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German Pages 282 [286] Year 2011
Jens Kistenfeger Historische Erkenntnis zwischen Objektivität und Perspektivität
EPISTEMISCHE STUDIEN Schriften zur Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie Herausgegeben von / Edited by Michael Esfeld • Stephan Hartmann • Albert Newen Band 19 / Volume 19
Jens Kistenfeger
Historische Erkenntnis zwischen Objektivität und Perspektivität
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2011 ontos verlag P.O. Box 15 41, D-63133 Heusenstamm www.ontosverlag.com ISBN 978-3-86838-104-7 2011 No part of this book may be reproduced, stored in retrieval systems or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, microfilming, recording or otherwise without written permission from the Publisher, with the exception of any material supplied specifically for the purpose of being entered and executed on a computer system, for exclusive use of the purchaser of the work Printed on acid-free paper ISO-Norm 970-6 FSC-certified (Forest Stewardship Council) This hardcover binding meets the International Library standard Printed in Germany by CPI buch bücher.de
Für Bianka und Louisa
Inhaltsverzeichnis Vorwort................................................................................................ 5 0. Einleitung........................................................................................ 7 1. Objektivität und Standortgebundenheit.....................................13 1.1 Eingrenzung des Untersuchungsbereichs.....................................14 1.2 Drei Argumentationsstrategien.....................................................21 1.3 Das Komponentenmodell ............................................................24 1.4 Die derivativen Objektivitätskomponenten..................................35 1.4.1 Methodologische Objektivität....................................................36 1.4.2 Objektivität als Unparteilichkeit................................................41 1.4.3 Konsensuale Objektivität...........................................................45 1.4.4 Das Komponentenmodell ist integrativ ....................................48 1.5 Objektivität und Standortgebundenheit .......................................51 1.5.1 Korrespondenzcharakter und Standortgebundenheit.................53 1.5.2 Die Mitte zwischen zwei Extremen...........................................55 2. Die postmodern-narrativistische Herausforderung...................59 2.1 Postmoderne und Narrativität ......................................................63 2.2 Narrative Redeskription ...............................................................67 2.2.1 Der Status narrativer Redeskriptionen.......................................69 2.3 Der postmoderne Narrativismus...................................................79 2.3.1 Ankersmits Repräsentationstheorie historischer Narrationen....80 2.3.2 Kritik an Ankersmits Repräsentationstheorie............................88 2.4 Zwei-Ebenen-Modell oder narrative Kontinuität?........................96 2.4.1 Die Emergenz einer neuen alethischen Eigenschaft..................97 2.4.2 Einwände gegen das Zwei-Ebenen-Modell.............................102 2.4.3 Narrative Kontinuität...............................................................109 2.5 Zusammenfassung .....................................................................113 3. Eine minimalistische Konzeption historischer Narrativität....115
3.1 Die Merkmale der minimalistischen Narrativitätskonzeption.....117 3.2 Narrative Kohärenz..................................................................... 127 3.3 Sind historische Darstellungen wesentlich narrativ?..................135 3.4 Resümee..................................................................................... 146 4. Der positivistische Objektivismus.............................................151 4.1 Grundzüge des positivistischen Objektivismus..........................153 4.2 Positivistische Kritik an historischer Standortgebundenheit.......159 4.2.1 Das universalgeschichtliche Postulat.......................................159 4.2.2 Parteilichkeit vs. Perspektivität................................................167 4.2.3 Der Relativismusvorwurf.........................................................174 4.3 Die geschichtstheoretische Kontaminierungsthese ....................185 4.3.1 Der positivistische Narrativismus............................................186 4.3.2 Resümee zum positivistischen Narrativismus .........................203 5. Die Vereinbarkeit von Objektivität und Perspektivität .........205 5.1 Einleitung................................................................................... 205 5.2 Perspektivismus und Konstruktionismus....................................209 5.3 Ein Einwand gegen den Konstruktionismus ..............................213 5.3.1 Der begriffliche Gehalt von „Konstruktion“............................214 5.3.2 Faktische Grenzen konstruktionistischer Willkür ...................215 5.3.3 Überleitung ............................................................................. 225 5.4 Grundzüge eines historischen Konstruktionismus......................226 5.4.1 Korrespondenz und Standortgebundenheit..............................227 5.4.2 Die Elemente des Standortes und ihr Einfluss auf historische Erkenntnis ........................................................................................... 239 5.4.2.1 Die Konstruktion historischer Individuen.............................241 5.4.2.2 Die Narrationsbildung..........................................................251 5.4.2.3 Theoretische Vorannahmen, Metaerzählungen und Erkenntnisinteresse............................................................................................ 255 5.4.2.4 Die Metareflexion.................................................................258 5.5 Resümee und Ausblick...............................................................262
6. Zusammenfassung – Schlussbemerkung .................................265 Literaturnachweis........................................................................... 269
Vorwort
Die vorliegende Arbeit hätte nicht geschrieben werden können, wenn mir nicht mancherlei Unterstützung, Hilfe und Bestätigung, aber auch mancherlei Kritik zuteil geworden wäre. Daher möchte ich die Gelegenheit nutzen, die ein Vorwort bietet, denjenigen zu danken, die ein Vorwort erst ermöglicht haben, indem sie die Vollendung eines derart langwierigen, komplexen und manchmal auch entmutigenden Projekts, wie es eine philosophische Dissertation ist, ermöglicht haben. Zunächst sei dem Land Baden-Württemberg für die Gewährung eines Graduiertenstipendiums und der Universität Konstanz für die Gewährung einer Abschlussfinanzierung gedankt. Die Teilnehmer des Forschungskolloquiums des Lehrstuhls für Praktische Philosophie der Universität Konstanz (Prof. Gottfried Seebaß) haben ihren Teil zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen, indem sie mir in der frühen Phase der Projektbearbeitung manche Anregung und Berichtigung haben zuteil werden lassen. Mancher Irrweg konnte so vermieden und einiges an Zeit an der rechten Stelle verwendet werden. Frau Dr. Anna Kusser und Herrn Tino Warthmann möchte ich dafür danken, mir während dieser Zeit immer wieder ihr Ohr geliehen und mir mit gutem Rat beigestanden zu haben. Herrn Prof. Rolf Zimmermann und Herrn Prof. Gottfried Seebaß möchte ich dafür danken, mich bei meinen anfänglichen Bemühungen hilfreich und nachdrücklich unterstützt zu haben. Ohne diese Unterstützung gerade zu Beginn des Projekts hätte es wohl letztlich nicht auf seinen Weg gebracht werden können. Darüber hinaus verdanke ich Herrn Prof. Seebaß die Gelegenheit, mich an seinem Lehrstuhl an einem Thema zur Wissenschaftstheorie der Geschichtswissenschaft versuchen zu können – er hat mich zu diesem Versuch ermuntert und diese Arbeit anschließend als Doktorvater über Jahre
hinweg begleitet und betreut und mich dabei in all dieser Zeit in vielerlei Hinsicht großzügig unterstützt. Dafür möchte ich ihm ganz besonders danken. Des weiteren möchte ich meiner Mutter und den Eltern meiner Frau für ihre beständige Hilfe ebenfalls meinen besonderen Dank sagen. Durch diesen Rückhalt ist mir vieles ermöglicht worden, was ansonsten nicht möglich gewesen wäre. Die Arbeit wäre gewiss nicht ohne diese Hilfe zustande gekommen. Meiner Frau Bianka und meiner Tochter Louisa habe ich diese Arbeit gewidmet, auch wenn ich nicht glaube, damit die Dankesschuld abtragen zu können, die ich in diesen Jahren aufgehäuft habe. Ihnen gebührt für die gemeinsame, wunderbare Zeit der größte Dank überhaupt! Abschließend möchte ich noch dem Verlagsleiter des Ontos-Verlages Herrn Dr. Hüntelmann und den Herausgebern der Reihe „Epistemic Studies“ des Ontos-Verlags dafür danken, dass sie meine Arbeit zur Publikation angenommen haben. Das folgende Werk stellt die überarbeitete Version meiner Dissertation dar, die ich im Sommersemester 2009 an der Universität Konstanz eingereicht habe und die von Prof. Dr. Gottfried Seebaß (1. Referent) und Prof. Dr. Rolf Zimmermann (2. Referent) begutachtet worden ist. Die mündliche Doktorprüfung fand am 6. Oktober 2009 statt.
0. Einleitung
Geschichtsschreibung erhebt spätestens seit dem 19. Jahrhundert einen Anspruch darauf, zum Kreis der Wissenschaften gezählt zu werden. Mit Droysen und Dilthey, Windelband und Weber, Ranke und Rickert erlebte das „lange 19. Jahrhundert“ eine Reihe von Wissenschaftlern, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit dem Status der Geschichte als Wissenschaft auseinandersetzten. Ebenso hat das 19. Jahrhundert die Kontroversen um die Möglichkeiten und Limitierungen und auch die vollständige Ablehnung der Idee von Historiographie als (reiner) Wissenschaft, wie sie besonders vehement von Nietzsche vorgetragen worden ist,1 hervorgebracht. Seit dieser Zeit ist, wie L. Daston begriffsgeschichtlich nachgewiesen hat, die Rede von Objektivität von Erkenntnis und Wissenschaft etabliert.2 Im Begriff der Objektivität ist der Wissenschaftsanspruch der Geschichtswissenschaft fundiert, daher stand er von Anbeginn der Kontroversen um den Wissenschaftscharakter der Geschichte im Zentrum der Debatten – woran sich bis heute nichts geändert hat. Prima facie mag es verwunderlich erscheinen, dass sich um den Objektivitätsanspruch der Geschichte eine Kontroverse entspinnen konnte, denn der Geschichtswissenschaft wird die Fähigkeit zugeschrieben, ein individuelles wie kollektives Orientierungsbedürfnis zu befriedigen, das – so hat es den Anschein – ausschließlich dann befriedigt werden kann, wenn sie ob1 2
In der zweiten der „Unzeitgemäßen Betrachtungen“, 279 ff. – die „Ewig-Objectiven“ als ein „Geschlecht von Eunuchen“ (ebd., 284). Daston 1994 und neuerdings Daston/Railton 2007, 28 f. „Objektivität als Sache und Objektivität als Wort waren im neunzehnten Jahrhundert gleichermaßen neu.“ (Ebd., 36) Es sei Kants Verwendung der bereits im 14. Jahrhundert geläufigen Termini „objektiv“/„subjektiv“ gewesen, welche die neuen – den ursprünglichen Bedeutungen diametral entgegengesetzten – Begriffsverwendungen inauguriert habe (ebd., 217-228).
8 jektive Erkenntnisse liefert. Dieses Bedürfnis tritt in Form einer Vielzahl von funktionalen Anforderungen an die Geschichtswissenschaft auf. So wird ihr etwa die Funktion der Politikberatung oder die Rolle eines ‚Katalysators‘ sozio-kultureller Entwicklungen zugedacht. Daneben soll sie für kollektive wie individuelle Identitätsstiftung und -erhaltung verantwortlich sein, was W. Mommsen gar als die „specific task“ des Historikers bezeichnet und so beschreibt, dass der Historiker die soziale und auch individuelle Identitätsstiftung mitzugestalten habe, indem er die Vorstellungen über die Vergangenheit anhand der Standards der Wahrhaftigkeit und Angemessenheit einer kritischen Analyse unterziehe.3 All diese immer wieder genannten Funktionen – und es sind nicht die einzigen, die sich für die Geschichte finden lassen –, die das „produktive Potential“4 der Geschichte ausmachen, lassen sich anscheinend nur dann erfüllen, wenn historische Erkenntnis objektiv, angemessen, verlässlich oder wahr ist. Trotz dieses Common-sense-Verständnisses davon, was die Funktionen der (wissenschaftlichen) Geschichtsschreibung sind und in welchem Zusammenhang sie mit Objektivität stehen, steht der Objektivitätsanspruch der Geschichtswissenschaft in der Kritik. Mit dem Einzug der sog. „Postmoderne“ oder, wie von einigen Autoren vorgeschlagen, mit dem des „linguistic turn“ sind Objektivität und Wahrheit als wissenschaftstheoretischepistemologische Grundkategorien der Geschichtstheorie erneut heftiger Kritik ausgesetzt. Angesichts dieser Angriffe auf das Konzept der Objektivität, die den Wissenschaftscharakter der Geschichtswissenschaft in seinem Kern zu treffen scheinen, ist es von neuerlichem Interesse, sich das Ziel zu setzen, zu einer ausgewogenen Einschätzung der Möglichkeiten und Limitierungen von historischer Objektivität zu gelangen. Diesen Zweck verfolgt die vorliegende Untersuchung, und sie wird zu dem Schluss kommen, dass historische Objektivität ausschließlich dann möglich ist, wenn mit der bekannten Doktrin von der notwendigen Standortgebundenheit historischer Erkenntnis ernst gemacht wird. Andernfalls droht ein unablässiges Schwanken von einem geschichtstheoretischen Extrem in das andere. 3 4
Mommsen 2000, 45. Kablitz 2006.
9 Einen ersten Anhaltspunkt für die Bestätigung dieser These erhält man, sieht man sich die besonders enge Beziehung zwischen wissenschaftstheoretisch-epistemologischer Reflexion und empirischer Forschung in der Geschichtswissenschaft an. Denn was ist der Grund dafür, dass die Objektivität der Geschichtswissenschaft ungleich größere Aufmerksamkeit nicht nur von wissenschaftstheoretisch-philosophischer Seite, sondern auch von den Historikern selbst erhält, als etwa Naturwissenschaftler grundlegenden wissenschaftstheoretischen Fragen ihrer Fachgebiete schenken? Diese Frage drängt sich auf, weil das Verhältnis zwischen Wissenschaftstheorie und Naturwissenschaften ein signifikant anderes zu sein scheint als das zwischen Wissenschaftstheorie und Geschichtswissenschaft. Im ersten Fall scheint eine gewisse Gleichgültigkeit der einzelnen Forscher gegenüber wissenschaftstheoretisch-epistemologischen Erörterungen vollkommen selbstverständlich und unbedenklich zu sein. Im Fall der Geschichtswissenschaft liegen die Dinge dagegen anders. Hier ist ein reges Interesse nicht aller, aber doch vieler, wenn nicht gar der meisten Fachwissenschaftler epistemologisch-wissenschaftstheoretischen Fragen gegenüber zu konstatieren. Das wissenschaftstheoretische Interesse geht so weit, dass wissenschaftstheoretische Diskussionen nicht Philosophen und Theoretikern überlassen und einseitig rezipiert, sondern in einem beständigen Dialog von beiden Seiten kontinuierlich vorangetrieben und revitalisiert werden. Einer der Gründe, wenn nicht gar der erstrangige Grund für das Interesse der Historiker an wissenschaftstheoretischen Fragen scheint zu sein, dass in der Geschichtswissenschaft ein fachdisziplinäres Selbstbild dominiert, das die Geschichtswissenschaft in eine enge Beziehung zur sozialen Lebenswelt und zu den Gegenwartsfragen der jeweiligen Gesellschaft stellt. Doch dieses enge Verhältnis, das fast schon stereotypisch auf die besagte Befriedigung eines Orientierungsbedürfnisses reduziert wird, geht über die rein instrumentelle, anwendungsorientierte Präsentation wissenschaftlicher Ergebnisse und Erfindungen hinaus, die das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Naturwissenschaft in erster Linie zu charakterisieren scheint. Es handelt sich um eine Selbstauffassung, die nicht einfach die Wissenschaft in der Rolle sieht, die Früchte einer mutatis mutandis autonomen Forschung zu präsentieren und ansonsten auf ihrer epistemologischen Autono-
10 mie gegenüber sozio-kulturellen Einflüssen zu beharren. Vielmehr handelt es sich um eine Selbstauffassung, die davon ausgeht, dass die Geschichtswissenschaft gerade in diesem epistemologischen Sinn nicht autonom ist. Gegenwartsinteressen und -fragen besitzen eine wissenschaftstheoretischepistemologische Relevanz für die Wissenschaft selbst,5 was die selbstkritische Neigung der Fachhistoriker, ihre Vorgehensweisen und Voraussetzungen permanent einer kritischen wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Prüfung zu unterziehen, zu initiieren und zu befördern scheint. Die einzigartig enge Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und gesellschaftlicher Lebenswelt, die sich nach Jörn Rüsen für das „historische Bewusstsein“6 schlechthin konstatieren lässt, bringt es mit sich, dass weder die Vereinnahmung historischer Objektivität aus Richtung eines positivistischen Objektivismus – die darauf gründet, ein unhaltbar rigoroses Wissenschaftsverständnis zu unterstellen – noch eine Verabschiedung der Objektivitätsfrage aus der postmodern-narrativistischen Richtung – die vornehmlich an einer entfunktionalisierenden Ästhetisierung interessiert zu sein scheint – akzeptabel ist. Beide Richtungen machen sich einer unzulässigen Komplexitätsreduktion schuldig, die jeweils nur eine der beiden Wirkrichtungen der konstatierten Wechselwirkung von Lebenswelt und Wissenschaft in Anschlag bringt. Der positivistische Objektivismus sieht nur die reine, autonome Wissenschaft, deren objektive Ergebnisse dem sozialen Umfeld zur Verfügung gestellt werden, ohne dass dieser Lebenswelt eine epistemologisch-wissenschaftstheoretisch beschreibbare Rückwirkung ein5
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Das ist auch der Grund dafür, dass historische ‚Paradigmata‘ nicht ausschließlich aus wissenschaftlichen, sondern durchaus auch aus politischen und sozio-kulturellen Gründen ihre Anhänger verlieren können. So werden, um ein Beispiel zu nennen, von Appleby et al. nicht nur wissenschaftliche Gründe für den Niedergang der Modernisierungstheorie in den USA namhaft gemacht: „In the United States modernization theory came under attack for a variety of reasons. Some historians found it inherently ahistorical because it was based on sociological theorizing. Others criticized it as ethnocentric because it used development in the West as standard for judging non-Western societies and cultures. In addition, modernization theory came under fire because it was prominent in strategic studies undertaken during the Vietnam War. As a concept it was tarred by the brush of American efforts to intervene in Third World politics.“ (Dies. 1994, 87) Rüsen 1983.
11 geräumt wird, während der postmoderne Narrativismus Geschichte als Geschichtenerzählen zu beliebigen Zwecken, mit beliebigen Methoden und von beliebiger Funktionalität für beliebige Gruppierungen ansieht.7 Aus diesem Grund ist die oben betonte Ausgewogenheit der Untersuchung zwischen vereinfachendem Positivismus und ästhetisierendem Postmodernismus eminent wichtig. Mithin geht es in der vorliegenden Arbeit nicht um eine einseitige Zurückweisung postmodern-narrativistischer Kritik an historischer Objektivität. Es soll vielmehr versucht werden, aus den Thesen, den Argumentationen und den Schlussfolgerungen postmodernnarrativistischer Theorien Anregungen und Bereicherungen für ein Objektivitätsmodell zu gewinnen, das einen, mit Chris Lorenz gesprochen, „third way“8 zwischen Postmodernismus auf der einen Seite und starrem positivistischem Objektivismus auf der anderen beschreitet. Aus der abstrakt skizzierten Zielsetzung ergibt sich die Struktur der vorliegenden Arbeit. Das ERSTE KAPITEL ist der begrifflichen Erarbeitung eines Objektivitätskonzepts gewidmet. In diesem Zusammenhang wird die Standortgebundenheit historischer Erkenntnis eingeführt. Das ZWEITE KAPITEL betrachtet die postmodern-narrativistische Kritik an historiographischer Objektivität überhaupt. Gemäß der skizzierten Zielsetzung der Arbeit wird im zweiten Kapitel ein zweifacher Zweck verfolgt. Zum einen sollen unhaltbare Thesen und Schlussfolgerungen des postmodernen Narrativismus zurückgewiesen werden. Historische Objektivität wird nach dieser Seite hin argumentativ abgesichert. Zum anderen aber sollen von hier Anregungen für die weitere Untersuchung aufgenommen werden. Das DRITTE KAPITEL greift den Hinweis des postmodernen Narrativismus auf, einen Blick auf die Narrativität historischer Darstellungen zu werfen. Hier wird für den wesentlich narrativen Charakter historischer Darstellungen argumentiert werden. Daraus werden sich einige weitere Hinweise für eine Ausarbeitung des gesuchten „third way“ ergeben. 7
8
Vgl. Appleby et al. 1994, 191 f.: „Ironically, the old positivists sound much like the new postmodern relativists. [...] Both absolutists and relativists seem uncomfortable when asked to address simultaneously the historicity and the successes of human inquiry.“ Lorenz 1998a.
12 Doch nicht nur von seiten des postmodernen Narrativismus steht Kritik zu erwarten – handelt es sich doch beim hier vorgeschlagenen Modell auch um den Versuch, von einem starren, positivistischen Objektivismus loszukommen. Daher ist auch eine argumentative Absicherung gegen potentielle Einwände von dieser Seite geboten. Sie wird im VIERTEN KAPITEL geleistet. Im FÜNFTEN KAPITEL wird versucht werden, die losen Fäden der vorangegangenen Kapitel zu einer Textur zusammenzuweben. Es sollen die Grundzüge einer Vereinbarung von Objektivität mit Standortgebundenheit vorgestellt werden. Ausschließlich auf diesem Weg, so die These, kann eine Lösung erwartet werden, welche die Extreme postmoderner wie positivistischer Ansätze vermeidet und die damit den gesuchten „third way“ markiert. Allerdings können nur Grundzüge einer solchen Theorie vorgestellt werden, weil gerade an dieser Stelle die erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen, aber auch die semantischen Komplikationen, die es im Auge zu behalten gilt, zu zahlreich und zu weit verästelt sind, als dass eine vollständig ausgearbeitete Theorie im Rahmen einer Arbeit wie der vorliegenden erarbeitet werden könnte – wenn sie überhaupt in einer einzigen Arbeit entwickelt werden könnte.
1. Objektivität und Standortgebundenheit
Wer sich zu historischer Objektivität äußern möchte, sieht sich einer extrem heterogenen Begriffslandschaft und einer schier unüberschaubaren Fülle an einschlägigen Beiträgen aus mehreren Fachdisziplinen9 gegenüber. Bevor daher die angestrebte ausgewogene Einschätzung zu historischer Objektivität vorgelegt werden kann, muss die Schwierigkeit gemeistert werden, dass nicht ein Objektivitätsbegriff zur Diskussion steht, sondern eine Reihe von alternativen Objektivitätsbegriffen in den verschiedensten Kontexten kursieren, deren Beziehungen und Interdependenzen auf das mannigfaltigste konzeptualisiert worden sind. Eine verwendbare Konzeption von historischer Objektivität herausarbeiten zu können, setzt daher voraus, sich über die diversen Objektivitätsbegriffe einen Überblick zu verschaffen und sie nach Möglichkeit zu ordnen (zumindest soweit es für die vorliegende Untersuchung von Interesse ist). Aufgrund der unübersichtlichen Diskussionslage und der schieren Menge an Beiträgen wird im folgenden nicht versucht, eine vollständige Evaluation aller im Umlauf befindlichen Beiträge zu absolvieren. An Stelle eines solchen tour d‘horizon wird versucht, Gattungen und Kategorien zu entwickeln, mit deren Hilfe die diversen Beiträge erfasst und argumentativ integriert werden können. Zu diesem Zweck wird im ersten Kapitel ein „Komponentenmodell“ historischer Objektivität eingeführt werden, das die begriffliche Explikation des Objektivitätsbegriffs an die Hand geben wird, auf deren Basis die anvisierte ausgewogene Konzeption historischer Objektivität erörtert werden kann. Erst wenn einige begriffliche Klarheit erreicht worden ist, lassen sich die beiden Extreme der postmodernen Objektivitätsverabschiedung und der positivistischen Objektivitätsverengung einordnen, und erst dann lässt sich 9
Ein erster Eindruck über die Bandbreite der an der Objektivitätsdiskussion beteiligten Fachdisziplinen lässt sich gewinnen, betrachtet man die jeweilige fachdisziplinäre Beheimatung der Beiträge in Megill 1994a.
14 der hier zu machende Vorschlag zwischen diesen beiden Extremen hindurchnavigieren. Zuallererst jedoch bedarf die Untersuchung der Begriffslandschaft einer vorgängigen Eingrenzung.
1.1 Eingrenzung des Untersuchungsbereichs „Objektivität“ wird bekanntermaßen in unterschiedlichsten Kontexten verwendet. Die alltäglichen wie die diversen fachspezifischen Redeweisen von „objektiv“/„Objektivität“ verwenden diesen Begriff um „objektive Richter“, die „objektive Urteile“ gefällt haben, zu loben; um einen Sachverhalt als „objektiv bestehend“ zu verteidigen; um Abstrakta wie Werten oder Normen eine „objektive Existenz“ zuzusprechen oder um „objektive Erkenntnis“ vor „subjektiver Meinung“ auszuzeichnen, wobei letztere anhand ihres Verstoßes gegen „objektive Methoden“ als „subjektiv“ ausgewiesen wird. Werte, Methoden, Erkenntnisse, Personen, Urteile, Sachverhalte, Gegenstände, Prozesse, Ereignisse u. a. m. werden als objektiv bezeichnet. Weil nicht alle diese potentiellen Objektivitätsträger Gegenstand einer Untersuchung zu historischer Objektivität zu sein brauchen, liegt es auf der Hand, einige dieser Verwendungsweisen des Objektivitätsbegriffs aus der folgenden Untersuchung herauszuhalten. Zu diesem Zweck soll zunächst eine grobe Klassifikation verschiedener Objektivitätsauffassungen vorgenommen werden. Eine Klassifikation von Objektivitätsauffassungen beginnt am besten über einen Vorstellungskern von „Objektivität“/„objektiv“, dem man sich am ehesten über den Gegenbegriff zu Objektivität, die Subjektivität, nähert. Objektivität ist über die Vorstellung der Unabhängigkeit von subjektiven Einflüssen bestimmt. Was auch immer als objektiv ausgezeichnet werden soll, soll im Gegensatz zu einer (in der Regel unerwünschten) subjektiven Beeinflussung ausgezeichnet werden. Ein objektiver Richter richtet unabhängig von den Einflüssen der Streitparteien; ein objektiver Wert ‚existiert‘
15 unabhängig davon, ob die ihm Unterworfenen ihn teilen oder ihn ablehnen; auch Methoden sind nur dann objektiv, wenn sie anwendbar sind, ohne der subjektiven Willkür einen Beeinflussungsspielraum einzuräumen. Diese erste Annäherung gegeben, kann weiter die Frage gestellt werden, was objektiv ist. Darauf lassen sich zwei Arten von Antworten geben, je nachdem, wie die Frage aufgefasst wird. Zum einen kann diese Frage als Frage danach verstanden werden, welche Gegenstandsklassen objektiv sein können – es handelt sich um die Frage nach der attributiven Verwendung von „objektiv“. Richter bei Gericht, Schiedsrichter bei Sportveranstaltungen und Wissenschaftler können für den allgemeinen Sprachgebrauch objektiv sein, gleichfalls Methoden, Messungen und Prozeduren, Erkenntnisse und Darstellungen von Erkenntnissen wie auch abstrakte10 Gegenstände. Man könnte anhand dieser Auflistung davon sprechen, dass auf Personen, Methoden, Gehalte epistemisch-doxastischer Zustände und (abstrakte) Gegenstände „objektiv“ attributiv verwendet werden kann. Zum anderen kann die Frage als eine definitorische Was-ist-Frage aufgefasst werden. Die Antworten auf diese Frage sind Vorschläge dazu, was mit dem Begriff „Objektivität“ gemeint ist. Meist handelt es um die Angabe einer Eigenschaft, aufgrund derer die attributive Verwendungsweise von „objektiv“ begründet werden kann, wobei diese Eigenschaft dann als definitionale Eigenschaft von Objektivität gelten kann, weil sie spezifiziert, von welcher Art subjektivem Einfluss der Gegenstand frei ist. Von einer objektiven Person wird gesprochen, wenn sie die Eigenschaft der Unparteilichkeit besitzt; eine Methode ist dann objektiv, wenn sie bestimmte prozedurale Eigenschaften besitzt, die eine subjektive Einflussnahme ausschließen; Gehalte epistemisch-doxastischer Zustände werden dann als objektiv bezeichnet, wenn sie abbilden, ,wie die Dinge liegen‘ oder ‚sind‘, unabhängig davon, was ein subjektiver Eindruck vorgaukeln mag; und wenn ein (abstrakter) Gegenstand, zum Beispiel ein Sachverhalt oder ein Wert, objektiv genannt wird, dann wird damit gesagt, dass er die ‚Eigenschaft‘ der 10
Von materiellen Gegenständen zu sagen, sie seien objektiv, wirkt pleonastisch. Von einem Stein, der auf dem Weg liegt, zu sagen, er existiere objektiv, dürfte ziemliches Befremden auslösen, es sei denn, damit soll emphatisch einer idealistischen These bezüglich der materiellen Nicht-Existenz des Steins widersprochen werden.
16 Existenz unabhängig von irgendwelchen Subjekten oder subjektiven Einstellungen besitzt. Man kann in diesen Fällen von vier Objektivitäten sprechen: Objektivität als Unparteilichkeit, prozedurale oder methodologische Objektivität, absolute oder epistemologische Objektivität und ontologische Objektivität.11 Doch damit sind die gängigen Formen der Objektivität noch nicht erschöpft: Die ontologische Objektivität besitzt dann eine besondere, moralische Dimension, wenn einem Wert objektive Existenz zugesprochen wird. In diesem Fall kann davon gesprochen werden, dass moralische Objektivität vorliegt: Wenn ein Wert bzw. eine Norm existiert, gilt sie objektiv. Weiter wird immer wieder die methodologische wie auch die epistemologische Objektivität mit Intersubjektivität in Verbindung gebracht:12 Methoden seien dann objektiv, wenn sie intersubjektiv gültig sind, wie auch Erkenntnisse objektiv seien, wenn sie intersubjektiv überprüfbar sind. Darüber hinaus liegt eine weitere Objektivitätsvorstellung mit der konsensualen Objektivität vor, die wiederum sowohl an den Methoden als auch an den Erkenntnissen ansetzt. Objektiv ist eine Methode dann, wenn sie von einem fachdisziplinären Konsens als solche anerkannt wird. Gleiches gilt für die Objektivität von Erkenntnis: Erkenntnis ist dann objektiv, wenn sie als solche von einem fachdisziplinären Konsens anerkannt wird. Damit treten zu den vier genannten Objektivitäten drei weitere hinzu, woraus sich die folgende Reihe von gängigen Objektivitätskonzeptionen ergibt: Objektivität als Unparteilichkeit, prozedurale (methodologische) Objektivität, absolute (epistemologische) Objektivität, ontologische Objektivität, moralische Objektivität, Objektivität als Intersubjektivität und konsensuale Objektivität. Ausgehend von der thematischen Ausrichtung der vorliegenden Arbeit kann eine erste dieser sieben Objektivitätsvorstellungen aus der folgenden Diskussion ausgeschlossen werden. Moralische Objektivität soll im folgen11
12
Vgl. die Klassifikation nach epistemologischer, moralischer, ontologischer und methodologischer Objektivität in Daston/Railton 2007, 56 und die Megills (1994b) nach prozeduraler, absoluter, dialektischer und disziplinärer Objektivität. Die Terminologien werden hier eklektisch übernommen, wenn auch eine differenziertere Klassifikation eingeführt wird. Agazzi 1988 etwa betrachtet Intersubjektivität als eine der beiden verbreitetsten Objektivitätsauffassungen (ebd., 18).
17 den nicht mehr thematisiert werden, weil die Frage nach der Existenz bzw. absoluten Geltung von Werten und Normen in einer wissenschaftstheoretisch-epistemologischen Arbeit nicht relevant ist, zumindest nicht in dem Sinn, dass sie danach fragen muss, ob Werte bzw. Normen unabhängig von Subjekten existieren oder ob sie nur konventionell gelten. Neben der moralischen Objektivität soll aber auch noch ontologische Objektivität in den folgenden Betrachtungen außen vor bleiben. Die ontologische Fragestellung nach der Existenz der empirischen Realität verengt sich in einer Arbeit zu historischer Objektivität auf die Frage nach der Existenz vergangener Wirklichkeit. Im folgenden soll diese Frage als in einem Common-sense-Sinn beantwortet gelten. So wie das gerade zurückliegende Frühstück und der Kinobesuch am vergangenen Samstag objektiv existierende Ereignisse für jedermann sind, so sollen historische Ereignisse als objektiv existierend angesehen werden. Das bedeutet vor allem, Argumentationen, die einem historischen Idealismus das Wort reden wollen, nicht zu diskutieren. Dieser Common-sense-Realismus ist der kleinste gemeinsame Nenner aller folgenden Positionen (und auch der beinahe der gesamten wissenschafts- oder erkenntnistheoretischen Literatur zum Thema13). Zuletzt soll noch Objektivität als Intersubjektivität aus den folgenden Argumentationen herausgehalten werden. Dafür müssen knapp einige Differenzierungen vorgenommen werden. Zum einen kann sich Intersubjektivität auf zwei Gegenstandsklassen beziehen: (A) intersubjektive Methoden und (B) intersubjektive Erkenntnisse. Zu anderen kann „intersubjektiv“ auf zweierlei Weise verstanden werden: (1) als intersubjektive Überprüfbarkeit, das heißt als intersubjektiver Zugang zu (nach A:) Methoden oder (nach B:) Erkenntnissen zum Zwecke einer epistemologischen Einschätzung und (2) als intersubjektive Geltung von (nach A:) Methoden oder (nach B:) Erkenntnissen. Aus dieser Differenzierung ergeben sich verschiedene Kombinationsmöglichkeiten dahingehend, was unter Objektivität als Intersubjektivität verstanden werden kann. Geht man sie der Reihe nach durch, stellt sich heraus, dass keine eine Bereicherung der folgenden Dis13
Mit der Ausnahme einiger postmoderner Autoren, die hier keine Rolle spielen werden (vgl. Abs. 2.1).
18 kussion mit sich bringt. Die Kombinationen (A1) und (B1) können gleichzeitig behandelt werden, weil die Auffassung, Objektivität sei als intersubjektiver Zugang zu Methoden oder Erkenntnissen zum Zweck ihrer Überprüfung durch die Erkenntnissubjekte zu begreifen, in beiden Fällen trivial ist. Dass sowohl die Methoden des Historikers als auch die Ergebnisse, die er mittels dieser Methoden zutage fördert, in dem Sinn intersubjektiv sein müssen, dass sie möglichst jederzeit allen anderen Erkenntnissubjekten zur Überprüfung zugänglich sein müssen, ergibt sich bereits aus dem rein pragmatischen Grund, dass er, will er seine Ergebnisse von der Fachwelt anerkannt haben, er sie wie auch seine Methoden so formulieren und wählen muss, dass sie seinen Kollegen und den „interessierten Laien“ für eine wissenschaftliche Einschätzung zugänglich sein müssen. Diese ubiquitäre Rolle von Intersubjektivität macht sie zu einem ständigen Begleiter historischer Objektivität und der fachlichen Auseinandersetzung um sie, ihr Beitrag zur wissenschaftlichen Erkenntnis ist aber ähnlich unspezifisch wie etwa der Beitrag der Sprache oder der logischer Gesetze zu wissenschaftlicher Erkenntnis. Methodologische, empirische oder hermeneutische Diskussionen können überhaupt erst geführt werden, wenn gewisse Standards der Intersubjektivität eingehalten werden. Diese Standards sind auf beinahe allen Ebenen der historischen Forschung unabdingbar.14 Jeder Schritt der historiographischen Forschung muss (zumindest prinzipiell) anderen Teilnehmern des historischen Diskurses transparent gemacht werden können – und Transparenz bedeutet intersubjektive Zugänglichkeit und Überprüfbarkeit. Intersubjektivität in diesem Sinn ist eine Vorbedingung, die erfüllt sein muss, bevor überhaupt erst epistemologische Fragen danach erhoben werden können, ob historische Darstellungen bzw. die Methoden, die zu ihnen geführt haben, objektiv sind. Gerade dieser eigentlich wissenschaftlich-epistemologischen Frage nach der Geltung von Erkenntnis resp. von Methoden gehen die Kombinationsmöglichkeiten (A2) und (B2) nach. Objektivität als Intersubjektivität meint 14
Aus diesem Grund greift auch die Verortung der Intersubjektivität bei Douglas 2004, 463 zu kurz. Sie sieht lediglich im Rahmen des Ergebniskonsensus Intersubjektivität vor.
19 dann die intersubjektive Geltung der Methoden oder Erkenntnisse. Was könnte damit gemeint sein, dass bestimmte Erkenntnisse intersubjektiv gelten (B2)? Damit ist entweder gemeint, dass Erkenntnisse gelten, weil ihnen die Erkenntnissubjekte zustimmen oder bestimmte Erkenntnisse gelten, weil sie das korrekt erfassen, was sich in der Vergangenheit zugetragen hat und ihnen deshalb die Erkenntnissubjekte zustimmen. In keinem der beiden Fälle trägt (B2) etwas zur Diskussion bei, das nicht auch in einer der anderen Objektivitätsauffassungen beschlossen liegt. Die Zustimmung der Erkenntnissubjekte zum jeweiligen Forschungsergebnis ist das Spezifikum der konsensualen Objektivität – und wird entsprechend an dieser Stelle diskutiert –, während sich das korrekte Erfassen dessen, was sich in der Vergangenheit zugetragen hat, auf die Korrespondenz von Darstellung mit dem Dargestellten und damit auf das, was als epistemologische bzw. absolute Objektivität bereits eingeführt worden ist, reduziert und entsprechend in diesem Zusammenhang diskutiert werden wird. Bleibt noch die Frage, ob wenigstens von (A2), der intersubjektiven Geltung von Methoden, ein eigenständiger Beitrag zur Diskussion um historische Objektivität zu erwarten ist. Auch in dieser Lesart kann die Frage verneint werden. Sollte die Geltung von Methoden daran hängen, dass eine Gruppe von Historikern von ihrer Richtigkeit überzeugt ist, fällt diese Diskussion wieder in den Bereich der konsensualen Objektivität. Sollte damit aber gemeint sein, dass Methoden dann als intersubjektiv gültig betrachtet werden sollen, wenn sie Mittel dazu waren, wissenschaftlich korrekte Ergebnisse zu erzielen, dann trägt eine Antwort auf die Frage, ob eine Methode intersubjektiv gilt, nichts bei, was nicht schon bei der Antwort auf die Frage nach der Objektivität der Methoden beantwortet werden soll. In diesem Fall rückt die methodologische Objektivität in den Vordergrund. Die folgenden Untersuchungen sind damit zunächst einmal auf eine Diskussion von vier Objektivitätsauffassungen eingegrenzt worden: der konsensualen, der methodologischen (prozeduralen), der epistemologischen (absoluten) Objektivität und der der Objektivität als Unparteilichkeit. Jede dieser Objektivitätsauffassungen spielt in irgendeiner Form in der einschlägigen Literatur eine gewisse Rolle. Die Schwierigkeit im Umgang mit (historischer) Objektivität, trotz die-
20 ser ersten Einschränkung des Untersuchungsbereichs mit einer recht unübersichtlichen Begriffslandschaft zurecht kommen zu müssen, besteht aber weiterhin. Und solange die umlaufenden Objektivitätsauffassungen lediglich klassifikatorisch aufgezählt und in diesem Zuge die Diskussion um nur einige Begriffsauffassungen entlastet worden ist, kann eine fokussierte Behandlung des Themas nicht geleistet werden. Um aber zur angekündigten ausgewogenen Einschätzung davon kommen zu können, in welchem Sinn und bis zu welchem Grad historische Objektivität möglich ist, muss ein Modell vorgelegt werden, das es ermöglicht, die folgende Diskussion auf einen zentralen Diskussionsstrang zu fokussieren, ohne damit den häufig hervorgerufenen Eindruck zu erwecken, lediglich einen von zahlreichen Aspekten der Objektivitätsdiskussion abzudecken, während andere stillschweigend unter den Tisch fallen.
21
1.2 Drei Argumentationsstrategien Ein weiterer Schritt in Richtung einer systematischen Überschau des Untersuchungsgebietes besteht darin, grundlegende Argumentationsstrategien im Umgang mit der nun eingeschränkten Fülle an Objektivitätsauffassungen zu identifizieren. Prinzipiell können drei Möglichkeiten unterschieden werden, wie mit der diversifizierten Begriffslandschaft umgegangen werden kann. Von diesen drei Argumentationsstrategien lassen sich in den einschlägigen Beiträgen zwei ausmachen, die dritte wird hier vorgeschlagen und erläutert. (1) Die „Realdefinitionsstrategie“: Jede der Objektivitätsvarianten kann jeweils als Realdefinition von Objektivität betrachtet werden. Die Ansprüche der Vertreter der jeweiligen Begriffsvariante schließen sich gegenseitig aus.15 Meist wird dieser Anspruch nicht explizit gemacht, sondern einfach die jeweils eigene Objektivitätsauffassung den jeweiligen Überlegungen zugrundegelegt und ihre Ausschließlichkeit stillschweigend vorausgesetzt. Mit der Realdefinitionsstrategie ist ein Reduktionsanspruch verbunden, der weit über eine grobe, erste begriffliche Explikation hinausgeht (wie sie gerade eben mittels der Vorstellung einer Freiheit von subjektiven Verzerrungen gegeben worden ist). So nützlich eine solche erste Annäherung ist, so zwingend erforderlich ist ihre weitere begriffliche Ausdifferenzierung, um eben nicht bei einer Realdefinition stehen zu bleiben. Warum aber sollte eine weitere Spezifikation und Ausdifferenzierung jedes ‚monistischen‘ Definitionsversuchs erforderlich sein? Aus dem allgemeinen Sprachgebrauch geht hervor, dass „Objektivität“/„objektiv“ auf die unterschiedlichsten Gegenstandsbereiche angewandt wird. Eine monistische begriffliche Explikation oder Definition lässt bedeutende begriffliche Aspekte außen vor, die eine Antwort auf die Frage nach dem begrifflichen Gehalt von „Objektivität“/„objektiv“ an irgendeiner Stelle enthalten sollte. Analog dazu müssen Versuche scheitern, eine der ‚Bereichsobjektivitäten‘, ob nun die ontologische oder die methodologische Objektivität oder auch intersubjektive Geltung, als die Auffassung von Objektivität schlechthin 15
Hier kann Nozick 1998 exemplarisch angeführt werden.
22 auszuzeichnen. In all diesen Fällen ist kaum einzusehen, wie ein Reduktionsanspruch eingelöst werden könnte, der die verschiedenen Verwendungsweisen des Objektivitätsbegriffs auf eine einzige Realdefinition reduzieren könnte.16 Im zum Teil bewusst konfrontativen Gegensatz zur Realdefinitionsstrategie wird daher in der Literatur eine „Koexistenzstrategie“ verfolgt, die der irreduziblen begrifflichen Vielfalt des Objektivitätsbegriffs Rechnung tragen möchte. (2) Die „Koexistenzstrategie“: Jede der begrifflichen Varianten stellt einen Versuch dar, jeweils ein Konzept von „Objektivität“/„objektiv“ zu verdeutlichen, das im Sprachgebrauch Verwendung findet. Die diversen Konzepte sind aber lediglich aus mehr oder minder kontigenten Gründen unter das Rubrum „Objektivität“ subsumiert worden, wobei die Existenzberechtigung der jeweils anderen Konzepte nicht bestritten wird. Folglich sieht dieser Ansatz eine unsystematische Koexistenz verschiedener Konzepte vor.17 Einige von ihnen stehen untereinander in bestimmten Relationen, ohne jedoch aufeinander reduzierbar zu sein.18 Die Koexistenzstrategie vermeidet zwar einen unterkomplexen Umgang mit der Begriffslandschaft, geht aber über das reine Konstatieren einer begrifflichen Vielfalt kaum hinaus. Das bloße Aufzählen und Aneinanderrei16
17 18
Vgl. Douglas 2004, 453. Sie unterscheidet mehrere Modi der Objektivität und plädiert für eine Irreduzibilität der einzelnen Modi. Wie sie zurecht bemerkt, führen monistische Reduktionsversuche einzig dazu, dass wichtige Elemente des Objektivitätsbegriffs unter den Tisch fallen (ebd., 467). Vgl. hierfür Douglas 2004 und Megills Überblick über die Begriffslandschaft (in Megill 1994b) und auch Harding 2003, 164 f. und Patzig 1977. Nach Douglas werden sie allenfalls von einer „begrifflichen Kohärenz“ zusammengehalten (Douglas 2004, 453 und 467). Vgl. auch Daston/Railton 2007: „Die meisten [...] Arbeiten über Objektivität behandeln sie als einen Begriff. [...] immer wird vorausgesetzt, Objektivität sei abstrakt, zeitlos und monolithisch. Aber wenn sie ein reiner Begriff ist, gleicht sie weniger einer Bronzeskulptur aus einem Guß als einem improvisierten, aus schlecht passenden Teilen von Fahrrädern, Weckern und Dampfrohren zusammengelöteten Apparat.“ (Ebd., 55) Tatsächlich werde unter dem Rubrum „Objektivität“ eine Vielzahl nicht zusammenhängender Bedeutungen von Objektivität zusammengestellt. „Diese unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes ‚objektiv‘ hängen weder im Prinzip noch in der Praxis zusammen.“ (Ebd., 56.)
23 hen von jeweils für irreduzibel empfundenen begrifflichen Varianten wird nicht von weiteren Systematisierungsschritten gefolgt. Eine solche weitergehende Systematisierung der Begriffslandschaft ist aber möglich und auch wünschenswert, weil auf diese Weise Zusammenhänge aufgedeckt werden können, die andernfalls keine weitere Beachtung mehr erhalten würden, wodurch auch die Analyse der jeweils betrachteten Objektivitätsauffassung kompromittiert werden würde. Den Weg, den die Koexistenzstrategie weist, indem sie darauf beharrt, die begriffliche Vielfalt der Verwendungsweisen von „Objektivität“/„objektiv“ nicht einzuebnen, möchte das hier zu entwickelnde Modell weitergehen. Die Koexistenzstrategie ist daher nicht etwa abzulehnen, wie dies für die Realdefinitionsstrategie gilt, sondern im Hinblick auf die Bedürfnisse einer Diskussion historischer Objektivität weiterzuentwickeln. Als eine solche Weiterentwicklung wird ein „Komponentenmodell“ vorgeschlagen.
24
1.3 Das Komponentenmodell Das Komponentenmodell als Weiterentwicklung der Koexistenzstrategie geht davon aus, dass jede der Objektivitätsauffassungen, auf welche die Untersuchung eingegrenzt worden ist, versucht, eine Komponente zu einem komplexen Gesamtbegriff beizusteuern. Die Grundidee ist hier, dass die jeweiligen begrifflichen Varianten einen unerlässlichen Beitrag zum begrifflichen Gehalt leisten, den Objektivitätsbegriff aber jeweils nicht ausschließlich ausfüllen können. Soweit handelt es sich aber noch um keine Weiterentwicklung der Koexistenzstrategie. Doch nun treten zwei Züge hinzu: Erstens stehen die diversen begrifflichen Varianten in einem systematischen Zusammenhang, zweitens aber sind diese Elemente historischer Objektivität um einen Begriffskern gelagert, der die verschiedenen Elemente integriert. Der Begriffskern ist korrespondenztheoretisch aufzufassen. Für den Objektivitätsbegriff ist die Vorstellung integrativ, dass sich die Darstellung19 der Vergangenheit danach zu richten hat, was geschehen ist. Darstellungen stehen in einer Korrespondenzbeziehung zum Dargestellten. Es handelt sich genauer gesagt um die Korrespondenz zwischen bestehendem Sachverhalt und einem Satzgehalt (einem propositionalem Gehalt bzw. einer Proposition). Der Satzgehalt dass p korrespondiert mit dem existierenden Sachverhalt p; der Satzgehalt „dass der Stuhl vier Beine hat“ korrespondiert mit dem Sachverhalt, dass der Stuhl vier Beine hat. Korrespondenz wird expliziert als Übereinstimmung von Satzgehalt mit bestehendem Sachverhalt. Die Korrespondenzauffassung des Begriffskerns präzisiert die weiter oben (1.1) vorläufig und vage eingeführte absolute (epistemologische) Objektivität.20 Die Gehalte epistemisch-doxastischer Zustände (Überzeugun19
20
„Darstellung“ wird in dieser Arbeit als Gattungsbegriff für alle Arten der Präsentation historischer Erkenntnis wie etwa Interpretation, Narration, Deskription, Erklärung usf. benutzt. Megill bezeichnet die korrespondenztheoretische Objektivitätsvariante als „absolute objectivity“, ohne ihr einen besonderen Status vor den anderen von ihm vor-
25 gen, Wissen, Vermutungen u. a.) sind propositionale Gehalte, die sprachlich erfassen, ‚wie die Dinge liegen‘ oder ‚wie sie (an sich) sind‘, sprich, einen (existierenden) Sachverhalt sprachlich erfassen. Die absolute Objektivität definiert sich über die auf diese Weise explizierte Korrespondenz zwischen Satzgehalt und Sachverhalt. Absolute Objektivität liegt dann vor, wenn der sprachlich erfasste Sachverhalt besteht und gleichzeitig der ihn ausdrückende Satzgehalt mit diesem bestehenden Sachverhalt übereinstimmt. In dieser Bestimmung von Korrespondenz stecken einige Voraussetzungen: (1) Die Übereinstimmung besteht nicht zwischen dem Geist im allgemeinen oder einem Begriff im besonderen und einem Gegenstand in der Welt, sondern zwischen der Konfiguration bestimmter Eigenschaften (intrinsischen oder relationalen) von Gegenständen, kurz: einem Sachverhalt, und einem (zugegebenermaßen ontologisch schwer fassbaren)21 sprachabhängigen Gebilde namens „Proposition“ (oder „Satzgehalt“ bzw. „propositionaler Gehalt“). (2) Zwar wird insbesondere mit dem Ausdruck „Satzgehalt“ Satzförmigkeit nahegelegt, worum es aber hierbei nicht geht, ist die Übereinstimmung eines Satz-tokens oder eines Satz-types mit den Sachverhalten der Vergangenheit. Sowohl Satz-tokens, i. S. v. geäußerter Satz-type, als auch Satz-types, i. S. v. instantiierbare Satzform, sind nur insofern potentielle Korrespondenz-Träger, als sie Propositionen ausdrücken.22 Unser Sprachgebrauch weist darauf hin. Wir sprechen ständig davon, dass wir mit unterschiedlichen Sätzen dasselbe aussagen oder denselben Gedanken ausdrücken oder dasselbe meinen, was bedeutet, dass wir intuitiv von einem
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22
gestellten Objektivitätsvarianten zuzuerkennen (ders. 1994b, 1 und 2-5). Auch Patzig 1977 hat eine Tendenz, eine korrespondenztheoretische Objektivitätsauffassung als die zentrale anzunehmen, ohne dies jedoch explizit zu machen. Ebenso scheint Acham 1977 implizit der korrespondenztheoretischen Objektivität („repräsentative Gegenstandserfassung“) einen Vorrang einzuräumen. Horwich 1994b, xii: „[..] an accurate account of truth – one faithful to our actual conception of it – would seem not to permit a sceptical attitude towards propositions, but rather to call for a greater effort to understand them.“ Vgl. Horwich 1994b und Kirkham 1992 für ein Plädoyer für eine liberale Einstellung gegenüber potentiellen Korrespondenzrelata bzw. Wahrheitsträgern.
26 ausdrucksunabhängigen, wenngleich nur sprachlich zugänglichen Gehalt, eben einem propositionalen Gehalt, ausgehen, der dann auf seine Übereinstimmung mit den von ihm zum Ausdruck gebrachten Tatsachen ausdrucksunabhängig beurteilt werden kann.23 Hinter den jeweils ausdrückenden Satz-tokens und den von ihnen instantiierten Satz-types stehen andere Entitäten, eben Propositionen, die von ihnen ausgedrückt werden.24 Trotz der Vorrangigkeit von Propositionen soll im folgenden auch von der Korrespondenz von Aussagen gesprochen werden. Wenn Propositionen auch die primären Kandidaten für die Rolle des Korrespondenz-Relatums sind, so finden sie doch im wissenschaftlichen Kontext ihren Ausdruck in Aussagen. (3) Von Korrespondenz kann nur dann gesprochen werden, wenn der ausgedrückte Sachverhalt auch besteht. Eine Proposition bzw. die sie ausdrückende Aussage korrespondiert nur dann, wenn das, was sie ausdrückt, auch existiert, also eine Tatsache ist. Besteht der Sachverhalt, der behauptet wird, nicht, kann keine Korrespondenz bestehen. Falschheit besteht demnach darin, dass die Korrespondenz scheitert, weil der behauptete Sachverhalt in der Form, in der er behauptet wird, so nicht besteht.25 Was aber kann genauer unter Korrespondenz verstanden werden? Dass es sich dabei um eine Übereinstimmungsrelation zwischen den beiden Relata „bestehender Sachverhalt“ und „Satzgehalt“ handelt, ist zunächst einmal nicht besonders informativ. Die Antwort kann jedenfalls nicht in einer Strukturübertragung von einer Konstellation von Gegenständen und ihren 23
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25
Allein die Möglichkeit, denselben Sachverhalt in verschiedenen Sprachen mit z. T. gravierend differierender Ausdrucksstruktur ausdrücken zu können, dürfte als ausreichender Beleg gelten. Wir besitzen außerdem ein starkes Indiz für die Existenz von Propositionen (oder etwas ihnen vergleichbares) durch die Analyse von sog. „propositionalen Einstellungen“ in einen intentionalen ‚Modus‘, sc. den des Meinen, Bezweifelns, Glaubens etc., und einen propositionalen Gehalt, also einen satzförmigen ‚Gegenstand‘, der gemeint, bezweifelt oder geglaubt werden kann. Der propositionale Gegenstand kann unabhängig vom jeweiligen Ausdruck von Modus zu Modus und von Person zu Person ‚weitergegeben‘ werden. Vgl. Austin 1994, 179, Anm. 23: „To be false is (not, of course, to correspond to an non-fact) to miscorrespond with a fact.“
27 Eigenschaften auf die Proposition oder eine Aussage (wie dies Wittgenstein im Tractatus zu entwickeln suchte)26 bestehen. Ein solcher Isomorphismus scheitert aus einer ganzen Reihe von guten Gründen.27 Die Antwort muss darin gesucht werden, dass wir, wenn wir eine Proposition mitgeteilt bekommen (sei es in Form einer Aussage oder eines propositionalen Gehalts einer propositionalen Einstellung28), wir intuitiv wissen, wie die Welt beschaffen sein muss bzw. müsste, damit die Proposition mit dem Sachverhalt übereinstimmt. Das kann auch bedeuten, den Sachverhalt erst noch in die Welt zu bringen (etwa wenn der propositionale Gehalt Teil eines Imperativs oder eines Wunsches ist). Nichtsdestotrotz müssen wir auch in diesem Fall wissen, wie die Welt beschaffen sein muss, damit eine Übereinstimmung zwischen Proposition und Sachverhalt bestehen kann. Voraussetzung für diese intuitive Fähigkeit ist Sprachkenntnis, das heißt Kenntnis von der Bedeutung und Verwendung der Begriffe einer Sprache. Besitzen wir diese Kompetenz – und Teil unserer Sozialisation besteht im Erwerb dieser Sprachkompetenz – und haben wir das nötige empirische Wissen, dann sind wir dazu in der Lage, intuitiv zu entscheiden, ob eine Korrespondenz zwischen einem Satzgehalt und einem von ihm ausgedrückten Sachverhalt besteht oder nicht. An dieser Stelle ist eine Ausweitung des Anwendungsbereichs von Objektivität im Korrespondenzsinn notwendig. Die philosophische Diskussion von „Korrespondenz“ findet auf der Ebene von einzelnen Aussagen oder Propositionen statt. Zum Zweck der explizierenden Einführung der Begriffe ist dies ausreichend. Demgegenüber beschäftigt sich aber die Geschichtswissenschaft in der Regel nicht so sehr mit der Objektivität einzel26 27
28
TLP 2.1 ff. Vgl. dazu Newman 2002 und Kirkham 1992, chap. 4. Um nur stichwortartig einige Schwierigkeiten zu nennen: Wie sieht es mit negativen Tatsachen aus? Welche Strukturen werden in komplexen Aussagen übertragen? Wie sieht die Strukturübertragung bei Implikationen aus? Der propositionale Gehalt, dass die Tür geschlossen ist, kann in den verschiedensten Kontexten auftauchen: in propositionalen Einstellungen wie der Überzeugung, dass die Tür geschlossen ist; in Sprechakten wie Imperativen: „Schließe die Tür!“; in optativischen Einstellungen wie dem Wunsch, dass die Tür geschlossen sein möge etc.
28 ner isolierter Aussagen, sondern mit der größerer Aussagenkomplexe, weil sie, wofür später noch argumentiert werden wird, wesentlich narrativen Charakters ist – in den Worten A. Dantos: „History tells stories“29. Für die Geschichtswissenschaft ist aus diesem Grund eine Ausweitung unerlässlich. Die Objektivität, und das heißt nach dem hier eingeführten Modell: die Korrespondenz dieser Darstellungen und ihrer Teile kann aber nicht ohne weiteres von der Ebene einzelner Aussagen auf die Ebene größerer Aussagenkomplexe übertragen werden. Dass diese Übertragung aber stattfinden muss, zeigt allein schon die unproblematische, alltägliche Verwendung von Ausdrücken wie „zutreffen“, „korrekt sein“ oder „objektiv sein“, die ständig auf Darstellungen aller Art, wie Protokolle, Aufsätze, Erzählungen, Anekdoten, Berichte o. ä., aber auch und vor allem auf historische Darstellungen angewandt werden. Ein Mittel, um die Übertragung von der Ebene einzelner Propositionen oder Aussagen auf die Ebene zusammenhängender Aussagenkomplexe zu leisten, sind die wahrheitsfunktionalen Operatoren der Aussagenlogik, und das bedeutet hier in erster Linie, die Konjunktion. Mit ihr könnten die Wahrheitswerte der einzelnen objektiven Aussagen erhalten und zu einem Wahrheitswert der gesamten historischen Darstellung ‚aufaddiert‘ werden. Dass aber historische Darstellungen keine Konjunktionen von Aussagen sind, die in dem Augenblick falsch werden, in dem auch nur eine einzige falsche Aussage darin enthalten ist, muss wohl kaum auseinandergesetzt werden. Jeder, der einen solchen Vorschlag macht, befindet sich sofort in einer unhaltbaren Position, nicht nur weil eine einzige falsche Aussage die gesamte Darstellung falsch werden ließe, sondern auch weil jede historische Darstellung Aussagen enthalten wird, die keinen festgelegte Wahrheitswert besitzen (etwa wenn begriffliche Mehrdeutigkeiten vorliegen) oder weil für die Geschichtswissenschaft essentielle Zusammenhänge aussagenlogisch nicht erfassbar sind (insbesondere an die kausale Begründung durch Weil-Sätze ist dabei zu denken). Daher wird in der Literatur zwischen der Wahrheit einzelner Aussagen und der Angemessenheit (i. e. Objektivität) historischer Darstellungen un29
Danto 1980, 184.
29 terschieden.30 Diese Unterscheidung ist nicht besonders glücklich, weil gerade der alltägliche Sprachgebrauch auch größeren Aussagekomplexen dann Wahrheit (neben den anderen angeführten Qualifikationen) zuschreibt, wenn die Darstellung grosso modo den dargestellten Sachverhalten korrespondiert, ohne damit aber zu meinen, dass jede Aussage wahr und die gesamte Darstellung eine Konjunktion von wahren Aussagen ist. Sinnvoller ist es, diesen Sprachgebrauch nicht künstlich einzuengen, sondern darauf zu verweisen, dass wir als Leser historischer Darstellungen dazu in der Lage sind, bestimmte Darstellungen oder Teile davon als korrespondierend oder nicht-korrespondierend zu bezeichnen, ohne dass wir dabei eine gewaltige Konjunktion vor Augen hätten, mit deren Hilfe wir aus den Wahrheitswerten der Einzelaussagen den Wahrheitswert der Darstellung ‚errechneten‘. Vielmehr ist es, wie gesagt, möglich, intuitiv einzuschätzen, ob die Darstellung korrespondiert oder nicht. Wir müssen über das entsprechende sachlich-empirische, in erster Linie aber sprachlich-begriffliche Wissen verfügen, um dies tun zu können. Dass das Komponentenmodell historischer Objektivität in dem Augenblick, in dem es die Korrespondenz in den Kern des Modells rückt, in dieselbe Notlage wie die Korrespondenztheorie der Wahrheit kommt, erklären zu müssen, was Korrespondenz ist, ist unvermeidlich. Aber ebenso wenig wie die Korrespondenztheorie der Wahrheit als intuitiv plausibelste und auch insofern aussagekräftige Wahrheitsexplikation, als kompetente Sprecher wissen, was damit gemeint ist, wenn sie es auch nicht mit theoretischer Sicherheit festhalten können, bislang von konkurrierenden Wahrheitsdefinitionen zufriedenstellend abgelöst werden konnte,31 muss hier auf die Korrespondenz als Begriffskern verzichtet werden, nur weil es notorisch schwierig ist, eine theoretisch adäquate, exakte Definition von Korrespondenz zu geben. Unser intuitives Verständnis davon, wann Korrespondenz vorliegt und wann nicht, muss genügen, weil aus dem Vorhandensein der Fähigkeit zum Verständnis und zur Anwendung dieses theoretisch un30 31
Vgl. z. B. Ankersmit 1983, Gorman 1998, Lorenz 1998b. Vgl. dazu Wrights Argumentation, dass jede zufriedenstellende Explikation des Wahrheitsbegriffs notwendig eine Form der Korrespondenz beinhalten sollte (ders. 2001 und 2003); vgl. auch Horwich 1994b, xii f. und Kirkham 1992, chap. 4.
30 klaren Konzepts immerhin geschlossen werden kann, dass es sich nicht um einen leeren oder unbrauchbaren Begriff handelt. Dass es sich bei der korrespondenztheoretischen Explikation des Begriffskerns von Objektivität um die klassische korrespondenztheoretische Explikation des Wahrheitsbegriffs handelt32, macht einige Bemerkungen zur Abgrenzung von Wahrheit und Objektivität notwendig.33 Inwiefern unterscheidet sich der korrespondenztheoretisch explizierte Begriffskern (i. e. absolute Objektivität) und damit das Komponentenmodell vom korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff? Ist mit Objektivität nicht im Grunde die Wahrheit der Darstellung gemeint? Im Anspruch, objektive Erkenntnisse vorgelegt zu haben, steckt implizit der Anspruch, bestimmte (methodische) Standards auf dem Weg der Erkenntnisgewinnung eingehalten zu haben und nicht etwa geraten oder sich auf die Stimme einer Autorität verlassen zu haben. Wer also von objektiver historischer Erkenntnis bzw. objektiven historischen Darstellungen spricht, der meint damit nicht nur, dass die Darstellung mit der Vergangenheit korrespondiert, sondern auch, dass diese Darstellung auf bestimmte Weise erarbeitet worden ist. Der Historiker hat sich als unvoreingenommener Historiker gezeigt, bestimmte Methoden verwandt und beides ist ihm zusammen 32
33
Vgl. dazu Tugendhat 1979, Tugendhat/Wolf 1983, Newman 2002, Seebaß 2011, 23-33 („der rigide Wahrheitsbegriff“) sowie die klassische Passage in Aristoteles Metaphysik IV,7 (1011b, 26 ff.): „Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht oder das Nicht-Seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nicht-Seiende sei nicht, ist wahr.“ Vgl. auch die ‚modernen Klassiker‘ Russell 1994 und Austin 1994. Vgl. etwa Gormans Untersuchung über das Verhältnis von Wahrheit und Objektivität, die damit beginnt, dass die eigentliche Bedeutung von Objektivität die Objektivität von Aussagen ist, die sich nicht davon unterscheide, was man eigentlich als Wahrheit bezeichne. „This concept of ‚objective‘ is [..] to be used fundamentally as a predicate of statements; as such, ‚objective‘ means little more than ‚true‘.“ (1998, 320) Gorman hält dies für falsch. Es lässt sich beobachten, dass in einer Reihe von Veröffentlichungen Wahrheit und Objektivität immer wieder vermischt werden. Als Beispiele mögen hinreichen: Appleby et al. 1994, Novick 1988, McCullagh 1998 und 2004a, Pompa 1991, 114 f. Vgl. Agazzi 1988, der glaubt, Objektivität hätte Wahrheit als zentrale Kategorie der Wissenschaftlichkeit ersetzt: „[L]’objectivité a remplacé l’idée de vérité.“ (17 f.)
31 mit der Güte seiner Ergebnisse vom fachdisziplinären Konsens im Großen und Ganzen bestätigt worden. Es schlägt sich im Objektivitätsbegriff also die Art der Erkenntnisgewinnung nieder. Um für objektiv gelten zu können, ist es für eine Darstellung nicht ausreichend, mit den dargestellten Tatsachen übereinzustimmen, ebenso wichtig ist, wie sie erlangt worden ist. Die Wahrheit einer Aussage und einer Darstellung dagegen ist von der Art der Erkenntnisgewinnung unabhängig. Wahre Aussagen können durch welches Manöver auch immer erreicht werden. Man kann raten, hellsehen, wissenschaftlich vorgehen oder durch Zufall über eine Erkenntnis stolpern. Objektivität dagegen impliziert, dass bestimmte Erkenntnisse auf eine bestimmte Art und Weise gewonnen worden sind. Im Objektivitätsbegriff konvergiert der Aspekt der Erkenntnisgewinnung mit dem Aspekt der Korrespondenz der Darstellung. Ein immer wieder vorgeschlagenes weiteres Charakteristikum der Objektivität, das sie vom Wahrheitsbegriff unterscheiden soll, ist ihre Graduierbarkeit.34 Zentral scheint hier zu sein, dass eine Darstellung objektiver als eine andere sein kann – auch wenn beide „den Tatsachen entsprechen“ –, sobald sie mehrere Perspektiven ‚integriert‘.35 Eine eingehende Explikation dessen, was damit gemeint ist, steht im Augenblick noch aus. Vorläufig kann damit die folgende Reihe von Grundgedanken identifiziert werden, die meist ineinander übergehen. Die meisten historischen Darstellungen integrieren bereits durchgeführte 34 35
Vgl. Bevir 1994, S. 337, Douglas 2004, Haskell 2004, ders. 1998, Nagel 1986. Die historische Perspektivenintegration darf nicht mit Nagels Vorstellung eines Kontinuums immer objektiverer Beschreibungen der Welt verwechselt werden. Nagel geht es um die Frage, inwieweit eine individuell-subjektive Perspektive immer weiter bis hin zu einem enthumanisierten View from nowhere transzendiert werden kann (1991, 116 f.). Für die Geschichtstheorie ist jedoch weder die rein subjektive Perspektive, wie sie etwa durch die phänomenale Wahrnehmung des jeweiligen Erkenntnissubjekts exemplifiziert wird, noch die alle menschlichen Perspektiven transzendierende Perspektive eines ‚idealen‘ Physikalismus sonderlich interessant. An der grundsätzlichen Bedeutung von Nagels Erkenntnis, dass es nicht eine strenge Dichotomie zwischen subjektiv und objektiv gibt, sondern ein Kontinuum objektiverer Perspektiven, ändert sich dadurch nichts, auch wenn diese Erkenntnis an die spezifische Situation der Geschichtstheorie assimiliert werden muss.
32 Untersuchungen und damit die Perspektiven, unter denen diese Untersuchungen durchgeführt worden sind, in die eigene Darstellung. Damit geht meist eine (von dieser ersten Form der Perspektivenintegration zu unterscheidende) Form einher, die als Wechsel der Betrachtungsebene bezeichnet werden könnte. Die Perspektive der Alltagsgeschichte könnte von der Perspektive der Strukturgeschichte integriert werden.36 Die erste theoretische Zugangsweise widmet sich einzelnen, alltäglichen Lebensformen und individuellen Schicksalen, während die zweite grundlegende Strukturen im Verlauf der Geschichte entdecken möchte. Letztere könnte auf einer ‚höheren Ebene‘ die erste integrieren. Eine historische Darstellung kann auch für objektiver als eine andere gehalten werden, wenn es ihr gelingt, umfangreicher zu sein als eine andere Darstellung. „Umfangreich“ kann bedeuten, dass mehr erklärungsbedürftige Phänomene erklärt werden als in anderen Arbeiten. Es kann aber auch bedeuten, dass mehr Sachverhalte in die Darstellung integriert werden als in einer konkurrierenden Darstellung (wobei hier das Problem entsteht, dass Sachverhalte sinnvoll zählbar sein müssen). Oder aber es kann bedeuten, dass weniger nicht-korrespondierende Aussagen in einer Darstellung enthalten sind als in einer anderen. In der Regel werden alle diese Momente, und vielleicht auch einige weitere, gemeinsam eine Darstellung vor einer anderen als objektiver auszeichnen. Wahrheit muss dagegen von einer strengen Dichotomie ausgehen. Entweder ist eine Darstellung wahr oder sie ist es nicht. Doch warum sollte der korrespondenztheoretische Begriffskern ein unerlässlicher Bestandteil eines Komponentenmodells sein? Wer darauf verzichtet, die Korrespondenz historischer Darstellungen in sein Objektivitätsmodell aufzunehmen und sich stattdessen darauf beschränkt, historische Objektivität ausschließlich über andere Objektivitätsauffassungen begrifflich zu explizieren, wird feststellen, dass er damit auf Objektivität als solche verzichtet hat. Denn selbst bei aller Umsicht und wissenschaftlichen Kompetenz kann kein Historiker ausschließen, dass er nicht-korrespondierende Ergebnisse zutage gefördert hat, obwohl er sämtlichen wissenschaft36
An dieser Stelle muss man von einigen sich gegenseitig exkludierenden Überzeugungen der beiden Richtungen absehen (vgl. Raphael 2003).
33 lichen Standards gerecht geworden ist. Nicht-korrespondierende Forschungsergebnisse und historische Darstellungen können jedoch schlechterdings nicht als objektiv bezeichnet werden. Zumindest also muss der Anspruch, dass historische Erkenntnisse bzw. Darstellungen mit der Vergangenheit korrespondieren, Teil eines Objektivitätsmodells sein, wenn auch klar ist, dass das tatsächliche Vorliegen eines Korrespondenzverhältnisses nicht unumstößlich ein für allemal festgestellt werden kann. Unerlässlich für das Modell sind aber auch die übrigen Komponenten. Denn erstens hat die Abgrenzung des Objektivitätsbegriffs vom Wahrheitsbegriff erbracht, dass Wahrheit, nicht aber Objektivität darauf verzichten kann, Aufschlüsse über den Weg der Erkenntnisgewinnung und die Einhaltung gewisser epistemologischer Standards zu geben. Die übrigen drei Objektivitätsauffassungen spielen also insofern eine unerlässliche Rolle, als eine bloße Korrespondenzbeziehung zwischen Darstellung und Dargestelltem nicht ausreicht, um wirklich von Objektivität sprechen zu können. Zweitens – das wurde eingangs im Zusammenhang mit der Realdefinitionsstrategie bereits angeführt – ist unser Sprachgebrauch so eingestellt, dass wir mehrere Objektivitätsauffassungen nebeneinander verwenden, ohne eine Notwendigkeit zur begrifflichen Reduktion zu sehen. Die alternativen Begriffsvarianten sind in diesem Modell also nicht nur eine Dreingabe oder bloßes Dekorum. Aus diesem Grund genügt es nicht, im Sinne der Realdefinitionsstrategie, den korrespondenztheoretischen Objektivitätsbegriff als den Objektivitätsbegriff schlechthin auszuzeichnen. Doch die Unerlässlichkeit jeder der Komponenten verbürgt noch kein Komponentenmodell. Zwar schließt die Unerlässlichkeit der einzelnen Objektivitätsauffassungen eine monistische Reduktion im Sinne einer Realdefinitionsstrategie aus, doch damit allein wäre das Komponentenmodell noch keine Weiterentwicklung der Koexistenzstrategie, die auch eine bloß unverbundene Aufzählung irreduzibler Objektivitätsauffassungen erlauben kann. Vielmehr muss das Komponentenmodell zugrundegelegt werden, dessen Kern vom korrespondenztheoretischen Objektivitätsbegriff gebildet wird, und dessen weitere Komponenten jedoch eine Reihe von anderen unerlässlichen Objektivitätkonzeptionen sind, die in einem besonderen Verhältnis zum Begriffskern stehen. Damit sollen einerseits die verschiedenen
34 irreduziblen Aspekte des Objektivitätsbegriffs erhalten bleiben, andererseits aber auch eine bloße Koexistenz vermieden werden. Um eine bloße Koexistenz zu vermeiden, sollen die Beziehungen der übrigen drei Objektivitätsauffassungen, die nach der Eingrenzung des Untersuchungsbereichs verblieben sind – also Objektivität als Unparteilichkeit, methodologische und konsensuale Objektivität –, zum Begriffskern erörtert werden. Zum Begriffskern stehen sie in einer besonderen, einer derivaten Beziehung, das heißt, die übrigen Objektivitätsauffassungen sind für sich betrachtet nur derivative Begriffsvarianten, die nicht vollständig erfassen, was Objektivität ist, dabei aber vom korrespondenztheoretisch explizierten Begriffskern zu einem Gesamtkonzept integriert werden.
35
1.4 Die derivativen Objektivitätskomponenten „Derivativ“ impliziert eine Abhängigkeitsrelation. Welche Abhängigkeit besteht zwischen Begriffskern und den derivativen Komponenten? Den drei derivativen Objektivitätsauffassungen ist gemeinsam, dass sie in einem Mittelverhältnis zum Begriffskern stehen. Als Mittel sind sie zwar ebenso unerlässlich wie der Begriffskern, wenn es darum geht, objektive Darstellungen zu erhalten und zu rechtfertigen, sie sind jedoch für das „produktive Potential“ der Geschichtswissenschaft nutzlos, wenn die Ergebnisse der Forschung nicht mit der Vergangenheit korrespondieren – umgekehrt gilt dies jedoch nicht. Mit der Vergangenheit lediglich korrespondierende Darstellungen sind zwar nicht als objektiv zu bezeichnen, können aber, als Darstellungen, die faktisch mit der Vergangenheit korrespondieren, immer noch ihren Nutzen haben. So unerlässlich für eine gelungene begriffliche Explikation historischer Objektivität alle vier Komponenten auch sein mögen, so nutzlos und auf ihre Rolle als Mittel zu einem Zweck reduziert sind die derivativen Objektivitätsauffassungen ohne den Begriffskern. In ihrem Mittelcharakter und in ihrer Nutzlosigkeit für die Geschichtsschreibung können die methodologische und die konsensuale Objektivität wie auch die Objektivität als Unparteilichkeit als derivativ bezeichnet werden. In den folgenden drei Abschnitten (1.4.1-1.4.3) soll für die drei derivativen Komponenten kurz nachgewiesen werden, dass sie tatsächlich in einem Mittelverhältnis zum Begriffskern stehen. Gleichzeitig muss gezeigt werden, ob der Anspruch des Komponentenmodells, eine Weiterentwicklung der Koexistenzstrategie zu sein, sich auch auf Beziehungen unter den derivativen Objektivitätsauffassungen stützen kann. Das soll geschehen, indem neben der Abhängigkeitsbeziehung der derivativen Komponenten zum Begriffskern einige Ordnungsbeziehungen unter den derivativen Komponenten angedeutet werden. Folglich ergibt sich für die folgenden drei Abschnitte ein doppeltes Argumentationsziel: Für jede der derivativen Objektivitätsauffassungen wird erstens nachgewiesen werden, dass sie in einem Abhängigkeitsverhältnis
36 zum Begriffskern stehen, und zweitens werden sie untereinander in ein Ordnungsverhältnis gebracht.
1.4.1 Methodologische Objektivität Zunächst soll die methodologische oder prozedurale Objektivität untersucht werden.37 Sie beinhaltet die Grundvorstellung, Verzerrungen auszuschalten, indem der individuellen Urteilskraft und damit der individuellen Willkür durch objektive Verfahrensanweisungen und methodologische Standards Grenzen auferlegt werden. In der allgemein wissenschaftstheoretischen Literatur zum Thema Objektivität werden meist für diese Form der Objektivität die Versuche, qualitative Methoden durch quantitativ-statistische Methoden zu ersetzen,38 herangezogen. Doch für die Geschichtswissenschaft spielt diese Form der prozeduralen Objektivität keine zentrale Rolle, obwohl durchaus mit Erfolg versucht wird, quantitativ-statistischen Methoden eine prominente Stelle einzurichten. Der Grundgedanke prozeduraler Objektivität tritt hier aber besonders deutlich hervor. Die Rolle des Subjekts soll darauf beschränkt werden, einen eindeutig und präzise definierten Prozess zu initiieren, dessen Ergebnisse nicht mehr vom Subjekt, sondern den (zuvor definierten) Prozessparametern ‚kalkuliert‘ werden. Die Gelegenheitsfenster, die sich für eine Einmischung und damit eine Verzerrung der Ergebnisse öffnen, sollen auf diese Weise minimiert, wo nicht auf Null zurückgefahren werden. Dieses Ziel kann, nach diesem Ansatz, am besten dadurch erreicht werden, dass interpretationsbedürftige qualitative Termini durch (vermeint37
38
Den Terminus „prozedurale Objektivität“ übernehme ich von Megill 1994b, 1 und 10 f. „[...] its governing metaphor is tactile, in the negative sense of ‚hands off!‘ Its motto might well be ‚untouched by human hands‘.“ (Ebd., 10) Vgl. Daston 1998, 34 und Novick 1988, 52. Letzterer ist gar der Überzeugung, dass es sich bei der „transpersonal replicability“, seinem Terminus für prozedurale Objektivität, um die „perhaps most coherent definition of objectivity“ handle. Vgl. Porter 1994, 197-206.
37 lich) eindeutig definierte und (vermeintlich) kontextunabhängig anwendbare Termini ersetzt werden, was am besten durch Termini erreicht werden kann, die durch statistische Größen oder überhaupt numerische Werte definierbar sind, mit deren Hilfe dann bislang nur qualitativ beschriebene Sachverhalte eine statistisch-numerische Behandlung erfahren können. Für die Geschichte ist jedoch die Methode der Quellenkritik von größerer Bedeutung, weil sie gemeinhin als die für die Geschichtswissenschaft essentielle und auch objektivitätsverbürgende Methode angesehen wird. Es dürfte daher kaum überraschen, dass diese Untervariante der prozeduralen Objektivität bereits recht früh Anspruch darauf erhoben hat, mit historischer Objektivität identisch zu sein. Typischerweise heißt es, historiographische Interpretationen müssten durch das „Säurebad“ der Quellenkritik gehen, um als wahr gelten zu können. Mit dieser Methode wird i. d. R. Ranke39 in Verbindung gebracht bzw. die Schule des Historismus als Pflanzstätte dieser Methodik betrachtet.40 Die Bedeutung der Quellenkritik bedarf für die Geschichtswissenschaft nicht eigens der Betonung. Die Frage ist aber, ob damit die ‚neutrale‘ Methode gefunden worden ist, die eine 39
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Mit Bezug auf die „Rankean vision of historical objectivity“, die hier unter der prozeduralen Objektivität rubriziert wird, resümiert Rüsen: „The objectivity of the research guaranteed the objectivity of the researcher.“ (Rüsen 2000, 64) Damit ist in nuce der Sinn und Zweck der prozeduralen Objektivität erfasst. Vgl. auch Porter: „To diminish the domain of personal judgement does not require anything so wonderful as untainted truth. It is enough that there be rules, perhaps quite conventional ones, that limit the exercise of discretion.“ (Ders. 1994, 197) Zur Vorreiterrolle, die die deutsche Geschichtswissenschaft mit der Fokussierung auf die Methode der Quellenkritik und der Betonung „objektiver“ Wissenschaft international (und vor allem für die US-amerikanische Historiographie) gespielt hat, vgl. Appleby et al. 1994, 72-76 und passim. Vgl. auch Beards (in 1964) Hinweis auf die Bedeutung der von Ranke begründeten Methodik. Kritisch äußert sich Iggers zum vermeintlichen Positivismus Rankes (1997, 86-88). Für Iggers hat sich gerade die US-amerikanische Rezeption Rankes in den 1880er Jahren auf ein völlig falsches Bild von Ranke versteift, das den politisch engagierten und theoretisch-philosophisch interessierten Wesenszug an Ranke völlig außer acht gelassen habe. Die damals prominenten US-amerikanischen Propagandisten des reinen („historistischen“) Faktensammeln könnten sich deshalb, so Iggers, nicht wirklich auf Ranke berufen.
