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German Pages 192 [196] Year 1912
Die Methode der Erkenntnis bei Descartes und Leibniz von
Heinz Beimsoeth Dr. phiL
Erste Hälfte:
Historische Einleitung.
Descartes' Methode
der klaren und deutlichen Erkenntnis
Gießen 1912 Verlag von Alfred Töpelmann (vormals J. Ricker)
P h i l o s o p h i s c h e Arbeiten herausgegeben von
Hermann Cohen und
Paul Natorp
in Marburg
in Marburg
VI. Band 1. Heft
Die zweite Hälfte, in welcher Leibnizens Erkenntnismethode zur Behandlung kommt, wird in etwa 6 Monaten erscheinen. Derselben wird auch ein ausführliches Sachregister zu dem ganzen Buche beigegeben werden.
Inhaltsverzeichnis der ersten Hälfte. Seite
Historische Einleitung
1—26
Stellung des Methodenproblems in den Anfängen des neuen Denkens 1. Leonardo da Vinci 8. Kepler 13. Galilei 17. Bacon 24. Ausblick auf Descartes 26.
Erster Teil. Descartes' Methode der klaren und deutlichen Erkenntnis E r s t e s K a p i t e l . D i e M e t h o d e n l e h r e d e r „ R e g e l n zur L e i t u n g des G e i s t e s " a) Die Stellung des Problems im Ganzen der Cartesischen Philosophie b) Die Grundzüge der „reinen" Methode c) Methode und Erfahrung Zweites Kapitel. Die E r k e n n t n i s l e h r e der Metaphysik a) Der Zusammenhang der Methodenlehre mit der Metaphysik b) Das Cogito als reiner Intellekt c) Das Cogito als Erkenntnisbewußtsein d) Das Ich und die Existenz Drittes Kapitel. Die M e t h o d o l o g i e der „Universalw i s s e n s c h a f t " und der Ü b e r g a n g v o n der Mathematik zur Physik a) Die „Mathesis universalis" b) Die „abstrakte Mathematik" und die „Prinzipien der materialen Dinge"
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Historische Einleitung. Die Grundlegung der neueren Philosophie steht im Zeichen des Methodenproblems. Der programmatische Entwurf, mit dem Descartes die Reihe der großen Systeme eröffnet, führt die „Methode" im Titel. Die sachliche Einstellung entspricht dem in vollem Maße: die Fassung der Methodenfrage erweist sich unmittelbar als das schöpferische Motiv für den systematischen Aufbau der Prinzipien. Auch im Denken der Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfolger Descartes' nimmt das Problem eine, wenn auch nicht gleich zentrale, so doch dem Sachgehalt wie der literarischen Darlegung nach analoge Stellung ein. Es ist dann Leibniz, der die Durchführung und Fortbildung des Gedankens in seiner prinzipiellen Bedeutung für die Wesensbestimmung des erkennenden Bewußtseins zuwege bringt. Seine philosophische Lebensarbeit ist, auch extensiv, überwiegend der Frage nach der Methode gewidmet — wenn ihr auch im sachlichen Aufbau seines Systems keineswegs' die entscheidende Rolle verbleibt. Sucht man nun nach den geschichtlichen Gründen für diesen Vorrang des Methodengedankens im Zeitalter des Descartes und Leibniz, so wendet man sich umsonst zu den philosophischen Aufstellungen der beiden vorangehenden Jahrhunderte. Daß die Philosophie der Renaissance- und Reformationszeit nicht dazu gelangt, den Grundstein der neueren Philosophie zu legen, hat seine unmittelbar verständlichen Gründe. Ein eigentümliches historisches Phänomen aber ist es, daß sie zu den späteren Systemen auch nicht einmal einen wirklichen Übergang, im Sinne eindeutig aufstrebender Entwicklung, bildet. Dieses Zeitalter, das auf allen Gebieten die unmittelbarsten Ausprägungen des neuen Geistes hervortreibt, bringt es nicht zu prinzipieller logischer Formulierung gerade des Neuen und Charakteristischen im eigenen Wesen. Die Philosophie des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts führt durchweg Interessen im Vordergrunde, die älteren Gedankenbahnen entstammen; sie hat noch keine C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VI
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Die Anfänge des neuen Denkens
Einstellung für die grundsätzliche Wendung im gesamten Geistesleben. Und wo dennoch vereinzelt das Neue in die philosophische Spekulation eindringt, da wird es durch das Übergewicht traditioneller Zusammenhänge niedergehalten. Es ist kein Zufall, daß die Systeme des siebzehnten Jahrhunderts so wenig direkte, auf den Problemgehalt gehende Anknüpfung an Begriffe jener Zeit aufweisen — selbst in Motiven, die dort in der Tat schon anklingen. Dennoch gibt es hier eine geschichtliche Kontinuität. Nur darf man diese nicht durch eine Linie zu zeichnen suchen, die von Philosophie zu Philosophie führt, die also etwa geradeswegs von den mittelalterlichen Systemen über die der Renaissancezeit zu Descartes hinüberleiten würde; vielmehr muß man dort, wo die Neuzeit einsetzt, aus der Betrachtung der enggefaßten philosophiegeschichtlichen Entwicklung heraustreten und auf die in der ganzen Breite der Kultur sich vollziehende Wendung zurückgreifen. Denn tiefer als irgend eine andere Geistesschöpfung ist stets die Philosophie mit der Gesamteinstellung des Lebens, aus dem sie erwächst, verknüpft und in ihrer Grundrichtung durch diese bedingt. Nun gilt es schon allgemein, daß der tiefste Sinn jener neuzeitlichen Geistesbewegung, von der die Renaissance und die Reformation ja selbst nur besondere, und beschränkte, Erscheinungsformen darstellen, nicht in den greifbaren Ergebnissen einzelner Kulturbestrebungen erschöpfend zum Ausdruck kommt — daß man vielmehr ein volles Verständnis dafür nur durch Vertiefung in die Eigentümlichkeit des neuen Lebensgefühles gewinnen kann. Um so mehr muß dies also auf die Philosophie jener Jahrhunderte zutreffen. Es sind nicht die einzelnen Philosopheme dieser Zwischenzeit, in deren Entwicklung die Prinzipien der neueren Philosophie heraufgeführt werden, sondern aus noch verborgenen und philosophisch unverstandenen Tiefen hervor macht sich ein Interesse fühlbar, in dessen weiterer Ausreifung es hernach zu den systematischen Formulierungen kommt. Die geschichtlichen Dokumente für diese eigentümliche Bewußtseinseinstellung begegnen uns auf Schritt und Tritt im Denken und Fühlen der führenden Geister auf allen Gebieten, der Künstler und Wissenschaftler, der religiösen Befreier, der Dichter, der Politiker, und in den unbefangenen Lebensbetrachtungen weltmännischer Bildung. „Die Renaissance erwacht mit dem Interesse an der Person, am Individuum, mithin am Bewußtsein" (Cohen). Daß alle
Moderne Reflexivität
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Strömungen jener Zeit ihre Einheit in der ausdrücklichen Rückkehr zum natürlichen Ursprung im Wesen des Menschen finden, das ist in dem bekannten Schlagwort von der „Entdeckung des Menschen" ausgesprochen. Will man aber den entscheidenden Akzent in diesem Suchen nach dem Menschen nicht verfehlen, so muß man sich gegenwärtig halten, daß es sich dabei nicht primär um einen Begriff vom Menschen als Objekt, oder als gegenständliches Ideal handelt, sondern daß in erster Linie der Mensch als S u b j e k t , als Quellpunkt aller geistigen Werte — daß der Mensch als B e w u ß t s e i n gewonnen werden soll. In der Reflexion auf die naturhafte Ursprünglichkeit des eigenen Ichbewußtseins gelangt der neue Mensch zu der Selbstbesinnung und der Selbstbefreiung, aus der ihm seine eigensten Schöpfungen erwachsen. Das wird besonders klar am Beispiel Petrarcas. E r ist gerade um dieses reflexiven Zuges willen als der „erste moderne Mensch" empfunden worden. Das Bild seiner Persönlichkeit ist darin besonders instruktiv, daß es mit den übernommenen Zügen antiker und mittelalterlicher Reflexivität die der eigentümlich modernen Einstellung vereinigt. Sein Interesse an der eigenen Subjektivität lehnt sich durchweg, und nicht nur in der Form seiner Ausprägungen, an die literarischen Vorbilder an, wie sie ihm in den Selbstbetrachtungen eines Seneca oder Marc Aurel vor Augen standen; und doch steht der Grundzug seiner Geistesstimmung in fühlbarem Gegensatz zu aller Tradition. E s ist der Einschlag des modernen Individualismus, der seiner Reflexivität einen anderen Sinn gibt und auch das Übernommene in einem neuen Lichte erscheinen läßt. Denn an diesem Individualismus ist nicht das Verlangen nach Mannigfaltigkeit und Differenziertheit der Einzelmenschen das ursprüngliche Motiv; was hier gefordert wird, ist die Befreiung der natürlichen Persönlichkeit nach der Gesamtheit ihrer latenten Kräfte und Möglichkeiten, im Gegensatz zu mittelalterlicher Einengung, ihre Entwicklung und Potenzierung zur höchsten Inhaltsfülle. Indem die moderne Reflexion auf diese ursprüngliche Natur im eigenen Ich gerichtet ist, weist sie einen bedeutsamen Gegensatz auf zu allem hergebrachten Interesse an der Subjektivität. Wenn die Selbstbetrachtung der späteren Antike das menschliche Subjekt von vornherein unter den objektiven Maßstab ihres Ideals des „Weisen" stellt, so gibt sie die innere Reichhaltigkeit des Individuums preis, und damit zerrinnt ihr das spezifisch i*
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Ursprünglichkeit des Bewußtseins
Subjektive unter den Händen. Es bleibt nur das Ich, der Mensch als Gegenstand; die Selbstbetrachtung mündet ein in objektive ethische Beurteilung. Die Vernunft des individuellen Subjekts löst sich auf in die allgemeine Weltvernunft. Das Bewußtsein wird als Weltseele objektiv kosmisches Prinzip. Darin hat die Selbsteinkehr des Mittelalters, vor allem seiner Mystik, mehr Hingebung an das innere Erleben, daß sie, ohne Vorwegnahme eines begrifflich festgelegten Zieles, in der Konkretheit der Innenwelt das höchste Prinzip zu gewinnen sucht. Aber auch hier wird das Ich nicht um seiner selbst willen, nicht als Einheitsquell alles Inhalts und Wertes, zur Aufgabe gemacht: es darf vielmehr nur die Übergangsstufe bilden zu einer übermenschlichen, übersubjektiven, dem Ich transzendenten Realität — Gott. Der Mensch blickt auf sich selbst nur, um durch sich hindurch das jenseitige Wesen zu erschauen; er findet sein Selbst nur, um es wieder an jenes allumfassende Sein zu verlieren. Der reflexive Individualismus der Neuzeit dagegen nimmt das Subjekt als Einheit und Quell aller Inhalte überhaupt. Die alles beherrschende Stellung der Reflexion im Leben und Schaffen des neuen Menschen beruht gerade darauf, daß man in ihr den Weg eben zur Befreiung der produktiven Innerlichkeit der Individualität findet. Das Eigenste des Menschen soll damit zum Durchbruch, das Schöpferische in ihm dadurch zur Auswirkung gelangen, daß der Einzelne unter Abweisung aller von außen gegebenen Bindungen sich auf sich selbst, als auf den Ursprung aller echten Bestimmung, besinnt. Der Begriff einer im menschlichen Bewußtsein als solchem, im Selbst, angelegten Gesetzlichkeit bereitet sich hier vor: der moderne Gedanke der Autonomie. So muß alles, was Wert oder Inhalt ist, zurückbezogen, hineingezogen werden in das Eigengebiet der Subjektivität; indem das Ich zu sich selbst kommt, findet es, zugleich mit seiner inneren Ganzheit, den Zugang zur Welt der Objekte. Die Subjektbeziehung ist jetzt nicht mehr sekundär, sie stammt aus nichts Anderem her und tendiert auf nichts ihr Heterogenes hinaus. Das Subjekt ist nicht wieder in einen übergreifenden Zusammenhang eingebettet, keinem Anderen immanent, sondern alles ist ihm immanent. Alles entspringt in ihm, entfaltet sich innerhalb seiner, und hat in ihm seine letzten Ziele. Hierin charakterisiert sich der moderne Mensch, so wie er sein eigenes Wesen und seine Stellung zur Außenwelt auffaßt. Die Leibnizische Monade ist die unmittelbarste philosophische Aus-
