin. Wird (P1 ) als Experimentalergebnis aufgefasst, dann handelt es sich um einen typischen Irrtum über Handlungswissen. Für solche Problem beim Formulieren und Begründen von Handlungswissen hatten die Einwände gegen den Interventionismus aus dem Kapitel sensibilisiert. Der Satz ist als »modale Verstärkung« erreichter Ergebnisse zu lesen, der zufolge es nicht möglich sei, die gewünschte Kraterform mit Beschuss aus einem Winkel > 10◦ zu erzeugen. Die daraus erschlossene Kausalaussage (K1 ) kann deshalb als notwendige Ursache verstanden werden. Handeln generell und damit auch experimentelles Handeln kann aber stets nur Wissen relativ zu den reproduzierbaren Handlungsbedingungen sichern. Aus Misserfolg im Handeln unter bestimmten Bedingungen folgt kein Misserfolg unter anderen Bedingungen.39 (P1 ) ist also kein Experimentalergebnis – und 39
Siehe oben Seite 89.
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(P2 ) entsprechend kein Schlussprinzip für Schlüsse aus Handlungswissen auf Kausalaussagen. Ein Teil der Probleme der Debatte scheint darauf zu beruhen, dass Collins et.al. ihr Argument in einer Form präsentieren, das obige Schlussform nahelegt. Die Vertreter der Einschlagthese nutzen dieses grundsätzliche Problem argumentativ aus. Sie weisen auf die Individualität des realen Vorgangs hin, der gegenüber dem Experimentalprozess immer relevante, unterscheidende Merkmale aufweisen wird (Umgebung, Geschwindigkeit): The slight ellipticity could be explained either by an extremely low impact angle (< 30◦ ) or, more likely, by a combination of moderate impact angle (30◦ –45◦ ) and low velocity (< 1 km s−1 ). However, low-velocity oblique impacts on targets such as the TE site have been poorly studied and modelled. [. . . ] The nature of the target could also have contributed to the crater asymmetry, because the NE shore of the lake is bounded by a doleritic hill[.]40
Der methodische Konflikt ist dabei gut erkennbar: Während die eine Partei den See wie den festen Kraterabdruck auf einer ihrer Sandsteinplatten interpretieren, ist die andere bereit, ihren Einschlagkrater mit lauter Einzigartigkeiten gegen jeden offensichtlichen Unterschied zu Reproduktionsergebnissen zu immunisieren. Perhaps impactologists can be challenged to verify if models that can explain the particular features of Lake Cheko are viable, rather than exclude Cheko from the accepted list because it does not fit smoothly into existing models.41
Der plausible Kern beider Positionen lässt sich hingegen an der Instanz eines Modellargumentes diskutieren. So wird deutlich, dass die Geologen sogar experimentelle Ergebnisse der Impaktforschung für die eigene Argumentation (und Forschung) nutzen können. Anhand des Argumentes lässt sich zwischen den Parteien vermitteln. 40
Luca Gasperini/E. Bonatti/G. Longo: Lake Cheko and the Tunguska event: Impact or non-impact? (Reply), in: Terra Nova 20.2 (2008), S. 169–172, hier S. 170. 41 Ebd., S. 171.
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Tschekosee2 (P1 )
(P2 )
(P3 )
(K1 )
Wir können mit Leichtgaskanonen elliptische Einschlagkrater auf Sandsteinplatten durch Beschuss aus einem Winkel < 10◦ (relativ zur Horizontalen) erzeugen. Das Angleichen von Untergrund, Projektil und Schusswinkel an Bedingungen, die in der Umgebung des Tschekosees während des Tunguskaereignisses vorlagen, ist kein Mittel, um das Entstehen eine elliptischen Kraters zu unterdrücken. Solches Angleichen hat keinen Verlauf zur Folge, der zu unserem Hintergrundwissen über das Tunguskaereignis, dessen Umgebung und den Meteoritenabsturz in Widerspruch stehen. Physikalischer Modellschluss Also wurde der Tschekosee durch den Einschlag des Tunguskameteoriten verursacht.
(P1 ) ist das positive Experimentalergebnis, das die experimentelle Impaktforscher anführen können. Es ist insofern für die Geologen von Nutzen, als diese damit nicht nur belegen können, dass Einschläge fester Körper überhaupt Krater verursachen können, sondern dass der Prozess auch bei Übereinstimmung mit Eigenschaften realer Meteoriten (hohe Geschwindigkeit) und Untergründe (relative Härte) reproduzierbar ist. (P3 ) zeigt, wie wichtig die Altersbestimmung des Sees ist, denn an dieser Prämisse kann die Kausalerklärung direkt scheitern. Eigentlich sollte dieser Umstand trivial sein. Es wird jedoch stattdessen so getan, als ob das zeitliche Verhältnis die ImpaktThese direkt stütze: Lake Cheko formed at about the time of the TE. This could either be considered a coincidence or we could view it as implying a cause-and-effect relationship between the two phenomena.42 42
Luca Gasperini u. a.: Sediments from Lake Cheko (Siberia), a possible impact crater for the 1908 Tunguska Event, in: Terra Nova 21.6 (2009), S. 489–494, hier S. 492. Das gleiche Argument wird später wiederholt, siehe Luca Gasperini: Lake
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In dem Modellschluss der Physik ist passende zeitliche Asymmetrie der beteiligten Ereignisse nur Teil einer der Prämissen. Dass sie direkt die Kausalbeziehung plausibilisiert, ist auch deshalb unplausibel, weil stets experimentell ein Prozess zum Modell des Entstehens des Sees entworfen werden kann, der das Entstehen des Sees zu diesem Zeitpunkt ohne Einschlag erklärt und mögliche Prozesse für diesen Fall sogar auf der Hand liegen (etwa Untergrundveränderung mittels einer starker Druckwelle und Hitzeentwicklung). (P2 ) ist nun der Stein des Anstoßes aus experimenteller Sicht: Dort wird belegt, dass ein bestimmtes Angleichen – das des Winkels zur Projektiloberfläche – Mittel ist, um die Handlungsfolge zu beseitigen. Von geologischer Seite aus geht es nun darum, nicht nur zu betonen, dass es viele Unterschiede zwischen Experimental- und Realprozess gibt, sondern darum, reale Umstände zu erschließen, die sich, in den Experimentaufbau aufgenommen, selbst wieder als effektiv nachweisen lassen könnten. Gelingt dies, dann kann ein passender Modellschluss die ImpaktThese der Geologen stützen. Einigkeit sollte unter den Parteien allerdings darüber zu erzielen sein, dass es bisher keine bestätigenden Ergebnisse zu solchen Start- oder Randbedingungen gibt, deren Realisierung bei dem Tunguskaereignis unkontrovers ist. Die Debatte um (P3 ) zeigt eine entscheidende Aufgabe für die geologische Arbeit und zudem eine entscheidende Erkenntnisgrenze aller Kausalerklärungen von Einzelereignissen an: Es fehlen eindeutige Zeugnisse über die zeitliche Reihenfolge der Ereignisse »Meteoritenabsturz« und »Entstehung des Tschekosees«. Ist zudem das Erschließen der zeitlichen Abfolge nachhaltig schwierig, dann können entscheidende Aspekte des wichtigen Adäquatheitskriteriums der Kausalerklärung nicht bestätigt werden. Für die vorgeschlagenen relevanten örtlichen Bedingungen sollte dabei stets abgeschätzt werden, inwiefern sie angesichts des gesammelten Hintergrundwissens zum Tunguskaereignis plausibel sind. Die Argumentation der Vertreter der Impaktthese wirkt tendenziös, weil sie wenige Überlegungen zur Erfüllung von (P3 ) anstellen. Das Problem fehlender Daten wiederholt sich hier. Da das Tunguskaereignis vergangen ist und Cheko and the 1908 Tunguska Event, in: Rendiconti Lincei 2 (2015), S. 97–108, hier S. 101.
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wichtiges Wissen über den Zustand des Geländes, den Meteoriten und seine Bewegung fehlt, ist die Menge möglicher Startund Randbedingungen wenig eingeschränkt. Der aus der Bedeutung des Experimentes stammende Vorteil der Impaktforscher ist zwar der, die Prozesse, die sie auch der Naturgeschichte unterstellen, immer wieder der beobachten zu können. Sie können aber nicht ausschließen, durch Experimente eines besseren belehrt zu werden, die um zusätzliche Startbedingungen ergänzt wurden. Es gibt eindrucksvolle Beispiele aus der Wissenschaftsgeschichte, in denen die Technik auch für bekannte Größen der Physik unangenehme Überraschungen bereit hielt.43 Das Erkenntnisproblem entsteht aus einer Anwendung von Erkenntnissen auf nicht hinreichend untersuchte Systeme. Auch die Experimentreihe zur Reproduktion von Hochgeschwindigkeitseinschlägen ist nicht abgeschlossen. Zum Auffinden bisher unbekannter Handlungsmittel hilft gelegentlich nur das Ausprobieren und Basteln.44 Im Fall des Tschekosees aber müsste das Probieren nicht einmal blind geschehen: Die Vertreter der Impaktthese schlagen schließlich eine Reihe möglicher Faktoren vor. Gemeinsam wäre die komplexe Frage zu klären: Unter welchen Bedingungen, die beim Tunguska-Ereignis vorlagen, lässt sich ein Einschlagkrater erzeugen, aus dem durch Vorgänge, die dort seitdem vermutlich stattfanden, ein See mit den eindeutig dokumentierten Eigenschaften des heutigen Tschekosees entsteht? Das entscheidende Erkenntnisproblem und die Schwäche der Position der Geologen mit ihrer Impakt-These besteht darin, dass es bisher keinen reproduzierbaren Vorgang gibt, der mit bekannten Eigenschaften des Tunguskaereignisses übereinstimmt und einen elliptischen 43 Dazu gehören etwa die These von Henri Poincaré über die räumlichen Grenzen von Funkübertragung (und die transatlantische Funkübertragung durch Guglielmo Marconi 1901), die Prophezeiung von William Preece und anderen, es ließe sich keine dauerhaft leuchtende Glühbirne bauen (mit dem Patent von Thomas Edison für eine Glühlampe mit 13 Stunden Leuchtzeit im gleich Jahr – 1878) und die Überzeugungen Ernest Rutherfords und Niels Bohrs zur Unmöglichkeit der Nutzung von Kernenergie. Siehe dazu Federico Di Trocchio: Newtons Koffer. Querdenker und ihre Umwege in die Wissenschaft, Hamburg: Rowohlt, 2001, S. 269 ff. Di Trocchio zieht aus solchen und anderen Beispielen Schlüsse für den institutionellen Umgang der Wissenschaften mit »Bastlern« und »Häretikern«. 44
»The physicist George Darwin used to say that every once in a while one should do a completely crazy experiment, like blowing the trumpet to the tulips every morning for a month. Probably nothing will happen, but if something did happen, that would be a stupendous discovery.«
(Hacking: Representing and Intervening, S. 154)
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Krater erzeugt. Problem und Schwäche der Vertreter der NonImpakt-These ist, dass ihre Experimente nur wenige reale Bedingungen auf Relevanz für die Kraterform getestet haben und so kaum mehr als Intuitionen hierzu aufbieten können. Die Anwendung der Argumentform kann die Debatte strukturieren und macht Schwächen und Stärken der Positionen leicht identifizierbar. Nicht entschieden werden kann auf diese Weise die Frage danach, ob nun die Impakt-These oder ihre Negation derzeit »wahrscheinlicher« ist. Durch das Anwenden der Argumentform können allerdings die Thesen- und Thesenmengen identifiziert werden, die bei der Einschätzung eine Rolle spielen – vor allem ist dies die Abschätzung der Relevanz vorgeschlagener individueller Einschlagbedingungen. Solange keine weiteren echten experimentellen Tests durchgeführt werden oder Fotografien des Gebietes direkt nach dem Ereignis gefunden werden, kann man sich wohl nur der Stimme enthalten und die Debatte als wissenschaftlich und experimentell anschlussfähig, aber nicht entschieden bezeichnen. Allgemeine Gasgleichung An technisch begründeten Aussagen lässt sich eine Argumentationsstrategie zu einem Verhältnis von Kausalität und funktionalen Gesetzen anschließen, das am Beispiel von Druck, Volumen und Temperatur dargestellt werden soll.45 Wie gesehen werden Wirkungen in der Physik auch funktional ausgedrückt. Daraus lässt sich ein mögliches Verhältnis von Experiment, Kausalaussage und Gesetzesaussage bestimmen: Verschiedene Experimente lassen sich zum Verhältnis der drei direkt messbaren Größen Druck, Volumen und Temperatur eines Gases durchführen: Bei gleichbleibender Stoffmenge (also dichtem Behältnis) lässt sich bei einem verschieb- oder dehnbaren Behältnis (Ballon, verschiebbare Zylinder) das Volumen eines Gases alleine durch Veränderung der Temperatur verändern. Bei einem starren Gefäß steigt hingegen der Druck. Bei einstellba45
Die kinetische Gastheorie (mit dem Gas als Ansammlung beweglicher Einzelteilchen) wird dabei nicht berücksichtigt. Zum wissenschaftgeschichtlichen Disput zwischen Mach und Boltzmann siehe Scheibe: Die Philosophie der Physiker, S. 80 ff.
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rem Volumen hingegen können Druck und Temperatur des Gases verändert werden. Die wirksamen Handlungen dabei sind »Erhitzen«, »Kühlen«, »Schieben«, »Ziehen«, die unter verschiedenen Randbedingungen angewandt werden. Lehrbuchmäßig46 wird nun direkt die Konstanz des Produktes aus Druck und Volumen (Boyle-Mariotte’sches Gesetz) bei konstanter Temperatur bzw. die Abhängigkeit von der Temperatur (bei gleichbleibender Stoffmenge) als empirisches Gesetz gefolgert und ein funktionaler Zusammenhang der Messgrößen angegeben. In technischer Hinsicht ist in diesem Moment bereits viel geschehen und das Handlungswissen erheblich generalisiert worden. Verläufe herzustellen, die Messergebnisse haben, welche annähernd einer einfachen mathematischen Funktion entsprechen, verlangt die geschickte Auswahl an Materialien, Konstruktionen und Platzierung der Messinstrumente. In den Beispielen betrifft dies etwa die Konstruktion eines Zylinders, der dicht ist, dessen Volumen sich möglichst reibungsfrei verändern lässt usw. – also wiederum die Beseitigung von Störfaktoren im Sinne anderer Steuerungsmethoden für die untersuchten Messgrößen. Zunächst gilt folgendes Argument wie oben zum Freien Fall (mit entsprechend anderer Formulierung bei anderen Experimenten): Erhitzen eines Gases (P1 )
(P2 )
(K1 )
46
Wir können das Volumen von Gasen ungefähr gemäß F: p · V = N · k B · T erhöhen, indem wir das Gas in einem (abgedichteten und reibungsarm) verschiebbaren Zylinder erhitzen. Wir können uns dabei an F annähern, indem wir den Zylinder weiter abdichten und die Reibung verringern. Prinzip idealer Bedingungen Das Erhöhen der Temperatur eines Gases verursacht in einem dichten und reibungsfrei verschiebbaren Zylinder eine Vergrößerung des Volumens gemäß F.
Siehe Demtröder: Experimentalphysik 1, S. 186.
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(P1 ) nennt reproduzierbares Handlungswissen. Beim Argument wird wieder angenommen, dass sich hinreichende Einigkeit über die Beschreibung der wirksamen Handlung (bzw. Handlungsklasse) erzielen lässt, hier also darüber, ob »Erhitzen des Gases« statt »eine Heizplatte unter dem Gefäß anstellen« (o.ä.) als Handlungsergebnis genannt werden darf. Dies kann wieder durch Variation des Versuchsaufbaus begründet werden (Gasbrenner statt Kerze usw.). Im Zweifelsfall gibt die Anweisung zum Experimentaufbau die wirksame Handlungsbeschreibung. Die Prämisse (P2 ) erweist sich bei genauer Betrachtung als falsch, weil noch andere Eigenschaften realer Gase berücksichtigt werden müssen. Dieses Problem soll hier aber übergangen werden. Führt man nun verschiedene Experimente durch, in denen die Verhältnisse der in der Gleichung genannten Größen untersucht werden, dann lassen sich die Ergebnisse funktional vereinheitlicht darstellen, wobei für die tatsächlichen Messergebnisse wieder angenommen wird, dass die mathematischen Lösungen in technisch immer besser realisierten Bedingungen immer besser erreicht werden. Die Funktion verbindet mathematisch experimentell überprüfte Kausalverhältnisse invariant hinsichtlich der Versuchsaufbauten und unter Voraussetzung technischer Verbesserungsmöglichkeiten (»Entstörungen«): Allgemeine Gasgleichung (P1 )
(P2 )
(S1 )
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In einer Versuchsreihe mit verschiedenen Aufbauten lassen sich Veränderungen von Messgrößen herbeiführen, die quantitativ näherungsweise durch das funktionale Verhältnis F: p · V = N · k B · T ausgedrückt werden können . Alle Abweichungen von den mathematischen Lösungen lassen sich durch Verbesserung der Geräteeigenschaften weiter beseitigen. Prinzip des Experimentalgesetzes: Wenn sich die Veränderungen der Messgrößen {m1 , m2 . . . ...mn } einer Versuchsreihe V mit der Funktion F näherungsweise adäquat beschreiben und die sich Abweichungen durch Veränderung der Geräteeigenschaften beheben lassen, dann gilt das Experimentalgesetz F.
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(K1 )
erfüllte hinr. Bed. Es gilt F: p · V = N · k B · T.
Konklusion des Argumentes ist der funktionale Zusammenhang der Messwerte.47 Entscheidend für den Zusammenhang hier ist lediglich die Tatsache, dass (P1 ) und (P2 ) technische Annahmen darstellen. Die Störeinflüsse (Reibung, fehlende Dichtigkeit, Wärmeabgabe an die Umgebung o. Ä.), die einen »idealen Verlauf« behindern, sind dabei selbst wieder dem Typ nach als Mittel zur Kontrolle von Verläufen bekannt (oder werden hypothetisch angenommen). So ist etwa die Veränderung von Oberflächeneigenschaften zur Hemmung von Bewegungen (durch Reibung) hinreichend bekannt und kann daher gegebenenfalls unter die Ursachen der Abweichungen von gesetzmäßigen Verläufen aufgenommen werden.48 Auf diese Weise werden die angesichts eines idealen Verlaufs hinderlichen Umstände selbst zu einem wichtigen Erkenntnisgegenstand, während die funktionale Darstellung sie gerade zu dem Zweck außer Acht lässt, ein situationsunabhängiges Verhältnis anzugeben. Es wurde also in argumentativer Form gezeigt, dass ein kausaler Aspekt funktionaler Aussagen und damit die Verträglichkeit von »Funktionalität« und »Kausalität« in der Physik darin bestehen kann, verfügbares technisches Wissen in eine einfache und damit gerade nicht mehr situationsbezogene Form zu bringen: This simple example [das Gesetz des idealen Gases, A.K.] suggests a reason why, in the development of theoretical physics, it may have proved advantageous to replace causal laws with laws of other kinds. A single functional law such as the ideal gas law yields different causal laws 47
Es gibt andere Möglichkeiten, Gesetzesaussagen zu rechtfertigen, die allerdings nicht Thema dieser Arbeit sind – üblich ist etwa der Nachweis, dass ein Gesetz aus einem oder mehreren Grundgesetzen folgt. Wie diese aber methodisch Geltung erreichen und welches Verhältnis sie zur experimentellen Physik haben – diese Fragen, wie auch generelle Gründe für theoretische Aussagen in der Physik, werden hier nicht weiter untersucht. Auch wann im Einzelfall eine Gesetzesaussage aufgegeben wird, soll hier nicht weiter behandelt werden. 48
»Selbstverständlich ist die Annahme über das Vorliegen einer Störung nur dann berechtigt, wenn diese auch lokalisiert und (für nachfolgende Durchgänge) beseitigt werden kann« (Hart-
mann: Naturwissenschaftliche Theorien, S. 133).
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4 Spezielle Typen kausaler Schlüsse
when applied in different situations. This functional law thus in a sense summarizes a number of different causal laws[.]49
Das Argument hat die Form: Experimentalgesetz (P1 )
(P2 )
(K1 )
In einer Versuchsreihe mit verschiedenen Aufbauten lassen sich Veränderungen von Messgrößen M herbeiführen, die bei Reduzierung von Störeinflüssen quantitativ näherungsweise ausgedrückt werden können durch die Funktion F. Alle Abweichungen von den mathematischen Lösungen von F lassen sich durch Verbesserung der Geräteeigenschaften weiter beseitigen. Prinzip des Experimentalgesetzes Es gilt F.
Seiner Form nach dürfte das Argument gültig für verschiedene andere Gesetze der Physik sein – nicht nur für weitere Zustandsgesetze wie das Ohm’sche Gesetz50 , sondern auch für dynamische Gesetze in Form von Differentialgleichungen, die nach verschiedenen Messgrößen aufgelöst werden können. Die mathematische Form der Gesetze hat dabei verschiedene Konsequenzen. Durch diese Darstellungsform werden Aussagen (im Sinne von Instanzen des Gesetzesschemas) möglich, die sich nicht mehr technisch realisieren lassen: Es lassen sich Drücke errechnen, bei denen jeder Behälter platzt, Schwingungsamplituden erreichen, denen keine Brücke standhält usw. An der Möglichkeit, solche Gesetze zunächst an Laborsystemen praktisch zu begründen, ändern diese Anwendungsprobleme aber nichts. Die interventionistische Strategie hat sich somit für eine erste Wissenschaft bewährt. Über Rekonstruktionen von typischen Kausalaussagen in verschiedenen Argumentformen hinaus kann 49
Gillies: An Action-Related Theory of Causality, S. 830. Für eine experimentalgeschichtliche Darstellung siehe Fritz Fraunberger/ Jürgen Teichmann: Das Experiment in der Physik. Ausgewählte Beispiele aus der Geschichte, Braunschweig, Wiesbaden: Friedr. Vieweg und Sohn, 1984, S. 100 ff. 50
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4.2 Biologie I
interventionistisch ein Beitrag zu einem aktuellen Forschungssdissens und zum Thema »Kausalität und Funktionlität in der Physik« geleistet werden.
4.2 Biologie I Wie vorher zur Physik sollen nun exemplarisch Begründungen von Kausalaussagen der Biologie auf die Relevanz praktischen Wissens hin untersucht werden. Auch hier soll gezeigt werden, dass diese Herangehensweise kritische Analysen von Erklärungen ermöglicht und Fragen der Wissenschaftstheorie der Biologie zu bearbeiten erlaubt. Eine ganze Reihe traditioneller Themen der Philosophie der Biologie stehen bereits in engem Bezug zur Frage nach Kausalerklärungen. So kann etwa gefragt werden, in welchem Verhältnis Kausalerklärungen biologischer Disziplinen zueinander stehen. Wie genau lassen sich reduktionistische oder pluralistische Ansätze dazu in kausaler Hinsicht charakterisieren? Die zweckmäßige Organisation der Lebewesen hat zu der Frage geführt, ob es in der Biologie Finalursachen gibt oder ob teleologische Redeweisen verzichtbar oder zumindest stets kausal auflösbar sind. Sind teleologische Erklärungen also »eigentlich« kausale Erklärungen oder eine eigenständige, aber dennoch kausale Form der Erklärung? Welches Verhältnis haben Aussagen über Merkmalsfunktionen zu Kausalaussagen in allgemein biologischer und speziell evolutionsbiologischer Hinsicht? Zudem hat die charakteristische Komplexität biologischer Beschreibungen und die Methodenviefalt zur Untersuchung von Lebewesen zur Rede von »Organisationsebenen« oder »Beschreibungsebenen« geführt. Es wird die Möglichkeit von Kausalverhältnissen zwischen diesen hierarchisch geordneten Ebenen diskutiert: Inwiefern verursachen die biochemischen und neuronale Prozesse Ereignisse auf »höheren« Ebenen? Inwiefern verursachen Eigenschaften auf »tieferen« Ebenen die Eigenschaften der durch sie zusammengesetzten Systeme usw. und ist die »Rich-
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tung« dieser Kausalverhältnisse zwangsläufig von der »niedrigeren« zu »höheren« Ebene?51 Zu diesen Themen soll im Verlauf der Beispieldiskussionen ein Beitrag geleistet werden. Das Kapitel schließt ab mit der Darstellungen zweier Fehlschlüsse, die Tiermodellstudien betreffen. Für die biologischen Disziplinen wird – im Gegensatz zur Physik – nicht bestritten, dass umfangreich explizit kausale Ausdrücke verwendet und auch explizit kausale Erklärungen gegeben werden. Lehrbücher enthalten Unterscheidungen von Ursachetypen52 und kausale Charakterisierungen der Disziplinen. In der folgenden Liste repräsentativer Aussagen sind evolutionstheoretische Aussagen ausgelassen – sie sollen später gesondert aufgeführt und untersucht werden: Beispiel II.35: Zellform »Die Form der Zelle, die Kompartimentierung und die Abschnürung von Vesikeln wird durch Proteinfilamente (Actinfilamente und Mikrotubuli) bewirkt, die das Cytoskelett bilden.«53
Beispiel II.36: Exoenzyme »Partikuläre Substanz wird [bei Bakterien] außerhalb der Zelle in transportable Monomere zerlegt. Dies bewirken Exoenzyme[.]«54
Beispiel II.37: Geißeltierchen »In Gegenwart eines Lockstoffs bewirken die Chemotaxis-Proteine MCP und W, dass die Autophosphorylierung des Phosphatgruppen übertragenden Chemotaxis-Proteins A unterbleibt, so dass das Bakterium zunächst nur schwimmt und nicht taumelt.«55 Beispiel II.38: Sexuelle Prägung »[The] preference for Bengalese and Zebra finch females will depend on the extend of the interaction with other zebra finch conspecifics and with their Bengalese finch foster-parents[.]«56 51
»Indeed, in hierarchically organized biological systems one may even encounter downward causation« (Ernst Mayr, zitiert nach: Hugh LaFollette/Niall Shanks: Two Models
of Models in Biomedical Research, in: The Philosophical Quarterly 45.179 (1995), S. 141–160, URL: http://www.jstor.org/stable/2220412, hier S. 152). 52 Fachintern verbreitet (und diskutiert) sind die vier Ursachentypen und die Unterscheidung von proximaten und ultimaten Ursachen nach Niko Tinbergen: On aims and methods of Ethology, in: Zeitschrift für Tierpsychologie 1963, S. 410– 433. 53 Herbert Cypionka: Grundlagen der Mikrobiologie, 4., überarbeitete und aktualisierte Auflage, Heidelberg, Dordrecht, London, New York: Springer, 2010, S. 26. 54 Ebd., S. 133. 55 Ebd. 56 Nicky S. Clayton: The Influence of Social Interactions on the Development of Song and Sexual Preference in Birds, in: Jerry A. Hogan/Johan J. Bolhuis
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4.2 Biologie I
Beispiel II.39: Erbsen »Keimende Erbsen Pisum sativum erwärmen die
sie umgebende Luft um bis zu 2◦ C, während tote Erbsen (Kontrolle) keinen derartigen Effekt verursachen (Temperaturkonstanz).«57
Beispiel II.40: Letalfaktor »In Drosophila there is a sex-linked recessive lethalfactor that causes the development of tumors in the larvae, destroying every male larva that contains the sex-chromosome carrying this gene.«58 Beispiel II.41: bcl-2 »In Knock-out-Mäusen verursacht das Fehlen eines funktionellen bcl-2-Gens massiven Zelltod, z. B. in Lymphgeweben, und führt zu einem frühen Tod der Maus.«59
Beispiel II.42: Axolotl »Die bei verwandten Arten regelmäßig vorkommende Metamorphose [. . . ] unterbleibt bei dieser Spezies. Als Ursache konnte [. . . ] ein Mangel des Hormons Thyroxin ausfindig gemacht werden.«60
Beispiel II.43: Flügel »Consider the stylized fruit flies in Fig. 1. [. . . ] It is assumed that they have been brought up under identical environmental conditions. If we now put the question ‘Why does M 1 have such short wings?’, the answer seems obvious. The cause is genetic – M 1 is a mutant.«61 Beispiel II.44: Hämophilie »In der Humangenetik ist die Inversion unter Beteiligung des Introns 22 des F8-Gens die häufigste Ursache der Hämophilie A [. . . ].«62
(Hrsg.): Causal Mechanisms of Behavioral Development, Cambridge: Cambridge University Press, 1994, S. 98–155, hier S. 99. 57 Ulrich Kutschera: Evolutionsbiologie, 4. Aufl., Bd. 8318, Stuttgart: UTB GmbH, 2015, S. 15. 58 Thomas H. Morgan: The Physical Basis of Heredity, Philadelphia, London: J.B. Lippincott, 1919, URL: http://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=ncs1.ark: /13960/t58c9zt82;view=1up;seq=9, S. 256 ff. »As many as 20 different lethals have been found in the Z-chromosomes of Drosophila. [. . . ] They [lethal factors] may mean only that the changes that they cause are of such a kind, structural or physiological, that the affected individual cannot develop normally. (ebd., S. 199) 59
Jochen Graw: Evolutionsbiologie, 5., vollständig überarbeitete Auflage, Dortdrecht, Heidelberg, London, New York: Springer, 2010, S. 193. Siehe auch »1996 wurde die kausale Mutation in dem Gen entdeckt« (ebd., S. 194). 60 Kutschera: Evolutionsbiologie, S. 308. 61 Germund Hesslow: What is a genetic disease? On the relative importance of causes, in: Lennart Nordenfelt/B. Ingemar B. Lindahl (Hrsg.): Health, Disease, and Causal Explanations in Medicine, Dordrecht, Boston und Lancester: Reidel, 1984, S. 183–193, hier S. 185. 62 Gerhart Drew: Mikrobiologie. Die Entdeckung der unischtbaren Welt, Heidelberg, Dordrecht, London, New York: Springer, 2010, S. 406. Siehe auch Evgeny I. Rogaev u. a.: Genotype Analysis Identifies the Cause of the “Royal Disease”, in: Science 326.5954 (2009), S. 817–817, URL: http://science.sciencemag.org/content/ 326/5954/817, hier S. 817.