38 vorurteilslose Durchforstung der Quellen ermöglicht, ob also ein Objektivitätsbegriff gefunden worden ist, der für sich selbst bestehen kann, also nicht derivativ ist. Damit Quellenkritik (als Variante prozeduraler Objektivität) als eine nicht-derivative Objektivitätsvariante gelten kann, müsste sie ein ebenso mechanisches wie Verzerrungsfreiheit garantierendes Verfahren sein. Das ist sie jedoch nicht, denn die Vorstellung, man könne gewissermaßen voraussetzungslos Fakten aus den Quellen heraussieben, ist unhaltbar. Wir besitzen keine sprachunabhängige Zugangsweise zu Fakten, das heißt, wir besitzen kein ‚Wahrnehmungsorgan‘, das es uns erlaubt, Fakten zu ‚sehen‘, ohne sie begrifflich zu erfassen. Fakten sind nur in Aussagen (Propositionen) ausdrückbar. Darin liegt eine fundamentale Abhängigkeit der Quellenkritik vom jeweiligen begrifflich-theoretischen Instrumentarium des Historikers begründet, und damit ist eine quasi-mechanisch, methodischprozedural nicht zu beseitigende ‚Verzerrung‘ in der Welt. Daneben spricht die Quelle nicht aus sich heraus zum Historiker, sondern bedarf seines selektiven Interesses, um überhaupt erst Fakten preisgeben zu können. Diese und andere den reinen Prozesscharakter streng limitierende Elemente bei der Deutung von Quellen haben zur Folge, dass Quellenkritik nur in einem sehr abstrakten Sinn als Methode bezeichnet werden kann, keinesfalls aber als eine genau umrissene Standardprozedur mittels derer um die Welt verteilte Geschichtsforscher zu eindeutigen, gleichartigen und strikt reproduzierbaren Ergebnissen kommen (wie etwa ein Physiker, der die experimentelle Anordnung eines Kollegen nachstellt), mithin der individuelle Faktor ausgeschaltet werden kann. ‚Fakten‘ mittels einer Verzerrungen neutralisierenden Methode oder Prozedur gleichsam mechanisch an den Tag zu fördern, ist daher ausgeschlossen. Das Ziel der Quellenkritik, objektive Fakten durch eine neutrale Methode beibringen zu wollen, kann folglich so nicht verwirklicht werden. Zwar mag die prozedurale Objektivität in Form der Quellenkritik als ein methodologisches, aber sehr abstraktes Ideal für die Entwicklung der Geschichtsschreibung zur Geschichtswissenschaft tatsächlich von großer Bedeutung gewesen sein, unübersehbar bleibt die derivative Rolle dieser Objektivitätsform. Denn neben dem Scheitern ihres Anspruchs darauf, die
39 richtige Auffassung von Objektivität zu sein, steht sie aufgrund ihrer Abzweckung, sc. ein Korrespondenzverhältnis zwischen Darstellung und Dargestelltem erreichen zu wollen, in einem Abhängigkeitsverhältnis zum korrespondenztheoretisch explizierten Begriffskern. Der verfolgte Zweck – ein Ergebnis zu erreichen, das unverzerrt von subjektiver Willkür ist und damit den Tatsachen, nicht aber den Wünschen und Vorstellungen des Subjekts korrespondiert – weist darauf schon zur Genüge hin. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass die prozedurale Objektivität alles in allem nichts anderes versucht, als eine lange Tradition methodologischer Überlegungen (in der Philosophie wie auch in den Einzelwissenschaften) zu einer alles umfassenden Objektivitätsvariante umzudeuten. Versuche, Methoden zu finden, um objektive Erkenntnisse zu entwickeln und ausweisen zu können, haben nicht erst mit Quantifikation, Vereinheitlichung von Maßeinheiten und von experimentellen Apparaturen oder der Durchsetzung von Verfahrensstandards (für Experimente oder Umfragen) oder mit der Besinnung auf möglichst strenge methodische Quellenabsicherung möglichst jeder Aussage begonnen, sondern sie sind ein Element unter vielen einer traditionsreichen, übergeordneten methodologischen Anstrengung, welche die Korrespondenz der Ergebnisse und Darstellungen zum Ziel hat. Diese Methoden reihen sich damit in eine Linie altbewährter anderer Methoden ein, die in gleichem Maße von sich behauptet haben, die objektivitätsverzerrende Willkür des Erkenntnissubjekts ausgeschaltet zu haben. Prozedurale Objektivität steht aber auch neben ihrem derivativen Verhältnis zum Begriffskern zur konsensual-fachdisziplinären Objektivität in einem weiteren Abhängigkeitsverhältnis.41 Der Grundgedanke der prozeduralen Objektivität, durch ein quasi-mechanisch anwendbares Verfahren die verzerrende Willkür des Erkenntnissubjekts einzuschränken, führt auf di41
Vgl. Novicks Kommentar zur prozeduralen Objektivität als Definition von Objektivität: „[I]t is objectively true that I am 5’11’’ tall because (and only because) all investigators agree that the technique of measuring height is to use a standardized yardstick, and anyone applying that yardstick to me will get the same result. By this criterion objectivity is a social phenomenon brought into existence by the establishment of methodological consensus. To the extent that it is professionalization which regularizes, promulgates, and enforces this consensus, objectivity cannot be said to exist before professionalization.“ (Ders. 1988, 52)
40 rektem Weg in die Abhängigkeit von konsensualer Objektivität, weil individuelle Einschätzungen, Unzulänglichkeiten, Hintergrundwissen und Parteilichkeiten faktisch immer ein Problem bleiben werden. Die einzige Möglichkeit, diese individuellen Unzulänglichkeiten und Einschränkungen der prozeduralen Objektivität wenigstens auf ein Mindestmaß zu beschränken, führt über die Kontrolle und Sanktionierung durch die scientific community. Denn (1) auch die ‚objektivsten‘ Regeln, Verfahrensanweisungen etc. bedürfen der Festlegung durch eine Gruppe. (2) Die Anwendung dieser Regeln etc. auf neue oder unklare Fälle ist der individuellen Einschätzung überlassen oder muss wiederum durch (konventionelle) Anweisungen geregelt werden.42 Zuletzt (3) können Regeln dazu führen, dass bestimmte, eigentlich relevante Sachverhalte nicht berücksichtigt werden, weil sie nicht regelkonform erfasst werden können oder dürfen,43 was wiederum von der neuerlichen Besinnung der Wissenschaftsgemeinschaft und einem daran anschließenden neuerlichen Konsens ausgeglichen werden muss. Hier ist gerade bei der Bearbeitung historischer Quellen der Interpretationsspielraum enorm groß und stark vom Konsens der scientific community abhängig. Darüber hinaus steht prozedurale Objektivität in einem weiteren Abhängigkeitsverhältnis zur Objektivität als Unparteilichkeit, weil der vorgängige Zweck prozeduraler Objektivität darin besteht, Verzerrungen aufgrund subjektiver Willkür auszuschalten. Prozedurale Objektivität möchte das Erkenntnissubjekt als ‚epistemologisches Risiko‘ ausschalten, indem es – was an der quantitativ-statistischen Variante prozeduraler Objektivität besonders deutlich wird – quasi-mechanische Prozeduren und Methoden vorschreibt, mit welchen die individuelle Urteilskraft und damit das vermeintliche Verzerrungsrisiko aufgrund persönlicher (unwissenschaftlicher) Präferenzen reduziert oder im Idealfall beseitigt werden sollen. Die prozedurale Objektivität möchte also das Fernziel einer korrespondierenden Darstellung erreichen, indem sie das Nahziel der Unparteilichkeit des Erkenntnis42
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Vgl. Porter 1994, 197. Daher platziert Douglas die prozedurale Objektivität zurecht bei ihrer „objectivity3“, die sich mit den sozialen Prozessen beschäftigt, die zu Objektivität führen können (Douglas 2004, 461 f.). Auf diese Unzulänglichkeit prozeduraler Objektivität hat Douglas hingewiesen (2004, 462).
41 subjekts erzwingen möchte. Die Kategorie der prozeduralen Objektivität steht demnach in einem dreifachen Abhängigkeitsverhältnis: erstens zur Objektivität als Unparteilichkeit, zweitens zur konsensualen Objektivität und drittens zum korrespondenztheoretischen Begriffskern, weil prozedurale Objektivität, selbst dann, wenn es ihr tatsächlich gelänge, subjektive Verzerrungen restlos auszuschalten, nur ein Mittel zu einer korrespondierenden Darstellung wäre.
1.4.2 Objektivität als Unparteilichkeit Die Quintessenz prozeduraler Objektivität bestand darin, objektive Ergebnisse erreichen zu wollen, indem objektive Methoden angewandt werden, die gleichsam mechanisch den vermeintlich erkenntnisverzerrenden Spielraum an persönlicher Willkür des Historikers ausschalten sollen. Sie soll einen von der Persönlichkeit und der Perspektive des Historikers unverzerrten Zugang zu den reinen, unverfälschten ‚Fakten‘ liefern. Prozedurale Objektivität verfolgt dieses Ziel, indem sie fachdisziplinär-konsensuell festgelegte Standards nutzt. Dagegen verbergen sich hinter der Objektivität als Unparteilichkeit (oder: Neutralität) keine inhaltlich exakt bestimmten Standards. Sie besitzt eher den Charakter einer wissenschaftsethischen Norm und damit eine partiell appellative Funktionsweise. Sie richtet sich an den Historiker als normativ ansprechbaren Akteur, der sich nach dieser (vagen) wissenschaftsethischen Norm zu richten hat und der nur im Fall eines groben Verstoßes gegen sie von der Gemeinschaft gerügt wird. Oftmals ist es gerade diese personalisierte Variante von Objektivität, die uns zuerst in den Sinn kommt, wenn die Rede auf Objektivität kommt. Sie ist in Gestalt von objektiven Schiedsrichtern, Richtern, Sachverständigen oder eben Historikern gewiss eine der am weitesten verbreiteten Anwendungen von „Objektivität“/„objektiv“. Bevor die Abhängigkeitsfragen geklärt werden können, bedarf Unparteilichkeit als Objektivitätsvariante aber einer klärenden Erläuterung.
42 Zu diesem Zweck sollen exemplarisch an der Diskussion historiographischer Neutralität durch Th. Haskell zwei verschiedene Auffassungen von Objektivität als Unparteilichkeit eingeführt werden. Haskell unterscheidet zwischen der Forderung, sich selbst von eigenen Vorurteilen, Überzeugungen, Werten etc. zu befreien „to become a perfectly passive and receptive mirror of external reality“ (dem traditionellen positivistisch-historistischen Ideal) und einer Form der Neutralität, die eine vorläufige Distanzierung („detachment“) von der eigenen Perspektive beinhaltet, um auf diese Weise der Argumentation des Gegenübers vorurteilslos gerecht werden zu können.44 Distanzierung sei jedoch für sich genommen nicht Objektivität (wodurch er sich von der traditionellen Objektivität-ist-Neutralität-Position distanziert), sondern vielmehr eine Vorbedingung dafür, eigene Ziele, die im Zuge der Distanzierung nur vorläufig suspendiert worden sind, besser verfolgen zu können. Noch besser verfolgt werden sie, so Haskell, indem die eigene Sicht auf die Dinge dadurch bereichert wird, dass die gegnerische Position, die im Rahmen der Distanzierung auf ihre Qualität hin überprüft worden ist, in Teilen oder vollständig in die eigene Position integriert wird. Erst auf diese Weise werde ein objektiveres Ergebnis erzielt. Haskells Darstellung führt also zunächst eine Variante von Objektivität als Unparteilichkeit ein, sc. die traditionelle Objektivitätskonzeption, deren Ideal die restlose ‚Läuterung‘ des Selbst von allen Voraussetzungen, Vorurteilen, Idealen, im Grunde von der eigenen Persönlichkeit ist. Diese Objektivitätskonzeption hält er für falsch.45 Wenn Objektivität aber nicht Neutra44 45
Haskell 1998, 148 und 150 (Hervorh. J. K.). Für Beard und seine Zeitgenossen war das noch die entscheidende Fragestellung. Die Frage, ob und wie ein Historiker die eigene Persönlichkeit ‚auslöschen‘ kann, um wahrhaft objektive Geschichte zu schreiben, hat die Kontroverse bestimmt. Vgl. Beard 1964, 317, 321 u. ö. Dabei hat sich der methodische Fehler eingeschlichen, die Unmöglichkeit historiographischer Objektivität (i. S. v. Neutralität) dadurch zu erweisen, dass den Vertretern dieser Position ihre Verwicklung in politische Auseinandersetzungen und weltanschauliche Kontroversen vorgehalten worden ist. Diese methodisch-argumentative Schieflage hat sich von Beard auf Novick 1988 ‚vererbt‘. Sie wird von Haskell denn auch zurecht angegriffen. Haskell 1998, 153: „All this [die politische Parteinahme der Historiker bei gleichzei-
43 lität i. S. v. Persönlichkeitsauslöschung ist, was kann dann mit Neutralität sinnvoll gemeint sein? Der Historiker müsse seine Emotionen und Voreingenommenheiten suspendieren können und zwar zu dem Zweck, die gegnerische Argumentation angemessen einschätzen und dann in die eigene Position integrieren zu können. Wenn Haskell selbst dies vielleicht auch nicht als genuine Objektivitätsauffassung ansehen möchte, so ist es doch naheliegend, diese Variante als eine weitere Möglichkeit anzusehen, Objektivität als Unparteilichkeit aufzufassen, und sie ein wenig genauer anzusehen. Diese Variante soll Unvoreingenommenheit genannt werden, sie beinhaltet nicht die Auslöschung der Persönlichkeit,46 soweit ist Haskell recht zu geben, sie muss aber ein wenig anders verstanden werden, als Haskell sie entwickelt. Warum überhaupt soll ein Historiker, der seine eigenen politischen, wissenschaftlichen oder persönlichen Ziele besitzt, seine Ziele und die damit verbundenen Emotionen (vorläufig) suspendieren? Warum soll er, wenn er doch ein Ziel erreichen möchte, auf die unter Umständen besten Mittel zur Erreichung dieses Ziels verzichten, sprich, Beweise unterdrücken, Interpretationen ‚übersehen‘ usf.? Der Grund ist, dass der Historiker mit einem solchen Verhalten lediglich Propaganda treiben würde, was dem Wissenschaftscharakter der Disziplin widerspräche. Ein Historiker muss, neben und über seinen sonstigen Zielen, in erster Linie das Ziel wissenschaftlicher Redlichkeit besitzen. Er muss einen Wert darin sehen, seine eigenen Voreingenommenheiten soweit es möglich ist, zu suspendieren bzw. sich von ihnen zu distanzieren und zwar in dem Sinn, dass er den Darstellungen und Argumentationen anderer mindestens denselben Grad an wissenschaftlicher Redlichkeit unterstellen sollte, wie er selbst für seine Arbeit rekla-
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tiger Forderung nach wissenschaftlicher Objektivität] is presented [in Novick 1988] to the reader in a tone of bemused shock and wide-eyed dismay, as if by discovering connections between their scholarship and their likes and dislikes, we were catching the mighty with their pants down.“ Vgl. auch Daston 1998, 20 f. Damit soll nicht gesagt werden, dass sich die Argumentation Beards auf die ideologische Voreingenommenheit der Objektivisten beschränkt. Er prüft auch die philosophischen Thesen des positivistischen Objektivismus (1964, 323 ff.). Haskell 1998, 149 f.
44 miert.47 Wissenschaftliche Redlichkeit steht im Gegensatz zur bedingungslosen Verfolgung anderer, wissenschaftsexterner Ziele. Die Begründung, warum ein Historiker sich provisorisch selbst beschränken soll, enthüllt die Zielsetzung, die hinter den Forderungen nach wissenschaftlicher Redlichkeit steht. Er möchte eine den untersuchten Gegenständen angemessene Darstellung erreichen. Nur wer sich unvoreingenommen den Argumenten, Beweisen, Interpretationen anderer öffnet, kann seine eigene Perspektive durch die des anderen anreichern und damit die eigene Darstellung vervollständigen. Bei Objektivität als Unparteilichkeit – hier nicht i. S. der Auslöschung der Persönlichkeit, sondern einer mit wissenschaftlicher Redlichkeit einhergehenden Unvoreingenommenheit – handelt es sich demnach um eine derivative Objektivitätsvorstellung. Das eigentliche Ziel besteht darin, eine den Untersuchungsgegenständen angemessene Erkenntnis zu gewinnen, denn sonst wäre die unvoreingenommene Untersuchung mit dem Ziel der Integration von Perspektiven sinnlos, und ebenso sinnlos wäre die wissenschaftsethische Prioritisierung wissenschaftlicher Redlichkeit als Wert gegenüber anderen, mit ihm in Konkurrenz befindlichen, existentielleren Zielen des Historikers. Beide von Haskell gegeneinander abgewogene Formen der Unparteilichkeit (Neutralität), Auslöschung der Persönlichkeit und Unvoreingenommenheit, verfolgen folglich denselben Zweck: eine angemessene, sprich, korrespondierende Darstellungen des Geschehenen zu erreichen. Gleichgültig welche der beiden Varianten von Objektivität als Unparteilichkeit man zur Explikation dieser Objektvitätsvariante bevorzugt, muss man anerkennen, dass sie in einem derivativen Verhältnis zum Begriffskern stehen. Darüber hinaus steht Unvoreingenommenheit ebenso wie prozedurale Objektivität zur fachdisziplinär-konsensualen Objektivität in einem Abhängigkeitsverhältnis, wenn auch nur soweit, als die jeweilige Einschätzung, wann ein Historiker gegen das Gebot der wissenschaftlichen Redlichkeit 47
Vgl. Mommsen 2000, 54 f.: „The objectivity that is required of the historian in this light is not one of a detached historicism, but rather one of a critical reflection on one’s own position, while paying due respect to existing alternative positions and the values on which these are based.“
45 verstoßen und sich als voreingenommen erwiesen hat oder nicht in ausreichendem Maß seine Persönlichkeit ‚ausgelöscht‘ hat, vom Konsens der Forschungsgemeinschaft bestimmt wird. Den Mitgliedern der scientific community kommt also die Aufgabe zu, mehr oder minder konsensuell die inhaltliche Bestimmung des vagen Normcharakters von Unparteilichkeit auszuhandeln.
1.4.3 Konsensuale Objektivität Es bleiben damit noch die Abhängigkeiten der fachdisziplinär-konsensualen Objektivität48 zu prüfen. Fachdisziplinär-konsensuale Objektivität ist auf den ersten Blick doppeldeutig. Teilweise gewinnt man den Eindruck, es handle sich bei fachdisziplinär-konsensualer Objektivität um die Vorstellung, dass objektive Erkenntnisse dann vorliegen, wenn ein Kollektiv darin übereinstimmt, objektive Erkenntnisse gefunden zu haben, das heißt, weil dieses Kollektiv Ergebnisse für objektiv erklärt, sind sie objektiv. Derart vereinfacht gelesen, ist das absurd, weil es im Grunde auf eine ‚dekretorische‘ Objektivität49, ein durch ein bloßes kollektives fiat zustande gekommenes Surrogat für Objektivität hinausliefe. Darüber hinaus handelte sich eine solche Auffassung das Problem ein, dass konkurrierende Gemeinschaften mit gleichem Recht ihre Ergebnisse als objektiv dekretieren könnten. Die Folge wäre ein Gruppenrelativismus, kein Objektivismus. So kann fachdisziplinär-konsensuale Objektivität von vornherein nicht plausibel sein. Wenn sie vertretbar sein soll, dann nur in einer epistemischen Form. Objektive Ergebnisse sind nicht objektiv, weil sie zu solchen erklärt werden, 48
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Vgl. die Erläuterungen zur „disciplinary objectivity“ in Megill 1994b, 5-7 und auch Douglas’ „objectivity3“, die sich auf die sozialen Vorgänge konzentriert, die bei der Festlegung epistemologisch wichtiger Prozeduren und bei der Erreichung von Übereinstimmung stattfinden (dies. 2004, 456 und 461-465). Acham nennt diese Form der konsensualen Objektivität „einen konsensuellen Schein der Objektivität“ (1977, 395).
46 sondern sie sind als objektiv erkennbar und zwar ausschließlich oder vornehmlich durch die dafür ausgebildeten ‚Fachkreise‘.50 Diese zweite Form ist trivial, denn wer, wenn nicht die ausgebildeten Experten, soll die Richtigkeit von Erkenntnissen im jeweiligen Bereich beurteilen können? Aufgewertet wird die konsensuale Objektivität denn auch durch Überlegungen, die zum Beispiel kommunikationstheoretische Standards einführen: Wenn nur lange genug von kompetenten Diskussionsteilnehmern erörtert worden ist, was ein objektives Ergebnis ist, dann wird das Ergebnis (mit hoher Wahrscheinlichkeit) objektiv sein.51 Welche exakte Lesart man der konsensualen Objektivität auch geben mag, ihr epistemologisches Ziel besteht aber darin, Erkenntnisse als mit den untersuchten Phänomenen korrespondierend ausweisen zu können.52 So ist etwa Bevirs Vorschlag53, Objektivität aus dem Vergleich verschiedener Interpretationen über Fakten hervorgehen zu lassen, über deren Wahrheit Konsens herrscht, nur dann sinnvoll, wenn das Endziel immer noch in der Korrespondenz der durch den Vergleich verbesserten Interpretationen besteht. Man hat mit konsensualer Objektivität gewiss einen wichtigen
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51 52 53
Zu diesem Ansatz möchte ich auch den Vorschlag Hedingers (1977) rechnen, der ihn allerdings nicht als Objektivitätsvariante betrachtet, sondern vielmehr als eigenständiges Drittes zwischen Objektivität und Subjektivität. Für ihn erschöpft sich Objektivität in einem Abbildungsobjektivismus, den er ablehnt (365). Aus der Unmöglichkeit des Abbildungsobjektivismus folge aber noch nicht die Notwendigkeit des „Subjektivismus“, denn es gebe noch „die Termini der ‚intersubjektive[n] Allgemeingültigkeit‘ oder ‚verbindliche[n] Prüfbarkeit‘“, die „das Gewicht auf die Möglichkeit begründeter Übereinstimmung der Forscher“ lege (368). Die begründete Übereinkunft ist, so verstehe ich Hedinger, das Maß der Wissenschaftlichkeit. Seine Vorstellung von Objektivität ist zu eng und aus diesem Grund wird sein Vorschlag so gewertet, dass er eigentlich eine weitere Dimension der Objektivität offenlegt und nicht Objektivität verabschieden möchte. In seiner Beziehung zum eigentlichen Erkenntnisziel, sc. Korrespondenz, ist Hedingers Vorschlag ohnehin analog zur konsensualen Objektivitätsauffassung zu behandeln. Diese Objektivitätsauffassung vertreten Appleby et al. 1994, 195 und passim. Vgl. Patzig 1977, 324 f. Bevir 1994, 333-337.
47 Baustein in der Etablierung wissenschaftlicher Erkenntnis54, aber an der fundamentalen Rolle der absoluten Objektivität und damit am korrespondenztheoretischen Begriffskern ändert sich nichts. In dieser Hinsicht muss also auch die konsensuale Objektivität zu den derivativen Objektivitätsauffassungen gezählt werden. Die bislang untersuchten Objektivitätsauffassungen, prozedurale Objektivität und Objektivität als Unparteilichkeit, haben sich jeweils als abhängig von der konsensualen Objektivität erwiesen. Der Erfolg der Methoden prozeduraler Objektivität, ihr Grad an tatsächlicher Verzerrungsfreiheit wird inhaltlich über den Konsens der scientific community eingeschätzt. Dass damit kein sicherer Anhalt für objektive Erkenntnisse gewonnen werden kann, dürfte jedem klar sein, der auch nur einigermaßen vom beständigen Methodenwandel in den Wissenschaften Kenntnis hat. So wird statistisch-quantitativen Methoden mal ein höherer, mal eine geringerer Objektivitätsgrad zuerkannt. Auch die ‚Methode‘ der Quellenkritik, die als essentielle Voraussetzung für die Geschichtswissenschaft unverzichtbar ist (im Gegensatz zu zum Beispiel häufig bekämpften statistischen Ansätzen), ist nur insofern Anhaltspunkt für die Objektivität von Erkenntnissen, als die ‚Fakten‘, die in den Quellen ‚entdeckt‘ werden, inhaltlich vom fachdisziplinären Konsens partiell mitbestimmt und abgesegnet werden. Analog kann Objektivität als Unparteilichkeit zumindest inhaltlich nur soweit bestimmt sein, wie sich ein fachdisziplinärer Konsens darüber etablieren kann, inwieweit die Methoden, Interpretationen und Faktengrundlagen eines Historikers tatsächlich unparteiischem, wissenschaftlich redlichem Forschen geschuldet ist oder inwieweit die notwendige Perspektivität 54
Setzt man prozedurale und konsensuale Objektivität in Beziehung – was hier nicht ausführlich getan werden kann, wenn es auch in den vorigen Abschnitten andeutungsweise geschehen ist –, dann kann man feststellen, dass konsensuale Objektivität sicherlich eine große Rolle bei der Überwindung der (hier nicht dargestellten) internen Schwierigkeiten der prozeduralen Objektivität spielen wird. Umgekehrt wird aber damit gerade das Verdienst prozeduraler Objektivität, sc. die Begrenzung willkürlicher Entscheidungen, auf der Ebene kollektiver Entscheidungen konterkariert, es sei denn, bestimmte Verfahrensanweisungen oder kommunikative Standards qualifizierten die kollektive Entscheidung als ‚objektiv‘, was wiederum eine disziplinär-konsensuale Entscheidung sein muss usf.
48 in Parteilichkeit umgeschlagen ist. Prozedurale wie auch Objektivität als Unparteilichkeit sind demnach inhaltlich von fachdisziplinär-konsensualer Objektivität abhängig. Auch hier besteht demnach eine Abhängigkeitsbeziehung unter den verschiedenen Objektivitätsauffassungen.
1.4.4 Das Komponentenmodell ist integrativ Das Komponentenmodell wurde als eine Weiterentwicklung der Koexistenzstrategie eingeführt. Wie die Koexistenzstrategie belässt es den gängigen und irreduziblen Objektivitätsauffassungen einen prominenten Platz innerhalb einer umfassenden Gesamtkonzeption von (historischer) Objektivität. Damit wird es dem Sprachgebrauch von „objektiv“/„Objektivität“ gerecht, der eine restlose Reduktion der diversen Objektivitätsauffassungen auf eine Definition (wie dies die Realdefinitionsstrategie vorsieht) so aussichtslos wie witzlos erscheinen lässt. Das Komponentenmodell geht jedoch über das bloße Konstatieren und das gewissermaßen parataktische Nebeneinanderstellen von Objektivitätsauffassungen hinaus, indem es einen integrierenden Begriffskern vorschlägt und darüber hinaus die von diesem Begriffskern abhängigen Objektivitätsauffassungen untereinander in Beziehung setzt (was ansatzweise gezeigt worden ist). Es ist demnach integrativ und zwar in dem Sinn, dass es die verschiedenen Objektivitätsauffassungen in ein Modell integriert, ohne dass eine der Auffassungen die andere vereinnahmt oder sie freischwebend über eine bloße „begriffliche Kohärenz“ zusammengehalten werden. Der Begriffskern wie auch die derivativen Objektivitätsvarianten sind also in diesem Modell unverzichtbare und dabei integrierte respektive integrierende Komponenten eines vielschichtigen Konzepts. Das belegt unser alltäglicher wie unser wissenschaftlicher Sprachgebrauch. Sollten mit „objektiv“ lediglich die derivativen Objektivitätsauffassungen (oder eine unter ihnen) gemeint sein, dann müsste es möglich sein, dass auch falsche Aussagen als objektiv bezeichnet werden könnten, weil wir trotz erprobter,
49 objektiver Methoden, unserer größtmöglichen Anstrengung wissenschaftlich redlich vorzugehen und auch des bestens abgesicherten Konsensus der Wissenschaftsgemeinschaft immer wieder falsche Ergebnisse erzielen. Wir bezeichnen aber falsche Aussagen (i. e. den Tatsachen nicht korrespondierende Aussagen) nicht als objektiv, ebenso wenig wie wir eine historische Darstellung als objektiv bezeichnen würden, die zwar methodisch einwandfrei erarbeitet worden ist, aber dennoch nicht mit den Tatsachen korrespondiert. Wer also (aufgrund welcher objektiver Methoden auch immer) zur Überzeugung, dass p kommt, der kann, wenn sich herausgestellt hat, dass diese Überzeugung falsch ist, nicht behaupten, die objektive Erkenntnis, dass p, zu besitzen. Und umgekehrt kann eine lediglich korrespondierende Darstellung, die auf welchem wundersamen Wege auch immer gewonnen worden ist, nicht als objektiv bezeichnet werden, weil im Sprachgebrauch von „objektiv“/„Objektivität“ auch die Form der Erkenntnisgewinnung eine Rolle spielt. Diesem Befund aus dem Sprachgebrauch kann nur ein Objektivitätsmodell gerecht werden, das, wie das hier vorgeschlagene Komponentenmodell, die integrative Leistung vollbringt, mehrere irreduzible Objektivitätsauffassungen in einem Modell zu vereinen, statt eine bloße Koexistenz unter einem unverbindlichen Sammelbegriff vorzusehen oder gar eine Realdefinitionsstrategie zu verfolgen. Wie die vorangegangenen Abschnitte gezeigt haben, integriert der korrespondenztheoretische Begriffskern (i. e. die absolute Objektivität) die übrigen drei Objektivitätsauffassungen über das Abhängigkeitsverhältnis, in dem sie qua Mittel zu dem Zweck stehen, eine Korrespondenz zwischen Darstellung und Dargestelltem zu erreichen. Dass daneben weitere (nur angedeutete) systematische Beziehungen zwischen den derivativen Objektivitätsauffassungen bestehen, belegt darüber hinaus, dass ein Erforschen des Objektivitätsbegriffs anhand eines Komponentenmodells einen adäquateren Ansatz darstellt als ein bloßes Koexistenzmodell. Dass sich die meisten Arbeiten zur (historischen) Objektivität auf eine oder einige wenige Objektivitätsauffassung(en) konzentrieren und dabei andere Auffassungen unerwähnt beiseite lassen (sich wohlgemerkt also weder für noch gegen ihren Status als genuine Objektivitätsauffassungen aus-
50 sprechen), ist weniger ein Indiz dafür, dass das Komponentenmodell als integratives Modell verfehlt ist, sondern eher eine Folge einer zwangsläufigen argumentativen Fokussierung, ohne die keine Arbeit zur (historischen) Objektivität zu einem abgeschlossenen Ganzen werden könnte. Eine Fokussierung auf eine bestimmte Objektivitätsauffassung, die zu analytischargumentativen Zwecken aus der Integrität des Gesamtmodells ausgegliedert wird, ist sinnvoll und berechtigt, weil nicht jeder Untersuchungsgegenstand und jede Argumentation ein integratives Objektivitätsmodell wie das Komponentenmodell ständig in seiner Vollständigkeit im Blick zu behalten braucht. Auf welche Objektivitätsauffassung fokussiert wird, ergibt sich in erster Linie durch die jeweilige Form von epistemologischem Skeptizismus, der sich Objektivitätsansprüche gegenüber sehen können. Wer davon überzeugt ist, dass der ‚menschlichen Faktor‘ immer Verzerrungen in die Erkenntnis bringt, der wird versuchen, ihn durch objektive Methoden wie Quantifikation und Statistik auszuschalten; wer der Ansicht ist, Werte seien immer verzerrend, wird normativ festlegen wollen, dass Werte in der Wissenschaft nichts zu suchen haben usf. Auch in der vorliegenden Arbeit wird eine solche Fokussierung vorgenommen werden müssen und zwar eine Fokussierung auf die korrespondenztheoretisch explizierte absolute Objektivität. Das bedeutet aber nicht, dass damit die integrative Qualität des Komponentenmodells desavouiert wird, es handelt sich vielmehr um eine Einschränkung aus einer Zweckmäßigkeitserwägung heraus.
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1.5 Objektivität und Standortgebundenheit Auch die Fokussierung der weiteren Ausführungen auf die Diskussion um die korrespondenztheoretisch explizierte absolute Objektivität ist einem wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Skeptizismus geschuldet. Diese Form des Skeptizismus rüttelt wie keine zweite am fundamentalen Selbstbewusstsein der Geschichtswissenschaft. Dem Anspruch der Geschichtswissenschaft auf die Objektivität ihrer Erkenntnis steht das Schlagwort von der Standortgebundenheit historischer Erkenntnis als ein geschichtstheoretischer Gemeinplatz gegenüber.55 Wo historische Erkenntnis die Vergangenheit beschreiben soll, „wie es eigentlich gewesen“ 56, wird von ihr gleichzeitig gesagt, sie sei unentwirrbar oder notwendig vom Standort, das 55
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Hedinger 1977 definiert „Standortgebundenheit“ folgendermaßen: „Sie [sc. die These der Standortgebundenheit] besagt, daß sich in einer historischen Aussage unvermeidlich und irreversibel Inhaltsbestandteile finden, die nicht den geschichtlichen Gegenstand, sondern den konkreten Standort des Historikers kennzeichnen. Dazu gehören Vorverständnis, Sinnbestimmungen, (‚erkenntnisleitende‘) Interessen, geschichtsphilosophisch-anthropologische Überzeugungen usw. der Gegenwart des Historikers [...]. Alle historischen Aussagen stehen ‚gleichsam mit einem Bein darin‘. Und nicht nur Aussagen, auch Fragen, Begriffe, empirisch fundierte Theorien, Modelle, Methoden des Historikers sind dann durch die – sich zudem ständig wandelnde – Perspektive seines Standorts geprägt.“ (ebd., 368 f.) So auch Rüsen: „Historical knowledge can neither be gained nor presented without a perspective linked to the situation of the provider or the target audience.“ (2000, 59) Vgl. auch Lorenz 1997, Mommsen 1977, Rüsen 1983, 2002a und 2002b. Dieses Ranke-Zitat darf in keiner Arbeit über historiographische Objektivität fehlen, es sei daher auch hier in voller Länge wiedergegeben: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen.“ (L. v. Ranke „Geschichte der romanischen und germanischen Völker“, SW Bd. 33/34, Seite VII) Vgl. die sorgfältige Analyse Vierhaus’ 1977, die drei Säulen identifiziert, auf denen Rankes Objektivitätskonzeption ruht (und damit für Generationen von Historikern die maßgebliche Objektivitätskonzeption war): Quellenstudium, Unparteilichkeit und „objektive Darstellung“ der Erkenntnisse. (Ebd., 65)
52 heißt von der Perspektive des jeweiligen Historikers abhängig. Die Geschichtstheorie sieht sich damit in der Position, mit zwei auf den ersten Blick nur schwer vereinbaren, wenn auch nicht strikt kontradiktorischen theoretischen Grundhaltungen zurande kommen zu müssen. Ein sich im Lauf des späten 18. Jahrhunderts entwickelnder Wunsch nach Vereinbarung dieser Unvereinbarkeit ist geistesgeschichtlich analysiert worden als ein Schwanken zwischen einer Orientierung an einem vormodernen „naiven Realismus“ einerseits, mit seinen Metaphern der „nackten Wahrheit“, dem „Wie-es-eigentlich-gewesen“, der Geschichte als „speculum vitae humanae“ und andererseits der epistemologisch notwendigen Perspektivität, die durch die Weiterentwicklung des naiv-realistischen optischen Metaphernfeldes (i. e. des Spiegelns, Abbildens, Sehens etc.), nahegelegt wurde. R. Koselleck hat diese Analyse prägnant in eine knappe Geschichte der Geschichtstheorie eingezeichnet.57 Dieses Schwanken kann also kaum als ein geschichtstheoretisches Novum betrachtet werden, gleichwohl scheint die Geschichtstheorie58 noch immer, das zeigt nicht zuletzt Kosellecks Beitrag, schwer an dieser Konstellation zu tragen, die er als „erkenntnistheoretisches Dilemma“ bezeichnet.59 Um ein Dilemma in 57
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Koselleck 1979. Besonders betont wird die bahnbrechende Einsicht Chladenius’, dass die Abhängigkeit historischer Erkenntnis vom „Sehepunct“ (Chladenius) des jeweiligen Historikers, die epistemologische Voraussetzung von Erkenntnis überhaupt ist und dabei nicht mit Parteilichkeit verwechselt werden darf (Koselleck 1979, 184-188). Natürlich gilt dies nicht nur für die Geschichtstheorie. S. Harding hat nachzuweisen versucht, dass eine Objektivitätsauffassung, die sich am Ideal strikter Neutralität des Forschers orientiert und die darauf hinausläuft, sämtliche sozio-kulturellen Einflüsse auf die Forschung ausschalten zu wollen, mitunter dem Erkenntnisgewinn abträglich war; was sowohl für die sozial- wie auch für die naturwissenschaftliche Forschung gelte (dies. 2003, 170 u. ö.). Man könnte selbstverständlich auch eine stoische Gelassenheit an den Tag legen. Vgl. Murpheys lakonischen Kommentar zur vermeintlich ‚tödlichen‘ Gefahr, die der historischen Erkenntnis drohe, wenn man der Erkenntnis zustimmte, Teil der Interpretation historischer Beweise seien immer die eigenen Voraussetzungen: „That we are creatures who live in time, that we inherit a cultural tradition, and that we approach the interpretation of texts, and everything else, with certain ideas already in mind, no one denies. But so what? The same claims hold with re-
53 einem engen Sinn handelt es sich zwar nicht, eher um zwei epistemologisch-wissenschaftstheoretische Fundamentalpositionen mit nicht leicht vereinbaren Gehalten, dennoch steckt in diesem vermeintlichen „Dilemma“ der Kern des Objektivitätsproblems in der Geschichtswissenschaft. Daher wird die weitere Untersuchung auf die Vereinbarung korrespondenztheoretisch zentrierter historischer Objektivität mit prima facie korrespondenzskeptischer Standortgebundenheit fokussiert.
1.5.1 Korrespondenzcharakter und Standortgebundenheit Der Anschein eines Dilemmas drängt sich nachdrücklich auf, weil jeder der beiden widerstreitenden geschichtstheoretischen Grundpositionen eine große Plausibilität zugestanden werden muss. Von historischen Darstellungen wird gemeinhin erwartet, dass sie darstellen, was sich in der Vergangenheit zugetragen hat. Sie sollen uns darüber aufklären, wo unsere soziokulturellen Wurzeln liegen, welche Kontinuitäten uns mit unseren Vergangenheit verbinden oder wo die Verbindung abgerissen ist, wo wir uns mit den Ruhmestaten unserer Vorfahren identifizieren können oder uns für deren Schandtaten schämen müssen; Geschichtsschreibung legt, zusammen mit anderen identitätsstiftenden Genres wie dem Mythos, der Legende, der Hagiographie o. ä., gar erst fest, wer zu den gegenwärtigen und den vergangenen Gemeinschaften zugehört, denen wir angehören und was dies für Gemeinschaften sind, deren Mitglieder wir sind. Der Beitrag der Geschichte, der sie spezifisch bezeichnet und auszeichnet und der von keiner der ihr verwandten Genres retrospektiver sozio-kultureller Selbstbestimmung wie zum Beispiel dem Mythos oder dem Epos übernommen werden kann, besteht darin, dass sie der jeweiligen Gemeinschaft ein ‚korrektes‘ Bild davon gibt, wie die Vergangenheit aussieht, in der sie verwurzelt ist. Dieser abspiegelnde Beitrag, der ebenso im Common sense wie auch in der Geschichtswissenschaft selbst intuitiv mit „Gespect to all knowledge, in physics as well as in history.“ (1994, 276)
54 schichte“ verbunden wird, kommt nicht ohne Korrespondenz zwischen den Ereignissen und ihren Schilderungen und Analysen aus. Geschichte gibt die Tatsachen der Vergangenheit korrespondierend wieder – sie besitzt einen Korrespondenzcharakter.60 Auf diese Weise würde jeder, der nach einer möglichst allgemeinen Bestimmung der Funktion oder Aufgabe der Geschichte (i. S. v. historia rerum gestarum) gefragt wird, antworten – es sei denn, er ist durch geschichtstheoretisch-philosophische Kenntnisse bereits vom Zweifel an eine solche schlichte Auffassung ‚angekränkelt‘ und kann daher diese Antwort nicht mehr uneingeschränkt geben. So steht dieser Common-sense-Vorstellung vom Korrespondenzcharakter der Geschichte ein erkenntnistheoretischer Skeptizismus gegenüber, der sich aufgrund einer ganzen Reihe von theoretischen Einsichten in das Wesen der (wissenschaftlichen) Geschichtsschreibung in eine Gegenposition zu dieser Vorstellung stellt. Die notwendige Standortgebundenheit oder Perspektivität historischer Erkenntnisse problematisiert den Common-sense-Anspruch auf ein Abspiegelungsverhältnis, das vermeintlich zwischen der Vergangenheit und ihrer historischen Darstellung besteht. Damit ist nicht gesagt, dass Standortgebundenheit jegliches Korrespondenzverhältnis ausschließt. Wer die These von der Standortgebundenheit historischer Erkenntnis ernst nimmt, ist lediglich dazu gezwungen, ein simples, positivistisches Abspiegelungsverhältnis oder genauer: ein erkenntnis- und wissenschaftstheoretisches Programm aufzugeben, das zu einem feststehenden (eben: „objektiven“) Bild der Vergangenheit führen soll, „wie es eigentlich gewesen“. Was er darüber hinaus für epistemologisch-wissenschaftstheoretische Positionen vertritt, ist eine weitere Frage, die noch beschäftigen wird. Die Standortgebundenheit zu betonen, bedeutet also zunächst nur einmal, sich von einer positivistischen Auffassung historischer Erkenntnisgewinnung abzugrenzen, ohne aber die Gültigkeit des Korrespondenzcharakters der Geschichte insgesamt zu verwerfen. Das bedeutet, dass der eigentliche Widerstreit nur zwischen einem epistemologisch-wissenschaftst60
Topolski nennt dies den „faktographischen Aspekt von Geschichte“ (ders. 1987, 210). Die Einteilung in faktuale und fiktionale Narrationen ist eine geläufige Grundunterscheidung in der Erzähltheorie (vgl. Martinez/Scheffel 2003, Kap. I,1 „Faktuales und fiktionales Erzählen“, 9-19).
55 heoretischen Programm und dessen Auffassung von vermeintlich verzerrenden Einflüssen auf objektive Darstellungen entsteht, nicht aber zwischen Objektivität und Standortgebundenheit als solchen.
1.5.2 Die Mitte zwischen zwei Extremen Wie verhält sich die Geschichtstheorie angesichts dieser beiden widerstreitenden Pole? Ohne hier bereits weitere inhaltliche Bestimmungen geben zu wollen, können grundsätzlich drei Lösungswege, auf denen mit dem Widerstreit Schluss gemacht werden soll, schematisch skizziert werden. (1) Man kann den Stier bei den Hörnern packen, indem man auf die Standortgebundenheit pocht, sie ausweitet und konsequent den Korrespondenzcharakter der Geschichte vollends negiert. In diesem Fall könnte von einem subjektivistischen Lösungsversuch gesprochen werden. Er ist insbesondere von Theoretikern postmoderner Couleur in etlichen Varianten unternommen worden. (2) Auf der anderen Seite kann man sich restlos zum anderen Extrem bekennen. Aus dem Korrespondenzcharakter der Geschichte wird ein positivistisches Programm abgeleitet, das sich von jeglichem perspektivischen Moment freihalten möchte, weil Perspektivität als objektivitätsgefährdend und damit wissenschaftsgefährdend angesehen wird. (3) Zwischen diesen beiden Extremen liegt die Vereinbarung des Korrespondenzcharakters mit der Standortgebundenheit historischer Erkenntnis als „third way“. Auf diesem Mittelweg zwischen den Extremen hindurch zu navigieren, wird hier mittels eines historischen Konstruktionismus versucht. Was auch auf diesem „third way“ genauer liegen mag, wird einen simplen Positivismus nicht aber den Korrespondenzcharakter negieren. Ob die postmoderne Schlussfolgerung von der notwendigen Standortgebundenheit historischer Erkenntnis auf die Verabschiedung historischer Objektivität plausibel vertretbar ist, wird im nächsten Kapitel erörtert wer-
56 den müssen. Dort wird die Untersuchung auf den postmodern-narrativistischen Argumentationsstrang eingegrenzt werden, der seinerseits exemplarisch an der Theorie Frank Ankersmits evaluiert werden wird. Das Ziel der argumentativen Auseinandersetzung mit dem postmodernen Narrativismus besteht darin, seinen Anspruch auf Verabschiedung von historischer Objektivität und damit sein Votum für den subjektivistischen Lösungsweg (1) zurückzuweisen. Dabei werden sich, gewissermaßen als erfreulicher Nebeneffekt, einige theoretische Bereicherungen für die Ausarbeitung einer eigenen Position im letzten Kapitel ergeben. Bevor jedoch eine eigene Position in Grundzügen ausformuliert werden kann, müssen auch die Möglichkeiten und Limitierungen des positivistischen Lösungswegs (2) betrachtet werden. Er teilt mit dem „third way“ die Vorstellung von einer engen, unaufgebbaren Beziehung zwischen Objektivität und Wissenschaftlichkeit der Geschichtswissenschaft. Wo sich jedoch der Weg des Lösungsvorschlags (3) von dem des Positivismus trennt, ist in der Beurteilung der Standortgebundenheit historischer Darstellungen. Der Positivismus vertritt eine Position, die davon ausgeht, dass objektive Erkenntnis eine perspektivenlose, ‚unverzerrte‘ Abspiegelung ist, die durch keinerlei Beitrag des Erkenntnissubjekts „kontaminiert“ werden dürfe, während dagegen der „third way“, in einem positivistischen epistemologischen Katalog ein unnötig rigoristisches Erkenntnisprogramm sieht. Damit vertritt der Lösungsweg (3) ein eigenes Programm, das ihn zwischen die beiden Extreme der strikten Objektivitätsverabschiedung auf der einen Seite und des Objektivitätsrigorismus auf der anderen Seite platziert. Die Fundamente dieses Programms sind die notwendige Standortgebundenheit historischer Erkenntnis, bei gleichzeitiger Korrespondenz derselben mit der beschriebenen Vergangenheit. Hinzukommt die Ansicht, historische Darstellungen seien wesentlich narrativ. Dies ist ihm und dem postmodernen Narrativismus gemeinsam. Doch während ersterer den wesentlich narrativen Charakters der Geschichte mit ihrem Objektivitätsanspruch vereinbar erachtet, glaubt der postmoderne Narrativismus aus dem wesentlich narrativen Charakter historischer Darstellungen, die Verabschiedung historischer Objektivität ableiten zu können. Inwiefern der postmodernnarrativistische Anspruch auf Objektivitätsverabschiedung plausibel ist,
57 wird im folgenden untersucht werden. Danach soll erst ein minimalistischer Narrativismus als Gegenentwurf in Grundzügen vorgestellt werden, der die Basis für die Vereinbarung von Objektivität mit Standortgebundenheit und Narrativität abgibt.
2. Die postmodern-narrativistische Herausforderung
Objektivitätskritik hat in der Geschichtstheorie eine lange Tradition. Bereits Nietzsche brachte sie in der zweiten „Unzeitgemäßen Betrachtung“ in seiner Argumentation gegen den verkürzten Objektivitätsanspruch des seinerzeit dominierenden Historismus vor.61 Eingeschlafen ist diese kritische Strömung nie, wenn sie auch in der philosophisch-wissenschaftstheoretischen Beschäftigung mit der Geschichtswissenschaft teilweise von anderen thematischen Schwerpunkten überlagert worden ist.62 Neuerdings aber wird die Möglichkeit historischer Objektivität in der Geschichtswissenschaft verstärkt von „postmodernen“ Autoren angegriffen.63 Der Geschichte sei, so lässt sich bei ihnen lesen, das Untersuchungsobjekt abhanden gekommen, sie „kann sich ihres Gegenstandes nicht mehr sicher sein“64, denn zwischen dem Historiker und seinem Untersuchungsobjekt stehe als intransparentes Hindernis die Sprache, die nicht als neutrales 61
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Nietzsche 2003, insbesondere §§ 5 ff. Für den Zusammenhang zwischen Nietzsches Problemaufriss und der „Problemgeschichte“ (Wittkau) des Historismus vgl. Wittkau 1994, 45-55. Dazu gehört vor allem die Konzentration auf die Analyse der Form historischer Erklärungen und auf den Gegensatz zwischen Verstehen und Erklären. Die Analytische Philosophie war hier besonders engagiert und für viele Jahre beinahe vollständig von diesem Thema okkupiert (vgl. Rubinoff 1991, 136 f. und Stempel 1973, 325), das sich nach Hempels einflussreichem Aufsatz The Function of General Laws in History in Form einer Diskussion um den Status des CoveringLaw-Kriteriums als Wissenschaftlichkeitskriterium präsentierte (vgl. Hempel 1994). Für einen mit „der Postmoderne“ sympathisierenden Überblick über die Diskussionslage vgl. Conrad/Kessel 1994, Goertz 2001 und Jenkins 1997b, für eine kritische bis ablehnende Haltung können Evans 1998 und McCullagh 1998 und 2004a angeführt werden. Goertz 2001, 103.
60 Medium fungiere, sondern den Blick auf die Vergangenheit verstelle, so dass die Wissenschaft nicht mehr jenseits der Sprache blicken könne.65 Der postmoderne Angriff auf vermeintlich überholte epistemologische Konzeptionen kulminiert meist in Angriffen auf die Objektivität der Geschichtswissenschaft,66 genauer gesagt, in der vermeintlich prinzipiellen Korrespondenzunfähigkeit historischer Narrationen. Folglich sieht sich der Wissenschaftlichkeitsanspruch der Geschichtswissenschaft, der sich traditionell auf ihren Objektivitäts- oder Wahrheitsanspruch gründet, durch „die Postmoderne“ einem besonderen wissenschaftstheoretischen Legitimationsdruck ausgesetzt. Für die vermeintliche Korrespondenzunfähigkeit werden eine ganze Reihe von Gründen angegeben. Davon sind zwei von besonderer Bedeutung.67 (1) Historische Aussagen refererierten auf nichts außerhalb der Sprache. Historische Aussagen, Narrationen, Diskurse jeder Art stellten lediglich Bezüge zu anderen sprachlichen Konstrukten dar. Es seien Diskurse über Diskurse u. ä. m. Mit dem Anti-Realismus bzw. Anti-Referentialismus dieser Form des Objektivitätsskeptizismus befasst sich die vorliegende Arbeit nicht, weil es sich dabei um einen derart radikalen Skeptizismus handelt, dass er kein Problem der Geschichtstheorie mehr ist, sondern einen generellen epistemologischen Skeptizismus darstellt.68 Der Fokus der folgenden 65 66 67
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Goertz 2001, 7-9, 13-16 und 29 f. So bei Jenkins 1997b, 11. Vgl. für die folgende Unterscheidung z. B. Zargorin 1999, 13 f. und Goertz 2001, der versucht, die erste These zu widerlegen, während er gleichzeitig die zweite These stark zu machen wünscht. Gegen eine solch radikale Position zu argumentieren, ist recht schwierig, vereint sie doch einige der traditionsreichsten und prominentesten Kontroversen der Philosophie. Dennoch treten die Limitierungen dieser These deutlich zutage, wenn man sich vor Augen hält, dass damit nicht nur erstens das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft irreversibel zerstört wäre, sondern darüber hinaus auch zweitens die alltäglichsten Auffassungen von Zeitverhältnissen, personaler Identität und der Möglichkeit von Wissen sowie der Funktion von Sprache in jeder Lebenslage in Mitleidenschaft gezogen wären. Auf diese radikalen Folgen weist Zargorin hin: „Perhaps the best reply that can be made to this scepticism is that the idea of the past as independently real or actual does not depend on any theory and is not a philosophical conclusion. It is, rather, a requirement of historical
61 Überlegungen soll vielmehr auf dem zweiten kritischen Strang liegen: (2) Die Korrespondenzunfähigkeit rühre vom wesentlich narrativen Charakter der Geschichtsschreibung her. Die Potentiale dieser These sollen im folgenden untersucht werden. Eine Beschäftigung mit der Objektivitätskritik kann allerdings erst dann aussichtsreich sein, wenn ein Überblick über die Grundlagen gewonnen worden ist, in denen die Protagonisten postmoderner Objektivitätskritik ihre Zweifel fundieren. Das bedeutet, die Skepsis der postmodernen Objektivitätskritik ernstzunehmen, indem ihre Voraussetzungen, Problemskizzen und auch Argumentationen nachvollzogen werden sollen. Das kann jedoch nicht bedeuten, jegliche Schlussfolgerung zu bestätigen, die von der postmodernen Geschichtstheorie gezogen wird, weil dies hieße, der Geschichte den Wissenschaftscharakter abzusprechen – eine Schlussfolgerung, für die bislang keine zwingenden Gründe vorgelegt worden sind. Daraus ergibt sich die Aufgabe, zwischen extremen, unhaltbaren Schlussfolgerungen und Argumentationen einerseits und nützlichen Anregungen andererseits zu unterscheiden.69 Voraussetzung für eine solche kritische, wenn auch offene Auseinandersetzung ist eine gemeinsame Diskussionsgrundlage der postmodernen und der objektivistischen Positionen. Ein erster Berührungspunkt zwischen dem hier anvisierten Vorschlag und der postmodernen Objektivitätskritik besteht darin, dass beide Ansätze darauf abheben, dass die Historiographie notwendig perspektivisch und wesentlich narrativ ist. Die Differenz besteht jedoch darin, dass die postmoderne Objektivitätskritik Objektivität aufgrund des perspektivischen Charakters der Geschichtswissenschaft verabschieden möchte,70 wohingegen für den zu entwickelnden Objektivismus
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reason and conceptual necessity, vouchsafed by memory as well as implicated in human language that includes past-tense statements, and is entailed by the very idea of history as a distinctive form of knowledge which has the human past as object.“ (Zargorin 1999, 16) Vgl. den Versuch Jörn Rüsens, aus der postmodernen Kritik an der modernen Historik – bei Zurückweisung theoretischer Extremismen, die seiner Ansicht nach zum Ende von Geschichte als Wissenschaft führen würden – Neuorientierungen für die Historik zu gewinnen (2002b, 141 ff.). Vgl. Rüsen 2000 für die ähnliche Einschätzung, dass „die Postmoderne“ den per-
62 Perspektivität wie auch Narrativität mit Objektivität vereinbar sind. Die postmodern-narrativistische Kritik behauptet denn auch, dass die narrativistische Form der Geschichtsschreibung im Gegensatz zu ihrem Wissenschaftlichkeitsanspruch stehe. Weil historische Arbeiten wesentlich narrativ seien und Narrativität ein irreduzibel fiktionales Element enthielte, könnten historische Darstellungen nicht objektiv bzw. wahr sein. Der wesentlich narrative Charakter71 wird also von beiden Seiten bejaht, dabei aber unterschiedlich bewertet: Für den Objektivismus ist Narrativität ein Moment der Perspektivität der Geschichtsschreibung, die sich mit Wissenschaftlichkeit nur zu gut vereinbaren lässt, für den postmodernen Narrativismus dagegen ist sie ein irreduzibel fiktionalisierendes, korrespondenzverhinderndes Element. Die postmoderne Kritik ist somit darauf angewiesen, mehr zu behaupten, als dass historische Erkenntnis perspektivisch ist. Die postmoderne Objektivitätskritik muss nachweisen, dass ein irreduzibel fiktionales bzw. korrespondenzverhinderndes Element ein essentielles Element historischer Narrationen ist. Daher muss sie auch – will sie ihre These von der gänzlichen Erledigung historiographischer Objektivität aufrechterhalten – aus der Perspektivität historischer Darstellungen, genauer: der wesentlich narrativen Form historischer Darstellungen mehr ableiten als der narrative Objektivismus, denn wie das nächste Kapitel zeigen wird, lässt sich durchaus eine Theorie historischer Narrativität entwerfen, die zwar den wesentlich narra-
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spektivischen Charakter der Geschichtswissenschaft als Ausgangsbasis nimmt, um Objektivität als solche zu verabschieden. Bereits in 1983 stellte Rüsen fest, dass der später von postmodernen Autoren aufgegriffene Lösungsweg, den Gegensatz zwischen Objektivität und Perspektivität aus der Welt zu schaffen, indem allen Geschichten gleichermaßen Geltung zuerkannt wird, solange sie nur irgendwelche Orientierungs- oder sonstigen Bedürfnisse befriedigen, nicht sinnvoll ist. Rüsen nennt dies einen „faulen Pluralismus“, weil der so entstandene Pluralismus jeden Wahrheitsanspruch aufgegeben hat (Rüsen 1983, 123). Vgl. auch Novick 1988, Kap. IV,14: „Every group his own historian“. Für den wesentlich narrativen Charakter der Geschichte wird erst im folgenden Kapitel argumentiert werden, weil an dieser Prämisse des postmodernen Narrativismus nicht gerüttelt zu werden braucht. Im dritten Kapitel werden aber auch einige weitere Elemente eingeführt werden, in denen sich der postmoderne vom, wie er genannt werden wird, „minimalistischen“ Narrativismus unterscheidet.
63 tiven Charakter historischer Darstellungen ebenso vertritt wie der postmoderne Narrativismus, sich dabei aber mit einem epistemologisch-wissenschaftstheoretisch minimalistischen Anspruch begnügen kann.
2.1 Postmoderne und Narrativität Zur „Postmoderne“ werden eine Reihe von Strömungen gerechnet, die – abgesehen von der Fremdeinschätzung zur „Postmoderne“ zu gehören – nicht immer viel gemeinsam haben.72 Gemeinsam scheint ihnen allerdings zu sein, dass ihre Beiträge Angriffe auf (mehr oder minder) etablierte epistemologisch-wissenschaftstheoretische Grundkonzeptionen enthalten. Hier können Foucault, einige Vertreter der Kulturgeschichte73 und nicht zu vergessen die eigentlich als „postmodern“ zu bezeichnenden Derrida, Lyotard und Barthes genannt werden.74 Von den Unterströmungen „der Postmoderne“ interessiert hier das narrativistische Lager75, in dem Hayden White76 und Frank R. Ankersmit 72 73 74 75
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Vgl. Conrad/Kessel 1994, 16. Für die Annäherung eines Teils der Kulturgeschichte an die Postmoderne vgl. Appleby et al. 1994, 217-223, außerdem Burke 2005. Für die Vielfalt der Positionen, die alle unter dem Posten „postmodern“ verbucht werden vgl. Conrad/Kessel 1994 und Goertz 2001. Für das Scheitern der Geschichtswissenschaft als Wissenschaft (wohlverstanden: in einem positivistischen Sinn) werden gelegentlich drei Eigenarten verantwortlich gemacht: Die narrative Form der Darstellung, die Singularität der Untersuchungsgegenstände und die Erschließung menschlichen Handelns (als dem Untersuchungsgegenstand schlechthin) durch die besondere Methode des „Verstehens“ (vgl. Topolski 1987, 196 f., 201) „So verstanden ist Geschichte eingefangen in den Erzählungen über die Aufeinanderfolge singulärer Ereignisse.“ (ebd., 206) Genau diese Ansicht wird von postmodernen Narrationstheoretikern geteilt, wobei betont werden muss, dass unter den distinkten theoretischen Positionen, welche die jeweiligen Strömungen der Postmoderne ausmachen, die narrative Form des Wissens nur eine von mehreren ist. Für eine Aufzählung theoretischer Grundpositionen der Postmoderne vgl. Conrad/Kessel 1994, 15-19. Whites Zugehörigkeit zur Postmoderne ist umstritten. Für einige Autoren (etwa
64 prominent figurieren.77 Gerade der Ansatz Ankersmits eignet sich am besten für die hier angedachte ‚kontrastive‘ Methode, aus der Zurückweisung der Extreme nützliche Lehren für ein tragfähiges Objektivitätskonzept zu gewinnen, weil er sich – im Gegensatz zu manch anderen Autoren78 – nicht vom reinen Anti-Realismus dekonstruktionistisch-poststrukturalistischer Prägung mitreißen lässt, der Realität überhaupt in Sprache, sprachliche Determination oder einen unkontrollierten Fluss changierender Signifikationen aufgehen lassen möchte.79 Damit soll nicht gesagt
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Lorenz, Ankersmit und Goertz) gehört er fraglos dazu, für andere (z. B. Kantsteiner) hingegen nicht. Welche Position man in dieser Frage bezieht, hängt gewiss von der jeweiligen Auffassung davon ab, was charakteristisch für die Postmoderne ist, z. T. aber auch von der jeweiligen Textauswahl aus dem Whiteschen Œuvre. White selbst verhilft in dieser Frage zu keiner eindeutigen Antwort. Vgl. dazu Munslow 1997 und 2003. Neben White und Ankersmit könnten noch eine Reihe weiterer Autoren der narrativistischen Richtung genannt werden, allen voran A. Danto und L. Mink. Dantos Beitrag bleibt in einem traditionellen epistemologisch-wissenschaftstheoretischen Rahmen (Danto 1980 und 1985), kann also der postmodernen, objektivitätskritischen Strömung nicht zugerechnet werden, während Minks Arbeiten (Mink 1987a und 1987b) zwar als Vorreiter für spätere narrative und z. T. auch postmoderne Ansätze gepriesen werden, aber dennoch bei aller Ähnlichkeit mancher seiner Thesen zu denen des postmodernen Narrativismus kaum als postmodern avant la lettre betrachtet werden können. Die folgende Diskussion wird anhand der Theorie Frank Ankersmits geführt und nicht, wie vielleicht aufgrund des großen Bekanntheitsgrades von H. Whites Arbeiten vermutet werden könnte, unter Rekurs auf Whites ‚Theorie‘. Ankersmit wird hier der Vorzug gegeben, weil er zum einen eine übersichtliche, stringent durchgeführte Theoriebildung besitzt und weil er zum anderen zu eindeutigen Schlussfolgerungen gelangt. Whites Ansichten und Argumentationen besitzen die Tendenz bei genauerem Hinsehen die argumentationstechnisch notwendige Festigkeit zu verlieren, die eine pointierte Auseinandersetzung erst möglich machen würde. Vgl. Vann (1998, 145) für die Schwierigkeit, Whites Werk einzuschätzen; vgl. auch Anm. 99 unten. Zwar wird Ankersmit (zusammen mit White) von Munslow im Zuge seiner Einteilung geschichtstheoretischer Ansätze in rekonstruktionistische, konstruktionistische und dekonstruktionistische (in 1997, Kap. 3 und 4), dem Dekonstruktionismus zugerechnet, die grundsätzlich realistischen Voraussetzungen bleiben davon jedoch unbenommen, was auch Munslow nicht bestreitet (1997, Kap. 8 und 2003, Kap. 8 und „Conclusion“). Z. T. wird dies jedoch den Narrativisten vorgeworfen,
65 werden, dass der hier untersuchte postmoderne Narrativismus nicht auch die Luft des linguistischen Idealismus atmet. Historische Narrationen sind für ihn natürlich auch und vornehmlich linguistisch determiniert.80 Es geht an dieser Stelle vielmehr darum, dass theoretische Positionen wie die Ankersmits (oder Whites) bei aller Radikalität der Schlussfolgerungen und einiger Voraussetzungen immer noch einige grundlegende Gemeinsamkeiten mit der hier vertretenen Position teilen. Allen voran sind unter den Gemeinsamkeiten die bereits erwähnte zentrale Rolle des Narrativismus, aber auch die realistische Überzeugung, dass die Vergangenheit wirklich (in einem Common-sense-Sinn) war und in einer ontologischen Kontinuität mit der Gegenwart steht, zu nennen. Darüber hinaus besteht eine weitere Gemeinsamkeit darin, dass sinnvolle Aussagen und Darstellungen dieser vergangenen Wirklichkeit als möglich erachtet
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etwa von Evans 1998. Goertz 2001, Kap. I und II, unternimmt es, das Vorurteil auszuräumen, Ankersmit und White verträten einen Anti-Realismus bzw. einen simplen Anti-Referentialismus wie andere postmoderne Autoren. Genau dieser Zug unterscheidet die hier diskutierten Narrativisten von z. B. Derrida. Vgl. Appleby et al. 1994, 198-217 für eine kurze Exposition der für die Geschichtstheorie relevanten Aussagen von Derridas Dekonstruktionismus. Vgl. außerdem McCullagh 1998, 15 f. Hier wird die Kritik anderer postmoderner Autoren auf drei Argumente gebracht: (1) Historiker sprächen nur über Texte und damit über Sprache, nicht über eine Wirklichkeit, (2) die sprachliche Bedeutung konstituiere sich nicht im Verhältnis zur Welt, sondern nur innerhalb der Sprache selbst und (3) historische Interpretationen dienten ideologischen Zwecken. Doch warum sollten sich Historiker – so gibt McCullagh treffend zu bedenken – aber überhaupt noch die Mühe machen, wissenschaftliche Verfahren anzuwenden, könnten sie doch einfach historische Fiktionen schreiben, wären diese Argumente gültig? Gerade dieser Einwand ist es, dem der in der vorliegenden Arbeit untersuchte postmoderne Narrativismus aus dem Weg gehen möchte, indem er die Existenz der vergangenen Wirklichkeit und die partielle Referentialität historischer Aussagen(systeme) zugesteht. Vgl. Kablitz 2006, 221: „Hayden Whites Verwandlung [...] von Klio in eine Muse der Dichtung spezifiziert ja nur für die Erzählung, was in poststrukturaler Sprachtheorie ohnehin angelegt ist. Sprache ist hier immer schon als fiktiv gedacht, weil sie aufgrund der für sie spezifischen Zeichenstruktur stets nur auf Sprache verweist und deshalb zu einer Welt außerhalb der Sprache per definitionem nicht zu gelangen vermag.“
66 werden.81 Es wird im folgenden also nicht um die Frage gehen, ob historische Aussagen auf (einstmals) existente Gegenstände verweisen, ebenso wenig um die Frage, ob wir Erkenntnis von etwas haben können, was wir nicht mehr direkt beobachten können, sondern nur noch über Spuren der Ereignisse inferentiell erkennen können. All diese vermeintlich schwerwiegenden Gründe sind enorm kontraintuitiv, weil wir tagtäglich und außerhalb historischer Zusammenhänge auf genau diese Modi der Erkenntnisschöpfung zurückgreifen. Daher sind radikale postmoderne Ansätze auch von eher geringer Bedeutung als der zu untersuchende postmoderne Narrativismus. Es soll hier folglich um die postmoderne Kritik an der Möglichkeit historischer Erkenntnis gehen, die auf die unumgänglich narrative Repräsentation der Vergangenheit als Grund für die Unmöglichkeit historischer Erkenntnis abhebt. Der wesentlich narrative Charakter der Geschichte, der seinen Ausdruck in scheinbar beliebiger narrativer Redeskription vergangener Wirklichkeit findet, zeige, dass objektive Erkenntnis im Sinn absoluter Objektivität unmöglich sei.
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Exemplarisch sei White 1996, 68 angeführt: „Die Existenz der Vergangenheit ist eine notwendige Voraussetzung des historischen Diskurses, und die Tatsache, daß wir Arbeiten über die Geschichte schreiben, beweist hinlänglich, daß diese für uns erkennbar ist.“ Vgl. Carroll 1998, 35 f.
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2.2 Narrative Redeskription Das spezifische Merkmal des postmodernen Narrativismus, das ihn von anderen postmodernen Theorieentwürfen unterscheidet, ist der Anspruch, dass der wesentlich narrative Charakter historischer Darstellungen der Grund dafür sei, dass historische Darstellungen nicht objektiv sein können. Worauf gründet sich dieser Anspruch? Er stützt sich in erster Linie darauf, dass uns die Fähigkeit gegeben zu sein scheint, immer neue Darstellungen bereits untersuchter Ereignisse und Epochen zu geben.82 Es handelt sich also um die nicht erst seit der Postmoderne bekannte Tatsache, dass dieselben Ereignisse auf verschiedene Weise narrativ integriert werden und bekannte „Fakten“83 in einer Vielzahl von Darstellungen differierende Rollen übernehmen können. „Fakten“ können zu immer neuen narrativen Zusammenhängen zusammengefügt werden, wobei ein und dasselbe Ereignis Teil immer neuer narrativer Zusammenhänge werden kann. Die vorliegende Arbeit stimmt diesem grundlegenden Befund zu, glaubt aber, dass die, wie gesagt werden soll, „narrative Redeskription“84 Ausdruck der Perspektivi82
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An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass die Entdeckung und Bearbeitung neuen Quellenmaterials und die neuerliche Interpretation und Bewertung alten Quellenmaterials und bereits bekannter Interpretationen häufig Hand in Hand gehen. Dieser, wenn man so will, Normalmodus der Geschichtswissenschaft stellt den Mittelabschnitt eines Kontinuums dar, dessen eines Ende von der Erforschung völlig neuen Quellenmaterials und dessen anderes Ende von der Re-Interpretation vollständig bekannten Materials gebildet wird. Der Faktenbegriff wird leider nicht immer ganz einheitlich von den einzelnen Autoren verwendet. Meist wird recht lax von Fakten gesprochen, wenn damit wahre Aussagen gemeint sind, andernorts werden Fakten in einem ontologischen Sinn verstanden, ohne dass aber geklärt wird, zu welcher Gattung von Entitäten Fakten gehören; häufig gehen beide Redeweisen ineinander über. Aus diesem Grund wird die Verwendung von „Tatsache“ und „Faktum“ im folgenden häufig von Anführungszeichen begleitet. Für eine längere Zeit ist das, was hier unter „narrativer Redeskription“ diskutiert wird, als Re-Interpretation von „Beweisen“ betrachtet worden (vgl. Dussen 1991, 155 und passim). Beide Auffassungen haben – sofern man sie überhaupt sinnvoll gegeneinander stellen kann – den Zug, ein Substrat an Gegebenem, im einen Fall
68 tät der Geschichtswissenschaft ist und dass narrative Redeskription wie auch Perspektivität mit Objektivität vereinbar sind.85 Der postmoderne Narrativismus dagegen schließt aus dem Phänomen der narrativen Redeskription das Scheitern historischer Objektivität. Anhand der argumentativen Ausformulierung dieses Grundgedankens bei F. Ankersmit (und am Rande auch bei H. White) wird hier exemplarisch für den gesamten postmodernen Narrativismus erörtert werden, ob tatsächlich aus dem Phänomen der narrativen Redeskription die Verabschiedung historischer Objektivität geschlussfolgert werden kann. Zunächst muss jedoch unabhängig von spezifischen Ansätzen ein wenig genauer geklärt werden, was mit narrativer Redeskription gemeint sein könnte.
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„Fakten“, im anderen „Beweise“, anzunehmen, das die Grundlage für die darauf basierende variable wissenschaftliche Operation, i. e. die Interpretation bzw. Narration, bildet. Vgl. Mink 1987b. Auch er glaubt, dass das Spannungsfeld in der Geschichtswissenschaft zwischen der narrativen Form historischer Darstellungen und dem Wahrheitsanspruch der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung im Phänomen der narrativen Redeskription zu suchen ist: „The cognitive function of narrative form [..] is not just to relate a succession of events but to body forth an ensemble of interrelationships of many different kinds as a single whole. In fictional narrative the coherence of such complex forms affords aesthetic or emotional satisfaction; in historical narrative it additionally claims truth. But this is where the problem arises. The analysis and criticism of historical evidence can in principle resolve disputes about matters of fact or about relations among facts, but not about the possible combination of kinds of relations. The same event, under the same description or different descriptions, may belong to different stories, and its particular significance will vary with its place in these different [...] narratives.“ (198). Die zentrale Bedeutung narrativer Redeskription für die Kritik an historiographischer Objektivität betonen auch Appleby et al. 1994, 265 f.
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2.2.1 Der Status narrativer Redeskriptionen Was kann es bedeuten, wenn gesagt wird, dass historische Aussagen („Tatsachen“/„Fakten“/„Ereignisse“) zu immer neuen Narrationen zusammengefügt werden? Zunächst scheint damit kein besonders problematischer Sachverhalt für die Geschichtswissenschaft genannt worden zu sein, benutzen wir doch im Alltag ständig dieselben „Fakten“ in den unterschiedlichsten Kontexten und in gleichen Kontexten differierende „Fakten“, ebenso wie wir uns in unterschiedlichen Erzählungen auf dieselben Ereignisse beziehen. Von einem Glas zu sagen, es sei durchsichtig, während unser Gegenüber im selben Augenblick und im selben Raum sagt, es sei sauber, versetzt uns kaum in epistemologisches Erstaunen. Gleiches gilt für Narrationen, die diese „Fakten“ in einen Zusammenhang stellen. Eine Narration, die erzählt, wie dieses Glas, einstmals sauber und durchsichtig, gefüllt und ausgetrunken worden ist, wird zu keinem erkenntnistheoretischen Mysterium, wenn eine andere Geschichte darüber erzählt wird, wie dieses Glas, sauber und durchsichtig, gestern noch im Regal stand und heute zerbrochen ist. Narrative Redeskriptionen können daher in einem unproblematischen Sinn eingeführt werden: Die Aussage, dass der Zweite Weltkrieg am 8. Mai 1945 endete, taucht in einer unüberschaubaren Menge historiographischer Arbeiten auf, ohne dass sich daran epistemologische Kontroversen entzündeten. Grundsätzlich kann die Situation schematisch so beschrieben werden, dass mindestens zwei (zumeist aber noch weitaus mehr) Darstellungen des gleichen Zeitraumes, Ereignisses, Geschehens, Prozesses, kurz: historischen Individuums86 vorliegen und beide beanspruchen, objektive Erkenntnis darzustellen und zwar ohne expliziten Anspruch darauf, dass die ande86
Mit dem Begriff „historisches Individuum“ wird jeglicher tatsächlicher oder potentieller Untersuchungsgegenstand bezeichnet, dem Eigenschaften zugeschrieben werden (können), d. h. über den (historische) Aussagen gemacht werden (können). Historische Individuen sind auf keine ontologische Kategorie beschränkt. Es handelt sich bei ihnen also sowohl um menschliche Akteure als auch um Ereignisse oder um Institutionen oder Strukturen, Ideen und Ideale. Ausführlicheres zum historischen Individuum unten in Abs. 5.4.2.1.
70 ren Darstellungen nicht-objektiv (oder „falsch“) sind. Explizit exkludierende Ansprüche kommen selbstverständlich auch vor, stellen aber nur den Spezialfall dieses weitergefassten Problems dar. Man kann sagen, dass es parallele Darstellungen desselben historischen Individuums87 gibt. Einige schließen sich gegenseitig aus, andere wiederum nicht, bei einigen ist dies evident, bei anderen wiederum nicht.88 Schematisch kann diese Situation so dargestellt werden, dass die zunächst naheliegende Dichotomie zwischen einer monistischen und einer pluralistischen Auffassung (in einem weiten Sinn) historischer Interpretationen erweitert wird. Die monistische Auffassung geht davon aus, dass es eine „ideale (objektive) Interpretation“ eines historischen Individuums gibt.89 Die monistisch Auffassung muss von einem idealisierten Bild ausgehen, das einzelnen Tatsachen einzelne Aussagen (Propositionen) zuordnet, wobei die jeweilige Tatsache durch eine und nur eine korrespondierende Aussage dargestellt werden kann. Alle anderen Aussagen sind falsch und müssen im Zuge rigoroser Forschung ausgemerzt werden. Die ideal-objektive Narration kann, vereinfachend gesprochen, dadurch erreicht werden, dass das Quorum an solcherart wahren Aussagen, die bereits erforscht worden sind, sich immer weiter erhöht, bis zu jedem historischen Individuum und schlussendlich zur Geschichte insgesamt die eine ideal-objektive Narration vorliegt. (Es wird noch zu zeigen sein, dass es sich hierbei um eine illusorische Idealvorstellung der positivistischen Geschichtstheorie handelt.90) Das Phänomen narrativer Redeskription muss vom wissenschaftli87
88 89 90
An dieser Stelle bedarf die gewählte Formulierung „dasselbe historische Individuum“ eines Kommentars, um nicht hier bereits noch zu belegende Ergebnisse zu präjudizieren: Ob es sich wirklich um dasselbe historische Individuum handelt ist eine Frage, die durchaus verneint werden könnte. Ankersmit (1983 und 2001) etwa betrachtet die Subjekte historischer Narrationen als jeweils verschieden relativ zu den einzelnen Narrationen, d. h. die eine Narration, die von der Französischen Revolution handelt, handelt von einer anderen Französischen Revolution als eine andere Narration, die oberflächlich von derselben Revolution zu sprechen scheint. Vgl. dazu die Bemerkungen Kellners 1995. Das folgende folgt eine gewisse Strecke Krausz 1991, 97 f. Vgl. Abs. 4.2.1.