Universalismus
s
prägung dieser Einschätzung des menschlichen Bewußtseins. Nichts kann und soll dem Bewußtsein, ursprünglich seiner Wesenheit fremd, von außen kommen; aus dem eigenen Innern, aus seinem Gesetz muß alles sich entfalten. Die ganze Welt wird in der Einheit seines Blickpunktes zusammengefaßt, von ihm aus erhellt. Der Inbegriff des Seienden gewinnt im Ich sein Problemzentrum. Damit bleibt in aller individuellen Färbung die Reinheit der Objektivität gewahrt: die Urgesetzlichkeit des Bewußtseins, zu der die Versenkung ins Subjektive den W e g bildet, greift über die Schranke der Individualität und ihres Gesichtspunktes hinaus und erweist sich als fähig, das Ganze des objektiven Seins zu tragen. In diesem Vertrauen des neuen Menschen, daß aller Sinn und alle Gesetzlichkeit des Äußeren in seinem innersten subjektiven Wesen präformiert ist, gründet sich auch die universalistische Forderung des modernen Individualismus, wie sie im Renaissancegedanken des uomo universale und dem Bildungsbegriff der Zeit sich verkörpert. Weil alle Inhalte der Anlage nach dem Subjekt innewohnen, so besteht unmittelbar der Anspruch, diesen Gehalt nun auch vollwertig zu entfalten. W e n n das Universum im Gesetz des Ich involviert wird, so muß dieses selbst ein Universales werden; nur so kann das Bewußtsein, statt Teilmoment zu sein und Anderem koordiniert zu werden, die Bedeutung einer umfassenden Einheit, einer Zentralbeziehung behaupten. Diese Grundmomente der neuzeitlichen Geistesstimmung, die in den Schöpfungen der neueren Philosophie die Rolle beherrschender Prinzipien erfüllen, bleiben in der Zeit der Renaissance und Reformation gebunden im aktuellen Kulturleben. Auch hier aber zeigt die Rückbiegung des Interesses auf das Subjekt einen im breiteren Sinne philosophischen Charakter. Im Verständnis der eigenen Persönlichkeit sucht der Mensch jener Zeit die letzte Rechtfertigung seiner Erkenntnisse und die ursprüngliche Direktive seines Tuns. In der Art, wie er schafft und sich gibt, geht er niemals rein in der Sache auf, verliert sich nicht an sie; in allem besonderen Wirken verläßt ihn nicht das Bedürfnis, den Anschluß an die Ganzheit eines einheitlichen Lebenssinnes zu gewinnen und zu wahren, die in nichts Anderem als dem Einheitsgrunde des Individuums liegen kann. Die innere subjektive Kontinuität soll allem Erleben und Gestalten den Halt begründenden Zusammenhangs verleihen. Indem nun aber diese reflexive Geistesarbeit sich mehr und
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Begriff der moralischen Natur
mehr in allen Gebieten des Kulturlebens ausbreitet, überall Boden gewinnt und somit alles Einzelne auf die Einheit des Bewußtseins zurückbezieht, wird im Leben selbst, und gerade innerhalb der speziellen geistigen Errungenschaften des Zeitalters der Grund für die neue Philosophie gelegt. Dieser Einschlag des Philosophischen bleibt nicht durchweg latent. Gerade wo kulturelle Bestrebungen den Charakter einer einheitlich geschlossenen Bewegung annehmen, wie in der sittlich-religiösen Strömung der Reformation und im Erstarken und Durchdringen des theoretischen Interesses im Werden der neuen Wissenschaft, da ergibt die Selbstbesinnung weit ausschauende prinzipielle Formulierungen, die dann unmittelbar in die Systematik der neueren Philosophie Eingang finden. In dieser ersten Gewinnung bestimmender Prinzipien werden bereits Grundgesetzlichkeiten des Bewußtseins fixiert, die gerade als solche, gerade um ihres subjektiven Ursprungs willen die Rechtfertigung der objektiven Inhalte zu leisten haben. Das Reflexionsmoment, das in der Reformationsbewegung dem Rückgang auf die freie Ursprünglichkeit im inneren Glaubensleben seinen eigentümlich modernen Charakter verleiht, gewinnt hier eine ganz prinzipielle Gestalt, die die Reformatoren unmittelbar zur Philosophie hindrängt. Sie alle empfinden es sogleich als notwendiges Bedürfnis, die innere Wahrheit der neuen Lehre ausdrücklich auf ein Fundament zu gründen, welches dann eben als eine Grundgesetzlichkeit des Bewußtseins gefaßt wird. Da aber die Kraft zu eigener systematischer Begriffsbildung ihnen noch mangelt, greifen sie auf antike Formulierungen zurück, und zwar gerade auf diejenigen, welche schon von einer wurzelhaften Identität aller Subjekte handeln. So kommt man allerseits auf den Begriff der moralischen Natur des Menschen, in der alles Echte religiösen Erkennens und sittlichen Tuns seinen Ursprung haben muß. Auf diese Identität der menschlichen Natur in Allen und zu allen Zeiten sucht man die eigene Wahrheit zu gründen, deren Übereinstimmung mit den Erkenntnissen der antiken Philosophie zugleich erklärbar wird; das „natürliche Licht" im Subjekt soll hier wie dort den wesentlichen Quell des Wahren bilden. Dieser Gedanke und seine Formulierungen führen von hier in ununterbrochener Kette, durch Vermittlung vor allem des aufstrebenden Naturrechtsgedankens, hinüber zu dem „natürlichen System der Geisteswissenschaften" im siebzehnten Jahrhundert — wo dann die ganze Strömung in die umfassende philosophische Systematik sich einbettet.
Die Methode der neuen Forschung
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Indessen ist es nicht diese Problemrichtung, aus der heraus die Grundlegung der neueren Philosophie erfolgt. Die unmittelbaren Anknüpfungen liegen vielmehr in der Interessensphäre der modernen Naturforschung. Man erlebt es hier Schritt für Schritt, wie das schöpferische Vermögen des eigenen Bewußtseins zu grundlegenden Bestimmungen kommt, die in fortschreitender Ausbreitung und Durchbildung auf das neue wissenschaftliche Natursystem hinausführen; hier darf man sich, wie sonst nirgends in jener Zeit, auf eine Kontinuität berufen, in der es kein Abbrechen und Schwanken, keine innere Zersplitterung gibt. So lernt man an der wissenschaftlichen Erkenntnis die Leistungskraft des Denkens ermessen; die Reflexion auf das Subjekt kommt damit in diejenige Bahn hinein, innerhalb deren hernach Descartes dazu gelangt, das Bewußtsein grundsätzlich als Bewußtsein der Erkenntnis zu fassen. Das Erkenntnisgesetz, das diese Fassung zur Reife bringt, ist die Methode. Und es sind eben nicht die Logiker der Renaissance, sofern sie von diesem Problem handeln, wie Vives, Ramus, Zabarella, welche als Vorgänger der Cartesischen Fragestellung gelten dürfen: gerade in dem Gedanken der Methode tritt es unmittelbar zutage, daß Descartes — und erst recht nachher Leibniz — mit Forschern wie Kepler und Galilei in einem Geisteszusammenhang lebt, der innerlicher und inhaltsstärker ist, als die Verbindung mit irgend einem Philosophen der Zeit. Die Entdecker des modernen Naturbegriffs sind zugleich die direkten Vorläufer der neueren Philosophie. Es ist wieder der reflexive Grundzug des neuzeitlichen Geistes, der in der Wissenschaft, von ihren ersten Anfängen ab, als das Bedürfnis nach einer Fundierung der objektiven Aufstellungen im Bewußtsein sich äußert. In der Funktion des erkennenden Geistes sucht und findet man die einheitliche Rechenschaft aller einzelnen begrifflichen Fassung von Phänomenen. Und diese Funktion wird als die Methode der neuen Forschung präzisiert. Durch die reflexive Beobachtung des eigenen Vorgehens gelangt man zu einer durchführenden Formulierung des erkennenden Bewußtseins, die in ihrem Einzelnachweis der bedingenden Strukturmomente gegenüber jener bloßen Behauptung subjektiver Gesetzlichkeit im Begriff der moralischen Natur einen gewaltigen Schritt vorwärts bedeutet. Der Begriff der Methode erhebt das Bewußtsein zum wirklichen Zentrum; während die N a t u r p h i l o s o p h i e der Renaissancezeit, die noch im Banne des alten Seinsinteresses steht, es als Teilmoment in ihr kosmisches
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Leonardo da Vinci
System einbeziehen muß, gewinnt die moderne N a t u r f o r s c h u n g von ihrem neugefaßten Naturbegriff aus mit ungezwungenster Notwendigkeit den Rückgang auf die subjektive Einheitsfunktion, in deren gesetzlichem Auswirken jenes objektive System entsteht. In den ersten Ansätzen zur begrifflichen Charakteristik des naturwissenschaftlichen Verfahrens verzichtet man nicht auf Anknüpfung an die logische Arbeit der Alten. Hier aber ist es kein eklektisches Aufgreifen fertiger Bestimmungen, sondern eine Wiederentdeckung von Erkenntnisformen, die hier wie dort an der Sachlichkeit lebendiger Forschung notwendig sich fipden lassen müssen. Von dieser Art des historischen Zusammenhanges haben auch die wissenschaftlichen Geister ein klares Bewußtsein : es ist bezeichnend, wie hier überall die platonische Lehre von der dvd/^vrjoi? aufgegriffen und für die Berechtigung des eigenen Anlehnens an die Antike geltend gemacht wird. Alle Anknüpfungen aber der Methodenbestimmungen weisen letzten Endes zurück auf den ersten Urheber dieser logischen Problemstellung, auf Plato. Die neuplatonische Tradition ist auch hier vermittelndes Zwischenglied; aber es ist nicht, wie sonst zumeist, das Ästhetisch-Mystische, woran man sich hält, sondern das, was in jener Philosophie den urplatonischen Kern bildet: die logische Auszeichnung des wissenschaftlichen Verfahrens. Der Zusammenhang mit der positiven Wissenschaft ist es, der zwischen Plato und den Systemen des Descartes und Leibniz die philosophische Kontinuität im Methodenproblem herstellt — die vermittelnden Glieder dieser Kette sind Euklid und Archimedes, Pappus und Proklus, Kepler und Galilei.