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Beispiel II.45: Sterilität »Genetic loss or pharmacological blockade of testesexpressed taste genes causes male sterility.«63
Beispiel II.46: FOXP2 »A significant discovery was the identification of the FOXP2 gene, mutations of which cause severe impairment to speech production and grammar[.]«64 Beispiel II.47: Variabilität »Biologische Variabilität kann genetische und umweltbedingte Ursachen haben.«65
Beispiel II.48: Soziobiologie »Die Soziobiologie versucht, die naturwissenschaftlichen Ursachen für soziale Verhaltensweisen und ihre Dynamik zu erkennen.«66
Auch zu dieser Liste eine Reihe von Beobachtungen: Typisch für die Biochemie ist die Rede von Wirkungen von Enzymen. Als Wirkungen werden dabei auch Verhaltensweisen genannt (Geißeltierchen, Beispiel II.37). Es werden Wirkungen von Organismen auf ihre Umwelt (Erbsen, Beispiel II.39) und die Wirkung von Umwelt auf Organismen angegeben, wobei darunter auch das Verhalten der umgebenden anderen Lebewesen fallen kann (Sexualle Prägung Beispiel II.38). Für die Genetik ist die Rede von Mutationen und Veränderungen der DNA bzw. einzelner Gene, Austausch einzelner Basen usw. als Ursache von veränderten Merkmalen (insbesondere Krankheiten) typisch (Hämophilie, Beispiel II.44; Sterilität, Beispiel II.45; FOXP2, Beispiel II.46). Zudem gibt es Aussagen, wie auch zuvor in der Physik, mit denen offenbar geregelt wird, welchen Gehalt Kausalaussagen haben können bzw. sollen. Solche Sätze in Lehrbüchern sollen als »explanative Regel« gelesen werden. Die abstrakte Aussage zu Ursachen von Variabilität überhaupt (Beispiel II.47) regelt danach, was an der Ursachenstelle von Kausalaussagen über das Entstehen einer Variante eines Merkmals stehen kann bzw. soll. So kann man auch Beispiel 63
Bedrich Mosinger u. a.: Genetic loss or pharmacological blockade of testesexpressed taste genes causes male sterility, in: Proceedings of the National Academy of Sciences 110.30 (2013), S. 12319–12324, URL: http://www.pnas.org/ content/110/30/12319.abstract. 64 Alex Mesoudi/Alan G. Mcelligott/David Adger: Introduction: Integrating Genetic and Cultural Evolutionary Approaches to Language, in: Human Biology 83.2 (201), S. 141–151, hier S. 144. 65 Graw: Evolutionsbiologie, S. 15. 66 Volker Storch/Ulrich Welsch/Michael Wink: Evolutionsbiologie, 3., überarbeitete und aktualisierte Auflage, Berlin, Heidelberg: Springer, 2013, S. 429.
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4.2 Biologie I
II.48 als These über Erklärungen oder Erklärungsnorm der Soziobiologie auffassen.
4.2.1 Biologische Argumente I Drei der eben aufgeführten Beispielsätze sollen interventionistisch als Konklusion eines kausalen Schlusses rekonstruiert werden. Im Anschluss werden die Formen der Argumente hinsichtlich der Ziele dieses zweiten Kapitels diskutiert, besonders ihre Verallgemeinerbarkeit als allgemeine biologische Schlussformen und ihr Nutzen in wissenschaftstheoretischer und erkenntniskritischer Hinsicht. Als Anfänge praktisch gestützter Argumente für Kausalaussagen kommen diverse Tätigkeiten in Frage: Aufziehen von Lebewesen unter festgesetzten thermischen oder stofflichen Bedingungen; Auswählen zur Zucht; Zusammenführen von Zuchtpaaren; Aussortieren; ausgewählt Befruchten; (wiederholt) Lebewesen einer Situation Aussetzen; Umsiedeln (Translokation); Transferieren, Anschalten und Abschalten von Genen, Entfernen und Transplantieren von Teilen des Organismus; Zugeben von Enzymen zu Stofflösungen; Setzen elektrischer Impulse u.v.m. Durch Experimente können direkt Aussagen über UrsacheWirkungs-Verhältnisse von Lebewesen und ihrer Umgebung begründet (siehe Beispiel II.38) und dabei auch ggf. quantifiziert (siehe Beispiel II.39) und auch verlaufsgesetzlich dargestellt werden, wenn ihre Geltung auf die Laborsituation beschränkt bleibt. Im einfachsten Fall holt man sich die zu untersuchenden Zellen, Bakterien oder größeren Lebewesen dafür einfach ins Labor oder züchtet sie dort selbst. Meistens werden eigens gezüchtete Linien genutzt, die die Arbeit erleichtern sollen, etwa Inzuchtlinien, um stabile Erbmerkmale vorliegen zu haben. Begründet man so aber Aussagen über frei lebende Exemplare, ihre Merkmale und Umweltinteraktionen im natürlichen Habitat außerhalb des Labors, dann verpflichtet man sich auf die Argumentation dafür, dass der Verlauf im Experimentalsystem eine gutes Modell für das Zielsystem ist. Dies gilt sowohl für die Verlässlichkeit des Zuchttyps für Aussagen über den Wildtyp als auch generell für die Verlässlichkeit von Lebewesen (oder ihren
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4 Spezielle Typen kausaler Schlüsse
Teilsystemen) im Labor für Aussagen über Lebewesen in natürlichem Habitat oder für Prozesse, die in den ganzen Organismus eingebettet sind. Probleme und Argumentformen ähneln dabei den oben für die Physik rekonstruierten, sind aber mit typischen Erkenntnisproblemen verbunden. Sexuelle Prägung Erstes Beispiel für eine biologische Aussage, deren Geltung auf das Experimentalsystem eingeschränkt ist, soll eine über die sexuelle Prägung von Finken sein. Das Phänomen der Fehlprägung nach Ammenaufzucht ist aus der Zucht bekannt (und dort zu vermeiden): Bei manchen Vögeln ist das Aufzucht- oder Brutverhalten wenig ertragreich oder eigene Reproduktion sogar ausgeschlossen – etwa wenn die Eier einer Art zu zerbrechlich für das Gewicht der gezüchteten Rasse sind. Manche Vögel paaren sich nach Aufzucht durch »Leiheltern«, die dieses Problem lösen, nur noch mit Exemplaren dieser Art und nicht mehr (wie meist gewünscht) mit Exemplaren der eigenen Art. Dieses Phänomen ist ausgehend von dem züchterischen Wissen für bestimmte Vogelarten umfangreich und zeitlich detailliert experimentell untersucht worden. Im Experiment67 werden – vereinfacht dargestellt – Eier von Zebrafinken (Taeniopygia guttata) dem Nest entnommen, in ein Nest von Japanischen Mövchen (Lonchura Striata) gelegt. Dann wird das Ausbrüten sowie die Aufzucht durch die Pflegeeltern durch Herstellen normaler Aufzuchtbedingungen ermöglicht und der Aufzuchterfolg abgewartet. In der Kontrollgruppe wird nichts weiter getan, als Aufzucht durch die Eltern der eigenen Art zu ermöglichen und dann abzuwarten. Nach der Entwicklung ohne weiteren Eingriff werden die erwachsenen Zebrafinkenmännchen mit zwei Finkenweibchen (eines der Eltern- und eines der Ammenart) zusammengesetzt. Dies ist die Präparation des Experimentes, Ergebnis der vorbereitenden Handlungen. Nun wird das stattfindende Balzverhalten beobachtet und unterschieden 67
Klaus Immelmann: Über den Einfluß frühkindlicher Erfahrungen auf die geschlechtliche Objektfixierung bei Estrildiden, in: Zeitschrift für Tierpsychologie 26.6 (1969), S. 677–691, URL: http://dx.doi.org/10.1111/j.1439-0310.1969.tb01970. x.
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4.2 Biologie I
nach dem Objekt des Balzverhaltens registriert. Das gezeigte Verhalten ist die Handlungsfolge. Letztlich lag die sexuelle Präferenz der Männchen bei den Weibchen derjenigen Art, von denen sie aufgezogen wurden. Da dies in der Kontrollgruppe nicht der Fall ist, wird das veränderte Verhalten der Männchen als Handlungsfolge der veränderten Aufzucht bezeichnet und das Zuchtwissen experimentell bestätigt. So wurde eine Experimentklasse zur weiteren systematischen Untersuchung des Phänomens erstellt. Alle von einer fremden Art aufgezogenen | | richteten in den Auswahlversuchen ihre sexuellen und sozialen Verhaltensweisen ausschließlich oder fast ausschließlich auf die Attrappen bzw. die der Art der Stiefeltern. Sie balzten sie an, kopulierten mit ihnen, hielten sich fast ständig in ihrer Nähe auf und kraulten sie im Gefieder bzw. ließen sich kraulen. Die arteigenen Attrappen wurden in der Regel nicht beachtet, die arteigenen ~ ~ mitunter angegriffen und verjagt.68
Prägung Finken (P1 )
(K1 )
Wir können eine Präferenz männlicher Zebrafinken beim Balzen für Japanische Mövchen herbeiführen, indem wir sie durch Exemplare dieser Art aufziehen lassen. Interventionistisches Prinzip1 Das Aufziehenlassen von Zebrafinken durch Japanische Mövchen verursacht eine Präferenz männlicher Zebrafinken beim Balzen für Weibchen dieser Art.
(P1 ) gibt das Handlungswissen an. Außer Acht gelassen, wenn auch interessant, werden in dieser Darstellung die zu bewältigenden Erkenntnisprobleme bei der Bestätigung der Prämisse, z.B. die Registrierung der Handlungsfolge: Wann ist eine Regung tatsächlich Balzverhalten? Zum Experiment gehört auch der Vergleich mit der Kontrollgruppe. Auch dies muss nicht eigens in 68
Ebd., S. 680.
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4 Spezielle Typen kausaler Schlüsse
der Formulierung des Ergebnisses aufgeführt werden. Die »normale« Präferenz ist vielmehr selbst Folge der »normalen« Aufzucht. Beachtet werden muss der Bezug des Ergebnisses auf die Experimentalsituation alleine. Es ist durchaus nicht sinnlos, auf das Labor begrenzte Kausalverhältnisse zu testen. Es gibt nämlich viele Zwecke, die durch solche biologische Kausalverhältnisse erreicht werden können, hier etwa das Verbessern von Züchtung. Das Einbringen quantitativer Aspekte und weiterer Faktoren kann den Züchtern Optionen zur Verfügung stellen, um Fehlprägungen zu vermeiden, ohne auf Ammenaufzucht verzichten zu müssen. Das Analoges Durchführen etwa von Experimenten biochemischer Art kann zur Verbesserung von Syntheseverfahren für gewünschte Präparate (Enzyme, Hormone, Antibiotika) beitragen usw. Hier soll aber nicht bestritten werden, dass man über Experimente auch Erkenntnisse über Lebewesen in natürlichem Habitat gewinnen will – am Beispiel also Erkenntnis über natürliche Prägung und nicht nur über das künstliche Prägen. Solche erweiterten Erkenntnisse sollen später dargestellt werden – hier sollte an einem Beispiel nur die einfachste Form biologischer Schlüsse auf Kausalaussagen vorgestellt werden. In der Veröffentlichung des Experimentalergebnisses wird die Möglichkeit, das Ergebnis zu generalisieren (auf andere Arten, Verhalten in natürlichen Habitaten, Einzelverhalten), treffend durch eine modale Abschwächung einer generellen These ausgedrückt: Das Etablieren eines Kausalverhältnisses in einem Experiment mit einer Stichprobe zeigt, was Ursachen von Ereignissen und Verhaltensweisen außerhalb des Labors sein können. So formuliert Immelmann abschließend: Das bedeutet, daß die Objektwahl für sexuelle und soziale Triebhandlungen bei den drei untersuchten Estrildidenarten durch frühkindliche Erfahrungen in entscheidender Weise beeinflußt werden kann und sich die unter kontrollierten Bedingungen aufgewachsenen | | in den Auswahlversuchen fast ausschließlich nach diesen Erfahrungen gerichtet haben.69 69
Immelmann: Über den Einfluß frühkindlicher Erfahrungen auf die geschlechtliche Objektfixierung bei Estrildiden, S. 687 (Hervorhebung von mir, A.K.).
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4.2 Biologie I
In der mit dem Argument begründeten Kausalaussage wird Vokabular aus der Verhaltensbiologiey verwendet. Welches Verhältnis besteht zu Erklärungen anderer Disziplinen? Bei einer physiologischen Kausalerklärung des gleichen Verhaltens etwa scheint das Verhältnis eindeutig zu sein: Man stelle sich vor, es gäbe ein eindeutig zu identifizierendes, spezifisches Erregungsmuster oder auch ein eindeutiges, spezifisches Hormon mit einer spezifischen Konzentration, mit dem sich das Paarungsverhalten eines Finken steuern ließe. Dann wäre das Entstehen dieses Musters oder Hormons Ursache des Verhaltens – als Ereignis einer Ursachenkette zwischen Umweltreiz und Verhalten. Bei experimentellem Zugriff heißt das, dass ein Eingriff auch nach dem normalerweise bereits hinreichenden Umweltreiz (hier der Aufzucht) herbeiführend oder verhindernd erfolgreich ist. Es ist nur ein empirischer Fakt, dass es für die meisten Lebewesen solche einfachen Erklärungen nicht gibt, weil die ablaufenden Prozesse kompliziert sind. Es besteht (zumindest in diesem Beispiel) aber kein disziplinärer Konflikt. Die physiologische Erklärung ist auch nicht »eigentlich« in einem nachvollziehbaren Sinne. Die Rede von hierarchisch geordneten Ebenen (»Levels«) kann in diesem Sinne ebenfalls verwirrend sein. Es handelt sich zunächst um verschiedene Beschreibungs-, Beobachtungs- und Eingriffsmethoden, von denen keine als grundlegender als die andere bezeichnet werden kann. Zwischen dem Balzverhalten eines Finken und seinen Hormonen besteht ein kategorialer Unterschied und keine Teil-Ganzes-Beziehung, die häufig als Kriterium für hierarchische Ebenen genommen wird.70 In späteren Experimenten wurde das Wissen um Erzeugung und Abstellen dieses Verhaltens verfeinert. Es wurde unter anderem untersucht, was geschieht, wenn die Küken geschlüpft dem Nest entnommen werden, was geschieht, wenn sie später für eine bestimmte Zeit ganz isoliert gehalten werden und wenn sie in Teilisolation gegenüber den Weibchen aufgezogen wurden.71 Die Ergebnisse zeigten, dass es sensible Prägungsphasen gibt und die 70
Siehe Carl Craver/James Tabery: Mechanisms in Science, in: Edward N. Zalta (Hrsg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Winter 2015, SEP, 2015, Abschnitt 4.2. 71 Siehe Immelmann: Über den Einfluß frühkindlicher Erfahrungen auf die geschlechtliche Objektfixierung bei Estrildiden, S. 687 und Clayton: The Influence of Social Interactions on the Development of Song and Sexual Preference in Birds.
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4 Spezielle Typen kausaler Schlüsse
Präferenz bei bestimmten zeitlichen Verläufen etwa dadurch geregelt werden kann, ob der Zebrafink mit der anderen Art interagieren kann. Die daraus folgenden Aussagen sind komplizierter, ihre Begründung aber entsprechend dem oben genannten Argument. Die oben aufgeführte Kausalaussage (Beispiel II.38) zeigt genau die prägende Wirkung bestimmter Erfahrungen in frühen Entwicklungsphasen von Zebrafinken an. Das Argument zeigt ihre interventionistische Begründung. α-Amylase Nun soll ein Argument für die Wirkung eines im menschlichen Körper vorkommenden Exoenzyms dargestellt werden: die Verdauung von Stärke durch α-Amylase. Dabei ist der experimenteller Hintergrund chemische Verfahren der Stoffumwandlung: das gezielte Herbeiführen und Variieren von Reaktionen. Von Interesse ist der Übergang von Laborphänomen auf das Zielsystem »Mensch«. Ursprünglich wurde Amylase an Experimenten mit Malzextrakt und ausgehend von Optimierungen der Brauereiverfahren entdeckt.72 Wie beim Beispiel von Galileis Gezeitentheorie und der Sonnenfinsternis kann die Adäquatheit des bereinigten, isolierten Experimentes an den nicht abschließend verifizier-, aber experimentell falsifizierbaren Annahmen diskutiert werden. Amylase (P1 )
(P2 )
Wir können Stärke zu Dextrinen aufspalten, indem wir zur Stärke (in einer warmen, wässrigen Lösung) α-Amylase hinzugeben. Angleichen der im Experiment verwendeten Stoffe und Randbedingungen an die Stoffe und Bedingungen in den menschlichen Verdauungsorganen ist kein Mittel, um die Aufspaltung verhindern.
72
Siehe die deutsche Übersetzung des frz. Originalartikels von 1834: Anselme Payen/Jean-François Persoz: Ueber die Diastase und das Dextrin, und über die gewerbliche Anwendung dieser Substanzen, in: Annalen der Physik 108.9-14 (1834), S. 174–193, URL: http://dx.doi.org/10.1002/andp.18341080904.
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(P3 )
(S1 )
(K1 )
Solches Angleichen hat kein Reaktionsergebnis oder -verlauf zur Folge, der den Prozessen in den menschlichen Verdauungsorganen widerspricht. (Biochemisches Schlussprinzip:) Wenn wir in einem Experimentalsystem SE den chemischen Prozess P herbeiführen können, indem wir (unter Experimentalbedingungen BE ) XE hinzugeben und Angleichen von SE an SZ , XE an XZ sowie BE an die Bedingungen BZ des Zielsystems kein Mittel ist, um P zu verhindern, und solches Angleichen keinen Verlauf zur Folge hat, der unserem Wissen über SZ und P widerspricht, dann verursacht die Abgabe von XZ in SZ (unter den Bedingungen BZ ) den chemischen Prozess P. Also verursacht das Abgeben von α-Amylase in die Verdauungsorgane (sofern dort Stärke in warmer, wässriger Lösung vorhanden ist) die Aufspaltung von Stärke in Dextrine.
Der teleologischen Rede, wonach das humane Enyzm »die Funktion hat. . . « (»dafür da ist. . . «) kann hier auf einfach Weise kausal gedeutet werden: Ist gegeben, dass Menschen stärkehaltige Nahrungsmittel zu sich nehmen und zudem gegeben, dass das Gewinnen von aufnehmbaren Stoffen aus Nahrung überlebenswichtig ist, dann hat Amylase diese Funktion, weil sie vom Körper an passender Stelle ausgeschüttet wird und nachweislich unter solchen Bedingungen genau die Umwandlung bewirkt. Prämisse (P2 ) muss sich angesichts relaistischer Temperatur in den Verdauungsorganen, anderen vorfindlichen (vielleicht inaktivierten) Enzymen, typischer Ernährung mit Stoffgemischen usw. bewähren. Das Ersetzen der Gefäßwand durch eine organische Membran darf nicht die Aufspaltung verhindern usw. Neues Wissen um die Prozesse und »Ausstattung« der Verdauungsorgane kann hier stets die Prämisse falsifizieren und damit die Begründung der Kausalaussage. Es könnte allerdings auch überprüft werden, ob sich der »störende« Effekt selbst wieder durch weiteres Angleichen aufheben lässt.
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4 Spezielle Typen kausaler Schlüsse
Bei (P3 ) ist in diesem Beispiel an die Abgabe von α-Amylase in die menschlichen Verdauungsorgane vor der Aufspaltung zu Stärke zu denken. Dieser Sekretionsprozess ist ein natürlicher Vorgang, mit dem Stoffe der Umgebung zugegeben werden können. Die zeitliche Asymmetrie besteht, wenn das Enzym vor der Nahrungsaufnahme aus den Körperzellen abgegeben wurde – es geht um die zeitliche Nachordnung der chemischen Reaktion. Je nachdem, wie das Wissen um diese Sekretion gestützt wird, muss gegebenenfalls wieder die Adäquatheit eines Experimentalsystems für den menschlichen Organismus angenommen werden. Sofern keine Entnahme menschlicher Proben (oder geeignete Zubereitung) möglich ist, muss ein Ersatz verwendet werden. Wird das Enzym von Zellen von Verdauungsorganen (hier u.a. der Bauchspeicheldrüse) in vitro abgegeben, dann muss – bei tierischen Zellen – die Adäquatheit hinsichtlich menschlicher Zellen angenommen werden. Wenn menschliche Zellen in vitro verwendet werden, dann gilt gleiches für die Adäquatheit hinsichtlich der Vorgänge in vivo. Das Kausalverhältnis soll schließlich als begründet für das menschliche Verdauungsystem im lebendigen, organismischen Zusammenhang gelten. Weiterhin ist etwa an quantitative Verhältnisse, nicht nachweisbare Nebenprodukte der Reaktion, unpassende Reaktionsdauer u.ä. zu denken. Interessant wird diese Prämisse, wenn der Handlungserfolg quantitativ angegeben und eine entsprechende Kausalaussage gefolgert werden soll. So könnte ein quantitativer Widerspruch zwischen In-vitro-Reaktion und dem Verdauungsprozess auf ein weiteres Enzym hinweisen, das ebenfalls Stärke spaltet. Durch die Formulierung von (S1 ) sind die chemischen und die biologischen Anteile der Erklärung gut zu erkennen. Das Experiment ist als Stoffumwandlung chemisch. Die Amylase aber wird einem Lebewesen entnommen und die Erklärung über das Prinzip durch Wissen über ein Lebewesen bzw. ein Teilsystem des Lebewesens kontrolliert. (P1 ) ist modern formuliert: Bei der Entdeckung von Amylase 1833 (damals Diastase genannt) wurde noch nicht, wie heute, nach verschiedenen Formen des Enzyms unterschieden. In der hier gewählten Formulierung des Handlungswissens ist zudem eine theoretische Deutung des Experimentalvorgangs erkennbar:
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Nur hinsichtlich einer akzeptierten chemischen Theorie wird von »Aufspaltung« gesprochen. In den frühen Experimenten ist noch vom »Platzen« gummihaltiger Stärkesäcke die Rede.73 Die Akzeptanz der theoretischen Beschreibung der Reaktion kann im Einzelfall diskutiert werden. Beschreibung und Bestimmung der Stoffe ohne theoretische Begriffe der modernen Chemie ist aber im Zweifel möglich. Das damalige Experiment sollte schließlich auch trotz moderner Beschreibung reproduzierbar sein. Moderne biochemische Experimentalberichte enthalten allerdings typischerweise diverse, nicht vollständig ausgeführte Identifikationen von Stoffen und Vorgängen.74 Das Eingehen von theoretischen Begriffen in das formulierte Handlungswissen kann zu einer Form von Handlungsirrtum führen, bei dem der theoretische Gehalt (das Platzen von Stärkesäcken bzw. das Aufspalten von Polysacchariden in kurzkettige Zucker) des Ergebnisses als praktisch erwiesen angesehen wird. Wie oben für die Physik sei hier darauf hingewiesen, dass die theoretische Deutung von Experimenten keinen Mangel darstellt, sondern als eigener Schluss eingeordet werden muss, dessen entscheidende Prämisse – die folgende Prämisse (P2 ) – einer eigenen Begründung bedarf. Theorie der α-Amylase (P1 )
(P2 )
(S1 )
Wir können Stärke zu Dextrinen umwandeln, indem wir zur Stärke (in einer warmen, wässrigen Lösung) α-Amylase hinzugeben. Die Umwandlung von Stärke durch α-Amylase ist am besten theoretisch beschrieben als Aufspalten in Dextrine. Wenn wir Y herbeiführen können, indem wir X tun und Y theoretisch am besten beschrieben ist als Y 0 , dann können wir Y 0 herbeiführen, indem wir X tun. erfüllte hinr. Bed.