71 chen Fortschritt aus der Welt geschafft werden (ob dies nun faktisch möglich ist oder ob die Parteilichkeit der Historiker unvermeidlich dieses Ziel unerreichbar werden lässt, ist dabei gleichgültig). Parallele Darstellungen sind also nur leidige Übergangsformen zur ideal-objektiven Gesamtnarration. Narrative Redeskription ist wissenschafts- und erkenntnistheoretisch uninteressant, weil es sich bei ihm lediglich um ein Problem handelt, das methodologisch in den Griff zu bekommen ist – keinesfalls aber ein Phänomen, das mit der Standortgebundenheit historischer Erkenntnis zu tun hat. Die pluralistische Auffassung i. w. S. dagegen geht von mehreren objektiven Darstellungen aus. Von diesem Ausgangspunkt teilt sich der Pluralismus aber weiter auf: Handelt es sich um Darstellungen desselben historischen Individuums oder handelt es sich um eine Darstellung verschiedener historischer Individuen, die nur unter der gleichen Bezeichnung firmieren, die aber nichts miteinander zu tun haben? Je nach Antwort auf diese Frage haben wir es mit einem Pluralismus in einem engen Sinn oder einer Multiplizität der Interpretationen zu tun. Der Pluralismus i. e. S. sagt, es gebe, um das Beispiel Krausz’ aufzugreifen, nicht mehrere Interpretationen des Holocaust, sondern es werden verschiedene Gegenstände je nach Perspektive interpretiert, das heißt, jede Interpretation kann eine „ideale“ (i. e. objektive) sein, weil sie nur rein äußerlich von ein und demselben Gegenstand handeln, tatsächlich aber verschiedene Gegenstände unter demselben Namen behandelt werden. Der Pluralismus i. e. S. versucht, die erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Schwierigkeiten wie mit einem Zaubertrick verschwinden zu lassen und dürfte damit wohl an einer sehr tief verankerten Intuition hinsichtlich der Semantik singulärer Termini scheitern. Es wird sich kaum jemand finden lassen, der behaupten würde, eine Interpretation des Bundestages als Austragungsort des gesellschaftlichen Wettbewerbs um politischen Einfluss handle von einem anderen Gegenstand als eine Interpretation des Bundestages, die ihn als Versammlung von am Gemeinwohl interessierten Mandatsträgern des deutschen Volkes darstellt. Dass es gelegentlich Situationen von Äquivokation geben mag, in denen legitimerweise gefragt werden kann, ob sich zwei Interpretationen überhaupt um denselben Gegenstand streiten, kann die viel fundamentalere These, dass konkurrierende In-
72 terpretationen immer verschiedene historische Individuen zum Gegenstand haben, nicht belegen. Auf diese Weise lässt sich narrative Redeskription also gar nicht erst plausibel machen. Der Multiplizismus geht dagegen davon aus, dass mehrere Interpretationen desselben Gegenstandes gegeben werden, auch wenn er aus differierenden Perspektiven beschrieben wird. Er geht aber davon aus, dass eine Konvergenz historischer Darstellungen zu der einen finalen Gesamtdarstellung nicht möglich ist. Wenn aber mehrere Darstellungen desselben Gegenstandes gegeben werden können und diese Darstellungen nicht zu einer Gesamtdarstellung konvergieren, dann, so hat es den Anschein, kann eigentlich nicht mehr sinnvoll davon gesprochen werden, dass es sich um Darstellungen eines Abschnitts der Vergangenheit handelt oder um eine der Vergangenheit korrespondierende Darstellung – das hier angesetzte Objektivitätsmodell, dessen Begriffskern doch in der Korrespondenz von Darstellung und Dargestelltem bestehen soll, scheitere demnach am Multiplizismus historischer Darstellungen.91 Wie kann es aber möglich sein, dass mehrere (potentiell unendlich viele) Narrationen eines historischen Individuums vorgelegt werden können, die alle objektiv sind? Zunächst einmal muss deutlich gesagt werden, dass die ontologische Ebene, das heißt die Ebene der Vorgänge in der Welt von der historischen Betrachtung unabhängig ist. Wie auch immer der Historiker ein Ereignis beschreibt, das Geschehen bleibt, wie es ist. Ontologische Unabhängigkeit ist nun einerseits trivial, andererseits aber auch wieder mit guten Gründen höchst umstritten. Trivial ist sie insofern, als kaum jemand wird bestreiten wollen, dass Ereignisse ablaufen, ohne dass es Beobachter dieser Ereignisse gibt. Die Implosion ferner Sterne, deren Licht wir noch wahrnehmen, oder von denen wir nichts mitbekommen haben, die Erdgeschichte, die von keinem menschlichen Beobachter wahrgenommen wer91
Vgl. Carroll 1998, 42: „But the fact that different events can figure in different stories in no way indicates that the stories are fictional. For this suspicion to counterfeit plausibility, we would have to assume that in order to be nonfictional, there would have to be only one relevant story, perhaps of the sort proposed by speculative philosophers of history, and that each event in it would be significant in one and only one way.“
73 den konnte, ‚geschichtslose‘ Ereignisse des Alltags, von denen kein Historiker je Notiz genommen hat etc. mögen als Beispiele für Ereignisse dienen, denen gemeinhin ihr unabhängiger Verlauf nicht bestritten wird. Doch nun tritt das Problem auf, dass dieses beobachterunabhängige Ereignissubstrat für uns nicht in seiner beobachterunabhängigen Form zugänglich ist. Der Historiker ist, will er Ereignisse beschreiben, darauf zurückgeworfen, sie begrifflich zu fassen, und das bedeutet, Identitätskriterien für Ereignisse aller Art zu entwickeln oder aus dem alltäglichen oder wissenschaftlichen Sprachgebrauch oder aus den Quellen zu übernehmen. Diese Begriffe (und mit ihnen ihre Verwendung in Propositionen und Aussagen) sind derart variabel, dass die Möglichkeiten, historische Ereignisse zu beschreiben enorm (wenn nicht gar: unendlich) zahlreich sind. Das bedeutet jedoch nicht, historische Ereignisse beliebig beschreiben zu können. (Wo die Grenze der Willkür des Historikers liegen, wird noch thematisiert werden.) Dieses Phänomen ist kein spezifisch historisches, sondern zum Beispiel aus der Handlungstheorie bekannt, wo es als Gemeinplatz gelten kann, dass Handlungen den vielfältigsten (dabei aber nicht willkürlichen) Beschreibungen zugänglich sind. Diese historischen Darstellungen können einander ergänzen – wie zum Beispiel die beiden eingangs ‚erzählten‘ Geschichten des Glases oder eine Darstellung einer Schlacht aus strategischer und soldatischer Sicht –, sie können aber auch parallel zueinander verlaufen. Wer eine strukturgeschichtliche Darstellung einer Weltwirtschaftskrise schreibt, kann seine Darstellung nicht unbedingt um eine Darstellung ergänzen, die zum Beispiel die individuellen Fehler einiger Bankmanager als Ursachen einer Weltwirtschaftskrise sieht. Jede der beiden Darstellungen ist von der jeweiligen Perspektive des Historikers abhängig und kann dabei (in gewissem Maß) objektiv sein. Die Perspektive gibt die Möglichkeiten vor, Wahrheitsbedingungen zu identifizieren und Belege in den Quellen zu finden. Sie schließt dabei aber nicht aus, dass es einer späteren Perspektive gelingen kann, einen beide Darstellungen integrierenden Ansatz zu entwickeln. Doch dabei handelt es sich erneut um eine Perspektive, die Darstellungen hervorbringt, die wieder mit den Darstellungen anderer Perspektiven parallel läuft. Aus diesem Grund kann aus zunehmend integrativen Per-
74 spektiven – deren zunehmender Integrationsgrad darüber hinaus erst einmal nachgewiesen werden müsste – auch keine nachträglich Rettung der Konvergenz bzw. Ergänzung historischer Darstellungen erwartet werden. Jede noch so integrative Perspektive ist eben nur eine weitere Perspektive und keine Nicht-Perspektive (ein View from nowhere oder eine Gottesperspektive). Hier stellt sich die Frage, die später noch als Einwand von seiten des positivistischen Objektivismus vorgebracht werden wird, ob damit die Objektivität von Darstellungen nicht relativ wird? In einem gewissen, aber keinesfalls einem epistemologisch beunruhigenden Sinn wird sie tatsächlich relativ – dazu aber später mehr.92 Das Problem narrativer Redeskriptionen kann also – nach Ausschluss des monistischen wie des pluralistischen Ansatzes i. e. S. – darin gesehen werden, dass die narrative Integration historischen Geschehens prinzipiell immer wieder reformuliert werden kann und dass dies abhängig von der Perspektive des Historikers geschieht. Zu dieser Lesart von narrativer Redeskription kann auf verschiedene Weise Stellung genommen werden, mit jeweils unterschiedlichen Konsequenzen für die Frage nach der Vereinbarkeit von Objektivität und narrativer Redeskription. (1) Man kann mit dem Positivismus der Ansicht sein, dass narrative Redeskription ein defizientes Durchgangsstadium der Wissenschaft ist, das durch rigorose Methodenauswahl, strikte Befolgung methodologischer Standards und streng kontrollierte Neutralität des Historikers überwunden werden kann. Die Konkurrenz zwischen historischen Beschreibungen – etwa wenn eine psychologische Deutung der Ursachen des Ersten Weltkrieges in Konkurrenz zu einer ökonomischen Deutung tritt –, die der Positivismus schließlich nicht einfach wegleugnen kann, muss in the long run auflösbar sein. Ein Vertreter des Positivismus müsste sich also dafür aussprechen, dass diese Konkurrenzsituation lediglich vorläufig unauflösbar ist, langfristig aber vom wissenschaftlichen Fortschritt sukzessive aufgelöst wird. Die vorläufige Unauflösbarkeit kann in zwei Varianten von aufsteigender Stärke vertreten werden. (i) Sie kann als im Grunde quellenkriti92
Abs. 4.2.3.
75 scher Optimismus oder aber (ii) als wissenschaftstheoretische Fortschrittsthese vorgebracht werden. (i) Die quellenkritische Variante versucht, den Parallelismus als einen Streit darzustellen, der insofern vorläufig nicht gelöst werden kann, als die Quellengrundlage noch kein ausreichend trittfestes Fundament für eine Entscheidung zwischen parallelen Beschreibungen bietet. Dass die Geschichtsschreibung häufig unter einer ungünstigen epistemischen Situation zu leiden hat, weil die Quellen nicht üppig genug fließen, trifft gewiss zu. Je weiter sie jedoch in der Neuzeit und schließlich der Zeitgeschichte voranschreitet, desto unwahrscheinlicher wird diese milde Variante der vorläufigen Unlösbarkeit, weil hier nicht das Schweigen der Quellen das Problem darstellt, sondern die unüberschaubare Fülle an Dokumenten, Meinungen, biographischen Notizen etc. Es kann also kaum sein, dass die Geschichte nur so lange parallele Darstellungen hervorbringt, wie die Quellen noch schweigen. (ii) Um die wissenschaftstheoretische Fortschrittsthese steht es nicht besser. Ihr liegt das spekulative Modell vom kumulativen Fortschritt der Wissenschaften hin zur letzten Wahrheit zugrunde. Zwar kann diese Variante durchaus zugestehen, dass unterschiedliche Standorte unterschiedliche Lesarten der Quellen mit sich bringen können, und ebenso kann sie zugestehen, dass die Kompatibilität der Standorte die Kompatibilität der Darstellungen nach sich zieht. Sie verweist dann aber darauf, dass die sukzessive Annäherung der Standorte, die Wahrheit in the long run ans Licht bringen wird. Damit jedoch bedient sie sich eines spekulativen Modells kumulativen Wissenschaftsfortschritts. Von parallelen Deutungen der Ursachen des Ersten Weltkrieges zu behaupten, sie würden eines Tages von einer synthetisierenden (oder vielleicht auch eliminativen) Metadeutung abgelöst, die entweder die psychologische mit der ökonomischen Deutung vereinbart oder eine, wenn nicht gar beide eliminiert, kann nur dann einen Sinn ergeben, wenn ein wissenschaftlicher Fortschritt unterstellt wird, der es erlaubt, an eine solche Metadeutung vom Standort einer überlegenen wissenschaftlichen Metatheorie zu glauben. Doch solange ein solcher Standort nicht in Sicht ist, bleibt eine solche Metadeutung rein spekulativ. Und selbst wenn eine Metadeutung vorliegt, bleibt immer noch die Mög-
76 lichkeit, dass auch dieser Metadeutung ihrerseits wieder eine konkurrierende Paralleldeutung erwachsen wird. Letzteres a priori auszuschließen, ist aber rein spekulativ. Doch nicht nur die spekulative, wenn auch populäre Vorstellung von wissenschaftlicher Progredienz hin zu letzter Wahrheit lässt diese Variante wenig attraktiv erscheinen. Die wissenschaftstheoretische Fortschrittsthese unterschätzt den weltanschaulich-existentiellen Aspekt des Standorts. Wie Weber zeigte, ziehen die „Kulturprobleme“, welche die Sicht auf die Geschichte bestimmen, weiter und mit ihnen die wissenschaftlichen Probleme, Fragestellungen und methodischen wie auch begrifflichen Herangehensweisen an die Kulturphänomene. Erst die völlige Stilllegung des steten Wandels der Kulturprobleme könnte diesen Wandel stoppen. Die völlige Stilllegung wäre aber gleichbedeutend mit dem Ende der Geschichte – und damit würde sich diese Auffassung ein hochspekulatives Modell sozio-kultureller Zukunft zunutze machen wollen.93 (2) Eine zweite Stellungnahme – und sie wird es sein, mit der sich der Rest dieses Kapitels beschäftigen wird – wird von Vertretern des postmodernen Narrativismus abgegeben: Die skizzierte Multiplizität historischer Darstellungen weist auf einen fiktionalisierenden Mechanismus hin, der die Korrespondenz zwischen Darstellung und Dargestelltem verhindere. Ausschließlich diese Schlussfolgerung ließe sich ziehen, wenn man ernsthaft von einer Multiplizität ausgehe. Verantwortlich für die Multiplizität und die sie hervorbringende Fiktionalisierung sei die wesentlich narrative Struktur historischer Darstellungen. Denn aus der wesentlich narrativen Form historischer Darstellungen folge, dass historische Narrationen nicht mit der Vergangenheit korrespondieren können, weil Narrativität fiktionale Elemente in den historischen Diskurs einführe und auf diese Weise die genuin multiplistische Situation zustande komme. Nun wurde vom postmodernen Narrativismus gesagt, dass er, im Gegensatz zu anderen Strömungen in der Postmoderne, keinen Anti-Realismus oder Anti-Referentialismus de rigueur, sprich, einen reinen Fiktionalismus vertrete. Damit setzt er sich aber einem epistemologischen Dilemma aus: Einerseits können historische Narrationen keinen Anspruch auf Objektivi93
Dazu in Abschnitt 4.2 mehr.
77 tät/Wahrheit erheben, andererseits jedoch will der postmoderne Narrativismus die Unterscheidung zwischen faktualen und fiktionalen Narrationen nicht preisgeben. Die trickreiche Auflösung dieses Dilemmas besteht darin, ein Zwei-Ebenen-Modell (ZM) einzuführen, in dem die korrespondenzfähigen singulären Tatsachenaussagen von den korrespondenzunfähigen Narrationen separiert werden.94 Um das ZM vertreten zu können, muss die Wahrheit der „singulären Faktenaussagen“ (Ankersmit) für gegeben angesehen, also der faktuale Bezug und die historische Referentialität auf der Ebene der „singulären Faktenaussage“ als gesichert vorausgesetzt werden, während aber gleichzeitig beliebige narrative Redeskriptionen erlaubt sein sollen, weil der wesentlich narrative Charakter der Geschichte dies impliziere.95 Statt nun von einer mehr oder minder gesicherten Kontinuität der Referenzen und der Wahrheitsbedingungen von der Ebene der Einzelaussagen hinauf zur Ebene der Narrationen auszugehen, werden die beiden Ebenen vom postmodernen Narrativismus strikt getrennt. Dabei erlangt die Narrationsebene plötzlich eine neue alethische Eigenschaft (nämlich die, notwendig korrespondenzunfähig zu sein) – gewissermaßen eine ‚Eigenschaftsemergenz‘ auf der Narrationsebene.96 An diesen zentralen Theorieelementen des 94
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96
Das soll natürlich nicht bedeuten, dass ausschließlich der postmoderne Narrativismus diese beiden Ebenen strikt trennt. Es ist vielmehr ein Gemeinplatz, dass eine Faktenebene, die durch die methodische Auswertung der auf uns gekommenen Spuren der Vergangenheit gebildet wird, das Objekt der auf einer ganz anderen Ebene angesiedelten Interpretationsleistung ist (vgl. etwa Bevir 1994 oder McCullagh 2004b). Die besondere Wendung kommt im Fall des postmodernen Narrativismus dadurch zustande, dass die Faktenebene den Interpretationen keine Grenzen mehr setzen kann. Mit ZM wird versucht, ‚das Beste aus zwei Welten‘ zu bekommen. Auf der einen Seite entgehen die postmodernen Narrativisten dem Vorwurf, zwischen historischer Fiktion und „faktographischer“ Historiographie nicht mehr unterscheiden zu können und auf der anderen können sie die postmoderne Kritik an der Verankerung der Sprache in der Welt auf die Ebene der Narrationen transponieren. Von „Emergenz“ soll insofern gesprochen werden, als zwar einerseits eine Abhängigkeitsbeziehung zwischen den Aussagen der Narration und ihr selbst besteht, andererseits jedoch das Ganze qua Ganzes plötzlich qualitativ andere Eigenschaften besitzen soll als seine Bausteine.
78 postmodernen Narrativismus, sc. dem ZM und der Eigenschaftsemergenz historischer Narrationen, muss im folgenden kritisch angesetzt werden. (3) Zunächst sei jedoch die letzte Möglichkeit zur Stellungnahme kurz eingeführt: die konstruktionistische Vereinbarung von Objektivität und narrativer Redeskription. Sie soll zwar erst im letzten Kapitel eingehender skizziert werden, an dieser Stelle soll aber erwähnt werden, dass die konstruktionistische Position sich die Erkenntnis zunutze machen möchte, dass auch die Perspektiven, aus denen Geschichte geschrieben wird, selbst historisch sind. Perspektiven wandeln sich und damit auch die historischen Narrationen. Alte Narrationen werden damit nicht falsch, sondern neue treten an ihre Seite. Sie existieren parallel, weil sie unter verschiedenen Perspektiven geschrieben worden sind. Sie können aber nicht, und insofern handelt es sich um keinen monistischen Ansatz, am Ende aller Zeiten zu der einen vollständigen Darstellung gebündelt werden.
79
2.3 Der postmoderne Narrativismus Der postmoderne Narrativismus optiert dafür, Korrespondenz, Objektivität oder Wahrheit auf einer fundamentalen Faktenebene als unproblematisch vorauszusetzen, während er dagegen auf der narrativen Ebene ebendiese Konzepte ablehnt. Wie aber versucht der postmoderne Narrativismus dieses Zwei-Ebenen-Modell (ZM) und mit ihm die Emergenzthese zu plausibilisieren? Der zentrale argumentative Zug besteht darin, eine Ebene linguistischer Operationen einzuführen, die formalen Bedingungen, unter denen eine historische Narration entsteht, Priorität vor dem in ihr Dargestellten einräumt. In den Worten Ankersmits: „Content is a derivative of style.“97 Das bedeutet genauer, dass bestimmte narrative Operationen vorgenommen werden, die vom ‚Material‘ in keiner Weise bestimmt werden. Das ‚Material‘ wird von ihm externen Operationen zu einem narrativen Ganzen zusammengefügt. Über die Rolle und das Wesen des ‚Materials‘, der ‚Bausteine‘ historischer Narrationen besteht eine recht klare Vorstellung. Das ZM sieht eine Ebene von singulären Faktenaussagen vor, die dazu dienen soll, die Wahrheitsfähigkeit historischer Darstellungen auf der Ebene einzelner, ‚atomarer‘ Aussagen zu verankern. Singuläre historische Aussagen sind wahrheitsfähig, das heißt, sie können mit den in ihnen zum Ausdruck gebrachten Sachverhalten korrespondieren. Weil aber historische Narrationen als Ganzes korrespondenzunfähig sein sollen, ist die alethische Emergenz auf der Narrationsebene für das ZM unerlässlich. Sie ist von zentraler Bedeutung, weil nach Ansicht des postmodernen Narrativismus die Narration als Ganzes nicht in einem Korrespondenzverhältnis zum Dargestellten stehen kann. Historische Narrationen sind aufgrund ihrer Narrativität nicht mehr korrespondenzfähig, ganz im Gegensatz den Bausteinen, aus denen sie gefertigt worden sind. Die Ebene der Narration besitzt daher eine andere, emergente epistemologisch-alethische Eigenschaft als die zur Narration ge97
Ankersmit 1998, 182. „And where style and content can be distinguished from one another, we can even attribute to style priority over content.“ (Ebd.)
80 hörigen Faktenaussagen.
2.3.1 Ankersmits Repräsentationstheorie historischer Narrationen Ankersmits Theorie basiert, analog zu Whites tropologischer Theorie98, darauf, die historische Narration als Ganzes zu betrachten. Das an sich wäre noch kein besonders markanter Zug, doch die Behauptung, historische Narrationen als Ganzes betrachten zu wollen, mündet in die These, dass diese ‚holistische‘ Betrachtungsweise den Blick freigibt auf eine Eigenschaftsemergenz historischer Narrationen. Die sprachliche Repräsentation vergangener Wirklichkeit besitze auf der Ebene der Narrationen eine andere alethische Eigenschaft als auf der Ebene der Einzelaussagen. Ankersmit, wie vor ihm White,99 spricht den historischen Narrationen die 98
99
Ankersmit sieht sich selbst innerhalb des Narrativismus im selben Lager wie White; gleiches gilt für das Schrifttum zum Thema. Ebenso wie White habe er einen „linguistic approach to historical writing“, so die Einschätzung Zammitos (1998, 333). Insbesondere Ankersmits These von der Wahrheitsfähigkeit einzelner Aussagen, aber dem Metapherncharakter der Narrationen sei seine Version der Whiteschen Unterscheidung zwischen Narrationen einerseits und Chronik andererseits (Zammito 1998, 337). Entsprechend behandelt Lorenz 1998b die beiden unter demselben Rubrum: „metaphorical narrativism“ (ebd., 311). Vgl. die Einschätzung Youngs zu Whites Werk: „Im Laufe der Jahre hat Hayden White ausführlich und überzeugend argumentiert, daß historische Texte aufgrund der Tatsache, daß sie den Unwägbarkeiten und der Unbestimmtheit der narrativen, literarischen Metaphorik und den Konventionen der Plotbildung (emplotment) unterworfen sind, keine vollkommen objektive, universell gültige Geschichte begründen können.“ (Ders. 1997, 141) Nach White folge aus dem „tropologischen“ Charakter historischer Narrationen, dass sie irreduzibel fiktionale Elemente besitzen und die „traditionelle Historiographie“ aus diesem Grund zweierlei Arten von Wahrheit kenne: faktische und figürliche (White 1996, 79), ja es sei sogar so, dass jede Geschichte nur in einem metaphorischen Sinn wahr sein könne. Geschichten werden nicht gelebt, sondern nur erfunden. (White 1996, 78). Damit greift White den später zu behandelnden ‚positivistischen‘ Narrativismus
81 Korrespondenzfähigkeit ab, die einzelne historische Aussagen aber besitzen. Ankersmit führt jedoch andere Argumente als White dafür an, dass Narrationen nicht objektiv bzw. wahr sein können. Sie seien intensionale und daher opake sprachliche Kontexte, die als solche nicht wahrheitswertfähig seien. Sie stünden einzig mit anderen sprachlichen Gebilden in Beziehung, nicht aber mit der Vergangenheit, die sie abzubilden vorgäben. Seine Theorie läuft darauf hinaus, die Geschichtswissenschaft als Wissenschaft zu verabschieden und sie der Literatur zuzuweisen100 bzw. der Ästhetik und an, der im Kern davon ausgeht, dass Historiker in der Welt vorhandene narrative Strukturen nachzuvollziehen haben, um wahre Narrationen zu erhalten. Whites Argumentation geht davon aus, dass eine Abbildung von realen narrativen Strukturen in der Welt nicht möglich ist, weil es keine narrativen Strukturen in der Welt gibt. Weil aber eine solche Abbildung nicht möglich sei, scheitere Korrespondenz und damit Wahrheit/Objektivität schlechthin. An dieser Stelle wird deutlich, dass White eine im Grunde simplifizierende Korrespondenzauffassung vertritt, um seine Argumentation stützen zu können. Vgl. Carroll 1998, 44-48. „[..] White [...] wants to confront them [sc. the practising historians ] with a dilemma. Either historical narratives are copies in the relevant sense [sc. perfect pictorial replicas] or they are fictional. [...] The notion that only copies in the mirror sense would not be fictional presupposes something like a narrowly empiricist, correspondence criterion of truth.“ (Ebd., 44) Vgl. auch Lorenz 1998b, 314. Auf der Ebene der Narrationen bleibt Whites Theorie im Zusammenhang mit der Frage nach dem Grad an Fiktionalität historischer Narrationen aber letztlich unklar. Er äußert sich zur Frage, ob Erzählungen einen Wahrheitsanspruch erheben können oder ob dies prinzipiell ausgeschlossen ist, nicht einheitlich. Einmal lässt sich lesen, historische Narrationen seien sehr wohl wahr (im Gegensatz zu literarischen oder mythischen Narrationen) (White 1996, 93-95). Dann allerdings finden sich wieder Stellen, die diese Aussagen insofern relativieren, als Narrationen nur wahr seien, wie Allegorien oder Metaphern wahr sein können, das heißt, in dem Sinn, in dem Literatur ‚Erkenntnis‘ vermittle (White 1987, 75, 84; vgl. Carroll 1998, 35). Wie White letztlich den Wahrheitsgehalt historischer Narrationen beurteilt, bleibt in der Schwebe, wenn auch die Tendenz in Richtung Fiktionalisierung historischer Narrationen geht. Zu seiner Theorie der Tropen vgl. White 1991, dort insbesondere 19-21 und 49-51, aber auch 1986c, 89-95. 100 „Art and history can therefore be contrasted with science.“ Ankersmit 1998, 183 (Herv. J. K.) und 1994b, 102 f., wo eine Abgrenzung zwischen Wissenschaft auf der einen Seite und „Repräsentation“ auf der anderen vorgenommen wird. Zur
82 Kunst anzunähern101. Ankersmit argumentiert, dass sich historische Darstellungen ebenso wie Literatur verhalten, weil in ihr die sprachliche Form mindestens ebenso maßgeblich sei wie der Inhalt. Es bestehe eine Analogie zwischen intensionalen Kontexten und historischen und literarischen Darstellungen. Intensionale Kontexte (etwa propositionale Einstellungen) zeichneten sich dadurch aus, dass die Wahrheit der Aussagen, in denen sie vorkommen, von der Form gleichermaßen abhängig sei wie vom Inhalt. Historische Narrationen besäßen eine intensionale Dimension und seien „opak“, das heißt, sie verweisen nicht referentiell auf eine Realität hinter ihnen.102 Wenn sie aber „opak“ sind und damit nicht referentiell auf die Vergangenheit verweisen, in welcher Beziehung stehen sie dann qua historische Narrationen zu dieser Vergangenheit?Historische Darstellungen seien, so Ankersmit, Repräsentationen („representations”), die die Aufgabe erfüllen, einen Ersatz für einen Gegenstand zu finden, der nicht mehr präsent ist, in diesem Fall einen Ersatz für die Vergangenheit.103 Die Repräsentation substituiere einen Gegenstand durch einen anderen Gegenstand.104 Eine Reprä-
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Repräsentation (sensu Anskermits) gehören Geschichtsschreibung und Kunst. Dabei muss betont werden, dass damit nicht gemeint ist, dass die Differenz zwischen faktualen und fiktionalen Erzählungen aufgehoben wird. Historiographie mag für den postmodernen Narrativismus in vielen maßgeblichen Zügen der Literatur angenähert sein – rein fiktional ist sie nicht. Ankersmit 2001, 84-87 und passim. „Because of its intensional nature, the literary text has a certain opacity, a capacity to attract attention to itself, instead of drawing attention to a fictious or historical reality behind the text. And this is a feature which the literary text shares with historiography; for the nature of the view of the past presented in an historical work is defined exactly by the language used by the historian in his or her historical work. Because of the relation between the historical view and the language used by the historian in order to express his view – a relation which nowhere intersects the domain of the past – historiography possesses the same opacity and intensional dimension as art.“ (Ankersmit 1998, 183) „In this sense it can be said that we have historical writing in order to compensate for the absence of the past itself.“ (Ankersmit 2001) Ankersmit stützt sich bei der Ausarbeitung dieses Gedankens (in Ankersmit 1994b) auf Dantos kunstphilosophische Substitutionstheorie (110, 112 ff.).
83 sentation sei ein Gegenstand ebenso wie ein Stuhl ein Gegenstand sei, nur eben ein Gegenstand bestehend aus Sprache.105 Diese eigentümliche, reifizierende Einführung (historischer) Repräsentation wird von Ankersmit erläutert, indem er auf die Analogie zur Kunst rekurriert. Kunstgegenstände und historische Narrationen (wohlgemerkt: nicht einzelne Aussagen über die Vergangenheit) seien Repräsentationen im prägnanten Sinn und daher über weite Strecken analog zu behandeln, weil, nach Ankersmit, Epistemologie und Interpretation voraussetzten, dass die Vergangenheit selbst eine Bedeutung habe, die unverzerrt abgespiegelt werden solle, tatsächlich aber die Vergangenheit keine Bedeutung besitze. Bedeutung habe erst die Repräsentation der Vergangenheit, und aus diesem Grund müsse vom hermeneutisch-epistemologischen Denken abgegangen und zum Denken in den Kategorien der Repräsentation übergegangen werden.106 Das bedeutet also, dass eine epistemologische Auseinandersetzung, sprich, die Frage nach dem Wahrheits- und Erkenntniswert, einer historischen Darstellung sinnlos ist, weil eine Repräsentation im Sinne Ankersmits ein Gegenstand ist, der nicht mehr auf die Vergangenheit in einem referentiellen Sinn verweise. Der Gegenstand der Repräsentation (im Falle der Kunst: das Kunstwerk) repräsentiere, indem ihm, einem „dummy“ gleich, Attribute zugeschrieben werden.107 Für die historische Narration gelte nun, dass sie nichts anderes sei, als die Zuschreibung von Eigenschaften an einen „logical dummy“, der 105 Ankersmit 2001, 12 f. 106 Ankersmit 1994b, 102 f. 107 Ankersmit 1994b, 110. Die Begründung dafür besteht darin, dass wir von jedem beliebigen Gegenstand behaupten können, er repräsentiere jeden beliebigen Gegenstand oder Sachverhalt in der Welt. Um eine Repräsentation von Napoleon zu bekommen, hätte Mme. Tussaud nicht unbedingt einen Gummi-Dummy gebraucht, eine Plakette mit der Aufschrift „Napoleon“ hätte diesen auch repräsentieren können; ein Pferd könne ebenso gut von einem Holzpferd wie von einem schlichten Stock repräsentiert werden. Dass es sich dabei um keinen Konventionalismus handle – was die naheliegende Lösung für dieses Problem ist und auch, laut Ankersmit, von Goodman vorgeschlagen worden sei – liege daran, dass es ein „sophisticated way of saying nothing“ sei, sich Konvention als das Wesen der Repräsentation vorzustellen (109).
84 keine andere Funktion habe als die des Aufhängers, eben eines „dummys“.108 Die (atomaren) Aussagen hätten neben ihrer deskriptiven Funktion, die darin bestünde, Sachverhalte in der Vergangenheit zu beschreiben, eine definitorische Funktion. Sie definierten in ihrer Summe einen logischen Dummy: die narrative Substanz („narrative substance“). Die Menge aller Aussagen einer historischen Narration verkörperten („embody“) damit die Repräsentation der Vergangenheit. Formal dargestellt erhalten wir, nach Ankersmit, damit einen Satz der Form „N1 ist P“, wobei N1 auf eine narrative Substanz referiert und P die Eigenschaft von N1 bezeichnet, die Aussage p zu enthalten. N1 sei damit der Name einer Menge („set“) von historischen Aussagen.109 Eine historische Narration ist diese Menge von Aussagen (p1, p2,... pn) und damit ist sie eine Definition einer narrativen Substanz, die eine Bezeichnung wie „die Französischen Revolution“ oder „die Renaissance“ erhält. Eine Repräsentation, also in diesem Fall: die narrative Substanz (i. e. die Menge der Aussagen p1, p2,... pn) stehe im Gegensatz zu einer Beschreibung („description”), weil die Beschreibung einen Gegenstandsbezug besitze, der sich erhalte, wenn man über die Beschreibung spricht, wohingegen Repräsentationen opak seien, der Gegenstandsbezug der einzelnen 108 „The dummy is a mere device to which these attributes [die des realen wie des Wachs-Napoleons bei Mme. Tussaud in Ankersmits Beispiel] can be attached.“ Und weiter: „To use the language of the statement, in representation all emphasis is on the predicate, while the subject-term is a mere logical dummy that has no other function than to serve as a point d'appui for the predicates in question. And since only the subject-term in statements has the capacity to refer, we have good reasons to believe Goodman incorrect when he states that denotation is the essence of representation.“ (Ankersmit 1994b, 110.) 109 Ankersmit 1994b, 113 f. Diese Theorie hat er in Ankersmit 1983 entwickelt. Dort hat er darauf verwiesen, dass aufgrund des definitorischen Charakters der Beziehung zwischen der Menge der Aussagen und der narrativen Substanz der Versuch sinnlos sei, die Beziehung zwischen Narration und Vergangenheit als eine der Korrespondenz zwischen Sprache und sprachlich ausgedrückter Weltbeschreibung aufzufassen – die Beziehung sei vielmehr die der analytischen Wahrheit (vgl. Ankersmit 1983, Kap. 5). Zur analytischen Wahrheit als Beziehung zwischen der Menge der Aussagen und der narrativen Substanz vgl. ders. 1994b, 115.
85 Aussagen in der Narration als Ganzer sich also auflöse.110 Wir wüssten, wie man die Wahrheit von Beschreibungen feststellt und zwar indem wir „nachsehen“, ob die prädizierte Eigenschaft auch wirklich dem „subjectterm“ zukomme. Dieses Bild trifft jedoch nicht auf Repräsentationen zu, weil Repräsentationen auf nichts referieren (im prägnanten semantischen Sinn), weil Dinge auf nichts in der Realität referierten. Wir können also nicht die Übereinstimmung von Sprache mit Realität überprüfen.111 Obwohl die Repräsentation nicht referiere, gebe es dennoch eine Beziehung zwischen Repräsentiertem und Repräsentation: „aboutness“. Sie habe jedoch nichts mit Referenz oder anderen gängigen epistemologischen oder semantischen Konzeptionen zu tun: „[...] aboutness is [...] a relationship between things, and therefore all the instruments developed by epistemology will be of no avail to us in order to clarify the nature of this relationship ‚aboutness‘ or what reason we may have for preferring one representation to another.“112 Wir können aber dennoch „rational“ zwischen historischen Repräsentationen wählen, weil sie metaphorisch seien113 und wir die „relative merits“ von unterschiedlichen Metaphern diskutieren können. Wir können diese Diskussion jedoch nicht anhand von Kriterien führen, die den Metaphern ‚extern‘ (sprich: „traditionelle epistemologische Konzeptionen”) sind, sondern nur, indem wir die Erklärungsreichweite der Metaphern untereinander vergleichen. In diesem Sinn könnten wir Metaphern, also historische Dar110 „True descriptions are [...] transparent from the perspective of the statements that are made about them and they are so because the reference of the subject-term is maintained in the transition from the statement itself to the statement that is made about it. Narrative language, language that is used for the expressing of a representation, is, on the other hand, opaque.“ (Ankersmit 2001, 13) 111 Beschreibung falle in das Gebiet der Epistemologie, Repräsentation dagegen nicht. „Epistemology ties words to things, whereas representation ties things to things.“ (Ankersmit 2001, 82) 112 Ankersmit 2001, 13. 113 Eine besondere Art der Metapher: „Theorists (such as Haydn White) sometimes say that historical writing is metaphorical, but they then appear to restrict the activity of metaphor only to the text, to the level of the representation. Actually, however, the scope of metaphor in historical writing comprises both the past and its representation.“ (Ankersmit 2001, 14.)
86 stellungen, erst dann endgültig bewerten (prädiziert werden kann dann: „plausibel“), wenn alle Metaphern auf dem Tisch liegen. 114 Oder anders formuliert: Die Repräsentationen eines Ereignisses sind wahr – analytisch wahr –, weil die Repräsentationen nur das ausformulieren, was in der „Definition” des Untersuchungsgegenstandes bereits enthalten sei. Finde eine Debatte statt, dann nicht um die Wahrheit der Darstellungen, was sinnlos wäre, weil Darstellungen analytisch wahr sind, sondern um die Definitionen der Untersuchungsgegenstände. (Daher tendiere die Geschichtswissenschaft auch nicht in Richtung einer Vereinheitlichung der Darstellungen, sondern hin zu einer Diversifizierung der Darstellungen.) Hier entscheidet die Reichweite („scope“) der Definition (der Metapher), also wie viele „Aspekte“ mit Bedeutung versehen werden können.115 Bewertet werde die Reichweite der Narrationen.116 Trotz des Repräsentationscharakters historischer Narrationen sei daher eine rationale Diskussion möglich, es gebe immer noch einen „logical space”, in dem die Diskussion stattfinden könne, nur müsse man erkennen, dass man nicht über die Realität, sondern über Sprache/Sprachgebilde („speaking about speaking”) spreche. Ankersmit konstatiert resümierend: „[T]he best historical representation is the most original one, the least conventional one, but one that is least likely to be true – and that yet cannot be refuted on the basis of existing historical evidence“.117 Die Fußangeln dieses Vorschlags sind offenkundig. Wenn es einzig darauf ankommt, eine möglichst innovative und weitreichende Narration zu entwickeln, dann ist gerade die absurdeste Narration die ‚wertvollste‘ (solange sie nicht gegen elementare Gesetze der Logik verstößt). Um eine solche Schlussfolgerung aber zu vermeiden, muss Ankersmit ein Korrektiv in seine Theorie einbauen, denn trotz der Ansippung der Geschichtstheorie an Ästhetik und der Geschichtsschreibung an Kunst, handelt es sich bei historischen Narrationen nicht um Fiktionen. Er ist also darauf angewiesen, eine 114 Ankersmit 2001, 16. 115 Ankersmit 2001, 38 f. „Truth is not decisive here, but the question of what definition of the Renaissance is most successful in meaningfully interrelating as many different aspects of the period in question.“ 116 Ankersmit 2001, 96 f. 117 Ankersmit 2001, 22.
87 Faktenebene zu postulieren, auf der Referenz und traditionelle Epistemologie noch einwandfrei funktionieren.118 Die historische Narration (die „representation“) referiere auf nichts, sondern handle von etwas („being about”): „Though both descriptions and representations stand in a relationship with reality, a description will be said to refer to reality (by means of its subject-term), whereas a representation (as a whole) will be said to be about reality. And where ‚reference‘ is fixed objectively, that is, by an object in reality denoted by the subject-term of the description, ‚being about‘ is essentially unstable and unfixed because it is differently defined by the descriptions contained by the text of each representation.”119 Einzelne (‚atomare‘) Aussagen dagegen besitzen dagegen die traditionellen epistemologischen und logisch-semantischen Eigenschaften:120 „In the individual 118 Dass es sich bei all dem um keine einseitige Überzeichnung der Ankesmitschen Repräsentationstheorie handelt, zeigt ihre sympathisierende Darstellung durch Goertz (2001, Kapitel II), die praktisch identisch mit der hier vorliegenden ist. 119 Ankersmit 2001, 41 (Herv. J.K.). 120 An dieser Stelle wird das ZM deutlich. Vgl. Whites Theorie, die ein gegebenes Faktensubstrat, aus dem auf unbestimmte Weise die „Chronik“ hervorgeht oder das vielleicht sogar mit ihr identisch ist, annimmt, und das in Abhängigkeit vom Tropus weiteren Operationen – hier allen voran: das emplotment, also die Darstellung nach einer der vier Erzählstrategien: Satire, Komödie, Tragödie oder Romanze – unterliegt, die aus einer bloßen Chronik erst eine Narration machen. Man hat es auch hier mit dem oben konstatierten argumentativen Manöver des postmodernen Narrativismus zu tun, das darin besteht, eine Ebene vorgefundener ‚Fakten‘ strikt von der Ebene ihrer narrativen Integration abzugrenzen. In diesem Sinn konstatiert Kantsteiner für den späteren White: „White himself now regards language as ‚simply another among those things that populate the human world, but no more specifically a sign system, that is, a code bearing no necessary, or ‚motivated,‘ relation to that which it signifies.‘ On the other hand, he proposes a definition of the historical fact which establishes a marginal but well defined space for the procedures of factual evidence. Through this move White can combine two seemingly contradictory steps. On the level of narrative structure he undercuts any traditional epistemology. The selection and development of the representational code is in principle an arbitrary decision independent of the primary material at hand and in practice immediately dependent on the social context of text production. On the level of factual representation he integrates but at the same time marginalizes the concern of the historians for independent epistemolo-
88 descriptive statements of a representation, reference is made to past events, and so on; a representation, as a whole, ‚is about‘ part of a specific past reality. But ‚being about‘ must be distinguished from ‚reference‘ [...].“121 Atomare Aussagen verankern damit die Narration in der Vergangenheit, obwohl sich ihre alethisch-epistemologischen Eigenschaften durch ihre narrative Integration drastisch ändern.
2.3.2 Kritik an Ankersmits Repräsentationstheorie Hier soll zwar keine Detailkritik an Ankersmits Theorie geübt werden, dennoch sei auf ein paar Kritikpunkte hingewiesen. Ankersmits Theorie lässt das Tagesgeschäft des Historikers, das zu einem gut Teil darin besteht, die konkurrierenden Narrationen anderer Historiker zu kritisieren, wie aus einem „falschen Bewusstsein“ hervorgewachsen erscheinen. Es mag durchaus zutreffen, dass sich Historiker über die Definition eines historischen Individuums streiten, und es mag ebenfalls der Fall sein, dass die Entscheidung über diese Definition von entscheidender Bedeutung für die Narrationen sind, fraglich bleibt aber, ob dies alles ist, was Historiker tun. Sie selbst zumindest scheinen manche Narrationen zu verwerfen, weil sie mit der Vergangenheit nicht übereinstimmen – sollte es sich bei einer solchen Sichtweise um nichts anderes als „falsches Bewusstsein“ oder eine epistemologische ‚Verblendung‘ handeln?122 Weiter ist die Brauchbarkeit seines Kriteriums rationaler Bevorzugung gical categories according to which the factual accuracy of any given account can be measured.“ Und: „On the level of the single event/fact White retains an element of positivist stability which stands in contrast to the epistemological arbitrariness that he posits on a second level, the level of conceptual framework of the historical writing.“ (Ders. 1993, 281 und 284) 121 Ankersmit 2001, 48. 122 Vgl. Lorenz 1998b, 323: „If historical narratives would just represent different and closed linguistic universes and not empirically justifiable truth-claims, the fact of historical debate would remain incomprehensible.“
89 verschiedener Narrationen recht fragwürdig. Ankersmit möchte trotz seiner Tendenz zur Ästhetisierung oder Fiktionalisierung der Geschichtsschreibung die Auswahl zwischen den vorgeschlagenen Narrationen nicht einfach dem subjektiven ästhetischen Empfinden überlassen. Es soll immer noch eine rationale Bevorzugung möglich sein, was nur bedeuten kann, Gründe für die Bevorzugung angeben zu können, die über rein subjektive Geschmacksurteile hinausgehen. Sein Vorschlag für ein Bevorzugungskriterium ist die Reichweite („scope“) der Narrationen. Die Reichweite ist eine quantitative Eigenschaft der Narration. (Es sei an dieser Stelle einmal angenommen, dass sich erstens Klarheit darüber schaffen lässt, was die ominösen „Aspekte“ Ankersmits denn eigentlich sind, und zweitens dass sie sich sinnvoll quantifizieren lassen.) Ein kritischer Leser hat aber nach Ankersmits Theorie nur die eine Möglichkeit Narrationen zu bewerten, nämlich sie komparativ zu evaluieren, das heißt, einer von mehreren den Vorzug zu geben und dies nach quantitativen Maßstäben (mit der Vergangenheit vergleichen, kann er sie ex hypothesi ja nicht). Das aber kann kaum dem gerecht werden, worin historische Debatten bestehen. Vielmehr sollte ein Kriterium vorhanden sein, das es erlaubt, historische Narrationen auch ohne den quantitativen Vergleich zwischen zwei Narrationen, rational zu akzeptieren oder abzulehnen. Denn es könnte sich ja immer noch in beiden (oder allen) Fällen schlicht um falsche Narrationen handeln. Genau diese simple Aussage zu machen, ist dem Leser aber verwehrt. Er könnte lediglich eine der beiden (eine von allen) zurückweisen, nicht jedoch beide (alle). Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob Ankersmits Theorie nicht zu wenig restriktiv ist, wenn es darum geht, wissenschaftliche Narrationen von unwissenschaftlichen zu unterscheiden. Ankersmit erlegt historischen Narrationen im Grunde nur die eine Restriktion auf, ausschließlich wahre Aussagen zu enthalten. Aber eine Auflistung wahrer Aussagen ist noch keine Narration. Ankersmits „narrative Substanzen“ bleiben narrativ unterbestimmt. Er übersieht die zentrale Rolle „interaktioneller Zusammenhänge“ zwischen den einzelnen Ereignissen und den verschiedenen „Sub-Narrationen“ einer historischen Narration. Er übersieht also die narrative Mikrostruktur, die die beliebige narrative Restrukturierung wahrer Aussagen
90 verhindert.123 Dabei handelt es sich aber nicht bloß um eine Nachlässigkeit Ankersmits, sondern um eine Lücke in der postmodern-narrativistischen Theorie schlechthin. Mit dieser Kritik soll nicht angedeutet werden, dass Ankersmit eine These vertreten sollte, die besagt, dass historische Narrationen lediglich die narrative Strukturierung der Welt aufzeichnen sollten (eine Form des narrativistischen Positivismus, wie er etwa von Carr124 vertreten wird). Vielmehr muss er sich, wenn er ein Faktensubstrat postuliert, das erst zu einer Narration aufgewertet wird, für eines von zwei Hörnern eines Dilemmas entscheiden: Entweder er führt eine ideale Chronik nach Danto ein, das heißt einen Chronisten, der über einen minimalen Wortschatz verfügt, durch den die Chronik aber praktisch unbrauchbar wird. Oder er erkennt an, dass er, im Augenblick der Konstruktion eines Faktensubstrats, das ja chronikalisch geordnet sein muss, bereits bestimmte epistemische Verpflichtungen übernommen hat; Verpflichtungen, die aus der Wahl bestimmter Aussagen, bestimmter Begriffe und bestimmter relationaler und intrinsischer Eigenschaften der ‚Gegenstände‘ der Chronik herrühren und welche die Möglichkeiten dessen beschränken, was narrativ überhaupt repräsentiert werden kann – und zwar im Falle der Nichtbeachtung dieser epistemischen Verpflichtung bei Strafe der Irrationalität durch Inkonsistenz. Entscheidet er sich dafür, das erste Horn zu wählen, dann hat er sich dafür entschieden, die Chronik von allen Proto-, Mini- oder Subnarrationen zu reinigen. Ebenso müssen alle narrativen Sätze aus seiner Chronik entfernt werden und mit ihnen auch alle Kausalaussagen. Ankersmit muss, mit anderen Worten, auf Dantos Gedankenexperiment der idealen Chronik zurückgreifen.125 Ja, er muss sogar darüber hinaus gehen, weil er „vergangen123 Zu den Begriffen „narrative Mikrostruktur“, „interaktioneller Zusammenhang“ und „Sub-Narration“ vgl. das anschließende Kapitel. 124 Vgl. unten Abschnitt 4.3. 125 Danto 1980, 241-247. Der ideale Chronist wird von Danto mit der Gabe ausgestattet, alles zu wissen und niederschreiben zu können, was in einem historischen Augenblick geschieht. Der ideale Chronist ist ein omniszienter Augenzeuge allen historischen Geschehens. Was er aber nicht hat, ist der retrospektive Blick auf die Vergangenheit, die bis zum jeweils gegenwärtigen Zeitpunkt Zukunft war. Und gerade dies hindert ihn daran, ein Historiker zu sein, sprich, genuin historische
91 heitsbezogene Begriffe“126 nicht benutzen darf. Die Verwendung von erzählenden Sätzen, von Kausalaussagen, von vergangenheitsbezogenen Begriffen sind dem postmodernen Narrativisten – entscheidet sie sich für das erste Horn des Dilemmas – verwehrt, weil die narrative Integration nach der postmodern-narrativistischen Theorie die narrative Struktur der Chronik erst generiert. Genau durch solche Begriffe, Sätze, Aussagen und Erklärungsformen, sind aber bereits narrative Strukturen vorgegeben, die in einer Geschichte vielleicht unerwähnt bleiben können oder in diverse narrative Abfolgen gestellt werden können, die aber nichtsdestotrotz in dem Augenblick vorhanden sind, in dem der Erzähler sich für bestimmte Begriffe, Beschreibungsebenen, Erklärungsformen o. ä. entschieden hat. Will der postmoderne Narrativist sich aber nicht von diesen narrativen Strukturen in der beliebigen Restrukturierung einschränken lassen, dann muss er auf Bausteine für seine Narrationen zurückgreifen, wie sie der Dantosche ideale Chronist liefert. Dann aber bleibt ihm nur noch eine derart an sprachlichem und damit repräsentationalem Gehalt verkümmerte Chronik, die kaum noch als Faktensubstrat für die narrative Integration dienen könnte. Aussagen bilden zu können. Denn erst die Kenntnis der Vergangenheit als, mit Koselleck gesprochen, „vergangener Zukunft“ der Akteure ermöglicht es dem Historiker, genuin historische Aussagen zu machen. So allwissend der ideale Chronist im synchronen Querschnitt durch die Zeit sein mag, so wenig kann er am 1. September 1939 um 4.45 Uhr die Aussage ausgesprochen haben „Jetzt, am 1. September 1939 um 4.45 Uhr, beginnt der Zweite Weltkrieg“. Es stehen ihm keine „erzählenden Sätze“ zur Verfügung; Sätze, in denen auf ein Ereignis Bezug genommen wird, indem logisch ein diesem Ereignis zukünftiges Ereignis (eine Entwicklung, ein Zustand o. ä.) impliziert ist. Kausalaussagen sind ein Spezialfall erzählender Sätze, denn ein Ereignis als Ursache eines anderen Ereignisses zu bezeichnen, impliziere, dass das andere (zukünftige) Ereignis stattgefunden hat (ebd., 253 f.). Zu den erzählenden Sätzen vgl. ebd., Kap. VIII. 126 „Vergangenheitsbezogene Begriffe“ sind Begriffe, deren „richtige Anwendung auf ein gegenwärtiges Objekt oder Ereignis logisch eine Beziehung zu irgendeinem zeitlich früheren Objekt oder Ereignis einschließt, das in einem kausalen Verhältnis zu dem Objekt stehen kann oder auch nicht, auf welches der Begriff zur Anwendung kommt“ (Danto 1980, 121). Beispiele wären „Vater“ oder „Narbe“.
92 Entscheidet er sich dagegen für das andere Horn des Dilemmas, wird Ankersmits Theorie nicht eben plausibler. Erkennt er an, dass selbst eine chronikale Aneinanderreihung bereits auf narrative Elemente zurückgreifen muss, dann verliert die narrative Integration ihre prominente Stellung. Denn nun wird ihr Einfluss insofern beschränkt, als die narrative Redeskription bereits darin größtenteils festgelegt ist, wie die Ereignisse propositionalisiert worden sind, das heißt, in die Form chronikaler Tatsachenreihen gebracht wurden. Egal für welches der beiden Hörner man sich also entscheidet, wird man nicht umhin kommen, anzuerkennen, dass Ankersmits Theorie revisionsbedürftig ist. Denn wer sich für das erste Horn entscheidet, besitzt zwar ein (für analytische Zwecke) plausibles Modell dafür, was eine Chronik sein kann, hat damit aber gleichzeitig das Substrat der Narrationen von jeglichem narrativen Elementen bereinigt, was ihn dazu zwingt, allein die narrative Integration die narrativen Zusammenhänge herstellen lassen zu müssen. Welche zusätzlichen inhaltlichen Elemente kann die narrative Integration aber noch beisteuern, wenn das Faktensubstrat von allen narrativen Elementen (erzählenden Begriffen, narrativen Aussagen oder gar Sub-Narrationen) frei gehalten wird? Entscheidet er sich für das zweite Horn reduziert sich die Rolle der narrativen Integration auf die einer bloß zusätzlichen, vielleicht nur stilistisch-rhetorischen Technik. Dann aber scheint der enorme Anspruch, eine völlig andere Form von sprachlichem Gebilde, sc. eine opake Repräsentation, vor sich zu haben, überzogen. Entweder also lässt der postmoderne Narrativist die narrative Integration allein auf der narrativen Ebene stattfinden, was dann dazu führt, dass er auf der Ebene vermeintlich atomarer Faktenbausteine jegliche Zusammenhänge abstreiten muss, auf die bei der weiteren narrativen Integration Rücksicht genommen werden muss, will der Historiker nicht sich selbst widersprechen und als irrational erscheinen – was dann dazu führt, dass er erklären müsste, woher die narrativen Zusammenhänge kommen, wenn sie sich nicht Stufe um Stufe von einzelnen Begriffen über kleinteilige Zusammenhänge zwischen zwei Ereignissen bis hin zu ganzen Narrationen, die ihrerseits wieder Bestandteil der übergeordneten Narration sind, aufeinander aufbauen. Das aber kann er nicht. Oder aber er müsste diese Zusammen-
93 hänge anerkennen, was jedoch dazu führte, dass nun überhaupt nicht mehr klar wäre, wie der Anspruch auf eine sprachliche Kategorie sui generis theoretisch eingelöst werden könnte. Der Faktenebene wird keine Eigenständigkeit zugesprochen,127 weil Fakten nur dann einen Sinn ergeben, wenn sie narrativ integriert werden. Die grundlegende Schwierigkeit ist damit angesprochen: Der postmoderne Narrativismus übersieht, dass Chronik (oder: das Faktensubstrat) und Narration nicht zwei getrennte Ebenen sondern Extrempunkte eines Kontinuums sind (so dass die Rede von einer Faktenebene im Grunde sinnlos ist, es sei denn, ein Gedankenkonstrukt wie die Dantosche ideale Chronik ist damit gemeint). Ankersmits Version der Emergenzthese ist fundiert im vermeintlich opaken Charakter historischer Narrationen, die ihnen als Repräsentationen notwendig zukomme. Dass historische Narrationen sprachliche Gegenstände sind, die nicht auf die Vergangenheit referieren, sondern lediglich auf andere sprachliche Gegenstände verweisen und zur Vergangenheit in einem Verhältnis sui generis („aboutness“) stehen, dürfte an sehr tief in der Alltagssprache verankerten Intuitionen scheitern. Was dafür sprechen könnte, ist die argumentative Grundstruktur, die sich auch bei White finden lässt: Objektivität kann nur dann vorliegen, wenn eine strikte Form der Korrespondenz vorliegt. Da aber historische Darstellungen Narrationen sind, können sie nicht dieselbe strikte Korrespondenzrelation von der Aussagenebene auf die Narrationsebene übertragen. Ankersmit formt diese Grundfigur über seinen Versuch aus, historische Narrationen als „opak“ darzustellen. Es ist aber fraglich, ob Ankersmits Repräsentationstheorie wirklich den „opaken“ Charakter historischer Narrationen ausreichend belegt. Dass historische Narrationen keine rein wahrheitsfunktionalen Diskurse sind, kann kaum bestritten werden. Aussagen behalten ihren Wahrheitsgehalt in einem Diskurs (i. e. in einem zusammenhängenden sprachlichen Gebilde, das mehr als eine Aussage umfasst) nicht ausschließlich über die Wahrheits127 Vgl. Ricœurs Urteil über Whites Auffassung vom Verhältnis zwischen Fakten und ihrer narrativ-tropologischen Integration: „Als Präfiguration des historischen Feldes entzieht die tropologische Formgebung der Idee einer mit eigenen Strukturen versehenen Vergangenheit jede eigenständige Berechtigung.“ (Ders., 1996, 119)
94 funktionalität logischer Operatoren. Nur durch sie könnte, nach strikten aussagenlogischen Standards, Korrespondenz zwischen Aussagen und Tatsachen auf eine diskursive Ebene gehoben werden. Nun sind historische Narrationen offensichtlich keine rein wahrheitsfunktionalen Diskurse. Doch weder ist dies eine Folge des vermeintlichen Repräsentationscharakters von historischen Narrationen, noch kann dieser Repräsentationscharakter aus der vermeintlichen Opakheit geschlossen werden. Der Grund für beides besteht schlicht im intensionalen Charakter natürlicher Sprachen. Die Opakheit historischer Narrationen ist nicht in einem besonderen, ästhetisierenden Repräsentationscharakter historischer Narrationen begründet, sondern vielmehr in ihrem Charakter als Teil der Alltagssprache. Und aus der Opakheit historischer Narrationen, gesteht man sie um des Arguments willen einmal zu, folgt keineswegs der Repräsentationscharakter historischer Narrationen, weil damit sämtliche natürlichen Sprachen ebenfalls Repräsentationen im Sinne Ankersmits werden würden. Wollte Ankersmit aber auf seinem Standpunkt beharren – was er tun muss, will er an der postmodernen Verabschiedung von Objektivität festhalten –, dann müsste er zeigen, wie Opakheit und Repräsentationscharakter sich ausschließlich auf historische Diskurse beschränken ließen. Aber lässt man Ankersmits massiv voraussetzungsreiche Repräsentationstheorie beiseite, drängt sich die Frage auf, was aus der Opakheit historischer Narrationen für die Wahrheitsfähigkeit von historischen Diskursen folgen soll? Die Tatsache, dass bestimmte sprachliche Gebilde intensionale Kontexte sind, verhindert nicht, dass sie wahrheitsfähig sind. Es werden lediglich einige logisch-semantische Operationen (etwa Quantifikation in einen intensionalen Kontext) unmöglich oder erschwert. Wahr oder falsch können auch Aussagen sein, in denen intensionale Kontexte vorkommen. Um ein Standardbeispiel (das auch Ankersmit zur Illustration benutzt) aufzugreifen: „X intendiert p“. Die Aussage kann wahr oder falsch sein. Der Wahrheitswert ist nur nicht für jede beliebige logisch äquivalente Ersetzung von „p“ festgelegt. Dabei handelt es sich gewiss um eine große Herausforderung für die formale Logik, für den Alltagsgebrauch jedoch stellen sich hier in erster Linie epistemische Probleme. (Wie können propo-
95 sitionale Einstellungen oder mentale Zustände überhaupt überprüft werden?) Historische Narrationen als opake/intensionale Gebilde zu betrachten, bedeutet damit lediglich, die große Herausforderung, vor die sich die Logik und logizistische Wissenschaftstheorien gestellt sehen, weil sie versuchen, natürliche Sprachen in extensionale logische Systeme zu transformieren, auf ein Gebiet zu übertragen, auf das nach dem derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Logik noch gar keine adäquaten Übertragungen machbar sind.128
128 Vgl. zur Beziehung von Logik und natürlichen Sprachen die ausgewogene, zurückhaltende Diskussion S. Haacks (in 1978, Kap. 1 und 2).
96
2.4 Zwei-Ebenen-Modell oder narrative Kontinuität? Aus der Darstellung des postmodernen Narrativismus hat sich ergeben, dass er zwei Positionen vereinbaren möchte, die unverträglich sind. Er will einerseits der postmodernen Verabschiedung von Objektivität gerecht werden, andererseits aber auch Geschichtsschreibung weiterhin von rein fiktionaler Literatur geschieden wissen. Argumentativ möchte der postmoderne Narrativismus dieses Ziel erreichen, indem er im ersten Schritt eine strikte Trennung zwischen einer Ebene wahrer Einzelaussagen und der Ebene ihrer narrativen Integration einführt. Dieses Zwei-Ebenen-Modell (ZM) soll die reine Fiktionalität historischer Narrationen ausschließen können, weil es davon ausgeht, dass wahrheitsfähige Einzelaussagen zu Narrationen verbunden werden. Dieser erste Schritt ist jedoch ergänzungsbedürftig, weil das argumentative Ziel darin besteht, dass historische Narrationen als Ganzes nicht mehr wahrheitsfähig sein können. Historische Narrationen seien korrespondenzunfähig. Die Folge aus ZM und dieser argumentativen Zielsetzung ist die Emergenzthese, die der narrativen Integration wahrer, historischer Aussagen andere alethische Eigenschaften zuschreibt als den zu integrierenden wahrheitsfähigen Einzelaussagen. Der postmoderne Narrativismus steht und fällt mit der Möglichkeit, ZM aufrecht zu erhalten. Denn die Besonderheit des postmodernen Narrativismus, um es nochmals zu betonen, besteht nicht darin, zu behaupten, sprachliche Erfassung von Sachverhalten als solche sei nicht wahrheitsfähig, sondern seine Behauptung besteht darin, dass einem wahrheitsfähigen, referentiellen Substrat sprachlicher Repräsentation (i. e. der Chronik, der chronikalen Strukturierung von ‚Fakten‘, den einzelnen wahren Aussagen, dem Faktensubstrat oder wie die jeweils bevorzugte Terminologie auch lauten mag) eine narrative Struktur auferlegt wird, die einen fiktionalen Charakter besitze oder der Narration ihren fiktional-metaphorischen oder opaken Charakter verleihe – historische Narration ist qua Narration nur in dem vagen Sinn mit Erkenntnis verbunden, in dem wir auch aus fiktionaler Literatur etwas lernen können, oder wie wir durch literarische Darstellun-
97 gen Ereignissen einen Sinn verleihen können.129 Die gewünschte Abgrenzung gegenüber der dekonstruktivistisch-poststrukturalistischen Postmoderne auf der einen Seite und einem Positivismus auf der anderen, bringt es also mit sich, sich Kernbestandteile dieser beiden Betrachtungsweisen auf die Geschichte zu eigen zu machen, sie aber jeweils in ihrem Anwendungsbereich zu beschränken und strikt separiert zu halten. Der vermeintlich metaphorische Charakter historischer Narrationen wächst sich in keinen sprachlichen Idealismus aus, während gleichzeitig die Naivität eines (positivistischen) sprachlichen „Abkonterfeiens“ der Vergangenheit vermieden wird. Aus dieser Analyse ergibt sich für die folgende kritische Auseinandersetzung eine dreistufige Vorgehensweise: (1) Die Emergenzthese soll untersucht und zurückgewiesen werden. (2) Das ZM wird auf seine Stichhaltigkeit untersucht und ebenfalls zurückgewiesen werden. (3) Zuletzt wird dieses Modell durch den Vorschlag einer narrativen Kontinuität ersetzt werden, die die Möglichkeit der Korrespondenz zwischen Darstellung und Dargestelltem auf allen ‚Ebenen‘ betont.
2.4.1 Die Emergenz einer neuen alethischen Eigenschaft Die Emergenzthese spricht historischen Narrationen eine besondere alethische Eigenschaft zu. Wo die einzelne historische Aussage in einem Korrespondenzverhältnis zur den geschilderten Sachverhalten stehe, werde die Gesamtnarration qua Narration korrespondenzunfähig. Mit zwei Argumentationsgängen möchte der postmoderne Narrativismus plausibilisieren, was hier Emergenzthese genannt worden ist. Sie werden im folgenden schematisch auf ihre Argumentationsgerüste reduziert werden, um eine klarere Vorstellung der postmodern-narrativistischen Prämissen zu erhalten. 129 Überspitzt könnte gesagt werden, dass nach diesem Modell historische Narrationen nicht sagen, wie die Vergangenheit gewesen ist, sondern uns vielmehr mit einer gleichsam ‚faktualen Parabel‘ belehren wollen.
98 (1) (i) Historische Einzelaussagen sind wahrheitsfähig. (ii) Historische Narrationen sind Zusammenstellungen dieser wahrheitsfähigen Einzelaussagen. (iii) Die Zusammenstellung dieser Einzelaussagen kann nicht durch wahrheitsfunktionale aussagenlogische Operatoren erfolgen (Narrationen sind keine Konjunktionen von Einzelaussagen). (iv) Also erfolgt die Aussagenintegration auf andere als auf wahrheitsfunktionale Art. (v) Das Ausscheiden wahrheitsfunktionaler Integration bedeutet, dass historische Narrationen nicht wahrheitsfähig sind, weil der Logik keine andere wahrheitswerterhaltende Aggregation von Aussagen und Diskursen bekannt ist. (vi) Historische Narrationen können nicht mit der vergangenen Realität korrespondieren, weil sie nicht wahrheitsfähig sind. (vii) Historische Narrationen können zwar nicht mit der Vergangenheit korrespondieren (aus (vi)), stehen aber nichtsdestotrotz in einem nicht rein fiktionalen Verhältnis zur Vergangenheit (aus (i) und (ii)) – sie besitzen eine oder mehrere neue alethische Eigenschaft(en). Diese erste Argumentation stützt sich in ihren zentralen Abschnitten ((iii)-(v)) auf das folgende Non sequitur: Weil es keine andere Möglichkeit gebe, die Wahrheitswerte einzelner Aussagen zu bewahren, wenn sie miteinander in Beziehung gestellt werden, als sie über wahrheitsfunktionale aussagenlogische Operatoren miteinander zu verbinden, könnten historische Narrationen, die nicht als aussagenlogische Zusammenstellung einzelner Aussagen betrachtet werden können, nicht wahrheitsfähig sein. Ein solches Argument übersieht jedoch, wie bereits oben dargelegt, dass der Schluss von den derzeitigen Mängeln der logischen Forschung – von denen die Abbildung komplexerer sprachlicher Gebilde als einzelner Aussagen und deren aussagenlogischer Verbindung nur einer ist – auf die prinzipielle Unmöglichkeit einer logischen Theorie, die Wahrheitsfunktionalität auch für komplexe sprachliche Gebilde wie historische Narrationen modellieren kann, unzulässig ist. Doch steckt noch ein weiterer, gewichtigerer Mangel in dieser
99 Argumentation. Sie bürdet der historischen Erzählung unverständlich hohe Auflagen auf, die sie konsequenterweise auch anderen komplexen Diskursen aufbürden müsste. Kaum eine Zeugenaussage vor Gericht, ein Sitzungsprotokoll, eine Lebensgeschichte oder auch nur die Schilderung des zurückliegenden Sonntagsausflugs könnte nach dieser Argumentation als eine wahrheitsfähige Darstellung bestehender Sachverhalte aufgefasst werden, denn es dürften sich nur sehr wenige rein wahrheitsfunktionale Beispiele dieser Art alltäglicher Diskurse finden lassen. Unser Commonsense-Verständnis solcher Diskurse basiert jedoch gerade darauf, dass sie einen Korrespondenzanspruch erheben. Was für die eine Kategorie gilt, sollte aber auch für die andere Kategorie gelten – es sei denn, der postmoderne Narrativismus könnte eine ergänzende Argumentation zugunsten eines hieb- und stichfesten Kriteriums führen, das es erlaubt, einige Diskurstypen als in einem Common-sense-Sinn korrespondenzfähig, andere dagegen strikt korrespondenzunfähig, weil nicht strikt wahrheitsfunktional aufgebaut, zu unterscheiden. Ein solches Kriterium ist jedoch nicht in Sicht. Dieser Einwand lässt sich ein wenig weiter fassen. Der postmoderne Narrativismus gründet darauf, historischen Narrationen die unsinnig hohe Auflage zu machen, eine an der Wahrheitsfähigkeit einzelner Aussagen und ihrer aus der Aussagenlogik bekannter Integrationsmechanismen orientierte Korrespondenz einzufordern, wo weder Common sense noch (philosophische) Wissenschaft eine solche strikte Forderung erheben. An Schilderungen, Wiedergaben, Berichte und Erzählungen von Ereignissen, Prozessen und Zuständen (ob nun vergangen oder nicht) wird keine derart strenge Anforderung gestellt und dennoch wird an der Vorstellung festgehalten, dass komplexe Diskurse korrespondenzfähig sind, weil das in ihnen Gesagte (in schwankendem Grad) mit der (vergangenen) Realität korrespondiert bzw. korrespondieren kann. Hinsichtlich ihrer Wahrheitsfähigkeit kann von historischen Diskursen nicht mehr verlangt werden als von anderen Arten alltäglicher faktualer Diskurse. Der postmoderne Narrativismus führt aber noch eine zweite Argumentation ins Feld: (2) (i) Historische Einzelaussagen sind wahrheitsfähig. (ii) Die narrative Integration dieser Einzelaussagen führt Kom-
100 ponenten in die Narration ein, die nicht aus den Tatsachen selbst stammen, das heißt, nicht in sprachlichen Gebilden abgebildet, sondern vom Subjekt in die Narrationen hineingebracht werden. (iii) Was nicht aus den Tatsachen abgebildet wird, ist korrespondenzzerstörend. (iv) Historische Narrationen können nicht mit der vergangenen Realität korrespondieren, weil die narrative Integration auf korrespondenzzerstörenden Operationen basiert. (v) Historische Narrationen können zwar nicht mit der Vergangenheit korrespondie ren (aus (iv)), stehen aber trotzdem nicht in einem rein fiktionalen Verhältnis zur Vergangenheit (aus (i) und (ii)) – sie besitzen eine oder mehrere neue alethische Eigenschaft(en). Die entscheidenden Prämissen dieses Arguments stecken in den Sätzen (ii) und (iii): Was ein Erkenntnissubjekt nicht neutral und unverzerrt der Realität entnehmen kann (was es nicht unverzerrt ‚sieht‘), das ist eine epistemologisch unstatthafte Verzerrung von Erkenntnis, mithin eine Störung der idealen Korrespondenzbeziehung zwischen Tatsache und Satzgehalt. Auf der Ebene der Einzelaussagen ist dieses Erkenntnisideal noch vertretbar (oder auch ceteris paribus tatsächlich verwirklicht), auf der Ebene der Narration jedoch kommen irreduzibel entobjektivierende Komponenten (Plotstrukturen, Tropen, Repräsentationscharakter etc.) in den Erkenntnisprozess hinein, die den unverzerrten Spiegel, der das Erkenntnissubjekt auf der Aussagenebene noch ist, trüben. An dieser Stelle tritt am deutlichsten zutage, dass die argumentative Kraft der postmodern-narrativistischen Position auf dem unrealistisch überzogenen Anspruch fußt, Objektivität oder Wahrheit sei nur dann vorstellbar oder vertretbar, wenn dem Erkenntnissubjekt die unverzerrte, das heißt von subjektiven Einflüssen völlig bereinigte Erkenntnisposition zugänglich ist – und weil sie es offensichtlich nicht ist, scheitere der Korrespondenzanspruch historischer Arbeiten. Nun könnte eine solche Behauptung mit einigem Recht vertreten werden, wenn sie konsequent durchgeführt wäre. Weil menschliche Erkenntnis
101 notwendig subjektiv ist – gleichgültig wie weit sich Untersuchungs- und Forschungsmethoden auch verfeinern und berichtigen lassen –, kann menschliche Erkenntnis niemals korrespondierende, also objektive Erkenntnis sein. Wirkliche, wahre Erkenntnis kann nur Erkenntnis von einer Gottesperspektive aus sein. Folglich wäre auch jede historische Erkenntnis korrespondenzunfähig und damit fiktional, falsch oder subjektiv. Doch eine solch konsequente Argumentation schwebt dem postmodernen Narrativismus gerade nicht vor. Einzelaussagen sind korrespondenzfähig, und die Fachmethodologie ist dazu in der Lage, Tatsachen aus den Quellen herauszubekommen. Erst auf der narrativen Ebene beginnen subjektive Einflüsse ihre verzerrende Wirkung zu tun. Generell kann gesagt werden, dass sich die Argumente des postmodernen Narrativismus zum einen auf eine zu eng angesetzte Konzeption diskursiver Wahrheitsfähigkeit stützen: entweder sind Diskurse wahrheitsfunktionale, aussagenlogische Zusammenstellungen von korrespondenzfähigen Aussagen oder sie sind prinzipiell korrespondenzunfähig. Zum anderen stützt sie sich auf eine (inkonsequent, weil selektiv angewandte) positivistische Abspiegelungskonzeption von Erkenntnis.130 Beide Voraussetzungen enthüllen die argumentative Strategie, Vertretern historischer Objektivität eine unerfüllbar hohen Objektivitätsanspruch auf die Schwelle zu legen, wo ein solcher Objektivitätsanspruch gar nicht erhoben worden ist, um dann aus dem offenkundigen Scheitern dieses nie erhobenen Objektivitätsanspruchs die Verabschiedung historischer Objektivität ableiten zu können. Doch der Kardinalfehler des postmodernen Narrativismus kann bereits vor dem Auftauchen der Emergenzthese diagnostiziert werden. Er besteht 130 Appleby et al. 1994 analysieren den postmodernen Angriff auf die moderne Wissenschaft als eine im Grunde verfehlte Attacke auf eine Dichotomie, dessen Urheber ein Positivismus ist, die aber mit den tatsächlichen Gegebenheiten und den bereits vollzogenen theoretischen Einsichten nichts zu tun hat: „[...] positivism has left as its principal legacy an enduring dichotomy between absolute objectivity and totally arbitrary interpretations of the world of objects.“ (246 f.) Das wird ähnlich z. B. auch von Mommsen konstatiert (1977, 447). Lorenz 1998a bezeichnet denn auch die Positionen Whites und Ankersmits polemisch als invertierten Positivismus.
102 darin, überhaupt eine strikte Unterscheidung zweier Ebenen einzuführen.
2.4.2 Einwände gegen das Zwei-Ebenen-Modell Der postmoderne Narrativismus ist als ein Versuch eingeführt worden, mit dem Widerstreit zwischen Objektivität und Standortgebundenheit Schluss zu machen, indem er sich restlos auf die Seite der Standortgebundenheit schlägt. Doch tatsächlich stellt sich bei genauerem Zusehen heraus, dass man damit seiner Position nicht ganz gerecht wird. Denn im Gegensatz zum Bekenntnis anderer postmoderner Strömungen zu einem restlosen Subjektivismus und Fiktionalismus, schlägt der postmoderne Narrativismus die Tür zu historischer Objektivität nicht einfach zu. Was „postmodern“ an ihm bleibt, ist seine Schlussfolgerung und zwar insofern, als er die „überkommenen“ epistemologischen Kategorien auf der Ebene der Narrationen für obsolet hält. Gleichzeitig aber möchte er historische Narrationen nicht im Genre des historischen Romans aufgehen lassen. Mit Hilfe der Korrespondenzfähigkeit einzelner Aussagen verankert er sich ein Stück weit immer noch in historischer Objektivität. Seine Lösung des Widerstreits zwischen Objektivität und Standortgebundenheit besteht folglich darin, die beiden Ebenen sauber voneinander zu trennen. Dass über die Theorien des postmodernen Narrativismus hinaus auch andere, nicht postmoderne Theorien (etwa die J. Rüsens131) von einer ähnlich strengen Unterscheidung zwischen einer Ebene der Forschung, der Fakten oder der Chronik einerseits und einer Ebene der Interpretationen oder Narrationen andererseits ausgehen, verleiht einer Gegenargumentation nur noch größere Dringlichkeit.132 Was aber spricht gegen das ZM? 131 In 1983, dort insbesondere das Kapitel Szientifik – Die methodische Konstitution der Geschichtswissenschaft. 132 Es soll darauf hingewiesen werden, dass Ankersmit auf einen ähnlichen Einwand in 2001 (S. 54 ff.) reagiert. Leider ist seine Replik nur wenig überzeugend, denn abgesehen von einem polemischen Ausflug in die „elementary logic“ betont er lediglich ZM noch einmal, indem er darauf verweist, dass auf der Ebene der Narra-
103 (1) Wir besitzen kein logisch-semantisches Kriterium dafür, eine Faktenaussage, wie sie der postmoderne Narrativismus als Material für die narrative Integration benötigt, von einer interpretativen Aussage zu unterscheiden. Die Differenz zwischen der Aussage „Am 22. Juni 1941 überfiel das Deutsche Reich die Sowjetunion“ (die wahrscheinlich als Faktenaussage im geforderten Sinn betrachtet werden kann) kann durch kein sicheres logisch-semantisches Kriterium von der Aussage „Am 22. Juni 1941 kam das Deutsche Reich einem Angriff der Sowjetunion zuvor“ unterschieden werden. Welche dieser Aussagen ein Forscher aus den Archiven als ‚Faktum‘, im Gegensatz zu einer interpretativen, umstrittenen Aussage, ‚auffindet‘, hängt zu sehr von fakten-externen Kriterien ab, als dass man die Mär aufrecht erhalten könnte, man übernehme aus den Quellen völlig voraussetzungslos einzelne Faktenbausteine, die erst auf einer höheren Ebene in Abhängigkeit von einer Perspektive integriert werden (wodurch die Darstellung der Vergangenheit plötzlich fiktional werde). Aber gerade ein semantisches Kriterium braucht der postmoderne Narrativismus, wenn er strikt zwischen Fakten- und Narrationsebene unterscheiden will. Narrative Redeskription weist auf den Interpretationsspielraum hin, den der Historiker besitzt. Es ist nicht der vermeintlich fiktional-metaphorische Charakter historischer Narrationen, sondern die Möglichkeit, bereits auf einer sehr basalen Ebene (nämlich der Ebene der singulären Aussagen) interpretative Spielräume zu eröffnen. Die Aussage „Am 22. Juni 1941 kam das Deutsche Reich einem Angriff der Sowjetunion zuvor“ drückt keine schlichte Tatsache aus, die erst dann umstritten ist, wenn sie als Element eine Narration gewertet wird. Sie ist bereits als ‚Tatsache‘ umstritten. Wenn historische Darstellungen vage, umstritten, interpretativ etc. sind, dann sind sie es (wenn auch vielleicht nur zum Teil) bereits auf der ‚Faktenebene‘. Woran aber, wenn nicht an einem logisch-semantischen Kriterium, kann man sicher erkennen, ob es sich um eine umstrittene oder um tionen das rationale Bevorzugungskriterium im „scope“ der Darstellung bestehe, wohingegen auf der Ebene der Forschung (und einzelner Aussagen) das Kriterium der Wahrheit zu seinem Recht komme. Damit ist der Einwand natürlich nicht entkräftet, sondern das ZM nur noch einmal auf einer anderen Ebene betont worden.