Leonardo da Vinci. Derselbe Mann, dessen vorahnendem Geiste die ersten Begriffsprägungen der „neuen Wissenschaft" gelingen, ist es zugleich, in dessen Reflexionen auch die ersten deutlichen Ansätze zur Auszeichnung dieses wissenschaftlichen Verfahrens zutage treten. Den Gegensatz der Forschung, wie er sie erstrebt, gegen die traditionelle Wissenschaft formuliert Leonardo in einer neuen Wertschätzung der E r f a h r u n g . In der programmatischen Voranstellung dieses Schlagwortes wirkt eine zwiefache polemische Tendenz. Die abstrakte Spekulation muß empirischer Forschung Platz machen. Die „Wissen-
Erfahrung
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schaften, die vom Anfang bis zum Ende im Geiste bleiben" liefern keine „Wahrheit". Nicht nach der „Wesenheit Gottes und der Seele und Ähnlichem" soll man fragen, Gegenständen, über die man „ohne Ende disputiert und streitet", sondern nach „sicheren Dingen", nach solchen, bei deren Erforschung die „Gründe" „durch Erfahrung sich bestätigen" lassen; nur hier gibt es „wahrhaftes Wissen", eine „Gewißheit", wie sie jene „trügerischen Geisteswissenschaften" nicht darbieten können. „Mir scheint, es sei alles Wissen eitel und voller Irrtümer, das nicht von der Erfahrung, der Mutter aller Gewißheit, zur Welt gebracht wird und nicht im Wahrgenommenen abschließt." Nicht die „Vernunft, wenn sie sich selbst überlassen", oder der Intellekt „allein mit der Einbildungskraft" verbunden, kann uns zur Gewißheit und Erkenntnis des wirklich Seienden führen; der „Dolmetsch zwischen der kunstreichen Natur und der menschlichen Species" ist die „Erfahrung". 2 ) Wie aber diese Vermittlung des Erkennens sich vollzieht, das ergibt sich innerhalb der anderen Tendenz des Erfahrungsbegriffs, die sich gegen die dogmatische Aufnahme traditioneller Vorstellungen vom Wirklichen wendet. In der unmittelbaren Arbeit am sinnlich Gegebenen kommt der erkennende Geist zur Betätigung des innersten selbständigen Vermögens. In dem Anführen der „Worte anderer", dem Berufen auf „Autorität" wird nur das „Gedächtnis" — in der Erfahrungserkenntnis aber wird der „Geist" verwendet. Die „einfache und reine Natur" ist die „Meisterin der Meister", die „Lehrmeisterin" aller jener, die eigenen Beitrag zur Erkenntnis geliefert haben; auf sie muß der Forscher allenthalben sich berufen. 3 ) So tritt der bloßen „Gelehrsamkeit" jener „Trompeten und Rezitatoren der Werke anderer" das „ g u t e N a t u r e l l " des aus eignem Quell schöpfenden „ E r f i n d e r s " entgegen. Der „Finder" aber ist der wahre „Vermittler zwischen der Natur und den Menschen". 4 ) Im Erkennen des selbständigen Forschers muß also die Vermittlungskraft des naturhaften Geistes mit der übertragenden Leistung der Erfahrung zusammenwirken, in seinem „guten Naturell" muß das „gute Verstehen" aus der „guten Erfahrung" ^ Leonardo da V i n c i , T r a k t a t von der Malerei. Hrsg. von Marie Herzfeld, Jena 1909. S. 3, 5. Dazu die Zitate bei Edm. Solmi, Studi sulla filosofia naturale di L e o n a r d o da Vinci. Modena 1898. S. 28, 56, 42. 2) Solmi, S. 35, 43; L e o n a r d o da V i n c i , der Denker, Forscher und P o e t . Ausg. von Marie Herzfeld. 2. Aufl. Jena 1906. Teil I, Nr. 10. 3) Leonardo, I Nr. 24—26; Solmi, S. 4. 4) Leonardo I, Nr. 27—28.
Die Notwendigkeit des Vernunftgrundes
hervorwachsen. Die Art dieser Vereinigung kennzeichnet die Methode der neuen Wissenschaft. Nicht etwa in der „Definition der Wesenheit der Elemente" kann das Erkennen sich der Dinge bemächtigen — das ist ja gerade das Ziel jener Art von Wissenschaft, die „vom Anfang bis zum Ende im Geist" verbleibt; solches Wissen „ist n i c h t in der M a c h t d e s M e n s c h e n " . Wahrhafte sichere Erkenntnis von der Natur kann nur in der Erforschung der „Ursachen", der Gründe (ragioni) entstehen, aus denen sich die „Wirkungen" erklären, wie sie der unmittelbaren Sinneserfahrung gegeben sind.1) In der Bestimmung dieses Zusammenhangs wird der Übergang vom Menschen zur Natur gewonnen. Das sachliche Vermittlungsprinzip aber liegt in dem Begriff des Vernunftgrundes. Die N o t w e n d i g k e i t im E r f o l g e n , die den Zusammenhang der Ursachen mit den Wirkungen kennzeichnet, gibt der Natur ihren „Zaum", ihre „ewige Regel". 2 ) „Die Natur ist unter dem Zwang der vernünftigen Ursache des Gesetzes, das in sie eingegossen lebt." 3 ) In der Notwendigkeit des Gesetzes zeigt sich die Vernunft als „Steuer" der Natur.4) Und im Erfassen dieser Naturvernunft gelingt dem „Erfinder" die Vermittlung wahrer Erkenntnis: mit der eignen Vernunft gelangt er zur „Vernunft der Natur". Der Geist des Forschers „muß sich verwandeln in den Geist der Natur selbst", seine Vernunft muß „eine zweite Natur" werden. Die Wissenschaft wiederum ist nichts anderes als „Natur in Verstand verwandelt". Das Denken mit seinen „Beweisen" steht nicht minder unter dem „Zwang" der Vernunft, als das ursächliche Erfolgen in der Natur.5) So können denn auch, unter dieser vermittelnden Direktive des Vernunftgrundes, im forschenden Vorgehen V e r n u n f t und E r f a h r u n g übereinkommen. Was jene nicht billigt, wird „folglich" auch von dieser verworfen.6) Weil der Inhalt der Erfahrung — die „Wirkungen", wie sie uns erscheinen — durch das Walten des vernünftigen Gesetzes bestimmt ist, kann es gelingen, im „Geiste", in der Wissenschaft die „Ursachen" dieser Wirkungen, die Gründe ihres Erfolgens zu fixieren und die Erscheinungen so aus ihrem „Ursprung" herzuleiten, daß das un*) L e o n a r d o I, Nr. 32, vgl. *) „ L a natura k costretta infusamente vive." L e o n a r d o 4) Leonardo I, Nr. 10. •) Leonardo II, Nr. 27.
2) Leonardo II, Nr. 1,4. 11; Solmi, S. 35. dalla ragione della sua l e g g e , che in lei II, Nr. 3; Solmi, S. 11. 5) Solmi, S. 45, 48, 52.