73 Payen/Persoz: Ueber die Diastase und das Dextrin, und über die gewerbliche Anwendung dieser Substanzen, S. 175. 74 Lange diskutiert interessante Folgen für die naturwissenschaftliche Ausbildung, die aus gewissermaßen sogar notwendiger Weise unvollständigen Instruktionen zur Reproduktion von Experimenten entstehen (siehe Lange: Experimentalwissenschaft Biologie).
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4 Spezielle Typen kausaler Schlüsse
(K1 )
Wir können Stärke in Dextrine aufspalten, indem wir zur Stärke (in einer warmen, wässrigen Lösung) α-Amylase hinzugeben.
Mit diesem einfachen Beispiel eines Stoffwechselprozesses können Darstellungen kritisiert werden, in denen eine Eigenständigkeit »mechanistischer« oder »zirkulärer Kausalität« in der Biologie behauptet wird und bei denen Mechanismen zu Grundeinheiten der wissenschaftstheoretischen Analyse der Biologie erklärt werden.75 Schon am Beispiel der Umwandlung von Nahrung zu Stoffen, die von Körperzellen aufgenommen und zur Energiegewinnung verwendet werden, kann nämlich die Modularität von Mechanismen vorgeführt werden. So ist es wahr, dass die Aufnahme energiereicher Stoffe, wie auch deren Verdauung Energie (etwa für Muskelkontraktionen) verbraucht. Zwischen Nahrungsaufnahme und Verdauung besteht also tatsächlich eine Wechselbeziehung. Grob formuliert verursacht Nahrungsaufnahme (unter geeigneten Bedingungen) Verdauung, während Verdauungsprodukte notwendig für die Nahrungsaufnahme sind. Im Detail jedoch würde doch jeder zustimmen, dass etwa im Citratzyklus trotz gleichzeitigem Stattfinden der Reaktionen (wenn eine Menge von Reaktionen betrachtet wird) für jede einzelne Teilreaktion gilt, dass das Molekül vor seiner Umwandlung (also etwa Citrat vor Isocitrat) entstand und dass sich im Idealfall die Einzelreaktionen jeweils experimentell isoliert durchführen lassen. Aus der Komplexität von Organismen und Stoffwechselprozessen folgt also nicht, dass eine biologische Erklärung derselben nicht auf einfache Kausalverhältnisse abstellen, die dann zu einem komplexen Mechanismus zusammengefügt werden. Genau das wird aber teilweise behauptet: [It] can be argued that experimental-biological knowledge is not restricted to causal graphs. Often, biological knowledge consists in descriptions of mechanisms and processes.76 75
Siehe Craver/Tabery: Mechanisms in Science, Abschnitt 1. Siehe Marcel Weber: Experiment in Biology, in: Edward N. Zalta (Hrsg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Winter 2014, SEP, 2014, wo diese Debatte referriert wird. 76
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Über die Laborarbeit werden vielmehr differenzierte Einzelmanipulationen und deren Handlungsfolgen zu einem Mechanismus verbunden. Dieser wird dann wiederum in einem Extrapolationsschritt dem zu erklärenden Phänomen am lebendigen Organismus unterstellt. Es ist die Kompliziertheit der Mechanismen, die dabei Anlass gibt, sie als eigenständige Entitäten aufzufassen. Dass aber Komplexität durchaus strenge, einfache, isoliert manipulierbare und auch mathematisch beschreibbare Teilverhältnisse nicht ausschließt, zeigt jeder komplizierte Schaltplan.77 Die komplizierten Abhängigkeiten der Regelungsmechanismen führen dazu, dass aus einer experimentellen Steuerung noch nicht direkt auf den Prozess im Zielsystem geschlossen werden darf. Lässt sich ein Zellprozess durch ein Enzym herbeiführen, dann ist damit allein noch nicht geklärt, dass es dieser Stoff ist, der den Prozess reguliert, oder ob er indirekt beteiligt ist.78 Diese Frage zu klären ist aus experimenteller Sicht aber eine des Designs adäquat komplizierterer Experimente. Ein Manipulationsmittel klärt also noch nicht über seinen genauen Ort im Mechanismus und seine Relevanz für den normalen Ablauf im Organismus auf. Der experimentelle Vorgang muss seine wirkliche Entsprechung haben, die vermeintliche Ursache »zur ›rechten‹ Zeit, am ›rechten‹ Ort im ›richtigen‹ Prozeß eine ›bestimmende‹ Rolle«79 spielen. Insofern Mechanismen auch durch Informationen über die räumliche Organisation von »Entitäten« innerhalb von Organismen charakterisiert sind80 , ist zudem darauf hinzuweisen, dass es plausible Kausalerklärungen der Biologie gibt, die ohne Wissen um Entitäten und ihre Organisation auskommen. Kausalaussagen wie die oben zur Prägung können mechanistisch allenfalls
77
Siehe dazu Pearl: Causality, S. 414 f. Für zwei Beispiele siehe Stefan Berking: Zur Rolle von Modellen in der Entwicklungsbiologie, Bd. 1981,2 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften), Berlin, Heidelberg, New York: Springer, 1981, S. 18 f. 79 Ebd. 80 Siehe die kanonische Definition bei Peter Machamer/Lindley Darden/Carl F. Craver: Thinking about mechanisms, in: Philosophy of Science 67.1 (2000), S. 1–25, URL : http://search.ebscohost.com/login.aspx?direct=true&db=aph&AN= 3242191&site=ehost-live, hier S. 3. 78
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4 Spezielle Typen kausaler Schlüsse
als Ergebnisse von Input und Output zu unbekannten Mechanismen verstanden werden.81 Hämophilie A Wie gesehen werden biologisch auch genetische Eigenschaften und Veränderungen als Ursachen organismischer Eigenschaften angesehen (etwa Beispiel II.46, FOXP2). Was sind Gene in kausaler Hinsicht? Wie lässt sich ihre Bedeutung aus der hier eingenommenen Perspektive rekonstruieren? Im Folgenden soll die Begründung von Beispiel II.44 (»In der Humangenetik ist die Inversion unter Beteiligung des Introns 22 des F8-Gens die häufigste Ursache der Hämophilie A«) rekonstruiert werden. Es ist also absichtlich ein Beispiel gewählt, bei dem die Geltung über ein Laborsystem hinaus geht und wegen der ethischen Grenzen von Humanexperimenten die genannte Wirkung (Hämophilie A) sicher nicht direkt hergestellt werden kann. Spezifisch medizinische Fragen zum Thema werde ich im Folgenden auslassen, also Hämophilie einfach als organismisches Merkmal unabhängig von seiner pathologischen Bedeutung behandeln, und noch nicht diskutieren, warum das Fehlen eines bestimmter Proteins im Blut als die – die notwendige – Ursache von Hämophilie angesehen wird.82 Rekonstruktionsziel ist dabei eine Aussage, nach der genetische Eigenschaften eines bestimmten Typs in der Menge von Ursachen eines Merkmals quantitativ am häufigsten vorliegen. Letzter Schritt des Argumentes sollte daher die quantitative Gewichtung einzelner Instanzen des Ursache-Wirkungs-Verhältnisses und damit unproblematisch sein. Zu beachten ist lediglich, dass ein Ereignistyp von Mutationen gebildet werden muss (»Inversionen. . . «) und dass die quantitative Aussage auf Hämophilie A-Patienten bezogen formuliert wird, d.h. bezogen auf solche Patienten mit Hämophilie, bei dener der Gehalt eines bestimm81
Bei Raoul Gervais/Erik Weber: Inferential explanations in biology, in: Studies in History and Philosophy of Science Part C: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 44.3 (2013), S. 356–364, URL: http://www.scien cedirect.com/science/article/pii/S1369848613000915 wird an Experimenten zum Orientierungsvermögen von Tauben und dem Photoperiodismus von Pflanzen plausibel der explanatorische Gehalt nicht-mechanistischer Erklärungen belegt. 82 Siehe dazu unten, 237 ff.
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4.2 Biologie I
ten Proteins im Blut (Glutgerinnungsfaktor VIII)83 verringert ist oder denen das Protein völlig fehlt: Hämophilie AletzterSchritt (P1 ) (P2 )
(K1 )
Inversionen unter Beteiligung des Introns 22 des F8Gens verursachen Hämophilie A. Aus den Ursachen für Hämophilietyp A sind bei Patienten am häufigsten Inversionen unter Beteiligung des Introns 22 des F8-Gens nachweisbar. Also: Am häufigsten verursacht eine Inversion unter Beteiligung des Introns 22 des F8-Gens Hämophilie A.
Das hier zugrunde liegende Schlussprinzip ist begrifflich wahr gemäß unserer alltäglichen Rede über die Häufigkeit von Ursachen bestimmter Ereignisse eines bestimmten Typs. Er werden schlicht singuläre Kausalaussagen abgezählt. (P2 ) ist hier vage formuliert, weil die Bezugsgröße, hinsichtlich derer die Häufigkeit festgestellt wird, nicht angegeben ist. Ausgesagt werden soll schließlich etwas über alle Hämophilie APatienten, während das tatsächliche Auszählen einzelner Kausalverhältnisse selbstverständlich nur an einer ausgewählten Patientenanzahl vorgenommen werden kann.84 Hier reicht es aus, mit (P2 ) den argumentativen Ort der Frage anzugeben, inwiefern die Stichprobe in quantitativer Hinsicht repräsentativ für alle Menschen ist. Seiner Form nach dürfte das Argument unkontrovers und nicht spezifisch biologisch sein. Von größerem Interesse ist hier Begründung von (P1 ). Dass Hämophilie eine Erbkrankheit ist und damit auch, dass sie in einem schwachen Sinne genetische Ursachen hat wurde schon vermutet bevor überhaupt molekulargenetisches Wissen zur Verfügung stand. »Schwach« soll hier heißen, dass alleine die 83 Im Folgenden bezieht sich »F 8« stets auf das Gen und »Faktor VIII«, bzw. »F VIII« auf das Protein. 84 Siehe die Angaben in Delia Lakich u. a.: Inversions disrupting the factor VIII gene are a common cause of severe haemophilia A, in: Nature Genetics 5.3 (1993), S. 236–241, URL: http://www.nature.com/ng/journal/v5/n3/pdf/ng1193236.pdf.
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Eigenschaften der Eltern Ursache der Erkrankung sind. Schon zum Zeitpunkt der ersten Bestimmung des Gens und seiner Expression zu Faktor VIII stand fest: The two most common haemophilic disorders are caused by the decreased function of factor VIII (haemophilia A or classic haemophilia; 80% of all cases) or factor IXa (haemophilia B or Christmas Disease).85
Für die Begründung einer genetischen Kausalaussage im engeren Sinne, also einer solchen, die Eigenschaften des DNA-Moleküls nennt, könnte man nun vermuten, dass beobachtet wurde, dass immer dann, wenn eine bestimmte genetische Eigenschaft bei Hämophilie A vorliegt, auch die Krankheit vorliegt. Tatsächlich aber läuft die Erklärung über das vorab gewonnene Wissen über Blutgerinnung ab. Das F8-Gen ist benannt nach dem Protein, das entsteht, wenn der normale Prozess der Proteinbiosynthese mit diesem DNA-Abschnitt geschieht. Wissen um dieses Protein, den Blutgerinnungsfakor VIII (Antihämophiles Globulin A), war unabhängig von genetischem Wissen im engeren Sinne. Interessant im Kontext dieser Arbeit ist nun, inwiefern der tatsächliche manipulative Nachweis über die Wirksamkeit der genannten Ursachen überhaupt geführt wurde. Außerdem ist zu klären, inwiefern nicht wegen biologischen Hintergrundwissens allein der Nachweis der Korrelation bestimmter Mutationen und der Krankheit (im Sinne einer statistisch hinreichenden Bedingung einer Mutation für das Merkmal) den kausalen Schluss erlaubt: Ist das molekulargenetische Wissen um die normale Synthese von Faktor VIII also nicht derart, dass der experimentelle Nachweis der Wirksamkeit einzelner Mutationen nicht durchge85
W. I. Wood u. a.: Expression of active human factor VIII from recombinant DNA clones, in: Nature 312.5992 (1984), S. 330–337, URL: http://www.nature. com/nature/journal/v312/n5992/abs/312330a0.html, hier S. 331. Die relevanten biogenetischen Artikel erschienen gemeinsam 1984 in Nature: ebd., Jane Gitschier u. a.: Characterization of the human factor VIII gene, in: Nature 312.5992 (1984), S. 326–330, URL: http://www.nature.com/nature/journal/v312/n5992/abs/ 312326a0.html, Gordon A. Vehar u. a.: Structure of human factor VIII, in: Nature 312.5992 (1984), S. 337–342, URL: http://www.nature.com/nature/journal/ v312/n5992/abs/312337a0.html, John J. Toole u. a.: Molecular cloning of a cDNA encoding human antihaemophilic factor, in: Nature 312.5992 (1984), S. 342–347, URL : http://www.nature.com/nature/journal/v312/n5992/abs/312342a0.html.
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führt werden muss? Wie lässt sich dies in kausaler Hinsicht ausformulieren? Tatsächlich wurde ein solcher Test zunächst nicht durchgeführt. In dem folgenden Argument, mit dem die Begründung rekonstruiert wird86 , spielt Handlungswissen dennoch eine zentrale Rolle. Eine Wissenssituation lag vor, in der es bereits als gesichert galt, dass Expression des Gens hinreichend und notwendig für die Herstellung von Gerinnungsfaktor VIII ist. Die experimentelle Begründung dieser starken These über das Verhältnis von Faktor VIII und F8-Gen wird mit den schon bekannten falsifizierbaren Annahmen zu einem adäquaten In-vitro-Modell weitergeführt. Allerdings muss eine Prämisse ergänzt werden, die generell den Effekt bestimmter DNA-Veränderungen (asymmetrischer Inversionen) zu erschließen erlaubt: Das Entstehen solcher Inversionen des Introns eines Gens verursacht, dass das codierte Protein nicht erzeugt wird. Hämophilie A1 (P1 )
(P2 )
(P3 )
(P4 )
Wir können Faktor VIII synthetisieren, indem wir den F8-Abschnitt der menschlichen DNA in Hamsterzellen exprimieren lassen. Angleichen des In-vitro-Systems an Bedingungen von In-vivo-Genexpression im menschlichen Körper ist kein Mittel, um die Synthese von Faktor VIII zu verhindern oder anders, als mittels Expression von F8-Genkopien herzustellen. Solches Angleichen ist kein Mittel, um einen Expressionsverlauf herbeizuführen, der unserem Hintergrundwissen über die humane Faktor-VIIIErzeugung widerspricht. Wir können mit keiner anderen Technik Faktor VIII erzeugen und den Verlauf zu einem adäquaten Modell humaner Proteinsynthese machen.
86
Vereinfachend wird dabei nur vollständiges Fehlen des Gerinnungsfaktors im Blut berücksichtigt.
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(K1 )
(P5 )
(K2 )
(P6 )
(K3 )
genetisches Schlussprinzip Das Entstehen von Faktor VIII wird im menschlichen Körper ausschließlich durch Expression des F8-Gens verursacht. Asymmetrische Inversionen der Introns von Genen verursachen stets das Ausbleiben des von ihnen codierten Merkmals. Kettenschluss Asymmetrische Inversionen unter Beteiligung des Introns 22 des F8-Gens verursachen, dass im menschlichen Organismus kein Faktor VIII entsteht. Die Abwesenheit von Faktor VIII im menschlichen Organismus verursacht verringerte Blutgerinnung, d.h. Hämophilie. Transitivität Asymmetrische Inversionen unter Beteiligung des Introns 22 des F8-Gens verursachen Hämophilie.
Der erste Schluss ist ein Modellschluss, ähnlich denen zuvor, nur mit genetischen Begriffen. Dem ersten Schluss liegt die Annahme eines notwendigen Handlungsmittels zugrunde, womit (K1 ) als Aussage über eine notwendige Ursache verstanden werden kann.87 Prämisse (P1 ) gibt das entscheidende Handlungswissen an, das zu dieser genetischen Erklärung beiträgt. Die Reihe der oben genannten Artikel enthielt die Beschreibung des F8-Gens und den Nachweis, dass seine Expression unter Laborbedingungen den Blutgerinnungsfaktor entstehen lässt. Die Beschreibung des Experimentalergebnisses ist nicht trivial und auch die Handlungsfolge muss erst biochemisch »gedeutet« werden. (P2 ) – P(4 ) sind keine direkten Experimentalergebnisse, sondern Aussagen über einen Typ von Experimenten. Das formulierte Ergebnis kann daher durch einzelne Experimente nie vollständig bewiesen werden können.88 Dies macht eine technische Erkenntnisgrenze des Argumentes dar. 87
Siehe Galileis Gezeitenerklärung (Seite 115) und die Erklärung der Sonnenfinsternis (Seite 140). 88 »[. . . ] low stringency blot experimentes have so for detected no closely related factor VIII genes or pseudogenes« (Gitschier u. a.: Characterization of the human factor VIII gene).
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Mit (P2 ) und (P3 ) wird wieder falsifizierbar die Adäquatheit des Modellsystems behauptet. Hiergegen können sich also experimentelle Gegenargumente richten. Durch viele Aspekte des Experimentes wird die Menge möglicher Gegenargumente bereits begrenzt: Die Verwendung einer DNA-Kopie, die Expression in Säugetierzellen (im Original Leberzellen des Hamsters) usw. Eine genaue Formulierung der Handlungsanweisung zur Reproduktion von (P1 ) zeigt diese ausgeschlossenen, aber auch die übrig gebliebenen möglichen Angriffspunkte an (z.B. mögliche Unterschiede von Genexpression in Hamster- und humanen Zellen). Auch darin besteht ein Vorteil einer explizit argumentationstheoretischen Rekonstruktion. Mit der nicht-technischen Annahme (P5 ) wird in diesem Argument also auf die Durchführung des Experimentes verzichtet, das den Effekt der DNA-Veränderungen testet. Die Prämisse lässt sich als grundlagenwissenschaftliche, »gesetzes-ähnliche«, generelle Aussage über Genexpression verstehen.89 Das Argument ist damit abhängig von einer Bewährung von (P5 ) in der Grundlagenforschung, was einerseits erlaubt, eine spezielle Experimentalstudie zu umgehen, die das Ausbleiben der Synthese von Faktor XIII testet, aber auch eine weitere Erkenntnisgrenze darstellt.90 Diese gilt im Rahmen von Einsichten in Transkriptions- und Translationsprozesse jedoch als unproblematisch. Mit der Prämisse (P5 ) ist also zu erkennen, was geschieht, wenn ein neuer Typ von Handlungswissen im Fach auftaucht: Die Argumente, die die so falsifizierte »gesetzes-artige« Prämisse über Expressionsprozesse enthielten, müssen nun verbessert werden.91 89
Im Zuge der »Aufarbeitung« des DN-Erklärungsmodells gerieten spezifisch biologische, gesetzesähnliche Generalisierungen wieder mehr in den Blick (siehe z.B. Sandra D. Mitchell: Pragmatic Laws, in: Philosophy of Science 64 (1997), S468–S479, URL: http://www.journals.uchicago.edu/doi/abs/10.1086/392623). 90 Die Formulierung, mit der implizit auf dieses Gesetz verwiesen wird, scheint zu sein: »Consequently, the factor VIII gene would be divided into two parts, with an intact promoter and exons 1-22 greatly separated from, and in opposite orientation to, exons 23-26 [. . . ]« (Lakich et al.: Inversions disrupting the factor VIII gene are a common cause
of severe haemophilia A, p. 236). 91 Interessant an neueren Begründungen von Mutationsfolgen ist der Einsatz von Methoden der Bioinformatik. Bei einer neueren, genetisch spezifischen Kausalerklärung der Hämophilie von Königin Viktoria und ihren Nachkommen heißt es z.B.: »Bioinformatics analysis predicts that the IVS3-3A>G mutation at this evolutionarily conserved nucleotide creates a cryptic splice acceptor site (4), which shifts the open reading frame of the F9 mRNA, leading to a prema-
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Zum Schluss auf (K2 ): Der Schluss aus notwendiger Ursache und Gesetz ist ein einfacher Kettenschluss. Aus dem Gesetz folgt grob formuliert: Wenn das Intron von F 8 (asymmetrisch) invertiert vorliegt, dann wird damit kein F VIII synthetisiert. Es gilt zudem nach (K1 ): Wenn kein Faktor VIII mit F 8 synthetisiert wird, dann liegt überhaupt kein Faktor XIII vor. Daraus folgt: Wenn Intron von F 8 invertiert, dann liegt überhaupt kein Faktor XIII vor.92 Die letzte Prämisse (P5 ) wird in dieses Argument unbegründet investiert. Später soll klar werden, inwiefern diese Prämisse auf typisch medizinische Weise begründet wird.93 Das Argument zeigt wenigstens eine plausible kausale Bedeutung der Rede von »Gen«: Ein Abschnitt der DNA ist »Gen für ein Merkmal X« genau dann, wenn Ablesen und Umsetzen (Translation und Traskription) dieses Abschnittes es verursacht, dass X entsteht.94 Das Beispiel der Hämophilie ist ein besonders einfaches, weil das verursachte Merkmal direkt durch Beseitigen eines Proteins herbeigeführt werden kann. Die praktische Grundlage genetischen Wissens im weiteren Sinne ist das vorwissenschaftliche Züchtungswissen. Es gibt organismische Merkmale, die sich alleine durch Züchtung reproduzieren lassen.95 Während der Züchter nicht mehr tun muss, als die richtigen Tiere zu verpaaren (und die Abkömmlinge wie alle anderen aufzuziehen), ist er andererseits hinsichtlich bestimmter Eigenschaften ab dem Moment der Zeugung machtlos.96 Der ture stop codon[.]« (Rogaev u. a.: Genotype Analysis Identifies the Cause of the “Royal Disease”, S. 817) Auf die Details des Prozesses kommt es hier nicht an – lediglich darauf, dass statt experimentellem Test fehlerhafter Synthese eine Computersimulation durchgeführt wird. Die Begründung der Ergebnisse von »In-silico-Experimenten« wird in dieser Arbeit aber nicht untersucht (siehe oben, Seite 128). Es wäre die Begründung der eventuell in die Entwicklungsvorschriften eingehenden »Gesetze« der Grundlagenforschung bzw. die Herkunft der »Listeneinträge« zu funktionalen Folgen von veränderten DNA-Bereichen zu untersuchen. 92 Es geht dabei um logische, nicht kausale Wenn-Dann-Sätze. 93 Siehe Seite 284. 94 Ulrich Stegmann: Causal Control and Genetic Causation, in: Nous 48.3 (2014), S. 450–465 sieht in diesem Sinne die besondere Rolle der DNA in einer Kontrollfunktion für voneinander unabhängige Prozesse und Zustände (z.B. Basenfolgen einer RNA) analog zu Lochkarten in Webstühlen und Stiftwalzen bei Spieluhren. 95 Siehe Hesslow: What is a genetic disease? 96 Siehe Tinbergens Beispiel dazu, dass die Aussage, dass ein Verhalten »angeboren« sei (»intern kontrolliert«) am besten negativ formuliert werden müsste
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Übergang zu einer genetischen Wissenschaft – in der Geschichte der Wissenschaften festzumachen an Mendel mit seinen Kreuzungsexperimenten an Erbsen – ist dort fließend, wo Züchtungsund Kreuzungsergebnisse an Reinzuchtformen quantitativ ausgewertet und vorhergesagt werden können. Auf diese Weise gelingt auch eine operationale Einführung des Begriffs »Gen«, für die keine mikroskopischen oder zellbiologischen Ergebnisse nötig sind.97 Auch zwischen erblicher Variation als Mutation des »Erbgutes« und Rekombination erblicher Merkmale bei der sexuellen Fortpflanzung lässt sich ohne solches Wissen unterscheiden. »Genetische Ursachen« im weiteren Sinne kennzeichnen zunächst nur Ursachen (natürlicher) Entwicklungsergebnisse, die sich alleine durch Zucht reproduzieren lassen. Das Verfahren zur Erzeugung ist »nur« das Abwarten der selbständigen Entwicklung des Organismus unter ausreichenden Überlebensbedingungen. Die moderne Genetik kann dagegen als Erklärung für viele Entwicklungsprozesse und -ergebnisse Ursachen angeben, die alleine Eigenschaften von einzelnen Bestandteilen der Zellen benennen – im Einzelfall Eigenschaften einer einzigen Zelle (z.B. der befruchteten Eizelle) –, aus denen sich komplexe Organismen entwickeln. »Genetische Ursachen« im engeren Sinne geben als Ursachen von Entwicklungsergebnissen solche Eigenschaften des Organismus an, die sich als Eigenschaften des spezifischen DNA-Moleküls beschreiben lassen. Die Grundstruktur des genetischen Handelns in weiterem Sinne ist also das bloße Anzüchten, Wachsenlassen, Sich-Entwickeln-Lassen. Im engeren Sinne ist es das Herstellen von Eigenschaften der DNA und anschließende Exprimieren des Gens durch Modellverfahren bzw. das Sich-Entwickeln-Lassen des Organismus unter üblichen Zuchtbedingungen.
(Tinbergen: On aims and methods of Ethology, S. 424) als Irrelevanz von Umweltinteraktion. 97 Zur Entwicklung der Genetik aus wissenschaftstheoretischer Sicht, siehe Mathias Gutmann: Die Evolutionstheorie und ihr Gegenstand. Beitrag der methodischen Philosophie zu einer konstruktiven Theorie der Evolution, Berlin: Verlag für Wissenschaft und Bildung, 1996, S. 100 ff.