104 eine wahre Aussage handelt, die erst durch ihre Zugehörigkeit zu einer Narration einen vagen, fiktionalen o. ä. Status erhält? Die ‚Rettung‘ besteht darin, über die Möglichkeit vager und umstrittener singulärer Aussagen kein Wort zu verlieren, sondern die ‚Faktenebene‘ als (unproblematisch) gegeben zu präsupponieren oder wenigstens ein positivistisches Erkenntnismodell für überzeugend zu halten, wonach die Fakten mit einiger methodischer Anstrengung zuverlässig aufgefunden werden können. (2) Das erste Problem (1) weist über sich hinaus auf ein tiefer liegendes Problem. Der postmoderne Narrativismus hat kein Mittel, um mit der narrativen Mikrostruktur der ‚Faktenebene‘ zurecht zu kommen. Einzelne Aussagen stehen untereinander bereits in bestimmten Beziehungen. Auf der ‚Narrationsebene‘ kann historischen Aussagen keine willkürlich zu wählende narrative Struktur gegeben werden, weil die Aussagen untereinander bereits im Augenblick ihrer Herausarbeitung aus den Quellen Beziehungen eingegangen sind, die der narrativen Integration Grenzen setzen, wenn sie ihr auch Spielräume belassen. Die Folge für den postmodernen Narrativismus ist gravierend. Die argumentative Zurückweisung des Fiktionalitätsvorwurfs an seine Adresse basiert darauf, dass er eine Ebene von Faktenaussagen annimmt, deren Objektivität schlicht gegeben ist. Da der postmoderne Narrativismus auf der ‚Faktenebene‘ Korrespondenz anerkennt, gleichzeitig aber die Möglichkeit von Korrespondenz auf der narrativen Ebene mit dem Argument ablehnt, eine Abspiegelung narrativer Strukturen in der Narration müsse scheitern, weil in der Welt keine narrativen Strukturen vorhanden seien, bedeutet dies, dass sein Korrespondenz- bzw. Wahrheitskonzept wie auch seine Erkenntnistheorie insgesamt ein positivistisches ist. Nun rächt sich aber die Anwendung dieser Erkenntnistheorie auf der Faktenebene, während er sie gleichzeitig verwendet, um auf der Narrationsebene die Fiktionalität historischer Darstellungen zu belegen. Denn das Ausschlusskriterium auf der Narrationsebene würde auch auf der Faktenebene zum Ausschluss des Wahrheitsanspruchs führen – und damit zur Vindizierung des Fiktionalitätsvorwurfs an die Adresse des postmodernen Narrativismus, weil er nur solange entkräftet werden kann, wie es möglich ist, Narrationen (die ja als Ganze metaphorisch-fiktional sind) als Bündelung wahrer, auf nicht-per-
105 spektivischem Wege gewonnener Aussagen aufzufassen. In dem Augenblick, in dem dies nicht mehr möglich ist, kann der postmoderne Narrativismus historiographische Narrationen durch nichts mehr von historischen Romanen unterscheiden, weil er selbst Objektivität, Wahrheit oder Korrespodenzfähigkeit nur im Rahmen eines positivistischen Abbildungsideals und nur auf der ‚Faktenebene‘ für möglich hält. (3) Es ist evident, dass die Vorstellung, Fakten aus einem Haufen von Beweismaterial einfach herausfiltern zu können, die dann unveränderliche Konstituentien beliebiger narrativer Redeskriptionen werden können, daran scheitert, dass niemand Fakten ohne vorgängige Vorstellung davon, was er in welcher Richtung zu welchem Zweck zu suchen und zu erforschen hat, einfach entdeckt oder auffindet. Jede archivalische Forschung geht von Voraussetzungen aus, die nicht in den simplen Fakten bestehen, die an anderer Stelle schlicht gefunden worden sind, sondern in perspektivischen Voraussetzungen. Eine kurze Überlegung belegt dies hinreichend. Kein Historiker greift zu irgendeiner beliebigen Quellensammlung, beginnt in ihr voraussetzungslos zu lesen, worauf dann – seine kompetente Handhabung objektiver Methoden im Sinne der prozeduralen Objektivität vorausgesetzt – auf einmal einzelne Faktenbausteine aus den Quellen ‚herausfallen‘, die dann auch noch in genau dieser Form jedem anderen Historiker in die Hände gefallen wären. Vielmehr werden die einzelnen Quellen ‚Fakten‘ relativ zur Interessenlage ergeben, und diese ‚Fakten‘ müssen bei zwei Historikern nicht identisch sein. Denn welche Quellen gelesen werden, wonach sie abgesucht werden, welche Zusammenhänge zwischen den einzelnen ‚Fakten‘ bestehen, wieviele ‚Fakten‘ für den jeweiligen Historiker aus einer Quelle zu gewinnen sind133 usf. hängt nicht einfach an der Quelle, sondern ebenso sehr an den Voraussetzungen des Historikers. Eine Ebene von Fakten einzuziehen, die in den Quellen schlicht aufgefunden werden, ohne auch nur 133 So könnte sich z. B. aus einem Brief aus dem Register Gregors I. für den Wirtschaftshistoriker des Frühmittelalters nur die eine Tatsache ergeben, dass das Kloster XY im Jahr 600 fünf Schafe gekauft hat. Für den Historiker, der an der Verbreitungsgeschichte des Christentums interessiert ist, können sich dagegen aus derselben Quelle eine Unzahl eminent wichtiger Fakten über die Verbreitung des Christentums und die damaligen Missionierungstechniken ergeben.
106 die mindesten vorgängigen Selektionskriterien und Interessenschwerpunkte in das Bild aufzunehmen, weist bereits darauf hin, dass man sich hier nicht eben am forschungspraktischen Vorgehen des Historikers orientiert hat. Damit soll nicht die Augen davor verschlossen werden, dass bestimmte, weithin bekannte Quellen den meisten Historikern nichts anderes hergeben, als die ‚Fakten‘, die sie bereits kennen, und es soll auch nicht suggeriert werden, dass jede Quellenlektüre mit völlig anderen ‚Fakten‘ aufwartet als die Quellenlektüre anderer Historiker. Es soll vielmehr gesagt werden, dass neue Ansätze, neue Interessen, andere Perspektiven, andere bereits vorhandene narrative Strukturen, neue Ontologien und Begriffsrahmen auch neue ‚Fakten‘ aus den alten Quellen gewinnen lassen. Faktengewinnung ist eben keine voraussetzungslose Prozedur, deren Ergebnis ein epistemologisch trittfestes, weil von aller Perspektive bereinigtes Faktenfundament ist. Doch wenn an dieser Stelle bereits die Perspektive des Historikers einschlägig beteiligt ist, stellt sich die Frage, ob eine Theorie, die davon ausgeht, dass sich die Perspektive erst auf einer höheren Ebene auf die historischen Narrationen auswirkt, eine zu scharfe Trennung zweier Ebenen vorsieht, die im Grunde zu eng miteinander verbunden sind, um sinnvoll getrennt werden zu können. (4) Voraussetzungslos gewonnene Faktenbausteine sind aber noch aus einem anderen Grund sinnlos, denn weder kann, wie unter (3) gezeigt, eine isolierte Tatsache einfach gefunden werden, noch könnte eine isolierte Tatsache überhaupt verstanden werden. Klassische Beispiele für vermeintlich unumstößliche, wahre Aussagen, die so, wie sie sind, narrativ ‚verbaut‘ werden können, sind Aussagen wie „Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg“, „1492 entdeckte Kolumbus Amerika“. Warum aber sollten isoliert betrachtete Aussagen, wenn sie erst einmal als ‚Fakten‘ aus den Quellen gewonnen worden sind, sinnlos sein? Wir scheinen sie doch auch ohne jeden Kontext, sei er nun narrativ oder nicht, ganz gut zu verstehen? Dass dem nicht so ist, zeigt sich daran, dass bereits auf sehr basaler Ebene keine isolierten Tatsachen zu finden sind. So geht ein Historiker, der die Präventivkriegsthese im Zusammenhang mit dem deutschen Angriff auf
107 die Sowjetunion 1941 überprüfen möchte, bereits mit einer gewaltigen Anzahl an Narrationen ‚im Hinterkopf‘ an die Quellen heran. Narrationen über den Verlauf des Zweiten Weltkrieges, den folgenden „Kalten Krieg“, die politischen Beziehungen Russlands und des Deutschen Reiches während des 19. und 20. Jahrhunderts etc. Diese Narrationen sind jedoch nicht einfach als Ballast zu werten, von dem sich der nach Voraussetzungslosigkeit strebende Historiker frei zu machen hat, sie sind die notwendigen Voraussetzungen dafür, dass er überhaupt Erkenntnisse aus den Quellen schöpfen kann und wissen kann, worüber er schreibt. Welche Ergebnisse wären von einer Quellenforschung eines historisch völlig Ungebildeten zu erwarten? Könnte er überhaupt aus den Quellen entnehmen, dass am 1. September der Zweite Weltkrieg begonnen hat? Aus machen Quellen könnte er es vielleicht, diese Quellen wären aber ihrerseits nichts anderes als bereits historisierende Quellen, also Quellen, die bereits eine genuin historische Leistung vollbringen. Aber selbst aus historisierenden Quellen könnte ein historisch Ungebildeter allenfalls Aussagen abschreiben, die den Sachverhalt, dass am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg begonnen hat, ausdrücken. Kann aber im Fall des bloßen Zitierens wirklich davon gesprochen werden, dass der ‚Historiker‘ verstanden hat, was er da aus den Quellen übernimmt? Das scheint eher abwegig, denn sonst könnte von jedem, der Kants Kritik der reinen Vernunft abschreibt, behauptet werden, er habe verstanden, was Kant in der KrV sagen möchte. Die kontextgenerierenden Narrationen sind daher die Voraussetzung dafür, dass überhaupt erst genuin historische Aussagen aus den Quellen herausgelesen werden können und sie sind die Voraussetzung dafür, dass überhaupt verstanden werden kann, was am 1. September 1939 geschehen ist. Zwar scheinen Aussagen wie die oben genannten glänzende Beispiele für isoliert stehende Aussagen zu bilden, die vielleicht nicht isoliert aus den Quellen herausgefiltert, wohl aber isoliert geäußert und verstanden werden können. Dass solche Aussagen aber wirklich behauptet und nicht nur Zeichenfolgen geäußert werden, hat zur Voraussetzung, dass der Sprecher oder der Rezipient der Aussagen über bestimmte historische, narrative Hintergrundinformationen verfügt. Einem historisch völlig ungebildeten Spre-
108 cher oder Rezipienten wäre es gar nicht möglich, die Aussage zu behaupten (das heißt, mit der Intention vorzubringen, das Bestehen eines Sachverhaltes behaupten zu wollen) resp. eine Aussage zu verstehen, selbst wenn er der deutschen Sprache vollständig mächtig wäre. Wer über kein historisches Hintergrundwissen verfügt, in das er die jeweilige Aussage integrieren kann, der kann eine historische Aussage weder verstehen noch behaupten. Analog dazu kann ein Hörer den Satz „80 Bit sind 10 Byte“ zwar wiedergeben, behaupten oder verstehen (in einem prägnanten Sinn) kann er sie nur, wenn er den korrekten Umrechnungsfaktor zwischen Bits und Bytes kennt und in etwa weiß, was Bits und Bytes sein können. Beispiele für isolierte historische Aussagen stützen sich folglich bereits auf das historische Hintergrundwissen der Rezipienten und auch der Emittenten, das aber soweit verbreitet ist, dass sie sich als Beispiele für vermeintlich isolierte historische Aussagen erst eignen. Sind aber historische Aussagen weder isoliert aufzufinden, noch isoliert verwendbar, dann bedeutet dies, dass historische Aussagen nur dann entstehen und verwendet werden können, wenn sie zu jedem Zeitpunkt ihrer Verwendung kontextualisiert sind. Der postmoderne Narrativismus muss aber behaupten, dass Aussagen für sich isoliert verstanden werden können. Denn nur so kann sinnvollerweise behauptet werden, dass sie willkürlich zu beliebigen Narrationen zusammengefügt werden können. Damit aber nicht genug, er ist auch gezwungen, sich auf der Faktenebene dem Positivismus in die Arme zu werfen, den er aber auf der Narrationsebene verwerfen muss. Ist historische Erkenntnis aber schon auf der Faktenebene perspektivisch ‚kontaminiert‘, weil ‚Fakten‘ ohne Kontext und Perspektive weder gewonnen noch verstanden oder behauptet werden können, dann besitzt er – wenn man ihn an den eigenen Ansprüchen misst – für die Faktenebene kein Erkenntnismodell mehr und damit auch keine wahrheitsfähigen Bausteine für seine Narrationen. Könnte er sich nun aber nicht zu einem Perspektivismus auf der Faktenebene bekennen und dennoch das ZM behalten? Das ist aber ausgeschlossen, weil dort, wo Tatsachen bereits in Zusammenhängen stehen, ob nun explizit erwähnt oder nicht, ihre weitere narrative Integration vorgängigen Restriktionen unterliegt, die ein Bindeglied zwischen den vermeintlich
109 strikt getrennten Ebenen der Fakten und der Narration darstellen oder genauer: die diese Trennung letztlich aufheben.
2.4.3 Narrative Kontinuität Wenn isolierte Bausteine sinnlos sind, fragt es sich, ob damit ein entscheidender Einwand gegen das ZM vorgebracht worden ist. Bislang ist nur gezeigt worden, dass die Faktenebene nicht aus einzelnen, isolierten Bausteinen bestehen kann. Was aber sollte daran von Bedeutung sein? Der postmoderne Narrativist könnte, wie eben angedeutet, achselzuckend erwidern, wenn sie nicht isoliert sind, dann sind sie eben verbunden und werden als verbundene Bausteine zu Narrationen verarbeitet. Könnte der postmoderne Narrativist also diese These von der Mikrostruktur historischer Narration akzeptieren und dennoch seine Emergenzthese beibehalten? Stimmte er dieser These zu, dann hätte er faktisch seine strikte Ebenenseparierung aufgegeben und das akzeptiert, was man als narrative Kontinuität bezeichnen könnte.134 Einzelne Aussagen sind sinnlos, wenn sie nicht in einem Kontext stehen. Es ist damit aber nicht nur gemeint, dass eine Aussage ohne (narrativen) Kontext weder aufgefunden, noch mit illokutionärer Kraft geäußert oder verstanden werden kann, wenn die Beteiligten nicht über die jeweiligen (stillschweigend) zu ergänzenden Kontexte verfügen.135 Es ist damit auch gemeint, dass die jeweils verwendeten Aussagen im Augenblick ihrer Formulierung in einem Zusammenhang mit zahllosen anderen Aussagen stehen, die nicht alle ausgedrückt werden müssen und vielleicht auch niemals alle ausgedrückt werden können, die aber mit dieser Aussage verbunden sind und die den Kontext darstellen, in den eine Narration eingebettet ist. Wer eine Aussage behauptet, stützt sich auf ande134 Darauf weist Lorenz in 1998b hin: „[T]he difference between individual statements and complete narratives is [..] a difference in degree not in kind.“ (324 f.) 135 Die jeweiligen Kontexte der Sprecher und Hörer müssen nicht identisch sein, sie können sogar konträrer Natur sein, sie müssen es aber erlauben, dass die Identität des Gegenstandes festgestellt werden kann.
110 re Aussagen, benutzt sie und bringt sie gewissermaßen ins Gespräch. Doch was sollte daran so gravierend für den postmodernen Narrativismus sein? Wo der postmoderne Narrativismus davon ausgeht, singuläre Elementarbausteine zu einem mit emergenten alethisch-epistemologischen Eigenschaften ausgestatteten, kategorial differierenden Ganzen zusammenzubündeln, bedeutet narrative Kontinuität, dass jede Aussage bereits in einer Vielzahl von narrativen Zusammenhängen steht, die sich zu Gesamtnarrationen verbinden lassen und deren alethische Eigenschaft von der Einzelaussage bis hin zum narrativen Ganzen gleich bleibt. Daraus ergibt sich, dass eine beliebige narrative Redeskription nicht möglich ist, weil die einzelnen Aussagen bereits in bestimmten Zusammenhängen stehen. Dadurch wird nicht ausgeschlossen, dass es eine unüberschaubare Vielzahl an möglichen narrativen Zusammenhängen gibt, von denen ein und dieselbe Tatsache Bestandteil sein kann. Es wird ebenfalls nicht ausgeschlossen, dass diese Tatsache viele verschiedene Rollen in den jeweiligen Narrationen spielen kann. Mit narrativer Kontinuität werden vielmehr gerade zwei wichtige, später noch zu erörternde Elemente historischer Narrationen eingeführt: die narrative Kohärenz und die modulare Bauweise historischer Narrationen.136 Einzelne, isolierte Aussagen könnten keine narrative Kohärenz herstellen, weil die narrative Kohärenz historischer Darstellungen gerade darin besteht, dass Tatsachen bzw. die sie ausdrückenden Aussagen in einem später noch zu erläuternden „interaktionellen Zusammenhang“ stehen. Findet sich aber auf der Ebene der Faktenaussagen kein interaktioneller Zusammenhang, dann muss eine zusätzliche Operation auf der Ebene der Narrationen erfolgen. Doch welche sollte das sein? Die isolierten Ereignisse mit einem Plot zu überziehen, reicht allein in keiner Weise aus. Sind sie nicht (wenn auch stillschweigend) auf der ‚Faktenebene‘ bereits vorhanden, müsste der postmoderne Narrativismus diesen Mechanismus und den Ort seines Wirkens nachreichen, was aber bislang nicht gelungen ist. Aber auch der modularen Bauweise historischer Narrationen wird durch narrative Kontinuität Rechnung getragen. Kleine Narrationsbausteine können sich zu größeren Narrationen verbinden; diese „Proto-“ und „Sub-Nar136 Vgl. dazu das folgende Kapitel.
111 rationen“ verbinden sich über bereits bekannte (und z. T. vom Leser stillschweigend zu ergänzende) Zusammenhänge zu einer Gesamtnarration, die wiederum Sub-Narration einer übergeordneten Narration sein kann. Auf diese Weise können die kleinsten Aussagen, die vielleicht nicht mehr sind als „narrative Abbreviaturen“137 und die auch keine historisch relevanten Ereignisse zum Inhalt haben (der letzte Familienurlaub etwa) Teil immer größerer und kohärenter Narrationen werden. Das ist der erste Grund dafür, dass hier von narrativer Kontinuität gesprochen wird. Es besteht eine Kontinuität zwischen dem kleinsten Narrationselement und dem gewaltigsten historiographischen Epos, weil umfassende Narrationen kleinere Narrationen mitumfassen, die wiederum noch kleinere Narrationen enthalten usf. Der zweite Grund für diese Bezeichnung besteht darin, dass historische Narrationen aufgrund dieser modularen Bauweise eben keine emergenten epistemologisch-alethischen Eigenschaften besitzen, vielmehr besteht eine alethische Kontinuität zwischen der Korrespondenz einzelner Aussagen und ganzer historischer Narrationen. Narrative Redeskription setzt demnach bereits auf der Faktenebene an, besser gesagt: die strikte Unterscheidung zwischen Fakten- und Narrationsebene wird aufgehoben. Bereits kleine Narrationselemente (im Extremfall: eine einzelne historische Aussage) steht durch Begriffswahl, interaktionelle Zusammenhänge und zu ergänzende narrative Kontexte in vielfältigen Beziehungen zu anderen Aussagen und Narrationselementen. In den meisten Fällen tritt dies nicht zutage, weil ein universaler Konsens darüber herrscht, dass eine Aussage ein Faktum ausdrückt und die jeweiligen Kontexte im Grunde jedem Sprecher geläufig sind. (Dass der Zweite Weltkrieg am 1. September 1939 begann, ist aus diesem Grund ein so vorteilhaftes Beispiel für die These isolierter Einzeltatsachen.) Was ist der tiefere Grund dafür, dass dennoch immer wieder auf vermeintlich isolierte Tatsachen verwiesen wird? Wie es scheint, wird die prinzipiell sprachliche Dimension der Faktenerforschung außer acht gelassen. Faktenaussagen sind Interpretationen und können nicht anders als in Satzgehalten ausgedrückt werden. Zu jeder Aussage, die ein Faktum ausdrückt, gibt es eine lange Reihe anderer Aussagen, die mit großen oder 137 S. u. Abs. 3.1.
112 kleinen Bedeutungsverschiebungen, ‚dasselbe‘ Faktum ausdrücken können (oder auszudrücken vorgeben). Einen anderen Zugang zu den Fakten als über die sprachliche Formulierung von Sachverhalten in Propositionen (oder Aussagen) gibt es nicht. Fakten sind ausschließlich über Interpretationen zugänglich.138 Der ‚Fakten-Isolationismus‘ des postmodernen Narrativismus übersieht jedoch diese Sprachabhängigkeit wie auch die Kontextabhängigkeit historischer Aussagen, weil er von der ontologischen Seite her eine Korrespondenz konzipiert, die einem bestehenden Sachverhalt einen und nur einen ihn abbildenden Satzgehalt gegenüberstellt, und dass dieser Faktenisolationismus zusammen mit seinem verengten positivistischen Abbildungsideal nicht nur auf der narrativen Ebene scheitert, sondern bereits für einzelne historische Aussagen sinnlos ist, kann er nicht beachten, weil er sich dann entweder den Fiktionalitätsvorwurf einhandelte oder aber seinen sprachlichen Idealismus aufgeben müsste. Erfolgreich kann dieser doppelte Zweck nur verfolgt werden, wenn der freischwebende Charakter der Faktenebene nicht in Gefahr ist, aber zur Faktenebene gleichzeitig eine weitere, kategorial verschiedene Ebene stipuliert werden kann, die sich durch emergente epistemologisch-alethische Eigenschaften auszeichnet. Narrative Kontinuität stellt nicht den Faktualitätsanspruch in Frage, sondern die Separierung der beiden Ebenen, mit der Folge, dass diese essentielle Voraussetzung der Emergenzthese hinfällig wird und damit die Emergenzthese auch hier scheitert.
138 An dieser Stelle sollte betont werden, dass es sich hierbei in erster Linie um eine epistemologisch-wissenschaftstheoretische Position handelt. Es soll nicht geleugnet werden, dass es trotz dieses konstruktionistisch-kontextualistischen Ansatzes sinnvoll ist, eine „Metaphysik der Fakten“ zu betreiben (wie z. B. Newman 2002, Kap. 6), die sich auf die ontologische und semantische Frage nach dem Wesen und der Beziehung zwischen isolierten Fakteneinheiten, isolierten Propositionen und deren jeweiligen Ausdrücken in Satzinstanzen („sentence-tokens“) bzw. Satztypen („sentence-types“) konzentriert.
113
2.5 Zusammenfassung Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Verabschiedung historischer Objektivität darauf basiert, dass ein verkürzt angesetzter Korrespondenzbegriff verwandt wird, der die postmoderne Schlussfolgerung von seinem Scheitern (auf der Narrationsebene) auf das Scheitern von Korrespondenz schlechthin nicht gewährleistet. Dass diese Schlussfolgerung nur insofern vertreten werden kann, als ein Zwei-Ebenen-Modell etabliert werden kann, führte zum Scheitern der postmodernen Objektivitätsverabschiedung. Ein Substrat an Fakten zu postulieren, das der narrativen Strukturierung harrt und dieser völlig ohne Limitierung ausgeliefert ist, ist den tatsächlichen Gegebenheiten in der Geschichtswissenschaft nicht angemessen. Vielmehr muss ein Kontinuum vorgestellt werden, dessen einer Pol eine (explizit, manchmal aber auch implizit kontextualisierte) Aussage und dessen anderer Pol eine Narration ist. Zwischen diesen Polen lagern vergangenheitsbezogene Begriffe, narrative Aussagen, Proto-Narrationen, narrative Abbreviaturen aller Art, Mikrostrukturen, die vielleicht unterdrückt werden, aber nicht aus der Welt geschafft werden können, deskriptive und argumentative Passagen etc. Im Rahmen einer solchen narrativen Kontinuität, die von einer modularen Bauweise und einer Mikrostruktur historischer Narrationen ausgeht, müssten die positiven Vorschläge eines Objektivitätsmodells verlaufen, sofern es dem wesentlich narrativen Charakter historischer Darstellungen gerecht werden möchte. Der Einführung eines Narrationsmodells, das versucht, narrativer Kontinuität wie auch der Korrespondenz historischer Narrationen mit den vergangenen Sachverhalten gerecht zu werden, ist das nächste Kapitel gewidmet. In ihm wird ein minimalistisches Narrationsmodell vorgeschlagen, das einige der bereits genannten theoretischen Elemente vorzustellen, zu integrieren und zu begründen sucht.
3. Eine minimalistische Konzeption historischer Narrativität
Der postmoderne Narrativismus zieht aus der narrativen Form historischer Darstellungen die weitreichende epistemologisch-wissenschaftstheoretische Konsequenz, historische Objektivität zu verabschieden. Wie im vorigen Kapitel gezeigt worden ist, kann diese Argumentation jedoch nicht glaubhaft vertreten werden. Doch aus dem Scheitern der postmodernen Argumentation sollte nicht gefolgert werden, dass Wissenschaftlichkeit und Narrativität einen Gegensatz bilden, der nur aufgehoben werden kann, wenn Narrativität aus der Geschichtswissenschaft vollständig oder möglichst weitgehend ausgeschlossen wird. Solche Argumentationen gibt es, ihnen entgeht jedoch die Pointe historischer Darstellungen, die gerade darin besteht, über die Sachverhalte der Vergangenheit in narrativer Form zu berichten. Thetisch pointiert gesagt: Geschichtsschreibung ist wesentlich narrativ. Diese These soll kurz erläutert und diskutiert werden. Dabei soll, analog zur „minimalistischen“ Exposition des Wahrheitsbegriffs durch C. Wright139, weder eine Begriffsanalyse des Narrativitätsbegiffs noch eine definitorische Explikation mittels notwendiger und hinreichender Bedingungen unternommen werden, vielmehr soll ein Katalog von Merkmalen erstellt werden, der es erlaubt, eine minimale Charakterisierung historischer Narrationen zu geben. Der Vorteil einer solchen minimalistischen Herangehensweise, wie sie für die Narrativitätstheorie P. Lamarque vorgeschlagen hat,140 liegt darin, 139 Vgl. Wright 2001 und 2003, wo er darauf hinweist, keine Begriffsanalyse des Wahrheitsbegriffs zu unternehmen, sondern vielmehr einen Katalog evidenter Aussagen („Platitüden“) zum Wahrheitsbegriff zu erstellen, ohne auch nur den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. 140 In Lamarque 2004. Er spricht von einem „mildly deflationary account of narrative“.
116 Argumentationen vorzubauen, die aus Beobachtungen zu einem mehr oder minder eng umgrenzten narrativen Genre Schlussfolgerungen auf eine universale narrative Form oder universell gültige narrative Gesetzmäßigkeiten ziehen wollen.141 Ebenso verhindert eine minimalistische Herangehensweise die allzu vorschnelle Übertragung narrativer Merkmale eines Genres auf ein anderes. Gerade die beliebte Übertragung von Ergebnissen der Forschungen an fiktionaler Literatur erweist sich mit einer minimalistischen Narrativitätskonzeption in der Hand als höchst fragwürdig, weil die epistemologisch-wissenschaftstheoretischen Thesen wesentlich radikaler ausfallen als unbedingt notwendig. Eine minimalistische Konzeption historischer Narrativität besitzt, mit anderen Worten, den Vorteil, der wesentlich narrativen Form historischer Darstellungen gerecht werden zu können und dabei gleichzeitig der These des postmodernen Narrativismus, die narrative Form historischer Darstellungen erzwinge die Verabschiedung von Korrespondenz, als übertrieben im wissenschaftstheoretischen Anspruch zu belegen. Die minimalistische Konzeption wird vielmehr Belege dafür liefern, dass es eine narrative Kontinuität zwischen kleinen und kleinsten narrativen Elementen bis hinauf zu großen historischen Narrationen gibt, die sich auch als alethische Kontinuität auswirkt, weil sie einen narrativen Bruch, wie ihn der postmoderne Narrativismus konstatierte und für seine alethische Emergenzthese dienstbar machen wollte, durch ein Gegenmodell widerlegt.
141 Vgl. Lamarque 2004, 393: Sein Aufsatz wolle die Aufmerksamkeit auf die „minimal, thus easily satisfied, conditions of narrativity“ lenken und zeigen, dass „many of the more striking claims about narrative are poorly supported or refer to distinct classes of narrative – usually literary or fictional – which provide a misleading paradigm for narration in general“. Dabei wird hier nur Lamarques Grundidee aufgenommen und auf die Geschichtstheorie übertragen. Lamarques Anliegen zielt auf eine allgemeine Narrationstheorie ab, daher ist seine Narrationskonzeption unspezifischer als die hier vorliegende.
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3.1 Die Merkmale der minimalistischen Narrativitätskonzeption Unter Narrativität historischer Darstellungen wird in der Regel zweierlei verstanden.142 Häufig ist damit gemeint, eine historische Darstellung sei dann narrativ, wenn sie in einem großen Überblick Ereignisse, die sie initiierenden Akteure, deren Handlungen und Motive in ihrem Verlauf schildere. Sehr gern wird diese Auffassung von Narrativität für große erzählenden Übersichtswerke und die politische Geschichte reserviert. Diese Auffassung von Narrativität – sie sei Narrativität im engen Sinn genannt – wird gelegentlich der Ereignisgeschichte zu- und der Strukturgeschichte abgesprochen.143 Sie markiere lediglich ein Genre der Historiographie. 142 Vgl. für die folgende Unterscheidung beispielsweise Kocka 1989, 9-16. Vgl. auch Ricœur 1988, 137. Ricœurs Argumentationsziel besteht darin, den narrativen Charakter der Geschichte gegen die Geschichtstheorie der Annales-Schule und den „Neopositivismus“ der wissenschaftstheoretischen Philosophie zu verteidigen (vgl. ders. 1988 II, 1 und II,2). 143 Das „Schwinden des Ereignisses“ geht denn auch, so wenigstens Ricœurs Analyse, Hand in Hand mit der vermeintlichen Entnarrativisierung der Geschichtsschreibung. Hier erwies sich, so Ricœur, das Drei-Ebenen-Modell F. Braudels (u. a. in ders. 2001) als besonders wirkungsmächtig, denn seine Vorstellung davon, dass die bedeutenden historischen Bewegungen nicht auf der volatilen, geradezu eruptiven ereignisgeschichtlichen Ebene zu suchen seien, sondern auf den darunterliegenden Ebenen der Konjunkturen und der fundamentalen der „longue durée“, hat enormen Anklang gefunden, der seinen Ausdruck in einer Vielzahl vermeintlich nicht-narrativer, weil nicht mit den Ereignissen beschäftigter Studien gefunden hat (Ricœur 1988, II,2,1). Noch Wehler 2007 diskutiert historische Narrativität in diesem engen Sinn. Er setzt das Genre der narrativen Geschichtsschreibung („literarische Erzählung“) gemeinsam mit einigen seiner Ansicht nach ihm nahestehenden anderen historiographischen Ansätzen, wie etwa die Kulturgeschichte oder auch die Mentalitätsgeschichte, in Gegensatz zu einer analytischen, an Strukturen und theoretischer Begriffsarbeit interessierten Geschichtsschreibung. Sein Votum für einen Brückenschlag zwischen diesen Gegensätzen übersieht dann aber bezeichnenderweise den wesentlich narrativen Charakter aller Geschichtsschreibung und beschränkt sich darauf, Dialogbereitschaft anzumah-
118 Von dieser Auffassung kann eine anspruchsvollere und umfassendere Narrativitätskonzeption unterschieden werden. Sie geht davon aus, dass historische Darstellungen immer narrativ sind.144 In diesem umfassenderen Sinn wird im folgenden Narration verstanden werden. Narrativität in diesem zweiten, weiten Sinn umfasst Arbeiten wie Burckhardts Kultur der Renaissance oder Braudels Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., die vor allem strukturell-deskriptiver und weniger ereignisschildernder Natur sind, und aus diesem Grund als nicht-narrativ im engen Sinn von Narrativitiät bezeichnet worden sind. (Bestenfalls der dritte Band von Braudels Mittelmeer, der explizit den ereignisgeschichtlichen Abläufen gewidmet ist, kann als narrativ in diesem engen Sinn gelten.) 145 Welche unverzichtbaren Merkmale einer minimalistischen Konzeption historischer Narrativität i. w. S. lassen sich finden? Zunächst ist hier die Einrahmung der Geschichte durch einen Anfang und ein Ende zu nennen. Straub zum Beispiel zählt die Beginn-MitteSchluss-Abfolge zu den definitorischen Merkmalen von Narrationen.146 nen und theoretische Extremismen von beiden Seiten zu verwerfen. Für einen knappen Überblick über die Diskussionslage zwischen dem strukturalistisch-analytischen und dem narrativistischen Lager und über einige Synthesevorschläge vgl. Burke 2001. 144 Vgl. etwa Appleby et al. 1994, 231: „[...] to argue for a return of the narrative [...] is to miss the cardinal point that historians have never entirely departed from.“ Die irreduzibel narrative Form sowohl wissenschaftlichen als auch außerwissenschaftlichen Geschichtsbewusstseins wird auch von Rüsen betont (mit aller Deutlichkeit in 1983, 52). Der Grund dafür liege in der psychologischen Verfasstheit menschlicher Kognition, die Veränderung immer schon narrativ repräsentiere (vgl. Straub 1998, 118). Ähnlich Mommsen 1987, 114: Die Geschichtswissenschaft beschäftige sich mit Ordnungen, Kulturen, Religionen u. ä. in der Dimension der Zeit bzw. in einer „Mehrzahl von theoretisch denkbaren Zeiten“ und daher sei die narrative Form der Darstellung kein bloßer Zufall. Die Darstellung des Wandels in der Zeit sei es, die Geschichtswissenschaft von den verwandten Sozialwissenschaften unterscheide (121 f.). Wenn dies aber gilt, dann folgt aus dieser differentia specifica und der notwendig narrativen Struktur von Veränderungserfassung und -darstellung die ubiquitäre Rolle der Narrativität für die Geschichtsschreibung. Ebenso White 1996, 69. 145 Braudel 2001, Bd. III. 146 Straub 1998, 110-114.
119 Damit tritt die gesamte Narrationstheorie ihr Aristotelisches Erbe an. Sowohl die Bestimmung des narrativen Ganzen als das, was einen Beginn und ein Ende und daher auch eine Mitte besitzt, als auch die Bestimmung dessen, was den inneren Zusammenhalt der Narration ausmache, der in mehr als nur einer schlichten chronologischen Abfolge, sondern gerade in einer inneren Folgebeziehung zwischen den Ereignissen bestehe, dienten bereits Aristoteles zur Bestimmung dessen, was den mythos der Tragödie (und auch des Epos) u. a. ausmacht.147 Abgesehen von diesem geläufigen und nie in Frage gestellten Merkmal, sollten noch weitere, spezifischere Kriterien für eine historische Narration angegeben werden können. Zunächst geht es darum, dass eine Geschichte einen ‚Protagonisten‘ hat, der im Verlauf der Geschichte gleich bleiben muss (Stempel nennt dies „Referenzidentität“). Im Fall historischer Narrationen handelt es sich um das, was, mit Max Weber, bereits als „historisches Individuum“148 bezeichnet worden ist. Das historische Individuum stellt, wie noch gezeigt wird, die thematische Verklammerung einer historischen Narration sicher.149 Historische Individuen sind Entitäten, die in einer sprachlichen Äußerung 147 Poetik 1450b,24-34 bzw. 1451a,30-36. Nimmt man noch den mimetischen Charakter des mythos hinzu, hat man bereits bei Aristoteles einige der Fundamente einer Theorie der Narrativität vorliegen. Selbstverständlich befasst sich Aristoteles in der Poetik nicht mit der Erzählung als solcher. Sein Augenmerk gilt bekanntlich der Tragödie, dem Epos und den übrigen von ihm ausgemachten „nachahmenden“ Künsten (Poetik 1447a,14). Und gewiss würde sich Aristoteles gegen die Vereinnahmung seiner Poetik durch die Geschichtstheorie wehren, denn im Gegensatz zur poetischen Fabel werde in der historischen Erzählung nicht die Einheit einer Handlung wiedergegeben, sondern „ein bestimmter Zeitabschnitt dargestellt, d. h. alle Ereignisse, die sich in dieser Zeit mit einer oder mehreren Personen zugetragen haben und die zueinander in einem rein zufälligen Verhältnis stehen“ (Poetik 1459a, 21-24, Übers. Fuhrmann, 77; Herv. J. K.). Hier übersieht Aristoteles jedoch gerade einen der Gründe für eine narrative Strukturierung historischer Darstellungen: Niemand kann alle Ereignisse, die sich während eines Zeitabschnittes zutragen, darstellen. 148 S. o. Abs. 2.2.1 und für eine Darstellung der Theorie Webers Abs. 5.4.2.1 unten. 149 Stempel 1973 bezeichnet die „Referenzidentität“, d. h. die stete Gleichheit des Gegenstandes, von dem die Geschichte handelt, als notwendige Bedingung einer Narration, weil der Austausch dieses Gegenstandes in einer anderen Geschichte resultiere.
120 durch singuläre Termini bezeichnet werden. Die jeweiligen singulären Termini referieren historisch, das heißt, sie verweisen auf einen historisch existenten Gegenstand, der Eigenschaftsträger derjenigen Eigenschaften ist, die in historischen Aussagen ausgedrückt werden. Historisch existente Menschen, aber auch abstrakte Entitäten wie ein Wertsystem, eine gesellschaftliche Klasse etc. können „Eigenschaftsträger“, also „historische Individuen“ sein. 150 In diesem Sinn unterscheidet sich ein singulärer Terminus, der ein historisches Individuum bezeichnet, nicht von singulären Termini mit Gegenwartsbezug wie „mein Nachbar“ oder „die gegenwärtige Bundesregierung“. Doch im Gegensatz zu diesen Beispielen zeitgenössischer Referenz entstehen große epistemologische und wissenschaftstheoretische Schwierigkeiten bei der Betrachtung historischer Referenz. Bestimmte singuläre Termini historischer Narrationen sind anachronistisch und daher erscheint die Verwendung von singulären Termini zur Bezeichnung von historischen Individuen zum Teil als eine illegitime Aufoktroyierung retrospektiver Terminologien. Hier besteht die Hauptschwierigkeit darin, dass die Bedingung, dass ein singulärer Terminus, der auf ein historisches Individuum referiert, tatsächlich auf etwas verweisen müsste, das in der in Betracht kommenden Vergangenheit in irgendeinem Sinn existierte, nur schwer erfüllt werden kann. Denn im Gegensatz zu meinem Nachbarn, der von den Zeitgenossen so bezeichnet wird und im Gegensatz zur Bundesregierung, die ebenfalls von den Zeitgenossen so bezeichnet wird, sprach niemand vom 9. bis ins 13. Jahrhundert von der Feudalgesellschaft, ein historisches Individuum, über das M. Bloch im 20. Jahrhundert eine historische Narration vorgelegt hat.151 Die Schwierigkeit tritt dann zu tage, wenn man klären möchte, ob ein historisches Individuum auf etwas referiert, das historisch existierte, weil man – so scheint es zumindest – beliebige historische Individuen konstruieren kann. Historische Referenz kann also nicht darin bestehen, dass – 150 In Max Webers Gebrauch des Begriffs „historisches Individuum“ verschwimmen manchmal ontologische und sprachliche Ebene. Gelegentlich spricht Weber so, als handle es sich bei historischen Individuen nicht nur um begriffliche Konstrukte, sondern um die eigentlich in der Geschichte wirksamen ‚Gegenstände‘, dann wieder gewinnt man den gerade entgegengesetzten Eindruck. 151 Bloch 1982.
121 analog zu Vorstellungen gegenwärtiger Referenzkonstituierung – auf einen Gegenstand gezeigt wird und ihm mittels ostensiver Definition ein Name gegeben wird. Auch die Möglichkeit (wie sie Kripke vertreten hat152), einen Taufakt in einer Taufsituation mit anschließender Namenstradierung zu imaginieren, kann in dieser Situation nicht helfen, denn gerade die Namensgebung durch die historischen Akteure ist ausgeschlossen. Welches Korrektiv gibt es dann aber noch, das eine illegitime Konstruktion von historischen Individuen verhindert, und ist diese Situation wirklich so gravierend wie sie auf den ersten Blick zu sein scheint? Sieht man einmal von dem Vorurteil ab, das „Konstruktion“ mit „Willkür“ identifiziert, wenn es behauptet, dass alles, was nicht vorgefunden, entdeckt oder ‚gesehen‘ werden kann, dem völligen Belieben des Betrachters anheim gegeben ist, liegt hier tatsächlich eine Schwierigkeit für jede Theorie vor, die historische Objektivität nicht verabschieden möchte: Weil es das Korrektiv eines zeitgenössischen Gebrauchs singulärer Termini nicht (in jedem Fall) gibt, der einfach in die historische Darstellung übernommen werden kann, erscheint es tatsächlich so, als werden sie der Geschichte gleichsam aufoktroyiert – und dies völlig willkürlich nach Laune des jeweiligen Historikers. Obwohl dies erst später153 behandelt werden kann, sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, weil die „Referenzidentität“ zumindest eines historischen Individuums als ‚Protagonist‘ Fragen nach der legitimen Verwendung historischer Individuen aufwerfen muss. Zu den beiden genannten Merkmalen historischer Narrationen, sc. eine Beginn-Mitte-Ende-Struktur und ein historisches Individuum als ‚Protagonisten‘ aufzuweisen, tritt eine weitere signifikante Eigenschaft der Erzählung hinzu. Sie besteht darin, dass die Ereignisse, die Teil einer Erzählung sind, untereinander in einem Zusammenhang stehen müssen, der den Anfang mit dem Ende der Geschichte verbindet. Wie kann dieser Zusammenhang konzipiert werden? Danto hat eine auf den ersten Blick elegante Lösung für diese Frage gefunden. Er glaubte gezeigt zu haben, dass eine Narration bereits innerhalb 152 Kripke 1980, 96 und passim. 153 Wenn es um die Limitierungen der konstruktiven Willkür des Historikers geht – Abs. 5.3.2.
122 einer Aussage angelegt sein kann. Es handle sich dabei um „erzählende Sätze“. Anfang und Ende einer Geschichte seien nichts anderes als die Aussage, dass ein Eigenschaftswandel des Eigenschaftsträgers X von Zustand Z1 in Zustand Z2 stattgefunden habe, und dies entspreche einer besonderen Kategorie der erzählenden Sätze, nämlich dem Explanandumssatz des Hempelschen D-N-Schemas.154 Zwischen Anfang und Ende der Geschichte liege der Mittelteil in Form einer Aussage (oder eines Aussagenkomplexes) über ein (komplexes) Ereignis, der ausdrückt, warum oder wie er sich vollzogen hat. Alle Kausalerklärungen können demnach narrativ dargestellt werden.155 Aber das bedeutet nicht, dass alle Erzählungen Kausalerklärungen sind oder in solche umgeformt werden können. Denn teleologische oder auch intentionale Zusammenhänge sollen nicht ausgeschlossen werden. Entscheidendes Kriterium ist jedoch, dass die einzelnen Ereignisse nicht lediglich in einer rein chronologischen Abfolge, sondern in einem, mit Stempel gesprochen, „interaktionellen“ Zusammenhang stehen,156 der für Danto die Form einer narrativen Erklärung des Endzustandes besitzt. 154 Danto 1980, 375 f. Jeder Explanandumssatz nimmt, nach Danto, zumindest implizit Bezug auf einen Eigenschaftswandel und somit kann jeder Explanandumssatz in zwei Aussagen transformiert werden, von denen die eine eine Aussage über X vor einem Veränderungsereignis und die andere eine Aussage über X nach dem Veränderungsereignis ist. Der Explanandumssatz ist eine besondere Kategorie der erzählenden Sätze (ebd., 393), denn in einem Explanandumssatz wird auf einen Zustand Bezug genommen, in dem eine Veränderung noch nicht stattgefunden hat. Dieser Anfangszustand ist so charakterisiert, dass er besagt, dass X im Augenblick noch F ist, dann aber zu G wird, was bedeutet, dass der Anfangszustand nur erwähnt wird, weil er in den späteren Zustand mit G mündet. Und das bedeutet, dass auf ein Ereignis in der Form Bezug genommen wird, in der dieser Bezug logisch einen Bezug auf ein späteres Ereignis impliziert – und genau dies ist das Definitionsmerkmal „erzählender Sätze“ (ebd, 254). 155 Danto 1980, 377. 156 Vgl. Stempel 1973, 329, wo die„interaktionellen Prozesse“ eingeführt werden. Auch für Mink sind die Handlungen und Ereignisse einer Geschichte „connected by a network of ovelapping descriptions“ (ders. 1987a, 58), was nicht bedeute, dass diese Überlappungen zwangsläufig in der Geschichte auftauchen müssen, sie müssen aber ergänzt werden können (ebd.).
123 Bereits Aristoteles hat darauf hingewiesen, dass eine Geschichte nicht einfach die chronologische Abfolge von Ereignissen aufzählt: „Ferner müssen die Teile der Geschehnisse so zusammengefügt sein, daß sich das Ganze verändert und durcheinander gerät, wenn irgendein Teil umgestellt oder weggenommen wird. Denn was ohne sichtbare Folgen vorhanden sein oder fehlen kann, ist gar nicht ein Teil des Ganzen.“157 Dieses Kriterium enthält eine Handlungsanweisung, die es ermöglicht, festzustellen, was zu einer Narration hinzugehört und was nicht. Was immer die Narration so belässt, wie sie ist, wenn es weggedacht wird, gehört nicht wesentlich dazu. Umgekehrt zeigt es aber auch, was einer Narration unter Umständen fehlt. Geht ein Ereignis nicht aus einem anderen hervor, sondern platziert sich erratisch in der Erzählung, bedarf dieses Ereignis einer (zumindest stillschweigenden) Kontextualisierung in die interaktionellen Zusammenhänge der Geschichte (etwa indem auf, mit Max Weber gesprochen, „nomologisches Wissen“158 und den Alltagsverstand des Lesers rekurriert werden kann). Gelingt diese Kontextualisierung nicht, dann fehlt der Narration entweder ein wichtiger Baustein zu ihrer Vollständigkeit oder sie hat einen für das Ganze bedeutungslosen Exkurs gemacht. Dabei ist zu beachten, dass das Kriterium des interaktionellen Zusammenhangs lediglich eine notwendige,159 keinesfalls aber eine hinreichende Bedingung für die narrative Integration eines Ereignisses in einer Narration darstellt. Den interaktionellen Zusammenhang zwischen Ereignissen als eine hinreichende Bedingung für das Auftauchen eines Ereignisses in einer Narration zu nehmen, würde bedeuten, alle kausalen, teleologischen, funktionalen oder auch diskursiven Zusammenhänge, die zwei Ereignisse verbinden, in eine Narration integrieren zu müssen. Weil dies aufgrund der un157 Poetik 1451a,32-36, Übers. Fuhrmann, 29. Ein mythos zeichnet sich für Aristoteles durch thematischen Zusammenhang und eine Handlungsabfolge nach den Kriterien der Notwendigkeit und Möglichkeit aus. 158 Zum „nomologischen Wissen“ bei Weber vgl. insbesondere Kritische Studien. 159 Dieser zentrale Aspekt macht die Differenz zwischen Narrationen und Chroniken aus, auf die immer wieder (etwa Stempel 1973, 328 ) hingewiesen wird. Für das Kriterium der „interaktionellen Beziehung“, welche die Narration über die rein temporale Abfolge der Chronik hinausgehen lasse, vgl. Stempel 1973, 328 und neuerdings Lamarque 2004, 394.
124 endlich großen Zahl von Bedingungen und Ereignissen, die integriert werden müssten, selbstverständlich unmöglich ist, müssen Selektions- bzw. Relevanzkriterien hinzukommen,160 die es ermöglichen, aus der Unendlichkeit historischer Bedingungen und Ereignisse einige wenige interessierende oder besonders gewichtige herauszuheben und narrativ zu integrieren. Was fungiert in einer historischen Narration als interaktioneller Zusammenhang? Ausschließlich kausale Beziehungen anzunehmen, scheidet aus,161 auch wenn gerade Dantos Annäherung an das Hempelsche Covering-law-Modell das zunächst nahelegt. Gewiss müssen auch teleologische Zusammenhänge und handlungstheoretische Beschreibungen und auch ‚diskursive‘ Zusammenhänge (etwa die Entwicklung von Ideen und Ideologien) als Spezies der Gattung „interaktioneller Zusammenhang“ aufgefasst werden können. Betrachtet man die Eigenschaft des interaktionellen Zusammenhanges, lediglich eine notwendige und keine hinreichende Bedingung für die narrative Integration eines Ereignisses zu sein, unter einem formalen Gesichtspunkt, dann kann gesagt werden, dass der Mittelteil einer Narration unerwähnt bleiben kann, gerade so, wie der Explanandumssatz eines D-NSchemas eine Geschichte in sich schließt, ohne ausformuliert zu sein. Es liegt dann eine, wie ich sie nennen möchte, „Proto-Narration“ vor, die den Rahmen für den Mittelteil festlegt, in dem die Wandlung von Z 1 zu Z2 dargestellt werden muss.162 Formuliert man den Mittelteil aus, erhält man, so sieht es zumindest Danto, eine narrative Erklärung eines Explanandums. Formuliert man ihn nicht aus, bleibt der Mittelteil implizit, was aber nicht bedeutet, dass es diese Abfolge nicht gibt und sie nicht notwendige Bedingung für das Vorliegen einer Narration ist. Denn auch wenn der Mittelteil implizit bleibt, ist er dennoch vorhanden und bleibt latent Teil der Geschichte, so dass er jederzeit je nach Anforderung an die Geschichte mani160 Es ist die hervorragende Rolle des Standortes des Historikers diese Relevanz- und damit Selektionskriterien bereitzustellen – vgl. dazu Abs. 5.2 unten. 161 In diesem Sinn spricht sich Ricœur dafür aus, mehrere, miteinander verbundene, aber dennoch kategorial differierende Zusammenhänge bei der „Fabelkomposition“ anzunehmen: verstandene Intentionen, singuläre Kausalverhältnisse, nomothetische Generalisierungen. 162 Vgl. Danto 1980, 375 f. und auch Martinez/Scheffel 2003.
125 fest werden kann.163 Historische Narrationen sind, so sieht es Danto, komplexe Verschachtelungen immer ausgedehnterer narrativer Erklärungen,164 in die Sub- und Proto-Narrationen als Bausteine eingehen. (Proto-)Narrationen können also selbst wieder (so könnte man sagen) Sub-Narrationen umfangreicherer Narrationen sein. Die Qualifizierung einer Narration als Sub-Narration oder Proto-Narration hängt damit vom jeweiligen übergeordneten Kontext respektive vom Grad der Ausformulierung ab. Sowohl Proto- als auch Sub-Narrationen sind Bestandteile dessen, was bereits als narrative Mikrostruktur argumentative Bedeutung erlangt hat. Sie besitzen ihre variable Funktionalität aufgrund der Tatsache, dass einige narrative Elemente nicht zwangsläufig in einer Narration auftauchen müssen, selbst wenn sie in einem interaktionellen Zusammenhang mit den erzählten Ereignissen stehen – abhängig u. a. vom jeweiligen Erkenntnisinteresse des Historikers. Die Überfahrt Kolumbus’ nach Amerika ist nicht für jede Narration von zentraler Bedeutung. Ein Historiker, der sich mit den Auswirkungen der Entdeckung auf die Indianerkulturen Amerikas beschäftigt, kann auf ihre Erwähnung völlig verzichten, während ein Historiker, der sich mit den nautischen Herausforderungen transozeanischen Reisens im späten 15. Jahrhundert beschäftigt, ihr mehrere hundert Seiten widmen könnte. Daher verbindet der interaktionelle Zusammenhang verschie163 Die hier genannten Proto-Narrationen könnten ebenso wie die von Danto eingeführten „vergangenheitsbezogenen Begriffe“ („biologischer Vater“ wäre ein solcher) und seine „erzählenden Sätze“ („Am 20. April 1889 wurde der Anstifter des Zweiten Weltkrieges geboren.“) als Spezies der Gattung „narrative Abbreviaturen“ betrachtet werden. Narrative Abbreviaturen „enthalten Geschichten oder verweisen auf Geschichten, ohne selbst Geschichten zu sein.“ (Straub 1998, 123) Dazu gehören für Straub „[e]inzelne Ausdrücke oder Begriffe, die semantisch einfach leer sind, sobald ihr Bezug zur Vergangenheit oder auch zur Zukunft ignoriert wird“, aber auch „Symbole (im engeren Sinn) oder Metaphern“ (ebd.). Zentral für die narrative Abbreviatur ist das Kriterium der „impliziten Geschichten“. 164 Danto 1980, 383 ff. Es handelt sich dabei natürlich um ein sehr idealisiertes Schema. De facto finden sich in historischen Narrationen Exkurse, Abschweifungen, Nebenerzählungen, ‚Überdeterminationen‘ u. ä. die sich nicht immer glatt in die Gesamtnarration integrieren lassen.
126 dene Narrationselemente – Aussagen, Proto-Narrationen, Sub-Narrationen – miteinander, ohne damit zugleich ein für allemal eine und nur eine Narration festgelegt zu haben. Ereignisse können unerwähnt bleiben und neue Zusammenhänge können zwischen bekannten Ereignissen hergestellt (oder aufgefunden) werden. Damit können nun die zentralen Merkmale einer Narration zusammenfassend katalogisiert werden: Die sprachliche Repräsentation einer Veränderung mindestens eines Eigenschaftsträgers (historischen Individuums) in Form einer temporalen Sequenz von Ereignissen, die jedoch interaktionell zusammenhängen, was in historiographischen Kontexten oft in Form kausaler Abhängigkeiten vorgestellt wird, durchaus aber nicht auf kausale Abfolge allein beschränkt bleiben muss. Der interaktionelle Zusammenhang liefert eine narrative Erklärung des Wandels des historischen Individuums von Z1 zu Z2. Er bindet Narrationselemente zusammen, während er ausreichend Variationsraum für die endgültige narrative Integration belässt.
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3.2 Narrative Kohärenz Gerade die Beginn-Mitte-Ende-Struktur verweist auf eine entscheidende Frage hinsichtlich des Charakters von Narrationen, die an dieser Stelle kurz angesprochen werden muss. Es ist die Frage, wodurch Narrationen ‚verklammert‘ werden, sprich, ihnen narrative Kohärenz verliehen wird.165 Denn wenn die bestehende Forschungsmeinung korrekt ist, dass „eine narrative Aussage grundsätzlich nur auf der Basis von mindestens zwei (entsprechend aufeinander bezogenen) Sätzen erzeugt werden kann“166, dann stellt sich die Frage, inwiefern dieses „entsprechend aufeinander BezogenSein“ eine Erzählung von einer bloßen Aufzählung einzelner Aussagen unterscheidet. Narrationen (wie auch Sub- bzw. Proto-Narrationen) erhalten ihre Verklammerung dadurch, so wurde weiter oben gesagt, dass sie den Wandel eines Eigenschaftsträgers sprachlich repräsentieren. Ein zugrundeliegender Eigenschaftsträger ist ein erstes wichtiges Element, das Narrationen Kohärenz verleiht. Selbst vermeintliche Gegenbeispiele wie „Die Turmuhr schlug zwölf. Sie stellten die Arbeit ein.“ besitzen – wenn auch implizit – einen solchen Eigenschaftsträger, in diesem Fall den Arbeitsablauf der Handwerker. Es bedarf, wie gezeigt worden ist, darüber hinaus auch noch einer „interaktionellen Beziehung“ zwischen den Ereignissen. Danto stellt dies so dar, als nehme das Aufeinander-bezogen-Sein die Form einer Verschachtelung narrativer Erklärungen an.167 Es kann nur etwas Teil einer Erzählung sein, das eine Funktion innerhalb der Gesamtveränderung von Zustand Z1 nach Zustand Z2 ausübt. Dabei kann es sich um sehr verschachtelte und zum Teil enorm komplexe interaktionelle Beziehungen handeln. Zu 165 Gorman 1998, 329 ff. Den Begriff der „narrative coherence“ schreibt er H. Fain zu. Rüsen 2002a versucht über den Begriff der narrativen Kohärenz einen Brückenschlag zwischen Narrativität und Objektivität auf der Ebene der Narrationen (im Gegensatz zur Objektivität der Quellenkritik, die für ihn durch den methodischen Charakter der Wissenschaft leichter plausibilisiert werden kann) zu erreichen (118 ff.). 166 Stempel 1973, 327. Vgl. Martinez/Scheffel 2003 und Lamarque 2004. 167 Danto 1980, 401 ff.
128 diesen beiden Kohärenzkriterien historischer Narrationen sollen zwei kritische Anmerkungen gemacht werden, obschon beide Kriterien unerlässlich sind und daher beibehalten, wenn auch abgewandelt werden sollen. (1) Zur kohärenzkonstituierenden Funktion des historischen Individuums muss die kritische Frage gestellt werden, ob sich wirklich immer eine Einheit in einem Gegenstand (i. e. historischen Individuum) finden lässt. Inwiefern ist „die Feudalgesellschaft“ ein Individuum, dessen Veränderung durch die Zeit (im Falle von Blochs „Feudalgesellschaft“ immerhin über einen Zeitraum von ca. fünfhundert Jahren) verfolgt wird? Den Mitgliedern der Feudalgesellschaft war nicht bewusst, dass sie Mitglieder derselben sind. Woher also stammt dieses narrationsvereinheitlichende Individuum und wie kann es als ein Individuum betrachtet werden? Für das Genre der Biographie ist diese Frage vielleicht noch leicht zu beantworten, strukturgeschichtliche oder gar mikrohistorische Untersuchungen dürften damit größere Schwierigkeiten haben.168 Die Antwort darauf, wie ein solches Individuum zugrunde gelegt werden kann, ist aber schnell gegeben. Kann nicht auf ein natürliches Individuum zurückgegriffen werden, dann bietet sich der Rekurs auf eine zeitgenössische Individuation an. Die Geschichte des „römisch-deutschen Kaisertums“ kann sich darauf stützen, dass sich die Kaiser des mittelalterlichen „römischen“ Reiches selbst als solche betrachtet und tituliert haben, ebenso wie sie von ihren Zeitgenossen als solche anerkannt und apostrophiert worden sind. Ein solcher Idealfall liegt jedoch nicht immer vor (ganz genau betrachtet, liegt er nicht einmal im Fall des „römisch-deutschen Kaisertums“ vor), meist sind zeitgenössische Selbstidentifikationen ergänzungsbedürftig. Die Geschichte Deutschlands schreiben zu wollen, besitzt nur auf den ersten Blick den Vorzug, den Protagonisten aus der Geschichte selbst nehmen zu können. 168 Dieser kritische Einwand ist nicht mit dem Problem der Legitimität anachronistischer Termini für historische Individuen zu verwechseln. Hier geht es um die Frage danach, ob es in jedem Fall ein solches vereinheitlichendes Individuum gibt, nicht jedoch darum, ob wir bestimmte Begriffe bilden dürfen, andere dagegen nicht. Es muss also unterschieden werden zwischen der Frage, ob es immer ein solches kohärenzstiftendes Individuum gibt bzw. geben muss und der Frage, wie ein solches Individuum konstruiert wird und ob die Konstruktion epistemologisch legitim ist.
129 Teil dieser Geschichte, und das bedeutet, Teil der Wandlung dieses spezifischen Protagonisten, ist auch die Zeit, in der von „Deutschland“ noch niemand sprach. Die Geschichte Deutschlands wird die Ethnogenese der germanischen Stämme auf ihrer Wanderung durch Europa mitumfassen müssen, ebenso wie die Etablierung des merowingisch-fränkischen Reiches als europäische Vormacht etc. Von einem Deutschland kann für den gesamten (nicht eben kurzen) Zeitraum noch überhaupt nicht gesprochen werden. Wie also soll dieser Protagonist für eine Zeit ausgemacht werden, in der er offenbar noch nicht im entferntesten als potentieller Eigenschaftsträger vorstellbar war? Oder noch abstrakter formuliert: Wenn die Genese eines historischen Individuums ein wichtiger, vielleicht der wichtigste Bestandteil der Geschichte dieses historischen Individuums ist, wie soll dessen noch werdende Existenz von den Zeitgenossen erkannt werden? Sie müssten die Fähigkeit besitzen, von einem Zeitpunkt ihrer eigenen Zukunft aus, auf die sich entfaltende Entwicklung zurückblicken zu können, um diese Leistung vollbringen zu können. Scheitert damit das erste kohärenzstiftende Kriterium? Diese Frage zu stellen, bedeutet, die Position des Historikers nicht voll erkannt zu haben. Seine Aufgabe besteht eben nicht darin, die Ansichten der jeweiligen Zeitgenossen schlicht nachzuvollziehen, sondern über ihre Kenntnis hinauszugehen – andernfalls wäre er kein Historiker, sondern verspäteter Chronist. Zu diesem Zweck muss es ihm möglich und erlaubt sein, aus den Quellen über die Vergangenheit ‚Gegenstände‘ (eben historische Individuen) herauszulesen (die er dann nach eigener Einschätzung benennt), die den damaligen Zeitgenossen als Gegenstände nicht geläufig sein konnten, weil ihnen noch nicht die Identitätsbedingungen für bestimmte Gegenstände zur Verfügung gestanden haben, und wo er auf einen bereits bekannten und bezeichnete Gegenstand stößt, muss er ex officio Korrekturen an der zeitgenössischen Terminologie vornehmen können. Kurz, es steht ihm frei, Eigenschaftsträger zu postulieren, wo die Zeitgenossen bei aller Scharfsicht nicht dazu in der Lage gewesen wären, einen solchen zu erkennen. Das bedeutet, dass er nicht nur dazu autorisiert ist, zeitgenössische historische Individuen weiter oder enger aufzufassen als die Zeitgenossen, sondern er ist auch autorisiert, völlig neue historische In-
130 dividuen zu postulieren. An dieser Stelle taucht nun das zweite Problem auf: Darf der Historiker postulieren, was ihm beliebt? Die Antwort darauf ist nein, welchen Einschränkungen er dabei aber unterworfen ist, wird später betrachtet werden. Es bleibt aber noch ein weiterer Aspekt dieses Problemkomplexes zu klären. Offensichtlich gibt es historische Darstellungen, die nicht von einem Eigenschaftsträger, sondern von zwei oder mehreren handeln. Historiker legen häufig eine komparative Studie zu mehreren historischen Individuen vor, etwa einen Vergleich zwischen der Französischen und der Russischen Revolution. Was sorgt dann für die thematische Verklammerung? Die Antwort ist klar, aber auch unbequem: der Vergleich selbst ist das vereinheitlichende Thema. Der Vergleich ist jedoch weder ein Eigenschaftsträger, dessen Wandel narrativ repräsentiert wird, noch ist er überhaupt ein historisches Individuum. Scheitert damit die These von der Notwendigkeit eines Eigenschaftsträgers als kohärenzstiftendem Element der Narration? Nein, denn in den vorgestellten Fällen liegt gar keine Narration vor. So einfach diese Replik an dieser Stelle das Problem beseitigen kann, so unbequem wird sie sich an späterer Stelle erweisen, denn nun wurde die These vom wesentlich narrativen Charakter historischer Darstellungen (zumindest scheinbar) von vornherein desavouiert. Doch bevor dieser Schwierigkeit begegnet werden kann, muss auf die Kritik am zweiten Kohärenzkriterium eingegangen werden. (2) Es kann kritisch gefragt werden, inwiefern denn ein derart minimalistisches Modell überhaupt noch zutreffen kann, wenn der Wandel eines komplexen historischen Individuums, wie es die Feudalgesellschaft ist, erzählt werden soll? Wird hier wirklich ein Anfangszustand Z1 an den Anfang der Erzählung gesetzt und ein Zustand Z2 an das Ende, wobei der Mittelteil eine Verschachtelung eines unüberschaubar komplexen interaktionellen Zusammenhanges ist, der einzig und allein Z2 zu erklären hat? Zumindest auf den ersten Blick scheint dieses Modell der extrem komplexen Gemengelage historischer Narrationen nicht wirklich angemessen. Es liegt nahe, das Erklärungsmodell dahingehend abzuschwächen, dass man nicht mehr davon ausgeht, dass jede einzelne Sub-Narration einen Beitrag zur Erklärung von Z2 liefert, sondern lediglich eine Stufe im Wan-
131 del des historischen Individuums X darstellt. Einem Individuum einen Anfangszustand zuzuschreiben, der sich dann über diverse Stationen zu einem Endzustand entwickelt, erscheint als eine Verzerrung dessen, was in historischen Darstellungen tatsächlich vor sich geht. Die Geschichte der Salier zu schreiben, kann nur schwer als ein Wandel von einem Anfangszustand hin zum Endzustand aufgefasst werden; jeder neue Herrscher aus dem Haus der Salier zwingt zu einer Zwischenbilanz, lässt alte Strukturen enden und inauguriert neue Entwicklungen, während gleichzeitig manche „säkulare“ Konjunkturen (oder gar: unveränderliche Strukturen) von ihm unbeeinflusst bleiben, aber dennoch auf seine Aktionen maßgeblich einwirken, also nicht einfach aus der Erzählung verbannt werden können. Was Teil des Anfangszustandes zur Zeit Konrads II. war, hat sich vielleicht gar nicht bis zum Ausgang der Salier mit Heinrich V. erhalten, sondern endete früher (vielleicht bei Heinrich III.). Wir haben es folglich tatsächlich mit einer zu starken Vereinfachung des Bildes durch den skizzierten minimalistischen Merkmalskatalog zu tun. Erstens werden selten vollständige Zustandsbeschreibungen vor und nach dem Wandel eines Eigenschaftsträgers (also am Anfang und Ende der Geschichte) gegeben. Zweitens werden bestimmte Strukturen nicht zu Anfang der Geschichte bereits vorhanden sein, um sich im Laufe der Entwicklung zum Endzustand hin zu entwickeln. Dies alles zugestanden, muss dennoch gesagt werden, dass das skizzierte Modell nicht verfehlt, sondern allenfalls simplifizierend ist und einer Modifikation bedarf. Denn das erste Bedenken trägt nicht besonders weit, weil das skizzierte Modell genau für solche Verschachtelungen verschiedener Entwicklungen Raum lässt. Die Bestandsaufnahme zu Beginn des Wandels des historischen Individuums muss gar nicht summarisch und vollständig zu Beginn der historischen Narration gegeben werden. Ihr Auftreten in der ‚Leseordnung‘ hat nichts mit ihrer narrationslogischen Position in der ‚Fabel‘ selbst zu tun. Der Wandel in der Einstellung der Salier zu zum Beispiel den führenden Aristokraten muss insofern zu Beginn der Narration nicht angelegt sein, als zwangsläufig die Behandlung Konrads II. den Begriff der „konsensualen Herrschaft“, die Behandlung Heinrichs IV. die Konfrontation mit der „Reichsaristokratie“ und die Hinwendung zu den „Ministeria-
132 len“ umfassen und die Behandlung Heinrichs V. die vollständige Aufkündigung der „konsensualen Herrschaft“ mit sich bringen muss. Eine zunächst ereignisgeschichtliche Schilderung ‚staatstragender‘ Geschehnisse während des „Jahrhunderts der Salier“, welche das Verhältnis zwischen König und „Reichsaristokratie“ nur auf der Ebene der Ereignisgeschichte streift, kann von einer Darstellung ebendieses Verhältnisses in vertiefender Sonderbehandlung gefolgt werden. Theoretisch ließe sich eine Narration konstruieren, in der dieser Wandel bereits zu Beginn mit all den anderen für die Narration relevante Anfangszuständen geschildert wird – nur wird dann die Narration kaum noch lesbar sein. Es handelt sich also hierbei um eine Schwierigkeit, die mit Verweis auf Ansprüche auf stilistische Eleganz und argumentative Übersichtlichkeit erklärbar ist. Eine größere Herausforderung stellt jedoch das zweite Bedenken dar: Bestimmte Entwicklungen treten auf oder enden inmitten der Geschichte, also nicht an deren Anfang bzw. Ende. Die „Entstehung des Kreuzzuggedankens“ (C. Erdmann)169 und der Beginn der Kreuzzüge fallen in die Zeit der Salier, konnten aber noch nicht Teil des Anfangszustandes sein, sind aber Teil des Endzustandes. Doch warum sollte daraus folgen, dass das zweite Kohärenzkriterium unangemessen ist? Kann nicht auch in dieser Hinsicht die Möglichkeit erwogen werden, über die Verschachtelung der Narrationen diese Schwierigkeit aufzulösen? Denn wenn es keinen Zusammenhang zwischen den Ereignissen (in diesem Fall der Geschichte der Salier und der der Kreuzzüge) gäbe, dann bestünde ja gar keine Notwendigkeit sie in Beziehung zu einander zu setzen. Das ist zwar korrekt, reicht aber als Replik nicht aus, denn selbst wenn eine plötzlich eintretende Entwicklung unbedingt Teil der Narration sein muss, dann war sie dennoch nicht zwingend Teil des Anfangszustandes. Diese Schwierigkeit stellt einen wichtigen Grund dar, eine Modifikation am bisherigen Modell vorzunehmen: Historische Narrationen sind dem Einbruch des Kontingenten ausgeliefert. Das skizzierte minimalistische Modell vernachlässigt bislang genau diese Möglichkeit. Es trifft auf kleinteilige Narrationen und manche Sub-Narration zu. Weiträumiger angelegte Narrationen, wie die Geschichte der Sa169 Erdmann 1955.
133 lier, können jedoch nicht als Erklärungen eines Endzustandes aufgefasst werden, der sich aus einem festgelegten Anfangszustand entwickelt hat, und gleichermaßen kann kein Endzustand angenommen werden, der mit dem Ende der Geschichte zusammenfällt. Was also bleibt von diesem Modell? Die Verschachtelung einer Reihe von Sub-Narrationen, die im großen und ganzen dem Muster von Anfangs- und Endzustand mit einem explanativen Mittelteil entsprechen können. Was verloren geht, ist der eine Anfangs- und der eine Endzustand, die sich gleichsam auf Schienen aufeinander zubewegen. Doch nun stellt sich die Frage, wie eine Verschachtelung von SubNarrationen aussehen könnte, wenn sie nicht mehr als explanativer Mittelteil zwischen zwei festgelegten Zuständen aufzufassen sind? Oder anders ausgedrückt: Die Eleganz des minimalistischen Vorschlages, wie er bis hierher in Anlehnung an Dantos Modell entwickelt worden ist, bestand u. a. darin, eine Antwort darauf bereitgestellt zu haben, was zu einer Narration gehört und was nicht – was keine explanatorische Rolle im Mittelteil erfüllte und auch nicht zum Anfangs- oder Endzustand gehört, ist nicht Teil der Narration. Was also kann diese Funktion nun übernehmen? Die Antwort darauf besteht in der kohärenzstiftenden Funktion des historischen Individuums. Seine Veränderungen in der Zeit sind es, die verfolgt und jeweils erklärt werden sollen. Wann diese Veränderungen eintreten, ist selbst ein Teil der Geschichte, nicht eine Frage der Bestimmung der Ausgangsbedingungen und dem ihnen korrespondierenden Endzustand. Es muss, anders ausgedrückt, immer möglich sein, einen narrativen Strang zu einem Ende kommen zu lassen, ohne mit dem Ende der Geschichte des jeweiligen historischen Individuums zusammenzufallen, und gleichermaßen müssen neue Entwicklungen in die Geschichte integriert werden können, auch ohne bereits in einem (zumindest in seiner narrationslogischen Position) Anfangszustand bereits erwähnt zu sein. (Prinzipiell wäre es natürlich denkbar, den Anfangszustand so zu beschreiben, dass die später eintretende Entwicklung als noch nicht eingetreten eingeführt wird, aber das wäre eine allzu künstliche Auffassung.) Die verschiedenen narrativen Stränge werden dadurch vereinheitlicht, dass sie – ausgehend von der Vorstellung dessen, was Eigenschaft des historischen Individuums sein kann und was im jewei-
134 ligen Fall das Erkenntnisinteresse ist – als zeitlich versetzt einsetzende Eigenschaftswandlungen des Eigenschaftsträgers betrachtet werden.170 Das minimalistische Modell wird damit dahingehend modifiziert, dass zwei strikt festgelegte, einrahmende Zustände nun von einer Abfolge von rahmenden Zuständen abgelöst werden, deren vereinheitlichendes Prinzip nicht mehr in ihrer explanatorischen Rolle als Mittelteil besteht, sondern in ihrer Rolle als Eigenschaftsänderungen des historischen Individuums von einem frühen zu einem späten Zeitpunkt. Damit mag die schlichte Eleganz des ursprünglichen minimalistischen Modells verloren sein, den tatsächlichen Umständen wird sie jedoch gerechter.
170 Dieses Modell ähnelt dem Ricoeurs, das ebenfalls vorsieht, dass mehrere narrative Teil-Stränge („Fabeln“ in Ricoeurs Terminologie) zu einer Gesamtnarration verbunden werden können. Ricoeur geht allerdings noch davon aus, dass tatsächlich ein Anfangszustand und ein Endzustand die Narration einrahmen: „Was umgrenzt nun aber die Fabel des Mittelmeers? Ohne zu zögern kann man antworten: der Niedergang des Mittelmeeres als kollektivem Helden auf der Bühne der Weltgeschichte. Das Ende der Fabel ist in dieser Hinsicht nicht der Tod Philipps II. [wie es sich bei Braudel 2001 findet, J. K.], sondern das Ende des Zusammenstoßes zwischen den beiden politischen Kolossen [sc. dem Osmanischen und dem Spanischen Reich] und die Verlagerung der Geschichte zum Atlantik und nach Nordeuropa. Zu dieser umfassenden Fabel tragen nun aber alle drei Stufen [strukturelle, konjunkturelle und ereignisgeschichtliche, J. K.] bei. Während jedoch ein Romancier [...] sie alle drei zu einer einzigen Erzählung verschmolzen hätte, geht Braudel analytisch vor, indem er die Ebenen unterscheidet und es den Interferenzen überläßt, ein implizites Bild des Ganzen hervorzubringen. So kommt eine virtuelle Quasi-Fabel zustande, die sich in mehrere Teilfabeln aufspaltet [...].“ (Ricoeur 1988, 322 f.) Nur übersieht Ricoeur hier die Schwierigkeit, die sich daraus für die These von dem einen Anfangs- und dem einen Endzustand ergibt. Die jeweiligen Sub-Narrationen (um die hier vorgeschlagene Terminologie aufzugreifen) enden eben nicht schlicht mit dem Ende der Gesamt-Narration, ebenso wenig wie die Anfänge der Sub-Narrationen zwangsläufig mit dem Beginn der GesamtNarration einsetzen.
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3.3 Sind historische Darstellungen wesentlich narrativ? Eingangs dieses Kapitels wurde die Auffassung zurückgewiesen, die Geschichtswissenschaft ließe sich einerseits in ein narratives und andererseits in ein struktural-analytisches Genre aufspalten. Demgegenüber wurde behauptet, Geschichte sei wesentlich narrativ. Diese These gilt es zu belegen, denn der Anspruch, alle historischen Darstellungen als Narrationen aufzufassen, ist nicht unwidersprochen geblieben, schließlich scheinen andere Formen historischer Darstellung auf den ersten Blick mindestens einen Anspruch auf Gleichrangigkeit mit, wenn nicht gar Suprematie über historische Narrativität beanspruchen zu können. Zwei paradigmatische Fälle finden sich in der Literatur genannt. Nicht narrativ seien (1) Deskriptionen in einem prägnanten Sinn171 und (2) nomologische Erklärungen. (1) Für Deskriptionen (oder „Dokumentationen“) ist der Fall am leichtesten zu bewältigen. Für sie gilt, dass sie, insofern auch sie temporal sequenzierte Veränderungen eines Eigenschaftsträgers als Element der Deskription enthalten, bereits auf eine (Proto-)Narration zurückgreifen. Im Grunde ist das Modell der reinen Deskription der Dantosche Chronist, der zwar sämtliche aktuellen Eigenschaften eines Gegenstandes aufzählen kann, sich aber keiner kausalen Sprache und keiner „erzählenden Sätze“ bedienen kann.172 Eine solche Chronik stünde tatsächlich in einem Gegensatz zur historischen Narration173, dürfte aber kaum anzutreffen sein, denn 171 „Prägnant“ bezieht sich darauf, dass die Gegenüberstellung von z. B. präskriptiven Imperativen und deskriptiven Aussagen auch Aussagen als deskriptiv bezeichnet, die in Narrationen zum narrativen Verlauf gehören und vom deskriptiven Beschreibungsbestandteil einer Darstellung explizit abgegrenzt werden (vgl. Stempel 1973, 333 ff.). In diesem weiten Sinn von „deskriptiv“ sind historische Darstellungen selbstverständlich immer deskriptiv und zwar allein aufgrund der Tatsache, dass es sich um assertorische Rede handelt. Es ist aber nicht der „prägnante Sinn“, um den es hier gehen soll. 172 Danto 1980, Kap. VIII. 173 Vgl. auch Stempel 1973, 342: „Die Anordnung der Aussagen geschieht hier [in Chroniken und Annalen] nach dem rein äußerlichen Vorgang der materiellen
136 den Gegnern des universalen Narrativitätsanspruches – sofern sie sich auf den Gegensatz der Narration zur Deskription berufen – schwebt eine andere Argumentation vor. Es verhalte sich beileibe nicht so, dass eine historische Darstellung ausschließlich in Aussagen besteht, die untereinander in einem interaktionellen Zusammenhang stehen, also der Form E1 → E2, E2 → E3, E3 → E4, E4 → E5174 usf. folgen. Vielmehr bestehe ein großer Teil historischer Forschung darin, erstens komplexe (i. e. nicht-lineare) Zusammenhänge aufzufinden und zweitens Hintergründe aufzuhellen und darzustellen.175 Die interne Struktur historischer Narrationen enthält deskriptive (im prägnanten Sinn) Anteile und zwar in einer mannigfaltigen, komplexen Verwobenheit mit den narrativen Elementen. Narrative und deskriptive Elemente stehen in historischen Darstellungen in einem komplementären Verhältnis zueinander.176 Die übergeordnete Gattung ist jedoch die narrative, denn solange kein Wandel in der Zeit beschrieben wird, handelt es sich nicht um eine genuin historische Arbeit. Wird allerdings Wandel beschrieben, scheidet die rein deskriptive Form sprachlicher Repräsentation als Mittel der Darstellung aus. Versucht man ganze historische Darstellungen als reine Deskriptionen statt als Narrationen aufzufassen, dürfte dem kaum Chronologie der historischen Zeit [...]. Somit liegt eine Gegenform zur Narration vor [...]“ 174 An dieser Stelle ist „→“ kein logischer Operator. Er soll vielmehr schlicht anzeigen, dass die beiden Variablen in einem der oben genannten Zusammenhänge stehen und chronologisch nacheinander ablaufen. 175 Auf diese Weise argumentiert etwa Mandelbaum 2001. „However, the assumption that an historical account can be construed in terms of this linear model is not one which can withstand scrutiny even in those cases in which the specific events whose connections are to be traced are presumably determined by the decisions and actions of individual men.“ (Ebd., 55) Mandelbaum argumentiert, dass die narrative Sequenz durch Darstellung der vielfältigen Wirkungen und Rückwirkungen einzelner Ereignisse auf langfristige, gewissermaßen parallel verlaufende Entwicklungen und bestehende Bedingungen auf der einen Seite und beeinflussende Hintergründe auf der anderen Seite, die eben nicht narrativ dargestellt werden können, weil sie keine Entwicklung haben (zumindest nicht während des interessierenden Zeitabschnitts), abgebrochen wird (ebd., 56 f.). 176 Vgl. Stempel 1973, 326 und passim.