Die „wahre Regel" der Forschung
mittelbare sinnliche Erfassen durch diese Vernunfterkenntnis ersetzt wird. „Keine Wirkung ist in der Natur ohne Ursache (ragione), b e g r e i f e d i e U r s a c h e u n d D u b r a u c h s t k e i n e Erfahrung."1) „Mutter aller Gewißheit" ist die Erfahrung also nicht in dem Sinne, daß sie solche unmittelbar aus sich sollte hergeben können; sondern indem man von der Erfahrung auf die „vernünftige Ursache" zurückgeht, erreicht man den eigentlichen Quell der Gewißheit, dessen Erkenntnisse die Erfahrung dann zu bestätigen hat. „Man beweist durch die Vernunft, und man bestätigt durch die Erfahrung." 2 ) Das letzte Ziel aller wahrhaften Erkenntnis ist die Herleitung der einzelnen sinnlichen Erscheinungen aus ihrem „Ursprung", aus den ersten, selbst nicht wieder abzuleitenden Bedingungen. „Wissenschaft nennt man dasjenige verstandesmäßige Abhandeln, das b e i seinen (oder seines G e g e n s t a n d e s ) a l l e r e r s t e n A n f ä n g e n (origine) anhebt, über welche hinaus in der Natur nichts anderes mehr ausfindig zu machen ist, das wieder noch einen Teil an selbigem Wissen ausmachte." 3 ) Der W e g zu diesem Ziel aber, der W e g der Forschung, geht nicht von diesen Anfängen aus. V o n den beiden Möglichkeiten, die der verstandesmäßigen Betrachtung im Zusammenhang von Ursache und Wirkung geboten sind: dem „Erschließen der Wirkungen aus den Ursachen (cagioni)" und dem „der Ursachen aus den Wirkungen" 4 ), muß der menschliche Forscher die letztere zum Ausgang nehmen; bei den „Wirkungen", wie sie den Sinnen gegeben sind, muß die wissenschaftliche Arbeit ansetzen. „Meine Absicht ist, zuerst das Experiment (esperienza) vorzubringen und dann mit der Ursache (ragione) zu zeigen, weshalb selbiges Experiment gezwungen ist, in solcher Weise zu wirken. U n d d i e s e s i s t d i e w a h r e R e g e l , w i e die E r f o r s c h e r d e r W i r k u n g e n d e r N a t u r v o r g e h e n m ü s s e n , und wenngleich die Natur mit der Ursache beginnt und mit dem Experiment endet, wir müssen den entgegengesetzten W e g verfolgen, d. h. beginnen, wie ich oben sagte, mit dem Experiment und mit diesem die Ursache untersuchen." Diese „wahre Regel" kennzeichnet die Methode der empirischen Forschung. 5 ) ') Solmi, S. 44, Leonardo I, Nr. 16. 2) Solmi, S. 51, vgl. auch 42; Leonardo I, Nr. 24, 25. 3) Traktat von der Malerei, S. 2. 4) Solmi, S. 49; vgl. dazu noch S. 12: „tutti gli effetti sono dimostratori delle loro cagioni." 6) Leonardo I, Nr. r i ; vgl. dazu die „wahre Ordnung", die von den
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Die Gewißheit im Geiste
Nun wird es ganz klar, wie der letzte Grund der wissenschaftlichen „Gewißheit" nicht in der sinnlichen Erfahrung als solcher liegt, sondern in dem Geist des Erfinders, der auf die Ursachen der Erscheinungen zurückschließt, und das bloße Experiment ersetzt durch die deduktive Erklärung der „Wirkungen", den Nachweis der vernunftgemäßen Notwendigkeit in ihrem Erfolgen. Es erscheint nun nicht mehr als Widerspruch mit jenem Wort von der Erfahrung als „Mutter aller Gewißheit", wenn Leonardo für alles Wissen von der Natur die letzte Erkenntnissicherheit in den „gedachten", „unkörperlichen" Gebilden der Mathematik gelegen sieht. „Keine menschliche Forschung kann man wahre Wissenschaft heißen, wenn sie ihren Weg nicht durch die mathematische Darlegung und Beweisführung hin nimmt." In der Mathematik ist die „höchste Weisheit" und letzte Sicherheit verbürgt. „Keine Gewißheit dort, wo man nicht eine der mathematischen Wissenschaften anzuwenden vermag, oder bei dem, was nicht mit dieser Mathematik verbunden werden kann." 1 ) Eben diese Anwendung gibt aber wiederum der mathematischen Erkenntnis ihre eigentliche Erfüllung. Die Mechanik, als die Lehre von den Bewegungen, in denen alles Geschehen und Leben der Natur sich gründet, „ist das Paradies der mathematischen Wissenschaften, denn durch sie kommt es zur mathematischen Frucht." 2) In solchem „Anwenden" kann dann auch die deduktive Richtung der Methodik, die „Erschließung der Wirkungen aus den Ursachen" in ihre Rechte treten, in ihr kommt die Grundforderung zur Erfüllung, die in Leonardos Begriff der Wissenschaft liegt: die Erklärung alles Zusammengesetzten aus nicht weiter auflösbaren Anfängen. Mit aller Deutlichkeit tritt in allen diesen ersten Formulierungen Leonardos sogleich der philosophische Grundzug der modernen wissenschaftlichen Entwicklung zutage. Nicht ist es Problemen der Praxis zurückzugehen heißt auf die „bewiesenen Sätze der T h e o r i e " . Leonardo I, Nr. 14. ') T r a k t a t von der Malerei, S . 3 ; L e o n a r d o I, Nr. 6, 22, 23, vgl. 7. Die Mathematik gehört übrigens für Leonardo, trotz seiner sicheren Trennung der „körperlichen" Pole von den „mathematischen" und damit „geistigen", nicht etwa unter jenen Begriff der „Wissenschaften, die vom A n f a n g bis zum E n d e im Geiste bleiben"; vielmehr rechnet er das mathematische E r k e n n e n durchaus zu jenem „wahrhaften W i s s e n " , „ w e l c h e s der V e r s u c h durch die Sinne eindringen ließ". (Traktat, S . 3, 5.) E i n e genauere Abgrenzung der rein mathematischen Gewißheit von der empirischer Naturerkenntnis ist in dem mir vorliegenden Material nicht versucht. *) Leonardo II, Nr. 34, vgl. 35, 36.
Kepler
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ein neuer dogmatischer Weltbegriff, eine neue Ansicht von der inneren Struktur des Wirklichen, die schlechthin voranginge, und von sich aus der neuen Wissenschaft Ziel und Weg vorschriebe: sondern mit der wachsenden Einsicht in das Wesen und die Möglichkeiten des wissenschaftlichen Erkennens bildet der moderne Begriff der Natur sich heraus, der Natur, wie sie allein wahrer Wissensinhalt sein, der erkennenden „Macht des Menschen" zugänglich werden kann. In dem neuen Begriff der Naturgesetzlichkeit und der Forderung durchgängiger mathematischer Begründung aller Regeln des Geschehens, in der mechanischen Naturauffassung wie in der Lehre von der Subjektivität der Sinnesqualitäten bildet dieser klare Ausgang von der Methodik des Erkennens die einheitliche Grundtendenz. Daher konnte sich auch mit der Ausbildung jener Theorien zugleich die Formulierung der schaffenden Gesetzlichkeiten im Erkenntnisverfahren herausarbeiten.
Kepler. Diese Einstellung des wissenschaftlichen Problems ist es auch, die die Weltanschauung des Begründers der neuen astronomischen Ansicht über ihre Gebundenheit in philosophischen Traditionen hinaustreibt. In der Arbeit an den konkreten Problemen seiner Wissenschaft gelangt Kepler zu jener sicheren Erfassung grundlegender Motive des modernen Denkens, die später der Erkenntnislehre eines Leibniz Anlaß gab, in bedeutsamen Momenten an die Formulierungen des Astronomen anzuknüpfen. Der allgemeine Umriß von Keplers philosophischem Weltbilde wie die ursprüngliche Ausgangsstellung seines wissenschaftlichen Vorgehens stehen durchaus noch im Zeichen der anschaulichen Gestaltung des kosmischen Weltgebäudes, mit der das ästhetische Grundgefühl der Renaissance die Anknüpfung an den wissenschaftlichen und philosophischen Geist der Antike erstrebte. Die Bestätigung und Durchführung seiner Annahme von der harmonischen Bildung des Universums, in der „das Innere der Natur" sich ihm erschließen sollte, ist das ursprüngliche Ziel, in dessen Verfolgung seinem Forschungsdrang dann die exakte Grundlegung der modernen theoretischen Astronomie, wie die klare Wendung zu dem philosophischen
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Die apriorischen Gründe der Phänomene
Problem des erkennenden Bewußtseins gelang. Aus der sachlichen Entwicklung der astronomischen Probleme heraus, innerhalb der Durchführung seiner wissenschaftlichen Begründungen selbst gelangt Kepler zu ausdrücklicher Stellungnahme im Problem des Erkenntnisverfahrens. Die wissenschaftliche Aufgabe, die er übernahm, formuliert Kepler darin, daß er das, was Kopernikus „ e x cpaivofievoig, ex effectibus, ex posterioribus" durch glückliche Konjektur gefunden habe, „aus Gründen a priori deduzieren und richtig konstituieren" wolle. Man sieht sogleich, wie hier, in der Anknüpfung an den antiken Begriff der Phänomene, die Wendung zu der U r s p r ü n g l i c h k e i t g e i s t i g e r G r ü n d e genommen wird, die bei Leonardo durch die Begriffe der „ragioni" und der vernünftigen Notwendigkeit des Geschehens vermittelt wurde. Das „Phänomen" wird für die Frage der wissenschaftlichen Begründung nach seiner subjektiven Bedeutung, als sinnliche Erscheinung im Bewußtsein, gefaßt. W a s ihm hier gegenüber, was sachlich „ v o r " ihm steht, das ist der noumenale G r u n d , in d e m die S e e l e s e l b s t ihr i n n e r s t e s F u n d a m e n t b e s i t z t . Im ästhetischen Erleben des Wahrnehmbaren kommt jene Ursprünglichkeit des Innern allererst zum Bewußtsein. Der „natürliche Instinkt" erfaßt in der Natur, wie in den Gebilden der Kunst, die geistigen Momente, die die Mannigfaltigkeit des sinnlichen Stoffes zu einheitlicher ästhetischer Gesetzlichkeit erheben. 1 ) Darin zeigt sich dann aber der methodische Grund von Keplers Wahlverwandtschaft mit der pythagoreischen Lehre von der Weltharmonie, daß er die Einheit, die so der „natürliche Instinkt" der Seele im Sinnlichen erahnt, mit dem Inhalt derjenigen gesetzlichen Zusammenhänge identifiziert, in deren Errichtung die „diskursive" Erkenntnis der mathematischen Wissenschaft ihre konstruktive Leistung vollzieht. 2 ) Dem Gegenstand der Mathematik, dem Verfahren, in dem sie ihn gestaltet, wohnt eine Sicherheit, eine Beweiskraft inne, die ihn aus dem Bereich des Sinnlichen in das Gebiet des Geistes verweist. „Dies ist der Grund, weshalb die Quantität a l s i n t e l l e k t u a l e bezeichnet wird . . ., w e i l sie d e s allerg e n a u e s t e n B e w e i s e s f ä h i g s e i n m u ß . " Diese Kraft der Demonstration ist nicht den sinnlichen Diagrammen oder der ') Joh. Kepleri Opera omnia. ed. Frisch, vol. V. S. 128, 226. ') 136 f., 226; vgl. 213.