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4.2.2 Biologische Argumenttypen I Soweit Beispiele interventionistischer Rekonstruktionen biologischer Kausalerklärungen in expliziten Argumenten. Nun sollen die Überlegungen zusammengefasst werden. Dabei soll klar werden, dass die verwendeten argumentativen Strategien auch für andere Beispiele sinnvoll sind und zur Diskussion von Themen aus der Wissenschaftstheorie der Biologie einsetzen lassen. Nach der Beispielarbeit soll also nun die Nützlichkeit des Ansatzes für Themen aus dem oben genannten Fragebereich B98 belegt werden. Es gibt Kausalaussagen, die rein experimentell und in einfachster Form mittels des interventionistischen Schlussprinzips begründet werden. Das Beispiel von sexueller Prägung durch frühkindliche Erfahrung bei Zebrafinken diente hier als Beispiel. Die Erklärung zur Metamorphose des Axolotls (s.o. Beispiel II.42) kann so verstanden werden: Eine Thyroxinintervention auf die Entwicklung des Lebewesen führt zu einem (unnatürlichen) Entwicklungsprozess mit Metamorphose. Alle Einzelreaktionen mit Stoffen, die Lebewesen entnommen wurden, können auf diese Weise Kausalaussagen begründen; man denke an jede Aussage über die antibiotische Wirkung eines Stoffes auf bestimmte Bakterien.99 Mit einer expliziten Rekonstruktion solcher Aussagen in interventionistischer Form kann immerhin klar gemacht werden, inwiefern die Geltung zunächst auf den Laborbereich beschränkt ist. So steckt etwa hinter der Aussage »Sleep Deprivation Causes Behavioral, Synaptic, and Membrane Excitability Alterations in Hippocampal Neurons« eine Studie mit Ratten, die 72 Stunden auf eine wasserumgebene Fläche gesetzt wurden, die so klein war, dass die Ratten sich nicht zum Schlafen hinlegen konnten. Hinsichtlich ihres Verhaltens war das Ergebnis, dass diese Ratten weniger Schockverhalten in einem wiederholten Konditionierungsexperiment zeigten. Dies wurde so gedeutet wurde, dass sie sich weniger an den Schockreiz erinnerten.100 Formuliert man das entspre98
Siehe oben, Seite 126. Siehe Weber: Experiment in Biology, Abschnitt 1.1. 100 Carmel M. McDermott u. a.: Sleep Deprivation Causes Behavioral, Synaptic, and Membrane Excitability Alternations in Hippocampal Neurons, in: The Journal 99
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chende Handlungswissen (und folglich auch die Kausalaussage) näher an der tatsächlichen Handlungsanweisung, dann werden die Begrenzung der Studie, aber auch schon die verschiedenen Schritte der Deutung des Experimentes innerhalb der Studien schnell sichtbar. Zwei Zwecke solcher Begründungen wurden bereits angedeutet: Das experimentelle Wissen kann zur Stützung biologischer Praxen verwendet werden und es gibt »Material« für Kausalerklärungen von Vorgängen außerhalb des Labors. Wie experimentell erworbenes Handlungswissen argumentativ verwendet werden kann, zeigte das Beispiel zur humanen α-Amylase. Hier wurde das In-vitro-Handlungswissen über Adäquatheitsbedingungen auf den ganzen Zielorganismus übertragen. Das obige Beispiel zur Amylase hatte folgende Form: Biochemischer Argumenttyp (P1 )
(P2 )
(P3 )
(K1 )
Wir können im Experimentalsystem SE den chemischen Prozess P herbeiführen, indem wir (unter Experimentalbedingungen BE ) XE hinzugeben. Angleichen von SE an Zielsystem SZ , XE an XZ sowie BE an die Bedingungen BZ des Zielsystems ist kein Mittel, um P zu verhindern. Solches Angleichen hat keine Folgen, die unserem Wissen über SZ und P widersprechen. Biochemisches Schlussprinzip Die Abgabe von XZ in SZ verursacht (unter den Bedingungen BZ ) den chemischen Prozess P.
Es ist plausibel, das Schlussprinzip nicht spezifisch hinsichtlich extrahierter Stoffe, lebendiger Organismen beziehungsweise aktiver Zellen in vitro oder Tiermodellen zu formulieren. Das Experimentalsystem kann aber muss kein ganzer lebendiger Organismus sein. Die Verwendung eines Bakteriums oder höherer Lebewesen führt nicht zu einer Erklärung einer anderen Form, sondern (im besten Fall) zu einer verbesserten Einschätzung gesamtorganismischer Adäquatheit. of Neuroscience 23.29 (2003), S. 9687–9695, content/23/29/9687.
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Einzelne Begründungen der Ursache von Verdauungsprozessen, vergleichbar der zum Exoenyzm α-Amylase, rechtfertigen eine Aussage wie die über Bakterien (Beispiel II.36). Die Zielsysteme sind dabei nicht bloß die vereinheitlichten Laborbakterien, sondern Bakterien generell. Entsprechende Varianten dieser Argumentform lassen sich für verschiedene biologische Disziplinen aufstellen. Die Argumentform dürfte (entsprechend leicht angepasst) für viele Bereiche der Genetik adäquat und zudem dort die favorisierte Begründungsform sein, wie an der Expression des F8-Gens gezeigt wurde. Die Form des Schlussprinzips wird dann gleich so gewählt, dass beliebige Merkmale dort eingesetzt werden können, solange ihr Entstehen nur durch das Verwenden des Gens gesteuert werden kann. Das Gen ist in vitro das Handlungsmittel, das zur Herstellung eines Merkmals in einem Verfahren verwendet wird, das als adäquates Modell eines natürlich ablaufenden Prozesses angenommen wird. Wieder wäre es demnach völlig zulässig, Verhalten (bzw. Verhaltensmerkmale), kognitive Merkmale oder Biomoleküle (als physiologische Merkmale) anzugeben. Nur ein Beispiel für eine genetische Ursache eines morphologischen Merkmals ist: Wir wissen heute, dass die Ursache für die weiße Augenfarbe bei Drosophila tatsächlich im Ausfall der Funktion eines Gens liegt (das Gen wurde aufgrund der phänotypischen Veränderung in der Mutante als »white« bezeichnet). Ein experimenteller Test hierfür lässt sich dadurch erbringen, indem man das white-Gen durch eine Deletion im Chromosom entfernt.101
Für den Fall, dass dies auch eine Aussage über eine Wildtypvariante sein soll, müsste dies mit Prämissen (P2 ) und (P3 ) gerechtfertigt bzw. über Falsifizierungsbedingungen an den Forschungsprozess angebunden werden. Bei einem Erklärungsbeginn mit praktischem Wissen deutet sich eine Strategie an, wie sich die teleologische Rede von Funktionen – wonach ein Merkmal zu einem natürlichen Zweck vorliegt – auflösen lässt: Mit einem Experiment zeigen wir die 101
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Drew: Mikrobiologie, S. 394.
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Zweckmäßigkeit eines Merkmals. Wenn wir also einen bestimmten Zweck verfolgen, dann ist das Verwenden des Merkmals ein erfolgreiches Mittel. Ist das Erreichen des Ereignisses oder Zustandes, der als Handlungserfolg etabliert wird, unter üblichen Bedingungen und Verhaltensweisen des Lebewesens vorteilhaft (überlebenswichtig, energetisch günstig o.ä.), dann ist die Funktion dieses Merkmals diese Wirkung. Die exemplarische Aussage zum Geißeltierchen (Beispiel II.37) soll so die Funktion für die chemotaktische Steuerung von Fortbewegung zeigen. So verstanden gibt es also für Merkmalfunktionen keinen eigenen teleologischen Ursachentyp. Funktionen lassen sich auf Kausalaussagen und Annahmen über übliche Umweltbedingungen reduzieren.102 Erkenntnisprobleme entstehen dort, wo dem Angleichen der beiden Systeme Grenzen gesetzt sind. Bei physikalischen Systemen waren Grenzen typischerweise Dimensionen (zu klein, zu groß, zu schnell, zu heiß usw.). In der Biologie stellt die spezifische Komplexität der Lebewesen ein Hindernis dar.: Je komplexer die Versuchsgegenstände sind und je sensibler sie auf Laborbedingungen reagieren, desto schwieriger wird die Absicherung der Adäquatheit des Modells. Bei Experimenten der Verhaltensforschung wird dies bereits zum Problem. Käfighaltung hat nachweislich Wirkung auf das Sozialverhalten von Lebewesen. Denkt man hier etwa an die Unterschiede zwischen isoliert in Käfigen gehaltenen Vögeln und natürlichem Leben in großen Schwärmen mit Kontakt zu anderen Vögeln, dann ist es plausibel, eine große Menge von Bedingungen als Kandidaten für relevanten Einfluss anzusehen. Diese Faktoren können aber schwer zu testen sein: Wie kann zum Beispiel in großen Vogelschwärmen Sozialinteraktion quantitativ ausgewertet werden, so dass überprüft werden kann, ob die Balzpräferenz eines Männchens eher durch aggressives pflegendes Verhalten o.ä. gesteuert wird? Je sensibler ein Lebewesen auf Gefangenschaft reagiert, desto schwieriger wird die Übertragung auf natürliches Verhalten – erst recht, wenn davon auszugehen ist, dass das Lebewesen schnell und sensibel auf Menschen reagiert.
102
Im Zusammenhang mit evolutionären Erklärung wird das Thema »Teleologie« (ab Seite 203) erneut aufgegriffen.
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Auch beim Umbau der verwendeten Labororganismen bestehen Grenzen.103 Genetische Knock-in-Methoden dienen zwar genau dem Zweck, passende Merkmale einfacher zu erzeugen, aber die (eher zu- als abnehmende) Einsicht in die Komplexität von Regulations- und Wechselwirkungsmechanismen macht Übertragung von Experimentalergebnissen zwischen Spezies besonders schwierig. Über einen Modellschluss Modellschluss hinaus zeigte das Beispiel zur α-Amylase auch, dass biologische Prozesse mit Begriffen biochemischer Theorie neu beschrieben werden.104 Die allgemeine Akzeptanz dieses theoretischen Begriffsrahmens ist entscheidend dafür, wie sehr Handlungsergebnisse und -folgen gleich theoretisch oder erst phänomenal beschrieben werden. Die entsprechenden Begründungsprozesse allerdings sind nicht Gegenstand dieser Arbeit. Mit dem letzten Beispiel der Hämophilie-A-Erklärung sollte eine weitere argumentative Strategie exemplarisch dargestellt werden: die Verwendung gesetzesähnlicher Sätze aus Grundlagendisziplinen. Hier zeigt sich ein grundsätzliche Unterschied zwischen den Hinweisen auf inferentielle Beziehungen, die sich in fachlichen Publikationen finden, und einer kritischen, wissenschaftstheoretischen Rekonstruktion der Argumentation. Sofern der Fachtext nicht gerade Grundlagenforschung selbst zum Gegenstand hat, werden allgemein bekannte »Gesetze« bzw. gesetzesähnliche Generalisierungen nicht aufgeführt, während eine Rekonstruktion diese Prämissen zu ergänzen hat.
4.2.3 Tiermodelle Ein spezielles Erkenntnisproblem von Schlüssen auf Verhältnisse, die nicht direkt im Labor getestet werden können, soll an dieser Stelle gesondert angeführt werden, auch deshalb, weil es sich als notorisches Problem in medizinischer und psychiatrischer For103
Lange sieht ein spezifisches Problem der Mikrobiologie in der nicht prototypenfreien Reproduzierbarkeit der Organismen (siehe Lange: Experimentalwissenschaft Biologie, S. 204). 104 Ein analoges Beispiel für die Physik wäre die theoretische Neubeschreibung der Folgen von Spannungsveränderungen im Millikanexperiment als elektrische Wirkung auf einzelne Ladungsträger (Elektronen) des versprühten Öls.
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schung wiederfindet: Die argumentativen Schwierigkeiten und zwei Verlockungen, die Tiermodelle mit sich bringen. Wenn die Gegenstände der Kausalerklärung nicht im Labor hergestellt werden können und dies nicht einmal an Teilsystemen der Zielorganismen möglich ist (Blut, einzelne Zellen usw.), dann werden häufig Tiermodelle verwendet, um Ursache-Wirkungs-Verhältnisse zu untersuchen. Man kann versuchen, Bedenken hinsichtlich der Übertragbarkeit der Ergebnisse dadurch gerecht zu werden, dass man z.B. die Modellorganismen mit Bestandteilen des Zielorganismus versieht. Ein besonderer Vorteil z.B. molekulargenetischer Methoden besteht darin, auch Tiermodelle erzeugen zu können, in denen wenigstens Teile der DNA von Modell- und Zielsystem ununterscheidbar sind – schlicht deshalb, weil etwa ein Gen vom Menschen auf die Maus übertragen wird (Humanisierung). Experimentelle Ergebnisse können – wie gesehen – selbstverständlich ausschließlich bezogen auf Labororganismen oder -prozesse formuliert werden. Viele Fachgebiete der Biologie nutzen (und erzeugen) für Grundlagenforschung typische Organismen: Die Genetik nutzt noch immer Taufliegen (Drosophila melanogaster), die Neurobiologie Tintenfische (Doryteuthis pealeii), die Entwicklungsbiologie Fadenwürmer (Caenorhabditis elegans) und den Zebrabärbling (Damio rerio). Das Laborbakterium schlechthin ist das Darmbakterium Escherichia coli. Die Biomedizin nutzt umfangreich Mäuse (Mus musculus) und Ratten (Rattus norvegicus): So wurden allein in Amerika 2003 etwa 40 Millionen Mäuse zu Forschungszwecken verwendet105 , in Deutschland 2014 alleine 3 Millionen Versuchstiere insgesamt.106 Ergebnisse bewähren sich für andere Spezies, weil homologe und analoge Merkmale der Spezies bestehen. Klar ist aber auch, dass Unterschiede zwischen ihnen (und selbst innerhalb von Spezies) bestehen, die relevant sein könnten. Mit verschiedenen Überlegungen kann versucht werden, die Verlässlichkeit von Modellen vorab abzuschätzen. Typische Probleme sollen hier in argumentativer und praktischer Hinsicht diskutiert werden. 105 Anita Guerrini: Experimenting with Humans and Animals. From Galen to Animal Rights, Baltimore [u.a.]: The John Hopkins University Press, 2003, S. 133 106 Statistik des Bundeministeriums für Ernährung und Landwirtschaft, letzter Zugriff am 01. Februar 2016, URL: http://www.bmel.de/DE/Tier/Tierschutz/ _texte/TierschutzTierforschung.html?docId=7027766.
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LaFollette und Shanks machen an biomedizinischen Beispielen auf zwei Fehlschlüsse aufmerksam, die generell auf alle Argumente zutreffen, in denen Organismen als Modelle verwendet werden.107 In beiden Fällen bemühe man sich mit allgemeinen Überlegungen um den Nachweis, dass ein Organismus (oder ein Teilsystem desselben) ein Kausalmodell eines anderen sei, und versuche dann direkt aus Ergebnissen am Modell- auf Aussagen über das Zielsystem zu schließen. Im ersten Fall soll die gleiche Funktion eines Merkmals zweier Spezies diesen Schluss erlauben. Die Autoren geben nun eine Reihe von empirischen Beispielen, bei denen, wie beim Vergleich einer Pendel- und einer Digitaluhr eine mittels eines Modell begründete Zielaussage trotz funktionaler Ähnlichkeit falsch wäre (Säugetier- und Vogellungen, Verdauungsprozesse bei Mensch, Hund, Katze, Ratte und Schwein). As the preceding considerations make apparent, functional similarity does not guarantee underlying causal similarity nor does it make such similarity ‘probable’. To assume it does is to commit what we term the modeller’s functional fallacy.108
Die bisherigen Überlegungen zu praktisch gestützten Argumenten und dem daran entwickelten Verständnis von Funktionen kann dies plausibilisieren: Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich der gleiche Typ von Handlungsfolge durch verschiedene Handlungen etablieren lässt. Im zweiten Fall eines Fehlschlusses werde aus der phylogenetischen Nähe von Organismen auf die Verlässlichkeit des Modells geschlossen. Auch hier geben die Autoren eine Reihe empirischer Hinweise, bei denen eine modellgestützte Zielaussage trotz großer phylogenetischer Nähe von Modell- und Zielorganismus falsch wäre. So weisen sie etwa auf deutliche onkologische Unterschiede zwischen Maus und Ratte und grundlegende, physiologische Schwierigkeiten beim Vergleich von Mensch und anderen Primaten hin. Sie zeigen zudem, dass es (bei Biotransformationsprozessen) größere Ähnlichkeit bei geringer phylogenetischer Nähe geben kann. 107 108
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LaFollette/Shanks: Two Models of Models in Biomedical Research. Ebd., S. 150.
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4.2 Biologie I
[A]s the preceding considerations suggest, to reason that phylogenetic continuity implies underlying causal similarity is to commit what we term the modeller’s phylogenetic fallacy. [. . . ] Human mechanisms for metabolizing phenol are closer to the mechanisms in rats than to the mechanisms in pigs, despite the fact that humans are phylogenetically closer to pigs than to rats. And the carcinogenic effect of aflatoxin B is more similar in rats and monkeys than in rats and mice[.]109
Sie führen als Beleg Fälle an, die widerlegen, dass Verwendung von Organismen mit geringerem phylogenetischen Abstand stets Mittel ist, um die Handlungsfolgen anzugleichen. Aus diesen Gründen sprechen sich die Autoren generell dafür aus, die Rede von Kausalmodellen (Causal Analogue Models) zu Gunsten von hypothetischen Modellen (Hypothetical Analogical Models) aufzugeben. Ihre Forderung lässt sich einfach in die bisherigen argumentationstheoretischen Überlegungen einordnen und in Bezug zu den Argumentrekonstruktionen setzen: An Beispielen falsifizieren die Autoren gesetzes-ähnliche Aussagen, die für bestimmte Gegenstandsbereiche deduktive Argumente für Aussagen über modellierte Zielsysteme ermöglichen sollen. Insofern ähnelt die Debatte der um die Geltung der Strukturgleichheitsprämisse von Analogieargumenten.110 Im Sinne der von ihnen vorgeschlagenen Hypothesenbildung motivieren das funktionale und das phylogenetische Wissen bei Erkenntnissituationen ohne vorhandenes Detailwissen bloß die Annahme, dass sich Ergebnisse übertragen lassen. In welchem Ausmaß und in welchen Gebieten sich die Annahme bewährt und als »Faustregel« dienen kann, ist allerdings eine empirische Frage. Im Einzelfall kommt man nicht um eine Überprüfung der Systeme auf relevante Unterschiede herum. Sollte sich eines der Systeme nicht überprüfen lassen, dann bleibt – zumindest für experimentelle Modelle – nur übrig, durch das Design so viele verdächtigte Unterschiede wie möglich auszuschließen und – wie vorgeführt – im modellgestützten Schluss zumindest eine experimentell falsifizierbare Annahme zu ergänzen. 109 110
Ebd. Siehe oben, Seite 104.
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4.3 Biologie II: Evolutionsbiologie Sowohl hinsichtlich typischer Erkenntnisprobleme als auch hinsichtlich wissenschaftstheoretischen Fragen zu Kausalität lohnt sich ein separater Blick auf kausales Schließen in der Evolutionsbiologie. Das Wissen um evolutionäre Vorgänge ist charakteristisch unsicher. Das geringe Wissen um vergangene Habitate, Lebewesen und ihre Lebensweisen eröffnet einen großen Spielraum, die wenigen bekannten Fakten in immer wieder neue Verhältnisse zu setzen, z.B. fossile Funde in andere Abstammungsverhältnisse zu bringen, umzudatieren oder typische zu untypischen Eigenschaften zu erklären. Evolutionäre Erklärungen sind kriminalistisch: Es werden Mord- oder Überlebensfälle bestmöglich aufgeklärt, nur dass nicht nur der Mörder unbekannt, sondern oftmals nicht einmal eindeutige Spuren von ihm vorhanden sind. Häufig gibt es allenfalls Daten, die als Spuren von Verwischungen von Spuren gedeutet werden. Kriminalistisch ist die Erklärung auch insofern, als das Ergebnis historische Erklärungen sind: Es geht in der Evolutiontheorie um die »Aufklärung« von Todes- bzw. Überlebensfällen. Wegen der weiten Verbreitung und großen Bedeutung evolutionären Denkens seit Darwin in verschiedenen Wissenschaften gibt es auch umfangreiche und größtenteils unkontroverse, methodologische Betrachtungen aus wissenschaftstheoretischer Sicht sowie sehr präzise fachliche Auskünfte zur Methode evolutionärer Erklärungen.111 In der evolutionsbiologischen Community scheint über die Ursachen von Evolution durchaus Dissens zu bestehen, was eine günstige Ausgangslage für eine wissenschaftstheoretische Analyse darstellt. Dabei scheinen sich disziplininterne metatheoretische Aussagen zu Kausalität zu widersprechen: So gehen etwa die Meinungen über ökologische Bedingungen als Ursachen auseinander. Zum einen werden sie als Randbedingungen behandelt: 111
Siehe etwa Gutmann: Die Evolutionstheorie und ihr Gegenstand, Stephan M. Fischer: Zu den Erklärungen der Evolutionsbiologie. Eine Analyse der nichtkausalen Erklärungsstruktur in Evolutionstheorien und ein Entwurf eines narrativen Erklärungsmodells zur Rechfertigung des wissenschaftlichen Erklärungsanspruches aus Sicht der Wissenschaftstheorie, Münster: LIT Verlag, 2003.
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Eruptions are ecological, not evolutionary, events. They might initiate or change a response to selection, by modifying the relative fitnesses of alternative genotypes, but (even granting that they are indirectly causal) it would be a logical error to view volcanoes as direct causes of evolutionary change.112
Von anderen werden die ökologischen Bedingungen gerade als die Ursachen von Evolution bezeichnet: Natural selection is the process that results in adaptive evolution, but it is not the cause of evolution. The cause of natural selection and, therefore, of adaptive evolution, is any environmental factor (agent of selection) that results in differential fitness among phenotypes.113
Ich werde diese Aussagen hier als metaexplanative Aussagen verstehen und den Dissens damit als einen über plausible Formen und insbesondere Konklusionen evolutionsbiologischer Argumente für Kausalaussagen auffassen. Die Beispielanalysen im Folgenden sollen einen Beitrag zur Klärung leisten. Den allgemeinen Zielen dieser Arbeit folgend sind hier die Fragen zentral, ob evolutionäre Erklärungen generell als Kausalerklärungen rekonstruiert werden können und inwiefern ein Beginn mit technischen Prämissen tatsächlicher Begründungspraxis angemessen ist und zudem spezifische Erkenntnisprobleme darzulegen erlaubt. Es gilt dabei, den zentralen Themen und Begriffen aus dem Spannungsfeld der Evolutionstheorie Rechnung zu tragen (Evolution, Selektion, Fitness, Funktion, Reproduktion, Teleologie, das Verhältnis zur modernen Molekulargenetik). Wie verhalten sich außerdem einzelne evolutionäre Erklärungen zu der Evolutionstheorie und wie zu starken Thesen über die Entwicklung der Arten, also dem Weltbild der Evolutionstheorie? Inwiefern kann sie also eine universelle Gültigkeit als 112
Kevin N. Laland: On evolutionary causes and evolutionary processes, in: Behavioural Processes 117 (2015), Cause and Function in Behavioral Biology: A tribute to Jerry Hogan, S. 97–104, URL: http://www.sciencedirect.com/science/ article/pii/S0376635714001284, hier S. 98. 113 Andrew D.C. MacColl: The ecological causes of evolution, in: Trends in Ecology & Evolution 26.10 (2011), S. 514–522, hier S. 514.
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Theorie der gesamten Naturgeschichte beanspruchen? Evolutionstheoretische Erklärungen betreffen (auch über die Biologie hinaus) verschiedene Gegenstände, deren Verhältnisse hier diskutiert werden sollen: Gibt es bevorzugte Gegenstände evolutionärer Erklärungen? Lassen sich über ein kausales Verständnis von Evolution und eine handlungsorientierte Rekonstruktion von Argumenten bevorzugte Gegenstände evolutionärer Erklärungen auszeichnen? Was ist überhaupt »Evolutionstheorie« aus Sicht einer handlungsorientierten Rekonstruktion von Erklärungen und welche argumentativer Rolle kommt Darwin zu? Typischerweise scheinen naturgeschichtliche, explizite Aussagen über Ursachen plötzliches Aussterben zu betreffen, vor allem die verschiedenen Episoden großen Massensterbens in der Erdgeschichte, die aus geologischen Fossilgrenzen rekonstriert werden. Dennoch finden sich auch andere Kausalaussagen – hier eine kleine repräsentative Auswahl: Beispiel II.49: Darwinfinken »Thus, the predictive analysis of lifetime fitness of Darwin’s finches in terms of fledgling production and longevity provides insight into the selective pressures that have caused them to deviate from the standard pattern for tropical species of a slow pace of life.«114
Beispiel II.50: Massenaussterben »Wie schon [. . . ] dargestellt, hatte nach verbreiteter Ansicht der Einschlag eines Asteroiden (oder mehrerer Asteroidentrümmer) vor etwa 65 Mio. Jahren Konsequenzen für die Organismen. Die Atmosphäre wurde vermutlich schockartig aufgeheizt, Seebeben zerstörten küstennahe Lebensräume, gewaltige Staubmengen wurden in die Atmosphäre geschleudert. Es kam zu mehrjähriger Verdunkelung und zur Abkühlung. Das Aussterben hatte aber vermutlich noch weitere Ursachen.«115
Beispiel II.51: Massensterben »Das Aussterben dieser Arten erfolgte erst im Verlaufe der Eiszeit und wurde möglicherweise durch den modernen Menschen verursacht.«116 Beispiel II.52: Punktuelle Evolution »The punctuation [in a population of Escherichia coli evolving for 3000 generations in a constant environment]
114
Peter R. Grant/B. Rosemary Grant: Causes of lifetime fitness of Darwin’s finches in a fluctuating environment, in: PNAS 108.2 (2011), S. 674–679, hier S. 678. 115 Storch/Welsch/Wink: Evolutionsbiologie, S. 188. 116 Ebd., S. 23.