137 Plausibilität zuerkannt werden können, es sei denn der Deskriptionsbegriff wird in einem derart weiten, unproblematischen Sinn aufgefasst, dass jede Aussage eine Deskription ist. Damit würde jedoch der prägnante, hier interessierende Sinn von Deskription aufgegeben, der ja gerade erst den Gegensatz zwischen Deskription und Narration generiert. Das bedeutet, dass Historiker (zumindest theoretisch) durchaus Darstellungen vorlegen können, die nichts anderes tun, als historisch relevante Hintergründe auszuleuchten. Doch tun sie dies um Bedingungen von Ereignissen aufzufinden. Eine Studie, die sich nichts anderes vorgenommen hat, als Europa am Vorabend des Ersten Weltkrieges zu beschreiben, beschreibt Bedingungen, die für eintretende Entwicklungen relevant sind oder werden können. Die Bedingungen selbst sind aber erst dann von Interesse, wenn es bereits einen narrativen Zusammenhang gibt, der die Abfolge miteinander in Beziehung stehender Ereignisse sprachlich repräsentiert. In diesen narrativen Zusammenhang können diese Bedingungen ganz zwanglos integriert werden (was nicht unbedingt in derselben Studie geschehen muss). Eine Darstellung des Vorkriegseuropa (es sei angenommen, dass in dieser Darstellung narrative Elemente keine Rolle spielen, es sich also um eine deskriptive Darstellung im prägnanten Sinn handelt) kann als eine Formulierung der ‚Eigenschaften‘, Ursachen und Bedingungen des Kriegsausbruchs betrachtet werden. Der Zustand des hochgerüsteten, sich belauernden Europa ist eine Ursache für den Kriegsausbruch, denn das Wissen um das gegenseitige Misstrauen und die allseitige Bereitschaft, die hochgerüsteten Militärapparate auch einzusetzen, könnte zum Beispiel als Bestandteil der kognitiven Komponente der Entschlüsse einiger Politiker beschrieben werden. Die narrative Sequenz wird dadurch also nicht unterbrochen, sondern die Beschreibung der Ereignisse um wesentliche, deskriptive Aspekte bereichert.177 Formal könnte man sogar so argumentieren, dass es sich dabei 177 Es sei denn, man verlegt sich auf das unhaltbar rigoristische Argument, jegliche Abweichung vom sequentiellen Muster als Zerreißen des narrativen Zusammenhangs und damit als Ausscheiden der jeweiligen Darstellung aus dem Genre der Narration zu betrachten. Das würde aber bedeuten, dass jede Charakterdarstellung eines Akteurs, jede Zustandsbeschreibung einer Institution etc. das vorzeitige Ende einer Narration nach sich zöge. Ein solcher Rigorismus dürfte kaum glaubhaft sein, sprechen wir doch üblicherweise davon, dass etwa die Schilderung des
138 um eine parataktische Beschreibung der narrativ integrierten Ereignisse handelt, die – würde sie nicht parataktisch erfolgen – hypertrophe Ereignisbeschreibungen innerhalb einer einzigen Aussage verlangen würden. Also statt wäre zu lesen E1,p,q,r.178 Deskriptive Elemente sind folglich selbst in ihrer parataktischen Entzerrung nichts weiter als (zum Teil notwendige) deskriptive Anreicherungen der narrativ repräsentierten Abfolge von Ereignissen. Auf die gleiche Weise lässt sich der Einwand erledigen, historische Darstellungen handelten nicht nur von Ereignissequenzen und Veränderungen, sondern auch von komplexen Wechselwirkungen zwischen einer Unzahl von verschiedenen Zuständen, Prozessen und Ereignissen. Offenbar bleiben dem Historiker nur zwei Möglichkeiten, wenn er die komplexen Zusammenhänge sprachlich repräsentieren möchte, die zwischen den für seine Erzählung relevanten Ereignissen bestehen. Er kann eine lineare Darstellung wählen, die er an den jeweiligen Stellen mit den Verweisen auf zugrundeliegende Konjunkturen, Phasen, Umstände und Strukturen anreichert. Diese Verweise müssen dann an den entsprechenden Stellen wieder aufgenommen und fortgeführt werden.179 Oder aber er versucht sich daran, Charakters dieses oder jenes Akteurs innerhalb der Erzählung stattgefunden hat. Auch scheint mit solchen beschreibenden Passagen keine Schwierigkeit einherzugehen, den narrativen Bogen von Anfang bis zum Ende der Geschichte schlagen zu können. Problemlos sind wir dazu in der Lage, der narrativen Struktur weiter folgen zu können, selbst wenn eine extrem lange rein deskriptive Darstellung zwischengeschaltet ist – von einem Zusammenbruch der narrativen Struktur infolge einer solchen Einschaltung kann also nicht die Rede sein. 178 Mit dieser Notation soll angezeigt werden, dass etwa in das Ereignis E1 „Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien“ die Aussagen P („Europa war am Vorabend des Ersten Weltkrieges zum Krieg bereit.“), Q („Österreich-Ungarn wusste darum, dass Serbien von Russland unterstützt wurde.“) R („Österreich-Ungarn hatte eine ‚Blanko-Vollmacht‘ aus Berlin bekommen.“) auch folgendermaßen narrativ integriert werden könnten: E1,p,q,r („Österreich-Ungarn erklärte, nachdem es eine Blanko-Vollmacht aus Berlin bekommen hatte und um die Unterstützung Serbiens durch Russland wusste und darüber hinaus alle europäischen Mächte zum Krieg bereit waren, Serbien den Krieg.“) 179 Das scheint Ricoeur vorzuschweben, wenn er von „Interferenzen“ spricht. Er bezieht sich damit auf die verschiedenen Rück- und Vorverweise, die zwischen den
139 die eine lineare Darstellung möglichst konzise und übersichtlich zu halten, dafür aber die diversen Nebenkomplexe in jeweils thematisch gesonderten Narrationen zu behandeln.180 Welche Herangehensweise zu bevorzugen ist, wird davon abhängen, welche Faktoren der Historiker für entscheidend erachtet und welches Publikum er ansprechen möchte. Aber selbst wenn die zweite Herangehensweise gewählt wird, ist damit nur dann der narrative Charakter der Geschichtsschreibung wirklich widerlegt, wenn man rigoros davon ausgeht, dass lediglich die rein sequenzielle Präsentation Narrativität bedeuten kann und jede Abweichung davon das Ende von Narrativität darstellt. An dieser Stelle liegt es nahe, ein Missverständnis zu vermuten, das solchen Gegenargumenten ihre Anfangsplausibilität zu geben scheint. Es wird die endgültige Präsentationsform der Darstellung mit der ihr zugrundeliegenden kognitiven Repräsentation verwechselt. Die eigentliche Präsentation kann, gewissermaßen modular, die zugrundeliegenden Ergebnisse der kognitiven Repräsentation nach instrumentellen oder auch ästhetischen Erwägungen aller Art umstellen. Der Erkenntniswert der Darstellung bemisst sich jedoch an der Schicht der kognitiven Repräsentation. Man könnte auch sagen, es handle sich dabei um die Verwechslung von Form und Inhalt. Die letztlich gewählte Form der Darstellung mag von gewisser Reledrei Ebenen in Braudels „Mittelmeer“ stattfinden: die Ereignisgeschichte taucht im ersten Band auf, ebenso wie die Strukturen und Konjunkturen im dritten Band usf. 180 Um das obige Beispiel nochmals aufzugreifen: Eine Geschichte des salischen Königshauses kann versuchen, jegliches Ereignis unmittelbar bei seiner Erwähnung gänzlich in den Zusammenhang mit all den Nebenentwicklungen zu stellen, die von relevantem Einfluss auf dieses Ereignis waren, oder aber der Verweis auf eine spätere systematische Behandlung des gesamten Komplexes tritt an diese Stelle. So kann man etwa versuchen, die Wahl Rudolfs von Rheinfelden zum Gegenkönig unmittelbar mit den ‚konjunkturellen‘ Entwicklungen (z. B. das Engagement der Laien für die Kirchenreform, die Auseinandersetzung zwischen regnum und sacerdotium, die allmähliche Entfremdung der „Reichsaristokratie“ vom salischen Königshaus) in Zusammenhang zu setzen oder jeder einzelnen dieser Entwicklungen eine gesonderte systematische Behandlung zukommen zu lassen (z. B. ein Kapitel über die Entwicklung der Kirchenreform oder eines über das Verhältnis zwischen Adel und Königshaus).
140 vanz sein, die entscheidenden kognitiven Beziehungen bestehen bereits auf der Ebene der Repräsentation – und genau diese Ebene ist zumindest für die Geschichtswissenschaft wesentlich narrativ. Ereignisse, Umstände, Tatsachen, Komplexe, Prozesse etc. sind nur dann überhaupt solche erfassbar (repräsentierbar), wenn sie in einen narrativen Zusammenhang gestellt werden. Das bedeutet, dass Argumentationen, die auf ein schlicht gegebenes Faktensubstrat hinweisen, indem sie Aussagen wie „Der Zweite Weltkrieg begann am 1. September 1939“ äußern, sich bereits auf einen narrativen Zusammenhang stützen, der es überhaupt erst ermöglicht, diese Aussagen zu bilden und dann auch zu verstehen. Ein Sprecher kann eine Sprache vollständig beherrschen und ohne Kontextualisierung (die im Falle historischer Erkenntnis eben narrativ sein wird) dennoch nicht verstehen, was die Bedeutung der Aussage „Am 1. September begann der Zweite Weltkrieg“ sein könnte. Selbst unumstrittene, beinahe jedem bekannte und allenfalls von einem Universalskeptizismus zu bezweifelnde Aussagen sind damit nicht einfach ohne (narrativen) Kontext zu bekommen, geschweige denn zu belegen. Narrative Zusammenhänge auf der Ebene der kognitiven Repräsentation sind also die Voraussetzung, um überhaupt (wie es die obige Gegenargumentation vorsah) auf der Präsentationsebene von einer narrativen Darstellung abrücken zu können. So ist eine rein deskriptive Darstellung des Vorabends des Ersten Weltkrieges überhaupt erst als Darstellung des Vorabends des Ersten Weltkrieges möglich, weil diese ausschließlich narrativ konstituierte Ebene zugrundeliegt, in der Europa vom Frieden zum Krieg taumelt. Doch wie steht es mit dem oben genannten offensichtlichen Gegenbeispiel, den komparativen Studien?181 Handelt es sich dabei tatsächlich noch um Narrationen? Wie oben festgestellt worden ist, muss die Antwort darauf „Nein“ lauten. Es könnte also sein, dass verschiedene Narrationen bzw. narrative Elemente innerhalb einer übergeordneten Deskription zusammen181 Ein weiteres Gegenbeispiel wäre Gumbrechts 1926. Ein Jahr am Rande der Zeit, das der Darstellung von Ereignissen, Begriffen, Strukturen, ‚Kulturen‘ u. a. gewidmet ist. Sein Aufbau ist im striktesten Sinn anti-narrativ, weil die Arbeit nach lexikalisch-enzyklopädischer Ordnung aufgebaut ist. Inwiefern diese Arbeit als genuin historisch betrachtet werden kann, ist fraglich. Sie setzt jedenfalls historische Prinzipien voraus, indem sie sie in ihr Gegenteil verkehrt.
141 gefasst werden (wie das im Falle eines Vergleichs zwischen zwei historischen Individuen geschieht). Solche Studien bauen jedoch auf der genuin historischen Leistung auf, die Veränderung historischer Individuen durch die Zeit hindurch zu verfolgen. Eine historische Leistung in einem strikten Sinn liefern sie also erst ab, wenn es ihnen gelingt, diesen Wandel selbst zu erhellen. Überspitzt formuliert, könnte gesagt werden, dass deskriptive Studien dieser Art parasitär auf der eigentlichen historischen Leistung der zugrundegelegten historischen Narrationen aufsitzen.182 Deskriptive historische Elemente sind nur insofern Elemente historischer Arbeiten, als sie einen etablierten narrativen Zusammenhang voraussetzen, dessen Verlaufsgerüst sie anreichern können. Deskriptionen im prägnanten Sinn stehen demnach der These vom wesentlich narrativen Charakter der Geschichtsschreibung nicht entgegen. (2) Wie sieht es aber mit dem zweiten Gegenmodell aus? Das zweite Gegenmodell gesteht zwar zu, dass historische Darstellungen durchaus narrative Anteile haben, im Grunde aber Kausalerklärungen sind.183 Diese Konzeption ist jedoch aus mehreren Gründen wenig überzeugend. (i) Zunächst einmal kann auf Dantos Erkenntnis verwiesen werden, dass nomologische 182 In diesem Sinn könnte z. B. der erste Band von Braudels Mittelmeer insofern als nicht-historisch bezeichnet werden, als er lediglich die über Jahrtausende unveränderten topographischen und klimatischen Rahmenbedingungen mediterraner Geschichte beschreibt. Erst sein Vorverweis auf die nachfolgenden Betrachtungen konjunktureller Wandlungen (im zweiten Band) und ereignisgeschichtlicher Darstellung (im dritten Band) macht den ersten Band zu einem Teil einer Narration. Vgl. Ricœurs Versuch, die Darstellung des ersten Bandes von Braudels Mittelmeer als mit unverzichtbaren Vorverweisen auf die „Fabeln“ der beiden folgenden Bände gespickt zu erweisen (ders. 1988, 312 ff). Erst diese Vorverweise auf die eigentliche Geschichte, d. h. die Abfolge von Ereignissen und damit die Abfolge von Veränderung, macht den ersten Band überhaupt zu einem eigentlichen Teil der gesamten Narration, wodurch er auch zu einem genuinen Bestandteil der Narration wird. Alle drei Bände ergeben gemeinsam, so die Schlussfolgerung Ricœurs (1988, 320), eine Fabel; auch der Teil, der einer reinen Deskription im prägnanten Sinn am nächsten kommt, ist einem Ganzen narrativen Charakters untergeordnet. 183 So wendet sich etwa Murphey dezidiert mit dieser Unterscheidung gegen den Narrativismus (1994, 285 f.).
142 Erklärungen in Narrationen transformiert werden können. Die Transformationsthese (so könnte sie genannt werden) behauptet, dass eine Erklärung nach dem D-N-Schema ein Explanandum hat, das einem Gegenstand X die Eigenschaft G zuschreibt und im Explanans demselben Gegenstand die Eigenschaft F. (Wenn ich wissen möchte, warum der Autokühler gefroren ist, impliziere ich damit, dass es eine Zustandsänderung des Kühlers von F zu G gibt, was natürlich nicht im Explanandumssatz erwähnt werden muss.) Nach dem Schema der narrativen Erklärung von Handlungen kann die D-N-Erklärungsform nun so aufgelöst werden, dass die „narrativ erklärte Handlung als Veränderung thematisch [wird], als etwas, was im Gegensatz zum Zeitpunkt t3 zum Zeitpunkt t1 noch nicht war“. „Durch den narrativen Zugang wird eine Handlung als temporal komplexes Phänomen aufgefaßt. Ihre Sinn- und Bedeutungsstruktur ist fortan an die temporale Tiefenstruktur dieser Handlung gekoppelt, ohne deren Berücksichtigung der fragliche Akt weder angemessen identifiziert und beschrieben noch erklärt werden kann. Geschichten erzählen heißt, temporal komplexe Phänomene als solche zu konstituieren und zu artikulieren, sie beschreibend darzustellen und narrativ zu erklären.“ Es verhalte sich so, dass „die Konstitutionsfunktion, die Beschreibungsfunktion und die Erklärungsfunktion einer Erzählung zwar analytisch unterschieden werden können, praktisch aber in ein und demselben narrativen Akt erfüllt werden.“184 Das Explanandum einer Erklärung kann, mit Danto,185 so formuliert werden: „E: x ist F in t1 und x ist G in t3“. Es findet ein Wandel in der Zeit statt, der eine Veränderung von x darstellt. Zwischen t1 und t3 liegt ein Ereignis (oder liegen mehrere Ereignisse), das die Veränderung verursachte: (1) x ist F in t1 (2) H ereignete sich mit x in t2 (3) x ist G in t3 (1) und (3) bilden das Explanandum. Damit haben wir eine narrative Struktur, die den genannten Strukturmerkmalen von Narrationen entspricht: einen Anfang (X zu t1 mit Eigenschaft F, das heißt, ohne Handlung H ausgeübt zu haben), einen Mittelteil (der Grund, die Ursache der Handlung zu 184 Alle Zitate Straub 2000, 278. 185 Straub 2000, 279 gibt die Analyse Dantos (1980, 375) wieder.
143 t2) und einen Schlussteil (X zu t 2 mit Eigenschaft G, das heißt, Handlung H ist ausgeübt worden).186 Prinzipiell kann jede D-N-Erklärung auf analoge Weise in eine narrative Erklärung transformiert werden. Jede Erklärung (im Sinne des D-N- oder I-S-Schemas) ist eine Narration oder kann in eine solche umformuliert werden. (ii) Hinzu kommt, dass das nomologische Modell kaum durchgehend durchzuhalten sein dürfte. Die Kritik am nomologischen Erklärungsmodell hat im Lauf der Jahre zu einer Erosion seines Einflusses geführt.187 Größere Plausibilität für die Geschichtswissenschaft dürfte ein gemischtes Erklärungsmodell besitzen, wie es etwa von Wright 188 und im Anschluss an ihn Ricoeur vorgeschlagen haben: intentionales und teleologisches Verstehen wechseln sich mit singulären Kausalanalysen und nomologischen Erklärungen ab. Ein solchermaßen gemischtes Modell wird den tatsächlichen explanatorischen Gegebenheiten in historischen Darstellungen eher gerecht als ein rein nomologisches Modell.189 186 Danto 1980, 376 (hier nach Straub 2000, 279, wiedergegeben). 187 Ricoeur zeigt ausführlich das allmähliche Abschmelzen des nomologischen Ausschließlichkeitsanspruchs unter den Angriffen von Autoren wie William Dray, Patrick Gardiner und auch G. H. von Wright, ebenso wie die allmählich gewachsene Liberalität demgegenüber, was als nomologische Erklärung gelten kann (Ricoeur 1988, 181-214). 188 In von Wright 1974. 189 Ein dritter potentieller Einwand gegen den Universalismus des nomologischen Erklärungsmodells könnte auf den ersten Blick in der These der narrativen Psychologie (vgl. z. B. Bruner 1998 und Tversky 2004) bestehen, der zufolge wir Veränderungen narrativ wahrnehmen. Kognitiv seien wir also notwendig auf narrative Operationen verwiesen, wollen wir Veränderungen erfahren. In den Worten Jürgen Straubs: „Zeit und Erzählung sind [...] theoretisch und praktisch voneinander abhängig. Sie bilden einen notwendigen Zusammenhang. Im Erzählen werden die Welt und das Selbst in ihrer diachronen Struktur thematisch.“ (Straub 2000, 277) Selbst wenn diese These zuträfe – und in der vorliegenden Arbeit wird davon ausgegangen –, ist damit noch nichts darüber gesagt, ob wir einer Erklärung erst dann Wissenschaftlichkeit attestieren dürfen, wenn sie gemäß des D-N- oder I-S-Schemas vorgelegt wird. Zwischen der Struktur der kognitiven Verarbeitung der Ereignisse in der Welt und den argumentativ-propositional einzulösenden Erklärungsansprüchen können isomorphe Beziehungen herrschen, müssen es aber nicht.
144 Doch allein dadurch, dass der nomologische Erklärungsuniversalismus den Gegebenheiten nicht gerecht werden kann und dass sich nomologische Erklärungen in narrative Erklärungen transformieren lassen, folgt noch nicht, dass historische Darstellungen wesentlich narrativ sind. Ja, es stellt sich sogar das Problem, dass das Argument aus (2)(i) nun der narrativen These auch noch die Last aufbürdet, weitere Erklärungsmodi in narrative Form transformieren können zu müssen. Eine solche erweiterte Transformationsthese ist aber gar nicht zwingend für den Narrativisten erforderlich. Vielmehr kann er von der Transformationsthese zur Inkorporationsthese übergehen: Nomologische Erklärungen und andere Erklärungsmodi können in Narrationen inkorporiert werden. Auf der Basis der bereits vorgestellten Überlegungen, sc. dass Narrationen Eigenschaftsveränderungen des Protagonisten und interaktionelle Beziehungen zwischen Ereignissen repräsentieren, die ‚Eigenschaften‘ des Protagonisten sind bzw. diese erklären und beschreiben, folgt eine vollständige Offenheit angesichts der Frage, welcher Art der Mittelteil einer Erzählung sein muss. Es kann sich, wie bereits oben eingeführt, um eine nomologische Erklärung handeln, um eine intentionalistische nach von Wright o. a. m.190 Umgekehrt dürfte es jedoch schwerfallen, dem nomologischen Erklärungsmodell (oder auch den anderen Erklärungsmodellen) eine ähnlich integrative Kraft bescheinigen zu können wie einem narrativen Modell. Die anderen Erklärungsmodelle wären gezwungen, entweder ihren Ausschließlichkeitsanspruch fallen zu lassen oder ein integratives Modell zu entwickeln, in dem alle anderen Erklärungsmodi unter dem Primat eines Erklärungsmodus untergebracht werden können. Insgesamt kann daher gesagt werden, dass das hier vorgelegte minimalistische Modell zwar den erwähnten Schwierigkeiten unterliegt. Ein narratives Modell aber, das historischen Darstellungen einen wesentlich narrativen Charakter zuschreibt, besitzt den Vorteil, der Diversität historischer Erklärungen Rechnung tragen zu können. Mit anderen Worten, Narrativität 190 Zum integrativen Potential historischer Narrationen, das eine Vielzahl potentieller Erklärungsformen, i. e. intentionales Verstehen, nomologisches Erklären, quasikausale Erklärungen nach von Wright, funktional-teleologische Erklärungen, umfasst, vgl. Ricoeur 1988, S. 213: die Fabel als „Synthese des Heterogenen“.
145 nach dem vorgelegten Modell verhindert durch die Inkorporation von verschiedenen Erklärungsmodellen unter dem Dach einer historischen Narration, dass aus dem tatsächlich vorliegenden Erklärungspluralismus ein Erklärungspimperialismus wird, der nicht auf Integration unter einem gemeinsamen (narrativen) Dach aus ist, sondern auf einen Reduktionismus, wie er lange in Form des nomologischen Universalitätsanspruchs auftrat. Ebenso wie das narrative Modell dazu in der Lage ist, den vermeintlichen Gegensatz zur reinen Deskription zu überwinden, ist es auch dazu in der Lage, dem faktisch vorhandenen Erklärungspluralismus in der Geschichtsschreibung Rechnung zu tragen. Die vermeintlichen Konkurrenzmodelle zum narrativen Modell erweisen sich damit als komplementär und innerhalb eines übergeordneten Narrativismus als integrierbar, keinesfalls jedoch als konträr.
146
3.4 Resümee Aus den bisherigen Erörterungen ergibt sich zusammengefasst das minimalistische Modell historischer Narrativität, das eine historische Darstellung als eine temporal sequenzierte Abfolge von Deskriptionen, intentionalistischem Verstehen, funktionalistischen und nomologischen Erklärungen und argumentativ-deduktiven Elementen versteht. Historische Darstellungen sind dabei als wesentlich narrativ aufzufassen, weil sie den Wandel eines historischen Individuums durch die Zeit verfolgen, wozu keine der alternativen Auffassungen von historischen Darstellungen in der Lage ist, ohne ihrerseits Teil einer übergeordneten Narration zu sein. Eine solche Darstellung ist modular aufgebaut, das heißt, sie ist ihrerseits in narrative Abbreviaturen, Proto- und Sub-Narrationen analysierbar, die ihrerseits wiederum auf Erklärungsmodi aller Art und Sub-Narrationen, narrative Abbreviaturen und Proto-Narrationen zurückgreifen können. Eine solch minimalistische Narrationskonzeption zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich, im Gegensatz zum postmodernen Narrativismus, weitgehender epistemologisch-alethischer Schlussfolgerungen enthält oder besser: keine solche Schlussfolgerung präjudiziert. Sie kann zwar, indem weitere Prämissen eingeführt werden, zu einer anti-objektivistischen Theorie weiter ausgebaut werden, muss dies aber nicht. Sie lässt gleichermaßen Raum für eine Vereinbarung von Objektivität und Narrativität. Aber welche weiteren epistemologisch-alethischen Prämissen auch immer in das minimalistische Modell eingehen, sie werden auf eine Emergenzthese verzichten müssen, denn sowohl aus der modularen Bauweise von Narrationen als auch dem komplementären Verhältnis von Deskriptionen (im prägnanten Sinn) und narrativen Elementen geht hervor, dass kein alethischer Bruch oder Sprung in der narrativen Darstellung der Vergangenheit möglich ist. Von der kleinen narrativen Handlungserklärung, der nie ihre Korrespondenzfähigkeit abgesprochen werden kann, weil sie formal jeder Handlungserklärung im Alltag analog ist, über umfangreichere narrative Erklärungen und Darstellungen von Handlungszusammenhängen und Ereignisabfolgen bis hin zur Jahrhunderte überspannenden
147 Darstellung des Eigenschaftswandels eines historischen Individuum, greifen kleine und kleinste Proto- und Sub-Narrationen ineinander. Der postmoderne Narrativist müsste die Frage präzise beantworten können, an welcher Stelle gesagt werden könnte, dass diese Sub-Narration korrespondenzfähig, jene Sub-Narration es aber nicht mehr ist. Hinzu kommt, dass deskriptive Abschnitte in dieses minimalistische Modell als komplementär integriert werden können. Deskriptionen stehen aber nicht im Verdacht, fiktionalisierend zu wirken. Sind also die deskriptiven Abschnitte einer Narration korrespondenzfähig, solange sie nicht narrativ verbunden werden? Nach diesem Kriterium würde immer, wenn eine Ereignis beschrieben werden würde, Wahrheitsfähigkeit gegeben sein, in dem Augenblick aber, in dem ein Ereignis als Ereignis, das heißt, als Zustandsänderung eines Gegenstandes aufgefasst wird, plötzlich eine Fiktion vorliegen. Wie wäre es uns dann aber überhaupt möglich, Ereignisse beschreiben zu können? Wir müssten uns, wenn Ereignisse als Ereignisse zu betrachten immer nur Fiktionen hervorbrächte, immer zwischen der Korrespondenz statischer Deskriptionen und der Fiktionalisierung durch die Erfassung von historischem Wandel entscheiden: Entweder wir entscheiden uns für Korrespondenz und beschreiben etwas, wie es ist, war und bleiben wird oder wir beschreiben den Wandel, verzichten aber dafür auf jeden Korrespondenzanspruch. Ein solches Entscheidungsszenario muss aber klar zurückgewiesen werden und mit ihr die theoretischen Behauptungen, aus der es geschlussfolgert werden muss. Nach all den epistemologischen und wissenschaftstheoretischen Wunderdingen, die der (historischen) Narrativität zugedacht, wo nicht angedichtet worden sind, nimmt sich ein solch minimalistischer Ansatz zu bescheiden, um nicht zu sagen: beschränkt aus. Konnte Narrativität unter den Händen postmoderner Theoretiker die Geschichte als Wissenschaft zu Fall bringen, so besteht der wissenschaftstheoretische „outcome“ des Minimalismus lediglich darin, sich weitreichender Schlussfolgerungen zu enthalten, obschon Narrativität essentiell zum Charakter der Geschichtsschreibung hinzugehört. Der Zauber der Narrativität, der die Theoretiker seit nun schon einigen Jahrzehnten in ihren Bann geschlagen hat, verflüchtigt sich damit. Aber dieses Ergebnis sollte bei nüchterner Betrachtung nicht weiter
148 überraschen. Wurde in diesem Abschnitt dafür argumentiert, dass Geschichtsschreibung wesentlich narrativ ist, so hätte man diese Erkenntnis auch auf anderem Wege erreichen können, der ohne weitere Umschweife hin zum Minimalismus geführt hätte. Narrativität nimmt in der Geschichtswissenschaft dieselbe Funktion ein, die sie auch im Alltag einnimmt: Wir verständigen uns mit Hilfe kleiner und kleinster Narrationen über die Verhältnisse in der Welt. Und so, wie wir uns im Alltag über eine langjährige Freundschaft narrativ Rechenschaft abgeben, auf eine Karriere zurückblicken oder andere Veränderungserzählungen zu einem alltäglichen „historischen Individuum“ wiedergeben, so sprechen und denken wir auch über die Geschichte. Geschichtsschreibung ist nichts anderes als eine (methodologisch unterfütterte, mit zum Teil kriminologischem Verstand zusammengestellte, auf etliche Hilfswissenschaften angewiesene)191 Alltagsverständigung über bestimmte Veränderungen bestimmter Individuen. Dieses Verhältnis zur Alltagssprache leuchtet sofort ein, wenn man sich das Verhältnis von Geschichtsschreibung und Quellen ansieht. Die erste historische Bemächtigung eines Phänomens erzeugt ein erzählendes Werk, das im Grunde nichts anderes ist, als der alltägliche Versuch, Ereignisse, die fremd, unverstanden oder zusammenhanglos sind, in einen Kontext zu bringen. Dass nun Geschichte häufig auf diese historischen Primärerzählungen weitere (Sekundär-, Tertiär- usf.) Erzählungen aufschichtet, verändert nun nicht weiter das Wesen der Geschichte, eine Verlängerung der Alltagsrede (und des Alltagsdenkens) zu sein, denn auch solche Metaleistungen werden im Alltag vollbracht, wenn auch seltener und von deutlich geringerer Komplexität. Geschichte als anspruchsvolle Form der Alltagsrede und des Alltagsden191 Hier stellt sich natürlich die Frage nach dem Wissenschaftscharakter der Geschichte von einer anderen Seite her: Ist die Geschichte – ihren Objektivitätsanspruch, um den es ja in der vorliegenden Arbeit geht, einmal vorausgesetzt – überhaupt eine Wissenschaft? Damit wäre man wieder bei den Diskussionen um die Kriterien von Wissenschaft überhaupt und des Wissenschaftskriteriums der Geschichte im Speziellen, das so lange die Diskussion dominiert hat. Beide Diskussionsstränge sind eng miteinander verschlungen, sollten aber nicht verwechselt werden.
149 kens zu betrachten, ist bereits deutlich geworden, als es um die Zurückweisung des postmodernen Narrativismus ging. Dort wurde gesagt, dass sich eine sowohl semantisch-alethische, als auch eine modulare Kontinuität von den kleinsten Narrationen hin zu den umfangreichsten historischen Epen, die sich mit nichts geringerem befassen als der gesamten Weltgeschichte, durch die Geschichtsschreibung ziehen. Und an dieser Stelle lässt sich nun die Kontinuität nach ‚unten‘ verlängern: Historische Narrationen stehen mit den Narrationen des Alltags in derselben semantisch-alethischen wie auch modularen Kontinuität, wie sie sich von den Sub- und Protonarrationen zu den historischen Großerzählungen zieht. Damit wird auch Ankersmits Fehlschluss von der Intensionalität bzw. Opakheit historischer Narrationen auf ihren vermeintlich notwendig fiktionalen Charakter noch einmal von einer anderen Seite her deutlich. Historische Narrationen sind in demselben Sinn intensional und opak, wie das auch die Sprache des Alltags ist und zwar aus dem Grund, dass historische Narrationen eine Spezies der Sprache des Alltags sind. Ist damit aber der Minimalismus nicht eben doch enttäuschend und über Gebühr beschränkt? Immerhin könnte mit einer Konzeption, die Geschichte als Spezies des Alltagsdenkens und -sprechens auffasst, doch insofern epistemologisch Staat gemacht werden, als damit der faktuale Charakter der Geschichte erwiesen ist und sich genau auf diese Weise gewissermaßen das Wunschergebnis eingestellt hat, wenn auch auf einem anderen Weg als dem hier beschrittenen. Das trifft aber nicht zu, weil (historische) Narrationen auch im Alltag keine Garantie für die Objektivität dessen sind, was sie mit ihnen ausgedrückt werden soll. Wir können narrativ lügen oder die Wahrheit sagen; wir können Tatsachen berichten oder Romane zum besten geben – die Narrativität als Form der Repräsentation von Sachverhalten ermöglicht uns beides. Dass Objektivität und Fiktion, Wahrheit und Lüge nicht gleichberechtigt sind, dürfte klar sein. Ohne ihren faktualen Anspruch könnten wir nicht fiktionalisieren oder lügen, weil Fiktion und Lüge sich ansonsten nicht parasitär auf Kosten des Anspruchs assertorischer Rede auf Objektivität und Wahrhaftigkeit ihre Wirkung erzielen könnten. Sie könnten dies aber auch nicht, wenn die bloße Form der Rede, das heißt ihre Narrativität als solche
150 bereits Wahrheit und Objektivität verbürgen würden. Narrativität bringt zwar den Anspruch auf Objektivität mit sich, nicht jedoch eine semantische Weiche, die Diskurse automatisch auf Fiktion oder Objektivität stellt. Die minimalistische Narrationskonzeption ist aber nicht nur von Nutzen, wenn es um die Zurückweisung der postmodernen Objektivitätsverabschiedung geht. Von weiterer Bedeutung für die vorliegende Arbeit ist sie gerade dadurch, dass sich das minimalistische Narrationskonzept als Element der angestrebten Vereinbarung von Standortgebundenheit und Objektivität anbietet, weil die Konstruktion des historischen Individuums, dessen Eigenschaftsveränderung eine Geschichte erzählt, von eminenter Bedeutung sein wird. Doch bevor darauf weiter eingegangen werden kann, muss der gegen die Vereinbarung von Standortgebundenheit und Objektivität gerichtete Positivismus betrachtet werden.
4. Der positivistische Objektivismus
Nachdem die postmodern-narrativistischen Einwände gegen historische Objektivität abgewiesen worden sind und ein minimalistisches Narrativitätsmodell entworfen worden ist, stellt sich die Aufgabe, die Vereinbarkeit von Objektivität (i. S. des Komponentenmodells) mit Standortgebundenheit gegen eine theoretische Position zu verteidigen, die Objektivität besonders rigide interpretiert. Diese Position soll als positivistischer Objektivismus192 bezeichnet werden. Sie ist eine Extremversion des Objektivismus, die Kutschera als „falsche Objektivität“ bezeichnet und die in der philosophischen Literatur etwa von Nagel und Rorty kritisiert worden ist.193 Das Kernelement der „falschen Objektivität“ ist die Vorstellung einer Erkenntnis der Objekte in der Welt „wie sie an sich sind“, das bedeutet, wie sie restlos unabhängig von den ‚Verzerrungen‘ durch eine Perspektive er192 Mit der Bezeichnung „positivistisch“ soll keineswegs gesagt werden, dass alle Theoretiker, die dem Positivismus zugerechnet werden, genau diese Auffassung von Objektivität vertreten haben oder vertreten müssten. Darüber hinaus muss an dieser Stelle betont werden, dass der „positivistische Objektivismus“ hier nicht anhand eines Autors oder einer ganz bestimmten Theorieschule diskutiert werden soll. Es handelt sich um eine denkbare, systematische Gegenposition, die idealtypisch aus einer ganzen Reihe von Aussagen unterschiedlichster Provenienz zusammengestellt worden ist. Man könnte sie historisch am ehesten einem kruden Historismus annähern. Sie kann jedoch nicht kurzerhand mit dem Historismus schlechthin gleichgesetzt werden, wie das gelegentlich geschieht. Mit einer solchen Identifikation wird nur eine der vielen Begriffsdifferenzierungen des Historismus eingefangen. Vgl. Wittkau 1994 für einen Überblick über die Vielgestaltigkeit des Historismus. Systematisch wird diese Position von Munslow 2003 (und 1997) unter dem Begriff des „Rekonstruktionismus“ diskutiert. Kutschera 1993 baut in einem ähnlichen idealtypischen Manöver eine analoge Gegenposition, die er „Materialismus“ nennt, zu seiner Theorie auf. Appleby et al. 1994 diskutieren diese Position unter dem Titel „heroic model of science“, das sie historisch bis zur Aufklärung zurückverfolgen (ebd., 15-51). 193 Kutschera 1993, 1 und Kap. 9; Nagel 1991 und 1986; Rorty 1991.
152 kannt werden können. Paradigmatisch für diese Form des Objektivismus sei, laut Kutschera, der Physikalismus, der jede Erkenntnis auf eine von aller sinnlichen Anschauung und menschlichen Perspektive bereinigte Physik reduzieren möchte, um auf diese Weise zu erkennen, wie die Dinge an sich sind. Der Fokus liegt auf der unverzerrten Korrespondenz zwischen dem Erkannten (‚der Welt‘) und unserer Erkenntnis bzw. unserer Darstellung des Erkannten. Damit ist der korrespondenztheoretische Kern von Objektivität in extremis zu einem epistemologischen Absolutismus erhoben worden, der Objektivität mit dem Zugang zu einer unverzerrten Abbildung der Welt identifiziert; der also ganz im Geist der Realdefinitionsstrategie die konzeptuelle Vielfalt des Objektivitätsbegriffs auf eine einzige Spielart, in diesem Fall die maximal mögliche Neutralität des Historikers, sprich, die Auslöschung seiner Persönlichkeit reduziert. Mit dieser Idealvorstellung von Erkenntnis geht eine ganze Reihe von weiteren epistemologisch und wissenschaftstheoretischen Grundüberzeugungen einher, die eine solche Idealvorstellung überhaupt erst machbar erscheinen lassen. Sie gilt es im folgenden herauszuarbeiten und knapp zu skizzieren.
153
4.1 Grundzüge des positivistischen Objektivismus Zentrale Züge des positivistischen Objektivismus sind bereits 1935 von Charles Beard in seiner Auseinandersetzung mit seinem Kollegen T. C. Smith herausgestellt worden: Can Mr. Smith’s noble dream, his splendid hope, be realized in fact? [...] This theory that history as it actually was can be disclosed by critical study, can be known as objective truth, and can be stated as such, contains certain elements and assumptions. The first is that history [...] has existed as an object or series of objects outside the mind of the historian (a Gegenüber separated from him and changing in time). The second is that the historian can face and know this object or series of objects and can describe it as it objectively existed. The third is that the historian can [...] divest himself of all taint of religious, political, philosophical, social, sex, economic, moral, and aesthetic interests, and view his Gegenüber with strict impartiality somewhat as the mirror reflects any object to which it is held up. The fourth is that the multitudinous events of history as actuality have some structural organization through inner (perhaps causal) relations, which the impartial historian can grasp by inquiry and observation and accurately reproduce or describe in written history. The fifth is that the substances of this history can be grasped in themselves by purely rational or intellectual efforts [...].194 Der positivistische Objektivismus vertritt demnach eine Reihe von epistemologisch-wissenschaftstheoretischen Grundüberzeugungen: Zunächst handelt es sich um die Grundüberzeugung, dass Objektivität dann erreicht ist, wenn eine korrespondierende Darstellung der Sachverhalte, die in der Welt bestehen, gegeben worden ist. Dabei kann Korrespondenz nur vorliegen, wenn potentielle Verzerrungen ausgeschaltet worden sind. Der positivistische Objektivist ist, will er dieses Ziel erreichen, dazu gezwungen, eine monistische Sicht auf narrative Redeskriptionen einzunehmen, die da194 Beard 1964, 317.
154 von ausgeht, dass eine Pluralität von Darstellungen nur insofern gerechtfertigt werden kann, als die narrative Pluralität eine leider zu durchlaufende und zu überwindende Durchgangsstation hin zu der einen letztgültigen Darstellung ist.195 Erkenntnisfortschritt wird nur erzielt, indem die diversen, immer nur vorläufig gültigen Darstellungen schließlich von der einen Gesamtdarstellung überholt werden. Wenn Korrespondenz nur bestehen kann, wenn perspektivische Einflüsse ausgeschaltet worden sind, reduziert sich die Rolle des Erkenntnissubjekts auf die eines bloßen Durchlauf- und Abbildungsmediums, dem allenfalls noch gewisse höherstufige interpretatorische Kompetenzen und Aufgaben zugedacht werden. Die Basis des historischen Erkenntnisprozesses bilden auffindbare, man könnte sagen: gegebene Daten, die, werden sie denn unverzerrt aufgenommen, im Erkenntnissubjekt die unfehlbaren Grundlagen, das heißt: sicher gegebene Falsifikations- bzw. Verifikationsinstanzen für weitergehende Interpretationen dieser Daten abgeben. Dabei mag ihre Interpretation einige Unsicherheiten mit sich bringen, wird aber auch sie (methodisch) korrekt durchgeführt, dann besteht auf der interpretatorischen Ebene ebenso eine Korrespondenz zwischen Erkenntnis und Erkenntnisgegenstand wie auf der Datenebene. Jede Abweichung – und das heißt auch: jede Modifikation und damit jeder Versuch einer Vereinbarung von Standortgebundenheit mit Objektivität – von diesem, mit Popper gesprochen, „Kübelbild“ wird als Anti-Objektivismus, mithin als illegitim und nicht-wissenschaftlich, angesehen.196 Wo 195 Vgl. Minks These, dass sich auch die moderne Geschichtsschreibung noch nicht restlos vom Anspruch der Universalgeschichte getrennt habe, eines Tages die diversen Darstellungen der verschiedenen Historiker wenigstens idealiter zu der einen großen Darstellung der einen (universalen) Geschichte aufsummieren zu können (Mink 1987b, 189-195). 196 Vgl. Poppers Kritik an der „Erkenntnistheorie des Alltagsverstandes“ (1993, 61 ff.). Der Kern der Erkenntnistheorie des Alltagsverstandes mache das „Kübelbild“ oder auch: die „Kübeltheorie des Geistes“ aus: „Unser Geist ist ein Kübel, anfangs leer, oder mehr oder weniger leer, und in diesen gelangt Material durch unsere Sinne (oder vielleicht durch einen Trichter zur Füllung nach oben), häuft sich an und wird verdaut.“ (Ebd. 61 f.). Die kritische Stoßrichtung ist klar: Diese ‚Theorie‘ geht davon aus, dass unsere Erfahrung das Ergebnis einfachen, unverzerrten Hinschauens und eines daran anschließenden Durchlaufens von (seitens
155 der menschliche Erkenntnisapparat aber über seine Rolle als ausschließlich rezeptives Durchlaufgefäß hinausgeht, subjektiviert er die reinen Daten und kompromittiert so die ansonsten durchgängige und objektivitätsverbürgende Korrespondenz vom ersten Sinneseindruck bis zur endgültigen sprachlichen Repräsentation dieses Eindrucks. Daraus ergibt sich ein methodischer Rigorismus, der davon ausgeht, dass eine strenge Methodik – klassisch findet er in der Geschichtswissenschaft seinen Ausdruck in der historistischen Quellenkritik, wie sie von Ranke propagiert worden ist197 – zusammen mit der vollständigen ‚Auslöschung‘ des Subjekts unveränderten) Daten durch unseren kognitiven Apparat bis hin zu ihrer getreuen sprachlichen Wiedergabe in Form von korrespondierenden Aussagen ist. Der menschliche Wahrnehmungs- und Erkenntnisapparat ist auf eine Rolle als passives Durchlaufgefäß (oder eben: einen Kübel) reduziert. Dabei ist diese Reduktion nicht deskriptiv, sondern normativ zu verstehen: Der menschliche Erkenntnisapparat besitzt die Möglichkeit, subjektive Elemente ins Spiel zu bringen, doch damit verzerrt er die eigentlich objektive Erkenntnis. Die Bezeichnung „Kübelbild“ könnte genügen, um den Verdacht aufkommen zu lassen, es handle sich dabei um einen argumentativen Strohmann, der so nicht vertreten wird oder jemals wurde. Tatsächlich werden sich kaum Autoren finden, die das positivistisch-objektivistische Programm explizit in jedem Punkt befürworten. Und doch sprechen zwei Gründe dafür, die Punkte dieses Programms aufzuführen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen: (1) Wenn es sich auch um keine explizit bezogenen Positionen handelt, so kann doch konstatiert werden, dass zumindest stillschweigend ein positivistisches Bild des historischen Erkenntnisgewinns großen Einfluss besitzt. Allenfalls könnte gesagt werden, dass ein solches Bild in genuin geschichtstheoretischen Diskussionen überholt (wenn auch nicht ausgestorben) ist, keinesfalls aber die laufende historische Forschung sich davon freigemacht hätte. (2) Die Argumente gegen perspektivische Geschichtstheorien stützen ihre Plausibilität auf ebendiese vermeintlich überholte Position. 197 Vgl. Vierhaus’ Arbeit zu Ranke (Vierhaus 1977). Vgl. auch die historistischen Wurzeln der US-amerikanischen Historiographie Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts nach Novick 1988, Kap. 1,I und 1,II, z. B. 39: „If the historian was conscientious, mastered Quellenkritik and the auxiliary sciences, avoided the ‚phantoms‘ of hypotheses, he could produce a body of reliable atomistic facts which ‚when justly arranged interpret themselves.‘ The road to the ultimate history – the definitive, objective, re-creation of the historical past – was open.“ Vgl. auch Kolmer 2008 für die im 19. Jahrhundert einsetzende positivistische Quellensammlungs- und Editionsarbeit, die aus dem Geist eines umfassenden Sammelns
156 der Persönlichkeit des Historikers, also jeglicher subjektiver, parteilicher oder perspektivischer Elemente, ausreicht, um diese objektive Gesamtdarstellung zu erreichen (sofern Quellen vorhanden sind). Die methodologische wie auch persönliche Neutralität des Historikers werden auf die Spuren der Vergangenheit angewandt, wobei das Zusammenspiel dieser Spuren mit der Unparteilichkeit des Historikers und seinem rigorosen Methodenobjektivismus es ermöglicht, die wirklich in der Vergangenheit bestehenden und nicht die von den Quellen fälschlich behaupteten Sachverhalte der Vergangenheit sprachlich abzubilden,198 und zwar in dem neutralen Spiegel, als der Sprache angesehen wird. Insgesamt wird versucht, den Objektivitäts- und Wissenschaftlichkeitsgrad der Naturwissenschaften zu erreichen. Deren Objektivität dient als zu erreichender Standard, der durch vorurteilsloses Beobachten, einwandfreie Methoden und unverzerrtes Schildern objektive Darstellungen der Natur hervorbringt.199 Kurz, der Wissenschaftler soll ein Spiegel sein, in dem sich klar und unverzerrt die Natur bzw. die Geschichte spiegelt.200 Zusammengefasst ergeben die folgenden Grundzüge und Postulate des positivistischen Objektivismus: (1)Die Vergangenheit existiert(e) (in einem Common-sense-Sinn). (Ontologischer Realismus) (2)Die Vergangenheit besteht aus vom Betrachter unabhängigen Fakten, die vom Historiker entdeckt oder aufgefunden werden können. (Epistemologischer Realismus) aller atomisierten Fakten entstanden ist (ebd., 58). 198 Vgl. Mommsen 2000, 46. 199 Eine recht konzise Zusammenfassung dieses Zuges durch einen Soziologen in den 40er-Jahren findet sich bei Appleby et al. 1994 zitiert: „The stars have no sentiments, the atoms no anxieties which have to be taken into account. Observation is objective with little effort on the part of the scientist to make it so.“ (Ebd., 16) In diesem Zusammenhang ist auch das Ideal einer nomologischen Einheitswissenschaft von Bedeutung gewesen. Hier wird auf eine Diskussion dieses positivistischen Zuges verzichtet, weil er nicht wesentlich zum positivistischen Objektivismus gehört, wenn er sich auch historisch mit ihm immer wieder verbündet hat. 200 Vgl. Appleby et al. 1994, 28 f. Wie die ideengeschichtliche Genese dieser Auffassung in der Geschichtswissenschaft aussieht, beschreiben Appleby et al. im zweiten Kapitel von 1994 (52-90).
157 (3)Eine vollständige Darstellung dieser Fakten ist möglich. (Universalgeschichtliches Postulat) (4)Partielle Darstellungen addieren sich zur vollständigen universalgeschichtlichen Darstellung auf. (Aggregationspostulat) (5)Diese Darstellung soll nicht nur vollständig, sondern auch objektiv sein, das heißt, sie muss dem Dargestellten korrespondieren. Auch partielle Darstellungen der Vergangenheit sind objektiv, sofern sie dem Dargestellten korrespondieren. (Objektivitätspostulat) (6)Korrespondenz liegt nur vor, wenn keinerlei Perspektivität (oder Subjektivität) in den Erkenntnisprozess oder in die Darstellung der Erkenntnisse eingeflossen ist. (Anti-perspektivisches Korrespondenzpostulat) (7)Aus (5) und (6) folgt, dass der Historiker unverzerrt die Vergangenheit wiederzugeben hat – seine eigene Perspektive muss ‚ausgelöscht‘ werden. (Neutralitätsgebot) (8)Das Neutralitätsgebot ist nur dann sinnvoll, wenn auch die sprachlichen Darstellungsmittel als transparent aufgefasst werden können. (Sprachliche Transparenz historischer Darstellungen) (9)Die Tätigkeit des Historikers beschränkt sich darauf, eine etablierte, rigorose Methodik auf die Spuren der Vergangenheit, sprich, die Quellen anzuwenden. Idealiter (d. h. Beachtung des Neutralitätsgebots (7) und ausreichend ausgereifte Methoden vorausgesetzt) gelingt es ihm auf diese Weise, die Tatsachen ans Licht zu bringen, worauf er sie dann – unter erneuter Beachtung von (7) – zu einer objektiven Darstellung im Sinn von (5) und (6) und unter Voraussetzung von (8) zusammenfasst. Die auf diese Weise ‚entdeckten, aufgefundenen Tatsachen‘ sind das Fundament jeder weiteren wissenschaftlichen Operation, ihr Prüfstein gewissermaßen. (Historischer Fundamentalismus) Diese Grundüberzeugungen ergeben die programmatischen Grundzüge des positivistischen Objektivismus, von dem aus er Kritik an, aus seiner Sicht, anti-objektivistischen Geschichtstheorien übt. Mit diesen kritischen Einwänden setzt sich der Abschnitt (4.2) auseinander. Dabei wird nicht nur die Kritik zurückgewiesen, sondern es werden auch wichtige Erkenntnisse
158 gewonnen, die im letzten Kapitel in die Grundzüge einer perspektivischen Geschichtstheorie eingefügt werden. Die kritischen Einwände gegen eine perspektivische Geschichtstheorie stellen aber nicht die einzige Herausforderung des positivistischen Objektivismus an einen Perspektivismus dar. In Abschnitt (4.3) soll exemplarisch der „positivistische Narrativismus“ untersucht werden. So häufig Positivismus und Narrativität als unvereinbare Gegensätze betrachtet werden, so wenig überzeugend ist diese unterstellte Gegensätzlichkeit über eine gewisse Anfangsplausibilität hinaus. Narrativität und Positivismus können durchaus eine Verbindung eingehen, was für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse ist, weil sich dadurch die Möglichkeit bietet, eine positivistische Theorie zu untersuchen, ohne damit hinter die Position des minimalistischen Narrativismus zurückzufallen, wonach Geschichte wesentlich narrativ ist.
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4.2 Positivistische Kritik an historischer Standortgebundenheit Ausgehend von der vorgestellten Programmatik argumentiert der positivistische Objektivismus gegen Geschichtstheorien, die eine Vereinbarung von Standortgebundenheit mit Objektivität anstreben. Zunächst wird (in 4.2.1) das universalgeschichtliche Postulat betrachtet werden, das die Grundlage für ein gewichtiges Argument gegen einen historischen Perspektivismus abgibt. Weiter dient das Neutralitätsgebot (7) zusammen mit dem anti-perspektivischen Korrespondenzpostulat (6) und der Transparenz historischer Darstellungen (8) als Grundlage für den immer wieder auftauchenden Relativismusvorwurf (4.2.2). Verwandt mit dem Relativismusvorwurf, wenn auch nicht mit ihm zu verwechseln (was gelegentlich geschieht), ist der Parteilichkeitsvorwurf, der sich ebenfalls aus dem Neutralitätsgebot (7) speist. Ihm wird Abschnitt 4.2.3 gewidmet sein.
4.2.1 Das universalgeschichtliche Postulat Wenn Korrespondenz den begrifflichen Kern des Komponentenmodells ausmacht und korrespondierende Darstellungen nur dann als korrespondierend anerkannt werden, wenn die in ihnen dargestellten Fakten vom Erkenntnissubjekt entdeckt, unverzerrt aufgenommen und neutral zusammengefügt worden sind, dann folgt daraus, dass historische Darstellungen, sofern sie wirklich korrespondieren, sich allmählich zu einer Gesamtdarstellung der Geschichte, einer Universalgeschichte, aufaddieren. Die gegebenen Daten (i. e. „Tatsachen“) stehen, mangels neuer Betrachtungsweisen auf die Quellen, unveränderlich fest. Neue Tatsachen können nicht gefunden werden, es sei denn, es werden bislang unbekannte Quellen entdeckt. Das bedeutet, dass einzelne Darstellungen, soweit sie korrespondieren, beibehalten und zusammen mit anderen korrespondierenden Dar-
160 stellungen zu immer umfangreicheren Darstellungen zusammengefügt werden. Sie aggregieren sich oder konvergieren zu der einen Universalgeschichte. Der positivistische Objektivismus erhebt damit einen Vollständigkeits- und einen Konvergenzanspruch dahingehend, dass objektive Erkenntnis (zumindest in the long run) eine vollständige Darstellung der untersuchten Ereignisse, Zustände etc. beinhaltet, die aus verschiedenen objektiven Erkenntnissen (Narrationen) zusammenfließt.201 Wenn aber die perspektivische Geschichtstheorie davon ausgeht, dass die Perspektive des Historikers einen unabdingbaren Beitrag zu historischer Erkenntnis liefert und die jeweils eingenommenen Perspektiven nicht immer dieselben gewesen sind noch bleiben werden, sprich, Perspektiven selbst historischem Wandel unterliegen, dann könnte das universalgeschichtliche zusammen mit Aggregationspostulat einen gewichtigen Einwand gegen den Perspektivismus abgeben. Aus diesem Grund scheint es schwer begreiflich, dass das universalgeschichtliche Postulat und mit ihm sein Vollständigkeits- und Konvergenzanspruch in den wissenschaftlichen Diskussionen keine Beachtung finden. Der Grund hierfür liegt aber auf der Hand. Anders als die Naturwissenschaften, die nach universell und ‚ewig‘ gültigen Gesetzen suchen, kann die Geschichte, die immer neue singuläre Ereignisse zum Gegenstand hat, erst dann vollständig dargestellt werden, wenn sie an ihr Ende gekommen ist – was sie im Augenblick aber offensichtlich noch nicht ist. Thesen vom „Ende der Geschichte“ können bestenfalls als metaphorisch oder als publizistische Polemiken betrachtet werden. Während in der Naturwissenschaft neue Individuen lediglich unter universale Gesetze subsumiert werden sollen,202 bedeutet der ständige Zuwachs an singulären historischen 201 Dass es sich dabei nicht nur um eine lediglich philosophisch signifikante Gedankenspielerei handelt, sondern um eine Vorstellung, die eng verwandt ist mit der historistisch-positivistischen Grundtendenz am Ende des 19. und Anfang des 20 Jahrhunderts, zeigt Novick 1988, 39 f. Er weist darauf hin, dass die damaligen Vertreter des Historismus in den USA (und nicht nur dort) glaubten, das Ende der Geschichtsforschung sei absehbar, weil alle Dokumente, die vorhanden sind, über kurz oder lang erforscht sein würden und darauf die Darstellung der Geschichte vollständig vorgelegt werden könnte. 202 Diese Darstellung der Naturwissenschaft ist selbstverständlich eine Simplifikati-
161 Untersuchungsgegenständen eine prinzipielle Unabgeschlossenheit des historischen Untersuchungsbereiches. In diesem Sinn scheint ein Vollständigkeitsanspruch von vornherein zunichte zu sein. Wozu sich also noch damit aufhalten? Demgegenüber könnte zu bedenken gegeben werden, dass Vollständigkeit durchaus auch bedeuten könne, ein bestimmtes Ereignis, eine Epoche, das heißt ein historisches Individuum vollständig zu beschreiben, also dem offenen Verlauf der Geschichte insofern Rechnung zu tragen, als das Vergangene allenfalls partiell für vergangen und abgeschlossen erachtet wird, ohne aber insgesamt abgeschlossen zu sein. Auf diese Weise könnte die Darstellung der Ereignisse zumindest dann bis zu einem gewissen Zeitpunkt vollständig sein, wenn sich die Geschichte darauf beschränkte, abgeschlossene, begrenzte historische Individuen zu untersuchen. Dieser Einwand von der partiellen Vollständigkeit historischer Darstellungen (pV) ist – im Gegensatz zur evidenten Unhaltbarkeit der ersten Form des universalgeschichtlichen Postulats – von größerer Bedeutung, denn könnte er plausibilisiert werden, würde dies bedeuten, dass wenigstens eine Form der Konvergenz, die sich auf die Konvergenz aller Darstellungen von bereits restlos abgeschlossenen historischen Ereignissen beschränkt, und mit ihr wenigstens ein begrenzter Vollständigkeitsanspruch gehalten werden kann. Von überlebenswichtiger Bedeutung für dieses Argument ist die Prämisse, historische Ereignisse könnten als abgeschlossen und begrenzt betrachtet und dargestellt werden. Die Schlacht von Hastings, der Erste Weltkrieg oder die Ermordung Cäsars sind in ihrer zeitlichen Dimension klar umrissen und begrenzt, liegen (mehr oder minder) weit zurück und scheinen als historische Individuen nur auf ihre korrekte, abschließende Beschreibung zu warten, und nur Ereignisse dieser Art (also zum Beispiel nicht die deutsche Wiedervereinigung) sind Teil der partiell vollständigen, weil noch nicht an ihr tatsächliches, unmetaphorisches Ende gekommenen Universalgeschichte. Was zunächst wie eine Binsenwahrheit aussieht – was, wenn nicht ein historisches Ereignis, zumal ein weit in der Vergangenheit liegendes, ist abgeschlossen, begrenzt und in seinen Ausmaßen (exakt) definiert? –, stellt sich genauer angesehen als unplausibel heraus. Drei Gründe spreon.
162 chen dagegen. (1) Zunächst kann in Anlehnung an Max Webers Argumentation gegen die Möglichkeit, ein historisches Ereignis vollständig zu beschreiben, darauf verwiesen werden, dass selbst die zeitlich größtmögliche Entfernung eines Ereignisses noch nicht die Möglichkeit ausschließt, dieses Ereignis immer wieder aufs Neue zu beschreiben. Die Ereignisse der Vergangenheit zeichnen sich nach Weber sowohl durch eine intensive als auch eine extensive Unendlichkeit aus. Wer immer eine Darstellung eines historischen Individuums gemäß pV anstrebt, kann diesen Anspruch niemals einlösen, weil er sich der unendlichen Fülle an kognitiv-wissenschaftlich zu beherrschendem ‚Material‘ gegenübersieht, mit dem die Realität nun einmal aufwartet.203 Jedes historische Individuum und jede der zu seiner Erklärung vorgebrachten Darstellungen sehen sich einer unendlichen Fülle an Daten gegenüber, die ausschließlich mittels selegierender und abstrahierender Begriffsbildung in den Griff zu bekommen ist.204 Unsere Begriffe, mit deren Hilfe wir versuchen, der „unendlichen Mannigfaltigkeit“ (Weber) Herr zu werden, sind aspektiv und ‚ontologisch‘ aufgeladen, das heißt, sie sorgen dafür, dass bestimmte Gegenstände als Gegenstände dieser und jener Qualität betrachtet werden, wodurch sie entweder Teil der einen Klasse (Extension) oder einer anderen Klasse von Gegenständen werden. Ähnlichkeit, generische Gleichheit, Vergleichspunkte u. a. lassen sich also nur relativ zu bestimmten Begriffsrahmen etablieren, die es mit sich bringen – weil sie eben dem Zweck dienen, den hiatus irrationalis, der zwischen Begriff und 203 Diese These taucht bei Weber immer wieder in WL auf. Sie kann gewissermaßen als ‚Axiom‘ der WL gelten. Vgl. Roscher-Aufsatz, 65 ff. und auch OA, 171. 204 Jede historische oder kulturwissenschaftliche Forschung (sofern sie an kausal-genetischen Fragen interessiert ist) ist dazu verurteilt, diesen hiatus irrationalis, der zwischen Realität und ihrer begrifflichen Bearbeitung klafft, zu überbrücken. Zum hiatus irrationalis, der zwischen der unendlichen Mannigfaltigkeit des „empirisch Gegebenen“ und der begrifflich-kognitiven Erfassung des Empirischen besteht, und dem Zwang zur Abstraktion, der aus diesem hiatus folgt, vgl. Oakes 1988, 19-21. Weber verwendet diesen Begriff eher selten (z. B. aber RoscherAufsatz, 15). Jede empirische Wissenschaft ist diesem hiatus ausgeliefert. Es sei die „(‚negative‘) Voraussetzung der in jeder empirischen Wissenschaft vollzogenen Stoff-Auslese“ (Roscher-Aufsatz, 75, Anm. 2).
163 zu Begreifendem klafft, zu überbrücken –, nur jeweils bestimmte Aspekte einer Realität darstellen zu können und andere dafür unbeachtet lassen zu müssen. Nun sind aber genau diese begrifflichen Mittel nicht ein für allemal festgelegt. Die (extensive wie intensive) Unendlichkeit eines historischen Individuums zwingt den Historiker qua kognitiv endliches Wesen dazu, sein Material in einen Begriffsrahmen zu stellen, der seinerseits historischem Wandel unterliegt. Daher kann, solange Erkenntnis von Begriffsrahmen abhängig ist, nicht einmal pV eingelöst werden. (2) Ein Vertreter von pV könnte nun aber darauf verweisen, dass es der Wissenschaft ausschließlich auf die Darstellung relevanter, nicht jedoch sämtlicher Sachverhalte ankommt, und dass diese Darstellung partiell vollständig sein kann, weil sie selektiv ist. Sie ist vollständig, wenn alle relevanten Elemente in einer Narration enthalten sind. Relevanz beschränkt die pV gefährdende Unendlichkeit an narrativ zu integrierenden Ereignissen zumindest im Prinzip, weil ja immerhin denkbar wäre, dass eines Tages sämtliche wissenschaftlich relevanten Begriffsrahmen vorliegen und damit die Möglichkeit gegeben wäre, zumindest die wissenschaftlich relevanten Erkenntnisse vollständig zu erfassen und darzustellen. PV sieht sich dann aber der Schwierigkeit ausgesetzt, dass das historische Individuum an sich selbst kein Kriterium aufweist, mittels dessen festgelegt werden kann, was einerseits die Beschreibung der Verästelungen des Kontextes (extensive Unendlichkeit – extrinsisch-relationale Eigenschaften) und andererseits den Detailgrad der Beschreibung des historischen Individuums selbst (intensive Unendlichkeit – intrinsische Eigenschaften) limitiert. Es müssen Relevanzkriterien dafür herangezogen werden, was erfasst werden soll. Relevanzkriterien sind jedoch nicht aus den Ereignissen selbst ableitbar, sie müssen vielmehr an die Ereignisse erst angelegt werden. Partielle Vollständigkeit ist damit eine Vollständigkeit relativ zu den Voraussetzungen, Vorgaben und Interessen des Historikers. Diese allerdings unterliegen, wie auch seine Begriffe einem steten Wandel, sind also selbst historisch. Die selektionsfundierenden und -legitimierenden Relevanzkriterien stellen aufgrund ihrer Abhängigkeit von der ihrerseits wandelbaren Gegenwartsposition des Historikers die Auswahl dessen, was als vollständig im Sinn von pV gelten kann, niemals still. Ein Wandel
164 in der Betrachtung auch nur der entferntesten historischen Individuen ist die unausweichliche Folge – bis die „Kulturprobleme“ und kulturellen Wandlungen selbst durch das Ende der Geschichte im Literalsinn stillgestellt worden sind. (3) Eine weitere, auf Danto zurückgehende Überlegung stützt sich auf den wesentlich narrativen Charakter der Geschichte, um zu belegen, dass es vor dem Ende der Geschichte keine Möglichkeit gibt, von auch nur einem einzigen Ereignis zu sagen, welche Rolle es im Verlauf der Geschichte wirklich gespielt habe. Steht aber nicht fest, welche Rolle ein Ereignis in der Geschichte gespielt hat, dann ist es unmöglich, ein Ereignis auch nur partiell vollständig zu beschreiben: (i) Historische Ereignisse sind für sich betrachtet sinnlos oder präziser formuliert: sie sind mit einer unendlichen Fülle an potentiellen ‚Sinnkonnexionen‘ aufgeladen (was Danto wahrscheinlich so nicht gesagt hätte). (ii) Sinnvoll werden sie erst, wenn sie in einen narrativen Zusammenhang integriert werden. (iii) Ein narrativer Zusammenhang verleiht Ereignissen erst dann eine Bedeutung, wenn er abgeschlossen ist, das heißt, wenn die Geschichte (i. S. v. story oder historia rerum gestarum) an ihr Ende gekommen ist.205 (iv) Solange aber die Geschichte (i. S. v. res gestae) nicht an ihr Ende gekommen ist, können wir narrative Endpunkte lediglich stipulieren. (v) Daraus folgt – vorausgesetzt, die Geschichte ist noch an keinen Endpunkt gekommen –, dass ausschließlich stipulierte narrative Endpunkte den Fakten einen Sinn verleihen können, der aber jederzeit revidiert werden müsste, wenn die Geschichte (res gestae) eine andere Lesart erzwingt oder ermöglicht, sprich, ein anderes Ende nimmt – und so weiter bis ans Ende der Geschichte.206 205 Vgl. Danto 1980, 27 f., Kap. VII, VIII und XI. 206 Zur Illustration führt Danto die narrative Abfolge eines Dramas an. Erst wenn die letzten Zeilen des letzten Aktes gesprochen sind, kann den einzelnen Szenen und Darstellungen wirklich abschließend ein Sinn zugewiesen werden. Solange man nicht weiß, welche dramatische Wendung eine Geschichte nimmt, kann man eine Szene o. ä. nur vorläufig interpretieren. Weberman 1991 geht sogar noch über die Dantosche Argumentation hinaus, indem er behauptet, dass auch die jeweilige Zukunft (oder genauer: die Antizipationen und Prognosen der Zukunft) des Historikers in die narrative Integration mit einfließt. So färbte etwa die Erwartung der atomaren Apokalypse die historische Darstellung des „Kalten Krieges“. (Vgl. We-
165 Auch diese Argumentation weist darauf hin, dass die Abgrenzung historischer Individuen nicht einfach gegeben ist, sondern ihrerseits Standards unterliegt, die nicht aus den Quellen oder den Tatsachen allein hervorgehen, sondern sozio-kulturellen und wissenschaftlichen Kriterien unterliegen, die wandelbar sind und daher auch nicht aus sich selbst heraus eine partiell vollständige Darstellung der Geschichte ermöglichen. Die Segmentierung der Geschichte in Ereignisse, Prozesse, Zustände, kurz, historische Individuen als Voraussetzung vollständiger Beschreibbarkeit unterliegt damit also auch gegenstandsexternen Kriterien, die potentiell erst dann festgelegt wären, wenn das Ende der Geschichte eingetroffen wäre, weil nur dieses Ende ausschließen könnte, dass ein früheres Ereignis nicht Teil immer noch einer weiteren Geschichte werden könnte oder seine Rolle anders aufgefasst werden müsste, als dies bisherige narrative Integrationen getan haben. Damit kann nicht einmal eine Aufaddierung eines gewissen Teils historischer Darstellungen plausibel sein, mithin ist weder das universalgeschichtliche noch das Aggregationspostulat eine Gefahr für eine perspektivische Theorie. Offensichtlich aber ist diese Argumentation problematischer als die beiden ersten. Zu leicht, scheint es, können wir tatsächlich Zäsuren in der Geschichte anlegen. Das Ende des Zweiten Weltkrieges etwa ist leicht zu bestimmen. Auf den ersten Blick mag dieser Einwand berechtigt sein, denn abgeschlossene Ereignisse scheinen sich plausibel als solche kenntlich machen zu lassen. Tatsächlich aber suggeriert dies nur eine vom ‚Material‘ vorgegebene Segmentierung, die aber nicht besteht. Zwar kann man etwa das Ende des Zweiten Weltkrieges auf den 08. Mai 1945 legen, die Ereignisketten und Prozesse, die in den Darstellungen des Zweiten Weltkrieges thematisiert werden, sind damit aber nicht zu einem Abschluss gekommen. Viele Entwicklungen und Prozesse, die nach dem Krieg geschehen sind, sind bereits während des Krieges angelaufen. Zäsuren, die innerhalb der Narrationen angesetzt werden, sind alles andere als über jeden Zweifel erhaben. Bestimmte Eigenschaften des historischen Individuums, das abgegrenzt und dann vollständig beschrieben werden soll, sind demnach Teil von Entwicklungen, die vor oder nach den Grenzen eingesetzt haben bzw. berman 1991, 105-133)
166 sich noch fortsetzten. Kontinuitäten und Diskontinuitäten überlagern sich innerhalb eines historischen Individuums. Bestimmte essentielle Elemente der Narration können nur mehr oder weniger willkürlich abgetrennt werden, weil der Narration ein Endpunkt gesetzt werden muss, der dabei kein Endpunkt für alle zur Narration gehörigen Prozesse, Zustände und Ereignisse ist. Selbst eine vermeintlich noch so einfache Zäsur wie das Ende des Zweiten Weltkrieges setzt voraus, dass das historische Individuum, um das es dem Historiker jeweils zu tun ist, auch genau dieses historische Individuum ist. Wer aber zum Beispiel eine Darstellung des Kampfes zwischen den Kräften der Demokratie und denen des Autoritarismus vorlegen möchte, der kann einige der Ereignisse und Prozesse, die während des Zweiten Weltkrieges stattgefunden haben und als essentieller Bestandteil des historischen Individuums „der Zweite Weltkrieg“ betrachtet werden, ohne irgendeine Rücksicht auf den 8. Mai 1945 völlig unkonventionell narrativ integrieren. Der Waffenstillstand zwischen dem Deutschen Reich und den Alliierten würde nicht als solcher konzeptualisiert und als Endpunkt einer Geschichte betrachtet werden, sondern lediglich als Zwischenstation in einem Ringen, das den Kampf gegen das kaiserliche Japan und die kommunistischen Mächte mitumfasst (und der entsprechend bis zum Jahr 1989 oder noch weiter reichen könnte). Was für die eine Darstellung ein Ende ist, ist für die andere eine Zwischenstation, was für die eine Darstellung ein Fixpunkt ist, ist für die andere ein fließender Prozess etc. Festgelegt sind historische Individuen und ihre jeweiligen narrativen Funktionen nur relativ zu bestimmten Standpunkten, die relative narrative Endpunkte stipulieren und damit nur zu ihnen relative Sinneinheiten konstituieren. Ein historisches Individuum lässt sich nur relativ zu einer gewählten narrativen Perspektive abgrenzen und in seiner historischen Rolle beschreiben. Die uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, Sinneinheiten zu bilden, haben also selbst eine Geschichte, stehen ihrerseits also nicht fest und müssen daher immer neue Sinneinheiten hervorbringen – und zwar auch bezüglich längst vertrauter historischer Individuen. Damit werden nicht nur progressiv in der Zeit neue Ereignisse durch neue „Paradigmata“ erfasst, sondern auch alte Ereignisse mit Hilfe neuer „Paradigmata“ interpretiert.
167 So ist beispielsweise bezeichnend, welche Anstrengungen auf sozial-ökonomische Verhältnisse in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts verwendet worden sind, als die sog. „Arbeiterfrage“ in aller Munde war (und nachdem Marx und Engels ihren historischen Materialismus formuliert hatten). Die bereits historisch bearbeitete Antike etwa ist erneut auf das sozio-ökonomisch konzeptualisierte Verhältnis von herrschenden Eliten und beherrschten Massen untersucht worden, als die Gegenwart von solchen Fragen beherrscht war. Das bedeutet, dass immer neue sozio-kulturelle Gegenwartsherausforderungen uns immer neue Perspektiven auf die Vergangenheit nehmen lassen und damit immer neue Geschichten zutage fördern werden. PV scheitert demnach an der Historizität der jeweils gegenwärtigen Perspektiven.
4.2.2 Parteilichkeit vs. Perspektivität Das Neutralitätsgebot (7) legt eine weitere positivistische Kritik an historischer Standortgebundenheit nahe. Geschichte perspektivisch schreiben zu wollen, bedeute nichts anderes, als seine eigenen Vorurteile und Voreingenommenheiten geschichtstheoretisch zu legitimieren. Wenn auch die vollständige ‚Auslöschung‘ der Persönlichkeit des Historikers im Wissenschaftsbetrieb nicht restlos erreichbar sein mag, so handle es sich dabei aber um ein Ideal, das es zu erreichen gilt und das nur zu erreichen ist, wenn geschichtstheoretischen Erschleichungen wie dem perspektivischen Objektivismus ein Riegel vorgeschoben werde. Perspektivität sei Parteilichkeit und müsse daher gleichermaßen abgelehnt werden.207 Diese 207 Vgl. Mommsen 1977, 448 und Acham 1977, 394 für die (sinngemäß) gleiche Unterscheidung. Mommsen möchte gegen den Vorwurf des Subjektivismus von seiten des historistischen Positivismus diese Unterscheidung stark machen: „Zwischen Parteilichkeit im Sinne einer Interpretation geschichtlicher Entwicklungen von einem bestimmten Parteistandpunkt aus, die die gewonnenen Ergebnisse zu fundamentalistischen Aussagen hypostasiert, die angeblich aus dem objektiven Geschichtsprozeß resultieren oder doch aus ihm ableitbar sind, und einer Interpre-
168 Gleichsetzung wird sowohl von der postmodernen Objektivitätskritik wie vom Positivismus genutzt wenn auch mit jeweils anderen Schlussfolgerungen. Während der Postmodernismus aus der vermeintlichen Unvermeidlichkeit historischer Parteilichkeit die Konsequenz zieht, dass Objektivität unerreichbar ist und daher verabschiedet werden sollte, will der Positivismus dagegen jede Abweichung von seinem Erkenntnisprogramm als Parteilichkeit diskreditieren. Gegen diesen Vorwurf aber kann der perspektivische Objektivismus sich recht leicht wehren, indem er fundamentale Differenzen zwischen Parteilichkeit und Perspektivität aufzeigt, die sich am besten anhand der Mittel aufweisen lassen, mittels derer der Positivismus Parteilichkeit ausräumen möchte. Wäre nämlich Perspektivität mit Parteilichkeit identisch, würde Perspektivität sich nicht mit den Gegenmaßnahmen gegen Parteilichkeit vertragen. Es wird sich aber zeigen, dass die Remeduren gegen Parteilichkeit einwandfrei mit der These von der Perspektivität historischer Erkenntnis vereinbar ist, weshalb sich Perspektivität von Parteilichkeit frei halten kann und folglich nicht mit ihr identifiziert werden darf. Generell gesprochen, soll Parteilichkeit durch die Auslöschung der Perspektive (Persönlichkeit) des Historikers beseitigt werden, was genauer gesagt auf drei Wegen geschehen soll: (1) die Korrektur der eigenen parteilich-perspektivisch verzerrten Darstellung durch weitere parteilich-perspektivisch verzerrte Darstellungen; (2) durch die Forderung nach Befolgung eines Ethos der Wissenschaftlichkeit durch den Historiker208 und (3) tation vergangener Wirklichkeit aufgrund einer bestimmten, auf Wertgesichtspunkten und/oder theoretischen Einsichten, die sich der Partialität ihrer selbst bewußt bleibt, ist ein himmelweiter Unterschied.“ (Ders. 1977, 448) 208 Bestandteil dieses Ethos ist das, was weiter oben als „wissenschaftliche Redlichkeit“ bezeichnet worden ist. Ihr wird meist nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Eine Ausnahme ist Bevir, der die Bedeutung dieser Tugend („intellectual honesty“) bei der Erreichung objektiver Erkenntnis unterstreicht. Er legt sogar einen Kriterienkatalog vor, der aus der „intellectual honesty“ hervorgehe und mit dem die Objektivität historischer Interpretationen gesichert werden können (Bevir 1994, 336 f.). Die massive Voraussetzung, auf der seine Argumentation gründet, ist die Annahme, Interpretationen, über deren Wert anhand der genannten Kriterien entschieden wird, seien in Fakten fundiert, über deren Wahrheit in der scientific community Konsens herrsche (ebd., 333 und 337 f.).