R ü c k g a n g zu den „mentalen" Inhalten
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Sammlung sinnlicher Daten zu entnehmen, „sondern wird a priori hergestellt". 1 ) Die Notwendigkeit, die „Ordnung" dieser Ideen, die „Gott selbst coaetern" sind 2 ), stempelt sie zu „ m e n t a l e n " Gebilden. 3 ) Die „sichere Definition" der „mathematischen Sachen", die „Wißbarkeit" dieser Figuren, die ewige Geltung ihrer apriorischen Gründe weist vom sinnlichen Sehen weg auf die „Augen des Geistes", auf den „Geist, der der Wissenschaft fähig ist". 4 ) In der Erkenntnis solcher ewigen Gesetzlichkeit konstituiert sich das eigentliche Wesen des Bewußtseins — für dessen begrifflich allgemeine Fassung Kepler allerdings den Zusammenhang mit der „Weltseele" noch nicht durchaus entbehren kann. Es ist „ d i e h ö c h s t e F ä h i g k e i t d e r S e e l e " , mit der sie in der Erkenntnis der mathematischen Beziehungen, deren „Archetyp" sie in sich trägt, zugleich „alle übrigen Wissenschaften und Künste umfaßt". 5 ) In dieser Betätigung tritt ihre ursprüngliche A k t i v i t ä t zutage. 6 ) Der „natürliche Instinkt" selbst quillt aus dieser Fähigkeit zur Erkenntnis der Quantitäten, die „dem Geiste mitgeboren" ist. 7 ) So besteht nun die Methode der Naturerkenntnis, vor allem der Astronomie, in dem Rückgang von den sinnlichen Phänomenen zu den „apriorischen Gründen", den „mentalen" Gebilden, die jene ursprüngliche Fähigkeit des Geistes aus sich hervorgehen läßt. In solchem Verfahren weiß Kepler sich im Einklang mit der wissenschaftlichen Methodik der Alten, in einer Übereinstimmung, die gar wohl mit der Forderung des Hinausgehens über ihre Erkenntnisstufe oder der Verwerfung einzelner Aufstellungen verträglich sein muß. Einem am Buchstaben der Tradition haftenden Gegner seiner Naturauffassung hält er zur Charakterisierung ihres verschiedenen Vorgehens dies entgegen: „Ich, der ich der mathematischen M e t h o d e der Alten beistimme, kämpfe in der fortschreitenden Erkenntnis über Einzelheiten gegen sie; Du aber, der Du ihre allgemeine Methode anklagst, bekennst Dich in Kleinigkeiten als Verteidiger der Alten." 8 ) Plato und Proklus sind es, auf die er sich beständig, als auf die Vorgänger seiner Forschungsmethodik, beruft. 9 ) Die Erklärung alles Wirklichen aus den Gründen, die dem innersten, ewig gleichen Quell des Bewußtseins entstammen — das stellt eine Selbständigkeit der wissenschaftlichen Methodik 2 ) 114, 136, 219. 3) 81, 133, 222 etc. 4) 222 vgl. 214. ») 222. ») 2 1 6 - 2 1 8 , 224. •) 216, 218. ') 222. •) 422. ») vgl. z. B. 80, 211, 421 f., 452.
Die geometrischen Fundamente
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dar, die alle Anlehnung an fremde Aufstellungen erübrigt. In welchen einzelnen Momenten Kepler selbst immer den Ergebnissen der antiken Forschung zu folgen sich bewußt ist, so „übernimmt" er diese doch nicht einfach, sondern errichtet die Erkenntnisse „unter Verschweigung der Gewährsmänner von i h r e n e i g e n e n F u n d a m e n t e n aus". „Das, was von den Alten übernommen werden kann, entnehme ich d e r N a t u r d e r D i n g e . " 1 ) Es sind eben die apriorischen Gründe, in denen die „höchste Fähigkeit" der Seele die Erkenntnis des sinnlichen Seins, seine wahrhafte Natur ans Licht bringt. Jene „Fundamente" sind die „geometrischen"; die „Zuflucht" „zur Natur" führt zu den „mathematischen Beweisen", mit deren „Sicherheit" er „allein es zu tun haben" will und ohne die er „blind" zu sein gesteht. 2 ) Im „Lichte der Natur" erfaßt der Mensch die „ewigen geometrischen Gründe", die „Regeln" des Geschehens. 3 ) Was dem Urquell des Geistes entstammt, auf den eben jene Sicherheit notwendig zurückweist, muß das Fundament für alle Erkenntnis des Wirklichen bilden. „Nichts ist im Intellekt wahr, was es nicht in der Sache wäre, die draußen ist, d . i . im Sinnlichen." 4 ) So will Kepler es auch bezüglich seiner eigenen neuen Erkenntnis vom Universum verstanden wissen: die Sterne haben Kepler nur die „Anregung der geistigen Kräfte" gegeben; die Wissenschaft von ihren Umläufen selbst aber „lag, gemäß der platonischen Lehre . . . im innersten Wesen der Seele verborgen"; der Anblick der Sterne hat „den Geist nicht inspiriert, . . . sondern nur aufgeweckt". 5 ) So treibt die methodische Forderung der wissenschaftlichen Arbeit zum klaren Erfassen und zur Erneuerung des platonischen Erkenntnisbegriffs. In den Ansätzen zur philosophischen Verteidigung und Begründung seiner „Hypothese" und in der Fixierung des eigenen induktiven Vorgehens gibt Kepler dann auch schon die ersten Formulierungen zur innerlichsten sachlichen Befestigung dieses historischen Zusammenhangs und zu seiner Auswertung für die methodischen Probleme der modernen Naturforschung. ») 426, 429.
J
) 435, 424. 446.
3
) 467-
*) 456.
») 262/3.
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Galilei
Galilei. Der spekulativen Grundstimmung des Keplerschen Geistes, der in aller Einzelforschung doch zugleich auf das Ganze der Welt und des Menschenwesens den Blick geheftet hält, stellt sich in Galileis Denkart die strengste, von den allgemeinen Fragen philosophischer Weltanschauung unbeirrte Hingabe an die besonderen Probleme der Naturerkenntnis entgegen. Ihm will Philosophie schlechterdings nichts anderes bedeuten, als die „Naturphilosophie" seiner „nuove scienze". So sehr er Keplers wissenschaftliche Leistungen anerkennt, und ihm darin folgt — seine „Art zu philosophieren" lehnt er ab. Die Erforschung der letzten „Ursachen" und Zusammenhänge des Weltgebäudes, die „künstlerische" Schöpfung eines umfassenden Weltbildes ist nicht die Aufgabe, die er sich stellen zu müssen glaubt. Er will sich grundsätzlich auf die „weniger erhabene" beschränken, die erst einmal das Material, „den Marmor" zu solcher Bildung zutage fördert, und in der „die bisher den spekulativen Geistern verschlossene Pforte", der „Eingang" zur exakten Erforschung der „natürlichen Konsequenzen", eröffnet werden soll. 1 ) Und doch nimmt der Begründer der Dynamik in der Entwicklung der neueren Philosophie und speziell des Methodenproblems eine wichtige Stelle ein. Ist es doch auch bei Kepler die Arbeit an den besonderen Aufgaben seiner Wissenschaft, innerhalb deren die eigentlich neuen und fruchtbaren philosophischen Ansätze entspringen, während die Geschlossenheit seiner mit vergangenen Gedankenmotiven durchsetzten spekulativen Weltansicht oft genug für die freie Entfaltung der modernen philosophischen Tendenzen mehr Verhüllung und äußere Bindung, als wirkliche Förderung bedeutet. So erwachsen denn auch Galilei, dessen allgemeine Geistesart so wenig auf philosophische Abstraktion abgestimmt ist, in dem deutlichen Bewußtsein von dem prinzipiellen Gegensatze seiner „neuen Wissenschaft" gegenüber der überkommenen Naturlehre die allgemeinen Einsichten in das logische Wesen der Methodik, mit der er seine grundlegenden Erkenntnisse gewinnt. In aller Bestreitung der besonderen traditionellen Aufstellungen, zu der er Schritt für Schritt sich genötigt sieht, und in der jeweiligen Verteidigung ') U n t e r r e d u n g e n und m a t h e m a t i s c h e D e m o n s t r a t i o n e n v o n Gal. Galilei, übs. u. hrsg. v o n O e t t i n g e n ( O s t w a l d s K l a s s i k e r der e x a k t e n W i s s e n s c h a f t e n Nr. i i , 24 und 25), D r i t t e r T a g S. 39, 25. C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VI
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Das Instrument der Wissenschaft
der eigenen Einsicht wird ihm der allgemeine Grundzug jener überwundenen Naturbetrachtung klar, zu dessen Bekämpfung ihm selbst doch eben nur allgemeinbegriff liehe, philosophische Waffen taugen konnten. Der unvermeidliche Zwang ständiger Polemik gegen die „Peripatetiker" entlockt ihm nicht weniger als das innere Bedürfnis einer allgemeinen Rechtfertigung seines Vorgehens die philosophischen Formulierungen, die seinen expliziten Beitrag zur Geschichte des Methodenproblems ausmachen. Im Gewände der syllogistischen Logik treten alle die Einwände seiner Gegner Galilei entgegen. So knüpft er gelegentlich, zur Bekämpfung ihres Verfahrens, gerade an ihre Auffassung von der Logik als dem „Instrument der Philosophie" an. Das Instrument erfüllt seinen Sinn erst in der Anwendung; erst in der fruchtbaren Verwertung zeigt sich seine Wirkungskraft. Und nur im Verfolge solcher schaffenden Arbeit, die mit ihm vollzogen wird, kann auch sein eigentliches Wesen zur Erkenntnis gebracht und für die eigene Betätigung nutzbar gemacht werden. Nicht aus den „logischen Büchern" ist das Verfahren der schaffenden Erkenntnis zu lernen. „Ein Instrument zu spielen lernt man eben nicht von dem, der es zu bauen, sondern von dem, der es zu spielen versteht". 1 ) Es sind die Entwicklungen der W i s s e n s c h a f t , in denen das Wesen jener Instrumente des Erkennens ersichtlich wird. Ihre Inhaltsgestaltung weist alle Kennzeichen des echten produktiven Verfahrens auf. Nicht aber in der „Jurisprudenz oder einer anderen menschlische Dinge behandelnden Wissenschaft" will Galilei dessen eigentliche Ausprägung erkennen, sondern wie Leonardo sucht er sie allein in den „Naturwissenschaften, deren Schlüsse wahr und notwendig sind und wo menschliche Willkür keine Stätte hat." 2 ) In seiner Stellung des Naturproblems aber kommt ihm zugleich das Wesen der Erkenntnismethode zum Bewußtsein. In dem bekannten Bilde Galileis vom Buche des Universums handelt es sich erst in zweiter Linie um eine neue Auffassung von der inneren Struktur des Naturseins. Wovon dieses Gleichnis ausgeht, das ist die Analogie des L e s e n s im Buche ') Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme von Gal. Galilei, übs. von E . Strauß, Leipzig 1891, S. 37/8;, vgl. zum Folgenden N a t o r p s Skizze „Galilei als Philosoph" in den philos. Monatsheften 1882. (Bd. XVIII.) *) Dialog, S. 57.