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is caused by natural selection as rare, beneficial mutations sweep successively through the population.«117
Beispiel II.53: Finkenschnabel (Während Dürrezeiten gilt:) »It is the availability of different seeds that causes the covariance between bill size and survival.«118 Beispiel II.54: Flugvermögen Kutschera diskutiert die »durch Raubfeinddruck verursachte stammesgeschichtliche Entwicklung des Flugvermögens aquatischer Vertebraten«.119 Beispiel II.55: Brautwerbung »For example, extravagant traits used in courtship are probably shaped by the aggression or choice of members of the same species.«120
Beispiel II.56: Laktostoleranz Ursache der größeren Verteilung von Laktosetoleranz in Nordeuropa ist die vermehrte Tierzucht der Menschen in diesen Bereichen vor über 8000 Jahren.121
Beispiel II.57: Badischer Regenwurm »Artbildungsprozesse, verursacht durch räumliche Separation, sind aber in Einzelfällen in noch viel kürzeren Intervallen belegbar. So ist z.B. vor weniger als 10000 Jahren der Badische Regenwurm (Lumbricus badensis) durch räumliche Separation aus einer weitverbreiteten Schwesterart (L. friendi) hervorgegangen[.]«122
Beispiel II.58: Selektion »[S]election does cause evolution.«123 Charakteristisch für evolutionäre Erklärungen ist, dass phylogenetische und nicht ontogenetische Entwicklungen erklärt werden und dass offenbar Veränderungen in der Verbreitung von Merkmalen erklärt werden – inklusive der Extremfälle des Entstehens und Aussterbens ganzer Arten, Merkmale und Merkmalstypen. 117
Santiago F. Elena/Vaughn S. Cooper/Richard E. Lenski: Punctuated Evolution Caused by Selection of Rare Beneficial Mutations, in: Science 272.5269 (1996), S. 1802–1804, URL: http://www.jstor.org/stable/2889330, hier S. 1802. 118 MacColl: The ecological causes of evolution, S. 515. 119 Kutschera: Evolutionsbiologie, S. 256. 120 Ursache von auffälligen Merkmalen bei der »Brautwerbung« ist also die Wahl des Paarungspartners. MacColl: The ecological causes of evolution, S. 514. 121 Die Darstellung bei Laland: On evolutionary causes and evolutionary processes, S. 101 impliziert diese These. Er behauptet in diesem Sinne: »Developing organisms are not solely products, but are also causes, of evolution« (ebd., S. 102). 122 Kutschera: Evolutionsbiologie, S. 93. 123 Jun Otsuka: Causal Foundations of Evolutionary Genetics, in: The British Journal for the Philosophy of Science 2014, S. 1–23, URL: http://bjps.oxfordjourna ls.org/content/early/2014/12/04/bjps.axu039.abstract, hier S. 19.
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Offenbar gibt es dabei mindestens zwei verschiedene Gegenstände der Kausalerklärungen, nämlich ganze (Sub-) Spezies (Beispiel II.54) oder deren einzelne Merkmale, inklusive ihres Verhaltens (Beispiel II.55). Offenbar werden zu diesem Zweck nicht nur Einzelfälle, sondern auch Strukturen und wiederkehrende Muster von Merkmalen erklärt – sogar ganze Organismenklassen betreffend. Typischerweise werden singuläre Kausalaussagen behauptet, weil es um Erklärungen mit Anspruch auf geschichtliche Adäquatheit geht. Damit ist das triviale aber dennoch charakteristische manipulative Erkenntnisproblem aller singulären Kausalerklärungen, die sich auf Vergangenes beziehen, zu erwarten: Der Vorgang ist per Definition nicht reproduzierbar. Die reproduzierbaren Verläufe müssen mit historischen Adäquatheitsbedingungen versehen werden. Bei einzelnen Evolutionsthesen wird eher selten von Ursachen oder Wirkungen gesprochen, statt dessen werden Sätze der Form »X passte sich an Y an« formuliert. Metatheoretisch124 und gerne auch in den Überschriften von Artikeln, die evolutionäre Einzelerklärungen betreffen wird dagegen eindeutig kausal gesprochen.125 Die generelle Fragestellung lautet damit kausal formuliert: Was waren die Ursachen dafür, dass bestimmte Eigenschaften eines rezenten oder als Fossil beschreibbaren Lebewesens entstanden?126
4.3.1 Evolutionäre Argumente Obwohl Evolutionstheorie doch wesentlich eine (natur)geschichtliche Theorie mit großem Anteil paläontologischer Funde ist, be-
124
MacColl: The ecological causes of evolution.
125
»[Die] Erweiterte Synthetische Theorie [liefert] derzeit die einzige allgemein akzeptierte durch zahlreiche Fakten untermauerte kausale Erklärung für den Artenwandelt auf der Erde«
(Kutschera: Evolutionsbiologie). So heißt es in einem Lehrbuch, dass »kausale Evolutionsforschung [. . . ] nach den Ursachen für die Entstehung, Vervielfachung und das Aussterben von Arten« suche (ebd., S. 78). 126
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stehen relevante experimentelle Praxen und auch eine ganze Disziplin experimenteller Evolutionsforschung.127 Die verfügbaren experimentellen Praxen unterscheiden sich nicht von anderen Methoden der Biologie. Bei den Experimenten und Untersuchungen werden alle Methoden biologischer und chemischer Grunddisziplinen angewandt (s.o. zur biologischen Praxis generell). Typisch ist allerdings das Registrieren von überlebenden Organismen, von Reproduktionsraten und von Veränderungen über Generationen hinweg. Besonders Lebewesen mit kurzen Reproduktionszeiten bei hohen Reproduktionsraten werden dabei über verschiedene Generationen (beim anhaltenden Langzeitexperiment von Lenski mit E. coli über 66.000) Umwelteinflüssen ausgesetzt.128 Birkenspanner Erstes Beispiel für eine evolutionäre Erklärung soll die farbliche Anpassung des Birkenspanners an Folgen industrieller Luftverschmutzung im 19. Jahrhundert sein. Es bietet sich zunächst an, weil es ein weit verbreitetes Lehrbuchbeispiel ist. Warum das so ist, auch das soll am rekonstruierten Argument klar werden. Die Begründung ist kontroverser und komplexer als vermutet. Die gängige, erklärende Geschichte lautet wie folgt: In Folge der industrielle Revolution kam es zu verstärkter Verschmutzung der weißen Birken. Eine Variante darauf lebender Birkenspanner mit dunklerer Pigmentierung war besser getarnt, wurde in diesen Gebieten weniger häufig gefressen und konnte sich so besser verbreiten. Kausal erklärt werden im Beispiel also Veränderungen regionalen Vorkommens der dunkleren Variante des Birkenspanners in England zwischen 1850 und 1938.129 Diese Veränderungen wurden durch Freilandbeobachtung festgestellt. Der »Selektionsmechanismus« hingegen wurde in einer Reihe von Versu127
Beispiele und eine allgemeine Diskussion bietet Kapitel 9: Experimentelle Evolutionsforschung: Von der Tierzucht zur Computersimulation in: ebd., S. 263 ff. Evolutionäre Experimente mit Drosophila referriert Lange: Experimentalwissenschaft Biologie,
S. 185. Siehe Angabe zu Beispiel II.52. 129 Siehe Storch/Welsch/Wink: Evolutionsbiologie, S. 293 ff. 128
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chen experimentell untersucht:130 Letztlich wurde so nachgewiesen, dass ausgesetzte Gruppen von Birkenspannern gleicher Anzahl in Umgebungen verschieden verschmutzter Bäume nach ihren Farben verschieden von Vögeln gefressen werden. Ein Grund, weshalb das Beispiel so eingängig und daher für Schul- und einführende Lehrbücher geeignet ist, ist die schnelle Analogisierung, die wir zwischen unserem Suchen und der Beutesuche von Vögeln zu machen bereit sind131 und ein weiterer Grund ist der, dass wir schnell akzeptieren, dass Vögel Birkenspanner fressen. Beide Überzeugungen sind aber qualitativ und quantitativ nur empirisch entscheidbar, waren damals keinesfalls selbstverständlich und wurden deshalb vorab und während der Experimente ebenfalls getestet.132 In einer relevanten Hinsicht ist das Experiment Kettlewells ein Selektions- und kein Evolutionsexperiment: Im Feldversuch wurde die Überlebensrate der Birkenspanner berechnet, also die Anzahl der überlebenden Exemplare, nicht jedoch deren Reproduktionserfolg. Geht es in evolutionären Erklärungen aber letztlich um die Veränderung von Merkmalen über Generationen hinweg bis zur Artbildung, dann wird dieses Ergebnis erst relevant, wenn man annimmt, dass sich in dieser experimentellen Situation durch die Veränderung der relativen Überlebensrate auch der Reproduktionserfolg der Birkenspanner verändern lässt. Kettlewell machte also genau genommen nicht das richtige Experiment für eine evolutionäre Erklärung, sondern eines zu der »Fitness« zweier Artvarianten hinsichtlich eines Selektionsfaktors,. Es war aber immerhin eines, aus dessen Ergebnis mit einer unkontroversen Prämisse die evolutionär passenden These gefolgert werden kann.
130
Siehe Henry Bernard Davis Kettlewell: Selection experiments on industrial melanism in the Lepidoptera, in: Heredity 9.3 (1955), S. 323–342; ders.: Further selection experiments on industrial melanism in the Lepidoptera, in: Heredity 10.3 (1956), S. 287–301. 131
»[The] mechanism is intuitively obvious (birds will have the same difficulty spotting inconspicuous moths as humans do). Students can readily be assumed to be familiar with the major elements of the story (pollution, moths, birds)« (David W. Rudge: The beauty of Kettle-
well’s classic experimental demonstration of natural selection, in: Bioscience 55.4 (2005), S. 369–374, hier S. 273). 132 Siehe ebd., S. 270.
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Kettlewell’s experiments were successful at providing among the first direct observations of a proximal mechanism of natural selection ever recorded.133
Der entscheidende Vorteil der Erklärung, der sie zu einem Lehrbuchbeispiel macht ist, dass die beteiligten Prozesse durch Alltagserfahrung bereits praktisch vertraut sind, die empirischen Thesen eindeutig und anschaulich belegt werden konnten und nicht eigens erschlossen werden mussten.134 Die Strategie dieses Argumentes kann wie folgt umschrieben werden: Zunächst wird eine für den Reproduktionserfolg relevante Funktion eines Merkmals in einer Experimentalsituation nachgewiesen. Dann wird dieser Nachweis hinsichtlich des Wissens um eine historische Situation und die quantitativen Verhältnisse als adäquat behauptet und so auf die Ursache der Verbreitung eines Merkmals geschlossen. Explizit kann das Argument wie folgt rekonstruiert werden: Birkenspanner1 (P1 )
(P2 )
(K1 )
133 134
Wir können die relative Überlebensrate von dunkleren Birkenspannern erhöhen, indem wir Exemplare heller und dunkler Färbung in natürliche Umgebung (mit visuell jagenden Vögeln und Bäumen dunklerer Rinde) freilassen. Das Erhöhen der relativen Überlebensrate unter diesen Bedingungen ist Mittel, um den Reproduktionerfolg zu erhöhen. Kettenschluss Wir können den relativen Reproduktionserfolg von dunkleren Birkenspannern erhöhen, indem wir Exemplare heller und dunkler Färbung in natürliche Umgebung (mit visuell jagenden Vögeln und Bäumen dunkler Rinde) freilassen.
Ebd., S. 273. Die Galileistrategie (siehe oben, Seite 118) muss also nicht angewandt werden.
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(P3 )
(P4 )
(S1 )
(K2 )
Das Angleichen des Experiments an damals natürlich vorliegende Bedingungen kann nicht genutzt werden, um die relative Überlebensrate wieder anzugleichen. Durch solches Angleichen kann kein Verlauf herbeigeführt werden, der den zeitlichen Reihenfolgen und quantitativen Verhältnissen von Umweltbedingungen und Merkmalsverbreitung von 1850 bis 1938 widerspricht. (Evolutionäres Schlussprinzip:) Wenn wir den veränderten Reproduktionserfolg VE von Organismus OE herbeiführen können, indem wir eine Situation SE mit Umweltbedingungen UE und Merkmal ME herstellen und ist ein Angleichen von SE an eine phylogenetische Situation SZ (aus Merkmalvariation MZ und Umweltbedingungen UZ ) von OZ kein Mittel, um den veränderten Reproduktionserfolg aufzuheben oder um den Verlauf in Widerspruch zu zeitlichen und quantitativen Verhältnissen der Stammesgeschichte zu bringen, dann ist das Entstehen von SZ Ursache der veränderten Verbreitung von MZ . erfüllte hinr. Bed. Das Entstehen der Situation aus Exemplaren heller bzw. dunklerer Färbung, visuell jagenden Vögeln und dunkleren Bäumen war Ursache der zunehmenden Verbreitung der dunkleren Birkenspanner.
(P1 ) gibt einen relativen Handlungserfolg der Handlung »Freilassen von Birkenspannern mit erblichem Merkmal unter bestimmten Situationsbedingungen« an. Mit dem Freilassen wird also eine Situation aus Merkmalsträger und Umweltbedingungen hergestellt. Dass in der Kontrollgruppe kein Überlebensvorteil bestand, das wird bereits durch die Beschreibung des Experimentalergebnisses impliziert. (P2 ) zeigt eine mögliche Schwäche des Experimentes von Kettlewell für eine evolutionäre Erklärung: Erhöht die Überlebensrate tatsächlich den Reproduktionserfolg? Dies hängt vom Reproduktionsverhalten der Birkenspanner ab.
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Zu (P3 ): Im Gegensatz zu Kettlewells frühen Experimenten waren die späteren als Feldversuche gerade so angelegt, dass die Umgebung nicht erst nachgestaltet und Vögel sowie Birkenspanner in Käfigen gehalten werden mussten, sondern nach bestem Wissen in vielen Aspekten denen des historischen Vorgangs entsprachen. Mit den verbesserten Experimenten wurde versucht, eine Reihe von als relevant unter Verdacht geratene Unterschiede auszuschließen, also Faktoren zu testen, mit denen (P3 ) falsifiziert werden könnte.135 Zu beachten ist, dass auch hier Fehler auftreten könnten, etwa wenn das plötzliche Freilassen hunderter Schmetterlinge die Prädatoren zu relevant unnatürlichem Fressverhalten anregt. Das Entstehen der dunkleren Baumfärbung vor 1850 und damit der zunehmenden Verbreitung der dunkleren Variante kann durch Aufzeichnungen bestätigt werden. Andere Aspekte von (P4 ) sind aber immer wieder bestritten worden und sind ein wichtiger Bestandteil der Debatte um die Erklärung. Detailliert zeigt Majerus etwa, inwiefern es für den Selektionsprozess nicht entscheidend ist, ob ein Großteil der Falter nicht farbselektiv gefressen wird.136 Diese Tatsache wurde von Kritikern der evolutionären Erklärung vorgebracht. Majerus aber zeigt, dass (sofern (P2 ) wahr ist) ein minimaler Reproduktionsvorteil für die beobachtete Populationsentwicklung ausreicht. So wir ddie These gerechtfertigt, dass die Ergänzung des Modellverlaufs um bekannte Bedingungen der damaligen Situation zu keinem Widerspruch mit der aufgezeichneten Populationsentwicklung führt. An die Konklusion wird die These angeschlossen, dass die industrielle Luftverschmutzung Ursache war137 – weil diese als Ursache der Verdunklung der Baumrinde angesehen wird. (P6 ) ist ein Schlussprinzip evolutionärer Kausalerklärungen. Es ist so allgemein formuliert, dass es sich auf jede Art der Veränderung des Reproduktionserfolges bezieht und kann auf (P2 ) angewandt werden, weil dort mit der Vergrößerung des Reproduk135 Michael Majerus: Industrial Melanism in the Peppered Moth, Biston betularia. An Excellent Teaching Example of Darwinian Evolution in Action, in: Evolution: Education and Outreach 2.1 (2009), S. 63–74. In Anschlussexperimenten wurde auch eine mögliche Präferenz der nicht-visuell jagenden Fledermäuse getestet (mit negativem Ergebnis). 136 Siehe ebd., S. 70. 137 Siehe die explizite Aussage bei Kutschera: Evolutionsbiologie, S. 271.
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tionserfolges eine Art eine solche Veränderung genannt wird. Im Argument wird eine experimentell reproduzierbare, reproduktiv relevante Situation naturgeschichtlich extrapoliert: The interpretation of such experiments as contributions to evolution theory will always include an extrapolation: while they demonstrate what selection can do, the best they can tell us is that selection can have happened in the way demonstrated[.] They really deal merely with “possible future evolution”, and only indirectly with past evolution.138
Typische evolutionäre Aussagen nennen nur eine einzelne Mutation oder eine einzelne veränderte Umweltbedingung als Ursache (s.o.). Auch in dieser Hinsicht ist das Beispiel lehrbuchmäßig. Die Aussage, wonach die zunehmende Luftverschmutzung Ursache des Selektionseffektes war, kann durch ein einfaches anschließendes Argument begründet werden, bei dem zunächst die Strategie angewandt wird, lediglich diejenige Bedingung als Ursache zu nennen, mit deren Eintreten die hinreichende Situation vorlag. Ein zweiter Schluss behauptet als Ursache die industrielle Luftverschmutzung. Birkenspanner2 (P1 )
(P2 ) (P3 )
(K1 )
138
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Das Entstehen der Situation aus erblichen, dunkleren Merkmalsvarianten, visuell jagenden Vögeln und dunkleren Bäumen war Ursache der zunehmenden Verbreitung der dunkleren Birkenspanner. Die Situation entstand mit der Verfärbung der Bäume. War das Entstehen einer Situation S Ursache von Y und entstand S mit dem Entstehen von X, dann war das Entstehen von X die Ursache von Y. erfüllte hinr. Bed. Das Entstehen dunklerer Bäume war die Ursache der größeren Verbreitung dunkler Birkenspanner.
Tinbergen: On aims and methods of Ethology, S. 429.
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(P4 )
(K2 )
Die dunklere Baumfärbung wurde verursacht durch industrielle Luftverschmutzung. Transitivität Industrielle Luftverschmutzung war die Ursache der größeren Verbreitung dunkler Birkenspanner.
Die These vom kooperativen Auge An einem weiteren Beispiel soll nun vorgeführt werden, wie das Anwenden der rekonstruierten evolutionären Erklärungform erkenntniskritisch genutzt werden kann. Verschiedene Merkmale unterscheiden die Augen von Menschen von anderen Primaten – darunter die auffällig große, weiße Lederhaut (die Sklera).139 Michael Tomasello vertritt mit Kollegen (im Anschluss an Vorgänger140 ) die Hypothese vom kooperativen Auge: One hypothesis is that this feature of human eyes evolved to make it easier for conspecifics to follow an individual’s gaze direction in close-range joint attentional and communicative interactions[.]141
Auffällig hier ist die teleologische Redeweise, die sich in der evolutionären Erklärung auflösen lassen müsste. In der Birkenspannererklärung wurden keine teleologischen Aussagen verwendet. Das Experiment konnte zwar eine Zweckmäßigkeit nachweisen – es mussten aber keine Naturzwecke unterstellt werden: Verfolgte der Organismus den Zweck, sich unter bestimmten Bedingungen besser zu reproduzieren und könnte er entsprechend handeln, dann wäre, so zeigt das Experiment, die Veränderung seines Merkmals M zu M0 (zum Beispiel die Erzeugung dunklerer 139
Ich vereinfache hier: Eigentlich geht es um alle Merkmale, die die Sichtbarkeit der Blickrichtung verbessern. Siehe dazu Hiromi Kobayashi/Shiro Kohshima: Unique morphology of the human eye and its adaptive meaning. comparative studies on external morphology of the primate eye, in: Journal of Human Evolution 40.5 (2001), S. 419–435, URL: http://www.sciencedirect.com/science/article/ pii/S0047248401904683. 140 Ebd. 141 Michael Tomasello u. a.: Reliance on head versus eyes in the gaze following of great apes and human infants. The cooperative eye hypothesis, in: Journal of Human Evolution 52.3 (2007), S. 314–320, hier S. 314.
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Färbung) ein Mittel, um dies zu erreichen. Eine andere Stelle gibt weiteren Aufschluss über die Struktur der evolutionären Erklärung: In what we call the cooperative-eye hypothesis, my team has argued that advertising my eye direction for all to see could only have evolved in a cooperative social environment in which others were not likely to exploit my detriment. Thus, one possibility is that eyes that facilitated other’s tracking of one’s gaze evolved in cooperative social groups in which monitoring one another’s attentional focus was to everyone’s benefit in completing joint tasks.142
Unabhängig von der Frage, wie genau die Hypothese nun lautet, lässt sich die hier behauptete »Möglichkeit« zur Evolution des Merkmals menschlicher Augen explizit kausal formulieren: »Die Verbreitung des Merkmals hellerer Lederhaut wurde verursacht durch das Entstehen einer Situation aus solchen erblichen Augenvarianten, kooperativen Praxen mit geteilter Aufmerksamkeit und Artgenossen, die der Blickrichtung folgten.« Behauptet wird hier offenbar ein Selektionsdruck bestimmter kooperativer Praxen auf erbliche, hellere Lederhautvarianten. Mit einem Experiment beanspruchen Tomasello et al., einen »Aspekt der Hypothese«143 empirisch stark gestützt zu haben.144 Wie sind das Experiment und weitere Argumente einzuordnen und einzuschätzen, wenn sie an der Begründung einer evolutionären Erklärung obiger Form beteiligt sind? Welcher Aspekt ist gemeint? Explizit findet sich eine These über eine Merkmalsfunktion, die experimentell testbar wäre: In general, it would seem to be an advantage in initiating and maintaining collaborative/joint attentional/communicative interactions of the human kind that one’s eyes 142
Michael Tomasello: Why we cooperate. Based on the 2008 Tanner lectures on human values at Stanford, Cambridge, Massachusetts und London, England: MIT Press, 2009, S. 76. 143 Siehe Tomasello u. a.: Reliance on head versus eyes in the gaze following of great apes and human infants, S. 314. 144
»The results of the current studies provide strong support for the cooperative eye hypothesis«
(ebd., S. 318).
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be easily visible to others in order to facilitate a shared activity assuming that the other is a cooperative partner not overly inclined toward exploitation.145
Zu erwarten wäre, dass die dem Lebewesen als evolutionär erklärend unterstellte Funktion des Merkmals (die Blickrichtung zu erkennen geben) unter der Bedingung einer kooperativen Praxis zur bezweckten Handlungsfolge wird, dass die der Evolutionsgeschichte unterstellten Variationsmöglichkeiten (hier: Farben beziehungsweise Farbanteile im Bereich der Augen) zu Startbedingungen der Experimente und dass ein bestimmtes Verhalten (hier: Blickfolgen) zu der Handlungsfolge wird, die (im Sinne graduell verbesserten Erfolges) etabliert werden soll. Mit der Herstellung von verschiedenen Augenformen (z.B. durch Kontaktlinsen) müsste erfolgreiches Blickfolgen und eine erfolgreiche kooperative Praxis reguliert werden. Das Experiment hat allerdings nicht diese Form. Der Handlungserfolg im durchgeführten Experiment ist ein Unterschied im Ausmaß, mit dem menschliche Säuglinge gegenüber Großaffen (Schimpansen, Gorillas, Bonobos) der Blickgeste eines Menschen folgen. Gesteht man (zum Zweck des Argumentes) zu146 , dass das Ergebnis über die Experimentalgruppen hinaus generalisiert werden kann, dann zeigt das Experiment, dass reine Blickgesten ein Mittel sind, um die Aufmerksamkeit aller Menschenaffen (inklusive Homo Sapiens selbst) zu lenken. Es zeigt außerdem, dass wir einen relativ höheren Erfolg beim Blickefolgen erreichen können, indem wir Menschen (im Vergleich zu anderen Affen) Blickgesten geben. Bestätigt wird also zunächst eher eine angeborene Verhaltensdisposition und die stärkere Ausprägung bei Homo sapiens. Zum erklärten Ziel einer evolutionären Erklärung wird also zunächst ein (vergleichend) psychologisches Experimentalergebnis herangezogen. Dabei schleicht sich eine weitere, psychologische, Formulierung der »Cooperative-Eye-Hypothese« ein, die 145
Ebd., S. 314. Außer Betracht gerät damit insbesondere die Verwendung von Kleinkinder als Repräsentanten von Frühmenschen – eine Art heuristische »Ontogenetische Regel«, die typisch für Tomasellos Arbeiten ist (siehe Mathias Gutmann: Sprache und Sprechen als Formen kultureller Interaktion. Über ein aktuelles Begründungsprogramm, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55.5 (2007), S. 769–787, hier S. 777).
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direkt testbar sein soll – aber als psychologische eben nicht mit der evolutionären verwechselt werden darf: Based on humans’ greater propensity for object-centered cooperative/communicative interactions (joint attentional interactions) and their especially visible eyes, our hypothesis was that human infants would be more influenced by the eyes than the head, whereas great apes would be more influenced by the head than the eyes. We tested this ‘cooperative eye hypothesis’ in a simple 2x2 design with the two factors Head (turned or not) and Eyes (open or closed).147
Problematisch ist dieser psychologische Ansatz zunächst nicht. Er entspricht der Tatsache, dass alle gängigen Versuche experimenteller Evolutionsforschung Selektions-, Fitness- oder Funktionsexperimente sind. Allerdings ist anzunehmen, dass das inferentielle Verhältnis deutlich komplexer ist als angegeben wird. Es wird aus verschiedenem Verhalten von Kleinkindern und Affen (das sich zudem nur im Ausmaß des gezeigten Verhaltens unterscheidet) auf die Entstehungsgeschichte der morphologischen Eigenschaften des menschlichen Auges geschlossen: These results demonstrate that humans are especially reliant on eyes in gaze following situations, and thus [!, A.K.], suggest that eyes evolved a new social function in human evolution, most likely to support cooperative (mutualistic) social interactions.148
Fraglich ist, in welchem Bezug die hergestellte Experimentalsituation zur phylogenetischen Situation (dem »Anpassungsszenario«) steht und welche Elemente dieses Szenario beinhaltet. Wie gesehen läge der experimentelle Nachweis eines reproduktiven Vorteils hellerer Lederhaut nahe. Dies kann das Experiment offensichtlich nicht leisten. Es leistet allerdings auch nicht (wie bei 147
Tomasello u. a.: Reliance on head versus eyes in the gaze following of great apes and human infants, S. 316. 148 Ebd., S. 314. Man beachte, dass hier offenbar zusätzlich hellere Augenvarianten als Ursache neuer kooperativer Praxisformen angegeben werden.