169 durch die Beziehung zur scientific community209. (1) Wer davon ausgeht, dass die jeweiligen Voraussetzungen, die der Historiker mitbringt, objektiver Erkenntnis im Weg stehen, dessen bevorzugtes Mittel ist es, die verzerrende Wirkung der Persönlichkeit des Historikers weitestgehend auszugleichen, indem weitere, im Grunde ebenso verzerrende Perspektiven in die Darstellung als Korrektiv einbezogen werden sollen, um so (in the long run) die Defizienz perspektivischer Forschung ausgleichen zu können. Wenn Parteilichkeit nur dann verhindert werden kann, wenn Arbeiten aus anderer Perspektive als Korrektiv für die eigene Erkenntnis herangezogen wird, dann weist der Positivismus damit zwar auf ein wichtiges Mittel hin, wie Parteilichkeit immer wieder zurückgefahren werden kann. Doch damit befindet er sich nur zur Parteilichkeit, nicht aber zur Perspektivität im Gegensatz. Auch der Perspektivismus kann akzeptieren, dass jede Darstellung aus der einen Perspektive auch von Darstellungen aus anderen Perspektiven ergänzt und kritisiert werden muss, ebenso wie die eigene Perspektive von Elementen anderer Perspektiven befruchtet oder korrigiert werden muss. Worin er sich aber vom Positivismus absetzt, ist die Ansicht, dass das aber nur dazu führen wird, andere Perspektiven unter dem Gesichtspunkt einer weiteren, nämlich der jeweils aktuellen eigenen Perspektive zu betrachten. Wohl kann eine Perspektive modifiziert oder durch eine andere ersetzt, nicht aber aufgehoben oder vollständig suspendiert werden. Der Historiker evaluiert die Erkenntnisse anderer Historiker, muss sie aber von der eigenen Perspektive aus betrachten.210 Auf diese Weise ist eine Auslö209 Baumgartner macht Parteilichkeit ausschließlich an der Beziehung zur Fachdisziplin fest: „Das Problem der Parteilichkeit in der Historie stellt sich daher in erster Linie als Problem des Verhältnisses von Parteilichkeit und scientific community.“ (Ders. 1977, 433) 210 In diesem Sinn entlarvt Berkhofer 1995 den Versuch, eine vermeintlich parteiliche, weil aus einer Perspektive geschriebenen Geschichte des amerikanischen Mittleren Westens, durch eine polyperspektivische Erzählung zu ersetzen, um damit Perspektivität als solche zu überwinden, als sinnlos. Auch der neue polyperspektivische (multikulturalistische) Ansatz ist seinerseits perspektivisch, er integriert nur andere und vielleicht auch zahlreichere Perspektiven als der eindimen-
170 schung der Perspektive gar nicht erst möglich. Perspektivität verträgt sich mit der Kritik durch andere Perspektiven, ohne dass damit Perspektivität als solche hinter sich gelassen werden könnte. (2) Die eigene Darstellung und die eigene Perspektive kritisch überprüfen zu wollen, bedeutet, von Historikern zu erwarten, dass sie sich als Wissenschaftler durch eine Reihe von Eigenschaften und Handlungsweisen auszeichnen, die essentieller Bestandteil der wissenschaftlichen ‚Lebensform‘ sind. Davon sind am wenigsten kontrovers sicherlich die Forderungen nach der Anerkennung der Regeln der Logik und die Enthaltung von Werturteilen211. Teil der wissenschaftlichen Lebensform ist aber auch ein sionale Ansatz (ebd., 179, 182 und 188). Dabei lässt sich natürlich fragen, wie Perspektiven gezählt werden können. Ist für einen afrikanischen Historiker eine marxistische Geschichte des Imperialismus eine andere Perspektive als eine nationalistische? Sind sie nicht beide aus der Perspektive der weißen ‚Unterdrücker‘ geschrieben? Und könnte er alle drei Perspektiven integrieren, könnte nicht eine weibliche Historikerin sagen, sie sehe nur die Perspektive von Männern auf die Geschichte des Imperialismus? Offensichtlich ist die Antwort auf die Frage, was eine Perspektive ist, selbst schon wieder von Voraussetzungen des Historikers abhängig. 211 Sich Werturteilen zu enthalten, darf nicht mit einer Reihe von leider immer wieder verwechselten Fragen vermischt werden. Solchen Verwechslungen ist insbesondere Webers sog. „Wertfreiheitspostulat“ zum Opfer gefallen. Mit Werturteilsfreiheit ist zunächst und am einfachsten gemeint, dass in eine wissenschaftliche Darstellung keine Werturteile hineingehören (vgl. z. B. Weber WA, 497). Davon zu unterscheiden, aber durchaus auch noch in das Wertfreiheitspostulat zu integrieren (vgl. Wissenschaft als Beruf und schon andeutungsweise im Roscher-Aufsatz, 61), ist Webers Ansicht, dass aus den empirischen Erkenntnissen der Kulturwissenschaften keine axiologisch-evaluativen Erkenntnisse folgen. Für sie müssen wir schon selbst sorgen, existenziell-dezisionistisch oder auf anderem Weg. Von diesen beiden Punkten muss wiederum unterschieden werden, dass Weber die Wertabhängigkeit kulturwissenschaftlicher Erkenntnis seiner ganzen Theorie zugrundelegt (vgl. etwa OA passim oder auch WA, 497). Von dieser epistemologischen Voraussetzung Webers können die Putnamsche „thick ethical concepts“ unterschieden werden, womit er wertgeladene, nur scheinbar rein deskriptive Begriffe bezeichnet (Putnam 2002). Weiter ergibt sich eine fünfte Dimension der Wertfrage, nämlich die nach den Möglichkeiten der (neutralen) empirischen Erfassung von Werten und von moralischer Verantwortung der untersuchten Epochen und Akteure. Letzteres hat Ranke dazu veranlasst, das Amt des Richters von
171 gewisser Fallibilismus212, mit dem die eigenen Ansichten, Voraussetzungen und Erkenntnisse betrachtet werden sollten, also die Fähigkeit, von den eigenen Voraussetzungen, das heißt Werten, Ansichten, also der eigenen Perspektive insofern abzurücken, als der Historiker immer bereit sein sollte, die eigenen Voraussetzungen auch aufzugeben, sprich, als fallibel anzuerkennen. Er sollte nicht nur, wie im ersten Kapitel bereits angedeutet, vorläufig von der eigenen Perspektive Abstand nehmen und die eigenen Voreingenommenheiten aufgeben können und sich insgesamt wissenschaftlich redlich verhalten, sondern sich darüber hinaus in jeder seiner Voraussetzungen und den auf ihnen basierenden Erkenntnissen als fallibel, das heißt, als potentiell im Irrtum betrachten. Der „Parteimann“ (Baumgartner) unterscheidet sich vom fallibilistischen Historiker dann dadurch, dass er seine Perspektive als sakro-sankt setzt, ohne sich selbst in eine reflektierende Position zu seinen eigenen Voraussetzungen zu bringen.213 Die Standortgebundenheit der Geschichtswissenschaft lässt sich aber ausgezeichnet damit vereinbaren, sich auch auf einer Metaebene um Reflexion auf die eigenen Voraussetzungen und um die möglichst gut begründete Ausweisung der eigenen Perspektive zu bemühen. Dabei muss gerade dem Historiker klar sein, dass seine Perspektive selbst ihrerseits eine historische Dimension besitzt und aus diesem Grund immer neue Modifikationen erfahren hat und weiterhin erfahren wird. Dass die Metareflexion zum gut Teil eine der Geschichtswissenschaft externe Leistung ist, ändert nichts daran, dass sie essentiell für die Geschichtsschreibung selbst ist und aus dem des Historikers zu trennen. Vgl. Mommsen 2000, 48 und 50 für die damit verbundenen Schwierigkeiten, die sich angesichts der Geschichte des 20. Jahrhunderts ergeben haben. Wir haben es folglich mit mindestens fünf verschiedenen Ebenen von Wertfreiheit in den Kulturwissenschaften zu tun, die zumindest analytisch getrennt werden müssen. Daneben ist auch noch die Unterscheidung zwischen context of discovery, in dem Interessen und Emotionen unerlässlich sind, und context of justification, in dem dieselben keine Rolle spielen dürfen, auf die Patzig im Zusammenhang mit der Parteilichkeitsproblematik aufmerksam macht, von großer Bedeutung (ders. 1977, 334). 212 Vgl. Baumgartner 1977 und auch Haskell 1998. 213 Zur eminenten Bedeutung dieser Reflexion auf die eigenen Voraussetzungen vgl. weiter unten Abs. 5.4.2.4.
172 diesem Grund in die Betrachtung mit aufgenommen werden muss. Gerade die Gefahren einer nicht-reflektierten Verabsolutierung der eigenen Perspektive kann in Zeiten, in denen die verschiedenen „Metaerzählungen“ global in Konkurrenz treten, nur noch ethnozentrische Restriktionen mit sich bringen.214 Perspektivität erlaubt und fordert die Reflexion auf die eigenen perspektivischen Voraussetzungen, Parteilichkeit dagegen nicht. Perspektivität als solche kann aber nicht hinter sich gelassen werden, weil jede Reflexion auf eine Perspektive nur von einer anderen Perspektive aus erfolgen kann, ebenso wie die Erkenntnis der Historizität der eigenen Perspektive immer nur von einer historisch geformten Perspektive aus gemacht werden kann, die dann ihrerseits wiederum als historisch bedingte erkannt werden muss. Parteilichkeit kann vermieden werden, indem die eigene Perspektive als fallibel betrachtet und – gute Argumente der konkurrierenden Perspektive vorausgesetzt – auch modifiziert oder aufgegeben wird, nachdem eine reflektierende Position auf die eigenen Voraussetzungen eingenommen worden ist. Nicht vermieden werden kann auf diese Weise aber Perspektivität als solche, denn Perspektiven lassen sich nicht standortunabhängig kritisieren. Sie sind vielmehr in Form einer (Meta-)Kritik von einem anderen Standpunkt aus zu betrachten. Jede Reflexion auf Voraussetzungen kann immer nur von einer anderen Perspektive aus vollzogen werden, was immer nur dazu führen kann, dass eine Perspektive modifiziert oder eine andere angenommen wird – niemals aber dass eine Nicht-Perspektive, ein View from nowhere eingenommen wird, von dem aus Parteilichkeit vermeintlich von vornherein ausgeschlossen werden kann, weil Perspektivität ausgeschlossen werden könne. (3) Die Haltung des Parteimannes zum methodologischen Element wissenschaftlicher Rationalität führt zu Reglementierung und Beschränkung 214 Vgl. etwa die Verarmung der US-amerikanischen Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, wie sie von Appleby et al. 1994 konstatiert worden ist. Sie rühre von der Fokussierung auf eine Metaerzählung her, in deren Zentrum der weiße, männliche Farmer stand, der gewissermaßen gottgewollt die Grenzen der amerikanischen Nation immer weiter nach Westen rückte, indem er unternehmerisch, pragmatisch und alle Gefahren verachtend sein Leben aufs Spiel setzte und dabei einen ebenso frommen und wie frugalen Lebensstil pflegte.
173 historischer Parteilichkeit durch die scientific community. Teil wissenschaftlicher Rationalität ist es, sich an Anweisungen, Prozeduren, Methoden etc. der jeweiligen Forschungsgemeinschaft zu halten. Dazu gehören die Regeln der Argumentation, der Interpretation, aber auch Regeln für die materielle Basis historischer Untersuchungen oder Regeln der Rechenschaftslegung. Diese Regeln verhindern bis zu einem gewissen Grad, dass der Historiker sich selbst die Geschichte zurechtzulegen vermag, wie er es gemäß seiner Parteilichkeit möchte. Wer von vornherein darauf verzichtet, kritische Quelleneditionen zu benutzen, die der Öffentlichkeit zugänglich sind, wer es versäumt, seine Quellen überhaupt offenzulegen oder wer es unterlässt, seine Forschungen anderen Wissenschaftlern zugänglich zu machen, der macht sich der Parteilichkeit schuldig. Die Einstellung zu den gängigen und etablierten Praktiken der historischen Fachdisziplin liefert damit ein weiteres Distinktionsmerkmal, wenn auch der Forschungsalltag kaum die notwendige Trennschärfe wird hervorbringen können. Es wird in der Regel schwer festzustellen sein, wo sich ein Historiker gegen eine Methode aus wissenschaftlich-rationalem Bedenken heraus ausspricht oder wo der „Parteimann“ in ihm gewollt seine Augen vor unliebsamen Methoden verschließt. Auch werden Appelle an wissenschaftliche Rationalität erst dann wirksam werden, wenn sie sanktionsbewehrt sind, wenn also die Gemeinschaft der Wissenschaftler (und bis zu eine gewissen Grad auch die interessierten Gruppen in der Gesellschaft) dafür sorgt, dass Verstöße gegen Rationalitäts- und Redlichkeitsforderungen sanktioniert werden. Standards und Sanktionen sind konsensualer Natur. Das bedeutet, dass letztlich Parteilichkeit inhaltlich nur über den Konsens der scientific community festgelegt ist, weil die jeweilige Festlegung dessen, was als parteiliches Verhalten zu betrachten ist, vom Konsens der übrigen Wissenschaftler abhängt. Unparteilichkeit ist daher abhängig von der konsensualen Objektivität. Dabei kann Perspektivität mit jeder dieser konsensualen Festlegungen zurechtkommen, während Parteilichkeit – sollten die Maßnahmen greifen, weil eine wachsame scientific community für ihre Durchsetzung sorgt – auf diese Weise im Zaum gehalten wird. Auf theoretischer Ebene lässt sich die Trennung zwischen Parteilichkeit und Perspektivität über dieses Distinktionsmerkmal etablieren. Wo der
174 „Parteimann“ je nach seiner ideologischen Ausrichtung auf bestimmte Methoden verzichten muss, erlaubt das Bekenntnis zur Perspektivität eine völlige Offenheit gegenüber jeder Methode. Methoden können und müssen ausgesondert werden, was aber nur unter Berufung auf wissenschaftliche Gründe geschehen darf.215 Perspektivität ist mit jeder dieser Forderungen vereinbar, denn sie verfügt über das Potential, aus den gleichen Methoden etc. differierende Darstellungen zu gewinnen, ohne sich über die Forderungen nach wissenschaftlicher Rationalität hinweg zu setzen. Parteilichkeit und Perspektivität unterscheiden sich folglich an entscheidenden Stellen gravierend. Die positivistische Gleichsetzung von allgemein unerwünschter, illegitimer Parteilichkeit mit Perspektivität erweist sich daher als substanzlos.
4.2.3 Der Relativismusvorwurf Eine Vereinbarung von Objektivität mit Standortgebundenheit sei nichts anderes als eine verkappte Form des Relativismus.216 Standortabhängige Darstellungen seien nichts anderes als Verstöße gegen das Neutralitätsgebot (7) oder liefen dem Transparenzpostulat (8) zuwider. Der perspektivische Objektivismus sei damit kein Objektivismus mehr, sondern rede einem Relativismus das Wort, weil er von den strengen theoretischen Auflagen 215 Parteilichkeit kann sich aber auch darin manifestieren – wie etwa Mommsen der „orthodoxen“ marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung vorwirft (Mommsen 1977, 448 f.) –, dass der „Parteimann“ sich des Verstoßes gegen das (in diesem Fall: wohlverstandene) „Wertfreiheitspostulat“ Webers schuldig macht: Er leitet aus den empirischen Befunden normative oder axiologische Korollarien ab. Dieser Verstoß gegen das Wertfreiheitspostulat ist allerdings kein Distinktionsmerkmal, das Parteilichkeit von Perspektivität zu trennen vermag, wenn auch der Versuch, die eigene Dogmatik durch Belege aus der Geschichte zu untermauern (was schon immer so war, soll auch so sein etc.), eher einer parteilichen Geschichtsschreibung naheliegen dürfte. 216 Zur Klassifikation des Relativismus und der absolutistischen Gegenpositionen vgl. Harré/Krausz 1996, 23-25, 4-7 und 207 f.
175 des positivistischen Objektivismus abrücke. Wer nicht Relativist sein möchte, habe keine andere Alternative, als an den Grundüberzeugungen des positivistischen Objektivismus festzuhalten. Der Relativismusvorwurf kann aber nur dann als ein gelungener Einwand gegen eine perspektivische Geschichtstheorie anerkannt werden, wenn erwiesen werden kann, dass eine perspektivische Geschichtstheorie einem epistemologisch ‚gefährlichen‘ Relativismus gleichzusetzen ist oder epistemologisch ‚gefährliche‘ Konsequenzen hat. Eine epistemologisch ‚gefährliche‘ Form des Relativismus liegt dann vor, wenn die perspektivischen Voraussetzungen des Erkenntnissubjekts ein objektives Bild des Untersuchungsgegenstandes dadurch verhindern, dass die Kriterien für eine objektives Bild restlos vom Objekt entkoppelt werden. Es wird sich zeigen, dass der Vorwurf des Relativismus, so wie er hier intendiert ist, seinen Zweck jedoch nicht erfüllt, weil die Formen des Relativismus, auf die der positivistische Objektivismus argumentativ beschränkt ist, epistemologisch ungefährlich sind. Gefährliche Formen des Relativismus sind nicht haltbar, daher stehen sie dem Positivismus nicht zur Verfügung. Die gefährliche Form des Relativismus kann in zwei Untergattungen aufgegliedert werden; zum einen könnte man von individuellem Relativismus, zum anderen von einem Gruppenrelativismus sprechen. Sieht man von immer anzutreffenden epistemischen Restriktionen ab, die jegliche, auch objektive und kompetente Wissenschaftlichkeit limitieren können, kann unter individuellem Relativismus verstanden werden, dass lediglich die individuellen epistemologischen, methodologischen und wissenschaftstheoretischen Standards des jeweiligen Historikers die Kriterien dafür bereitstellen, wann eine historische Darstellung objektiv ist. Wahr oder objektiv ist dann, was diesen individuellen Standards entspricht. Die Geltung der Standards und damit die Objektivität der Erkenntnis liegt in seinem individuellen Ermessensspielraum. Doch der individuelle Relativismus spielt eine eher untergeordnete Rolle. Allzu idiosynkratische Standards dürften kaum eine Chance haben, sich zu etablieren und a fortiori dürften Erkenntnisse, die diesen Standards gemäß sind, wenig Aussicht darauf haben, allgemein anerkannt zu werden. Da man aber davon ausgehen muss, dass selbst der wissenschaftliche Soli-
176 tär Anerkennung für seine Ergebnisse erhalten möchte (geht man davon nicht aus, wäre es für ihn sinnlos, seine Ergebnisse zu veröffentlichen, statt sie in seinem Privatarchiv zu deponieren), kann kein individueller Relativismus, wie er hier von Interesse wäre, plausibel angenommen werden. In der Regel dürfte die besprochene individuelle Voreingenommenheit häufiger anzutreffen sein, als ein genuiner Individualrelativismus. Von größerer Bedeutung für die vorliegende Betrachtung ist daher der Gruppenrelativismus. Der Gruppenrelativismus taucht seinerseits in zwei Varianten auf: (1) Analog zum individuellen Ermessen bei der wissenschaftlichen Beurteilung historischer Darstellungen kann von einer kollektivem Ermessen gesprochen werden. Weiter oben wurde der fachdisziplinär-konsensualen Objektivität eine zentrale Rolle im Objektivitätsmodell zugedacht. Genauer wurde der scientific community eine Kontrollfunktion zugesprochen, die verhindern sollte, dass der individuelle Forscher idiosynkratische und verfälschende Methoden wählt oder sich über das Unparteilichkeitsgebot hinwegsetzt. Diese Funktion verhindert faktisch, dass das individuelle Ermessen des Historikers allzu abwegige Standards setzt, indem es ‚Erkenntnis‘, die offensichtlich nur dann als objektiv anerkannt werden kann, wenn ebensolche abwegigen Standards als erkenntnistheoretische Maßstäbe anerkannt werden, die Geltung abspricht und sie damit als nicht mehr weiter diskussionswürdig aus dem wissenschaftlichen Diskurs verbannt. Es ist ein mehr als geläufiges Phänomen, dass verschiedene wissenschaftliche Denkschulen, das heißt Gemeinschaften von Wissenschaftlern, zu verschiedenen Ansichten darüber gelangen, was geeignete Methoden und was feststehende Fakten sind und wann ein Forscher parteiisch ist und wann nicht. Die wissenschaftlichen Ergebnisse dieser Gemeinschaften könnten dann nur relativ zu den konsensuell festgelegten Standards als objektiv gelten. Offensichtlich ist ein Teil dessen, was die Perspektive des Historikers ausmacht, genau dieser gruppenspezifische Konsens und damit ein kollektives Ermessen, welches die Korrespondenz der Darstellungen mit der Realität auszuschließen scheint. So richtig es sein mag, dass verschiedene Denkschulen zu verschiedenen Ergebnissen kommen, so wenig ist damit die Relativismusthese erwiesen.
177 In der Vergangenheit hat sich immer wieder gezeigt, dass sich scheinbar unversöhnliche Lager einander annähern oder dass beide von einem anderen Lager integriert werden können oder die Streitpunkte der Diskussion als obsolet und unfruchtbar beiseite gelegt werden mussten. Eine rationale Auseinandersetzung zwischen den Lagern ist immer denkbar, wenn auch nicht immer machbar.217 Eine rationale Auseinandersetzung ermöglicht (wenn sie es auch nicht garantiert), dass die gruppenspezifischen Methoden, Fakten und Parteilichkeitsauffassungen einem interkollektiven Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sind, ob die jeweils betroffenen Gemeinschaften diese externe ‚Einmischung‘ nun gutheißen (was sie tun sollten, sind sie dem Objektivitätsideal und einem an Wahrheit orientierten Ethos der Wissenschaft wirklich verpflichtet) oder ob sie sich dagegen wehren. Damit ist der jeweilige Konsens der jeweiligen Denkschule immer nur ein vorläufiger und nur ein revidierbarer. Die diskursiv-argumentativen Querverbindungen, seien sie auch noch so kontrovers, sorgen dafür, dass die jeweiligen fachdisziplinären Konsensus nicht inzestuös werden können. Ein Anhänger des positivistischen Objektivismus wird hier einwenden, dass er mit seiner Relativismusthese nicht meinte, dass eine Gruppe von Historikern absichtlich gegen das Objektivitätsideal verstoßen oder es gar von sich weisen würde, oder dass er nicht glaubt, dass die verschiedenen Denkschulen faktisch einen Raum rationaler Diskussion betreten könnten. Vielmehr möchte er darauf hinweisen, dass der positivistische Objektivismus insofern solchen Phänomenen Rechnung tragen kann, als menschliche 217 Gerade ideologisch oder politisch hart umkämpfte historische Themen stellen eine schier unüberwindliche Anforderung an die Rationalität der beteiligten Historiker (und die sie alimentierenden Institutionen und Interessengruppen). Hier kann es tatsächlich sein, dass eine rationale Auseinandersetzung erst Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte nach den einschlägigen Ereignissen stattfinden kann. Es kann sogar unter bestimmten politischen Umständen zur einer regressiven Rationalitätsentwicklung kommen; hier wäre an plötzlich aufflammende ethnische Konflikte o. ä. zu denken, die es für den Zeitraum von Generationen nicht mehr möglich machen, gemeinsam ein rationales Bild einer bislang als gemeinsam aufgefassten und konzipierten Geschichte entstehen zu lassen. Faktisch mögen hier die Hindernisse groß, wo nicht unüberwindlich sein, prinzipiell ist damit nichts ausgeschlossen.
178 Erkenntnisfähigkeit faktisch an ihrer Perspektivität scheitern kann, der perspektivische Objektivismus sich dagegen auf eine Sicht festgelegt habe, welche die perspektivische Erkenntnis nicht als Verzerrungen objektiver Erkenntnis betrachtet, sondern als genuin objektive Erkenntnis. Die Folge, so könnte der Einwand weiter lauten, sei eben nicht die, dass ein mühsamer Weg zu wahrhaft objektiver Erkenntnis zurückgelegt werde, sondern die, dass verschiedene Gemeinschaften nur zu verschiedenen Ergebnissen kommen, die untereinander inkommensurabel seien. Damit liegt die zweite Variante des Gruppenrelativismus vor: (2) Verschiedene Gemeinschaften leben nach verschiedenen Standards, die jeweils objektive Erkenntnis hervorbringen, ohne aber miteinander vergleichbar zu sein, was sie a fortiori keiner rationalen interkollektiven Diskussion mehr zugänglich macht. Es sind aber dann nicht nur Standards, Methoden und Fakten, die inkommensurabel sind, es müssen die Begriffsschemata sein, die dafür sorgen, dass verschiedene Gemeinschaften keinen Zugang zueinander mehr finden, weil ansonsten die Standards einer interkollektiven Diskussion unterworfen werden könnten, was aber gerade ausgeschlossen werden sollte. Mit dem Begriff der Inkommensurabilität218 wird der Gruppenrelativismus subtiler angesetzt als beim ersten Versuch, daher sollten seine Prämissen wenigstens knapp skizziert werden.219 (i) Erkenntnis der Welt erfolgt immer begrifflich. Ein zweistufiges Modell, das eine Art von Wahrnehmungsakt mit einem anschließenden, davon aber separierten Konzeptualisierungsakt vorsieht, ist nicht haltbar. Wahrnehmung und begriffliche Erfassung des Wahrgenommenen gehen Hand in Hand. (ii) Konzeptualisie218 Vgl. Bevir 1994, 342 f. Seine Argumentation gegen die Inkommensurabilitätsthese ist analog zur hier vorgebrachten. Vgl. auch Hedingers Versuch, die sog. „Subjektivität“ der Geschichtswissenschaft mit dem Argument der Inkommensurabilität zu widerlegen (1977, 371 f.). Sein Argumentationsziel besteht allerdings darin, eine weitere, eigenständige Kategorie zwischen „Subjektivität“ und Objektivität aufzumachen, die im Grunde nichts anderes ist als die disziplinäre Objektivität. 219 Vgl. dazu Seebaß 1981, 199-202, wo sich auch weitere Ausdifferenzierungen der Relativismusthese finden; vgl. auch McCullagh 1998, 23 ff. und Davidson 1986; zu verschiedenen Formen des Relativismus Harré/Krausz 1996.
179 rung ist abhängig von Begriffsschemata.220 Begriffsschemata lenken die Aufmerksamkeit unserer Wahrnehmung auf die für uns relevanten Ausschnitte des Wahrnehmungsfeldes. Sie bestimmen, wie und wann wir wahrnehmen. Unsere Begriffsschemata bestimmen auch, was wir wahrnehmen. (iii) Begriffsschemata sind kulturabhängig.221 (iv) Begriffsschemata werden durch Sprachen instantiiert.222 Es gibt keinen anderen Zugang zu einem Begriffsschema, als über die Sprache, in der es ausgedrückt wird. (v) Sprachen seien jedoch nicht immer restlos ineinander übersetzbar. (vi) Aus (i) bis (v) folgt: Wenn Sprachen nicht ineinander übersetzbar sind, sie aber der Ausdruck ihrer jeweiligen Begriffsschemata sind und diese wiederum kulturrelativ die Wahrnehmung und Erkenntnis der Angehörigen der jeweiligen Kultur bestimmen, dann verfügen diese Menschen über jeweils wahre Erkenntnis, die jedoch kulturrelativ wahr ist, weil die Maßstäbe für Wahrheit und Falschheit relativ zum jeweiligen Begriffsschema und damit zur jeweiligen Kultur sind. Als kulturrelative Erkenntnis ist sie nicht in ein anderes Begriffsschema, eine andere Sprache oder eine andere Kultur übersetzbar, sie ist inkommensurabel. Die Anwendung der genannten Schlussfolgerung auf die Geschichtswissenschaft besteht für den positivistischen Objektivismus darin, zu behaupten, dass die perspektivische These von der Objektivität paralleler und immer neuer narrativer Redeskriptionen desselben Gegenstandes eine solche Form des Gruppenrelativismus ist, denn in diesem Zusammenhang von 220 Für eine knappe Explikation von „Begriffsschema“ vgl. Seebaß 1981, 159, Anm. 165 und Abs. 5.3.2 der vorliegenden Arbeit. 221 Beispiele dafür werden in der Literatur zuhauf gegeben: Eskimos nehmen nicht schlicht Schnee wahr, sondern eine uns unbekannte Mannigfaltigkeit an Arten dieser weißen Substanz. Wo ein Medizinmann einen Geist am Werk sieht, sieht der Allgemeinmediziner eine körperliche Erkrankung (und der Psychoanalytiker u. U. eine Neurose), wo der Botaniker Pflanze X der Gattung Y ausmacht, sieht der Laie nur eine Blume auf einer Wiese etc. 222 Das bedeutet nicht, dass hier für eine notwendig sprachliche Form eines Begriffsschemas argumentiert werden soll. Wenn es so etwas wie Begriffsschemata gibt und Aussagen über sie gemacht werden müssen, dann ist es schwer vorstellbar, anders auf sie ‚zuzugreifen‘ als über ihre sprachliche Instantiierung. Vgl. Seebaß 1981, wo gegen die notwendig sprachliche Form der Begriffsschemata argumentiert wird (insb. auf den Seiten 202 und 237-240).
180 Wahrheit oder Objektivität zu sprechen, würde bedeuten, jeweils gruppenrelative Kriterien von Objektivität angesetzt zu haben, die aber ihrerseits nicht untereinander verglichen werden könnten, weil sie inkommensurabel seien.223 Wer in unterschiedlichen Begriffsschemata wahrnehme und denke, habe auch unterschiedliche und inkommensurable Erkenntnis und damit könne es kein Bild der Welt geben, das Anspruch darauf erheben könnte, das Bild der Welt (i. S. v. objektiv, wahr, korrespondierend) zu sein, also gebe es auch keine gruppenübergreifenden objektiven Darstellungen der Geschichte. Die Standortgebundenheit historischer Erkenntnis würde dann als Grund für die Inkommensurabilität historischer Erkenntnis zu gelten haben, die am deutlichsten wird, wenn Historiker verschiedener Kulturen, dieselben historischen Ereignisse darstellen. Standortgebundenheit habe Inkommensurabilität zur Folge. Damit dieser Vorwurf stichhaltig sein kann, müsste sich Inkommensurabilität sinnvoll vertreten lassen können. Aus dem Inkommensurabilitätsbegriff ist aber keine plausible Konzeption zu entwickeln, so dass jeder Versuch, aus Standortgebundenheit einen ‚gefährlichen‘ Relativismus abzuleiten, der sich nicht als bloße Meinungsverschiedenheit zwischen divergierenden Forschungsmeinungen diverser scientific communities, sondern als unüberbrückbare Kluft zwischen Weltsichten entpuppt, daran scheitert, dass aus einer vagen Vorstellung von Inkommensurabilität keine haltbare Position zu gewinnen ist. Ohne eine solche unüberbrückbare Kluft kann dem Perspektivismus aber nichts nachgewiesen werden, was als objektivitätsverhindernd aus seiner Position gefolgert werden könnte. Aus der Prämisse (iv) – Sprachen seien Instantiierungen der Begriffsschemata – kann das Scheitern der Inkommensurabilitätsthese abgeleitet werden. Es mag zugestanden werden, dass bestimmte Redewendungen und Begriffe mancher Sprachen nicht immer elegant und konzise in andere 223 Die Geschichtswissenschaft wäre – greift man Kuhns Revolutionsmodell wissenschaftlichen Wandels auf – davon gekennzeichnet, dass sie in einem permanenten Revolutionszustand verharren müsste, in dem zwar diverse (inkommensurable) Paradigmata miteinander im Streit lägen, keines davon aber stark genug wäre, die „Revolution“, sprich, den eigenen Durchbruch zur „Normalwissenschaft“ den anderen aufzuoktroyieren. (Vgl. Kuhn 1996, Kap. IX-XIII)
181 Sprachen übersetzt werden können.224 Daraus folgt jedoch keine prinzipielle Unübersetzbarkeit des semantischen Gehaltes des einen sprachlichen Ausdrucks in Ausdrücke anderer Sprachen. Es mögen gelegentlich langatmige und situationsbezogene Beschreibungen bestimmter Begriffe und Redewendungen erforderlich sein oder auch die semantische ‚Teilung‘ eines fremdsprachigen Begriffs in mehrere Begriffe der Zielsprache notwendig sein. Eine unüberbrückbare Kluft zwischen Fremd- und Zielsprache kann daraus nicht abgeleitet werden.225 Die Anforderung an eine Übersetzung Ausdruck für Ausdruck ohne irgendwelche „Reste“ ist viel zu hoch, um akzeptabel zu sein. Kaum eine Sprache dürfte durch eine solch strikte Eins-zu-eins-Übersetzung in eine andere übertragen werden können. Trotz dieses Defizits scheinen sich Kulturen seit frühester Zeit erfolgreich über alles und jedes verständigen zu können. Die Anforderungen sind um des Argumentes willen künstlich hoch angesetzt, wie überhaupt ein Schluss von oberflächliche Ausdrucksdifferenzen in verschiedenen Sprachen auf eine tieferliegende semantische Differenz und damit eine signifikant differierende Erfahrung der Realität kaum überzeugen kann.226 Genau diese fundamentale Differenz müsste die 224 Vgl. Harré/Krausz 1996 (47 f.) für einige Beispiele von Übersetzungen, die nicht ohne „Rest“ möglich seien. 225 Vgl. McCullagh 1998, 31 f. für ein von Geertz übernommenes Beispiel einer umfangreichen Übersetzung zweier balinesischer Begriffe in die englische Sprache. Vgl. außerdem Seebaß 1981, 199 für ein knappe Auflistung notorisch schwierig zu übersetzender Begriffe aus diversen Sprachen. Sowohl Seebaß als auch McCullagh betonen die prinzipielle Möglichkeit, auch schwer zu übersetzende sprachliche Äußerungen in eine andere Sprache zu übertragen. Dass dies auf Kosten sprachlicher Eleganz geschieht, dürfte nicht zuletzt ein Grund für die These sein, dass sich Äußerungen in der einen Sprache nur mit Verlusten in Äußerungen der anderen Sprache übersetzen lassen. Daher vermutet Seebaß eine u. a. ästhetisch motivierte Unzufriedenheit hinter entsprechenden Bemerkungen (1981, 203). Auch weitere Phänomene, wie etwa ein gelegentlicher Zwang zur Desambiguierung, werden hier mit hineinspielen. 226 Vgl. Seebaß 1981, Kap. VIII. Seebaß weist auf von ihm unterschiedenen Ebenen (lexikalische, grammatische, etymologische und formal semantische) jeweils nach, dass aus den oberflächlichen Differenzen auf der Ausdrucksseite der Sprache keinesfalls eine tieferliegende semantische Differenz und daran gekoppelt ein
182 Inkommensurabilitätsthese aber nachweisen. Dazu reicht es jedoch nicht aus, auf das Scheitern einer Eins-zu-eins-Übersetzung ohne „Rest“ oder auf andere Ausdrucksdifferenzen zu verweisen. Es ist sehr gut möglich, dass der Angehörige einer Kultur eine Pflanze als Dekoration betrachtet, während ein Angehöriger einer anderen Kultur in ihr eine Heilpflanze erkennt. Verständigen können sich beide über ihre Sichtweisen dennoch, sofern einer der beiden die Sprache des anderen gelernt hat. Sie könnten sich selbst dann über ihre ‚Welten‘ verständigen, wenn die jeweils andere Seite ihre Beschreibung als absolut gültig voraussetzt, etwa wenn die Pflanze nicht als Dekoration betrachtet werden darf, weil sie als sakro-sankte Heilpflanze solch profanen Betrachtungen nicht unterliegen sollte. Schwierigkeiten in der Übersetzung implizieren keine inkommensurable Erkenntnis der Welt, oder genauer: keinen unüberbückbaren sprach-, begriffsschemaoder kulturrelativen Zugang zur Realität.227 Unterstützend kann Davidsons A-priori-Überlegung angeführt werden,228 nach der eine vollständige Unübersetzbarkeit keinen Sinn ergibt, während eine partielle Unübersetzbarkeit Inkommensurabilität ausschließt.229 Eine partielle Unübersetzbarkeit schließt Unübersetzbarkeit überhaupt aus, weil sich eine Möglichkeit bietet, die vermeintlich unübersetzbaren Aussagen wie Meinungsverschiedenheiten zu behandeln und das bedeutet: als verdifferierender kognitiver Zugang zur Realität entspricht, die sich korrespondierend zu den Differenzen der Ausdrucksseite verhalten (ebd., Kap. VIII, 2-4). „Wenn wir von bloßen Ausdrucksdifferenzen und insignifikanten Begriffsdifferenzen vollständig absehen, bleiben als zweifelsfreie Belege für die Relativitätsthese nur die bekannten Abweichungen bei den Farbwörtern sowie einige streng analoge Fälle, bei denen ein prinzipiell allen Menschen zugängliches Wahrnehmungskontinuum so aufgeteilt wird, daß sich nicht nur verschiedene interne Differenzierungen, sondern echte begriffliche Überlappungen zwischen einzelnen Sprachen ergeben. Nur in diesem vergleichsweise marginalen Bereich und unter gleichzeitiger Anerkennung eines nicht relativen Bezugspunkts ist die Behauptung von den in den verschiedenen Sprachen enthaltenen, unterschiedlichen Arten der ‚Welterschließung‘ plausibel, und von signifikanten Unterschieden im ‚Denken‘ kann bislang überhaupt nicht gesprochen werden.“ (Ebd., 232 f.) 227 Vgl. Seebaß 1981, 228-231, ebenso Murphey 1994, 1-54. 228 Seebaß 1981 deutet auf Seite 233 in Anm. 240 eine ähnliche Überlegung an. 229 Davidson 1986, 281.
183 stehbare und verstandene, wenn auch umstrittene Aussagen: Etwas als eine unübersetzbare Aussage aufzufassen, bedeutet, sie bereits verstanden zu haben. Vollständige Unübersetzbarkeit setze voraus, dass es so etwas wie eine neutrale Position gebe, von der aus Begriffsschemata verglichen werden können. Etwas als inkommensurables Begriffsschema zu erkennen, bedeutet, es im Vergleich zu etwas mit einem anderen Begriffsschema in Beziehung zu setzen. Dieses Etwas (gewissermaßen das tertium comparationis) könnte „ein feststehender Vorrat an Bedeutungen“ sein oder aber eine theorie- und sprachunabhängig zugängliche (und dennoch intersubjektiv vergleichbare) Realität.230 Keine der beiden Annahmen ist sonderlich plausibel. Weder kann ein ‚Bedeutungshimmel‘ angenommen werden, der uns dazu verhelfen könnte, absolut unübersetzbare Sprachen miteinander in Beziehung zu setzen, noch können zwei Sprecher sich über die Inkommensurabilität dessen, was sie jeweils als ihre Sprachen ansehen, ‚verständigen‘, indem sie sich eine neutrale, unbeschriebene Realität vor Augen halten und an ihr demonstrieren, dass ihre respektiven Beschreibungen unübersetzbar sind. Für die hier vorliegende Arbeit bedeutet dies, dass mehrere Darstellungen desselben historischen Individuums aus unterschiedlichen (sozio-kulturell bestimmten) Perspektiven keinesfalls bedeutet, dass ein untragbarer Relativismus zugestanden werden muss. Wie die Begrifflichkeiten und Beschreibungen zwischen Sprachen, wenn auch umständlich und wenig elegant, hin und her übertragbar sind, so sind auch verschiedene narrative Redeskriptionen miteinander vergleichbar und somit a fortiori übersetzbar und das selbst dort, wo eine kulturelle Kluft zwischen den Historikern zu bestehen scheint (also die Gefahr der Inkommensurabilität am größten ist). Erst dort, wo wirklich konträre Narrationen aufeinander treffen, liegt ein wirkliches Problem vor, das jedoch – epistemische Lücken im Beweismaterial einmal außen vor gelassen – nicht unlösbar ist und keinesfalls bedeutet, dass objektive Darstellungen nicht existieren (können). Solche konträren Narrationen sind kein Fall einer Inkommensurabilität von Begriffsschemata oder Perspektiven. Denn wie könnte dieses Verhältnis festgestellt 230 Davidson 1986, 277.
184 werden, wenn nicht dadurch, dass die beiden Darstellungen, die als konträr erwiesen werden sollen, verglichen werden sollen? Können sie aber auf ihre Widersprüchlichkeit hin überprüft werden, dann müssen sie übersetzbar sein. Sind sie aber übersetzbar, dann kann das nur bedeuten, dass die in ihnen erhobenen Ansprüche interkollektiv überprüft werden können. Nimmt man aber für einen Augenblick an, die Inkommensurabilitätsthese ließe sich tatsächlich halten, was hätte der positivistische Objektivist damit gewonnen? Er könnte vielleicht sagen, verschiedene Historikergemeinschaften lebten in verschiedenen Welten (was auch immer damit in einem international eng verzahnten Wissenschaftsbetrieb gemeint sein könnte, sei einmal dahingestellt) und er könnte damit sagen, dass sich die verschiedenen Gruppen nicht mehr untereinander kontrollieren, noch sich gegenseitig unter den beschriebenen Rationalitätsdruck setzen könnten. Doch selbst wenn man dieser Sichtweise um des Arguments willen zustimmte, hätte der positivistische Objektivist noch nicht sein eigentliches Argumentationsziel erreicht, das ja darin besteht, die Kriterien der Objektivität (Wahrheit, Angemessenheit o. ä.) vom Objekt zu entkoppeln. Was aus der Inkommensurabilität folgt, ist die Unmöglichkeit interkollektiver Kontrolle oder des interkollektiven Erkenntnisabgleichs, nicht aber dass die jeweiligen Gruppen keine wahren Aussagen mehr zustande bringen könnten. Denn daraus, dass jede Gruppe einen kulturrelativen begrifflichen Zugang zu den Tatsachen hat und dieser Zugang von Gruppe zu Gruppe ein anderer ist, folgt nicht, dass sie dadurch Tatsachen falsch erkennen und wiedergeben. Es folgt allenfalls – und dies auch nur, wenn man die Prämisse hinzunimmt, dass die kulturrelativen Begriffsschemata nicht dazu geeignet sind, alle Tatsachen in der Welt zu erfassen –, dass keine vollständige Beschreibung der Welt und der Geschichte möglich ist. Das wiederum mag zwar ein Verstoß gegen einen zentralen positivistischen Programmpunkt darstellen, belegt aber dennoch keine prinzipielle Korrespondenzunfähigkeit aufgrund einer Entkopplung kulturrelativer Wahrheitskriterien von der darzustellenden Vergangenheit. Folglich verfehlt der Relativismusvorwurf sein Ziel, jegliche perspektivische Geschichtstheorie als wissenschafts- und erkenntnistheoretisch untragbar darzustellen.
185
4.3 Die geschichtstheoretische Kontaminierungsthese Die Versuche, den perspektivischen Objektivismus als prinzipiell anti-objektivistisch zu erweisen, hat der vorige Abschnitt zwar widerlegt, es bleibt dem positivistischen Objektivismus aber die Möglichkeit, sein erkenntnisund wissenschaftstheoretisches Programm so auszubuchstabieren, dass historische Erkenntnisse, wie ein perspektivischer Objektivismus sie für möglich hält, wie eine Kontamination genuin objektiver Erkenntnis aussähen. Zu diesem Zweck müsste der positivistische Objektivismus ein Substrat auffindbarer Daten ausweisen, die unverzerrt aufgenommen und wiedergegeben werden können. Ein Versuch, ein solches Substrat zu finden, ist der Versuch des positivistischen Narrativismus, den wesentlich narrativen Charakter der Geschichte für den positivistischen Objektivismus zu vereinnahmen. Dass nicht alle zu einem bestimmten Zeitpunkt faktisch vorliegenden historischen Aussagen perspektivenlose Abspiegelungen vergangener Sachverhalte sind, liegt auf der Hand. Der positivistische Objektivismus müsste den Bereich dessen eingrenzen und ausweisen, was er als Abspiegelung des Datenfundaments betrachten kann und was als von subjektiver und perspektivischer Verzerrung kontaminiert gelten muss. Wenn objektive historische Erkenntnis in der unverzerrten Abbildung der Vergangenheit besteht, aber nicht alle historischen Aussagen in diesem Sinn objektiv sind, weil sie von verzerrenden Einflüssen „kontaminiert“ sind, dann muss es historische Aussagen geben, die einen bestimmten Bereich historischer Erkenntnis abbilden, der verlässlich abgebildet werden kann und der somit eine verlässliche Basis historischer Erkenntnis liefert, wenn auch die Geschichtsschreibung immer wieder über diesen Bereich hinausgeht, mithin die vorliegenden historischen Darstellungen faktisch von Verzerrungen kontaminiert sind.231 Kontaminierung bedeutet dann, 231 Die „Kontaminierungsthese“ in einer abstrakten Form besagt, dass, wenn schon nicht die Wissenschaftler als Individuen und die wissenschaftlichen Institutionen, dann zumindest die Inhalte der Wissenschaft von kultureller Kontaminierung frei sein sollten. (Daston 1998, 21. Dort geht es speziell um die Naturwissenschaften,
186 dass bestimmte, potentiell (im positivistischen Sinn:) objektive historische Erkenntnisse von der Perspektive des Historikers kontaminiert sind. Der positivistische Narrativismus bietet einen positiven Vorschlag für eine historiographische Erfassung der Vergangenheit, die vermeintlich frei ist von illegitimer Kontaminierung der Erkenntnis oder es wenigstens sein könnte.
4.3.1 Der positivistische Narrativismus Der positivistische Narrativismus stellt eine Chance dar, das positivistische Programm mit dem historischen Narrativismus in Einklang zu bringen. Er ist innerhalb des Narrativismus eine Unterströmung, die sich von den beiden anderen Versionen des Narrativismus, dem postmodernen und dem minimalistischen, darin unterscheidet, dass er die Korrespondenz zwischen Darstellung und Dargestelltem tatsächlich als eine Abbildungsrelation zwischen der narrativen Repräsentation in der historischen Darstellung und der narrativen Struktur des Dargestellten auffasst. Das Ziel dieses Ansatzes besteht darin, den sogenannten „Impositionalisten“ – etwa L. Mink, H. White und auch F. Ankersmit – das Argument aus den Händen zu winden, die narrativen Strukturen historischer Darstellungen werden im Grunde willkürlich einer Ansammlung von Ereignissen (bzw. Einzelaussagen) auferlegt. Denn dadurch werde, soweit stimmt der positivistische Narrativismus mit der Analyse des postmodernen Narrativismus überein, jedes Korrespondenzverhältnis (und damit die Möglichkeit von wahren Narrationen) ausgeschlossen. Der positivistische Narrativismus (die „plot-reifiers“ mit Norman) behauptet dagegen, dass historische Darstellungen insofern wahr sind, als sie die narrativen Strukturen der erfahrenen und gelebten Vergangenheit nachvollziehen.232 doch die Grundüberzeugung ist auch für die Geschichtswissenschaft zumindest tendenziell dieselbe.) 232 Vgl. Normans Zusammenfassung der Vorteile der Theorie der „plot-reifiers“: „A second virtue of the plot-reifier’s account is that it seems to explain how historical narratives can be true. A story about the past is true [...] when it accurately
187 Eine solche Auffassung bietet einen Vorteil für den positivistischen Objektivismus. Wenn die These vom wesentlich narrativen Charakter der Geschichte zutrifft, dann wäre es für den positivistischen Objektivismus sicherlich von Vorteil, seinen überkommenen Widerstand gegen die Integration historische Narrativität in die Geschichtstheorie aufzugeben. Ja, er könnte darüber hinaus den narrativen Charakter der historischer Darstellungen geradezu als Chance betrachten, Objektivität in einem simplen Abspiegelungssinn zu etablieren und damit den wesentlich narrativen Charakter historischer Erkenntnis in den Dienst des positivistischen Verständnisses von Objektivität zu stellen, indem er eine Schicht oder einen Bereich in der Geschichtswissenschaft offenlegt, in der bzw. dem sich ein positivistisches Erkenntnisprogramm, wie es oben skizziert worden ist, potentiell durchführen ließe. Der positivistische Narrativismus wird als Gegenposition zu einem Narrativismus verstanden, der aus dem narrativen Charakter historischer Darstellungen erkenntnis- und objektivitätsskeptische Schlussfolgerungen zieht,233 weil Narrationen keine vorhandenen narrativen Strukturen sprachlich repräsentieren, sondern nachträglich den Ereignissen auferlegt werden. In den oft zitierten Worten Louis Minks: „[..] to say that the qualities of narrative are transferred to art from life seems a hysteron proteron. Stories are not lived but told.“234 In diesem Gegensatz sieht David Carr, der exponierteste Vertreter des positivistischen Narrativismus, sich selbst: „By arguing for the narrative character of human experience, both individual and social, we have been concerned from the start to counter the view of certain theorists [...] that a narrative account is so utterly different in form from the events it portrays that by virtue of this form alone it is constitumaps the real narrative structure of the lived past.“ (1998, 158) Welche Schwierigkeiten mit dieser auf den ersten Blick vielleicht noch als plausibel erscheinenden Theorie gerade für die Geschichtswissenschaft entstehen, wird sich noch zeigen. Entsprechend skeptisch ist Norman auch in seiner Einschätzung dieses Vorteils (159). 233 Vgl. die Gegenüberstellung der „impositionalists“ White und Mink mit dem Ansatz des „plot-reifiers“ Carr bei Carter 2003, 1 f., Dray 1989b, 131-134 und Norman 1998, 154-156. 234 Mink 1989a, 60 (zweite Hervorh. J. K.).
188 tionally condemned to misrepresentation.“235 Und Carr weiter über die Gegenseite: „Real events simply do not hang together in a narrative way, and if we treat them as if they did we are untrue to life. Thus not merely for lack of evidence or of verisimilitude, but in virtue of its very form, any narrative account will present us with a distorted picture of the events it relates.“236 Weil für den positivistischen Narrativismus Geschichtsschreibung ebenfalls wesentlich narrativ ist, die narrative Form der sprachlichen Darstellung dem ‚Material‘ dagegen weder willkürlich auferlegt wird (wie das der postmoderne Narrativismus vorsieht) noch als kontrollierte Konstruktion (wie es der konstruktionistische Narrativismus vorsieht) entsteht, müssen die abzubildenden narrativen Strukturen bereits in der Welt zu finden sein. „The most general point we want to make is that, insofar as such [sc. historical] inquiry results in narrative accounts, these must be regarded not as departure from the structure of the reality they purport to depict, much less a distortion or radical transformation of its character, but as an extension of its very nature.“237 „Narrative is not merely a possibly successful way of describing events; its structure inheres in the events themselves.“238 Wo aber sind diese narrativen Strukturen zu finden? Nach Carr 239 zeichnen sich bereits einfache Handlungen und Wahrnehmungen durch eine Struktur aus, die als proto-narrativ oder narrationsähnlich zu bezeichnen ist. Erfahrungen besitzen notwendig, laut Carr, eine Anfang-Mitte-EndeStruktur, während Handlungen nach dem Zweck-Mittel-Schema strukturiert seien, und das bedeute, sie blickten von einem imaginierten Endpunkt, i. e. dem Zweck, quasi-retrospektiv auf die zu wählenden Mittel und den Zustand vor dem Einsetzen der Handlung als Anfang zurück. Diese Strukturen finden sich auf der Ebene einfacher Handlungen und Wahrnehmungen ebenso wie auf der Ebene komplexer Handlungen, die ihrerseits aus einfacheren Handlungen und Wahrnehmungen, aber auch aus genuinen 235 236 237 238 239
Carr 1986, 169. Carr 1998, 137. Carr 1986, 169. Carr 1998, 137. Für das Folgende vgl. Carr 1986, Kap. II, IV, VI und ders. 1998. Vgl. außerdem die konzise Zusammenfassung bei Dray 1989b, 135-140.
189 Narrationen bestünden. Die narrative Struktur komplexer Handlungen, die sich über lange Zeit erstreckten und daher meist häufig und lange unterbrochen seien, ermöglichten überhaupt erst Handlungen wie das Schreiben eines Buches oder die Erziehung eines Kindes. Darüber hinaus seien aber auch persönliche Selbstauffassungen nichts anderes als narrative Zusammenhänge, die als Narrationen für die jeweilige personale Integrität sorgten. Doch ist damit die These wirklich belegt, dass narrative Strukturen in der Welt sind? Der positivistische Narrativismus (insbesondere bei Carr, aber auch bei zum Beispiel Carter) schwankt zwischen einer starken ontologisch-epistemologischen und einer schwachen epistemologisch-praktischen These:240 Im ersten Fall müsste gezeigt werden können, dass die Welt – und das bedeutet die Ereignisse in der Welt – narrativ strukturiert sind und als solche erfahren und repräsentiert werden; im zweiten Fall wird lediglich gesagt, dass unsere Erfahrung und gleichermaßen unsere Handlungsentwürfe narrativ strukturiert sind, über die Ereignisse selbst wird nichts oder zumindest nicht besonders viel gesagt. (Selbstverständlich wird diese scharfe Dichotomie so nicht von den Vertretern des positivistischen Narrativismus gemacht.) Die erste, starke Lesart scheint die einzig interessante zu sein, denn nur sie, so hat es den Anschein, kann das Dilemma überbrücken, das sich aus der wesentlich narrativen Form der Geschichtsschreibung und den Ansprüchen des positivistischen Programms ergibt. Doch auch die zweite, schwächere Lesart besitzt dieses Potential, wenn auch in geringerem Maße, weil argumentiert werden könnte, dass man zwar nichts oder nicht viel von der Struktur der Ereignisse wissen kann – außer ihrer temporalen Abfolge und der Tatsache, dass sie irgendwelche Beziehungen untereinander eingehen –, wir aber wissen, dass unsere Erfahrung ebenso wie unsere (individuellen wie kollektiven) Handlungsentwürfe narrativ strukturiert sind – und eben diese Strukturen es sind, die vom Historiker narrativ erfasst werden (müs240 Dray (in 1989b, 143 f.) weist auf die Schwierigkeit hin, die sich für eine Einschätzung der Theorie Carrs ergibt, weil Carr die Grenzen zwischen der Frage nach der narrativen Struktur dessen, was erkannt wird, und der narrativen Struktur des Erfahrungsprozesses und der anschließenden narrativen Repräsentation selbst verwischt („blur“). Vgl. z. B. die Aussagen Carrs in 1986, 46 f.
190 sen). Genauso argumentiert Carr, wenn es darum geht, seinen Narrativismus, der sich auf individuelle wie soziale praktische Zusammenhänge konzentriert, auf die Geschichte zu übertragen. Zunächst soll hier die starke ontologisch-epistemologisch Lesart überprüft werden, erst darauf kann die zweite Lesart betrachtet werden. Im Grunde kann von all den Bereichen, die vermeintlich narrativ strukturiert sein sollen, eigentlich nur der Bereich der Handlungen als narrativ strukturiert gelten. Für die anderen Bereiche gilt lediglich, dass unsere Erfahrung narrativ strukturiert ist bzw. Erfahrung notwendig narrativ sein muss. Die Welt selbst oder die Ereignisse in der Welt sind damit noch lange nicht narrativ strukturiert. Eine wirklich anspruchsvolle metaphysisch-ontologische These, die besagt, dass Ereignisse eine narrative Struktur de rigueur besitzen, wird also gar nicht ernsthaft vertreten. Es hat den Anschein als sollte die starke (ontologische) These aber gerettet werden, indem die temporale Sequenzierung der Ereignisse in der Welt mit Narrativität identifiziert wird. Doch was sollte damit gewonnen sein? Dass die temporale Sequenzierung von Ereignissen eine Voraussetzung narrativer Erfahrung und narrativer Repräsentation ist, wird kaum von jemandem bestritten. Ebenso wenig wird bestritten, dass Narrationen die Abfolge von Ereignissen nachvollziehen. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass Ereignisse selbst narrativ strukturiert sind. Eine bloße Abfolge von Ereignissen ist eben noch keine Geschichte, obschon jede Geschichte voraussetzt, dass es einen Wandel von Ereignisträgern gab und dies wiederum eine temporale Ordnung impliziert. Aus diesem Grund muss eine weitere Prämisse hinzugefügt werden. Die Ereignisse besäßen eine Beginn-MitteEnde-Relation. Wie ist das gemeint? Eine Ereignisveränderung besitzt einen Anfangs- und einen Endzustand und damit eine identifizierbare Mitte. Jedes Ereignis, jede Handlung, jede Wahrnehmung besitzt einen Anfang und ein Ende. Wie aber kommen die Ereignisse dazu, diese Struktur zu besitzen? Carters Antwort darauf ist verräterisch: Sie werden den Ereignissen von den historischen Akteuren auferlegt.241 Ganz im Sinne Carrs sind es die Akteure, die Erfahrungen von Ereignissen repräsentieren, Handlungen entwerfen, 241 Carter 2003, 21 f.
191 ein Bild von sich selbst haben.242 Doch über die Ereignisse selbst ist wieder nicht mehr gesagt, als dass wir sie in bestimmter Weise wahrnehmen, nämlich in einer Beginn-Mitte-Ende-Struktur.243 Die gesamte Struktur ist nur eine solche für das Individuum: „They are structures and relations [sc. die der Ereignisse und zwischen den Ereignissen] that exist for the experiencer or the agent in the process of experiencing or acting: they constitute the meaningfulness or direction of the experience or action [...].“244 Vielleicht kann aber eine stillschweigend eingeführte Zusatzprämisse die starke These retten? Wenn unsere Wahrnehmung narrativ strukturiert ist und sie notwendig strukturiert ist, dann bedeutet dies doch nichts anderes, als dass die Ereignisse selbst über ihre temporale Abfolge hinaus, wenigstens irgendeine Struktur besitzen müssen.245 Das mag richtig sein und ist gewiss ebenfalls eine der Voraussetzungen des Narrativismus schlechthin, doch reicht irgendeine Struktur für die anspruchsvolle These, dass die Welt 242 Carr 1986, 47: „What counts about the melody as an example of an event is that it is heard as beginning, and each of its phases is heard in anticipation (whether correct or not) of an ending.“ 243 Carr 1986, 47 und 50 f. Es gibt noch eine Reihe von Variationen der Beginn-Mitte-Ende-Struktur: „[...] we have found that the notion of ‚temporal configuration‘ can be elaborated in a number of ways: first as closure or beginning, middle, and end, the most general designation of the phenomenon; then as departure and arrival, departure and return, means and end, suspension and resolution, problem and solution.“ (Ebd., 49) Diese Varianten zu diskutieren erübrigt sich, weil es an dieser Stelle lediglich um die Frage geht, ob diese Strukturen in der Welt vorhanden sind (im Sinne einer starken ontologischen These) oder ob sie erst vom Individuum hineingelegt werden. Anhand der Spezies der Gattung „Beginn-Mitte-Ende-Struktur“ fällt die Antwort noch eindeutiger zugunsten einer nachträglichen subjektiven ‚Bearbeitung‘ aus, denn welches Ereignis ist ‚an sich‘ eine Ankunft, oder welche Handlung ‚an sich‘ ein Mittel? 244 Carr 1986, 50 f. 245 So zumindest verstehe ich Carr, wenn er sagt: „[...] events are charged with significance they derive from our retentions and protentions. If this is true of our most passive experience, it is all the more true of our active lives, in which we quite explicitly consult past experience, envisage the future, and view the present as a passage between the two. Whatever we encounter within our experience functions as instrument or obstacle to our plans expectations and hopes. Whatever else ‚life‘ may be, it is hardly a structureless sequence of isolated events.“ (1998, 141.)
192 eine narrative Struktur besitzt, die sprachlich ohne konstruktionistische oder impositionalistische Operationen repräsentiert werden kann, nicht aus. Wieder ist es aber unsere Wahrnehmung, die für die eigentliche Narrativisierung zu sorgen hat. Eine starke ontologische Theorie wird also bestenfalls halbherzig vertreten246 – und dürfte auch kaum Chancen haben, plausibel vertreten werden zu können. Welche Basis für einen Positivismus bildet die schwächere epistemologisch-praktische These? Auch sie besitzt genug Potential für einen positivistischen Objektivismus. Denn es ist immer noch nicht ausgeschlossen, dass eine historische Narration auf den bloßen Nachvollzug vorgegebener narrativer Strukturen festgelegt ist, will sie eine wahre oder objektive Narration sein. Es können nun nur nicht mehr die narrativen Strukturen in der Welt sein, die nachvollzogen werden müssen. Es sind die bereits vorhandenen Narrationen, die sich aus den individuellen und kollektiven narrativen Strukturen individueller Erfahrung, Handlung und personaler Integration und den kollektiver Handlungen und kollektiver Identität ergeben. In diesem Sinn ist zum Beispiel der Startpunkt einer historischen Forschung mit anschließender narrativer Repräsentation die narrative Integration der Gruppe, zu der der Historiker gehört. Es handelt sich also um die narrativen Strukturen, welche die Akteure in ihren Erfahrungen, Handlungsentwürfen und narrativen Selbstwahrnehmungen ‚erzählen‘.247 246 Auffallend, um nicht zu sagen verräterisch, ist Carrs Replik auf den folgenden Einwand: Wenn etwas eine narrative Struktur besitzt oder eine Narration ist, dann braucht es einen Erzähler; wo kein Erzähler, da keine Erzählung. Doch statt diesen Einwand zurückzuweisen oder zu widerlegen, macht ihn Carr sich zu eigen, indem er das jeweilige wahrnehmende und planende Individuum zum Erzähler macht. Das Individuum erzählt sich selbst und anderen die Geschichten, um deren narrative Struktur es geht. Damit allerdings – und darauf weist Dray hin (1989b, 145) – ist wieder nichts über die Struktur der Welt gesagt. Schlimmer gar: Wenn Carr ohne Qualifikation dem ‚Erzähler-Einwand‘ zustimmt, dann bedeutet das, dass er auf der Ereignisebene eigentlich gar keine narrative Struktur zulassen kann, ohne entweder dort einen Erzähler einzuführen oder wenigstens auf der Ereignisebene gegen den ‚Erzähler-Einwand‘ zu argumentieren. 247 Aus diesem Grund sei die „praktische“ Dimension der Narrativität jeder anderen narrativen Dimension vorgängig: „In this sense the narrative activity I am referring to is practical before it becomes cognitive or aesthetic in history and fiction.“
193 Diese Zusammenhänge seien es, die dem Historiker das Material lieferten, seine Narrationen zu erstellen.248 „[..] certainly in a very general way its [sc. the world’s] narrative contours are there prior to any particular historian’s work and provide the framework within which the latter takes place.“249 Es geht darum, dass die Erfahrungen, die Menschen machen, und die Handlungen, die sie vollziehen, bereits von uns mit einem narrativen Sinn versehen werden und nicht als sinnlose und unstrukturierte Vorgänge auf uns einstürmen.250 Es sind die narrativen Strukturen, mit denen wir Ereignissen und unserer eigenen Existenz einen Sinn verleihen. Genau diese Strukturen müssen dem Historiker als Material dienen. Dabei erkennt Carr an, dass Historiker Geschichte schreiben, indem sie Ereignisse narrativ integrieren und diese Narrationen durchaus auch Elemente enthalten, die als narrative Strukturen nicht im Bewusstsein der historischen Akteure vorhanden waren, aber er insistiert darauf (in einer kryptischen Wendung), dass auch eine solche Narration zumindest an der Form der ursprünglichen Narration teilhaben muss („their narrative recounting partakes of the form [at least] of the original narrative accounting which is their object“251). Das bedeutet, wie Carr ein wenig später erläutert, die narrativen Strukturen, die von den Akteuren ‚gehabt‘ werden, sind so etwas wie das Ausgangsmaterial252 (und womöglich auch das Korrektiv) historischer Forschung und Nar248
249 250 251 252
(Carr 1998, 146) Dabei gibt sich Carr in der Frage nach dem wesentlich narrativen Charakter historischer Darstellungen zunächst agnostisch, betont aber, dass auch deskriptiv-analytische Darstellungen nicht auf narrative Elemente verzichten könnten, wenn es überhaupt vornehmlich deskriptiv-analytische Darstellungen in der Geschichtsschreibung geben könne. Der Grund dafür bestehe darin, dass das Material auch der deskriptiv-analytischen Darstellungen aus den bereits vorhandenen narrativen Strukturen besteht (1986, 175). Carr 1986, 175. So zusammenfassend Carr 1998, 145. Carr 1986, 175 f. „It may indeed be true that historical research will often penetrate to causal connections [kausale Verhältnisse sind ein Beispiel, das Carr verwendet, um narrative Strukturen zu veranschaulichen, deren sich die historischen Akteure nicht bewusst sind] among events and actions [...] which were hidden from the historical agents themselves. But this is not to deny that these agents lived in a narrative
194 rationen. Die unglückliche Lage, in die sich der positivistische Narrativismus mit einer solchen Theorie gebracht hat, wird nun evident. Auf der einen Seite ist es vollkommen richtig, dass unsere Wahrnehmungen und unsere Handlungen nicht chaotisch auf uns einstürmen respektive nicht von uns chaotisch vollzogen werden, und es mag darüber hinaus sogar richtig sein, dass diese Erfahrungen und Handlungsentwürfe notwendig narrativ sind, ebenso wie personale und kollektive Identität notwendig narrative Mechanismen voraussetzen mag. Auf der anderen Seite ist aber zu fragen, was mit diesen narrativen Strukturen, die in Form erzählter Geschichten in den einzelnen Akteuren aufzufinden sind (oder wenigstens aufgefunden werden können), in der Geschichtswissenschaft angefangen werden soll? Zwei Möglichkeiten sind für die Betrachtungen der vorliegenden Arbeit von Belang. (1) Diese narrativen Strukturen sind es, die in historischen Darstellungen sprachlich repräsentiert werden müssen. Damit wäre wieder eine einfache Lösung des Objektivitätsproblems erreicht. Sie basiert in diesem Fall nicht mehr auf der starken ontologischen These, dass die Welt narrativ strukturiert ist und wir sie deshalb narrativ strukturiert wahrnehmen und aufgrund dieser isomorphen Korrespondenz auch narrativ repräsentieren können, sondern auf der schwächeren epistemologisch-praktischen These, dass die Ereignisse in der Welt zwar irgendwie strukturiert sind, aber nicht zwangsläufig (oder auch überhaupt nicht) narrativ. Wohl aber sind unsere Erfahrungen, Handlungsentwürfe und personalen wie sozialen Identitäten notwendig durch und durch narrativ strukturiert. Und ebendiese Strukturen nachzuvollziehen, d. h. abzuspiegeln, sei nun die einzige Möglichkeit für den Historiker Korrespondenz und damit Objektivität zu erreichen. Diese Lösung wird zwar vom positivistischen Narrativismus nicht vertreten253, es wäre aber an dieser Stelle die einzig konsequente Position, um sich von anderen Positionen überhaupt abgrenzen zu können. Es mag sein, dass manche Verläufe eine naheliegende Beginn-Mitte-Enfashion; it is just to say that their story of what they were doing must be revised or indeed replaced by a better one.“ (Carr 1986, 177) 253 „Thus I am not claiming that the second-order narratives, particularly in history, simply mirror or reproduce the first-oder narratives that constitute their subjectmatter.“ (Carr 1998, 151)
195 de-Struktur besitzen, aber nicht alle. Auch ist häufig die Narration nicht von Beginn-Mitte-Ende-Strukturen bestimmt, die besonders leicht festzustellen sind. Damit ist aber noch nicht besonders viel über die historische Narration selbst gesagt. Es ist nämlich so, dass, um Zargorins Beispiel aufzugreifen254, wir den Beginn und das Ende der Schlacht um Stalingrad doch sehr genau feststellen können. Also habe sie eine solche Beginn-Mitte-Ende-Struktur. Das Problem ist aber, dass historische Narrationen eben nicht mit dem Schlachtbeginn einsetzen und auch nicht mit der Kapitulation der 6. Armee enden. Das mag als marginaler Punkt erscheinen, wirft aber Licht auf eines der zentralen Argumente der „plot-reifiers“. Selbst wenn bestimmte Veränderungen in der Welt so erfahren werden, wie sie gegeben sind (für den Augenblick sei das einfach einmal so angenommen), das heißt, wie sie als Tatsachen gegeben sind, ist damit noch nicht einfach eine Narrationsstruktur auf der Ebene der sprachlichen Repräsentation gegeben. Die Beginn-Mitte-Ende-Strukturen ‚in der Welt‘ können nicht einfach, i. e. ohne weitere ‚logische‘ Bearbeitung, in sprachliche Repräsentation eins zu eins übertragen werden. Veränderungen von Eigenschaftsträgern und narrative Repräsentation dieser Veränderungen stehen in einem wesentlich komplexeren Verhältnis. So ist es etwa ganz vom Erkenntnisinteresse des Historikers abhängig, wo er seine Narration beginnen lässt. Die eine Narration beginnt vielleicht mit der strategischen Entscheidung Hitlers, die von militärwirtschaftlichen Erwägungen motiviert war, während ein anderer mit der Position der 6. Armee vor ihrem Eingreifen in die Offensive, die zur Schlacht bei Stalingrad geführt hat, beginnt. Der erste ist vielleicht an militärstrategischen Erwägungen interessiert, während es dem anderen um das Schicksal militärischer Großverbände an der Ostfront des Zweiten Weltkrieges zu tun ist. Beide sind sich gewiss über den Anfang und das Ende der Schlacht selbst einig. Doch keiner von beiden lässt seine Narration mit dem Beginn der Schlacht anheben oder mit dem Ende der Schlacht abbrechen. 254 Zargorin 1999, 20 f. Er benutzt dieses Beispiel im Sinn des positivistischen Narrativismus: Der Anfang und das Ende der Schlacht von Stalingrad seien (mehr oder weniger, wie er selbst relativiert) einfach festzustellen und die Wahl, wo die Zäsuren zu machen seien, sei von den Fakten beschränkt.
196 Was wird dann aber abgespiegelt, wenn die Narration von Strukturen, von deren Wandlung und von äußeren Zwängen auf die Akteure handelt, derer sich die Akteure nicht bewusst sind? Kann dann immer noch eine Abspiegelung narrativer Strukturen, über welche die historischen Akteure verfügen mussten, sinnvoll vertreten werden? Diese Frage an den positivistischen Narrativismus zu stellen, ist kein überzogenes Ansinnen. Denn das argumentative Ziel des positivistischen Narrativismus besteht darin, Korrespondenz zwischen Darstellung und historischer Vergangenheit gemäß eines einfachen Abspiegelungsstandards aufzufassen. Da historische Darstellungen auch für ihn wesentlich narrativ sind, müssen es vorhandene narrative Strukturen sein, die in einer historischen Darstellung abgespiegelt werden. Ein anderer Weg, etwa über einen „impositionalism“, soll ja gerade ausgeschlossen werden. Wo können narrative Strukturen vorhanden sein? Diese Frage in einem direkten ontologischen Sinn zu beantworten ist ausgeschlossen worden, es bleibt also nur noch, die narrativen Strukturen ‚im Geist‘ der historischen Akteure zu suchen. In diesem Fall müsste aber eine enorme Anzahl an historischen Narrationen aus dem Kanon genuiner Geschichtsschreibung entfernt werden. Niemand in der Zeit der (um dieses in diesem Zusammenhang häufig zitierte Beispiel aufzugreifen) „Industriellen Revolution“ war sich langfristiger ökonomischer Entwicklungen und Umbrüche bewusst, als sie sich zugetragen haben. Sollten sich Arbeiten, die sich mit diesen Phänomenen beschäftigen, lediglich auf die vorhandenen zeitgenössischen narrativen Strukturen beschränken? Damit wäre eine nicht tragbare Einschränkung historischer Erkenntnis verbunden. Ganz allgemein gesprochen, wäre dann jeder theoretische Fortschritt in den benachbarten Disziplinen der Geschichtswissenschaft für dieselbe tabu, denn qua Innovation kann diese theoretische Erkenntnis den damaligen Akteuren nicht zur Verfügung gestanden haben, sie können also etwa keine wirtschaftstheoretisch orientierte historische Darstellung der Industriellen Revolution geben. Eine solche wirtschaftstheoretische Darstellung ist aber das Kernstück einer jeden Geschichte der Industriellen Revolution. Eine solche nach heutigen Maßstäben objektive, zentrale und unverzichtbare Auffassung eines historischen Phänomens könnte nicht Teil des historischen Kanons sein, weil die theoretischen Entwicklun-
197 gen dem damaligen Zeitgenossen nicht zugänglich waren. Analog dazu sind bestimmte Narrationen, welche die Entwicklung eines Kollektivs nachvollziehen wollen, nur eingeschränkt denkbar. Eine Reihe wie Die Deutschen und ihre Nation dürfte erst recht spät im Mittelalter einsetzen (und nicht mit dem Ende der sogenannten „Völkerwanderung“), denn kaum ein Bewohner des Frankenreiches dürfte über narrative Strukturen verfügen, in denen das spätere Deutschland auftaucht.255 Auch muss klar sein, dass der jeweilige Historiker weiter blicken können muss, als die damaligen Akteure. Es mag durchaus sein, dass tatsächlich eine Narration über die Niederlage einer Armee in einer bestimmten Schlacht ‚vorhanden‘ ist, und es mag darüber hinaus sogar der Fall sein, dass der Historiker, der sich mit dieser Schlacht auseinandersetzt, keine theoretischen Innovationen oder anachronistischen historischen Individuen verwendet, und dennoch kann er nicht einfach die gegebene Narration schlicht abschreiben, denn womöglich, wurde die Niederlage nicht als eine Folge technologischer Rückständigkeit, die aus struktureller wirtschaftlicher Unterentwicklung resultierte, ‚erzählt‘, sondern als Strafe Gottes für das sündige Verhalten des geistigen Führers. Auch ließe sich kaum eine synthetische Narration rechtfertigen, die aus einer Fülle von Quellen eine nachvollziehbare Geschichte macht.256 Die Beispiele für die resultierenden Beschränkungen ließen sich beliebig vermehren, die Richtung dürfte aber klar sein: Eine solche Konzeption, die 255 Vgl. Drays Einwand, dass wir dazu in der Lage sind, Narrationen von Gegenständen zu erzählen, auf die überhaupt keine menschliche Einwirkung stattgefunden hat: die Geschichte der Eiszeit oder die Entstehung eines Gletschers (Dray 1989b, 155). Solche Beispiele aus der Erdgeschichte müssten eigentlich Grund genug sein, den positivistischen Narrativismus als Fundament der Geschichte zu verwerfen. Ihren Wert büßen die Beispiele lediglich deshalb ein, weil selbstverständlich immer noch ein Abgrenzungskriterium der Geschichte gegenüber anderen Wissenschaften ihr anthropologischer Bezug bleibt. 256 Es mag sein, dass für manche ‚dunklen Zeitalter‘, aus denen nur wenige Quellen tradiert sind, ein solcher Ansatz denkbar wäre, was soll aber ein Leser mit den schlicht nacherzählten Berichten z. B. der „Obersten Heeresleitung“ anfangen oder mit den Urkunden der MGH? Wer einmal eine Regestensammlung durchgesehen hat, weiß, wie hilflos er ohne narrativ konstruierten Gesamtzusammenhang dasteht.
198 sich lediglich auf den Nachvollzug vorhandener Narrationen stützt, würde Innovation, kritisches Potential und Reichtum der Geschichtswissenschaft so radikal beschneiden oder gar vollständig negieren, dass nichts mehr vom Wissenschaftscharakter der Geschichtswissenschaft übrig bliebe. Diese erste Möglichkeit wird denn auch mit guten Gründen nicht vertreten. (2) Die zweite Möglichkeit besteht darin, den narrativen Strukturen, von denen die historischen Akteure Kenntnis haben, die sie selbst gebildet oder erfahren haben, als „subject-matter“ (Carr) zu betrachten, von denen aus historische Narrationen ihren Ausgang nehmen, sprich, sie bilden das ‚Material‘, von dem die Geschichtswissenschaft auszugehen hat. Indem sie sich aber von diesen gegebenen narrativen Strukturen abgrenzt, auch wenn sie ihren Anfang von ihnen nimmt, wird sie zu wirklicher Geschichtswissenschaft, zur „cognitive second-order narrative“. Zunächst einmal muss dieser Ansatz klarstellen, was er damit eigentlich sagt, denn es ist ein kleiner Trick, mit dessen Hilfe hier unter der Hand zwei Dinge in eins gesetzt werden. Historische Darstellungen schreiben über die Vergangenheit, sie versuchen die Vergangenheit für den Leser darzustellen. Wenn nun die von den Individuen gehabten narrativen Strukturen das Ausgangsmaterial für diese Darstellungen abgeben, dann kann das zweierlei bedeuten257: Entweder diese narrativen Strukturen handeln von etwas, das dargestellt werden soll, das heißt, sie werden als Zeugnisse betrachtet, die etwas über die Vergangenheit aussagen und dieser ausgedrückte Gehalt ist es eigentlich, der das Material der historischen Darstellungen ist. Dann wären es im Grunde nichts anderes als ein komplizierter Weg das bekannte Schlagwort der Historiker „ad fontes!“ möglichst weitschweifig auszudrücken. Was wäre dann aber die Stellung dieser Quellengattung zu anderen Quellen? Besäßen sie ein epistemologisch-methodologisches Primat? Oder wären schlicht alle Quellen, auch nicht-narrative, dieser Art? Was ist aber mit Sachquellen? Könnten sie nicht mehr als Quellen gelten? Diese Fragen zeigen, dass ein solcher Ansatz an sich kaum haltbar ist. Es zeigt aber auch, dass dann dieser ganze Ansatz keine Besonderheit mehr mit sich bringt, sondern nur noch ein komplizierter Weg ist, Altbekanntes zum besten zu geben. 257 Vgl. Norman 1998, 160, der dort ein ähnliches Argument zu entwickeln scheint.
199 Oder aber – und das wäre die zweite Bedeutung dieser Auffassung – das Material der historischen Darstellung sind wirklich die gehabten narrativen Strukturen. Historische Darstellungen sprechen dann tatsächlich nicht mehr über die Vergangenheit, sondern über die narrativen Strukturen, welche die historischen Akteure in ihrem Bewusstsein hatten. Damit allerdings wäre eine grandiose Selbsttäuschung beinahe aller Historiker (außer vielleicht den dekonstruktionistisch orientierten) enttarnt, gehen sie doch davon aus, etwas über die Vergangenheit zu sagen, wenn auch diese Vergangenheit selbst ihnen ausschließlich mittelbar durch die Quellen zugänglich ist. Man mag diese zweite Bedeutung vielleicht noch als groß angelegte Mahnung an den Historiker verstehen, dem Wahrheitsversprechen der Quellen reserviert gegenüber zu treten, aber auch das ist keine wirkliche neue Erkenntnis, sondern methodologischer Standard. Eine solche Selbsttäuschungskonzeption kann aber auch nicht vertreten werden, denn damit werden natürlich auch sämtliche Formen von Wissen aus ‚zweiter Hand‘ in den Bereich von Selbsttäuschungen gerückt. Ein nicht unerheblicher Teil schon unseres alltäglichen Wissens basiert auf Berichten, Aussagen und Narrationen anderer Menschen. In der Regel gehen wird davon aus (es sei denn, uns liegen Indizien für eine gegenteilige Annahme vor), dass diese Menschen uns schlimmstenfalls falsch informieren (entweder weil sie lügen oder selbst nicht objektiv informiert sind), im günstigsten Fall aber ein mehr oder weniger objektives Bild der Sachverhalte in der Welt geben. Wovon wir nicht ausgehen, ist, dass diese Menschen eigentlich nur über anderer Leute Diskurs sprechen. Wir stehen im Alltag in einer ähnlichen Beziehung zu für uns nicht direkt verifizierbaren Sachverhalten wie der Historiker.258 Wenn Meyer seinem Nachbarn 258 An dieser Stelle könnte ein bekanntes skeptisches Argument als Replik verwendet werden: Die Sachverhalte der Vergangenheit sind prinzipiell nicht mehr verifizierbar. Anders als Sachverhalte der Gegenwart, die – zumindest prinzipiell – für alle Zeitgenossen verifizierbar seien, müssen vergangene Sachverhalte als eine besondere Kategorie betrachtet werden. Daher könne die oben genannte Analogie nicht greifen und das Argument sei damit zurückgewiesen. Drei Punkte sprechen dagegen: (1) Was kann hier mit „prinzipiell“ gemeint sein? Es mag richtig sein, dass es uns prinzipiell verwehrt ist, den Sachverhalt, dass der Zweite Weltkrieg am 1. September 1939 ausbrach, zu verifizieren. Ist es uns aber nicht auch prinzi-
200 Schmidt erzählt, er sei als leitender Angestellter in einer Haushaltsabteilung dafür verantwortlich, dass die Lohnzahlungen an die Mitarbeiter pünktlich erfolgen, dann wird Schmidt seiner Frau die Information weitergeben, Meyer sei als leitender Angestellter dafür verantwortlich, dass die Lohnzahlungen pünktlich überwiesen werden. Er bezieht sich auf den Sachverhalt als solchen und gibt ihn als solchen an seine Frau weiter. Schmidts Bezugnahme auf den Sachverhalt (und dessen Weitergabe) ist piell verwehrt, den Sachverhalt zu verifizieren, dass es jetzt gerade auf dem Mt. Everest schneit? Einem unsportlichen Nicht-Bergsteiger scheinen beide Sachverhalte gleichermaßen unverifizierbar zu sein. Es scheint eine metaphysische Konzeption von Unmöglichkeit unterstellt zu werden, die darauf basiert, dass es nicht möglich ist, in der Zeit zurück zu reisen, wohl aber möglich wäre, ein sportlicher Bergsteiger zu sein, der in diesem Moment auf dem Mt. Everest den Schneefall beobachtet. Vielleicht ist diese Trennung vorstellbar. (Eine mögliche Welt, in der man auf dem Mt. Everest stünde, nachdem man im richtigen Augenblick das Bergsteigen begonnen hätte, ist denkbar, eine mögliche Welt, in der man in der Zeit zurückreist eher nicht, wenn es auch nicht denkunmöglich ist.) Fragwürdig bleibt diese Trennung dennoch. Was aber (2) könnte damit erreicht werden? Faktisch ist ein unsportlicher Nicht-Bergsteiger immer noch darauf angewiesen, dass ihm irgendein Bergsteiger erzählt (oder auf Video zeigt etc.), dass es auf dem Mt. Everest schneit. Er müsste dies entweder im Moment des Schneefalls tun (via „Live-Übertragung“) oder ihm ‚historisch‘ berichten. Doch dann steht der Zuhörer immer noch in derselben Beziehung zum Schneefall auf dem Mt. Everest wie ein Historiker zum Beginn des Zweiten Weltkrieges – es handelt sich um eine mittelbare Verifikation. Was aber (3) könnte denn prinzipielle unmittelbare Verifikation dieses Sachverhalts für den Einwand gegen die These bringen, dass ein erheblicher Teil unseres nicht-historischen Wissens sich derselben informationellen Genese verdankt wie historisches Wissen? Eigentlich nicht viel, denn es mag sein, dass sich der unsportliche Nicht-Bergsteiger rechtzeitig zum sportlichen 8000erBezwinger trainiert hat, um den Schneefall auf dem Mt. Everest zum fraglichen Zeitpunkt unmittelbar („mit eigenen Augen“) verifizieren zu können – doch dann kann er leider nicht gleichzeitig das Steigen des Rheinpegels in Köln unmittelbar verifizieren. Prinzipiell mag es uns also möglich sein jeden einzelnen gegenwärtigen Sachverhalt zu verifizieren, es ist uns aber ebenso prinzipiell verwehrt alle gegenwärtigen Sachverhalte unmittelbar zu verifizieren. Die mögliche ‚metaphysische‘ Differenz zwischen der Verifikation eines gegenwärtigen und eines vergangenen Sachverhalts ist demnach völlig unnütz für die Argumentation, selbst wenn sie sinnvoll vertreten werden kann.