Das Beweisen in der Mathematik
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zum E r k e n n e n der sinnlich gegebenen Wirklichkeit. Man kann jenes Buch „nicht verstehen, wenn man nicht erst die Sprache verstehen lernt und die Züge kennt, in denen es geschrieben ist." Ohne vorausgehende Kenntnis dieser Sprache, dieser Charaktere ist es „unmöglich, nur ein Wort davon m e n s c h l i c h e r W e i s e zu verstehen!" 1 ) In der Erforschung aber des Buchinhaltes durch die Vermittlung der richtig erfaßten Zeichen stellt sich somit die Gesetzeskraft des Erkenntnisvermögens jener „menschlichen Willkür" entgegen. Auf die besondere Art nun jener Schriftzüge weist die Forderung der „wahren und notwendigen Schlüsse" hin. Es ist der „intensive" Charakter der N o t w e n d i g k e i t , als d e r h ö c h s t e n S t u f e d e r G e w i ß h e i t , die es g e b e n k a n n , die den „rein mathematischen Erkenntnissen" jene „objektive Gewißheit" verleiht, in der die innerste Gesetzlichkeit des „menschlichen Intellekts" der „göttlichen Erkenntnis" und der Gewißheit der „Natur selbst" gleichkommt. Für das Verständnis der Natur bildet die M a t h e m a t i k die unerläßliche Grundbedingung. „Wer naturwissenschaftliche Fragen ohne Hülfe der Geometrie behandeln will, unternimmt etwas Unausführbares." 2 ) Das Verfahren der Mathematik also stellt den IdealbegrifF aller Erkenntnisgewißheit, damit aber alles Erkennens überhaupt dar. Galilei läßt den peripatetischen Mitunterredner selbst zu der Einsicht gelangen, daß man seine Studien „mit Mathematik beginnen" müsse, „denn diese Disziplin g e h t p e i n l i c h g e n a u v o r und läßt nur das zu, was f o l g e r i c h t i g dasteht". 3 ) Alle Sicherheit des Verfahrens, die Methode des „wahren und notwendigen" Schließens ist in ihr zu finden, aus ihr zu entnehmen. „Man lernt das B e w e i s e n aus der Lektüre der Bücher, die zahlreiche Beweise enthalten, a l s o a u s d e n m a t h e m a t i s c h e n , nicht aus den logischen". 4 ) Die mathematischen Wahrheiten sind es vor allen, die „den Geist für die Erkenntnis der Wahrheit schärfen" und „ihn zu jeglicher Untersuchung befähigen". Durch sie wird man über die „gewöhnliche Philosophie" hinausgeführt. 5) Die Aufgabe der Naturerkenntnis aber, deren innerste Kraft und Sicherheit also in der Mathematik sich gründen muß, stellt ') Opere VII, 3552 ) Dialog, 4 ) Dialog, ®) Dialog,
complete di Galileo Galilei, ed. Albferi. Firenze 1842—56. S. 108, 215; vgl. 212. *) Unterredungen, erster Tag, S. 80. S. 38; vgl. Natorp a. a. O. S. 203 f. S. 344; vgl. Unterredungen, zweiter Tag, S. 113. 2*
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R ü c k g a n g von der Erfahrung
der Bestimmung des Verfahrens eine weitere Frage, die über die nach der M e t h o d e d e s B e w e i s e n s , wie sie in jener Idealwissenschaft gelernt werden soll, hinausliegt. In dem Buchstabieren nach den mathematischen Charakteren soll das menschliche Erforschen die S ä t z e jenes Buches, die übergreifenden Zusammenhänge der Wirklichkeit verstehen lernen. In der Natur, wie sie uns vorliegt, aus dem Geschehen heraus, das wir erleben, soll die mathematische Sprache uns erklingen. Denn nicht „reine Mathematik", sondern „Naturphilosophie" soll die „neue Wissenschaft" bedeuten. Für die Erkenntnis des Wirklichen aber gilt Galilei, wie Leonardo, als die erste, allen Anfang der Untersuchung bestimmende methodische Forderung der A u s g a n g v o n d e r E r f a h r u n g — ein Verlangen, das er nicht müde wird, immer und immer wieder gegen die Begriffsdeduktionen seiner Gegner ins Feld zu führen. Selbst Aristoteles müsse, seiner Darstellung zum Trotz, von „den Sinnen, der Erfahrung und der Beobachtung" aus zu seinen Aufstellungen über die Natur gelangt sein, auch er könne nicht ursprünglich, wie seine Nachtreter es behaupten, in seiner Forschung von den „apriorischen", „einleuchtenden" „Naturprinzipien" ausgegangen sein und seine Theorien dann erst nachträglich durch die sinnliche Wahrnehmung a posteriori befestigt haben! 1 ) Aus der Erfahrung heraus, die „das Fundament des ganzen späteren Aufbaues" bildet, muß in jenen „Wissensgebieten, in w e l c h e n auf n a t ü r l i c h e K o n s e q u e n z e n mathematische Beweise a n g e w a n d t w e r d e n " , der Zusammenhang der Charaktere sich ergeben, durch den das „Buch des Universums" verständlich wird. 2 ) Die Beziehungen zu den mathematischen Gesetzlichkeiten a u s d e m g e g e b e n e n s i n n l i c h e n S t o f f e h e r a u s zu finden, das eben ist die eigentümliche Aufgabe der „neuen Wissenschaft". So stellt Galilei jener Methode der Schlüsse, des „ D e d u z i e r e n s aus den wahren und b e k a n n t e n Prinzipien", dem Verfahren des „Beweisens", das er als „ k o m p o s i t i v e M e t h o d e " bezeichnet, die Forderung eines Verfahrens gegenüber, das im R ü c k g a n g e v o n d e m in d e r u n m i t t e l b a r e n E r f a h r u n g G e g e b e n e n u n d v o n ihr a l s w i r k l i c h Bez e u g t e n den Z u s a m m e n h a n g mit j e n e n „ b e k a n n t e n P r i n z i p i e n " g e w i n n e n l e h r t . Nur durch solche Vermittlung kann es zu der „geometrischen Methode" der Naturerkenntnis kommen, wie er sie fordert. >) Dialog, S. 54.
r)
Unterredungen, dritter T a g , S. 25.
D i e „resolutive" Methode des „Findens"
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Diesem Verlangen vermag die „Logik" der syllogistischen Tradition nicht zu genügen. Sie bleibt in ihrem Formalismus nicht nur hinter der sachlichen Kraft der in den „mathematischen Büchern" niedergelegten Beweise zurück, führt nicht nur nicht „zur Denkschärfe der Geometrie" — sie lehrt uns vor allem nicht, den „ G a n g der U n t e r s u c h u n g " zu bestimmen, und „die Beweise zu finden!" „Ob bereits angestellte Untersuchungen urteilskräftig seien", das mag sie uns erkennen lehren, aber „ s i e b r i n g t u n s d o c h n i c h t z u r E r f i n d u n g " . 1 ) Der Aufgabe der „Erfindung" (invenzione) dient die „resolut ive Methode". Sie entdeckt in dem Zeugnis der Erfahrung die mathematischen Buchstaben, deren Aufreihung, deren folgerechter, deduktiver Zusammenschluß in der k o m p o s i t i v e n Methode den Inhalt jenes Buches verständlich macht. Der „resolutive" Weg ist in aller Wissenschaft, die Anspruch auf deduktive Sicherheit macht, stets der Weg zum „Finden" der Beweise, zum Auffinden des Zusammenhangs gegebener Einzelbehauptungen mit einem „schon bewiesenen Satz oder einem selbstverständlichen Axiom". 2 ) Galilei selbst erläutert das Rückgehen von der Erfahrung auf die mathematischen „Prinzipien" an dem Verfahren, das die Mathematik für die A u f f i n d u n g des B e w e i s e s einer These anwenden muß — eine Wendung, in der er unmittelbar den Zusammenhang mit der mathematischen Methodenlehre der Antike aufdeckt. Von der Erfahrung, mittels deren man „so viel als möglich von der Richtigkeit der Schlußfolgerung 3 ) sich zu überzeugen" versucht, geht „die Erfindung" den resolutiven Weg; „bei naturwissenschaftlichen Fragen ist es die Vertrautheit mit den Wirkungen, die uns lehrt, die Ursachen zu erforschen und aufzufinden". Zum unmittelbar gegebenen Sein der sinnlichen Erfahrung aber sucht wiederum die kompositive Methode, in der „Anwendung" der mathematischen Beweise „auf natürliche Konsequenzen", zurückzuleiten. Die „Prinzipien", von denen sie abwärts steigt, sind die „Ursachen", die Galilei, den Formulierungen Leonardos durchaus analog, in den „festen unabänderlichen Folgewirkungen" der Natur sucht, für die allein es „ein Erkennen gibt". 4 ) In den mathematischen Beziehungen, ') Unterredungen, zweiter T a g , S. 114. ') Dialog, S. 54; vgl. 427. O p e r e Bd. XII, S. 319 f. s ) D. h. der Thesis, des in der B e o b a c h t u n g gewonnenen Untersatzes der späteren Deduktion. ') Dialog, S. 480 f.
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D a s A b s t r a k t e und das Konkrete
den mathematischen Folgerungen und „Beweisen" aber werden jene „beständigen einheitlichen und ewigen Ursachen", durch die die Erscheinungen „bedingt" sind, zu sicherer Bestimmung gebracht. Niemals gelangt der Mensch, auch in seinen tiefsten Forschungen nicht, dazu, den „Bau des Weltalls" — ja nicht einmal eine einzelne „Wirkung der Natur, sei sie noch so bescheiden", gänzlich zu durchschauen; nur „einige Bruchstücke von Wahrheit" werden auf dem „ W e g e der Naturerkenntnis gesammelt". 1 ) In diesem „Sammeln", mit dem die auflösende Methodik die Bruchstücke wahrer Erkenntnis im Gegebenen zu finden lehrt, — welche Fragmente dann die zusammenfügende Richtung wieder mit dem Ganzen der Erfahrung zusammenbringt — liegt zugleich die Andeutung für das rechte Verständnis der Verbindung, welche die letztere Methode zwischen den mathematischen Prinzipien und der konkreten Wirklichkeit herzustellen vermag. Die „abstrakten" Gebilde der Mathematik sind allerdings nicht unmittelbar den existierenden Naturdingen gleichzusetzen — „in der T a t gibt es sie nicht": — dennoch aber „stimmen" sie mit jenen „überein", wie die „Berechnungen und Operationen mit abstrakten Zahlen" ihre Geltung auch bei der Anwendung „in concreto" bewahren; nur „ m u ß d e r G e o m e t e r , w e n n er d i e t h e o r e t i s c h b e w i e s e n e n F o l g e w i r k u n g e n e x p e r i m e n t e l l s t u d i e r e n w i l l , die s t ö r e n d e n E i n f l ü s s e d e r M a t e r i e in A b r e c h n u n g b r i n g e n " . „Die Fehler liegen also weder an dem Abstrakten, noch an dem Konkreten, weder an der Geometrie, noch an der Physik, sondern an dem Rechner, der nicht richtig zu rechnen versteht". 2 ) Die kompositive Methode führt also nicht unmittelbar zum ganzen Inhalt der Erfahrung die Prinzipienerkenntnis hinab, sie vermag nur unter jener einschränkenden Bedingung des A b sehens von anderen störenden Einflüssen, von weiteren „sekundären" Ursachen, die sich mit jenen „ursprünglichen, umfassenden" „vermischen" und dadurch „vielfache Abänderungen hervorzurufen vermögen" 3 ), ihre exakte Bestimmung der Erscheinungen zu vollziehen. In dieser Erkenntnis der inneren Notwendigkeit der einzelnen, abstraktiv betrachteten „Folgewirkungen" aber steht ihr dennoch gegenüber der Unsicherheit ') Dialog, S . 4 8 5 ; vgl. E . d e P o r t u , Galileis Begriff der Wissenschaft. Diss. Marburg 1904. S. 24 f. *) Dialog, S. 220.