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Kettlewell) den Nachweis einer Merkmalsfunktion, die dann mittels einer plausiblem Prämisse als reproduktiv relevant verstanden wird: Das Experiment bedürfte keines Speziesvergleichs und müsste insbesondere testen, inwiefern Aufmerksamkeit mit Blicken besser gelenkt werden kann, wenn größerer Augenkontrast besteht (etwa durch Verwendung von Kontaktlinsen).149 So kommt es letztlich zur Abschwächung der Bedeutung des Experimentes für das in der Cooperative-Eye-Hypothese entworfene Selektionsszenario: Thus, one hypothesis is that human-type eyes evolved in the context of pressures for enhanced cooperative-communicative abilities of the kind needed in mutualistic social interactions involving joint attention and visually based communication such as pointing. At present, we know of no data directly relevant to this hypothesis. But at the same time, we know of no systematic data supporting any other hypotheses explaining the uniqueness of the human eye in terms of function[.]150
Vorläufiges Ergebnis der Darstellung des Forschungsberichts ist ein Widerspruch – oder zumindest eine deutliche Spannung – zwischen den beiden Thesen, dass durch die experimentelle Studie die Hypothese des kooperativen Auges »stark« gestützt werde und dass andererseits keine direkten Daten verfügbar seien. Dieses Problem soll mit einer Anwendung der Struktur des Birkenspannerargumentes diskutiert werden: Sammelt man die verteilten Hinweise auf das Selektionsszenario (d.h. die phylogenetische Situation SZ ), das Tomasello et al. entwerfen, so kommen darin drei Merkmale vor: (A) die hellere Lederhaut eines Lebewesens, (B) die Disposition von Artgenossen, auf Blickrichtung zu achten und (C) soziale Praxen koope149
Siehe den Aufbau des nicht evolutionstheoretischen, psychopathologischen Experiments zu Besonderheiten von Autisten bei der Aufmerksamkeit auf Augen bei Nancy L. Segal/Aaron T. Goetz/Alberto C. Maldonado: Preferences for visible white sclera in adults, children and autism spectrum disorder children. Implications of the cooperative eye hypothesis, in: Evolution and Human Behavior 2015, im Erscheinen, URL: http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/ S1090513815000641. 150 Tomasello u. a.: Reliance on head versus eyes in the gaze following of great apes and human infants, S. 315.
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rativer Interaktion mit geteilter Aufmerksamkeit P. Die Begründungsstrategie wäre demnach: Der experimentelle Handlungserfolg (dass das Lebewesen gegenüber dem Blick folgt) muss der Phylogenese des Menschen als reproduktiv vorteilhaft unterstellt werden. Welche argumentative Rolle nimmt das Experiment bezüglich folgender Erklärung ein? Cooperative-Eye-Hypothese (P1 )
(P2 )
(K1 )
(P3 )
(P4 )
(K2 )
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Wir können die Erfolgsquote beim Blickfolgen erhöhen, indem wir (in einer Situation, in der Artgenossen auf Blicke achten und sie an einer kooperativen, sozialen Praxis PE teilnehmen) Menschen Blickgesten mit Augen deutlicherer, weißer Lederhaut ausführen lassen (SE ). Unter der Bedingung, dass die Gruppenmitglieder auf Augen achten und sie an PE teilnehmen, ist das Erhöhen der Erfolgsquote beim Blickefolgen ein Mittel, um den Reproduktionserfolg zu erhöhen. Kettenschluss Wir können den Reproduktionserfolg eines Menschen erhöhen, indem wir es (in einer Situation, in der Artgenossen auf Blicke achten und sie an PE teilnehmen) Blickgesten mit Augen deutlicherer, weißer Lederhaut ausführen lassen. Das Angleichen von Experimentalsituation SE an bekannte Bedingungen der Humanevolution SZ kann nicht genutzt werden, um den größeren Erfolg beim Blickfolgen aufzuheben. Solches Angleichen ist kein Mittel, um einen zeitlichen Verlauf herzustellen, der der zeitlichen Reihenfolge und den quantitativen Verhältnissen Ereignissen in der Stammesgeschichte des Menschen widerspricht. Evol. Schlussprinzip Das Entstehen der Situation aus Exemplaren mit dem Merkmal erblicher, deutlicherer, weißer Lederhaut, Gruppenmitgliedern, die auf Blicken achteten und einer kooperativen, sozialen Praxis P verursachte die stärkere Verbreitung des Merkmals.
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Das Experiment von Tomasello et. al. dient offenbar dem Zweck, das Vorliegen eines Merkmals in SZ zu belegen, wonach die Vorfahren des Menschen in der Lage waren, in ihren kooperativen Praxen auf Blicke zu achten: [The hypothesis] would seem to imply especially cooperative (mututalistic) conspecifics. In the current study, we tested one aspect of this cooperative eye hypothesis by comparing the gaze following behavior of great apes to that of human infants.151
Hier lassen sich nun verschiedene Probleme nachweisen – zunächst zum Verhältnis von Experiment und evolutionärem Argument: 1. Der Nachweis eines rezenten Merkmals belegt natürlich, dass auch »irgendwann« in der Vergangenheit das Merkmal vorlag. Wie aber kann so das Vorliegen in jenem Zeitbereich der Humanevolution nachgewiesen werden? Um dieses Problem nicht zu verschleiern, sollte klarer zwischen psychologischen und evolutionären »Cooperative-Eye-Hypothesen« unterschieden werden. 2. Ausreichend wäre eine historische Situation, in der das Augenmerkmal leicht positiv selektiert wird. Weshalb aber impliziert dies Aussagen über die Stärke des psychologischen Merkmals – zumal relativ zu anderen Menschenaffen und im Verhältnis rezenter Exemplare – schließlich fand doch vermutlich auch Evolution von SZ bis zur Gegenwart statt? Der Zweck des Speziesvergleichs sollte klarer gemacht werden. 3. Bezüglich der Reichweite des Experimentes: Die Studie stützt keine Argumente, die es erlauben würden, eines der Situationsmerkmale aus SZ herauszuheben. Historisch bleibt auch durch diese Studie offen, welche Merkmalsvariation die Entwicklung der anderen verursachte. Hier ist zu betonen, dass es Tomasello insgesamt darum geht, die Bedeutung kooperativer Praxen unter Verwendung von Zeigegesten nicht nur als einzigartiges Merkmal des modernen Menschen zu belegen, sondern den Erfolg 151
Tomasello u. a.: Reliance on head versus eyes in the gaze following of great apes and human infants, S. 314.
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von Vorläufern solcher Praxen als Selektionsdruck auf Merkmale in der Phylogenese zu begründen. Auch diesbezüglich dürfte die Studie nicht einschlägig sein. Zusätzlich zu diesen sehr spezifischen argumentativen Problemen lassen sich weitere feststellen, die Begründungsdefizite und mögliche zukünftige Studien zum Zweck einer evolutionären Erklärung des Augenmerkmals betreffen. Vorab soll schon darauf hingewiesen werden, dass auf Grund des Forschungsgegenstandes auch das Bestehen größerer und anhaltender Begründungsprobleme zu erwarten ist. Dieses Thema soll unten generell zur Argumentform wieder aufgegriffen werden. Die Forschungssituation ist epistemisch selbstverständlich viel schwieriger als bei der Erklärung von Industriemelanismus. Erkennt man dies an, dann ist an einer empirischen Studie nichts verwerflich – zumal sie nicht nur evolutionsbiologischen Zwecken dienen muss. Die Kritik hier soll nur einige Erkenntnisprobleme benennen. 4. Das evolutionäre Argument ist in dem Sinne unterbestimmt, dass die kooperativen Praxen aus SZ unterbestimmt sind – aus diesem Grund wird im Argument die Variable P verwendet. Es müsste klarer gezeigt werden, welche Praxen dies gewesen sein könnten, und experimentell müsste gezeigt werden, wie Merkmalvariationen durch sie selektiert werden – (P1 ) oder (P2 ). 5. Im Zuge der Stützung von (P3 ) müssten zudem Wechselwirkungen mit anderen Merkmalen und Umweltbedingungen getestet werden, die damals vermutlich vorlagen. Naheliegend wären Einflüsse von Selektionsdrücken durch andere Funktionen des Augenmerkmals.152 6. Es fehlen bisher Überlegungen zur Plausibilität des zeitlichen Verlaufs (z.B. Wissen über Mutationsraten). Da wenig über Merkmale und Verhalten zu SZ bekannt ist, ist anzunehmen, dass (P4 ) als bloße Falsifikationsbedingung bestehen bleibt und wegen der generellen Geschwindigkeit von Selektionsprozessen mit Beteiligung »kultureller Evolution« als plausibel gilt. 152
Tomasello et al. führen selbst die Anzeige gesunder Sexualpartner, altruistisches Verhalten und Täuschung an (siehe Tomasello u. a.: Reliance on head versus eyes in the gaze following of great apes and human infants, S. 318).
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4.3.2 Evolutionsbiologische Argumenttypen In Anschluss an die beiden Beispiele soll die Argumentationsform nochmals aufgeführt und erkenntniskritisch diskutiert werden sowie ihre Adäquatheit für weitere Erklärungen angedeutet werden. Experimentelle Evolutionsforschung wird betrieben und ist weithin anerkannt. So heißt es etwa bei Tinbergen: While I agree that the selection pressures which must be assumed to have moulded a species’ past evolution can never be subjected to experimental proof, and must be traced indirectly, I think we have to keep emphasising that the survival value of the attributes of present-day species is just as much open to experimental inquiry as is the causation of behaviour or any other life process.153
Was Tinbergen hier aber übersieht, ist, dass mit Experimenten nicht nur Funktionen von Merkmalen feststellt werden können, sondern Experimente auch durch Reproduktion historischer Bedingungen für Test und Falsifikation der evolutionären, d.h. geschichtlichen Erklärung entscheidend sein können. Er übersieht weiterhin, dass die experimentelle Untersuchung an schwierige Erkenntnisgrenzen stoßen kann. Ganz korrekt allerdings weist er darauf hin, dass ein Teil der Skepsis gegenüber experimenteller Evolutionsforschung – vielleicht auch falsche Einschätzung ihrer Bedeutung – darauf beruhen dürfte, dass viel Wissen über reproduktive relevante Merkmalsfunktionen bereits unreflektiert in Erklärungen eingeht. So wie zuvor bei der Sonnenfinsternis die Erklärung einen sehr einfachen, vertrauten experimentellen Verlauf in Anspruch nahm, so gilt auch für die Biologie, dass bestimmte Merkmalsfunktionen als »zu offensichtlich« in das verfügbare Hintergrundwissen aufgenommen sind. [The] survival value of many attributes, behaviour and structure alike, is so obvious as to make experimental confirmation ludicrous. One need not starve an animal 153
Tinbergen: On aims and methods of Ethology, S. 418.
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to death to show that its feeding behaviour has survival value, nor need one cut off Blackbirds’s bill to show that this organ is necessary for successful feeding. [. . . ] To think that we understand survival value completely in such cases is to think that, once it is obvious that sex hormones control mating behaviour, we need not inquire into the way they do this, not into the interaction between various endocrine processes that are involved.154
Er bemerkt aber auch ganz richtig, dass bei detailliertem Blick und spätestens bei quantitativer Fragestellung auch hier das Experiment die beste Methode zur Funktionsuntersuchung ist. An drei aneinander anschließbaren Argumentformen lassen sich Vorzüge und Schwierigkeiten einzelner evolutionärer Erklärungen diskutieren. Das Hauptargument verwendet eine spezielle Schlussregel, die als »Evolutionäres Schlussprinzip« bezeichnet wurde. Es bringt das folgende Argumentschema zum Ausdruck: Evolutionäre Erklärungsform1 (P1 )
(P2 )
(P3 )
(K1 )
Wir können den Reproduktionserfolg von Organismus OE verändern, indem wir eine Situation SE (aus Umweltbedingungen UE und Merkmal ME ) herstellen. Das Angleichen von SE an die Realsituation der Stammesgeschichte SZ (aus Merkmalvariation MZ und Umweltbedingung UZ ) ist kein Mittel, um den Reproduktionserfolg aufzuheben. Solches Angleichen ist kein Mittel, um einen Verlauf herbeizuführen, der den zeitlichen und quantativen Verhältnissen des stammesgeschichtlichen Verlaufs widerspricht. Evol. Schlussprinzip Das Entstehen von SZ ist Ursache der größeren Verbreitung von MZ .
Experimentell belegt werden damit mögliche Ursachen von Merkmalselektion, also solche Ereignisse, die, sofern sie denn stattfan154
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Tinbergen: On aims and methods of Ethology, S. 419.
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den und vor einem ähnlichen Hintergrund stattfanden wie dem des erfolgreichen Experimentes, die Entwicklung des Merkmals als Wirkung gehabt haben könnten. Die Adäquatheit des Argumentes wird mittels experimentell falsifizierbarer Prämissen (P2 ) und (P3 ) gesichert. Insbesondere gehört dazu nach Möglichkeit das Überprüfen von Wechselwirkungen von Situationsbedingungen: One can also be confident that factors such as competition, natural enemies and the abiotic environment are likely to be important selective agents, and one might even know that particular agents are important in certain situations. However, almost nothing is known about how different selective agents might interact or their relative importance across traits or taxa in the shaping of organisms by evolution.155
Auch bei der Überprüfung von Umweltbedingungen bestehen die schon mehrfach aufgeführten Probleme, die Adäquatheit von Modellprozessen für natürliche Vorgänge abzusichern.156 Die Form des Argumentes ist für andere Erklärungen adäquat. Ein Beispiel belegt dies: Die These, dass die rezente Maispflanze von der Teosinte abstammt, würde wie folgt rekonstruiert: Die Variation von Genen der Teosinte ergibt Pflanzen, die positiv selektiert werden konnten (in diesem Fall durch die starke Selektionsbedingung der Ackerbau betreibenden Menschen). Diese Variationen werden über einen Zeitraum als vorliegend behauptet (und durch fossile belegt). Es sind so wenig Genvariationen nötig, dass die historische, zufällige Variation für den evolutionären Zeitraum (ca. 7500 Jahre) nicht ausgeschlossen ist. Der Form nach ist das Erklärungsschema für verschiedene Typen von Ereignissen und Gegenstände von Evolution offen. Verhaltensveränderungen sind genauso mögliche Erklärungsgegenstände wie auch technische Artefakte. Natürliche Selektion ist »substrat-neutral«.157 155
MacColl: The ecological causes of evolution, S. 515.
156
»For example, cutting leaves with scissors to simulate herbivory might not reproduce the effect of real herbivores« (ebd., S. 517).
157
Zu diesem Begriff Dennetts siehe Illies: Biologie statt Philosophie?, S. 26.
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Erst mit der Einbindung der historischen These (P2 ) kann eine Unterscheidung zwischen Evolutionstheorie als »wahrheitsfähiger Theorie« gegenüber einem »Konstruktionsspiel« getroffen werden.158 (P2 ) fordert Kenntnisse über vergangene Situationen. Damit stehen evolutionäre Klärungen genau solcher Merkmale vor einer Erkenntnisgrenze, die prinzipiell nicht fossilieren, wie etwa gesprochene Sprache oder Verhaltensweisen überhaupt.159 Wenn allerdings großer Spielraum bei der Bildung zeitlicher Reihenfolgen besteht – Fossile also keine strengen Vorgaben geben –, dann können zur Stützung von (P2 ) weitere technische Überlegungen vorgenommen werden: Sollten sich beim Erzeugen technischer Modelle von Organismen praktisch notwendige Reihenfolgen des Erzeugens von Merkmalen und Fähigkeiten ergeben, dann kann die pragmatische Ordnung der Naturgeschichte als zeitliche Entwicklungsordnung unterstellt werden. Ergebnisse aus der Konstruktionsmorphologie160 gehören also nach dieser Rekonstruktion evolutionärer Kausalerklärungen zur Stützung der zeitlichen Abfolge historischer Situationen. Auch hier ist allerdings – schließlich handelt es sich um Modellbildungen – die Prämisse zu ergänzen, dass die pragmatische Ordnung sich nicht durch die Verwendung damals vorliegender »Mittel« ändert. Man stelle sich hier eine Konstruktionsordnung vor, die geändert wird, nachdem an einem Fossil eine neue, bisher nicht bedachte Konstruktionsstrategie entdeckt wurde. Der Molulargenetik kommt insbesondere die Stützung von (P3 )-Prämissen zu: Überlegungen zu Mutationsraten, Folgen von Mutationen in einzelne Bereichen des Genoms (inklusive der interessanten Möglichkeit von Koevolution von Merkmalen, die durch benachbarte Gene verursacht werden) stützen besonders Adäquatheit von Selektionsszenarien in zeitlicher Hinsicht. Dies bringt auch die Metapher von der »molekularen Uhr« passend zum Ausdruck. 158 Beispiel eines reinen Konstruktionsspiels könnten die Rekonstruktionen von »Ursprachen« durch die Linguistik sein, was allerdings einer umfangreichen Diskussion bedürfte. 159 Siehe Tinbergen: On aims and methods of Ethology, S. 427, Mesoudi/ Mcelligott/Adger: Introduction: Integrating Genetic and Cultural Evolutionary Approaches to Language, S. 142. 160 Siehe Gutmann: Die Evolutionstheorie und ihr Gegenstand, Kapitel 6 f.
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Häufig wird der Reproduktionsvorteil in einem argumentativ vorherigen Schritt aus einer Merkmalsfunktion erschlossen – (P1 ) des vorherigen Argumentes ist also mit (K1 ) des folgenden Argumentes identisch: Evolutionäre Argumentform2 (P1 )
(P2 )
(K1 )
Wir können Y verändern, indem wir eine Situation SE (aus Umweltbedingungen UE und Merkmal ME ) herstellen. Das Verändern von Y ist Mittel, um den Reproduktionserfolg von Organismus OE zu verändern. Kettenschluss Wir können den Reproduktionserfolg von Organismus OE verändern, indem wir eine Situation SE (aus Umweltbedingungen UE und Merkmal ME ) herstellen.
Typischer Weise wird (P1 ) mit der Untersuchung der »Fitness« von Organismen gegenüber Umweltbedingungen getestet. Die Funktionen der Merkmale dienen dann der Forschung als Material für Tests phylogenetischer Adäquatheit. In dieser Hinsicht ist der Nachweis einer Merkmalsfunktion notwendig für die Begründung einer evolutionären Kausalaussage. Gemäß der Argumentform1 wäre das bessere Experiment stets die direkte Überprüfung des Reproduktionserfolges in mehreren Generationen. Auch dann gilt aber, dass kein direkter Schluss aus (reproduktiv vorteilhafter) Funktion eines Merkmals auf seine Evolution möglich ist.161 Wie bei Kettlewell reicht es angesichts der Hintergrundüberzeugung vieler Evolutionsbiologen aus, die relative »Fitness« eines Merkmals unter einer Umweltbedingung zu zeigen, die historisch vorlag oder vorgelegen haben könnte.162 161
Siehe MacColl: The ecological causes of evolution, S. 514 f., wo es Anhand des Beispiels verknöcherter Schuppen des Stichlings weiter heißt: »Overall, the lesson is that it can be difficult to infer the cause of selection through functional analysis, even for simple traits with apparently obvious function.«
162
Siehe z.B. das Konkurrenzexperiment von C3- und C4-Pflanzen bei Kutschera: Evolutionsbiologie, S. 276 ff.
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Typisch für die Form von Kausalaussagen aus der Evolutionsbiologie ist die Angabe nur einer Umweltbedingung oder Merkmalvariation, was mit dem folgenden anschließenden Argument begründet wird: Evolutionäre Argumentform3 (P1 ) (P2 ) (P3 )
(K1 )
Das Entstehen der Situation S war Ursache der veränderten Merkmalverbreitung M. SZ entstand mit der Merkmalveränderung MV bzw. Umweltveränderung UV . Ist S Ursache von M und entstand S mit der Merkmalveränderung MV (bzw. der Umweltveränderung UV ), dann war MV (bzw. UV ) Ursache von M. erfüllte hinr. Bed. MV bzw. UV war Ursache von M.
Nach diesem Schema wird also in evolutionären Erklärungen dann eine einzelne Variation oder Umweltveränderung als Ursache genannt, wenn das Entstehen dieser Bedingung zu einer Situation S0 diese zur Situation SZ ergänzt. In diesem Sinne können (siehe das Zitat von Laland oben, Seite 193) sowohl einzelne ökologische Bedingungen als auch genetische Veränderungen unproblematisch als Ursachen evolutionärer Veränderung angegeben werden, sofern begründet werden kann, vor welchem Hintergrund sich welche Veränderung naturgeschichtlich ereignete. Auch in dieser Form sind evolutionäre Erklärungen von molekulargenetischem Wissen unabhängig. Die Genetik verfeinert und vertieft lediglich unabhängig bestehendes Wissen. In kausaler Hinsicht stellt sie weiteres Wissen über Ursachen der so wichtigen minimalen Variationen und der Vererbung von Merkmalen bereit. Generell scheint für die Argumentform nicht relevant zu sein, wie die jeweilige Umweltbedingung entstand. Laland weist auf eine besondere Bedeutung ökologischer Nischenbildung durch die Organismen selber hin. So interessant solche Nischenbildung ist sei, argumentativ spiele die Bedeutung der Milchviehzucht für die Verteilung von Laktosetoleranz tatsäch-
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lich die gleiche Rolle wie der Einschlag eines laktosereichen Asteroiden.163 Erkenntnisgrenzen liegen dort, wo sich Lebewesen nicht unter kontrollierten Bedingungen reproduzieren oder wo echte Reproduktionsveränderungen nicht getestet werden können bzw. dürfen (etwa aus ethischen Gründen bei Humanexperimenten). Sollten Artunterschiede zwischen Experimental- und Zielorganismus bestehen, dann bestehen die biologischen Schwierigkeiten der Verwendung von Tiermodellen. Zuletzt ist auf eine Erkenntnisgrenze hinzuweisen, die zugleich eine Chance ist: Bei nicht belegten und vielleicht sogar begründbar nicht belegbaren Situationsmerkmalen aus SZ kann Galileis Strategie angewandt werden. Auf Grund des bei (P3 ) bestehenden logischen Spielraums plausibilisiert eine sonst starke evolutionäre Erklärung deren angenommene Merkmale der Situation SZ oder den angenommenen zeitlichen Verlauf. Veränderungen des aktuellen Wissens um Ursache-Wirkungs-Verhältnisse werden dann naturgeschichtlich relevant: Wer die Geschichte der evolutionsbiologischen Forschung verfolgt, wird außerdem Beispiele dafür finden, dass Stammbäume umgeschrieben werden mussten, weil es an Funden von Überresten von Pflanzen oder Tieren gelungen ist, ein Genom zu extrahieren und zu sequenzieren. Davon können wir hier nur aufgreifen, dass es offensichtlich für das Schreiben einer Geschichte über vergangenes, nicht beobachtbares Naturgeschehen immer auf das aktuelle Kausalwissen ankommt. Es entscheidet darüber, was gegenwärtig überhaupt als Indiz für Vergangenes gelten darf, wie die Indizien in ihrem Zusammenwirken zu deuten und ihre kausale, kohärente Vorgeschichte hypothetisch zu konstruieren ist.164
Die damit verbundene technische Erkenntnisgrenze ermöglicht eine Teilerklärung der Veränderlichkeit evolutionärer Geschichtsschreibung und wurde hier argumentativ präzisiert: Die Identifi163
Siehe Laland: On evolutionary causes and evolutionary processes, S. 100 ff.
»The standard evolution perspective [. . . ] regards the evolution of lactose absorption as an isolated event, equivalent to a lactose-rich asteroid crashing into the planet« (ebd., S. 101). 164
Peter Janich: Handwerk und Mundwerk. Über das Herstellen von Wissen, München: C.H.Beck, 2015, S. 258.
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kation relevanter Situationen aus Merkmalen und Umweltbedingungen, die für den Reproduktionserfolg relevant sind, erlaubt erst deren Abgleich mit verfügbaren, historischen Daten (über Naturprozesse, Verbreitung sowie morphologische und genetische Merkmale von Lebewesen).
4.3.3 Exkurs: Darwins Leistung Im Anschluss an eine typische experimentell gestützte Erklärung die Frage nach Darwins Leistung für die Evolutionsbiologie zu stellen, ist hier durch folgenden Umstand motiviert: Es ist sowohl historisch gut belegt als auch dem Werk leicht entnehmbar, dass Darwin entgegen dem empiristischen Vorurteil, er habe die Evolutionstheorie an Finken »entdeckt«165 , in Die Entstehung der Arten seine Argumentation für die Entstehung der natürlichen Arten aus Vorformen durch natürliche Selektion mit einer Betrachtung der menschlichen Praxis der Hunde-, aber besonders der Taubenzucht beginnt. Im Folgenden soll begründet werden, dass seine Leistung zwar nicht darin bestand, evolutionäre Erklärungen der obigen Form zu geben, aber dass dennoch ein wichtiger Teil seiner Argumente darin bestand, unter Verwendung von Handlungswissen eine Argumentform vorzustellen, die auf die Natur angewandt werden kann. Illies hat in einer interessanten Überlegung Darwins Leistung als argumentative Einsicht dargestellt, die sich durch 4 argumentative Schritte nachvollziehen lässt.166 Er liest in Darwins Überlegungen das folgende Argument mit drei Zwischenkonklusionen hinein:167
165
Siehe dazu Hans-Jörg Rheinberger: Die wissenschaftshistorische Bedeutung von Charles Darwin und Alfred Russell Wallace. Eine Notiz, in: Die Entstehung der Arten, Weinheim: WILEY-VCH, 2013, S. 531–537, hier S. 532. 166 Illies: Darwin’s Apriori Insight. 167 Die Thesen sind hier leicht verändert zusammengetragen und übersetzt. Die eckige Klammer zeigt die Originalbezeichnung bei Illies an.