201 davon unabhängig, ob er ihn von Meyer direkt, von dessen Vorgesetzten oder einer Werbeschrift erfahren hat. Der Zugang zum Sachverhalt kann zum Thema werden, aber in der Regel nur dann, wenn Zweifel am Wahrheitsgehalt der Darstellung aufkommen. Zweifelt Schmidt daran, dass Meyer tatsächlich diese verantwortungsvolle Position innehat, dann wird er seiner Frau nicht sagen, dass p, sondern, dass Meyer ihm erzählt habe, dass p. Doch selbst wenn man von dieser vielleicht zu sophistisch anmutenden Unterscheidung mit ihren unerfreulichen bzw. unspektakulären Konsequenzen absieht und den positivistischen Narrativismus möglichst entgegenkommend auslegt, bleibt dennoch nichts mehr übrig von der ambitionierten Theorie des positivistischen Narrativismus (entsprechend resümiert Carr auch in einem etwas resignativen Ton, dass es ihm bei seiner Argumentation einzig darauf angekommen sei, nachzuweisen, dass nicht alle narrativen Strukturen nachträglich den Ereignissen auferlegt werden259), denn er hat sich mit der schwachen epistemologischen Lesart auf eine zum folgenden Entwurf komplementäre Position zurückziehen müssen (wenn er nicht gar auf die Wiederholung des bereits Altbekannten beschränkt bleibt). Denn die Voraussetzungen, die der positivistische Narrativismus macht, sind dieselben, die auch der Konstruktionismus macht: die Veränderung von Eigenschaftsträgern in der Zeit und daraus resultierend eine temporale Ordnung von Ereignissen auf der ontologischen Ebene. Sie ist die Voraussetzung für die wesentlich narrative Erfassung dieser Veränderungen auf der kognitiven Ebene der Erfahrung. Wenn nun auch noch die außerordentliche Autoritätsstellung der gegebenen Narrationen (als lediglich nachzuvollziehende und nachzuerzählende Strukturen) wegfällt, nachdem bereits die starke ontologische These nicht verteidigt werden konnte, dann stellt sich die Frage, welche distinguierende Signifikanz der so hart erkämpften kognitiv-epistemologischen These überhaupt noch zukommt, 259 Ob ihm das wirklich gelungen ist, bleibt fraglich angesichts der Tatsache, dass die starke ontologische These scheitert, die schwächere epistemologische These aber bestenfalls auch nur zeigen kann, dass unser kognitiver Apparat unerlässliche narrative Strukturen hervorbringt und verwendet, es sich also auch nur um nachträgliche Operationen handelt, wenn auch auf einer der historischen Arbeit vorgängigen Ebene.
202 denn auch der konstruktionistische Narrativismus kann sich damit einverstanden erklären, dass die vorhandenen narrativen Strukturen eine herausragende Stellung genießen. Selbstverständlich muss ein Historiker zunächst auch von den narrativen Strukturen in den Quellen ausgehen, und selbstverständlich wird eine gewisse Kontrollfunktion auch von diesen narrativen Strukturen ausgeübt werden. Doch damit ist der perspektivische Charakter der Geschichtsschreibung nicht suspendiert oder gar zurückgewiesen worden, weil an dieser Stelle die wahre historische Arbeit erst beginnt und eben nicht auf den bloßen Nachvollzug und das Wiedererzählen von Narrationen oder narrativen Strukturen beschränkt bleibt. Der positivistische Narrativismus scheitert letztlich daran, dass er sich entweder seiner distinkten Züge beraubt und sich den von ihm bekämpften Positionen bis zur Unkenntlichkeit angleicht, oder aber dass er eine unhaltbare Position vertreten muss.
203
4.3.2 Resümee zum positivistischen Narrativismus Das Grundproblem des positivistischen Narrativismus besteht darin, dass er Korrespondenz als Abbildung in einem sehr engen Sinn auslegen möchte. Narrative Strukturen in der Welt (oder nach der schwächeren Lesart: in unserer Erfahrung) korrespondieren narrativen Strukturen in der sprachlichen Repräsentation, andernfalls gebe es keine Korrespondenz. Das aber wäre ein Offenbarungseid für jede Form kognitiver ‚Bearbeitung‘ von Informationen gleich welcher Art. Denn warum kann die narrative Form einer historischen Darstellung nicht als kognitives Instrument betrachtet werden, das – analog zu anderen kognitiven Operationen wie deduktiven Schlüssen, inferentiellen Ableitungen, Subsumption unter Begriffe etc. – retrospektiv konfigurationale Zusammenhänge ‚entdeckt‘ und sprachlich repräsentiert, ohne damit eine Abbildung voraussetzen zu müssen? Warum sollten gerade Narrationen einer derartig strikten Korrespondenzauffassung unterworfen sein, andere kognitive Instrumente dagegen nicht? Warum zum Beispiel findet sich keine Kritik an Whites (und Minks) Vorstellung einer Chronologie die tatsächlich den Ereignissen korrespondieren kann, warum keine Kritik an Aussagen über kausale Zusammenhänge?260 Die fundamentale Fehleinschätzung der „plot-reifiers“ liegt also in einer verengten Auffassung von Korrespondenz als strikter Abbildung vorhandener Strukturen.261 Könnte die strikte Abbildungsbeziehung glaubhaft vertreten werden, hätte man einen leichten Weg gefunden, sowohl dem wesentlich narrativen Charakter der Geschichtsschreibung Rechnung zu tragen, als auch den Objektivitäts- bzw. Wahrheitsanspruch der Geschichtswissen260 Vgl. Dray 1989b, 152. In all diesen und auch anderen Formen sprachlicher Repräsentation scheint die Forderung nach einer derart strikten Strukturgleichheit nicht notwendig zu sein. Warum muss nur die narrative Struktur als „natürlich“, d. h. als nicht retrospektiv, auferlegt oder in irgendeiner Form Teil einer nachträglichen ‚logischen‘ Operation angenommen werden, andere Formen sprachlicher Repräsentation von Zusammenhängen dagegen als logisch-retrospektive Aufbereitungen von in solcher Form nicht aufzufindenden Zusammenhängen – Formen, die permanent Verwendung in Narrationen finden? 261 Vgl. auch Norman 1998, 159 zu diesem Punkt.
204 schaft einlösen zu können. Leider stellt genau diese strikte Auffassung von Korrespondenz den geeigneten Angriffspunkt für die objektivitätsskeptischen Argumente des postmodernen Narrativismus dar. Dieser wiederum verwirft die Möglichkeit von Wahrheit und Objektivität, weil er plausibel zu zeigen vermag, dass eine solch strikte Abbildungsbeziehung unhaltbar ist. Dabei scheint er, auf den ersten Blick zumindest, dem variablen Charakter der Geschichtsschreibung gerecht zu werden, der es etwa erlaubt, theoretische Neuerungen in die historische Darstellung mit einfließen zu lassen, was der positivistische Narrativismus jedoch ausschließen muss, möchte er seinen distinkten Charakter nicht verlieren. Wird Korrespondenz in einem strikten Abbildungssinn verstanden, dann kann die variable Leistungsfähigkeit der Geschichtsschreibung nicht mehr erklärt werden, also bleibt nur der Impositionalismus, i. e. der postmoderne Narrativismus, als akzeptable Lösung. Der postmoderne Narrativismus verlangt nun aber seinerseits ein Opfer: die Möglichkeit objektiver historischer Darstellungen muss aufgegeben werden. Keine der beiden betrachteten Herangehensweisen an den Widerstreit zwischen Standortgebundenheit und Objektivität, ob nun die postmodernnarrative oder die positivistisch-objektive, konnte aber die eigene Position stark machen resp. die Vereinbarkeit von Standortgebundenheit und Objektivität überzeugend widerlegen. Der Weg ist nun also frei für eine Position, die zwischen den Extremen liegt.
5. Die Vereinbarkeit von Objektivität und Perspektivität
5.1 Einleitung Es bleibt nun noch, die dritte Herangehensweise an den geschichtstheoretischen Widerstreit zwischen Standortgebundenheit und Objektivität zu betrachten: Historische Erkenntnis ohne Standort gibt es nicht. Entsprechend – und das sollten das zweite und das vierte Kapitel gezeigt haben – ist es weder eine Option, aus dieser Standortgebundenheit die Sinnlosigkeit jeglichen Objektivitätsanspruchs abzuleiten, noch ist es angängig, die Wissenschaftlichkeit der Geschichtsschreibung für unvereinbar mit der Standortgebundenheit historischer Darstellungen und Erkenntnisse zu erklären.262 Nicht nur hat die Begriffsexplikation des ersten Kapitels Korrespondenz 262 Vgl. Mommsen 1977: „Es ist zwar unbestritten, daß es auch in der Geschichtswissenschaft innerwissenschaftlichen Fortschritt in einem objektiven Sinne, nämlich der beständigen Akkumulation von objektiven Informationen über vergangene Wirklichkeit gibt, doch wird kaum jemand, der mit der Geschichte der Geschichtswissenschaft einigermaßen vertraut ist, die Ansicht vertreten, daß hierin das Wesen des historischen Erkenntnisfortschritts liege. Wenn [...] die Geschichte von jeder neuen Generation umgeschrieben werden muß – eine Proposition, die von keinem Historiker ernstlich bestritten werden dürfte –, so gewiß nicht nur deshalb, weil jeweils neue Tatsachen bekannt geworden sind, sondern vielmehr, weil sich die Gesichtspunkte gewandelt haben, unter denen vergangene Wirklichkeit als eine uns unmittelbar oder mittelbar angehende rekonstruiert bzw. erzählt wird.“ (Ebd., 444 f.) Vgl. Rüsen 2000, 63: „Only if the empirical evidence of the past is shaped according to the standpoints of those who communicate in the realm of historical consciousness and according to the value system which is derived from this standpoint does it acquire the quality of a plausible history; neutrality is the end of history.“
206 als Kern von Objektivität herausgestellt, auch haben die darauf folgenden Kapitel gezeigt, dass eine ästhetisierte oder radikal subjektivierte Geschichtsschreibung auf der einen Seite so wenig vertretbar ist wie eine radikal-objektivistische Geschichtsschreibung auf der anderen. Weder war die Option „Standortgebundenheit ohne Korrespondenz“ noch die Option „positivistischer Objektivismus ohne erkenntniskonstitutives Erkenntnissubjekt“ überzeugend. Elemente beider Seiten müssen zu einem Teil der Lösung gemacht werden. (Das gesehen zu haben, ist eine der wichtigen Einsichten des postmodernen Narrativismus.) Es muss gezeigt werden, wie es möglich sein kann, dass Geschichte der historischen Realität korrespondiert und dabei gleichzeitig die erkenntniskonstitutive Rolle des Standortes mit dieser Korrespondenz verträglich ist.263 Eine wichtige Voraussetzung für dieses Vorhaben ist insofern gegeben, als der naive, von Koselleck der vormodernen Geschichtstheorie attestierte Realismus und der auf ihn aufbauende Positivismus zumindest in der philosophischen Diskussion überholt ist.264 Das allgemeine erkenntnistheoretische Klima ist demnach günstig, um nun auch die Lösung des spezifisch geschichtstheoretischen Widerstreits erneut anzugehen. Möglich wird eine solche Lösung im Rahmen eines „scientific realism“, der den „God’s Eye Point of View“265 des „metaphysical realism“266 als epistemologischen 263 Vor einigen Jahre hat H. Nagl-Docekal ihre Studie zu historischer Objektivität mit dem Schwebezustand enden lassen, in dem sich die Geschichtstheorie zwischen subjektivem Fundament der Historie einerseits und einem historistischen Objektivitätsideal andererseits befinde (dies. 1982, Kapitel IV: Das subjektive Fundament der Historie als Focus des Objektivitätsproblems). Über einen solchen Schlusspunkt soll hier hinausgegangen werden. 264 Vgl. Agazzi 2002, 47-52. 265 Putnams Gottesperspektive entspricht mutatis mutandis Nagels View from nowhere, d. h. einer epistemischen Position, von der aus die vollständige, unverzerrte Abbildung aller bestehenden Sachverhalte schlechthin möglich ist. 266 Putnam 1982, 75: Der metaphysische Realismus – so seine Terminologie für den naiven Realismus – sei eine Perspektive, „wonach die Welt aus einer feststehenden Gesamtheit geistesunabhängiger Gegenstände besteht. Danach gibt es genau eine wahre und vollständige Beschreibung dessen, ‚wie die Welt aussieht‘, und zur Wahrheit gehöre eine Art Korrespondenzbeziehung zwischen Wörtern bzw. Gedankenzeichen und äußeren Dingen und Mengen von Dingen. Diese Perspekti-
207 Standard hinter sich gelassen hat, und der davon ausgeht, dass Erkenntnis nur, um hier Chladenius’ Ausdruck zu verwenden, von einem „Sehepunct“ aus erfolgen kann, ohne dass dabei die Ansprüche auf Wahrheit oder Objektivität aufgegeben werden müssen. Obwohl diese epistemologische Wende nicht allein in der philosophischen Diskussion gang und gäbe ist, sondern auch in der wissenschaftsund erkenntnisheoretischen Selbstreflexion der Geschichtswissenschaft etabliert ist – hierbei sind insbesondere Max Webers wissenschaftstheoretische Arbeiten von großer Bedeutung gewesen –, kann nicht davon gesprochen werden, eine unwidersprochene Selbstverständlichkeit zu vertreten.267 Zwar wird eine Vereinbarung von Objektivität mit Standortgebundenheit selten expressis verbis bestritten, aber nichtsdestotrotz tritt immer wieder ein mehr oder minder latenter Habitus zum Vorschein, aus dessen Äußerungen hervorgeht, dass erstens fundamentale positivistische, naiv-realistische Reflexe zumindest unterschwellig die Erkenntnistheorie der praktischen Geschichtsschreibung bestimmen.268 Hinzu kommt, dass zweitens auch wissenschaftstheoretische Argumentationen immer noch auf Restbestände eines solchen Positivismus zurückgreifen, was sich gerade an der argumentativen Auseinandersetzung mit der postmodernen Geschichtstheorie, aber auch in abgemilderter Form bei der Beurteilung narrativistischer Ansätze zeigt. Es kann also nicht eben davon gesprochen werden, offene Türen einzurennen, wenn man für eine perspektivische Geschichtstheorie argumentiert. ve werde ich die externalistische nennen, denn ihr bevorzugter Gesichtspunkt ist das Auge Gottes.“ Der metaphysische Realismus ist, wenn man so will, die metaphysische Basis des Positivismus, auf der er ein ausdifferenziertes wissenschaftsund erkenntnistheoretisches Programm aufruhen lässt. 267 Vgl. Agazzi 2002, 47 f., wo eingewandt wird, dass kaum je ein Vertreter eines reinen „metaphysical realism“ gefunden werden könne, der sich wirklich jeden der genannten theoretischen Gehalte zu eigen machte. 268 Vgl. auch Kolmers Einschätzung, wonach sich „zu dieser positivistischen ‚Theorie‘ [sc. dass aus den Quellen einzelne Fakten herausgelesen werden, die einfach aneinander gehängt werden können, um so die Vergangenheit, wie sie eigentlich gewesen ist, abbilden zu können] kaum noch jemand offen bekennen [mag]“, weil „das Verdikt eines ‚naiven Realismus‘ im Raume steht“ (Kolmer 2008, 9 f. – Herv. J. K.).
208 Dieses Kapitel wird einige wichtige Grundelemente aufzeigen, die in einer Theorie enthalten sein sollten, die Standortgebundenheit und Objektivität vereinbaren möchte. Das positivistische Bild vom Erkenntnissubjekt als einem bloßen Durchlauf- und Wiedergabemedium vorhandener und auffindbarer Daten wurde zurückgewiesen, was nun dazu führt, dass an die Stelle dieses „Kübelbildes“ eine aktivische Auffassung von historischer Erkenntnisgewinnung tritt. Sie soll im folgenden als historischer Konstruktionismus bezeichnet werden, ohne damit viel mehr sagen zu wollen, als das, was auch im Konzept von Standortgebundenheit bereits enthalten ist: Erkenntnis ist zu einem (schwer festzulegenden) Grad auch vom Erkenntnissubjekt mitbestimmt. Auf welche Weise historische Erkenntnis von der Perspektive des Historikers mitbestimmt wird und wie dies möglich ist, ohne historische Objektivität aufgeben zu müssen und damit auf einen postmodernen Subjektivismus zu verfallen, soll in diesem Kapitel in Grundzügen gezeigt werden. Um die Vereinbarkeit von historischer Objektivität mit historischer Standortgebundenheit zu plausibilisieren, wird im zweiten Abschnitt dieses Kapitels (5.2) vorgeschlagen, einen konstruktionistischen Weg zu einzuschlagen. Die ersten erläuternden Schritte zur konstruktionistischen These in diesem Abschnitt werden vor allem darauf abzielen, das Verhältnis von Perspektivismus und Konstruktionismus zu klären. Darauf muss (5.3) dem Einwand begegnet werden, Konstruktion impliziere oder bringe eine untragbare Willkür des Historikers mit sich. Zuletzt sollen in einem längeren Abschnitt zunächst einige theoretische Voraussetzungen dargestellt werden, welche die gesuchte Vereinbarung machbar werden lassen (5.4.1), worauf (5.4.2) einige Elemente der Perspektive aufgezählt und in ihrer Wirkungsweise wie auch in ihrer Interdependenz knapp dargestellt werden.
209
5.2 Perspektivismus und Konstruktionismus Eine schnelle Vereinbarung von Perspektivität mit Objektivität ließe sich erreichen, indem gleichsam beschwörend der Konstruktionismus angerufen wird und es dann mit der bloßen Erwähnung dieses Schlagwortes sein Bewenden hat. Immerhin kann der Konstruktionismus mit einer Vielfalt an Erscheinungsformen aufwarten, die es jedem ermöglichen würde, sich eine, seiner Ansicht nach geeignete Version oder einen Cocktail an geeigneten Versionen auszuwählen. Nicht selten werden ähnlich geartete Problemsituationen auch auf diese Weise gelöst. Bei solchen Gelegenheiten werden die bekannten, plakativen Hinweise auf dem Konstruktionismus endemische Konzeptionen und Thesen gegeben: die Unterbestimmtheit der Theorie durch die Fakten, die „Theoriegeladenheit“ der Beobachtungen, die „Seinsverbundenheit“ von Wissen, die Abhängigkeit der Untersuchung vom jeweiligen Erkenntnisinteresse u. v. m.269 Falsch ist diese ‚Lösung‘ gewiss nicht, so wenig wie sie unangebracht ist. Schließlich kann sich der Konstruktionismus als legitime und wohletablierte erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Doktrin betrachten, wie auch darüber hinaus der „Rahmen“, wie es immer wieder heißt, der meisten Arbeiten mit einer detaillierten Durchführung der konstruktionistischen Herangehensweise „gesprengt“ werden würde. Auch die vorliegende Arbeit kann sich dieser Einschränkung nicht ganz entziehen, nur soll hier versucht werden, den konstruktionistischen Weg ein Stück weiter zu verfolgen, als dies meist geschieht. Es soll hier also nicht bei der schieren Beschwörung bleiben, wenn auch der Rahmen der vorliegenden Arbeit von einem vollständig durchdeklinierten historischen Konstruktionismus, das heißt von einer vollständigen konstruktionistischen Theorie historischen Wissens, „gesprengt“ würde. Wenigstens sollen im folgenden einige Grundzüge einer konstruktionistischen Theorie vorgelegt 269 Für einen Überblick über die verschiedenen Spielarten von „Konstruktismen“ (Hacking 2001), die sich auf dem theoretischen ‚Markt‘ befinden, und deren jeweilige Kernaussagen vgl. Knorr-Cetina 1989, Hacking 2001 und, auf die Geschichtswissenschaft eingeschränkt, Goertz 2001, Kap. IV.
210 werden. Muss aber wirklich Zuflucht zum Konstruktionismus genommen werden, will man Perspektivität und Objektivität vereinbaren? Könnte nicht dafür argumentiert werden, dass ein nicht-konstruktionistischer Perspektivismus ausreichend wäre, um einerseits den korrespondenztheoretischen Kern der Objektivität zu bewahren, sich aber andererseits dennoch nicht in einen naiv-realistischen Positivismus schicken zu müssen? Um diese Fragen beantworten zu können, muss geklärt werden, wo die hauptsächlichen Differenzen zwischen Perspektivismus und Konstruktionismus zu finden sind. Beide werden zwar häufig in einem Atemzug genannt, müssen aber auseinander gehalten werden, weil der Konstruktionismus die ‚stärkere‘, umfassendere theoretische Doktrin ist. Die grundlegende Differenz zwischen nicht-konstruktionistischem Perspektivismus und dem Konstruktionismus besteht darin, dass der nichtkonstruktionistische Perspektivismus sich damit begnügen kann, darauf hinzuweisen, dass alle Erkenntnis notwendig partiell ist, weil es niemandem möglich ist, sämtliche Tatsachen, die auf einen Gegenstand zutreffen, in wahren Aussagen festzuhalten. Jede historische Darstellung muss sich auf gewisse Aspekte beschränken, die Gegenstand der Erkenntnis und der Darstellung werden sollen. Aus dieser Aspektivität folgt der Zwang zur Selektivität, das heißt, der Zwang, aus dem ‚vorliegenden Material‘ (was auch immer damit im Einzelnen gemeint ist) jene Aussagen auszuwählen, die in die jeweilige historische Narration integriert werden müssen. Selektivität ist zwar auch ein ‚Axiom‘ des konstruktionistischen ‚Kanons‘, indes begnügt er sich bei der Bestimmung dessen, was Standortgebundenheit mit sich bringt, damit nicht. Aus dem Selektivitätszwang ergibt sich eine weitere Frage. Was ist die Basis, aufgrund derer selegiert wird? Die inzwischen klassische Antwort auf diese Frage lautet: das Erkenntnisinteresse des Historikers. Auch hier liegt ein ‚Axiom‘ vor, das vom Konstruktionismus geteilt wird: Nicht ausschließlich oder auch nur primär bestimmt das ‚vorliegende Material‘, was Teil der Narration wird, sondern eben zum Beispiel das Erkenntnisinteresse des Historikers. Die Perspektive, von der aus wir auf die Vergangenheit bzw. auf die Quellen blicken, wird also in erster Linie davon bestimmen,
211 was wir erfahren wollen. Perspektivismus im nicht-konstruktionistischen Sinn bescheidet sich aber damit, das Phänomen narrativer Redeskription zu erklären, indem prima facie widersprüchliche Aussagen wie „der Berg liegt im Schatten“ und „der Berg liegt in der Sonne“, als elliptische Aussagen betrachtet werden, die lediglich einer expliziten Formulierung des Standortes oder, mit Goodman gesprochen, des „Bezugssystems“ bedürfen.270 Die Widersprüchlichkeit der beiden Aussagen ließe sich auflösen, indem jeweils die Perspektiven, aus deren Blickwinkel sie geäußert werden, explizit in die Aussagen integriert werden: „der Berg liegt, von Norden aus betrachtet, im Schatten“ und „der Berg wird, von Süden aus betrachtet, von der Sonne beschienen“. Genau in diesem Sinn, so könnte aus Sicht des Perspektivismus argumentiert werden, ließen sich verschiedene narrative Redeskriptionen desselben historischen Individuums und desselben Zeitabschnittes erklären und vereinbaren. Sie können als bloße Missverständnisse mittels Bezugskontextualisierung aus der Welt geschafft werden. Nimmt man als, im Grunde unwiderlegbare, Zusatzannahme hinzu, dass weitere Widersprüche faktisch vielleicht nicht aufgelöst werden können, weil die Quellenlage eine Auflösung nicht zulässt, obwohl sie prinzipiell möglich ist, erhält man einen beschränkten Perspektivismus, der in Übereinstimmung mit dem Positivismus zu dem Schluss kommen kann, dass sämtliche objektiven historischen Narrationen am ‚Ende der Geschichte‘ zu einer großen Narration vereinheitlicht werden können. Ebenso kann er, in Übereinstimmung mit dem naiv-realistischen Positivismus, an einer Abbildtheorie festhalten, wenn diese sich auch von einer schlichten, das heißt nicht-perspektivischen Abbildtheorie absetzt, indem er die Möglichkeit perspektivischer Selektivität anerkennt. Wo genau beginnt nun der Konstruktionismus vom nichtkonstruktionistischen Perspektivismus abzuweichen,271 wenn beide die 270 Goodman 1984, 138 f. 271 Zwar könnte argumentiert werden, dass Selektivität eine Form der Konstruktion ist. Doch in der modernen Wissenschaftstheorie wird die Notwendigkeit zur Auswahl aus dem ‚gegebenen Material‘ und die hauptsächliche Abhängigkeit der Kriterien dieser Auswahl vom Erkenntnissubjekt nicht angezweifelt. Derartige Versuche, einen nicht-konstruktionistischen Perspektivismus doch noch in das Boot
212 Notwendigkeit der Selektivität und die Abhängigkeit der jeweiligen Auswahl vom Erkenntnisinteresse anerkennen? Es ist vor allem ein Gegensatz, durch die beiden voneinander geschieden werden: Der Konstruktionismus bestreitet, dass die Standortgebundenheit des Historikers nichts anderes impliziert, als die bloße Auswahl aus dem gegebenen Material. Der Standort des Historikers bestimmt (partiell) Gegenstand, Begriffe, Methoden der Untersuchung und darüber hinaus auch zu einem gut Teil das ‚Material‘ der Untersuchung. Standortgebundenheit wird also reichhaltiger verstanden als im nicht-konstruktionistischen Perspektivismus. Das bedeutet, dass historische Erkenntnis eine Funktion aus dem vorhandenen ‚Material‘ und den erkenntnistheoretisch relevanten Voraussetzungen des Historikers ist. Welche das im einzelnen sind, ist immer wieder im Lauf der bisherigen Untersuchung zutage getreten. Sie werden aber im folgenden noch einmal gemeinsam vorgestellt werden.272 Wie kann taxonomisch das Verhältnis von Perspektivismus und Konstruktionismus bestimmt werden? Der Konstruktionismus kann als Spezies der Gattung „Perspektivismus im weiten, generischen Sinn“ betrachtet werden. Als Spezies dieser Gattung kann er auch als konstruktionistischer Perspektivismus bezeichnet und von einer anderen Spezies der Gattung „Perspektivismus“ unterschieden werden, die hier als nicht-konstruktionistischer Perspektivismus bezeichnet worden ist. Beide Spezies gehören zur selben Gattung, weil sie sich das fundamentale ‚Axiom‘ des Perspektivismus zu eigen machen: die Standortabhängigkeit (historischer) Erkenntnis. Sie müssen als Spezies jedoch getrennt werden, weil der konstruktionistische Perspektivismus Standortabhängigkeit vom gleichen Fundament aus, indes jedoch reichhaltiger interpretiert als der nicht-konstruktionistische Perspektivismus und beide darüber hinaus je andere erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Schlussfolgerungen ziehen.
des Konstruktionismus zu zwingen, sind aus diesem Grund unwichtig. 272 Selbstverständlich werden nicht alle potentiellen Elemente in das Bild integriert werden können.
213
5.3 Ein Einwand gegen den Konstruktionismus Meist ruft allein die bloße Erwähnung des Begriffs „Konstruktion“ Widerstände und Einwände hervor. Mit diesen Einwänden wird darauf abgezielt, die Frage zu stellen, ob sich eine Abweichung von einer positivistischen Erkenntnistheorie tatsächlich mit historischer Objektivität vertragen kann. Schlimmer noch als die bislang verwendeten Begriffe „Standortgebundenheit“ und „Perspektivität“, deren passivische Konnotation immerhin noch einigen Raum für ein positivistisches Erkenntnismodell ließen, fordert der deutlicher aktivisch konnotierte Konstruktionsbegriff geradezu reflexartigen Widerstand heraus. Zugrunde liegt die Argumentation, Konstruktion bedeute aus eigener Willkür heraus hervorbringen. Wenn aber jeder nach eigener Willkür Geschichte konstruieren könne, dann könne wohl niemand mehr ernsthaft behaupten, die daraus resultierenden Narrationen korrespondierten mit der Vergangenheit. Objektivität könne folglich nicht mit Konstruktion vereinbar sein. Hierbei handelt es sich jedoch um eine überzogene Vorstellung dessen, was Konstruktion bedeutet. Das Bild eines omnipotenten Baumeisters (historischen) Wissens führt in die Irre, weil es einen Konstrukteur voraussetzt, in dessen Willkür sämtliche Werkstoffe, Baupläne und Werkzeuge stehen. Es führt in die Irre, weil es nicht wirklich der Bedeutung von „Konstruktion“ angemessen ist: Dieses Argument gegen den Konstruktionismus verwendet den Konstruktionsbegriff begriffsaspektiv einseitig, das heißt, der begriffliche Gehalt von „Konstruktion“ gibt nicht das her, was das Argument unterstellt (vgl. 5.3.1). Hinzukommt, dass niemand die völlige Verfügung über seine Perspektive, von der aus er sein historisches Wissen konstruiert, besitzt, weil der Willkür des Historikers bei der Konstruktion des Geschichte faktische Grenzen gesetzt sind (vgl. 5.3.2).
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5.3.1 Der begriffliche Gehalt von „Konstruktion“ Im Kern des Einwandes gegen den Konstruktionismus steht die Frage, wie eng man „Konstruktion“ zu lesen geneigt ist. Der Einwand versteht unter „Konstruktion“ eine besonders intensive, allseitige Kontrolle durch den jeweiligen Konstrukteur oder Baumeister. Mit dieser einseitigen Lesart betont der Positivist die Kontrolle durch den Historiker und sieht darin eine Quelle epistemologischer Willkür oder Beliebigkeit. „Konstruktion“ darf aber so eng nicht gelesen werden. „Konstruktion“ so eng aufzufassen, als sei sie mit Willkür und Beliebigkeit, frei waltender Imagination und Erdichtung identisch, bedeutet, einen von zwei begrifflichen Kernaspekten von „Konstruktion“ über Gebühr in den Vordergrund zu rücken. „Konstruktion“ führt nämlich zwei Konnotationen mit sich: zum einen die der Absichtlichkeit, zum anderen die des (kreativen) Wirkens mit bereits Vorhandenem.273 Wer also von einer Konstruktion von diesem oder jenem spricht, der meint damit einen (kreativen) Prozess, der willentlich abläuft und der zu einem Produkt führt, das nicht ex nihilo, sondern aus einem Reservoir vorhandener Techniken, Gegenstände, Werkzeuge etc. entstanden ist. Es kann also eine zweite, umfassende Explikation formuliert werden, die dem Konstruktionsbegriff angemessener ist: Die Konstruktion historischer Darstellungen ist ein Prozess, in dem sich gesteuerte mit ungesteuerten Elementen, willkürliche Akte mit restringierenden Bedingungen und individuelle Präsuppositionen mit plastischem ‚Material‘ zu einer kontrollierten, nicht willkürlichen Konstruktion verbinden. Der Vorwurf der Willkür rückt die Absichtlichkeit in den Vordergrund, vernachlässigt darüber die zweite Konnotation und übersteigert die Absichtlichkeit zu unkontrolliertem Phantasieren in luftleerem Raum. Demgegenüber muss der zweite Begriffsaspekt betont werden. Konstruktion bedeutet immer auch, aus bereits vorhandenen ‚Bausteinen‘ zu konstruieren. Damit sind konkret im Zusammenhang mit der Geschichtswissenschaft ‚Fakten‘ wie auch Rahmennarrationen gemeint, darüber hinaus jedoch 273 Vgl. Becker 2002, 13 f. „Daß X von S konstruiert worden ist, impliziert nicht, daß S anstelle von X auch Y hätte konstruieren können.“ (Ebd., 14)
215 auch Methoden und Standards epistemischer Evaluation. „Konstruktion“ als rein subjektiv kontrollierte Willkür aufzufassen, bedeutet also einen begrifflichen Aspekt auf Kosten eines anderen, ebenso essentiellen begrifflichen Aspekts unstatthaft überzubetonen.
5.3.2 Faktische Grenzen konstruktionistischer Willkür Im ersten Kapitel wurde als eine der derivativen Objektivitätsauffassungen des Komponentenmodells die konsensuale Objektivität eingeführt und diskutiert. Konsensuale Objektivität spielt, so wurde gezeigt, eine wichtige Rolle dabei, einer historischen Narration, einem Historiker und seinen Methoden Objektivität zuzusprechen. Über den Konsens innerhalb der Gemeinschaft wird inhaltlich festgelegt, was als objektive Erkenntnis gilt (was Objektivität im Vollsinn, i. e. als mit der Vergangenheit korrespondierend, nicht verbürgen kann), wer als unvoreingenommener Forscher und was als objektive Quelleninterpretation gilt. Der Konsens in der Gemeinschaft beschränkt damit faktisch die Willkür des Historikers bei der Konstruktion seiner Narrationen, weil sich kein Forscher einen dauerhaften, tiefgreifenden Verstoß gegen die Standards der jeweiligen Gemeinschaft leisten kann. Dass die konsensuale Objektivität nicht unproblematische Konsequenzen mit sich bringt, etwa einen Konservatismus methodischen Standards oder thematischen Ausrichtungen gegenüber, trifft leider zu, und leider trifft auch zu, dass damit sogar objektive Erkenntnisse verhindert werden können. Dieses Bedenken kann kaum restlos zerstreut werden. Allenfalls kann darauf gehofft werden, dass die schlimmsten Auswüchse dieses objektivitätsverhindernden Zugs der konsensualen Objektivität durch zum einen den interkollektiven Rationalitätsdruck zwischen den Forschergemeinschaften und zum anderen durch die Selbstverpflichtung der Wissenschaft zur Erlangung objektiver Erkenntnis, ihre wissenschaftliche Redlichkeit also, eingeschränkt werden können. Daneben muss aber auch dar-
216 auf hingewiesen werden, dass mit dem Verweis auf die unerfreulichen, potentiellen Konsequenzen der konsensualen Objektivität kein Argument gegen eine konstruktionistische Vereinbarung von Standortgebundenheit und Objektivität gewonnen ist. Jede Geschichtstheorie wird sich damit auseinandersetzen müssen, dass die Mittel, mit deren Hilfe objektive Erkenntnis als solche erkannt werden soll, nicht frei von Mängeln sind, und zu diesen Mitteln wird für jede Geschichtstheorie auch die konsensuale Objektivität gehören müssen. Konsensuale Objektivität ist aber nicht die einzige faktische Einschränkung, die sich die Willkür des Historikers gefallen lassen muss. Bevor überhaupt die scientific community ein Urteil über die Objektivität einer historischen Narration fällen kann, tritt eine Limitierung konstruktionistischer Willkür in Kraft, die bereits in der Perspektive des Historikers angelegt ist. Seine Perspektive setzt sich aus gewissen Überzeugungen zusammen, die untereinander in einer Beziehung der Kohärenz stehen und die mittels bestimmter Begriffe ausgedrückt werden. Eine formale Bestimmung oder exakte Definition von Kohärenz zu geben, soll hier nicht versucht werden, es wird vielmehr der kolloquiale Gebrauch im Sinne von „Zusammenhang“, „Abhängigkeit“ und „Wechselwirkung“ vorausgesetzt.274 An dieser Stelle geht es nicht um den epistemologischen Kohärentismus als einer Rechtfertigungstheorie des Wissens.275 Es geht lediglich darum, einen Begriff dafür haben, dass die Überzeugungen des Historikers unmittelbar wie 274 Vgl. die ausweichende Antwort L. BonJours auf die Frage danach, was Kohärenz ist: „Intuitively, coherence is a matter of how well a body of beliefs ‚hangs together‘: how well its component beliefs fit together, agree or dovetail with each other [...]. It is reasonably clear that this ‚hanging together‘ depends on the various sorts of inferential, evidential, and explanatory relations which obtain among the various members of a system of beliefs [...].“ (BonJour 1985, 93) 275 Vgl. Quines berühmtes Diktum, wonach „unsere Aussagen über die Außenwelt nicht als einzelne Individuen sondern als ein Kollektiv vor das Tribunal der sinnlichen Erfahrung treten“. (Quine 1979, 45) Für eine modernere Spielart des Kohärentismus vgl. Elgin 2003, z. B. Seite 197 und auch 201: „Die Rechtfertigung einer Überzeugung ist keine Sache ihrer Ätiologie oder Phänomenologie, sondern hat allein damit zu tun, ob sie in ein haltbares System von Gedanken hineinpaßt.“
217 auch mittelbar aufeinander einwirken, so dass davon gesprochen werden kann, dass sie zu einem System zusammengeschlossen sind. Dieses Überzeugungssystem lässt sich nicht vollständig über den Haufen werfen oder im Ganzen durch ein anderes ersetzen. Partiell kann das Überzeugungssystem verändert werden, aber immer nur mit Auswirkungen und unter dem (zumindest potentiellen) Veto anderer Überzeugungen. Nur vor dem Hintergrund seines Überzeugungssystems kann der Historiker neue Erfahrungen machen, Quellen analysieren, Tatsachen und Narrationen konstruieren. Jede neue Erfahrung, jede neue Narration muss kohärent zu seinem übrigen Überzeugungssystem sein.276 Sein Überzeugungssystem limitiert damit, wenn auch unter großen Spielräumen, seine konstruktive Willkür. Gleiches gilt für den Begriffsrahmen,277 von dem der Historiker Gebrauch machen muss. Ein Begriffsrahmen ermöglicht ihm, bestimmte Din276 Als Minimalbedingung kohärenter Systeme wird in der Regel die Widerspruchsfreiheit des gesamten Überzeugungsystems bzw. der Subsysteme angegeben, das heißt, eine Widerspruchsfreiheit der im System enthaltenen Überzeugungen, neu gewonnener Überzeugungen und der Schlussfolgerungen aus ihnen. 277 Der Begriff des „Begriffsrahmens“ muss von dem des „Begriffsschemas“ unterschieden werden. Beide dienen der Identifikation und Klassifikation von Gegenständen. Sie sind in dem Sinn ‚ontologisch‘ aufgeladen, als sie Gegenstände ‚hervorbringen‘, weil die in ihnen enthaltenen Begriffe über ihre Verwendungsregeln bestimmen, was als Gegenstand gelten kann und welche Eigenschaften ihm über die ihn definierenden Eigenschaften hinaus zukommen. Sie legen, in den Worten Elgins, „kategoriale Schemata“ fest. Begriffsschemata sind die Klasse sämtlicher dieser Anwendungsregeln zur Bestimmung von Gegenständen und ihren Eigenschaften, über die ein Erkenntnissubjekt oder eine Kultur oder gar die Menschheit verfügen. Sie sind in Sprachen ausdrückbar bzw. nur über sie ‚verfügbar‘ (vgl. Abs. 4.2.3). Ein Begriffsrahmen, so zumindest in der Terminologie der vorliegenden Arbeit, ist eine Untereinheit des Begriffsschemas. Es kann von einem Begriffsrahmen des Alltags, der Wissenschaften generell oder aber der Geschichte, Physik, Psychologie usf. im Speziellen gesprochen werden. Damit soll nicht gesagt werden, dass hier eine strikte Trennung zwischen Begriffsrahmen vorliegt, sondern nur, dass bestimmte Begriffe (und damit Gegenstände und Eigenschaften) meist nur in bestimmten Kontexten relevant sind. In ihrer Rolle als Untereinheiten des Begriffsschemas sind sie aber untereinander verbunden und daher potentiell für alle Sprecher einer Sprache verfügbar.
218 ge als Dinge von dieser und jener Art zu sehen, während er ihn für andere Dinge oder Eigenschaften ‚blind‘ sein lässt. Ein Begriffsrahmen ist demnach ‚ontologisch‘ aufgeladen. Auch dadurch erwächst seiner Willkür eine Limitierung, die er nicht einfach hinter sich lassen kann, weil er von irgendeinem Begriffsrahmen Gebrauch machen muss und dieser Begriffsrahmen qua Bestandteil des Begriffsschemas, das er verwenden muss, um sich überhaupt verständlich machen zu können, zum einen ansozialisiert ist, zum anderen aber auch einer permanenten sozialen Kontrolle unterliegt, die er nicht einfach umgehen kann. Dabei entwickeln sich das Überzeugungssystem wie auch die verschiedenen Begriffsrahmen in steter Interdependenz.278 Neue Überzeugungen können neue Begriffe erfordern, neue Begriffe ermöglichen neue Überzeugungen, obsolete Begriffe lassen Rechtfertigungen obsolet werden etc. Gerade in der Geschichtswissenschaft dienen zum Beispiel die theoretischen Errungenschaften der Nachbardisziplinen als Denkanstöße und begriffliche Katalysatoren. Daneben entstehen neuartige Klassifikationen, das heißt, neue Begriffe werden eingeführt oder alte Begriffe umdefiniert. Einerseits besitzen wir eine gewisse Freiheit darin, ein neues „kategoriales Schema“ zu entwickeln, das „einem Bereich eine Ordnung [aufzwingt], indem es einige Elemente als gleich, andere als ungleich klassifiziert“,279 andererseits sind wir darauf festgelegt, dieses neue „kategoriale Schema“ in Einklang 278 Ein Wandel der Überzeugungen kann einen Wandel der Begriffe und umgekehrt mit sich bringen. Überzeugungen können nur mit dem vorhandenen Begriffsapparat ausgedrückt werden und Begriffe bedürfen der satzförmigen Erläuterung, Definition und Verwendung, um überhaupt erst einen Sinn zu haben. Beides ist Teil des evolutionären Wandels begrifflich-propositionaler Voraussetzungen neuer Wahrnehmung, Erfahrung und Erkenntnis. In Putnams Worten: „Durch den Gebrauch jedes Wortes – sei es ‚gut‘ oder ‚bewußt‘ oder ‚rot‘ oder ‚magnetisch‘ – wird man in eine Geschichte verstrickt, in eine Tradition des Beobachtens, des Verallgemeinerns, der Praxis und der Theorie. Man wird dadurch auch in das Unterfangen verstrickt, diese Tradition zu interpretieren und neuen Zusammenhängen anzupassen, sie zu erweitern und zu kritisieren. Man kann Traditionen auf verschiedene Weise interpretieren, doch man kann gar kein Wort anwenden, wenn man sich völlig außerhalb der Tradition placiert, der es angehört.“ (Putnam 1982, 268) 279 Elgin 2003, 199.
219 mit unseren bislang festgehaltenen Überzeugungen und den mit ihnen zusammenhängenden kategorialen Schemata zu bringen (oder eben die überkommenen Systeme zu revidieren).280 Inwiefern ist dann aber der immerhin auch aktivisch konnotierte Konstruktionsbegriff noch angebracht, wenn neue Erfahrungen, neue Interpretationen und alternative Narrationen von vorhandenen Überzeugungssystemen und Begriffsrahmen limitiert werden? Sowohl sein Überzeugungssystem als auch seine Begriffsrahmen erwirbt sich der Historiker durch zuerst seine lebensweltliche und später seine wissenschaftliche Sozialisation. Hier scheint ihm wenig Raum für Beeinflussung oder gar Willkür zu bleiben. Das ist soweit zwar korrekt, aber dennoch bleibt ihm Raum für eine permanente Modifikation sowohl seiner Begriffsrahmen als auch seines Überzeugungssystems. Modifizierbar bleibt sein Begriffsrahmen, wenn auch nur partiell und schrittweise. Der Historiker besitzt eine gewisse Verfügung über seine Begriffsrahmen, indem er gewisse Entscheidungen, im Idealfall aufgrund wissenschaftlich-rationaler Argumente, über die zu modifizierenden Bestandteile fällt. Auch sein Überzeugungssystem entwickelt sich weiter und dies nicht nur aufgrund von neuen Erfahrungen, die er mit den alten in einen kohärenten Zusammenhang bringt. Die vorhandenen Überzeugungen können durch neue Erfahrungen unter Druck kommen, weil – wie Quine zu bedenken gab – bei der Auflösung von Widersprüchen zwischen neuen und alten Überzeugungen fraglich ist, welche der widerstreitenden Überzeugungen geopfert werden muss. Nicht immer zieht die neue Überzeugung gegenüber der wohletablierten den Kürzeren. Es sind aber nicht nur einzelne Überzeugungen, sondern ganze Überzeugungszusammenhänge, die untereinander in Beziehung stehen. Eine neue Überzeugung (eine neue Erfahrung) tritt unserem, mit Quine gesprochen, Netz aus Überzeugungen entgegen und wird entweder verworfen oder in dieses Netz integriert, wobei letzteres, im Fall des Widerspruchs der neuen 280 Elgin betont daneben auch, dass kategoriale Schemata (und die mit ihnen zusammenhängenden Überzeugungssysteme) auch Nützlichkeitserwägungen unterliegen: „Die nachgebesserte Klassifikation, die Wale zu Säugetieren zählt, ist vorzuziehen, so möchte ich behaupten, und zwar nicht nur deshalb, weil sie die Objekte, um die es geht, besser beschreibt, sondern weil sie mit den Interessen und Zielen der Biologie besser vereinbar ist.“ (Elgin 2003, 199)
220 Überzeugung mit einigen Überzeugungen des Netzes, dazu führen kann, dass weitere etablierte Überzeugungen des Netzes fallengelassen werden müssen. Das Entscheidende an diesem Prozess ist, dass die Erfahrung, die am Rande des Netzes gemacht wird, zwar Einfluss auf die Zusammensetzung des Netzes besitzt, aber nicht die Zusammensetzung des Netzes restlos bestimmt.281 Das liegt zum einen daran, dass wir kein dem Netz externes Kriterium dafür haben, was wir im Fall des Widerspruchs verwerfen sollen und was nicht. Das liegt zum anderen aber auch daran, dass unsere Erfahrung immer im Licht der Überzeugungen und der in ihnen verwendeten Begriffe machen. Neue Erfahrung ist damit immer nur ein Stück weit vom bestehenden Netz entfernt, niemals etwas so radikal Neues, dass es mit dem Netz nicht in Widerspruch kommen kann. Neue Erfahrung wird immer im Rahmen des bewährten Netzes konzeptualisiert. Dabei ist der Willkür bei der Entwicklung der Perspektive, i. e. des Überzeugungssystems und der diversen Begriffsrahmen, insofern wiederum eine Grenze gesetzt, als sie sich ausschließlich im Zusammenhang mit anderen eigenen Überzeugungen und Präsuppositionen und den Überzeugungen anderer Menschen weiterentwickelt. Die Willkür des Historikers, sich zu konstruieren, was ihm beliebt, wird durch die Perspektive beschränkt, die sich zwar wandeln kann und die insofern auch wiederum seiner Willkür ausgeliefert zu sein scheint, die aber aufgrund ihrer nur partiellen, immer von einer neuen Perspektive abhängigen Wandelbarkeit (vgl. die Betrachtungen zur Objektivität als Unparteilichkeit: der Standort des Historikers kann sich immer nur von einem anderen Standort aus ändern, niemals von einem Nicht-Standort, einem View from nowhere aus) und dem beständigen Abgleich mit den Überzeugungen anderer Menschen auf einer höheren Ebene limitiert ist. Denn es kann grundsätzlich jede Voraussetzung hinterfragt werden kann, wenn auch nicht alle Voraussetzungen auf einmal. Welcher Standard, welche Methode, welches ‚Faktum‘ oder welche Präsupposition auch immer – jeder dieser ‚Knoten‘ kann zu seiner 281 Quine 1979, 47: „Doch das gesamte Feld ist so sehr durch seine Randbedingungen, durch die Erfahrung unterdeterminiert, daß wir eine breite Auswahl, welche Aussagen wir angesichts einer beliebigen individuellen dem System zuwiderlaufenden Erfahrung neu bewerten wollen.“
221 Zeit hinterfragt werden. Dabei mag es je nach seiner Lage im Netz leichter oder schwieriger sein, ihn als Voraussetzung zu hinterfragen.282 Jeder ‚Knoten‘ ist, mit anderen Worten, einem beständigen Rationalitätsdruck unterworfen, der dem Historiker, neben seinem ohnehin vorhandenen kreativen Potential, genügend Raum lässt, seine erkenntniskonstitutive Perspektive jederzeit, wenn auch nur sukzessive zu modifizieren. So ist kein historischmaterialistischer Historiker dazu gezwungen, seine Geschichten als Episoden im Klassenkampf zu schildern. Er kann die Präsupposition, dass Geschichte im Grunde nichts anderes ist als eine Abfolge von Klassenkämpfen, hinterfragen und als doktrinär zurückweisen, so dass sein Blick frei wird für andere Rahmennarrationen oder spekulative Geschichtsphilosophien, die seine Erkenntnis leiten. Was er jedoch nicht tun kann, ist auf alle Geschichtsphilosophie verzichten (auch wenn einige Historiker dies vielleicht von sich behaupten mögen). Ein Historiker ist also insofern nicht frei in seiner Willkür, als er auf irgendein ‚Material‘ und irgendwelche Methoden zurückgreifen muss, während er dagegen insofern in seiner Konstrukteurswillkür unbeschränkt ist, als jede ‚Gegebenheit‘ hinterfragt und zurückgewiesen werden kann, sofern gute Gründe vorhanden sind (und er nicht nachhaltig in Widerspruch zum fachdisziplinären Konsens gerät). Mittelalterliche Dinosaurier etwa kann der Historiker nur aus den Quellen herauslesen, wenn er bereit ist, seine paläontologischen und womöglich einen Teil seiner chronologischen Überzeugungen zu revidieren. Oder, um ein weniger gezwungenes Beispiel zu verwenden, eine mittelalterliche Monarchie als totalitären Verwaltungsstaat zu charakterisieren, bringt für ihn die Auflage mit, seine Überzeugungen hinsichtlich totalitärer Staaten, des Faschismus oder auch der administrativen Dichte des mittelalterlichen ‚Staates‘ zu revidieren. Angenommen aber, ein Historiker denkt vom Ergebnis her und sagt sich, diese These, die er (zum Beispiel) aus weltanschaulichen Gründen, unbedingt vertreten möchte, ist es ihm wert, sein gesamtes Überzeugungs282 In manchen Zusammenhängen mag es sogar völlig unnötig sein, wirklich alle Voraussetzungen als hinterfragbar zu betrachten. So kann es etwa für die Philosophie durchaus ein sinnvolles Streitthema sein, ob der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch hinterfragt werden kann. Für die Geschichtswissenschaft dürfte es reichlich sinnlos sein, diese Frage auch nur als potentiell relevant aufzuwerfen.
222 system radikal zu revidieren. Selbstverständlich kann er dies tun, er ist aber, will er nicht gegen das Gebot der intellektuellen Redlichkeit, gegen das Unparteilichkeitsgebot und gegen die Gesetze der Logik verstoßen, gezwungen, einen ungleich schwierigeren und am Ende aussichtslosen Weg zu gehen, denn er wird gezwungen sein, immer zentralere Bestandteile des Überzeugungsnetzes zu revidieren, die mit anderen zentralen Überzeugungen zusammenhängen. Die Folge wird die sein, dass er sich, tritt er mit seinen Erkenntnissen an die Öffentlichkeit, in Widerspruch zum fachdisziplinären Konsens positioniert – und dies nicht nur in mehr oder minder eingeschränkten Bereichen, wie dies immer wieder vorkommt (und den wissenschaftlichen Fortschritt ausmacht), sondern in fundamentalen, grundstürzenden Überzeugungssegmenten des Netzes. Er wird darüber hinaus mit alltäglichen und auch fachfremden wissenschaftlichen Überzeugungen in Konflikt geraten. Er wird weiter und weiter in eine Isolation rutschen, welche die kommunikativen Voraussetzungen der Wissenschaft untergräbt. Es handelt sich um eine Art von Selbstentfernung aus seinem Fach. Das gilt auch für die Kohärenz der Begriffsrahmen. Die Kohärenz, über die die verschiedenen begrifflichen Subsysteme untereinander verbunden sind, verhindert, dass Begriffe willkürlich verwendet werden. Kein Historiker kann sich willkürlich einen Staatsbegriff zurechtlegen, der es ihm erlaubt, den mittelalterlichen Staat als totalitären Überwachungsstaat zu konzeptualisieren. Der Staatsbegriff wird in einer Vielzahl begrifflicher Zusammenhänge verwendet, auf die eine derart radikale Umdeutung des Begriffs fatale Folgen hätte und die mit der entsprechenden Ablehnung durch die jeweiligen fachdisziplinären, vielleicht sogar alltäglichen Konsensgruppen sanktioniert werden würde. Die Weigerung, sich den begrifflichen Gepflogenheiten (und damit den jeweiligen Ontologien) anzupassen, würde im Extremfall dieselbe Isolation nach sich ziehen wie die starrsinnige Verletzung der Überzeugungskohärenz. Ist der Historiker in seiner Willkür aber nicht in erster Linie durch die Quellen beschränkt? Weshalb sollten es der Konsens der Forscher und die Kohärenz neuer Erfahrungen mit seinen Überzeugungen und Begriffen (also seiner Perspektive) sein, die seine Willkür beschränken? Es sind doch immerhin die Spuren der Vergangenheit, die ihm erst Zugang zu ebendieser
223 eröffnen und die seiner Willkür aus diesem Grund Restriktionen auferlegen. Dieses Bedenken ist zwar korrekt, trägt jedoch nicht so weit, wie gemeinhin angenommen. Die Bearbeitung der Quellen, also ihre editorische Bearbeitung, ihre themen- und methodensensitive Relevanz und ihre anschließende interpretatorische Erschließung und Auswertung nach Maßgabe des jeweiligen Erkenntnisinteresses, ist alles andere als das häufig vorgestellte voraussetzungslose Aussieben oder Auffinden ‚der Fakten‘. Der Historiker ist zwar darauf festgelegt – sofern er Historiker bleiben möchte – aus Quellen gewonnene Fakten als solche zur Grundlage seiner Arbeit zu machen. Sein Gestaltungsspielraum erstreckt sich aber gerade bei der Konstruktion von Fakten sehr weit. Keine Quelle legt Art und Zahl der Fakten, die ein Historiker aus ihr gewinnt, fest. Zwar mögen Regestensammlungen den Eindruck erwecken, Historikern eine kanonische Abfolge von ‚BasisFakten‘ zur Verfügung zu stellen, tatsächlich aber schreibt sich die kanonische Form gerade auch aus bestimmten Interessen und Präsuppositionen bestimmter Historiker her. So weit verbreitet diese Interessen und Präsuppositionen sein mögen, so wenig zwingend sind regestenartig zusammengestellte Fakten gegenüber den Fakten, die ein Historiker mit divergierenden Interessen und Präsuppositionen aus ihnen gewinnen würde. Das bedeutet nicht, dass jeder Historiker Beliebiges aus beliebigen Quellen gewinnen kann. Quellen geben zwar nicht vor, was aus ihnen gewonnen werden kann, sie schränken aber sehr wohl ein, was aus ihnen gewonnen werden kann. In diesem Sinn meint Koselleck: „Strenggenommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir sagen sollen. Wohl aber hindert sie uns, Aussagen zu machen die wir nicht machen dürfen. Die Quellen haben ein Vetorecht.“283 Koselleck erzählt damit aber nur die halbe Geschichte. Denn nur wenn wir bestimmte Standards besitzen, die uns erlauben oder verbieten, eine bestimmte Auffassung vom Inhalt einer Quelle zu haben, dann kann die Quelle ein Vetorecht besitzen. Diese Standards aber bringt nicht die Quelle bei, sondern bringen Methoden, Theorien und andere Präsuppositionen ins Spiel, die der Willkür des Historikers insofern entzogen sind, als er nicht willkürlich bestimmten, geltenden, und das heißt, in das 283 Koselleck 1979, 206.
224 Überzeugungsnetz integrierten Überzeugungen einfachhin widersprechen kann. Aber abgesehen von Bearbeitung der Quellen, sind die Quellen selbst nicht einfach etwas, das vom Historiker als Gegebenes betrachtet werden muss. Zwar wird er immer auf Quellen angewiesen sein, will er nicht zum historischen Romancier verkommen – soweit ist er auf ‚Gegebenes‘ festgelegt und in seiner Willkür beschränkt –, nichtsdestotrotz besitzt er einen großen Gestaltungsraum: (1) Er kann eine bislang für einschlägig erachtete Quelle durch eine andere Quelle oder Quellengattung ergänzen. Die Ursachen des Ersten Weltkrieges etwa kann man ausschließlich in den außenpolitischen Akten der europäischen Mächte suchen oder man kann zusätzlich ein Psychogramm Wilhelms II. hinzuziehen. (2) Er kann eine bislang für einschlägig gehaltene Quelle auch zurückweisen. Vielleicht führen die offiziellen Aktenwerke der europäischen Mächte völlig in die Irre und einzig und allein die Psychologie Wilhelms II. plus die „Mentalität“ des „nervösen Zeitalters“284 waren die Ursache des Ersten Weltkrieges. (3) Aber auch die Quellen selbst sind nicht sicher vor seiner Willkür. Die Akten des Auswärtigen Amtes etwa können von ihm als falsch im Sinne von „unglaubwürdig“ oder „falsch kompiliert“ oder „einseitig selegiert“ etc. betrachtet werden. Auch die Quellen liefern daher nur relativ zu einer Perspektive eine Einschränkung der Willkür des Historikers. Aus sich selbst heraus und für sich allein sagen Quellen nichts und erst recht nicht, welche Tatsache aus ihnen herausgelesen werden können, um die Willkür es Historikers in ihre Schranken zu weisen.
284 Radkau 1998.
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5.3.3 Überleitung Es bleibt folglich, weist man den Willkürvorwurf zurück, noch die Option, sich für eine mehr oder minder paritätische Gewichtung beider eingangs erwähnten Begriffsaspekte zu entscheiden. Damit steht der Weg für eine detailliertere Darstellung des historischen Konstruktionismus offen. Konstruktion ist eine gleich gewichtete Kombination aus: persönlichem Erkenntnisinteresse, das dem Historiker mal existentiell (biographisch) widerfährt, mal aber auch willentlich von ihm gesetzt wird; ontologisch-metaphysischen Präsuppositionen, die meist, aber nicht unbedingt immer unhinterfragt bleiben, wohl aber im Laufe seiner Darstellungen zu Tage treten; theoretischen Neigungen, die ihm zunächst vielleicht aufgrund seiner fachdisziplinären Ausbildung unvermeidlich, später aber revisionsbedürftig erscheinen können; ‚Fakten‘, die er ‚wählt‘, wenn er sie für abgesichert erachtet, die er jedoch auch zurückweisen oder ignorieren kann, wenn er sie für uninteressant, falsch konstruiert oder gar für konträr zu (von ihm vorausgesetzten) elementaren metaphysischen Gesetzen oder theoretischen Modellen hält; selbst Quellen können mal unhinterfragtes Fundament der Darstellung sein, mal als nicht einschlägig für eine bestimmte Studie zurückgewiesen oder gar als Quelle für unbrauchbar erachtet werden; Fakten wird er zwar zugrunde legen, er ist aber in der Frage dessen, was ein Faktum für ihn ist, durch nichts in den Quellen festgelegt, vielmehr entscheidet er, welche Fakten die Quelle preisgibt. Die Liste an Gegebenheiten und Modifikationsspielräumen könnte noch verlängert werden. Anstatt aber auf diese enzyklopädische Weise fortzufahren, empfiehlt es sich, auf der Basis der bisherigen Erkenntnisse eine systematische Exposition einiger Grundzüge des konstruktionistischen Perspektivismus zu versuchen.
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5.4 Grundzüge eines historischen Konstruktionismus Die Begriffsexplikation von „objektiv“/„Objektivität“ im ersten Kapitel hat ein Komponentenmodell erbracht, dessen integrativer Kern die korrespondenztheoretisch explizierte absolute Objektivität ist. Dieses Ergebnis ist wenig überraschend, werden doch der Geschichte immer wieder Funktionen wie die der Identitätsstiftung oder Politikberatung u. a. zugesprochen. Was also liegt näher, als der Geschichte einen Korrespondenzcharakter und dem Historiker die Fähigkeit, vergangene Tatsachen abzubilden, zuzuschreiben? Weil sich aber dieser Common-sense-Positivismus bei genauerem Zusehen nicht uneingeschränkt halten lässt, hat sich als geschichtstheoretischer Widerpart die These von der notwendigen Standortgebundenheit oder Perspektivität historischer Erkenntnis ohne weiteres etablieren können, und auch sie kann eine kaum zu verleugnende Intuition für sich ins Feld führen. Die Geschichte wird immer wieder aufs Neue geschrieben, immer wieder anders interpretiert und bewertet, neue Fakten lassen sich aus bekannten Quellen herausarbeiten, alte Narrationen werden von neuen ersetzt oder ergänzt oder beide gemeinsam synthetisiert, längst Bekanntes wird zusammen mit völlig Unbekanntem immer wieder neu narrativ integriert. Dieses Phänomen der narrativen Redeskription ist aber mit der rudimentären, positivistischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie des Common sense nicht leicht zu vereinbaren. Von den drei im ersten Kapitel schematisch vorgestellten Lösungsversuchen dieses Widerstreits ist mittlerweile nur noch einer übrig geblieben. Den Widerstreit aus der Welt zu schaffen, indem man sich für eines und gegen das andere Extrem entscheidet, hat sich als unzulänglich erwiesen. Waren die vorangegangenen Kapitel in erster Linie dem Zweck gewidmet, diese ‚extremistischen‘ Lösungsansätze zu widerlegen, so sollten in ihnen aber auch, gewissermaßen kontrastiv, erste Bausteine für eine Lösung herausgearbeitet werden, die als „third way“ zwischen den beiden Extremen und der einseitigen Verabschiedung entweder von Objektivität oder Standortgebundenheit hindurchführt.
227 Diese (und einige der in diesem Kapitel erarbeiteten weitere) Bausteine sollen jetzt dazu benutzt werden, um den gesuchten „third way“ in einer Vereinbarung von Objektivität und Standortgebundenheit in Grundzügen zu entwerfen. Diese Grundzüge sollen in zwei Schritten dargelegt werden. (1) Zunächst muss noch einmal die Korrespondenz, die zwischen Sachverhalt und Satzgehalt besteht, betrachtet werden und kurz umrissen werden, wie eine Einflussnahme des Standorts bei gleichzeitiger Korrespondenz der Darstellungen möglich sein kann (5.4.1). (2) Darauf werden einige zentrale Element des Standortes und ihre Wirkung auf die Geschichte beschrieben (5.4.2).
5.4.1 Korrespondenz und Standortgebundenheit Der erste Schritt besteht darin, die Auffassung des epistemischen Zugangs zur Korrespondenz, d. h. zum Verhältnis zwischen Sachverhalt und Satzgehalt zu flexibilisieren. Die ontologische Unabhängigkeit des Sachverhalts von den mentalen Zuständen des Erkenntnissubjekts zusammen mit der Rede von Korrespondenz zwischen Tatsache und Satzgehalt legen ein zwar prima facie plausibles, nichtsdestotrotz aber an entscheidenden Stellen revisionsbedürftiges Bild nahe, wonach hier zwei von einander unabhängige Gegenstände existieren, von denen der eine, sc. die Tatsache, in der Welt zu finden ist, während der andere, sc. die Proposition, den kognitivbegrifflichen Gehalt, den diese Tatsache im Erkenntnissubjekt erhält, wiedergibt. Jeder Tatsache ist ein Satzgehalt zugeordnet, der ihr schon immer zugeordnet war und dies auch weiterhin bleiben wird und den es lediglich aufzufinden gilt. Im epistemischen Idealfall, das heißt, wenn das Erkenntnissubjekt nicht verzerrend eingreift, besteht eine Korrespondenz zwischen diesen beiden gegenständlich gedachten Relata, die betrachtet werden kann, indem das Erkenntnissubjekt beide Relata aus einer Mediatstellung heraus, die zwischen dem ‚Reich‘ der Tatsachen und dem der Satzgehalte angesiedelt ist, auf diese Übereinstimmung hin überprüft; die Tatsache und
228 die Proposition werden gewissermaßen zur Hand genommen und auf Übereinstimmung hin untersucht. Mit dieser naiv-realistischen Konzeption unseres epistemischen Zugangs zur (semantisch definierten) Korrespondenz lässt sich Standortgebundenheit kaum vereinbaren, weil das Phänomen der narrativen Redeskription, i. e. die immer neue, standortabhängige Beschreibung bereits untersuchter und dargestellter historischer Individuen, damit unvereinbar ist. Erkenntnisfortschritt, das heißt neue korrespondierende Aussagen und Narrationen, wäre nach dieser Konzeption nur möglich, wenn neue Quellen neue Tatsachen auffinden ließen. Was aber einmal nach methodisch korrekten Standards als objektive Narration erarbeitet worden ist, kann, sofern sie wirklich objektiv ist, nur durch weitere Tatsachen angereichert werden und auch dies nur aufgrund neuer Quellenfunde. Allenfalls könnten ‚falsche Tatsachen‘ durch Quellenfunde oder eine verbesserte Methode ersetzt werden. Jeder Tatsache ist eine Proposition zugeordnet, die der Historiker zu finden und darzustellen hat. Gelingt ihm dies methodisch korrekt, werturteilsfrei und sprachlich neutral, dann ist über dieses historische Individuum, diesen Zeitabschnitt, diese Handlung, dieses Motiv etc. gesagt, was gesagt werden kann. Vielleicht würde noch zugestanden werden, dass wir tatsächlich niemals die Mediatstellung einnehmen können, von der aus wir die beiden Relata gegeneinander zu halten vermögen, trotzdem besteht das Ideal darin, eine solche Stellung einnehmen zu können, um von dort aus sämtliche Tatsachen mit den sie jeweils zugeordneten Propositionen ausmitteln zu können. Wobei dann die Aneinanderreihung dieser Tatsachen die wirklich objektive (Universal-)Geschichte darstellt, der möglicherweise noch in Form eines Appendix eine oder mehrere Interpretation(en) dieser Geschichte angehängt werden kann. In einem solchen Bild kann die Perspektive des Historikers allenfalls verzerrend wirken. Wozu sollte sie gut sein, wenn sowohl die Tatsache als auch die Proposition und dadurch beider Korrespondenz bereits feststehen, sie also nur noch (voraussetzungslos) aufgefunden und dargestellt werden müssen? In dieser Konzeption ist kein Platz für narrative Redeskription, weil sie nur dann möglich ist, wenn der Historiker nicht lediglich vorfindbare Tatsachen in Form von Propositionen auszudrücken hat, die er mit dem (methodisch korrekten) Auffinden
229 der Tatsache gleich mit aufgefunden hat. Nun wurde aber die narrative Redeskription als das zentrale Charakteristikum der Geschichte ausgemacht und die Ursache der narrativen Redeskription in der notwendigen Standortgebundenheit historischer Erkenntnis gesehen. Wenn aber narrative Redeskription bei gleichzeitiger Objektivität der Erkenntnis möglich sein soll, dann gelingt dies nur, wenn der Standort des Historikers einen verzerrungsfreien, also nicht korrespondenzverhindernden Einfluss auf die Darstellungen besitzt. Dies wiederum ist nur möglich, wenn die Vorstellung aufgegeben wird, die beiden unabhängigen, aber gleichwohl ewig einander zugeordneten Relata „Tatsachex“ und „Propositionx“ müssten nur aufgefunden und auf ihre Übereinstimmung überprüft werden, und schon stünde unveränderlich fest, was es zum jeweils in Betracht stehenden Gegenstand zu sagen gebe. An die Stelle dieser Konzeption soll eine flexibilisierte Auffassung treten, die hier skizziert werden muss, um den Blick auf die Funktionsweise des Standortes und seine Elemente frei zu bekommen. Zwischen den Tatsachen auf der einen Seite und ihrer sprachlich-kognitiven Erfassung auf der anderen besteht ein strikt einseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Tatsachen sind ontologisch von den sie erfassenden Satzgehalten (Propositionen) unabhängig. Umgekehrt dagegen besteht eine Abhängigkeit der Satzgehalte von den Tatsachen und zwar in dem Sinn, dass die Tatsachen die Inhalte der Satzgehalte mitbestimmen. Hierbei liegt die Betonung auf dem bloßen Mitbestimmungscharakter der Sachverhalte. Tatsachen allein bestimmen den Inhalt der Satzgehalte nicht ausschließlich. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die Begriffe, mit denen die bestehenden Sachverhalte in sprachliche Form gebracht werden müssen. Sachverhalte können nicht unbearbeitet und abbildhaft in den kognitiven Apparat des Beobachters einfließen. Propositionen sind logisch-semantische, probeweise Zusammenstellungen von Begriffen, die die Funktion haben, in der Beziehung der Korrespondenz zu ihren Gegenstücken (Referenten) in der Welt stehen und jenseits derer es nichts gibt, worauf wir zurückgreifen können, um Zugriff auf Sachverhalte zu haben285. Sprachlicher Zu285 Vgl. Patzig 1996; Lorenz 1997, 1998a und 1998b; Searle 1995, 205 f. Vgl. Wittgensteins Bemerkung von der probeweisen Zusammenstellung von Sachverhalten
230 griff bedeutet, dass wir auf die aktuellen begrifflichen Möglichkeiten zur Darstellung von Sachverhalten festgelegt sind. Unser Begriffsschema (unsere Sprache) besitzt bestimmte begriffliche Möglichkeiten, Sachverhalte auszudrücken, andere dagegen – die nicht in der Ontologie des Begriffsschemas vorgesehen sind – können nicht ausgedrückt werden. Wir sind dazu in der Lage, Prädikate zu ‚erfinden‘, also Extensionen festzulegen, die zuvor nicht vorhanden waren. Mit diesen neuen Prädikaten können neue Wahrheiten gefunden, also bekannte Gegenstände in neue Extensionen eingeordnet oder bekannte Gegenstände auf neuem Weg identifiziert oder gar völlig neue Gegenstände entdeckt werden.286 Das Begriffsschema teilt sich, wie bereits erläutert, in verschiedene Begriffsrahmen, die zwar nicht völlig voneinander abgeschlossen sind, die aber dennoch ein gewisses semantisches Feld abgrenzen. Sie stellen die jeweiligen Bereichsontologien zur Verfügung; zu denken ist dabei, an die verschiedenen Begriffsrahmen der Wissenschaften, aber auch des Alltags oder anderer spezieller Bereiche wie den der Astrologie o. ä. Die Erfassung von Sachverhalten und damit unsere Erkenntnis ist abhängig vom jeweiligen Begriffsrahmen. So ist zum Beispiel die Verwendung von Sortalen zur Identifikation von Gegenständen („Individuen“) immer wieder hervorgehoin einer Aussage: „Im Satz wird gleichsam eine Sachlage probeweise zusammengestellt.“ (TLP 4.031); „Im Satz wird eine Welt probeweise zusammengestellt.“ (Tagebücher 1914-1918, Eintrag 29.9.14); „So stellt der Satz den Sachverhalt gleichsam auf eigene Faust dar.“ (ebd., 5.11.14). 286 Vgl. Elgin 2003, 197-200. „Die Extensionen der Prädikate können [..] vollkommen willkürlich sein. [...] Zweifellos lassen sich Wahrheiten erzählen bezogen auf eine Extension, die aus einer Muschelschale, Kleopatras Nase, der Mondscheinsonate und einem gebrochenen Antriebsriemen besteht. Würden wir ein Prädikat einführen, um eine solche Extension zu bezeichnen, wären wir zugleich in der Lage, solche Wahrheiten zu behaupten.“ (Ebd., 198) Es mag an dieser Stelle erneut der Einwand hervorgebracht werden, dass damit ein Kulturrelativismus unvermeidlich sei. Wenn Satzgehalte von Begriffsrahmen (und damit von Begriffsschemata) abhängen, Begriffsrahmen aber kulturrelativ sind, dann müssen unsere Erkenntnisse, die ja in Satzgehalten ausgedrückt werden, ebenfalls kulturrelativ sein. Dass mit in diesem Sinn kulturrelativer Erkenntnis allerdings keine epistemologisch beunruhigende These einhergeht, ist bereits nachgewiesen worden – vgl. Abs. 4.2.3.
231 ben worden.287 Sortale ihrerseits sind jedoch Bestandteil kulturell bestimmter Begriffsrahmen. Allgemeiner formuliert: Ein Begriffsrahmen (oder mit Elgin: ein „kategoriales Schema“) wird kulturell entwickelt, modifiziert, aufgegeben usf. und bestimmt dabei aufgrund seiner klassifizierenden Funktion unsere Sicht auf die Welt, indem er festlegt, was es gibt und was nicht, was identisch mit dem einen Gegenstand und verschieden von einem anderen Gegenstand ist, was eine korrekte Gegenstandszusammenstellung ist und was als heterogene Gegenstände zu betrachten sind.288 Begriffsrahmen sind nicht Mittel zur Beschreibung verschiedener beobachterrelativer Welten, sondern Mittel verschiedener Beobachtungen ein und derselben Welt von beobachterrelativen Standorten aus. Dabei sind die Begriffsrahmen nicht starr und festgelegt, sondern unterliegen allerlei Wandlungen. Wer keinen Begriffsessentialismus (eine „magische Theorie der Bezugnahme“ mit Putnam289) vertritt, das heißt, eine Position, wonach Begriffe exakt und genau bestimmten Begriffsumfängen und -referenten a priori und notwendig entsprechen, der muss davon ausgehen, dass Begriffsrahmen historische Produkte einer beständigen Wechselwirkung zwischen Menschen, Gruppen, Kulturen und Interaktionen derselben mit dem jeweils zur Verfügung stehenden Ausschnitt aus der Welt sind. Wenn unsere Satzgehalte von historisch-kulturellen Begriffsrahmen mitbestimmt sind, dann ist das Geschehen in der Welt multiplen Beschreibungen zugänglich. Unsere Möglichkeit, die Welt mit diversen Begriffsrahmen zu ‚überziehen‘, wandelt sich ständig, weil neue, alternative und vor allem: gleichberechtigte Klassifikationen zur Verfügung stehen. Das soll nicht bedeuten, dass es keinen Unterschied zwischen falschen und wahren/objektiven Aussagen gibt. Wahre Aussagen bleiben wahre Aussagen, sie sind aber durch weitere wahre Aussagen ad infinitum ergänzbar, kompilierbar oder auch weiter unterteilbar, je nach Perspektive auf einen Gegenstand und sei287 Vgl. Tugendhat 1976, 453 ff. „Das Charakteristische des Sortals ist, daß ein solches Prädikat [...] ein Kriterium des Identifizierens und Unterscheidens enthält; damit ist gemeint: durch das Prädikat ist vorgezeichnet, was alles, worauf gezeigt werden kann, zu dem einen Gegenstand – z. B. der einen Katze – gehört und was nicht.“ (Ebd., 453) 288 Vgl. Elgin 2003, 197-200. 289 Putnam 1982 passim.
232 ne Eigenschaften. Betrachtet man die bestehenden Sachverhalte, die sprachlich erfasst werden, als objektiv in dem Sinn, dass zwar ihr Bestehen unabhängig von Erkenntnissubjekten gegeben ist, die (kognitiv-sprachliche) Erfassung dieser bestehenden Sachverhalte jedoch subjektiv in dem Sinn ist, dass menschlichen Erkenntnissubjekten diese bestehenden Sachverhalte ausschließlich in Form von Propositionen gegeben sein kann, dann hat man das Fundament gewonnen, von dem aus begründet werden kann, wie historische Erkenntnis auf der einen Seite objektiv im Sinne der korrespondenztheoretischen Explikation und auf der anderen Seite dennoch standortgebunden sein kann. Satzgehalte stellen die probeweise Zusammenstellung von Sachverhalten dar. Jenseits dieser Zusammenstellungen ist uns nichts gegeben.290 Erkenntnistheoretisch bedeutet dies, dass wir immer nur bestimmte Teile unserer Satzgehalte (in Form von Überzeugungen) vor der Folie anderer Satzgehalte (in Form von Überzeugungen) überprüfen können. Wir stellen also nicht willkürlich irgendwelche Satzgehalte zusammen, sondern sind an bestimmte Regeln, Normen, fundamentale Überzeugungen, Präsuppositionen etc. gebunden, die den Rahmen unserer konstruktionistischen Freiheit abstecken. Teil dieser Überzeugungen (und damit des Überzeugungssystems des Historikers) sind denn auch die Elemente des Standorts, die im folgenden Abschnitt eingehender vorgestellt werden sollen. Dabei sind die probeweisen Zusammenstellungen der Propositionen ebenso wie die Regeln, Methoden, ‚Gesetze‘ wie auch die übrigen Überzeugungen des Überzeugungsnetzes von Begriffsrahmen abhängig.291 290 Als gegeben können nicht- oder vorbegriffliche Sinneswahrnehmungen angesehen werden. Aber abgesehen davon, dass Sinneswahrnehmungen für die Geschichte keine epistemologische Rolle spielen, weil sie auf kognitiv-begrifflichem Material, sc. den Quellen, basiert, können solche sensorisch gegebenen Data nur dann eine epistemische Funktion besitzen, wenn sie begrifflich-propositional eingekleidet werden. 291 Vgl. Putnam 1982, 81. Der Internalismus bestreite, „daß es Inputs [durch Erfahrung] gibt, die ihrerseits nicht durch unsere Begriffe geformt sind, durch das Vokabular, das wir zur Berichterstattung verwenden, und er bestreitet, daß es Inputs gibt, die nur eine einzige Beschreibung zulassen, die unabhängig ist von allen be-
233 Wenn im Kern von Objektivität Korrespondenz stehen soll und Korrespondenz zwischen ontologisch von subjektiven Einstellungen unabhängigen Tatsachen einerseits und Propositionen andererseits bestehen soll, dann ist immer noch unklar, was unter Korrespondenz verstanden werden kann, wenn die Erfassung von Sachverhalten von Begriffsrahmen abhängig sein soll. Um überhaupt von Korrespondenz sprechen zu können, müssen die Strukturen der Tatsache sich in den Strukturen der Proposition wiederfinden lassen, andernfalls wäre von einer intersubjektiven Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken nicht sinnvoll zu sprechen. Die Behauptung, dass p muss als Behauptung, dass p und nicht als Behauptung, dass q oder Frage, ob r o. a. vom Gegenüber verstanden und das heißt unter anderem, intersubjektiv übereinstimmend mit denselben (oder relevant ähnlichen) Strukturen in der Welt in Beziehung gesetzt werden (können). Am nächstliegenden erfüllt der Isomorphismus, wie er etwa vom frühen Wittgenstein vertreten worden ist, diese Anforderung. Er hat aber seinen philosophischen Reiz inzwischen verloren.292 Mehr noch: Die strikte Identifizierung von Korrespondenz mit Isomorphismus ist gar nicht erst notwendig, weil eine ausreichend stabile Zuordnung von Begriffen und komplexeren, auf sie aufbauenden sprachlichen Ausdrücken zu den Gegenständen in der Welt genügt, um die genannte Minimalbedingung sprachlicher Verständigung zu erfüllen. Eine Zuordnungstheorie, die zwar feste Zuordnungen zwischen Begriffen (sprachlichen Termini) und Tatsachen (bzw. Gegenständen) vorsieht, aber auf eine Strukturübertragung von der Welt in den Satzgehalt hinein absieht, wäre hier denkbar. Aber auch eine solche Auffassung muss klären, wie sie dazu steht, dass Begriffe offensichtlich nicht ein für alle mal „magisch“ Gegenständen zugeordnet sind, sie wohl aber einer stabilen, wenn auch veränderbaren Zuordnungsfunktion bedarf. Man kann dieses Problem lösen, indem eine Zuordnung von Begriffen grifflichen Entscheidungen“. 292 Vgl. Newman 2002 und Putnam 1982, 84-88, für die frühe „Ähnlichkeitstheorie“ und ihre Schwierigkeiten, insbesondere die, dass Ähnlichkeit keine selbstevidente Beziehung ist, sondern immer einer supponierten, gesetzten oder vereinbarten Dimension bedarf, vor deren Hintergrund aus der unendlichen Vielzahl der Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen zwei Gegenständen einige ausgesucht werden können (95 f.).