3)
Dialog, S. 481.
Schein und Wirklichkeit
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der sinnlichen Erfahrung die letzte Urteilsinstanz zu: von dem, „was bei oberflächlicher Betrachtung die Sinne uns vorspiegeln, die uns gar leicht täuschen können", von dem „Schein" ist in der Erklärung der Natur, wie sie in jenen Methoden sich gestaltet, „abzusehen" — man muß vielmehr „durch Vernunftgründe zur Erkenntnis sich durchringen, o b d e r S c h e i n d e r W i r k lichkeit entspricht, oder trügerisch istl"1) In der Doppelrichtung der Methoden wird so der Zusammenhang der gegebenen Erfahrungswelt mit dem innersten Vermögen des menschlichen Erkennens geschlossen. Von dem Vertrauen auf die Gültigkeit der gegebenen Einzelerfahrung geht das resolutive Forschen aus und lehrt den Übergang zu finden von den Vorstellungen der Sinne zu jenen „wahren und notwendigen" Erkenntnissen des Verstandes, die „unmöglich anders sein können" — und die der Geist nicht anders, als „aus sich selbst" haben kann. 2 ) Die kompositive Methode aber bringt dann diesen Zusammenhang in die exakte Form des deduktiven Beweisverfahrens, in dessen Entwicklungen nun, von der „Gewißheit" der mathematischen Begriffe aus, die vorher auf Treu und Glauben angenommene Erfahrung e r s t a u f i h r e n W i r k l i c h k e i t s g e h a l t g e p r ü f t wird. Durchgreifender und logisch tiefer noch als bei Kepler wird in diesen ausdrücklichen Formulierungen Galileis der historische Zusammenhang deutlich — und eine Verfolgung seines wissenschaftlichen Vorgehens, wie Galilei selbst es aufgezeichnet hat, würde ihn nach allen Seiten hin bekräftigen, — zwischen dem Verfahren, dessen die neue Wissenschaft von der Natur mit so klarem Bewußtsein sich bedient, und der hypothetischen Methode, wie sie Plato gelehrt hat. Wie bei Kepler die Gewinnung der „wahren" astronomischen Hypothese, so schlägt hier die Grundlegung der neuen Bewegungslehre, von der Galilei einmal sagt, daß ihre „neue Methode" „allmählich auf alle Gebiete der Natur sich erstrecken" müsse 3 ), jene sachliche Brücke von der platonischen Wissenschaft und Erkenntnislehre zur Weltansicht der neueren Zeit, deren philosophische Formulierung jenen Denkern nur andeutungsweise gelingen konnte, und deren klare, philosophisch wie wissenschaftlich gleichmäßig fundierte Ausprägung erst dem universalen V e r mögen eines Leibniz beschieden war. ') Dialog, S. 270 f. *) Dialog, S. 165. ») Unterredungen, dritter Tag, S. 79/80.
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Bacon
Die unmittelbare innere Übereinstimmung aller dieser Formulierungen mit Begriffsfassungen der kommenden philosophischen Methodenlehre, ihre antizipierende Bedeutungskraft und die durchwaltende Identität der geistigen Gesamteinstellung dürfen doch nicht über den Abstand hinwegtäuschen, der zwischen dieser Fixierung der methodischen Grundmomente in der neuen Wissenschaft und der prinzipiellen Fassung des Problems im Anfang der neuen Philosophie bestehen bleibt. Das philosophische Interesse jener Forscher ist notwendig beschlossen in dem Umkreis der Fragen, die innerhalb ihrer besonderen Wissenschaft und deren Einzelaufgaben sich ergeben. Die logischen Begriffsbildungen sind gewissermaßen doch nur Nebenergebnisse positiver Forschungsarbeit. Auf eine einzige Wissensgattung bleibt die Charakteristik des Erkennens geheftet ; und der Richtung des Methodenproblems auf das Systemprinzip des Bewußtseins kommt doch nur eine latente Wirksamkeit zu. Der Methodengedanke gelangt nicht zu dem Maße von selbständiger Allgemeinheit, das ihn zum philosophischen Problem im systematischen Sinne erheben könnte. Die Wendung zur P h i l o s o p h i e der Methode, die Descartes heraufführt, klingt bereits an in B a c o n s „Neuem Organon". In diesem Punkte steht der englische Philosoph dem Anfang der neueren Philosophie näher als jene Männer der Wissenschaft. Seine Methodenlehre zielt auf die Gesamtheit der Wissenschaften. Kein anderer Denker vor Descartes hat die Methode in gleicher Weise in den Vordergrund des philosophischen Interesses gerückt und alle Fundierung einer neuen Weltansicht von der Lösung dieser Frage erwartet. In dieser Hinsicht ist es Bacon, der die Akzentuierung und Ausbreitung der Methodenfrage im Zeitalter des Descartes und Leibniz inauguriert. In der Tat finden die programmatisch zugespitzten Schlagworte des englischen Philosophen in aller folgenden Entwicklung die breiteste Aufnahme. Bacons geschichtliche Wirkung kann nach dieser Seite nicht leicht überschätzt werden. Sobald man indes auf die innere Tendenz und den Sachgehalt dieser philosophischen Methodenlehre den Blick richtet, gelangt man ohne weiteres zu der Einsicht, daß es ein historischer Irrtum wäre, dem Verfasser des „Novum Organum" eine innere Bedeutung für die Entwicklung des modernen Methodengedankens zuzusprechen, ihm etwa eine vermittelnde Stellung zwischen den Methodikern der Wissenschaft und Descartes anzuweisen. Bacons Methodenlehre gehört vielmehr in jenen
Das „neue Werkzeug"
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Zusammenhang „dialektischer" Theorien, den die Logiker der Renaissance begründeten und der bei aller schulmäßigen Ausbreitung doch prinzipiell durchaus in die philosophische Gesamteinstellung jener Denker gebannt blieb. In diesem Begriff von der Methode lebt nicht die reflexive Wendung auf die grundsätzliche Konstituierung des erkennenden Bewußtseins; die Forderung eines allgemeinen „Werkzeuges" zur Gewinnung neuen Wissens gibt hier die bestimmende, die e i n z i g e Direktive. Die Einheitlichkeit dieses Denkinstruments, seine identische Geltung für alle wissenschaftlichen Gebiete zielt nicht auf die Einheit des erkennenden Geistes — sie gründet sich für Bacon nicht auf die Ursprungseinheit des im Bewußtsein zentrierten Wissenssystems, sondern auf die mit dem Objekt gegebene Vorrangstellung der Naturlehre in der Enzyklopädie der Wissenschaften. Diese Sonderbeziehung der Methode auf die Wissenschaft von der Natur ist aber wiederum auch nicht imstande, die Baconische Fassung des Problems in die Sphäre wissenschaftlicher Logik zu erheben, innerhalb deren Galilei mit Descartes in unmittelbaren Zusammenhang tritt. Bei Bacon ist es nicht die Selbstbesinnung im Erfolg sich bewährender Forschung, die zu den logischen Formulierungen führt; hier geht die Beschreibung des Verfahrens der wissenschaftlichen Arbeit vorauf: mit der neuen Methode soll nun erst die Möglichkeit gewonnen sein, Wissenschaft aufzurichten; vor der Erfindung des „neuen Werkzeuges" hat es keine Wissenschaft gegeben. So ist für diesen Begriff der Methode, der zufolge Bacons Stellung in der Geschichte der exakten Naturforschung des unmittelbaren Fühlung mit der neuen Wissenschaft entbehrt, auch jede Möglichkeit historischer Orientierung abgeschnitten. In der Tat ist denn auch der inhaltliche Wert der Baconischen Methodenlehre und demnach ihr sachlicher Beitrag zur Entwicklung des Problems äußerst gering. Alle die ausführlichen Distinktionen ergeben nicht mehr als einzelne, für die neue Logik belanglose Gedanken zur Psychologie der Forschung. Und so sehr Bacons programmatische Grundforderungen (wie die Logik der „Erfindung" im Gegensatz zur Darstellungsmethodik des Syllogismus, das Verfahren der „Induktion" als der wissenschaffenden „Ehe zwischen der Vernunft und der Erfahrung" im Gegensatz zu der Unfruchtbarkeit jener reinen „Deduktion") an prinzipielle Bestrebungen des modernen Denkens anklingen, so sehr sie auch in ihrer Akzentuiertheit auf ein undeutlich ahnendes Bewußtsein des Neuen weisen
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Übergang zu Descartes
mögen: für die innere Ausbildung des philosophischen Methodenproblems ist er genau so wenig epochemachend wie für das Werden der exakten Naturwissenschaft. Wenn Bacons Methode den logischen Äußerungen eines Kepler und Galilei gegenüber sich der Allgemeinheit ihres philosophischen Ausgangs rühmen kann, so fehlen ihr dafür alle bedingenden Momente der neuen Denkweise und Fragestellung. In der Übertragung des wissenschaftlich befestigten Problems auf die Ebene der allgemeinen Erkenntnislehre und damit seine ausdrückliche Direktion auf das philosophische Grundprinzip des Bewußtseins liegt eben Descartes' entscheidende Tat; sie bleibt sein alleiniges Verdienst. Er gewinnt den Übergang von der Besonderheit empirischer Naturforschung zum prinzipiellen Begriff des Erkenntnisverfahrens nun aber durch die Einbeziehung und Voranstellung des Problems m a t h e m a t i s c h e r Methodik. Das lag über das Interesse jener Entdecker des neuen Naturbegriffs hinaus. Ihre wissenschaftliche Arbeit erstrebte die Reduktion des sinnlich Gegebenen auf die Exaktheit mathematischer Bestimmungen; die Mathematik selbst aber galt dabei als ein bereitliegender, gesicherter Besitz; so kam es nicht zu der Frage nach der Methodik dieses Erkennens, nach dem Verfahren, in dem diese Inhalte selbst entstehen und sich befestigen. Erst in der systematischen Fassung der Methodenfrage, in der Philosophie des Descartes und Leibniz treten beide Problemstellungen zusammen — führt die Konfrontation reiner und empirischer Erkenntnis zu einer umfassenden Charakteristik des Erkennens überhaupt.
Erster Teil.
Descartes' Methode der klaren und deutlichen Erkenntnis.