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Die Einsicht Darwins (nach Illies) (P1.1 )
(P1.2 ) (P1.3 )
(K1 )
(P2.1 )
(P2.2 )
(K2 )
(P3.1 ) (P3.2 )
(K3 )
(P4.1 )
[GRI] Es gibt Lebewesen, die dauerhaft mehr Nachkommen als Vorfahren haben [die eine »geometrischen Reproduktionsrate« haben]. [LR] Ihre Ressourcen sind begrenzt. [RD] Das Überleben eines Organismus (bzw. die Anzahl der Individuen einer Art) hängt von ihrer Fähigkeit ab, mit der Umwelt zu interagieren. [SE] Struggle for Life: Tiere und Pflanzen haben wegen begrenzter Ressourcen mehr Nachkommen als überleben können. Daher besteht ein Kampf um das Überleben. [V] Es gibt vererbbare Variationen der Eigenschaften von Lebewesen. Individuen einer Spezies unterscheiden sich minimal in erblichen Eigenschaften. [PD] Die möglichen Interaktionen eines Organismus mit der Umwelt hängen von den Eigenschaften der Umwelt und denen des Organismus ab. [NS] Natürliche Selektion: Individuen mit besserer Umweltinteraktion werden positiv, andere negativ selektiert. Manche sind besser angepasst an die Umwelt, haben Vorteile und werden dadurch positiv selektiert, andere negativ. [T] Die Umwelt bleibt über längere Zeiträume hinreichend stabil . Die selektierte Eigenschaft ist erbliches Merkmal einer sich sexuell reproduzierenden Art. [BI] Weiterentwicklung der Art: Nach und nach kommen kleine Veränderungen zusammen und führen zu biologischem Fortschritt und zur Entwicklung einer neuen Art. Arten bewohnen nicht-homogene Umgebungen mit verschiedenen Selektionsdrücken.
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(P4.2 )
Reproduktive Barrieren verhindern Vermischungen der verschiedenen, selektierten, kleinen Veränderungen.
(K4 )
Arten spalten sich in Unterarten auf.
Argumentationstheoretisch auffällig ist der Verzicht auf die Angabe der Schlussprinzipien. In der Reihenfolge des Argumentes sagen die Konklusionen das Entstehen eines Reproduktionsvorteils (2), einer Artveränderung (3) und einer Artaufspaltung (4) aus. Nahe liegen daher Schlussprinzipien, die die jeweiligen Prämissen als kausale Bedingungen dieser Ereignisse anführen. Angewandt auf einzelne Reproduktionsraten, einzelne Umweltbedingungen, einzelne Merkmalsvariationen usw. kann allerdings nicht »a priori« auf deren Selektion, eine Artveränderung oder die Entstehung einer Art geschlossen werden. Es kommt jeweils darauf an, dass die »richtigen« Umweltbedingungen, Variationen usw. zusammentreffen. Was Darwin allenfalls »abstrakt« (also abgesehen von individuellen biologischen Situationen) eingesehen haben kann, ist, dass bei Vorliegen der Prämissen Selektion, Artveränderung und -entstehung möglich ist. • Das Entstehen einer Situation aus vielen Nachkommen bei begrenzten Ressourcen und Umweltabhängigkeit kann verursachen, dass die Organismen in Konkurrenz um die Ressourcen geraten. • Das Entstehen einer Situation aus Konkurrenz sowie minimalen, erblichen Merkmalvariationen und Abhängigkeit der Umwelt-Organismus-Interaktion von diesen Merkmalen kann verursachen, dass Reproduktionsvor bzw. -nachteile entstehen. • Das Entstehen einer Situation aus Reproduktionsvor- oder nachteilen und stabilen Umweltbedingungen, kann verursachen, dass sich Arten nachhaltig ändern. • Das Entstehen einer Situation, in der Teilpopulationen unter verschiedenen Umweltbedingungen leben und dabei reproduktiv voneinander getrennt werden kann verursachen, dass Unterarten entstehen.
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Systematisch genau an dieser Stelle kommt nun Darwins Verweis auf Züchtung ins Spiel, denn die Wahrheit dieser Sätze zeigt Darwin gerade an der Züchtungspraxis. Er zeigt an Zuchtbeispielen, dass durch Herstellung passender Bedingungen Artentstehung gelingt. Er kann so nicht nur belegen, dass für die Entstehung bereits durch Zucht hergestellter Unterarten eine einfache Erklärung gegeben werden kann, sondern dass sich im Prinzip jeder Zweifler nur einige Tauben besorgen muss und sich innerhalb einiger Generationen mit etwas Geschick von der Möglichkeit selbst überzeugen kann. Züchtung, so kompliziert sie im Detail sein mag, zeigt, dass es zur Veränderung von Lebewesen nicht mehr braucht als natürliche (ungesteuerte) Variation eines Lebewesens und seine Auswahl zur Zucht und getrennte Haltung. Die bedeutende Wirksamkeit dieses Prinzips der Selektion ist nicht hypothetisch; denn es ist die Tatsache, dass einige unserer ausgezeichnetsten Viehzüchter selbst innerhalb nur eines Menschenalters mehrere Rinder und Schaferassen in beträchtlichem Grade modifiziert haben.168
Er belegt, dass wir Reproduktionsvor- und -nachteile, Artveränderung und -entstehung relativ einfach herbeiführen können, indem wir geeignete Bedingungen B169 herstellen. Was Darwin mit seiner Darstellung der Züchtungsergebnissen durchführt, lässt sich also als Kausalerklärungen des Entstehens von domestizierten Tieren auffassen. Diese Erklärungen ergänzt er nun durch zahlreiche Hinweise darauf, dass die Natur ohne Zwecke und ohne menschlichen Eingriff in riesigem Ausmaß Bedingungen erfüllt, unter denen Züchtung gelingen könnte. Er belegt also empirisch, dass erbliche Merkmale variieren (wie bei domestizierten Tieren), dass die Umweltabhängigkeit besteht (natürlich »ausgewählt« wird), geologisch, dass Tiere reproduktiv voneinander getrennt werden können (natürlich ge168
Charles Darwin: Die Entstehung der Arten, hrsg. v. Paul Wrede/Saskia Wrede, kommentierte und illustrierte Ausgabe, Weinheim: WILEY VCH, 2013, S. 31. 169 Hier kann eingeklammert werden, ob die Bedingungen, die Illies angibt, tatsächlich hinreichend genau formuliert sind. Siehe zu seinem Prinzip (CP) – Illies: Darwin’s Apriori Insight, S. 68 – auch den Beleg »Wir können das Überleben oder auch nur die langfristige Reproduktionsrate von Lebewesen regulieren, indem wir ihre Umweltbedingungen ändern.«
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trennte »Haltung« stattfindet) und die Erde alt ist (lange natürlich »gezüchtet« wird) usw. Er zeigt also, dass im Prinzip Erklärungen von Populationsentwicklungen und rezenten Arten möglich sind, die die gleiche Form haben wie überprüfbare und einsichtige Erklärungen von Zuchttieren. Kurz gesagt: Ausgewähltes Sich-Vermehren-Lassen und Halten ist ein Mittel, um in Kürze veränderte Arten (bzw. Arteigenschaften) zu erreichen, und natürliche Bedingungen könnten über sehr lange Zeit hinweg diese Rolle als Ursachen übernommen haben. Dass diese Ursachen im Einzelfall vorlagen und wirksam waren und somit für einzelne evolutionäre Erklärungen, dafür gibt Darwin jedoch nur Skizzen, Ideen, »Erklärungsmaterial«: Es gibt minimale Veränderungen morphologischer Art und minimale Veränderungen von Verhaltenseigenschaften, es gibt Dürren, Inselentstehungen usw. Die evolutionäre Wirksamkeit von Variationen und Umweltbedingungen belegt dann zum Beispiel die experimentelle Evolutionsforschung, wenn sie historische Adäquatheit ihrer experimentellen Modelle beansprucht – wie es oben exemplarisch vorgeführt wurde. Darwins Leistung besteht daher im Etablieren einer leistungsstarken Argumentform170 durch überzeugende Einzelerklärungen für das Entstehen von (Unter-) Arten und Artmerkmalen unter Zuchtbedingungen. Aus diesen Überlegungen folgt keineswegs, dass alle Eigenschaftsveränderungen von Lebewesen durch eine (näher zu erläuternde) natürliche Zuchtwahl verursacht wurden oder gar alle Arten von gemeinsamen Vorfahren abstammen. Die Behauptung, dies zeigen zu können, wäre ein zu starker evolutionstheoretischer Erklärungsanspruch. Aus diesem Grund dürfte auch die Unterstellung einer »apriorischen Einsicht« Darwins in die Wahrheit evolutionärer Erklärungen für alle Lebewesen, wie sie Illies vornimmt, zumindest verwirrend sein. Eine Betrachtung der Rolle praktischen Wissens bei Darwin im Kontrast zur rekonstruierten evolutionären Erklärungsform kann also Hinweise auf seine Leistung für die Evolutionstheorie überhaupt geben. Er hat eine einfache Erklärungsform an der Züchtung konstruiert, deren Anwendbarkeit auf Naturgeschich170
»[Natural] selection is a highly economical explanation that one (simple) mechanism is supposed to account for a multitude of phenomena in areas as different as paleontology, embryology, and taxonomy« (Illies: Darwin’s Apriori Insight, S. 73).
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4.3 Biologie II: Evolutionsbiologie
te plausibilisiert und damit den »Startschuss« für evolutionäre Erklärungen gegeben, allerdings nicht im Sinne experimenteller Evolutionsforschung, die versucht, die Wirksamkeit bestimmter Selektionsdrücke, die historisch vorlagen, zu beweisen oder diese Selektionsdrücke zu erschließen. So kommt es für die Evolutionstheorie überhaupt weniger darauf an, die Vollständigkeit evolutionärer Erklärungen zu »beweisen«: Es ist fraglich, ob wir jemals in der Lage sein werden, alle Funktionen der lebenden Zelle im Detail zu verstehen; in gleicher Weise wird eine vollständige Aufklärung aller Fragen zur Stammesgeschichte der Organismen möglicherweise niemals gelingen.171
Ungeachtet dessen kann weiter das Wissen um die Naturprozesse verwendet werden, um mit dem Anwenden einer evolutionären Erklärungsform Evolutionstheorie zu betreiben. Darwin konnte mit dem Verweis auf praktisches Züchterwissen und empirischem Sammeln von Wissen über die Natur ein evolutionsbiologisches Forschungsprogramm starten, das in der Anwendung einer Erklärungsform besteht. »Müssen«, zum Beispiel, »im Laufe der Evolution die Stoffwechselwege durch Selektionsmechanismen optimiert worden sein«172 oder müssen nicht viel mehr Evolutionstheoretiker ihrem Programm folgend, Stoffwechselprozesse aus minimal anderen Vorformen mit historischem Adäquatheitsanspruch rekonstruieren? Darwin’s principle provides the type of explanation that evolutionary processes can find. This me might call a metalevel explanatory role: it states that entities’ causal interactions with their environment determine their fate (and thus sum up long-term changes). Thus in the world as it is (and has been), the properties of entities are, ceteris paribus, causally responsible for their persistence and proliferation. Consequently natural selection and CP serve as a framework with which other, more concrete explanations can be developed by adding further information. Following Brandon [. . . ], we might call natural selection 171 172
Kutschera: Evolutionsbiologie, S. 331. Vorwort der Herausgeber in Darwin: Die Entstehung der Arten, S. XXII.
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a “schematic law” that shows the way knowledge about particular developments can be gained.173
4.4 Psychologie In diesem Kapitel sollen drei Themen zu Kausalaussagen aus der Humanpsychologie untersucht und aus der eingenommenen interventionistischen Sicht argumentativ eingeschätzt werden. Ein Argumentschema wird anschließend angesichts der Lösungsvorschläge an einem Beispiel vorgestellt. Zuerst soll beurteilt werden, welche Rolle das Wissen oder Unwissen von Menschen um Ursachen ihres Handelns argumentativ spielt. Zweitens soll der argumentative Ort der Instruktion in psychologischen Experimenten bei der Begründung von Kausalaussagen eingeschätzt werden. Als drittes Thema soll dargestellt werden, was aus der interventionistischen Darstellung bezüglich eines (möglichen) Konfliktes zwischen Kausalaussagen und dem Handlungsstatus von Menschen generell bzw. von Versuchspersonen in Experimenten folgt.174 Dass Psychologie auch experimentell betrieben wird, ist unumstritten. Mit dem Experiment an Menschen, das bei nicht-pathologischen Handlungsfolgen möglich wird, sind weithin bekannte methodologische Probleme verbunden, die beim Durchführen heutiger Experimente beachtet werden. Besondere Eigenschaften des Experimentalgegenstandes »Mensch« sind vor allem die Sensibilität des Versuchsgegenstandes hinsichtlich Situation, Instruktion und vermutetem Experimentalergebnis. Während bei Tieren vor allem Lerneffekte vermieden werden müssen (sofern diese nicht explizit zum Experimentalergebnis gehören) und auch bereits bei Schlüssen auf Verhalten im natürlichen Habitat die Sensibilität für die Umgebung unter Haltungsbedingungen berücksichtigt werden muss, gilt es bei Menschen, schon vorab Überzeugungs-, Erwartungsbildung und die Möglichkeit bewusster Täuschung durch Probanden zu berücksichtigen. 173
Illies: Darwin’s Apriori Insight, S. 68. Einige Ideen zu den drei Themen und besonders zum ersten stammen von Thomas Keutner: Ignoranz, Täuschung, Selbsttäuschung. Kausalität in den Handlungswissenschaften, Freiburg, München: Karl Alber GmbH, 2004.
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Nicht Gegenstand dieses Kapitels ist dagegen Kausalität als Gegenstand von Psychologie, obwohl dies quantitativ einen Großteil der kausalen Rede in der Psychologie ausmacht: Viele Publikationen diskutieren alleine die Fragen des kausalen Schließens von Menschen, das Aufkommen kausaler Überzeugungen, das Handeln gemäß »impliziter« kausaler Überzeugungen usw. unter den Fragestellungen der verschiedenen psychologischen Disziplinen. 175 Hier sind kausale Ausdrücke also Fachbegriffe zur Klassifizierung des Forschungsobjektes. Ebenfalls nicht Gegenstand dieses Kapitels sind die Fragen, ob Gründe Ursachen sind und es in diesem Sinne eine spezifische »psychische Verursachung« der eigenen Handlungen gibt.176 Am Beispiel der Hypothese des kooperativen Auges wurde bereits ein psychologisches Experimentalergebnis vorgestellt, das Grundlage eines evolutionsbiologischen Schlusses war. Psychologisch ist das Ergebnis, weil die Handlungsfolge hinsichtlich der Aufmerksamkeit und des gezeigten Verhaltens der Kinder bestimmt wurde.177 Weitere exemplarische Aussagen sind: Beispiel II.59: Kognitive Alternsforschung »Ein wesentliches Anliegen der kognitiven Alternsforschung besteht darin, die Natur und Anzahl der Ursachen von Altersunterschieden in der Mechanik der Intelligenz im Erwachsenenalter und im hohen Alter zu bestimmen.«178 Beispiel II.60: Entwicklungspsychologie »Kausalität. In der Entwicklungspsychologie sind die Wirkursachen von Entwicklungsphänomenen (Veränderungen und Stabilitäten) zu erforschen.«179
Beispiel II.61: Lese-Rechtschreib-Störungen Im Abschnitt »Ursachen«: »Lese- und Rechtschreibprobleme basieren meist auf Defiziten in der Entwicklung phonologischer Fertigkeiten.«180 175
White stellt dabei auch einen Bezug zu verschiedenen Kausalitätstheorien her (siehe Peter A. White: Ideas about causation in philosophy and psychology, in: Psychological Bulletin 108.1 (1990), S. 3–18, URL: http://search.ebscohost.com/ login.aspx?direct=true&db=pdh&AN=1990-27189-001&site=ehost-live). 176 John Campbell: An Interventionist Approach to Causation in Psychology, in: Alison Gopnik/Laura Schulz (Hrsg.): Causal Learning. Psychology, Philosophy, and Communication, Oxford Scholarship Online, 2007, Kap. 5 wendet Woodwards Interventionismus auf dieses Thema an. 177 Siehe oben, Seite 203 ff. 178 Rolf Oerter: Entwicklungspsychologie. Mit Addons, 6., vollständig überarbeitete Auflage, Weinheim: Beltz Verlagsgruppe, 2008, S. 392. 179 Ebd., S. 966. 180 Ebd., S. 771.
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Beispiel II.62: Marlboro »Warum finden Frauen die Zigarettenmarke Marlboro so sympathisch? [. . . ] Die Helden [kommen] dem Profil des idealen Ehemannes sehr nahe. Also nicht das vordergründige Image »Männerzigarette«, sondern die dahinter verborgene unbewusste psychologische Markensubstanz ist die Ursache für die Markensympathie.«181
Beispiel II.63: Versuchsleitereffekt »Unter dem Begriff Versuchsleitereffekte (oder auch Rosenthal-Effekte) werden spezifische Störeinflüsse gefasst, die sich aus der sozialen Interaktion zwischen Versuchsleiter und Versuchsperson, sowie durch (eventuell implizite) Erwartungen des Versuchsleiters ergeben.«182
Beispiel II.64: Ego-Depletion »In Experiment 1, people who forced themselves to eat radishes instead of tempting chocolates subsequently quit faster on unsolvable puzzles than people who had not had to exert self-control over eating. In Experiment 2, making a meaningful personal choice to perform attitude-relevant behavior caused a similar decrement in persistence.«183
Zum Sprachgebrauch ist anzumerken, dass sich explizite Rede von »Ursachen« in psychologischer Literatur häufig auf »Normabweichungen« bezieht, also etwa, wie in Beispiel II.61, auf Leserechtschreibschwäche, aber auch auf Unerwünschtes oder Störendes wie Angst, Gewalttätigkeit, ungesunde Ernährung, fehlende Motivation am Arbeitsplatz.184 In diesem »Störaspekt« ähneln die Redeweisen denen der Evolutionsbiologie, bei der es vor allem das Aussterben von Tieren ist, bei dem explizit von »Ursachen« gesprochen wird. Der Entwicklungspsychologie wird (siehe Beispiel II.60) eine zentrale kausale Aufgabe gestellt. In der Ausführung derselben wird aber größtenteils auf explizite Kausalaussagen verzichtet, 181
Gert Gutjahr: Psychodynamik: Wirkung unbewusster Prozesse, in: Gabriele Naderer/Eva Balzer (Hrsg.): Qualitative Marktforschung in Theorie und Praxis, 2., überarbeitete Auflage, Wiesbaden: Gabler, 2011, S. 69–82, hier S. 77 f. 182 Jürgen Heller: Experimentelle Psychologie. Eine Einführung, Boston: Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2012, URL: http : / / www . degruyter . com / view / product/216852, S. 176. 183 Roy F. Baumeister u. a.: Ego depletion: Is the active self a limited resource?, in: Journal of Personality and Social Psychology 74.5 (1998), S. 1252–1265, URL: http://search.ebscohost.com/login.aspx?direct=true&db=pdh&AN=199801923-011&site=ehost-live, hier S. 1252. »In one study, they showed that trying not to think about a white bear [. . . ] caused people to give up more quickly on a subsequent anagram task. In another study, an affect-regulation exercise caused subsequent decrements in endurance at squeezing a handgrip.« (Ebd., S. 1253) 184
Kausalaussagen der psychiatrischen Forschung zur Ätiologie psychischer Störungen werde ich später gesondert diskutieren.
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4.4 Psychologie
was typisch für die Psychologie zu sein scheint. In der Regel wird nur in Fällen deutlicher Leistungsabweichungen von Ursachen gesprochen. Dann werden Wirkungen quantitativ und relativ zu Leistungen der Vergleichsgruppen angegeben (siehe die letzten drei Beispiele). Einflüsse durch Störefaktoren, die im Experiment vermieden werden sollen, werden – wie auch bei der Physik – kausal verstanden (Beispiel II.63), womit auch hier gilt: Wer etwa Versuchsleitereffekte behauptet, akzeptiert selbst bereits, dass es experimentelle Schlüsse auf Kausalaussagen in der Humanpsychologie gibt. Beispiele, die von philosophischer Seite zu Ursachen von Ereignissen aus der Sozialgeschichte vorgebracht werden, scheinen ebenfalls in den Gegenstandsbereich der (Sozial-) Psychologie zu fallen – allerdings als singuläre Aussagen über eine bestimmte historische Episode. Keutner führt dafür in einem kritischen Referat von Überlegungen Carnaps drei Beispiele an:185 • Dass Machtausübende ihnen verliehene Kontrollgewalt nicht wieder aufgeben wollen, verursacht (und erklärt deduktiv-nomologisch) eine Selbsterhaltungstendenz bürokratischer Institutionen. • Die Verschlechterung ihrer Lebensumstände durch Dürre und Sandstürme verursacht (und erklärt deduktiv-nomologisch) das Migrationsverhalten von Farmern. • Die wachsende Unzufriedenheit eines Teils der Bevölkerung verursacht (und erklärt deduktiv-nomologisch) das Entstehen einer Revolution.
4.4.1 Wird ein Prinzip der Toleranz vorausgesetzt? Nach diesen Beobachtungen zum Sprachgebrauch nun zu den drei Anfangs genannten Themen »Wissen/Unwissen«, »Instruktion« und »Handlungsstatus«. Es soll einerseits gezeigt werden, 185 Siehe Keutner: Ignoranz, Täuschung, Selbsttäuschung, S. 105. Die Beispiele – dort zum Thema der Erklärung mittels geschichtswissenschaftlicher Gesetze vorgebracht– finden sich bei Carl Hempel: The Function of General Laws in History, in: The Journal of Philosophy 39.2 (1942), S. 35–48, URL: http://www. jstor.org/stable/2017635, hier S. 40 f.
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dass sich die drei vorfindlichen Themen im interventionistischen Stil dieser Arbeit darstellen und diskutieren lassen. Zudem kann so eine Argumentform entwickelt werden, die typisch für die Humanpsychologie ist. Keutner beschreibt in seinen Überlegungen zu Kausalerklärungen menschlichen Handelns eine Annahme, die stets erfüllt sein müsse: Das Prinzip der Toleranz setze voraus, dass die Ursache des eigenen Handelns dem Handelnden im Vollzug der Handlung nicht bekannt sei. Ist die Ursache einer Handlung bekannt, dann würde die Kausalerklärung aus begrifflichen Gründen falsch und die Erklärung zu einer Handlungserklärung: [B]estimmte Ursachen [können] nur unter der Bedingung ihrer Unkenntnis durch die Person, deren Verhalten sie erklären sollen, wirksam werden [. . . ]; während die Kenntnis der behaupteten Ursache der Feststellung der Person Raum verschafft, sie habe aus den und den Handlungsgründen gehandelt.186
Wolle man Kausalerklärungen von Handlungen geben, so müsse gelten, dass die Person, deren Handeln erklärt wird, davon nicht weiß: Der Historiker steht dann vor der Pflicht, die Ignoranz der von seiner Kausalerklärung betroffenen Person nachzuweisen. In der experimentellen Psychologie erscheint [das Prinzip] als eines der Unkenntnis der Versuchsperson, die im Experiment vom Experimentator hergestellt oder zumindest bewahrt wird, durch Täuschung oder durch Unterlassung der Mitteilung der Forschungshypothese[.] Die Untersuchung im Fall der Psychoanalyse geht der Frage nach, ob derjenige, dessen Verhalten durch eine unbewußte Absicht verursacht ist, sich selbst über diese Absicht täuscht, so daß er also seine eigene Unkenntnis selbst hervorbringen würde.187 186
Keutner: Ignoranz, Täuschung, Selbsttäuschung, S. 241. Ebd., S. 21. Auch Buzzoni scheint eine ähnliches Erkenntnisproblem zu markieren, wenn er schreibt: »[The rules concerning human action] remain valid or stay in effect only as far as they are not revoked or reemerge in the consciousness of the agent.« (Marco Buzzoni: On Medicine as a Human Science, in: Theoretical Medicine and Bioethics 24.1 (2003), S. 79–94, URL: http://dx.doi.org/10.1023/A:1022942002711, hier S. 88).
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Argumentativ lässt sich diese These Keutners so deuten, dass für ein einfaches interventionistisches Argument in der Psychologie eine weitere Prämisse zu ergänzen ist: Toleranzprinzip und Ego-Depletion-ExperimentSkizze (P1 )
(P2 )
(K1 )
Wir können die Ausdauer bei einer schwierigen Zeichenaufgabe verringern, indem wir Versuchspersonen auf den Verzehr frischer Schokoladenkekse zugunsten von Radieschen verzichten lassen. Die Vpn wissen nicht, dass diese Willensleistung ihre Ausdauer beeinflusst. Versuchspersonen zugunsten von Radieschen auf den Verzehr der Kekse verzichten zu lassen verursacht verringerte Ausdauer bei einer schwierigen Zeichenaufgabe.
Das Prinzip der Toleranz wäre der Satz, der Prämissen wie hier (P2 ) zu notwendigen Inhalten psychologischer Kausalerklärungen macht. Eine Aussage über das Unwissen von Versuchspersonen müsste somit auch Teil eines psychologischen Schlussprinzips sein. Damit wäre widerlegt, dass in der Psychologie auf die hier dargestellte Weise interventionistisch argumentiert werden kann, denn dies wäre keine technisch-manipulative Aussage. Der argumentative Ort von Unwissen über eine kausale Hypothese ist aber ein anderer: Zunächst einmal ist unklar, wieso bei Wissen um die zu testende Hypothese die Kausalerklärung zwangsläufig falsch werden sollte: Warum sollte – am Beispiel – Ego Depletion (sofern es diesen Effekt denn überhaupt gibt) nicht auch stattfinden können, wenn wir darum wissen, dass Psychologen vermuten, dass uns unser Verzicht für eine anschließende Aufgabe erschöpft. Das Wissen um Ursachen oder Ursachenhypothesen ist dennoch durchaus relevant. Der Wissensstand der Versuchsperson gehört allerdings typischer Weise zum Ergebnis des »Präparationshandelns« und damit zur Formulierung des Handlungswissens. Keutner verweist im Anschluss auf die Frage der Psychoanalyse, ob sich Personen hinsichtlich unbewusster Absichten selbst täuschen, also ihre »Unkenntnis selbst hervorbringen«.
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Psychologen versuchen nur meist gerade zum Zweck des modellhaften Schließens aus dem Labor heraus die Einstellungen und kognitiven Bezüge der Versuchspersonen zum Experiment durch Täuschung und »Verheimlichung« zu beseitigen. Das Wissen von Patienten gehört zu den Startbedingungen des Experimentes, die als mögliche Störfaktoren bekannt sind und relativ zu denen das psychologische Handlungswissen formuliert werden. Im Zweifelsfall ist also der Indem-Teil des Experimentalergebnisses relativ zu einem Wissensstand der Versuchspersonen zu formulieren. Dieser Wissenstand ist damit gewissermaßen für die Psychologie das, was die reduzierte Dichte des Fallmediums in einem Fallturm für die Physik und das Lösungsmittel eines Nährstoffs, zu dem dann ein Verdauungsenzym gegeben wird, in der Biochemie ist. Die Erkenntnis, dass diese Relativierung relevant sein kann, führt zu einem einzigartigen Handlungswissen in der Psychologie: Von der Psychologie erkannte Wirkungen können durch Publikation der Kausalaussage verhindert werden. In keiner anderen Wissenschaft kann so grundlegend durch Aufklärung stabile Manipulierbarkeit des Untersuchungsgegenstandes aufgehoben werden. Die Auswirkungen von Wissensveränderungen können dabei vielfältig sein:188 So kann sich die Versuchsperson im Experiment das vermeintliche Ergebnis zum Zweck machen oder an seiner Widerlegung arbeiten. Bei einer alltäglichen Kaufentscheidung hingegen kann man versuchen, sich nicht auf dem publik gewordenen Weg beeinflussen zu lassen.