234 und Gegenständen „intern“, das heißt, innerhalb von Begriffsrahmen (oder Begriffsschemata) vorgenommen wird. Die Sachverhalte, die sprachlich erfasst werden, hängen damit von den jeweiligen Begriffsrahmen ab, werden aber nichtsdestotrotz abgebildet, nur eben nicht so wie sie ‚an sich‘ oder von einer Gottesperspektive aus ‚sind‘, sondern wie sie für uns aus der Perspektive eines Begriffsrahmens sich darstellen. Korrespondenz wird damit nicht mehr einem strikten Isomorphismus gleichgesetzt, der eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen zwei geistesunabhängigen, nichtsdestotrotz aber von uns als kognitiv finiten Wesen auf irgendeine mystische Weise inspizierbaren Gegenstandsbereichen stipuliert, sondern einer Zuordnung auf der (kulturell-variablen, wenn auch nicht willkürlichen) Basis von Begriffsrahmen. Wenn nun also Sachverhalte insofern von unserem Begriffsrahmen abhängig sind, als uns nur diejenigen Sachverhalte zugänglich sind, die der jweilige Begriffsrahmen ‚erlaubt‘, kann Korrespondenz und damit Objektivität sehr einfach mit Perspektivität vereinbart werden. Korrespondenz besteht in der (uns zumindest intuitiv ohne theoretische Ausarbeitung zu Gebote stehenden) Übereinstimmung von Proposition und Tatsache. Der jeweilige Sachverhalt muss formuliert werden, was nur unter Rekurs auf den jeweils für relevant erachteten Begriffsrahmen geschehen kann. Dieser Begriffsrahmen stellt dabei nicht nur einfach Lautfolgen zur Verfügung, sondern auch sozial kontrollierte Weisen der Bezugnahme293 auf Gegenstände 293 Vgl. Wittgensteins Privatsprachenargument in den PU und Kripkes Rekonstruktion davon in Kripke 1982. Wittgensteins Privatsprachenargument zielt darauf ab, nachzuweisen, dass man einer Regel nicht „privatim“ folgen kann, nicht einmal wenn es um die eigenen mentalen Vorgänge geht: „Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel ‚privatim‘ folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen.“ (PU §202) Da es ohne Regeln keine sprachliche Bedeutung gibt, wir aber Regeln nicht privatim folgen können, bedürfen wir der Sprachgemeinschaft, wenn wir wissen wollen, ob wir wirklich einer Regel folgen, also tatsächlich einen Begriff richtig benutzen, sprich, ihn überhaupt ‚besitzen‘. (Vgl. Kripke 1982, 89, 95-99 und 107-109) Über einen Begriff verfügt man demnach, solange die einschlägige Sprachgemeinschaft ihre allzeit provisorische Anerkennung der individuellen Begriffskompetenz nicht revoziert: Wer zu oft einen Fehler bei einer Begriffsverwendung (von „Tisch“ etwa) macht, dem muss noch einmal erklärt
235 aller Art (abstrakte wie reale Gegenstände, Zustände, Prozesse etc.). Dieses Bezugssystem wird ‚intern‘, das heißt, innerhalb des Begriffsrahmens und unter Zuhilfenahme des Überzeugungssystems294 hergestellt, indem aufeinander aufgebaut und untereinander verwiesen wird. Wie diese interne Regelung austariert wird, muss eine Theorie des Spracherwerbs klären. Sicherlich kommt sie aber nicht durch einen (quasi-göttlichen oder pränatalen) Akt zustande, der, mit Putnam gesprochen, Gegenstände „magisch“ mit ewiggültigen Bedeutungen in Beziehung setzt. Erlauben unsere Begriffsrahmen bestimmte Bezugnahmen auf Gegenstände und erlauben sie die Anwendung von Begriffen auf Eigenschaften, das heißt, können Begriffe im Satz die Funktion von singulären und generellen Termini übernehmen, dann liegt, gelingt die Anwendung des generellen Terminus auf den singulären Terminus nach Maßgabe der im Begriffsrahmen festgelegten und sozial kontrollierten Regeln der Bezugnahme, Korrespondenz vor. Diese interne Regelung von sprachlicher Bedeutung vorausgesetzt, kann deutlich gemacht werden, wie narrative Redeskription bei gleichzeitiger Korrespondenz möglich ist. Wenn (i) Sachverhalte nur sprachlich zugänglich sind, und wenn (ii) sprachliche Abhängigkeit sich als Abhängigkeit von einem Begriffsrahmen (und den damit verbundenen Regeln der Begriffsverwendung) auffassen lässt, und darüber hinaus (iii) Begriffsrahmen dem Wandel unterliegen, dann ist narrative Redeskription möglich, weil die Korrespondenz zwischen Tatsachen und Propositionen nicht mehr ein für alle mal feststeht, sondern ihrerseits eine evolutionäre Dimension besitzt, welche die Voraussetzung dafür ist, dass dieselben historischen Vorgänge immer wieder aufs Neue narrativ dargestellt werden. Neue Begriffe und alte Begriffe mit neuen Anwendungsregeln bringen die Möglichkeit mit sich, neue Wahrheiten auch an Gegenständen entdecken zu können, die uns bereits geläufig sind. Dabei handelt es sich um kein ausschließlich historisches Phänomen. Eine neue Kosmologie bringt neue potentielle Wahrheiten über dieselben Planeten zum Vorschein, die schon seit langem beobwerden – der muss, mit Wittgenstein gesprochen, noch einmal „abgerichtet“ werden –, welche Bedeutung der Begriff eigentlich besitzt. 294 Das ist wichtig, weil bestimmte Bezugnahmen aufgrund von Überzeugungen gegenstandslos werden können; das „Phlogiston“ etwa.
236 achtet werden; neue zoologische Klassifikationen bringen neue Wahrheiten über bekannte Spezies mit sich; die soziologische Konzeptualisierung von sozialen Verhältnissen bringt für die darauf folgende Forschung die Möglichkeit mit sich, über bereits betrachtete Kollektive neue Wahrheiten zu entdecken, die bislang nicht entdeckbar waren, weil der begriffliche Rahmen nicht gegeben war. Diese neuen Wahrheiten hätten im alten Begriffsrahmen selbst mit genauester Beobachtung nicht entdeckt werden können, mit einem neuen Begriffsrahmen dagegen können sie sich dem Forscher geradezu aufdrängen. Unsere Möglichkeiten, immer neue objektive Darstellungen von längst Erforschtem zu geben und Altes neben Neues zu stellen (und natürlich auch immer wieder alte ‚Wahrheiten‘ als falsch zu erweisen) endet demnach erst mit dem Ende des Perspektivenwandels, mit der Lösung aller „Kulturprobleme“, kurz, mit dem Ende der Geschichte. Einem solchen Vorschlag wird gewiss der Einwand entgegengebracht, dass damit Objektivität „relativ“ geworden sei. Wenn damit gemeint sein sollte, dass die Korrespondenz unserer Propositionen mit den Tatsachen von unseren Begriffsrahmen abhängig ist (weil nur die Propositionen formuliert werden können, für die wir die begrifflichen Mittel besitzen), dann muss dem zugestimmt werden. Wenn damit gemeint sein sollte, dass damit alle Erkenntnis subjektiv und alle Wahrheiten Scheinwahrheiten sind, weil es nur eine Wahrheit geben kann – ein ‚Missverständnis‘, das zumindest billigend in Kauf genommen wird –, dann muss erneut darauf verwiesen werden, dass ein solcher Relativismus ausgeschlossen ist. Solange wir unsere Begriffsrahmen und die Aussagen, die auf ihnen basieren, ineinander übersetzen können, besteht immer die Möglichkeit, Aussagen zu überprüfen oder sich diskursiv über ihren Objektivitätsgrad rational auseinanderzusetzen. Darüber hinaus garantiert die sprachliche Sozialisation die gesuchte Stabilität der Zuordnung zwischen dem Begriffsschema (und seinem sprachlichen Ausdruck) und den Gegenständen und Sachverhalten in der Welt. Eine letzte Erläuterung ist an dieser Stelle darüber hinaus notwendig: Wenn hier davon gesprochen wird, dass Korrespondenz abhängig von Begriffsrahmen ist, dann ist damit eine epistemologische Konzeption vorgetragen. Damit ist nicht gemeint, dass die korrespondenztheoretische Expli-
237 kation des Wahrheitsbegriffs auf einmal um einen Zeit- oder Begriffsrahmenindex ergänzt werden müsste. Satzgehalte, die wahr sind, sind wahr und damit sind die Sachverhalte, die von ihnen ausgedrückt werden bestehende Sachverhalte, i. e. Tatsachen.295 Dieses zeitlose Verhältnis besteht eins zu eins; dies ist eine logisch-semantische Explikation des Wahrheitsbegriffs. Was dagegen den sozio-kulturellen Wandlungen unterworfen ist, ist unsere Fähigkeit, Propositionen zu formulieren und ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Erstere Fähigkeit modifiziert nicht den Wahrheitsgehalt einer Aussage, noch das eben ausgeführte logisch-semantische Verhältnis, das den Wahrheitsbegriff korrespondenztheoretisch expliziert. Diese Fähigkeit hat lediglich die oben skizzierte Relevanz, dass mit dem Lauf des sozio-kulturellen Begriffswandels und des (wissenschaftlichen) Erkenntnisfortschritts immer neue Begriffe zu Verfügung stehen, mit deren Hilfe wir Sachverhalte in neue, bislang nicht formulierbare Propositionen bringen können. Damit sind uns Sachverhalte und mit ihnen wiederum Wahrheiten zugänglich, die insofern neu sind, als sie uns bislang nicht zugänglich waren; ihren Wahrheitswert „wahr“ besitzen sie selbstverständlich zeitlos. Die Korrespondenz, die in diesem zeitlosen Wahrheitswert zum Ausdruck kommt, ist uns als endlichen Erkenntnissubjekten wiederum nur zugänglich, indem wir kognitiv zur Welt stehen. Dieser kognitive Zugang zur Welt unterliegt seinerseits wieder gewissen sozio-kulturellen Wandlungen und zwar in dem Sinn, dass wir bestimmte Methoden, den Wahrheitsgehalt einer Proposition zu überprüfen und zu rechtfertigen, für besser oder schlechter ansehen. Auch diese Wandlungsfähigkeit insbesondere der wissenschaftlichen Methode bringt, absichtlich lax formuliert, ,neue Tatsachen‘ nur insofern in die Welt, als Propositionen auf andere Weise auf ihren zeitlosen Wahrheitsgehalt überprüft werden und entsprechend ihren Wahrheitswert ,ändern‘ (oder eben auch nicht). Das heißt, dass sich der Wahrheitswert einer Proposition für uns ändert, aber 295 Das ist die ontologische Seite der korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffs. Und das ist natürlich auch der Witz an unserer Suche nach Wahrheit. Wahrheit wird ja in der Regel nicht gesucht, um Wahrheit zu besitzen, sondern um zu wissen, wie die Welt beschaffen ist, d. h. wer eine (gesichert) wahre Aussage in Händen hält, ist damit ontologisch aufgeklärt. Die Welt ist so, wie die wahre Aussage sagt.
238 nicht in einem logisch-semantischen Sinn, sondern in einem epistemischen Sinn. Eine Gottesperspektive würde diesem Wandel nicht unterliegen. Wenn also der Standort des Historikers Einfluss auf den Wahrheitswert einer Aussage oder, wie es für die Geschichtswissenschaft besser angesetzt ist, einer Narration, also auf ihre Korrespondenz oder Nicht-Korrespondenz und damit letztlich ihre Objektivität hat, dann ist damit nicht eine Wandlung des zeitlosen logisch-semantischen Verhältnisses zwischen Aussagen und Ausgesagtem, sondern unseres Zugangs zu diesem Verhältnis gemeint. Für die Gottesperspektive gibt es diesen Wandel nicht, weil ein Wesen, das die (für uns Menschen), mit Kutschera zu reden, „falsche Objektivität“ tatsächlich besitzt, über restlos alle zeitlosen Wahrheiten verfügt, die sich nicht-göttliche Wesen immer nur partiell und immer nur unter der epistemologischen Restriktion einer dräuenden Revision und mit Hilfe kontinuierlich modifizierbarer wie modifizierungsbedürftiger Begriffsrahmen erarbeiten müssen. Damit geht die Bedeutung des sozio-kulturell konstituierten Standorts des Historikers über die Funktion hinaus, die – nach dem nicht-konstruktionistischen Perspektivismus – nur darin besteht, Relevanzkriterien, also gleichsam den Filter, für bestimmte Tatsachen in Form eines Erkenntnisinteresses zu liefern. Die Abhängigkeit historischer Objektivität ist in diesem Zusammenhang vom Wandel der Begriffsrahmen (und damit: vom Ontologiewandel) und ebenfalls wandelbaren Standards wissenschaftlicher Rechtfertigung von Korrespondenzansprüchen tiefer im Standort des Erkenntnissubjekts verankert, als es das bloße Beschaffen eines Erkenntnisinteresses vorsieht.
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5.4.2 Die Elemente des Standortes und ihr Einfluss auf his torische Erkenntnis Der Standort des Historikers setzt sich aus bestimmten Überzeugungen zusammen, die ihren Ausdruck in den verschiedensten Begriffsrahmen finden. Begriffsrahmen sind stabile, wenngleich wandelbare interne Zuordnungen von Begriffen zu Gegenständen. Sie geben die Möglichkeiten an die Hand, Gegenstände und ihre Eigenschaften zu identifizieren. Sie sind daher ‚ontologisch aufgeladen‘, das heißt, was der Begriffsrahmen zu einem Zeitpunkt t1 nicht als Gegenstand zu identifizieren erlaubt oder als Eigenschaft kennt, das kann nicht als Gegenstand oder dessen Eigenschaft kognitiv-sprachlich erfasst werden. Zu einem späteren Zeitpunkt t2 kann der Wandel der Begriffsrahmen (und der Überzeugungen des Erkenntnissubjekts) eine neue Ontologie, neue Gegenstände und Eigenschaften identifizieren lassen. Der Zugang zu Sachverhalten findet ausschließlich über diese Begriffsrahmen statt. Sachverhalte werden probeweise in Propositionen zusammengestellt und je nach Übereinstimmung mit den übrigen Überzeugungen auf ihre Korrespondenz hin eingeschätzt. Auf diese Weise ist es möglich, Korrespondenz mit Standortgebundenheit in Einklang zu bringen, weil so erklärt werden kann, wie der Standort immer neue narrative Redeskriptionen hervorbringen kann, ohne damit gleichzeitig alte Narrationen als falsch verwerfen zu müssen. Die ihrerseits historische Wandlung des Überzeugungssystems (i. e. des Standortes) bringt die Wandlung der Begriffsrahmen mit sich. Dadurch wiederum werden bestimmte neue Gegenstände identifizierbar und neue Eigenschaften erkennbar. Zum Teil werden alte Gegenstände und ihre Eigenschaften als ontologisch überholt betrachtet werden müssen, zum Teil wird die alte Ontologie angereichert werden, folglich gehen Ergänzungen mit Ersetzungen einher. Freilich handelt es sich bei verschiedenen Begriffsrahmen, mit denen die Möglichkeit einhergeht, ‚neue‘ Wahrheiten zu entdecken und zu formulie-
240 ren, um den Extremfall historischer Perspektivität. Perspektivische Effekte kommen selbstverständlich auch dann zustande, wenn Historiker sich einen (oder mehrere) Begriffsrahmen teilen, sprich, von der Nützlichkeit eines bestimmten Begriffsrahmens (etwa dem der Psychologie oder dem der Ökonomie) für ihre konkrete Fragestellung überzeugt sind, aber in ihrem Erkenntnisinteresse divergieren oder eine andere Quellenselektion vornehmen u. a. In einem Kontinuum historischer Perspektivitätsbedingungen stellen die Divergenzen durch differierende Begriffsrahmen den Pol maximaler Perspektivendivergenz dar, während etwa divergierende Erkenntnisinteressen ceteris paribus keinen derart fundamentalen Perspektivenwandel hervorbringen. Zwischen diesen beiden Polen liegen die weiteren Bedingungen historischer Perspektivität wie unterschiedliche Methodologie, theoretische Vorannahmen oder auch Quellenselektion und -interpretation. Diese Zusammenfassung der Ergebnisse des letzten Abschnitts sollen als Hintergrund und theoretische Voraussetzung für eine Skizze der Wirkungsweise der Perspektive des Historikers dienen. Zu diesem Zweck werden – was wiederum nur in Grundzügen geschehen kann – diverse Elemente des bislang lediglich abstrakt als Überzeugungssystem charakterisierten Standortes in ihrer Wirkungsweise auf die historische Erkenntnisgewinnung dargestellt werden. Dabei soll sich auch zeigen, dass die Bezeichnung „historischer Konstruktionismus“ für diese Konzeption insofern angemessen ist, als der Historiker (durch seine Perspektive) durchaus (und im Gegensatz zum eventuell entstandenen Eindruck) aktiv Anteil an der Erkenntnisgewinnung hat und kein bloßes Durchlaufmedium ist. Dies soll auf vier Ebenen gezeigt werden: (1) Die Konstruktion von historischen Individuen als Gegenstände der Geschichte und als Protagonisten historischer Narrationen (5.4.2.1); (2) die Ebene der Narrationsbildung, die zugleich die ‚Tatsachenkonstruktion‘ mitumfasst (5.4.2.2); (3) die Ebene der theoretischen Vorannahmen, der Werte, des Erkenntnisinteresses und der Metaerzählungen (5.4.2.3); (4) die Ebene der Metareflexion auf die verschiedensten Elemente des Standortes, wie etwa Methoden, Erkenntnisinteresse, Begrifflichkeiten etc. (5.4.2.4).
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5.4.2.1 Die Konstruktion historischer Individuen
Der Standort des Historikers wirkt zunächst über die Konstruktion historischer Individuen im Weberschen Sinn.296 Der Historiker segmentiert durch die Konstruktion historischer Individuen den unendlichen Fluss vergangener Ereignisse. In erster Linie erreicht er die Segmentierung, indem er durch die Konstruktion historischer Individuen festlegt, was Gegenstand der Untersuchung werden kann, was also ein historischer Gegenstand ist – er konstruiert also das, was der Gegenstand der Narration, sprich, ihr ‚Protagonist‘ ist. Weber stellt sich diesen Vorgang folgendermaßen vor: Historische Individuen sind die Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit, den hiatus irrationalis zu überwinden, der zwischen den Ereignissen und der begrifflich-kognitiven Erfassung der Realität klafft.297 Die Naturwissenschaften überbrücken den hiatus irrationalis, indem sie sich auf quantifizierbare Begriffe und Gesetze spezialisieren, die auf möglichst viele Gegenstände zutreffen sollen. Die Naturwissenschaften zielen dabei auf die (möglichst restlose) Subsumption dieser Gegenstände unter Gesetze oder Gesetzmäßigkeiten ab.298 Die Kulturwissenschaften hingegen seien auf die konkrete Realität eines Gegenstandes konzentriert, das heißt, sie sind an den „individual and qualitative properties [of reality] as such“299 interessiert. Sie sind „Wirklichkeitswissenschaften“, weil sie ihr Augenmerk auf diese konkrete, qualitative Beschaffenheit singulärer Gegenstände und deren kausa296 Auf Webers Theorie kulturwissenschaftlicher Gegenstandskonstruktion soll hier zurückgegriffen werden, weil sie meiner Kenntnis nach die elaborierteste und avancierteste Theorie ist, die sich mit der perspektivischen Erschaffung von historischen Individuen auseinandersetzt; und in diesem Zusammenhang ist gerade Webers Betonung von einerseits subjektiven Voraussetzungen bei gleichzeitiger kulturwissenschaftlicher Objektivität andererseits von besonderem Reiz für die vorliegende Arbeit. 297 Zum hiatus irrationalis vgl. 4.2.1 und dort insb. Anm. 204. 298 OA, 171 f. 299 Oakes 1988, 22 f.
242 ler Genese richten.300 Wie kann aber aus der unendlichen Mannigfaltigkeit der Realität ein Phänomen ausgewählt werden, wenn nicht einmal die Möglichkeit besteht, mit der Vielzahl der Phänomene durch Subsumption unter „generelle Begriffe“ fertig zu werden, wie dies die Naturwissenschaften anstreben und partiell auch verwirklichen können? Anders formuliert: Was lässt eine Vielzahl von Phänomenen zu einem Gegenstand kulturwissenschaftlicher Untersuchung werden? Die Antwort gibt Weber bereits an früher Stelle in der WL: „In allen diesen Fällen [sc. kausal bedingter, historisch folgenreicher, psychisch wie nicht-psychisch bedingter Ereignisse und Prozesse] ist [..] der Sinn, den wir den Erscheinungen beilegen, d. h. die Beziehung auf ‚Werte‘, die wir vollziehen, dasjenige, was der ‚Ableitung‘ aus den ‚Elementen‘ als prinzipiell heterogenes und disparates Moment die Pfade kreuzt. Diese ‚unsere‘ Beziehung ‚psychischer‘ Hergänge auf Werte, [...] vollzieht eben die ‚schöpferische Synthese‘.“301 Wie geht diese Auswahl und Synthese vor sich? Für Weber besteht die kategoriale Differenz der Kulturwissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften einzig im „deutenden Verstehen“ – alle anderen Optionen, ein spezifisches Merkmal der Kulturwissenschaften vorzulegen, scheitern nach Webers Ansicht. Deutendes Verstehen kann dreierlei bedeuten: (1) „Anregung zu einer bestimmten gefühlsmäßigen Stellungnahme“ – dann sei sie „Zumutung zum Vollzug einer Wertung“; (2) „Zumutung eines Urteils im Sinn der Bejahung eines realen Zusammenhanges als eines gültig ‚verstandenen‘“ – „dann ist sie [...] kausal erkennende ‚Deutung‘“; (3) zwischen beiden liegt die, später so genannte, „Wertinterpretation“.302 Letztere ist 300 Roscher-Aufsatz, 113; vgl. auch OA, 171 ff. 301 Roscher-Aufsatz, 54. Vgl. OA, 175: „Die Bedeutung der Gestaltung einer Kulturerscheinung und der Grund dieser Bedeutung kann aber aus keinem noch so vollkommenen System von Gesetzesbegriffen entnommen, begründet und verständlich gemacht werden, denn sie setzt die Beziehung der Kulturerscheinungen auf Wertideen voraus.“ „Was aber Bedeutung hat, das ist natürlich durch keine ‚voraussetzungslose‘ Untersuchung des empirisch Gegebenen zu erschließen, sondern seine Feststellung ist Voraussetzung dafür, daß etwas Gegenstand der Untersuchung wird.“ (OA, 175 f.) 302 Roscher-Aufsatz, 89.
243 weder eine Wertung wie in Fall (1) noch ist sie eine kausale Kategorie wie im Fall (2). Die Wertinterpretation, die in den späteren Kritischen Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik von zentraler Bedeutung sein wird, bereitet lediglich das deutende Verstehen vor, indem sie „mögliche Wertbeziehungen eines Objekts“ herausarbeitet. Die Wertinterpretation ist es, die das historische Individuum vorbereitet, in dem sich dann die „Synthese“ vollzieht, welche die Voraussetzung eines jeden Deutens bzw. Verstehens ist, weil durch sie erst die Gegenstände konstituiert werden, die gedeutet bzw. verstanden werden sollen. Bevor auf die Konstruktion historischer Individuen durch Wertinterpretation und Wertbeziehung näher eingegangen werden kann, muss die Kategorie des historischen Individuums in ihrer Funktionalität charakterisiert werden. Dies geschieht bereits im Roscher-Aufsatz, allerdings noch unter der Bezeichnung „Dingbegriff“. Ein Dingbegriff bringe eine „künstliche Einheit“ hervor. Es handle sich bei dieser Einheit um ein Objekt, das „empirisch ‚Anschauliches‘ “ enthält, aber aus der „gegebenen Mannigfaltigkeit“ ausgewählt worden sei. Diese Auswahl entstehe „mit Bezug auf bestimmte Forschungszwecke ‚Wesentliche[s]‘ “. Es handle sich also um ein „Denkprodukt [..] von nur ‚funktioneller‘ Beziehung zum ‚Gegebenen‘ “. Hier liege einer der Gründe dafür vor, dass die Geschichte niemals „Reproduktion von empirischen Anschauungen“ oder „ein Abbild früherer Erlebungen“ sein könne, denn ohne Verwendung dieser Dingbegriffe im historischen Erkenntnisprozess (oder in irgendeinem anderen Erkenntnisprozess) würde es sich um ein nochmaliges Nacherleben und nicht um ein Erkennen handeln. Solange Erkenntnis das Ziel ist, arbeiten wir mit Urteilen, die ihrerseits „logische Operationen“ voraussetzen, gleichgültig um welche Wissenschaft es sich auch handeln mag.303 Erst wenn wir etabliert haben, was erkannt und erklärt werden soll, können wir mit unserer (kausalen) Deutung beginnen. Bevor wir nicht diese Voraussetzung geschaffen haben, ist uns keine Erkenntnis möglich, weil wir die „unendliche Mannigfaltigkeit“ ja nicht einfach abbildend erfassen können, wie dies eine „voraussetzungslose Wissenschaft“ implizieren wür303 Roscher-Aufsatz, 109 f.
244 de.304 Es gebe eben nun einmal „keinerlei in den Dingen selbst liegendes Merkmal, einen Teil von ihnen [sc. der Ursachen eines individuellen Gegenstandes] als allein in Betracht kommend auszusondern“.305 Die Gesichtspunkte, die die Unendlichkeit des Stoffes überwinden, indem sie ihn gliedern und aus dieser Gliederung Elemente selegieren, können nicht dem Stoff selbst entnommen werden – sie sind das Ergebnis unserer Wertideen, die uns Phänomene erst zu Kulturerscheinungen werden lassen, weil Kultur, nach Weber, aus unserer anthropologischen Ausstattung stammt, zu irgendetwas Stellung zu nehmen. Stellung nehmen bedeutet, es mit Sinn/Bedeutung zu versehen, und dies wiederum kann nur geschehen, wenn wir von Werten ausgehen.306 Historische Individuen sind also die Gegenstände der Wirklichkeitswissenschaft und als solche Begriffe für individuelle, in ihrer Eigenart zu begreifende und dabei in ihrer kausalen Genese zu verstehende Gegenstände der Wissenschaft. Als Gegenstände der Wissenschaft kommen sie jedoch erst durch die begriffliche Synthese zustande, mit der die sinnlose Mannigfaltigkeit allein überwunden werden kann. Wie geht diese Synthese genauer vor sich, das heißt, wie läuft die Wertinterpretation ab, aus der das historische Individuum hervorgeht? Die „wertbeziehende Interpretation“ ist von zentraler Bedeutung für die Gegenstandskonstruktion und für die an sie anschließende kausale Deutung wie auch für den objektiven Charakter der Geschichtswissenschaft überhaupt. Denn sie ist es, welche die Gegenstände aus dem Bereich des Gefühlten in den Bereich des Urteils und der logischen Bearbeitung heraushebt. Sie erst legt die Grundlage für genuine Erkenntnisansprüche, die schließlich auf den Geltungsansprüchen von Urteilen basieren. Die „wertbeziehende Interpretation“ sei nicht „Bestandteil einer [...] rein empirisch-historischen – d. h. konkrete, ‚historische Individuen‘ zu konkreten Tatsachen zurechnenden – Darstellung, sondern vielmehr [...] Formung des ‚historischen Indivi304 OA, 177. 305 OA, 177. Das Ergebnis „voraussetzungsloser Wissenschaft“ wäre ein „Chaos von ‚Existenzialurteilen‘ “, ja nicht einmal dies, weil „die Wirklichkeit jeder einzelnen Wahrnehmung bei näherem Hinsehen ja stets unendlich viele Bestandteile [zeigt], die nie erschöpfend in Wahrnehmungsurteilen ausgesprochen werden können.“ 306 OA, 181.
245 duums‘ “.307 Die Wertinterpretation ist eine geschichtsphilosophische Leistung, die der historischen Erklärung vorausgeht, weil sie allererst zeigt, welche „Werte“ in einem Objekt „verwirklicht“ sein können und welche wir dann in einzigartiger, also individueller Form in den Objekten auch tatsächlich vorfinden. Das bedeutet, dass die Wertinterpretation das, „was wir dunkel und unbestimmt ‚fühlen‘, entfalte[t] und in das Licht des artikulierten ‚Wertens‘ erheb[t]“. Damit ist nicht gemeint, dass das Objekt bewertet wird, sondern, dass sie „Möglichkeiten von Wertbeziehungen des Objektes“ „analysierend ‚suggeriert‘ “.308 Es gehe darum, „uns eben die möglichen ‚Standpunkte‘ und ‚Angriffspunkte‘ der ‚Wertung‘ aufzudecken“. Teil dieser „Wertanalyse“ muss aber die historische Situation sein, in der das betreffende Objekt entstanden ist. Damit wird die Wertinterpretation zur „Wegweiserin“ der kausal-historischen Deutung.309 Erst indem die verschiedenen Wertbeziehungen aufgewiesen werden, kann die kausale Deutung, i. e. der Nachvollzug der historisch-genetischen Entstehung des dann herausgegriffenen Aspekts des Objekts, überhaupt erst sinnvoll beginnen: „Die Analyse jener [sc. der Wertinterpretation] wies die ‚gewerteten‘ Bestandteile des Objekts auf, deren kausale ‚Erklärung‘ das Problem dieser [sc. der kausalen Deutung] ist, jene schuf die Anknüpfungspunkte, an denen der kausale Regressus sich anspinnt, und gab ihm so die entscheidenden ‚Gesichtspunkte‘ mit auf den Weg, ohne welche er ja ohne Kompaß ins Uferlose steuern müßte.“310 Erst die singuläre Wertinstantiierung in einem Objekt macht dieses zu einem historischen Individuum und das bedeutet, zu einem „Objekt historischer ‚Erklärung‘ “.311 Weber gesteht zu, dass die Wertinterpretation irreduzibel „subjektivistisch“ist.312 Die Gegenstandskonstituierung ist von den jeweils im Histori307 308 309 310 311 312
Roscher-Aufsatz, 122. Kritische Studien, 245 f. Kritische Studien, 250 f. Kritische Studien, 251. Roscher-Aufsatz, 122. „Sie [sc. die „wertbeziehende Interpretation“] ist in der Tat ‚subjektivierend‘, wenn nämlich darunter verstanden wird, daß die ‚Geltung‘ jener Werte selbstverständlich von uns niemals im Sinn einer Geltung als empirischer ‚Tatsache‘ ge-
246 ker anzutreffenden Werten abhängig. Nur die Werte, die er kennt, ob er sie nun ablehnt oder anerkennt, kann er auch im Objekt ‚entdecken‘. Und aus dieser „subjektiv“ limitierten Auswahl selegiert er erneut einen oder mehrere Wertgesichtspunkte, aus dem bzw. aus denen die historischen Individuen synthetisiert werden. An dieser Stelle tritt uns das Objektivitätsproblem entgegen, denn die „kulturwissenschaftliche Erkenntnis in unserem Sinn ist also insofern an ‚subjektive“ Voraussetzungen gebunden, als sie sich nur um diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit kümmert, welche eine – noch so indirekte – Beziehung zu Vorgängen haben, denen wir Kulturbedeutung beilegen“313. Empirische Wissenschaften setzen logische Operationen voraus, die wiederum auf begriffliche Arbeit – zunächst und vor allem auf historische Individuen als Gegenstandssynthesen – notwendig angewiesen sind. Nun ist diese begriffliche Arbeit kein unkontrollierter Prozess, sondern eine mal mehr, mal weniger gelenkte Leistung des Erkenntnissubjekts. Der ‚Stoff‘, das ‚Material‘ gibt uns nicht unsere Begriffe und unsere Erkenntnisse vor, sondern wir synthetisieren aus dem ‚Gegebenen‘ Gegenstände heraus – und dies nicht einfach kontingenterweise oder weil wir uns dann und wann dafür, manchmal aber auch dagegen entscheiden könnten, sondern weil wir gar keine andere Möglichkeit haben, kulturwissenschaftliche Erkenntnis, also begriffsverwendende Urteile, zu erlangen. Dass diese Wertideen „subjektiv“ sind, gesteht Weber zu.314 Aber daraus folge nicht, dass die Kulturwissenschaft nur „subjektive“ Ergebnisse hervorbringe, denn in der Methode, i. e. der Anwendung der „begrifflichen Hilfsmittel“, sei – im Gegensatz zur Abhängigkeit der Gegenstandkonstituierung und der Selektion von Ursachen von „Wertideen“, wie auch der Bildung von „begrifflichen Hilfsmitteln“ (i. e. Idealtypen) von den „Gesichtspunkten“ – der Forscher an die „Normen unseres Denkens gebunden“, die für alle gelten, die „Wahrheit wollen“.315 Ob diese Normen nun tatsächlich für alle gelten, ist, abgesehen von einimeint sein kann.“ (Roscher-Aufsatz, 122) 313 OA, 182. 314 OA, 183. 315 OA, 184.
247 gen basalen logischen Gesetzen, durchaus zu bezweifeln. Webers Verweis auf sie sollte besser durch die oben skizzierten Restriktionen der konstruktiven Willkür des Historikers ersetzt werden. Grundsätzlich jedoch muss sich jeder konstruktionistische Versuch einer Vereinbarung von Standortgebundenheit („subjektiven Einflüssen“ mit Weber) mit Objektivität der Herausforderung stellen, der individuellen (und auch kollektiven) Konstruktionswillkür Restriktionen aufzuerlegen. Andernfalls wäre der Einwand, ob es sich bei solcherart begrifflichen Konstruktionen nicht um eine illegitime Aufoktroyierung anachronistischer Begriffe handelte,316 tatsächlich schlagend. Eine ausgearbeitete konstruktionistische Theorie müsste hier eingehend und sorgfältig argumentieren (eingehender und sorgfältiger als es hier die knappen Grundzüge erlauben). Obschon damit die Grundlage kulturwissenschaftlicher Gegenstandkonstituierung „subjektivistisch“ ist, hebt die wertbeziehende Interpretation historische Erkenntnis erst in den Rang potentiell objektiver Erkenntnis, weil die wertbeziehende Interpretation propositional ist, während das wertende Nacherleben oder Nachvollziehen eine rein emotionale Angelegenheit bleibt. Da auch für Weber Objektivität der Erkenntnis zukommt, ist die Satzförmigkeit notwendige Bedingung von Objektivität,317 und damit ist die subjektivistische Wertinterpretation notwendige Bedingung von Objektivität. Grundlage der Wertinterpretation bleiben aber die jeweiligen Werte des Kulturwissenschaftlers, die er im ersten Schritt überhaupt erst potentiell dem Gegenstand zuschreiben kann und die er dann, im zweiten Schritt, im Gegenstand aktualisiert findet. Erst wenn er eine individuelle Konstellation der Wertverwirklichung in einem Objekt vorgefunden hat, ist er im Besitz eines „historischen Individuums“, das Objekt seiner historischen Erklärung ist. Aber: Die Zurechnung von Ursachen zu historischen Individuen „wird mit dem prinzipiellen Ziel vorgenommen, ‚objektiv‘ als Erfahrungswahrheit gültig zu sein mit derselben Unbedingtheit wie irgendwelche Erfahrungserkenntnis überhaupt, und nur die Zulänglichkeit des Materials entscheidet über die, nicht logische, sondern nur faktische Frage, ob 316 Vgl. Abs. 3.1. 317 Roscher-Aufsatz, 123. Vgl. die etwas ausführlichere Parallelstelle in Kritische Studien, 252 f.
248 sie dies Ziel erreicht, ganz ebenso wie dies auf dem Gebiet der Erklärung des konkreten Naturvorgangs der Fall ist. ‚Subjektiv‘ in einem bestimmten Sinn ist nicht die Feststellung der historischen ‚Ursachen‘ bei gegebenem Erklärungs-‚Objekt‘, sondern die Abgrenzung des historischen ‚Objektes‘, des ‚Individuums‘ selbst, denn hier entscheiden Wertbeziehungen, deren ‚Auffassung‘ dem historischen Wandel unterworfen ist.“318 Weber legt damit eine Theorie historischer Gegenstandskonstruktion vor, welche die Unverzichtbarkeit des Standortes in der Überbrückung des hiatus irrationalis fundiert. Hier muss das Besondere an dieser Problemanalyse für die vorliegende Arbeit hervorgehoben werden. Weber stellt nicht einfach auf die Unendlichkeit der Ursachen eines Ereignisses ab, die uns dazu zwingt, Ursachen oder Bedingungen zu selegieren. (Eine Argumentation, die häufig anzutreffen ist, wenn es darum geht, die Perspektivität historischer Erkenntnis zu belegen.) Dass jeder Historiker dies tun muss und dass dieser Selektionszwang aufgrund unendlicher Kausalreihen von vornherein jeden Abspiegelungsanspruch zunichte macht, wird zwar auch von Weber in den Passagen zur Gegenstandskonstruktion angegeben. Darin allerdings erschöpft sich Webers Argumentation nicht. Weber setzt die Notwendigkeit historischer Perspektivität tiefer an. Um Ursachenselektion überhaupt erst betreiben zu können, müssen wir aus den begrifflich noch gar nicht adäquat bearbeiteten Daten erst Gegenstände herauspräparieren. Erst dann sind wir dazu in der Lage, überhaupt sinnvoll Ereignisse aus der Unendlichkeit potentieller und faktisch kausal relevanter Bedingungen auszuwählen. Ohne die auf „subjektiven“ Voraussetzungen basierende Gegenstandsbildung gibt es gar kein Kriterium dafür, was Ursache sein kann. Anders formuliert: Ohne das Explanandum konstruiert zu haben, kann kein Explanans aufgesucht werden. Aber auch diese Ebene der Explanandumskonstruktion stellt noch nicht die basalste Schicht dar, auf welcher der Standort des Historikers einschlägig an der Gegenstandskonstruktion beteiligt ist. Die kognitive Verarbei318 Kritische Studien, 261. Vgl. OA, 184: „Endlos wälzt sich der Strom des unermeßlichen Geschehens der Ewigkeit entgegen. Immer neu und anders bilden sich die Kulturprobleme, welche die Menschen bewegen, flüssig bleibt, [sic] damit der Umkreis dessen, was aus jenem stets gleich unendlichen Strome des Individuellen Sinn und Bedeutung für uns erhält, ‚historisches Individuum‘ wird.“
249 tung unstrukturierter Datenmengen kann nur begrifflich vor sich gehen – das gilt, laut Weber, sowohl für die Kultur- als auch für die Naturwissenschaften. Beide müssen Begriffe entwickeln, mit deren Hilfe Daten strukturiert werden können. Die Naturwissenschaften sind dazu in der Lage, generelle Begriffe zu entwickeln, unter die weitere Individuen subsumiert werde können,319 die Kulturwissenschaften dagegen müssen auf ihre wertinduzierten Gegenstandsbegriffe zurückgreifen. Sie haben keine andere Möglichkeit, Gegenstandsbegriffe zu bilden. Ohne Gegenstandsbegriffe haben die Kulturwissenschaften aber keine Möglichkeit, Erkenntnis zu erlangen, denn ohne sie fehlt ihnen die Fähigkeit, propositional zu werden. Ohne standortabhängige Gegenstandskonstruktion gibt es keine Möglichkeit, Propositionen zu bilden und damit Erkenntnis zu erlangen. Ob die kulturwissenschaftlich-historische Gegenstandskonstruktion nun genau so vor sich gehen muss, wie Weber dies konzipiert hat, kann durchaus in Einzelheiten bezweifelt werden.320 Immerhin liegt aber in Webers 319 Ob dies für die Naturwissenschaften genau so zutrifft, mag dahingestellt bleiben. 320 Zum einen kann bezweifelt werden, ob „singuläre Begriffe“ nicht eine contradictio in adiecto sind und damit Webers WL in ihrem semantischen Kern bereits flugunfähig ist, bevor sie überhaupt die Flügel ausbreiten konnte. Zum anderen kann und muss weiter gefragt werden, woher die Werte kommen, die nun an dieser fundamentalen Stelle in Webers Theorie so prominent fungieren. Einen Wertobjektivismus vertritt Weber dezidiert nicht. Für ihn können Werte nur existentiell-dezisionistisch angenommen oder abgelehnt werden. Einem (wissenschaftlichen) Beweis für die Geltung eines Wertes gegenüber einem anderen steht Weber mehr als nur skeptisch gegenüber – jeder müsse eben selbst den Dämon finden, der seines Lebens Fäden in Händen hält. Damit würde, denkt man diesen Ansatz weiter, jede historische Narration ihren Ausgang (ihr Explanandum) und sicherlich auch einiges an explanatorischem Material (die Explanantia) von einem restlos subjektiven Fundament aus erfolgen, was es mit sich bringen würde, dass sich die fachdisziplinäre Auseinandersetzung nicht mehr um objektiv und nicht-objektiv oder wahr und falsch oder Beweis und Nicht-Beweis drehen würde, sondern lediglich um die evaluative Zurückweisung von Gegenstandskonstruktionen – womit eine sehr enge Analogie zu Ankersmits Schlussfolgerung bestehen würde, dass der Streit über den Objektivitätsgehalt historischer Narrationen sinnlos sei, weil ja ohnehin alle Narrationen analytisch wahr seien, jeder also seine eigene Definition einer narrative Substanz vorlegt, sobald er eine historische Narration vorlegt. Man kann mit einigem Recht skeptisch sein, ob Webers Theorie einer
250 WL ein recht detailliert ausgearbeiteter Vorschlag verborgen, an den sich anknüpfen und der sich ausarbeiten und verbessern ließe. An ihm sollte sich jeder konstruktionistische Versuch abarbeiten, Standortgebundenheit mit Objektivität zu vereinbaren. Hier soll aber nur auf einige Punkte aufmerksam gemacht werden, die in Webers „Wissenschaftslehre“ keine Aufmerksamkeit erhalten haben. Sind solche Gegenstandkonstruktionen vielfach Konstruktionen des Historikers, so sind sie mindestens ebenso häufig auch Importe aus Nachbardisziplinen oder aus Begriffsrahmen und Gegenstandssytemen des Alltags. Das Mittelalter als Periode ist eine historische Konstruktion, der „Westfälische Frieden“ oder der „Vertrag von Versailles“ dagegen sind Importe aus den politischen, diplomatischen und vielleicht auch publizistischen Bereichen allgemeinmenschlicher oder kulturspezifischer Gegenstandskonstruktion. Das bedeutet allerdings nicht, dass diese Importe keiner begrifflichen Modifikation unterworfen werden können. Ein Historiker übernimmt vielleicht die Bezeichnung „Friede“ aus den diplomatischen Noten der damals an der Aushandlung des „Westfälischen Friedens“ beteiligten Staatsmänner und Unterhändler, die Qualifikation der damals ausgetauschten und festgehaltenen Sprechakte als eines tatsächlichen Friedens kann der Historiker qua Historiker, i. e. Kenner der vergangenen Zukunft der damals Beteiligten, jedoch nach Maßgabe seiner Auffassung dessen, was „Frieden“ bedeutet, korrigieren oder bestätigen. Denn es wäre immerhin denkbar, dass damals zwar jede der beteiligten Kriegsparteien guten Gewissens einen Frieden schließen wollte, die Kampfhandlungen jedoch kein wirkliches Ende gefunden hätten. Nach Maßgabe dessen, was die begriffliche Implikation des Begriffs „Frieden“ im einschlägigen Begriffsrahmen des derartigen Konsequenz wirklich entkommen kann, ohne objektive Werte anzunehmen (wie etwa Rickert [vgl. dazu die ersten beiden Kapitel aus Burger 1987]) oder sich, wie das hier geschehen soll auf die begrifflichen und doxastischen Restriktionen zu berufen, welche die Begriffsrahmen respektive das Überzeugungssystem mit sich bringen. Eine durchgeführte Dienstbarmachung von Webers WL müsste detaillierter herausarbeiten, wo sowohl der (wertinduzierten) Gegenstandskonstruktion als auch der verstehenden Deutung Grenzen gesetzt sind, die der Historiker nicht mehr überschreiten kann, ohne nur noch zu sich selbst zu sprechen.
251 Historikers ist, handelte es sich dann um keinen wirklichen Frieden. Der Gegenstandsimport „(Westfälischer) Friede“ würde, nach dem Begriffsrahmen des Historikers also auf keinen wirklichen Gegenstand, auf kein genuines Segment der Geschichte referieren. Erst die historische Retrospektion zusammen mit den gegenwärtigen Begriffsrahmen des Historikers erlauben es, die Geschichte mit historischen Individuen zu bevölkern. Teil der Perspektive sind demnach immer auch begriffliche Neuerungen (und damit: Gegenstandskonstruktionen) der Nachbardisziplinen und der Alltagssprache. Mit dem Wandel der dort beheimateten Begriffsrahmen können sich auch die Begriffsrahmen und damit die Ontologie der Geschichte wandeln.321 Und dass sich andere Wissenschaften nicht nur in Form eines Erkenntniszugewinns, sondern auch methodisch-begrifflich wandeln, wird wohl kaum in Abrede gestellt werden können. Ebenso wenig wird in Abrede gestellt werden können, dass sich die Begriffsrahmen der Geschichte wandeln.
5.4.2.2 Die Narrationsbildung
Ist aber erst einmal ein Gegenstand der Betrachtung konstruiert oder importiert, steht der Historiker vor der Aufgabe, eine Narration zu konstruieren, um den historischen Wandel des konstruierten historischen Individuums über einen bestimmten Zeitraum hinweg zu verfolgen. Dass mit der standortabhängigen Konstruktion des Protagonisten einer historischen Narration bereits die Perspektive des Historikers notwendig ins Spiel kommt, ist gezeigt worden, aber auch auf der Narrationsebene selbst wird deutlich, dass historische Erkenntnis nicht ohne Perspektive möglich ist. Wie dieser „subjektive“ Einfluss in diesem Zusammenhang aussieht, wird hier kurz 321 Jedem, der näher mit der Entwicklung der Gesellschafts- oder Sozialgeschichte vertraut ist, wird die ungeheure Bedeutung soziologischer Begriffs- und Theoriebildung für diese Gattung der Geschichtswissenschaft vertraut sein.
252 skizziert. Dazu werden einige Elemente des minimalistischen Narrativismus verwendet werden müssen. Patzig hat gegen eine korrespondenztheoretisch aufgefasste Objektivität zu bedenken gegeben, dass Abbildung gut und schön sei, Wissenschaft aber eben nicht an allen möglichen trivialen Wahrheiten interessiert sei, sondern nur an einigen ausgesuchten.322 Es müsse also ein Relevanzkriterium für die jeweiligen Wahrheiten geben, die dargestellt werden. Genau diese Leistung kann ausschließlich von einer perspektivischen Geschichtstheorie erbracht werden, und hier ist es die minimalistische Narrationstheorie, die über die narrative Kohärenz ein Relevanzkriterium für historische Erkenntnis beisteuert.323 Narrative Kohärenz, so wurde im dritten Kapitel gesagt, entsteht dadurch, dass die Eigenschaftsveränderung eines historischen Individuums als Protagonisten der historischen Narration als Kriterium dafür hergenommen wird, welche der Aussagen, die potentiell für eine narrative Integration zur Verfügung stehen, in eine Narration aufgenommen werden können. Ihre Funktion als Elemente der Beschreibung einer Eigenschaftsveränderung und der interaktionelle Zusammenhang, in dem sie untereinander stehen, ‚verklammert‘ diese Aussagen zu einer Narration. Die Abhängigkeit des historischen Individuums vom konstruktiven Beitrag des Historikers ist gezeigt worden. Inwiefern aber – ist der Protagonist erst einmal konstruiert – geht die Perspektive des Historikers auch in die Narrationsbildung mit ein? Genuine Geschichtsschreibung liegt erst dann vor, wenn der Historiker auf Ereignisse zurückblicken kann. So trivial dies scheinen mag, so folgenreich ist diese Binsenwahrheit. Sein Blick auf die Ereignisse, die er darstellen möchte, wird nicht nur von den Ereignissen bestimmt, die diesem Ereignis vorangegangen sind, sie werden ebenso von den Ereignissen bestimmt, die ihm nachgefolgt sind. Historische Darstellungen sind erst dann genuin historisch, wenn ein Ereignis mit Bezug auf die ihm nachfolgenden Ereignisse beschrieben wird. Wer also die Geschichte des Zweiten Weltkrieges erzählt, beschreibt die Ereignisse, die sich während des Zweiten 322 Patzig 1977, 325. 323 Daneben gibt es noch weitere, etwa evaluative oder methodologische.
253 Weltkrieges zugetragen haben unter dem Blickwinkel zum Beispiel des Kriegsendes, aber auch unter dem Blickwinkel der darauf folgenden Ereignisse. Damit ist nicht gemeint, dass jedes Kriegsereignis so beschrieben wird, dass es mit dem „Kalten Krieg“ oder gar mit dem Zusammenbruch des UdSSR in Beziehung gesetzt wird, es ist damit gemeint, dass vergangene Ereignisse, die von der einen Darstellung als Teil einer Erzählung beschrieben wird, die vor ca. 60 Jahren an ihr Ende gekommen ist, auch so beschrieben werden können, als seien sie Teil einer Kausalkette, i. e. einer Gegenstandsveränderung, die ihr Ende erst zum Beispiel 1989 gefunden hat. (Man denke an eine Geschichte, die den Kampf „des Westens“ gegen den sowjetischen Kommunismus als Protagonisten konstruiert hat.) Seine Position in der Geschichte bestimmt, wie der Historiker die Ereignisse, die er narrativ erfassen möchte, konstruiert, und es bestimmt sich die historische Bedeutung eines Ereignisses immer danach, was nach diesem Ereignis geschehen ist, vor allem aber, wo der Historiker das Ende der Geschichte ansetzt. In die Konstruktion des Protagonisten geht, mit andere Worten, seine ‚Lebensdauer‘ ein. Teil seiner Identifikationsbedingungen, die es erlauben, ihn als historisches Ereignis (also als eine in der Zeit erstreckte Entität) zu identifizieren, ist also seine zeitliche Erstreckung, die durchaus je nach den Voraussetzungen des Historikers verschieden sein können. (Eine Schlacht etwa kann konzipiert werden als Ereignis vom ersten bis zum letzten Schuss oder vom Marschbefehl bis zum Rückzugsbefehl, von der Truppenaufstellung bis zur wirren Flucht einer der Parteien etc.) Die Anfangs- und Endpunkte der Narration geben die ‚Lebensdauer‘ an, wobei die zur Narration gehörenden Ereignisse in Hinsicht auf dieses Ende und die zwischen Anfang und Ende liegenden Ereignisse narrativ integriert werden. Die Wahl dieser Punkte bestimmt damit über die Selektion der zugehörigen Aussagen. Sie liegt aber beim Historiker. Doch nicht nur die bloße Selektion von Aussagen (oder Ereignissen) bestimmt sich durch die Setzung des Anfangs- und Endpunktes und die Konstruktion des historischen Individuums. Auch die narrative Rolle eines Ereignisses kann erst dann bestimmt werden, wenn das historische Individuum konstruiert worden ist, was im Fall eines historischen Protagonisten auch seine ‚Lebensdauer‘ einschließt. Wie Danto gezeigt hat, kann die kau-
254 sale oder funktionale Rolle eines Ereignisses nur relativ auf die folgenden Ereignisse festgestellt werden. Dabei mag es sich insofern um eine Binsenwahrheit handeln, als ein Ereignis in der Regel nur Ursache von etwas sein kann, das nach ihm stattfindet, weil aber die Kausalkette, welche die Ereignisse untereinander verbindet, niemals abreißt, kann von einem Ereignis nur relativ zu einem anderen als Endpunkt bestimmten Ereignis ein kausaler Aspekt als Erklärung herausgegriffen werden.324 Das Ursachen-Ereignis trägt seine kausalen Eigenschaften nicht auf der Stirn geschrieben. Je nach der kausalen (oder funktionalen etc.) Rolle, die einem Ereignis in Relation zum Protagonisten zugedacht ist, wird dieses Ereignis als Sachverhalt in Form einer Proposition konstruiert werden. Die ‚Tatsachen‘ (i. e. die Propositionen, die Sachverhalte ausdrücken und im Modus assertorischer Rede behauptet werden) werden damit narrations- und damit perspektivenrelativ aus den Quellen herausgelesen. Darin liegt der Grund dafür, dass die Vorstellung, eine Quelle berge bestimmte ‚Tatsachen‘ in sich, die der Historiker herausarbeite, nicht ganz den Kern der Sache trifft. Die Quelle birgt eine unendliche Anzahl von potentiellen ‚Tatsachen‘ in sich, die je nach Konstruktion des historischen Individuums als Protagonisten und der Narration aus ihr herausgelesen werden. Andere ‚Tatsachen‘ bleiben im Dunkeln und können erst nach einem Perspektivenwandel entdeckt werden. Dabei sind Selektion und Beschreibung der Ereignisse nicht einfach dem willkürlichen Postulieren von Endpunkten oder der Konstruktion von historischen Individuen ausgeliefert. Der interaktionelle Zusammenhang, in dem die Aussagen stehen, liefert eine Mikrostruktur historischer Narrationen, die beschränkt, welche Aussagen Teil der Narration werden und wie 324 Dass selbst dann noch eine unendliche Anzahl von Ursachen (oder genauer: notwendigen Bedingungen) eines Ereignisses zu erzählen wären, also auch eine noch stärkere Einschränkung dessen vorgenommen werden muss, was als relevant zu gelten hat, ist selbstverständlich. Auch an dieser Stelle werden es mal wisssenschaftlich-theoretische Überzeugungen sein, die Relevanzkriterien setzen, mal werden es triviale Alltagsweisheiten sein. (Dabei ist ein nicht unerheblicher Erkenntnisgewinn in der Geschichte dadurch erzielt worden, dass die Binsenweisheiten des Alltags kritisch hinterfragt und durch wissenschaftliche Theoriebildung ersetzt wurden.)
255 sie zu formulieren sind. Bestimmte Festlegungen (metaphysischer, theoretischer oder auch begrifflicher Art) des Historikers, die er im Einklang mit seinen Begriffsrahmen und dem übrigen Überzeugungssystem getroffen hat, lassen bestimmte Möglichkeiten ‚sichtbar‘ werden, andere dagegen gar nicht erst auftauchen oder, falls sie ihm dennoch begegnen, als unwahrscheinlich erscheinen. Hier ist er in seiner Willkür sogar weiter eingeschränkt, weil die Quellen ein Vetorecht besitzen (das fachdisziplinär überwacht und durchgesetzt wird). Wie er seine ‚Tatsachen‘ konstruiert, das heißt präziser, welche Tatsachen er in seinen Propositionen wie ausdrückt, und welche er dann für seine Narration auswählt, hängt von der Konstruktion des historischen Individuums als Protagonisten und hier speziell der ‚Lebensdauer‘, die er als eine Identifikationsbedingung in die Konstruktion einbringen muss, zusammen. Diese Konstruktionen sind von seiner eigenen Position in der Geschichte und seinen theoretischen, metaphysischen, evaluativen Voraussetzungen, aber auch von seinem Erkenntnisinteresse abhängig.
5.4.2.3 Theoretische Vorannahmen, Metaerzählungen und Erkenntnisinteresse Was aber liefert Kriterien für die Konstruktion eines historischen Individuums auf die eine und nicht auf eine andere Art? Was schränkt die immer noch gewaltige Anzahl an narrativ integrierbaren Ereignissen („Tatsachen“) noch weiter ein, als es die narrative Mikrostruktur und das historische Individuum bereits tun? Eine Antwort ist die nächstliegende und klassische: das Erkenntnisinteresse des Historikers. Das Erkenntnisinteresse bestimmt mit, welche Ereignisse seine Aufmerksamkeit verdienen, sei es als Explananda, sei es als Teile der Erklärung. Doch woraus speist sich sein Erkenntnisinteresse? Neben bestimmten wissenschaftstaktischen Erwägungen – welches Thema ist noch nicht oft bearbeitet worden; wo lassen sich innovative Ergeb-
256 nisse erzielen; welches Thema wird in Zukunft in Mode kommen? – dürften dies Wertüberzeugungen sein.325 Ein Ereignis, ein potentielles historisches Individuum muss von einem gewissen Erkenntniswert für den Historiker und die Gesellschaft, in der er lebt, sein. Der Erkenntniswert bestimmt sich seinerseits darüber, welche Werte in der Gesellschaft gelten und welche er selbst teilt. Soll zum Beispiel eine demokratische Gesellschaftsordnung verteidigt werden, weil demokratische Werte in der Gesellschaft gelten und vom Historiker geteilt werden, dann kann es wert sein, die totalitären Ursprünge dieser Gesellschaft mit all ihren damaligen Verbrechen darzustellen. Gesellschaftliche Werte werden u. a. immer noch in sog. „großen Erzählungen“326 und spekulativen Geschichtsphilosophien festgehalten und weitergegeben. Sie bilden immer noch den Verständigungshorizont, der zumindest für weite Teile einer Gesellschaft akzeptabel und die Voraussetzung für basalen gesellschaftlichen Konsens ist. Die „Entzauberung“ der Welt, das Fortschreiten oder die „Dialektik“ der Aufklärung, der Kampf zwischen Freiheit und Totalitarismus, Geschichte als Klassenkampf und ande325 Hier liegt der Anschluss an Webers „Wissenschaftslehre“ auf der Hand, denn letztlich bestimmt das wertinduzierte Erkenntnisinteresse die Konstruktion der historischen Individuen und der Idealtypen. 326 Wenn Lyotard auch das „Ende der großen Erzählungen“ prognostiziert, wo nicht konstatiert haben mag, ganz kann wohl kaum auf irgendwelche (peudo-)historischen Rahmenerzählungen verzichtet werden, in denen die grundlegendsten Werte und Selbstverständigungen einer Gruppe oder einer Gesellschaft verankert werden. Selbst das postmoderne „Ende der großen Erzählungen“ ist nur eine weitere „große Erzählung“, wenn sie sich auch den Anschein einer besonders offenen Metaerzählung gibt. Dabei haben Globalisierung, die Dezentrierung vormals strikt euro-zentrischer Perspektiven, aber auch die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts die Uniformität von Metaerzählungen und von metaphysischen Präsuppositionen gebrochen. Diese Erkenntnis hat sich aber nicht erst mit dem von „der Postmoderne“ verkündeten „Ende der großen Erzählungen“ eingestellt. Z. B. hat schon einige Jahre früher, im Jahr 1968, Georg Iggers das Ende des deutschen Historismus und seiner metaphysisch-philosophischen Grundlagen nach dem Ersten Weltkrieg, vor allem aber nach dem Ende des „Dritten Reiches“ nachgezeichnet (Iggers 1997, Kap. VIII Der Verfall der deutschen ‚Geschichtsidee‘. Der Einfluß der beiden Weltkriege und des Totalitarismus auf das deutsche Geschichtsdenken).
257 re große Erzählungen sind wertbestimmende Faktoren des historischen Erkenntnisinteresses und damit erkenntniskonstitutive Elemente des jeweiligen Standortes. An dieser Stelle sind es natürlich gerade die Ergebnisse der Geschichtsschreibung, die ihrerseits auf die Werte zurückwirken. Der Verlauf der Geschichte oder genauer: das Bild von der Vergangenheit, das von den Historikern vermittelt wird, bestimmt wiederum, welche großen Erzählungen möglich sind und welche bereits an den historischen Fakten scheitern. Von entscheidender Bedeutung für das Erkenntnisinteresse des Historikers sind neben seinen Wertvorstellungen auch seine theoretischen Vorannahmen. Auch sie bestimmen, was einen Anteil an seinem Aufmerksamkeitshaushalt erhalten kann und soll. Sie bestimmen sein Erkenntnisinteresse dadurch mit, dass sie bestimmte Fragestellungen als fruchtbar, andere dagegen als wenig aussichtsreich erscheinen lassen. Sie bestimmen aber auch, welche Entitäten der Historiker zu ‚sehen‘ in der Lage ist, mithin geben sie der Datenmenge Kontur, und natürlich bestimmen sie seine Methoden mit. So könnte es zwar durchaus von Interesse sein, die „Industrielle Revolution“ als eine wirtschaftliche Entwicklung zu betrachten, die allein von den genialen Erfindungen einiger herausragender Ingenieure und Experimentatoren ausgelöst worden ist. Sein (wirtschafts-)theoretisches Wissen wird ihm aber sagen, dass eine solch durchgreifende sozio-ökonomische Umwälzung nur dann möglich sein kann, wenn kulturelle, wirtschaftliche und auch soziale Strukturen und Veränderungen ineinander greifen. Ohne begünstigende Rahmenbedingungen und Veränderungen im Rechtsund Bildungswesen und der Wirtschaftsordnung kann keine solche „Revolution“ vonstatten gehen, und entsprechend wird er seine Methoden, die im ersten Fall vielleicht nur daran orientiert sind, die Motivlage einiger weniger Persönlichkeiten darzustellen, dahingehend abwandeln müssen, dass nun auch sozio-ökonomische und kulturelle Strukturen Teil seiner Narration werden können, wie er auch eine Ontologie gelten lassen muss, die zum Beispiel gesellschaftliche Strukturen oder kausal wirksame kulturelle Faktoren jenseits des individuellen Wollens einiger Akteure kennt. Seine theoretischen Vorannahmen bringen damit Methoden in seinen Standort ein, aber auch Ontologien und aussichtsreiche Forschungsfragen.
258
5.4.2.4 Die Metareflexion
Wie aber kann Ordnung in dieses zumindest prima facie chaotische Hin und Her von Begriffsrahmen, theoretischen Vorannahmen, Importen aus Nachbardisziplinen, Erkenntnisinteressen, Methoden, Ontologien etc. gebracht werden? Oder muss man annehmen, dass alle diese Elemente ihre Funktionen im Erkenntnisprozess ohne Kontrolle durch den Historiker versehen? Ordnung und Einflussnahme bringt der Historiker in diese verschiedenen Elemente, indem er sich reflexiv zu ihnen verhält. Er bringt sich in eine reflektierende Metaposition, von der aus er die Elemente des Standortes wissenschaftstheoretisch-epistemologisch beurteilt und je nach Ergebnis dieser Metareflexion Element für Element ersetzt oder modifiziert. Was sind die Kriterien, nach denen er seine Beurteilung abgibt? Einfach gesagt, handelt es sich um seine Überzeugungen davon, was (gute) Wissenschaft ausmacht. Allein in diesem, vielleicht nicht sehr anspruchsvollen Sinn kann gesagt werden, dass es sich dabei um einen wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Prozess handelt. Ausschlaggebend dürften in erster Linie nicht vom jeweiligen Historiker unmittelbar rezipierte philosophische Wissenschaftstheorie und Epistemologie sein, sondern vielmehr während seiner wissenschaftlichen Ausbildung antrainierte Beurteilungsstandards. Ob diese Standards später hinterfragt und aus wissenschaftlich-rationalen Beweggründen anerkannt bzw. abgelehnt werden oder ob es sich um unhinterfragte ‚Abrichtung‘ oder ob es sich dabei um erfolgversprechende, ‚gute‘ Standards und Kriterien handelt, mag dahingestellt bleiben – an ihrer Funktionsweise ändert sich nichts. Natürlich werden im günstigsten Fall wissenschaftstheoretische, epistemologische, aber auch methodologische Erkenntnisse historischer Nachbardisziplinen – darunter auch gerade der Philosophie – eine große Rolle spielen, sei es auch nur mittelbar in Form sekundärer Rezeption einer Auseinandersetzung unter seinen Kollegen oder eines Theoriereferats von dritter Seite, ausgeschlossen ist aber die nicht weiter hinterfragte Beibehaltung der einmal ansozialisierten Standards in Form von selbstverständlichen, erprobten ‚Wahrheiten‘ keines-
259 wegs. So beschrieben ist die Fähigkeit zur Reflexion auf die Elemente des Standortes kein Bestandteil der unmittelbar erkenntnismitbestimmenden Perspektive mehr, sondern eine Fähigkeit, die zwar enormen Einfluss auf die Zusammensetzung des Standortes (und damit auf die historische Erkenntnis) besitzt, dabei aber gewissermaßen über ihr schwebt und daher nicht mehr unmittelbar auf die Erkenntniskonstruktion einwirkt. Sie wirkt aber mittelbar darauf ein, weil durch sie die erkenntniskonstruktive Perspektive analysiert und gegebenenfalls modifiziert wird. Hier kann zu bedenken gegeben werden, dass selbst eine Metareflexion auf die eigenen Voraussetzungen keine wirklich rationale Ausweisung der eigenen Perspektive leisten könne. Allenfalls könnten gewisse Idiosynkrasien, Parteilichkeiten oder auch Gruppenrelativismen abgemildert werden, weil gerade die am ehesten unbemerkt bleibenden Voraussetzungen diejenigen seien, die den größten Einfluss auf die Arbeit des Historikers haben.327 Gegen dieses Bedenken können zwei Erwiderungen vorgebracht werden. Erstens beachtet dieser Einwand die soziale Dimension des wissenschaftlichen Diskurses zu wenig. Die Rechenschaft, die über die jeweiligen individuellen Voraussetzungen abgelegt werden muss, kann der einzelne Wissenschaftler nicht allein in foro interno in aller Abgeschiedenheit leisten. Er wird von seinen Kollegen und anderen Rezipienten seiner Arbeit darauf hingewiesen werden, an welchen Stellen seiner Arbeit sich – trotz aller vorgängiger individueller Bemühungen seinerseits – der „Parteimann“ zu Wort gemeldet hat. Für das jeweils in Frage kommende Werk mag dieser Hinweis zu spät kommen, für seine weiteren Forschungen dagegen nicht (sofern er sich überhaupt auf das Spiel der Metareflexion einlässt – was ihn, sollte er es nicht tun, desto offensichtlicher als parteilich erweist). An dieser Stelle wird der Rationalitätsdruck durch eine historische Entwicklung noch erhöht, die den Trend zur Metareflexion noch verstärkt. Es kann nämlich immer noch die Gefahr einer ethnozentrisch-kulturrelativen Parteilichkeit bestehen. Dann würde auch die Kontrolle, die durch die Fachkollegen und andere Zeitgenossen ausgeübt wird, nicht genügen und 327 So Mommsen 1977, 452.
260 zwar nicht aus böser Absicht, sondern weil – ganz im Sinne des Einwandes – die eigenen kulturellen Voraussetzungen so unbemerkbar tief verankert sind, dass sie von allen Diskursteilnehmern übersehen werden. Genau dieser Effekt hat lange Zeit vorgeherrscht, wird aber nun mehr und mehr durch die Verbreitung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Vergangenheit in der ganzen Welt zurechtgerückt. Die Anstrengungen post-kolonialer Geschichtsschreibung in Afrika oder Asien sind dafür gute Beispiele.328 Zweitens unterschätzt dieser Einwand die Leistungen wissenschaftlicher Anstrengungen anderer Fachbereiche, die es – sofern sie vom Historiker aufgenommen werden – ermöglichen, sich über die eigenen Voraussetzungen aufzuklären. Dazu zählen die Ergebnisse von Disziplinen wie der Ethik, der (internationalen) Politikwissenschaft oder der Soziologie, die den Blick auf fremde wie eigene Blickverengungen freigeben.329 In der Metareflexion ist denn auch die Möglichkeit zu einer konstruktionistischen historischen Objektivität am nachdrücklichsen verankert, weil durch sie der Standort des Historikers zu mehr als bloß einer subjektiv vorausgesetzten, ‚unhintergehbaren‘ Erkenntnisbedingung wird. Denn an dieser Stelle tritt am deutlichsten die aktivische Komponente des Konstruktionismus in den Blick. Auf dieser Ebene ist es dem Historiker möglich, alle die Parameter seines Erkenntnisprozesses zu überdenken, mit dem fachdisziplinären Konsens abzugleichen (und dann womöglich von diesem abzugehen) und seinen Standort aktiv gemäß seiner Einschätzung von wissenschaftlicher Rationalität und Objektivität auszurichten. Es handelt sich um die Fähigkeit, nach Maßgabe der Vernunft und seiner Auffassung von wissenschaftlicher Redlichkeit, die Mittel zu wählen, um dem Ziel am nächsten zu kommen, die Vergangenheit so darzustellen, „wie es eigentlich gewesen“. Dass es sich bei dieser Fähigkeit um eine geschichtsunspezifische 328 Zur Entwicklung der Geschichtswissenschaft in der sog. „Dritten Welt“ und den ehemaligen Kolonialgebieten der europäischen Kolonialmächte vgl. Raphael 2003, 51-57 und 249-256. 329 Dass es sich hierbei um ein idealisiertes Bild einer in the long run zunehmenden Verständigung und Rationalität handelt, die sogar einer regressiven Rationalitätsdynamik zu Opfer fallen kann, ist bereits thematisiert worden. (Vgl. 4.2.3, Anm. 217)
261 Fähigkeit handelt, die man am besten als Vernunftkomponente historischer Erkenntnis auf den Begriff bringt, tut bei all dem nichts zur Sache, denn bei ihr handelt es sich um eine conditio sine qua non aller Wissenschaft.
262
5.5 Resümee und Ausblick Um eine vollständige Theorie perspektivischer und dabei objektiver historischer Erkenntnis vorzulegen, müssten die einzelnen hier aufgezählten Elemente des Standortes wesentlich ausführlicher analysiert werden. Daneben müssten die bislang nicht oder nur en passant angesprochenen Elemente (Quellenselektion, fachdisziplinäre Institutionalisierung u. a.) in den Katalog mit aufgenommen werden. Außerdem konnte nur in Ansätzen die Wechselwirkung zwischen den Elementen angedeutet werden, eine abgerundete Theorie müsste aber an dieser Stelle besonders ausführlich sein. Gerade die Sonderstellung der Ebene der Metareflexion könnte in einer ausgearbeiteten Theorie besonderer Aufmerksamkeit wert sein. Hier müsste insbesondere die Trennung zwischen ihr und den ihr zur Reflexion unterworfenen Elementen noch schärfer gezogen werden. Weiter bedürften die Restriktionen, die der konstruktiven Willkür des Historikers auferlegt werden, einer detaillierteren Analyse. Allein die „Normen des Denkens“, das wissenschaftliche Globalziel, die Wahrheit ans Licht bringen zu wollen, der (sanktionsbewehrte) fachdisziplinäre Konsens und die Kohärenz neuer Erkenntnis mit den etablierten Begriffsrahmen und überkommenen Überzeugungssystemen lassen noch breiten Raum für weitere Forschungen. Hinzu kommt, dass sich gewiss auch weitere Restriktionen werden finden lassen, durch welche die hier genannten ergänzt werden müssen. Konnte eine vollständige Theorie in diesem Kapitel nicht entwickelt werden, so konnten zumindest einige theoretische Voraussetzungen einer Vereinbarung von Standortgebundenheit und Objektivität vorgelegt werden. Über die philosophische Diskussion hinaus, die kaum noch weiterer Überzeugungsarbeit bedarf, wenn es um die Perspektivität objektiver Erkenntnis geht, kann über die Idee einer probeweisen Zusammenstellung von Sachverhalten in Propositionen und die interne Zuordnung von Begriffen zu Gegenständen und die damit verbundene Abhängigkeit von jeweils einschlägigen Begriffsrahmen der Propositionen der Weg beschritten werden, um Korrespondenz auch dann plausibel zu konzipieren, wenn vom po-
263 sitivistischen Erkenntnismodell abgegangen wird. Der epistemisch-begriffliche Zugang zu den bestehenden Sachverhalten ist damit an den Standort des Erkenntnisobjekts gebunden, während dagegen die logisch-semantische Relation zwischen den begriffsrahmenabhängigen Propositionen und den durch sie ausgedrückten Sachverhalten die der Korrespondenz ist (wenn der ausgedrückte Sachverhalt besteht). Ergänzend konnte der Einfluss der jeweiligen Elemente des Standortes zu diesen abstrakten Vorklärungen hinzugefügt werden, wobei auch hier eine ausgearbeitete Theorie historischer Standortgebundenheit die Lücke, die zwischen diesen allgemeinen philosophisch-semantischen Bedingungen und der geschichtsspezifischen Funktionsweise des Standortes klafft, schließen müsste.
6. Zusammenfassung – Schlussbemerkung
Geschichte wird immer neue narrative Redeskriptionen hervorbringen, weil, mit Weber gesprochen, die „Kulturprobleme“ immer neue sein werden und die metaphysischen, wissenschaftlichen, evaluativen und alltäglichen Überzeugungen immer neue Modifikationen erfahren werden. Ein Stillstand könnte diesem steten Wandel nur vom Ende der Geschichte im Wortsinn aufgezwungen werden. Da dieses Ende aber nicht in Sicht ist, wird man kaum umhin kommen, sich um die Vereinbarung von Standortgebundenheit und Objektivität (im Sinn des Komponentenmodells) zu bemühen. Wer sich dagegen für eine Entkopplung historiographischer Darstellungen von der (kulturbestimmten) Gegenwartsposition des Historikers ausspricht, wird demgegenüber gezwungen sein, sich entweder in eine ästhetisierend-subjektivierende Auflösung des Wissenschaftsanspruchs oder einen Rückfall in einen naiv-realistischen Objektivismus schicken zu müssen. Und wer glaubt, dass eine konstruktionistische Herangehensweise die Korrespondenz zwischen Darstellung und Dargestelltem aufgibt, muss sich auf völlig unhaltbare Konzeptionen wie die Gottesperspektive oder eine „magische Theorie der Bezugnahme“ zurückziehen. Denn der hier vorgelegte Versuch einer Vereinbarung des geschichtstheoretischen Widerstreits zwischen Objektivität und Perspektivität verzichtet trotz anders lautender Fremdeinschätzungen nicht auf den Anspruch, dass historische Narrationen nur dann objektiv zu nennen sind, wenn sie mit den Sachverhalten, die sie darstellen, korrespondieren. Auch für den Konstruktionismus müssen nicht-korrespondierende Aussagen, Interpretationen und Narrationen nach Möglichkeit aus dem wissenschaftlichen Erkenntnisvorrat ausgeschlossen werden – denn der Korrespondenzcharakter der Geschichte ist ihr spezifisches Merkmal, durch das sie sich von anderen Genres der Identitätsstiftung unterscheidet. Am Korrespondenzcharakter und damit an der Objektivität der Ge-
266 schichte festzuhalten, kann aber nicht bedeuten, sich für ein positivistisches Erkenntnisprogramm entscheiden zu müssen. Nicht nur sollte die kritische Auseinandersetzung mit dem Positivismus gezeigt haben, dass seine Angriffe auf eine Theorie, die Standortgebundenheit und Objektivität vereinbaren möchte, fehlgeleitet sind,330 es sollte auch gezeigt worden sein, dass eine plausible Alternative zum naiven Realismus und zum positivistischen Objektivismus vorgelegt werden kann. Ebenso sollte gezeigt worden sein, dass das andere Extrem, mit dem geschichtstheoretischen Widerstreit zurecht zu kommen, sc. das restlose Bekenntnis zur Standortgebundenheit und damit die Verabschiedung von Objektivität durch die Postmoderne, keine vertretbare Position darstellt.331 Keinem der beiden Extreme kann es gelingen, den jeweils gut begründeten Intuitionen gerecht zu werden, durch welche die jeweils negierte Gegenseite abgesichert ist. Einzig ein „third way“ zwischen den Extremen – ob nun entlang des hier im letzten Kapitel gemachten Vorschlags oder in anderer Form – besitzt das Potential, den tatsächlichen Wissenschaftsbetrieb der Geschichte theoretisch angemessen zu modellieren. Daher ist mit dieser Arbeit ein weiterer Schritt dahin gegangen worden, Befunde der Geschichte der Geschichtsschreibung332 wie auch der philosophischen Erkenntnistheorie mit der Geschichtstheorie zu vereinbaren. Damit kann sich die Geschichtstheorie nun mit neuem theoretischen Rüstzeug von einem starren Objektivismus naiv-realistischer Couleur emanzipieren, ohne sich damit postmoderner Resignation in die Arme werfen zu müssen. Geschichtstheoretische Selbstdiagnose und wissenschaftstheoretisch-philosophische Fundamentierung beginnen damit zueinander deckungsgleich zu werden. Aber nicht nur kommt durch einen historischen Konstruktionismus, wie er hier in Grundzügen vorgestellt und plausibilisiert worden ist, Geschichtstheorie und fundamentale philosophische Absicherung zur Deckung, sondern damit ist auch gewährleistet, dass Geschichte etwas zu sagen hat. Geschichte positivistisch zu konzipieren und zu betreiben, würde 330 Vgl. Kap. 4. 331 Vgl. Kap. 2. 332 Vgl. oben 1.5.
267 bedeuten – das hat schon Nietzsche gesehen333 – eine belanglose Aussagenauflistung über die Vergangenheit abzuspulen. (Wobei hier fraglich ist, ob sich selbst eine solche Aussagenauflistung ohne jegliche Perspektivität und konstruktionistische Elemente theoretisch konzipieren ließe.) Der Verlust des Sinns und Zwecks von Geschichte wäre die Folge. Gleiches gilt vom Pendelausschlag in die postmoderne Richtung. Geschichte als Kunst oder als mehr oder minder dem jeweiligen Kulturzweck unterworfenes Legitimations- und Identifikationsgenre aufzufassen, würde eine radikale Neubewertung der Aufgaben, Funktionen und Zwecke der Geschichte nach sich ziehen. Denn nun würde die Geschichte, deren spezifizierendes Merkmal ihr Faktenbezug ist, in anderen Genres der Legitimations- und Identitätsstiftung aufgehen. Demgegenüber kann der einzig gangbare Weg, um Geschichte auf der einen Seite nicht von den, mit Weber gesprochen, „Kulturproblemen“ der jeweiligen Gegenwart zu entfremden – wodurch sie ihr nichts mehr zu sagen hätte – und auf der anderen Seite ihren Objektivitätsanspruch jedem kollektiv definierten Zweck vorbehalt- und rücksichtslos zu opfern, nur in einer Vereinbarung von Objektivität mit Standortgebundenheit bestehen. Ihre intellektuelle Integrität und damit ihre langfristige Glaubwürdigkeit und mit dieser wiederum ihren langfristigen Nutzen kann die Geschichte nur bewahren, wenn sie der jeweiligen Gegenwart etwas zu sagen hat, ohne ihr ausschließlich das zu sagen, was sie hören möchte.
333 In der zweiten „Unzeitgemäßen Betrachtung“.
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