4.4.2 Was folgt aus Instruktionen? Auch das Thema »Instruktionen« lässt sich interventionistisch erhellend diskutieren. Eine weiterer wichtiger Aspekt psychologischer Erklärungsformen wird so deutlich. Spezifisch für das psychologische Experiment ist die Instruktion der Versuchspersonen und – wie eben gesehen – die Beachtung ihres Wissens 188
Siehe dazu Kapitel 6 in Keutner: Ignoranz, Täuschung, Selbsttäuschung, S. 241 ff., wobei die Darstellung dortunter dem Bezug zum Thema »Gesetzmäßigkeit« leidet und auch deshalb die mögliche Relativierung von Kausalaussagen nicht in Betracht gezogen wird.
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von der Studie, an der sie teilnehmen. Was zu den Versuchspersonen wann gesagt wurde, ist Teil der Experimentbeschreibung. Die entsprechend instruierte Person ist Teil des Ergebnisses der komplexen »Präparations«handlungen: Insofern als durch eine gute Instruktion Mißverständnisse vermieden werden, welche die Erreichung der intendierten experimentellen Ausgangssituation verhindern, bildet das Wissen um die Erstellung geeigneter Instruktionen einen Teilbereich des für psychologisches Experimentieren relevanten Störungsvermeidungswissens.189
Muss deshalb bei psychologischen Kausalaussagen, bei deren experimenteller Stützung im Experiment zum Handeln aufgefordert wird, explizit angenommen werden, dass die Versuchspersonen die Instruktionen verstanden und aufrichtig befolgten? Dagegen spricht, dass erfolgreiches Anleiten durch die Formulierung der Versuchsvorbereitung bereits impliziert zu sein scheint. Grundlegend gelungene Kommunikation mit der Versuchsperson und ihre Kooperation wird dabei als unproblematisch unterstellt. Die Versuchspersonen müssen etwa versuchen zu widerstehen oder die Augen nicht zu schließen. Der Versuchsleiter lässt sie dies tun und lässt nur teilnehmen, von wem er auf Kooperation hoffen kann. Gibt man das experimentelle Wissen also so an, dass man formuliert, »indem wir die Vpn die Aufgaben A ausführen lassen«, dann ist die Prämisse von Verständnis und Befolgung der Instruktion zur Begründung des Handlungswissens impliziert. Eine zusätzliche Prämisse für einen Schluss auf ein Kausalverhältnis ist sie damit nicht.
4.4.3 Kausalaussagen und Handlungsstatus Handlungen und Verhaltensweisen können selbst Gegenstände psychologischer Kausalerklärungen sein. Als letzte Frage vor der Beispielrekonstruktion soll nun diskutiert werden, ob eine (vermeintliche) Handlung trotz kausaler Erklärung eine Handlung ist. Das Beispiel II.59 der Alternsforschung etwa zeigt an, dass der 189
Hartmann: Naturwissenschaftliche Theorien, S. 135.
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Einfluss verschiedener Ereignisse und Umstände auf das Erfolgsausmaß von »Intelligenzleistung« (was auch immer darunter im Einzelfall verstanden wird) bestimmt werden soll.190 Intuitiv ist unwillkürliches Verhalten von Menschen auch im Alltag schon Gegenstand unseres Handelns, zum Beispiel, wenn wir jemanden erschrecken, provozieren, eine gruselige Geschichte vorlesen – generell alle Mittel, mit denen wir »Emotionen schüren«, »Wahrnehmung lenken« oder Ähnliches. Intuitiv scheint es genauso unproblematisch Mittel zu geben, Handlungen im Detail zu beeinflussen, wie es Mittel gibt, sie überhaupt herbeizuführen. Schon eine Bitte oder eine Aufforderung scheint doch ein Mittel zu sein jemanden zum Vollzug einer bestimmten Handlung zu bringen. Alle Mittel Aufmerksamkeit zu lenken, dienen dazu, Handlungen zu provozieren. In Entscheidungsprozessen kann es das Aufzählen von Vor- oder Nachteilen sein, das zu einer Handlung bewegt. Alle Mittel der Überredungskunst, des Intrigierens, Verleitens, Verführens und Umwerbens gehören dazu. Auch der gesamte Bereich der Produktbewerbung, alle Marketing- und Politikkampagnen usw. müssen offenbar so verstanden werden, dass dort Handlungen selbst als Erfolge von Handlungen etabliert werden sollen. Wenn wir Schwächen kennen, dann können wir zu »unüberlegten Handlungen« provozieren. Indem er eine bestimmte Formulierungen in der Übersetzung der Emser Depesche verwendete, konnte Bismarck nationale Empörung provozieren. Es ist die Tatsache, dass der französischen Regierung wohl diese Empörung (und der Inhalt der Übersetzung) nicht bloß einen Grund gab, sondern ihr angesichts festgefahrener Systeme von Überzeugungen und Gefühlen wie eine Ursache gegenübertrat und so zur Entscheidung führte. Frankreich, so sagt man, war zum Kriegseintritt gezwungen.191 190
Siehe auch das Beispiel zur Kaufentscheidung von Zigaretten einer bestimmten Marke, Beispiel II.62. 191 Auf sozialgeschichtliche Erklärungsbeispiele (z.B. zu Ursachen der französischen Revolution) kann hier aus Platzgründen nicht eigens eingegangen werden. Im juristischen Kontext wäre zudem zu zeigen, wie die für Schuldfragen relevanten Kausalverhältnisse nach dem Wissen ausgewählt werden, was nach tradiertem Wissen über aktuelle menschliche Handlungsmöglichkeiten dem Angeklagten an Voraussicht und Kontrolle zugemutet und von ihm verlangt werden kann – eine Extrapolation von Handlungswissen ganz eigener Art.
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Sicherlich ist es wichtig, Unterschiede zwischen Ursachen und Gründen zu machen. Auch folgt aus dem Beispiel nicht, dass die französische Regierung nicht hätte anders entscheiden können. Es scheint aber auch eine ebenso unzulässige Verkürzung zu sein, anzunehmen, dass sobald gehandelt wird, prinzipiell keine Ursachen von Handlungsentscheidungen im Spiel seien. Kausalität im Bereich menschlichen Handelns scheint allerdings eine gewisse existenzielle Bedeutung zu haben. Kausalerklärungen stehen hier in Verdacht, das jeweilige Handeln zu einem »unfreien, bloßen Verhalten« zu degradieren, zu einem Patellarsehnenreflex höherer Ordnung – und es damit auch zu entschuldigen. Philosophisch ist es (vielleicht auch deshalb) verbreitet, die Themen »Gründe« und »Ursachen« so weit voneinander zu trennen, dass auch das Geben von Gründen für Handlungen nicht als »Einwirken« in einem kausalen Sinne verstanden werden soll. Daraus ergibt sich etwa bei von Wright eine auf den ersten Blick geradezu widersprüchliche Haltung: Ob man von Handlungen korrekt sagen kann, daß sie getan werden mag zweifelhaft sein, aber es ist gewiß sinnvoll, wenn man sagt, daß Handlungen manchmal »herbeigeführt« werden. Wir werden manchmal dazu gebracht, etwas zu tun. Wie geht das vor sich? Zum Beispiel dadurch, daß man einen Befehl erhält, eingeschüchtert wird, zu etwas überredet wird oder mit einer Drohung konfrontiert wird. Handlungen, die so herbeigeführt wurden, können Folgen oder Wirkungen derjenigen Handlungen genannt werden, von denen sie herbeigeführt wurden. Dies ist jedoch – und das möchte ich hier betonen – keine kausale oder gesetzmäßige Verknüpfung der von uns hier untersuchten Art. Es ist ein motivationaler Mechanismus und als solcher nicht kausal, sondern teleologisch.192 192
Von Wright: Erklären und Verstehen, S. 71. Auch Hartmann tut sich ersichtlich schwer mit dem Problem: »Der Annahme, Handlungen seien nicht anderes als besonders
komplexes Verhalten, liegt im Fall der Psychologen noch ein etwas anderes Motiv zu Grunde: Die Überzeugung nämlich, eine naturwissenschaftliche, d.h. Verlaufsgesetze aufstellende, kognitive Psychologie sei überhaupt nur möglich, wenn auch kognitive Handlungen wie etwa Überlegungen, Bewertungen und Entscheidungen unter kausale Kontrolle gebracht werden könnten. Hier liegt aber insofern ein Mißverständnis vor, als nicht beachtet wird, daß, obzwar Handlungen selbst nicht verursacht sind, sie dennoch kausalen Einflüssen unterliegen. So können psychologische Verlaufsgesetze zwar nicht die Ausführung kognitiver Handlungen erklären, es sind aber z.B. durchaus Gesetze möglich, welche etwa den Grad des Handlungserfolges (als »abhängige
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Beachtet man allerdings die Überlegungen zur Instruktion zuvor, dann wird klar, dass Handlungen von Versuchspersonen nicht nur Grundlage von Handlungsfolgen im psychologischen Versuch sind, wenn etwa Tendenzen zum Kauf eines Produktes einer bestimmten Marke erklärt werden soll, sondern dass Handeln selbst in die Beschreibung der Ursachen eingehen. Gerade wenn instruiert wird, steht nicht nur der Handlungsstatus der Tätigkeiten der Durchführenden außer Frage, sondern auch die Befolgungen der Instruktionen und das mitarbeitende Handeln der Versuchspersonen. Allgemeinen Bedenken, dass mit psychologischen Kausalerklärungen Menschen keine Handelnden mehr seien, kann also offenbar die Form psychologischer Kausalerklärungen entgegen gehalten werden. Wenigstens der Verdacht, dass mit Kausalerklärungen Handlungen beseitigt würden und dass mit erfolgreicher psychologischer Forschung immer mehr Handlungen zum bloßen Verhalten würden, erweist sich so als unangebracht.
4.4.4 Ego Depletion In die Argumentrekonstruktion zum Effekt der Ego Depletion können die bisherigen Überlegungen ausgenommen werden: Ein Modellschluss wird vollzogen, bei dem das Handlungswissen auf fachtypische Art und Weise formuliert werden muss. Zumdem wird im Fall von Ego Depletion der erschlossene Sachverhalt theoretisch neu beschrieben: Ego Depletion (P1 )
Wir können die Ausdauer bei Willensleistungen senken, indem wir Versuchspersonen (ohne Wissen um die Ziele der Studien) Aufgaben ausführen lassen, die Selbstkontrolle verlangen.
Variable«) mit bestimmten Situationsparametern (als »unabhängigen Variablen«) in Verbindung bringen. Bei der Überprüfung solcher Gesetze im psychologischen Experiment wird dabei die Ausführung der betreffenden Handlungen durch eine geeignete Instruktion der Versuchsperson sichergestellt.«(Hartmann: Kulturalistische Handlungstheorie, S. 75)
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4.4 Psychologie
(P2 )
(P3 )
(S1 )
(K1 )
(P4 )
(K2 )
Das Angleichen der Experimentalsituation an alltägliche Aufgaben, die Selbstkontrolle verlangen, ist kein Mittel, um die Ausdauer bei Willensleistungen zu normalisieren (oder zu verbessern). Solches Angleichen hat keinen Verlauf zur Folge, der zu unserem Hintergrundwissen über alltäglichen Situationen und verringerte Ausdauer bei Willensleistungen in Widerspruch steht. Psychologisches Schlusssprinzip: Wenn wir Handlung oder Leistungsausmaß YE herbeiführen können, indem wir Personen PE (mit Wissen W um die Ziele der Studie) Aufgabe A E ausführen lassen, das Angleichen von Experimentalsituation an reale Situationen und Aufgaben A Z von PZ weder Mittel ist, um YE zu unterdrücken, noch in Widerspruch steht zu unserem Hintergrundwissen über A Z , dann verursachen bei Personen PZ A Z Handlung bzw. Leistungsausmaß YZ . erfüllte hinr. Bed. Aufgaben, die Selbstkontrolle verlangen, verursachen eine verringerte Ausdauer bei Willensleistungen. So verringerte Willensleistung ist theoretisch am besten beschrieben als Erschöpfung der menschlichen Willensressource (Ego Depletion). theoretische Neubeschreibung Aufgaben, die Selbstkontrolle verlangen, verursachen eine Erschöpfung der menschlichen Willensressource (Ego Depletion).
Zunächst sei bemerkt, dass die Forschung zur Ego Depletion derzeit ein unrühmliches Ende zu nehmen scheint: Die Experimente scheinen nicht reproduzierbar zu sein.193 Hier allerdings geht es 193
Siehe Martin S. Hagger u. a.: A multi-lab pre-registered replication of the ego-depletion effect, in: Perspectives on Psychological Science 2015, URL: https: //www.researchgate.net/publication/299470397_A_multi- lab_pre- registe red_replication_of_the_ego- depletion_effect. Das Problem scheint bei vielen Experimentalergebnissen zu bestehen (siehe Monya Baker: First results from Psychology‘s largest reproducibility test, Nature Publishing Group, Nature News,
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nur darum, dass – wie bei Galileis Erklärung der Gezeiten194 – die argumentative Form des Argumentes korrekt ist. In (P1 ) werden die Ergebnisse ganzen Reihe von Aufgaben generalisiert, die Selbstkontrolle und Willensleistung verlangen. Gegebenenfalls kann diese Generalisierung und damit die Formulierung des Handlungswissens diskutiert werden. Dann wären die tatsächlich durchgeführten Experimente anzuführen. In der ersten Arbeit von Baumeister et. al.195 werden vier Versuche genannt: Eine unlösbare Zeichenaufgabe wird eher aufgegeben, wenn zuvor entweder (1) Radieschen statt frisch gebackenen Schokoladenkeksen gegessen oder (2) eine unterstützende Rede für höhere Studiengebühren gehalten werden muss. (3) Eine Anagrammaufgabe wird schlechter gelöst, wenn zuvor zu einem witzigen Film mit Robin Williams oder einem zu einer sterbenden Mutter keine Emotionen gezeigt werden dürfen. (4) Ein ereignisloser Film wird eher beendet, wenn Highlights einer Abendshow in Aussicht gestellt werden und zuvor aus einem schwer lesbaren statistischen Artikel der Vokal »e« herausgestrichen werden muss. Soll Ego Depletion ein allgemeiner und nicht bloß ein Laboreffekt sein, dann dürfen sich Unterschiede zu realen Situationen von Willensausübungen nicht als relevant erweisen. (P2 ) behauptet dies auf die schon bekannte interventionistische Weise. Gegebenenfalls können andere, schwächere Formulierungen des Handlungswissen vorgenommen werden. Die erreichten Laborvorgänge dürfen zudem nicht in klarem Widerspruch zu dem stehen, was wir zu Erschöpfung und Willensleistungen bereits wissen. Finden etwa ähnliche gut beobachtete Abläufe statt, bei denen Menschen nach dem Widerstand gegen frischen Kuchen zugunsten von Radieschen umso besser ihre Arbeitsaufgaben lösen, ohne dass relevante Randbedingungen erkennbar wären, so spricht dies gegen die kausale Generalisierbarkeit des Experimentes. Insbesondere ist bei (P3 ) wieder an die zeitlichen und quantitativen Verhältnisse der Aufgaben und Willensleistungen zu denken. Apr. 2015). Eine grundlegende Krise der experimentellen Psychologie scheint aktuell zu beginnen. 194 Siehe oben, Seite 115. 195 Baumeister u. a.: Ego depletion: Is the active self a limited resource?
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Über (P4 ) wird die Rede vom Ressourcenverbrauch eingeführt. Dieser Verbrauch ist schließlich keine »experimentelle Variable« und auch keine generalisierte Beschreibung der Handlungsfolgen der verschiedenen Experimente, sondern eine theoretische Deutung, deren Berechtigung anhand der Prämisse diskutiert werden kann. In folgende Argumentform gehen die Überlegungen zum Wissen, zu Instruktionen und zum Handlungsstatus auf abstrakte Weise ein: Ego Depletion (P1 )
(P2 )
(P3 )
(K1 )
Wir können Handlung oder Leistungsausmaß YE herbeiführen, indem wir Personen PE (mit Wissen W um die Ziele der Studie) Aufgabe A E ausführen lassen. Das Angleichen der Experimentalsituation an reale Situationen und Aufgaben A Z von realen Personen PZ ist kein Mittel, um YE zu unterdrücken. Solches Angleichen hat keinen Verlauf zur Folge, der zu unserem Wissen über A Z und Y Z in Widerspruch steht. psychologisches Schlussprinzip Bei PZ verursacht A Z Handlung bzw. Leistungsausmaß YZ .
An (K1 ) kann zudem – wie gesehen – eine theoretische Neubeschreibung des Kausalverhältnisses angeschlossen werden. Die genaue Formulierung des Handlungswissens zusammen mit der handlungstheoretischen Reflektion des Schemas hinsichtlich der Themen »Unwissen«, »Instruktion« und »Handlungsstatus« ergeben ein adäquates und wissenschaftstheoretisches nützliches Mittel, um psychologische Kausalerklärungen kritisch zu rekonstruieren.
4.5 Medizin Nach den bisherigen Fallstudien zu Physik, Biologie, Evolutionsbiologie und Psychologie soll die argumentative Rekonstruktion
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nach interventionistischer Vorgabe nun auch eine generelle und erkenntniskritische Diskussion des Themas »Kausalerklärungen in der Medizin« erlauben. Drei Beispiele erlauben die Diskussion von typischen Argumentationsstrategien und damit verbundenen Schwierigkeiten. Inbesondere wird verhinderndem und beseitigendem Handeln eine wichtige Rolle zugewiesen. Medizin ist geradezu definitorisch eine Disziplin, in der alles auf erfolgreiches Handeln an (und mit) Patienten abgestellt wird. Ihre Erkenntnisziele betreffen damit typischerweise komplexe Lebewesen mit langen Lebensgeschichten, die unter unübersehbar vielen, individuellen Umweltbedingungen leben und erkranken. Beide Formen des Handelns, die von Wright in seiner interventionistischen Kausalitätsdefinition aufführte, werden genutzt – herbeiführend das Provozieren und beseitigend das Therapieren bzw. verhindernd die Prävention von Krankheiten und einzelnen Symptomen.196 Schon intuitiv ist klar, dass nicht jede hilfreiche, therapeutische medizinische Praxis die Ursachen einer Erkrankung beseitigt. Die Behandlung kann auch einzelne Symptome sowie Folgen der Krankheit betreffen – man denke etwa an die gesamte Praxis der Palliativmedizin –, Verläufe mildern oder asymptomatische Verläufe erzwingen. Medizinische Behandlung kann Symptome lindern ohne Ursachen zu beseitigen. So ist auch ein Patient im künstlichen Koma von einigem Leid befreit, aber nur, weil Bedingungen hergestellt wurden, die das Erleben von Folgen der Erkrankung verhindern, und nicht, weil die Erkrankung beseitigt wurde. Dennoch ist auch intuitiv plausibel, dass eine Behandlung »im besten Fall bei der Ursache ansetzen« sollte und dass sich aus Therapie und Prävention etwas über Ursachen lernen lässt. Aber wie genau sieht nun das Verhältnis von Handlungen zu Ursachen in der Medizin aus?
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Viele Anregungen für dieses Kapitel und Hinweise auf Zitate stammen von K. Codell Carter: The Rise of Causal Concepts of Disease. Case Histories, Burlington: Ashgate, 2003. Zur Wissenschaftsgeschichte medizinischen Experimentierens siehe Guerrini: Experimenting with Humans and Animals und Dietmar Buchberger/Jürgen Metzner: Versuchstier Mensch? Medizinische Versuche am Menschen in Vergangenheit und Gegenwart, Frankfurt am Main: pmi Verlag, 2005. Psychiatrische und psychoanalytische Forschung werden in den letzten beiden Kapiteln getrennt von der (somatischen) Humanmedizin darstellt.
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Herbeiführenden Humanexperimenten sind in Folge der Vorgänge in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern mit dem Nürnberger Kodex von 1947 strenge Regeln auferlegt. Das heißt jedoch nicht, dass nicht auch weiterhin – der Verlockung unvermittelter Erkenntnis erliegend – unter der Hand oder in den Momenten »gelockerter« Moral – an Kriegs- oder politischen Gefangenen – weiter Krankheiten am Menschen auch herbeigeführt würden. Meistens jedoch werden Humanexperimente aus ethischen Gründen nicht durchgeführt.197 Es ist aber sowohl anzunehmen, dass in der Wissensentwicklung immer wieder von Herbeiführungsexperimenten Gebrauch gemacht wurde, deren Durchführung aus ethischen Gründen heute niemals genehmigt würde, als auch, dass heute einzelne Wissensbestände darauf zurückgreifen. Abgesehen von einzelnen Ausnahmen stellt der Verzicht auf solche Experimente am Menschen der Medizin jedoch eine charakteristische Erkenntnisaufgabe und bereitet charakteristische Erkenntnisprobleme. Das gezielte Hervorrufen von Krankheitsbildern ist durch diesen Verzicht größtenteils beschränkt auf die Manipulation von Modellorganismen. Dieser Bereich macht daher einen bedeutenden Teil medizinischer Forschung aus, der zwar selbst wieder tierethisch diskutiert aber doch derzeit zumindest an einfachen Organismen für unverzichtbar gehalten wird. Die Schwierigkeiten von Analogien stellt sich in der Medizin wie in der Biologie beim Übergang von In-vitro- oder In-vivo-Modellen auf Menschen, also als Problem der Geltung modellgestützter Ätiologie.198 Um sich eine Meinung zur tierethischen Frage zu machen, ist damit auch die Beurteilung des Erkenntnisnutzens medizinischer Experimente. Somit ist es auch in ethischer Hinsicht wichtig, wissenschaftstheoretisch die Rolle medizinischer Experimen197 Im Fall der Experimente während des Nationalsozialismus in Deutschland wird dabei ebenfalls ethisch diskutiert, ob ihre Daten überhaupt verwendet werden sollten – der Entscheidungskonflikt wird allerdings dadurch etwas entschärft, dass auch begründete Zweifel an der Verlässlichkeit der Ergebnisse bestehen. Siehe zum Thema: David Bogod: The Nazi Hypothermia Experiments: Forbidden Data?, in: Aneastesia 59 (2004), S. 1155–1159. 198 Die Entwicklung von Tiermodellen als einer der Standardmethoden der wissenschaftlichen Medizin wird mit dem Werk Claude Bernards von 1865 verbunden, der die Medizin auf diese Weise methodisch explizit an Physik und Chemie orientierte. Siehe dazu LaFollette/Shanks: Two Models of Models in Biomedical Research, Seite 142 und 145 ff.
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te bei der Begründung von Kausalaussagen korrekt zu bestimmen – jedenfalls dann, wenn man sich auf ethische Abwägungsargumente (Erkenntnisnutzen vs. Leid der verwendeten Tiere) einlässt. Die zweite Handlungsform, also beseitigendes und verhinderndes Handeln, findet als Heilung und Prävention systematisch in der Forschung unter aufwändig konstruierten Bedingungen statt. Die einzelnen Patienten sollen dabei für Gruppen typischer Patienten stehen. Präventives Wissen findet seinen Ausdruck in Hygienevorschriften, Warnungen, Gesundheitsratschlägen und Impfungen. Wirksamkeitsstudien kontrollieren gezielt erwünschte Wirkungen sowie unerwünschte Nebenwirkungen und dienen dem Ziel, möglichst breit anwendbare Anleitungen zu hilfreichen Maßnahmen der Behandlung oder Prävention geben zu können. Im Einzelfall wird das gewonnene Wissen dann unter den besonderen Bedingungen des einzelnen Patienten (z.B. Verträglichkeit, Komorbidität) angewandt. Soviel zur Bedeutung erfolgreichen Handelns und Kausalität in der Medizin generell. Nun zum Thema des kausalen Schließens. Die medizinische Forschung hat eigene, fachinterne, methodologische Prinzipien und Hinweise zum kausalen Schließen hervorgebracht, insbesondere die Henle-Koch-Postulate und die Bradford-Hill-Kriterien. Ihre Bedeutung soll hinsichtlich der Beteiligung manipulativen Handelns diskutiert werden. Einige Diskursprobleme um medizinische Ratschläge und Ergebnisse der Forschung dürften auch durch besseres Verständnis kausaler Erklärungen auflösbar sein (grundsätzliche Kritik an »Schulmedizin«, Impfkritik, Kritik an »Naturheilkunde« und Homöopathie usw.). Insofern dürfte auch ein gesellschaftliches Interesse an systematischer Bearbeitung des Themas bestehen. Welches »kausale Sprachmaterial« gibt es in der Medizin? Kausale Rede ist jedenfalls allgegenwärtig. Umfangreich wird Ätiologie von Krankheiten als Lehre ihrer Ursachen betrieben. Stoffe und Organismen werden als Pathogene bezeichnet, wenn sie Krankheiten (mit-)verursachen. Es wird von genetischen Krankheiten gesprochen, wenn Vererbung Ursache einer Krankheit ist. Es werden alltägliche Handlungen oder Umstände als Ursachen von Krankheiten identifiziert. Es wird von therapeutischen Wirkungen und Nebenwirkungen gesprochen und nach Todesursachen
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in der Pathologie untersucht. Exemplarische Kausalaussagen der Humanmedizin (auf die ich mich hier beschränke) sind: Beispiel II.65: Erregerdiagnose »Erregerdiagnose. Das ist die exakte Bestimmung der Krankheitsursache, nämlich des Erregers.«199
Beispiel II.66: Magengeschwüre »[T]he primary cause of most peptic ulcers is infection by a recently discovered bacterium, Helicobacter pylori[.]«200
Beispiel II.67: SARS »SCV thus fulfils all of Koch’s postulates as the primary aetiological agent of SARS. This does not exclude the possibility that other pathogens [. . . ] may have exacerbated the disease in some SARS patients.«201
Beispiel II.68: Tuberkulose »[A] single bacterium, if it successfully evades the host defense mechanism, infects the macrophages and multiplies to cause infection.«202
Beispiel II.69: medikamentöse Immunschwäche »Bei Kindern