Erstes Kapitel. Die Methodenlehre der „Regeln zur Leitung des Geistes". a) Die S t e l l u n g d e s P r o b l e m s im G a n z e n d e r Cartesischen Philosophie. Als der einundvierzigjährige Descartes nach allem Zögern und langer beharrlicher Abwehr aller Aufforderungen, die an ihn herantraten, endlich seine Scheu vor der Berührung mit der Welt überwand, und mit dem „Discours de la méthode" zum ersten Male vor die Öffentlichkeit trat, da war seine innere philosophische Entwicklung bereits abgeschlossen. In seinem Kopfe lag der Plan und alles Material zu seinem philosophischen und wissenschaftlichen Aufbau bereit. Die Grundzüge waren auch schon im „Monde" zur Ausführung gediehen, als die Nachricht von der Verurteilung Galileis den konfliktscheuen Einsiedler bestimmte, dies Werk, auf das man mit so großer Spannung seit Jahren wartete, der Vernichtung zu weihen. Das Buch aber, das Descartes nun zum Ersatz für jene umfassende Darstellung in den Druck gab, der „Discours", enthält nur Andeutungen, nur Bruchstücke seiner Lehre. Von allen den Problemgebieten, die hier zur Sprache kommen, von der Methodenlehre selbst, auf die der Titel weist, wie von der Metaphysik, von dem neuen mathematischen Verfahren wie von der physikalischen Theorie gelangen jeweils nur „Teile", nur die allgemeinsten Umrisse, oder einzelne herausgegriffene Problemgruppen zur genaueren Behandlung. Auf die methodische Aufreihung und lückenlose Begründung, den s y s t e m a t i s c h e n Z u s a m m e n h a n g (auf dessen zwingende Beweiskraft Descartes in den eigentlichen Darlegungen seines Systems nicht müde wird, den Leser zu verweisen) ist hier, der ganzen Anlage des Buches nach, von vornherein Verzicht geleistet. Die Disposition, wie die inhaltliche Auswahl tragen durchaus den Charakter der Zufälligkeit, den der Autor selbst auch gelegentlich betont hat.
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Historische Stellung des „Discours"
Äußere Erwägungen waren es, die auf Form und Gehalt dieses Buches bestimmenden Einfluß gewannen. Dem Drängen der Freunde und dem spöttischen Zweifel seiner Gegner, wie er ihn argwöhnte, wollte Descartes an einzelnen, leicht faßlichen Proben den Beweis erbringen, daß es nicht nur leere Gerüchte seien, die von ihm die Errichtung einer neuen Philosophie versprachen. Zugleich aber sollten dieser „Discours" und diese „Essais" — wie er geflissentlich dem Titel schon die unverbindliche Form gab, die auch, im Verein mit der aus analogen Gründen gewählten Muttersprache, das stilistische Gepräge der Ausführungen wesentlich bestimmt — sollten diese Proben seiner neuen Denkungsart dem systematischen Aufbau, den er nun doch einmal zu publizieren beabsichtigte, „den Weg bereiten". „Sodaß ich dann, wenn ich der Welt diese Meinung von meiner Methode habe beibringen können, glauben darf, nicht mehr so viel Grund zur Besorgnis zu haben, daß die Prinzipien meiner Physik schlecht aufgenommen werden." Der Schreck über Galileis Schicksal wirkt auch hier noch, wie in der ganzen weiteren Lebenszeit, bestimmend auf die äußere Gestaltung der Schriften ein — so sollte dies legere Buch für etwaige systematische Vorstöße „das Terrain sondieren". Descartes selbst hat später das Ganze eine „Vorrede" genannt. 1 ) So nimmt der „Discours de la méthode" im literarischen Schaffen des Denkers eine eigentümliche Zwitterstellung ein. Die ausführliche Untersuchung der Frage, die der „gemeinsame Titel" dieser „vier Versuche" in den Mittelpunkt rückt: des Problems der Methode als solcher, lag in Descartes' philosophischer Entwicklung wohl ein Jahrzehnt zurück. Die Lebenszeit, in welcher der Discours entsteht, gehört einer anderen Gruppierung der Interessen, einer längst veränderten philosophischen Gesamteinstellung. So erschöpft sich denn auch in der Tat der Beitrag dieses Buches zur logischen Fixierung des Methodenproblems in einer nur wenige Zeilen umfassenden und der Frage kaum gerecht werdenden Rekapitulation jener früheren Studien und des Ausdrucks, den diese einst in einer unveröffentlichten Schrift gefunden hatten. Descartes selbst betont es Mersenne gegenüber mehrfach, daß er nicht die „ganzeMethode", keinen „Traktat" von ihr habe geben, nicht eigentlich sie hab e „lehren" wollen — daß er vielmehr hier nur „von ihr zu sprechen", ') Oeuvres de Descartes 1897—1909. Bd. I, 370; III, 261.
publ. Ch.
Adam
et P. Tannery.
Paris
Die „Versuche"
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nur einen „Teil" von ihr zu enthüllen, sie zu „proponieren" und, durch die „Proben" ihrer Erkenntniskraft, „mehr in der Praxis als in der Theorie" darzulegen beabsichtigt habe. 1 ) Wenn so im „Discours" nicht die authentische Quelle der Cartesischen Methodenlehre gesucht werden darf, so gilt dies in ähnlichem Sinne auch von den Problemen, die die „Versuche dieser Methode" behandeln. Zwar sind es eben diese Gebiete, die für Descartes zur Zeit des Discours im Mittelpunkte des Interesses stehen — hier aber sind es eben, wie angedeutet, andersartige Motive, die die Art der Ausgestaltung beeinflussen. Das gilt für die physikalischen Lehren und ihre Begründung so gut wie für die M e t a p h y s i k . Auch sie tritt ja nur als „Probe" neben den Ausführungen zur „Physik und Medizin" und den eigentlichen drei „Essais" auf: so erhält auch sie hier den Gelegenheitscharakter, der es erlaubt, Glieder ihrer Beweiskette, die Descartes für wesentlich, zur exakten Begründung unerläßlich hielt, zu unterschlagen. 2 ) Der „Discours de la méthode" gibt also im strengen Sinne weder Descartes' Methodenlehre, noch den Aufbau seines Systems. Zwischen beiden steht er inhaltlich, wie nach der historischen Abfolge der Schriften mitten inne, ohne doch in den entsprechenden Darlegungen sie vollgültig vertreten, noch sie gar mit einander verbinden zu können. Und" doch ist dieses Werk von entscheidender Bedeutung für das Verständnis der Cartesischen Philosophie in ihrer Gesamtheit; nicht etwa nur durch die Einzelausführungen, die in ihrer glänzenden Diktion oft von nicht wieder erreichter Klarheit sind, sondern in ganz prinzipieller Hinsicht. Den Titel einer „Vorrede" zum späteren Aufbau verdient der Discours noch in einen besonderen, einem präziseren Sinne, als ihn jene äußere Vorbereitung zu bezeichnen vermag. Denn in ihm hat Descartes, wie nirgendwo anders, den G e s a m t p l a n s e i n e s P h i l o s o p h i e r e n s , den Ausgangspunkt wie das Ziel und demgemäß die genaue Abfolge der gedanklichen Stadien in großen Umrissen zur Ausprägung kommen lassen. Es ist die stilistische Form der S e l b s t b i o g r a p h i e , in der er diesen Weg, wie er ihn für die Gewinnung der rechten Philosophie fordert, an der Verfolgung der eigenen philosophischen Lebensstadien mit einer unvergleichlichen Lebendigkeit der Darstellung dem ') D I, 339, 349. 37°, 559Vgl. D I, 560, VII, 7, 247; auch I, 349, 37° und IX j, 15 fr.
Der „Discours" als „Vorrede"
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Leser zur Erkenntnis bringt. Unmittelbar paßte diese Form hier sich dem Inhalte an: selten wohl ist der Entwicklungsgang eines Denkers nach der Abfolge seiner wechselnden Betätigungsrichtungen, der jeweiligen Wendung des Probleminteresses in so planmäßiger Entsprechung zu den Forderungen seiner systematischen Einsicht verlaufen. Mit einer merkwürdigen Folgerichtigkeit ist dieses Leben, das von der ersten reifen Selbstbesinnung an voll und ganz den selbstgesteckten Zielen der philosophischen Theorie gewidmet war, zum unmittelbaren Spiegelbild der Lehre geworden, deren bestimmte Ausprägung selbst doch erst in seinem Verlaufe entstand. Wie sehr Descartes, der stilistischen Beschränkung auf das eigene Ich und allen bescheiden-vorsichtigen Wendungen zum Trotz, diesen Gang als den sachlich notwendigen allgemein forderte, das ist aus einer späteren Darlegung zu ersehen, die von der Höhe des fertig ausgebildeten Systems auf die Stufen der Vorbereitung und ordnungsmäßigen Ausgestaltung systematische Rückschau hält, — und die nun mit jener scheinbar so unverbindlichen Erzählung die genaueste, bis in die Einzelheiten der Terminologie sich erstreckende Übereinstimmung aufweist. 1 ) So wird man denn auch von jener konkreten Darlegung die Aufklärung erwarten dürfen über die Stellung und die Bedeutung, die das P r o b l e m d e r M e t h o d e in der sachlichen Entwicklung der Cartesischen Philosophie einnimmt — dieses Problem, das eine so ausgebreitete Rolle in Descartes' eigener Entwicklung gespielt hat, und das dennoch, wie es zunächst scheinen kann, in dem Aufbau seines S y s t e m e s s e l b s t , des Systems der „Meditationen", keinen eigenen Platz gefunden hat. Das ist die Direktive, die wir hoffen dürfen, in solcher historischen Orientierung, die hier eben zugleich eine sachliche ist, zu gewinnen: die rechte Einsicht in den Ausgangspunkt, in die allgemeine philosophische Stellung des Cartesischen Methodengedankens wird mit dem richtigen Verständnis seiner einzelnen Aufstellungen zugleich den Hinweis auf die Zusammenhänge ergeben müssen, die dies Problemgebiet mit den Ausführungen des Systems, vor allem mit der M e t a p h y s i k , verbinden. Daß das Problem der Methode bei Descartes nicht, wie bei Kepler und Galilei, auf dem Boden spezieller wissenschaftlicher Aufgaben, sondern, bei aller Beziehung auf solche Gebiete, auf x
) Der Brief an den Übersetzer der „Prinzipien".
D I X 2 , 1—20.
Das „allgemeine Ziel" der „Wahrheit"
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dem Felde rein philosophischer Fragestellung erwuchs, darauf deutet schon die erste selbständige Reflexion, die den wissensdurstigen Schüler sogleich weit über das Geistesniveau seiner Umgebung hinaushebt. Aus dem vielseitigen Lehrgang seiner Schule, dem rastlosen Studium aller Wissenschaften, wie sie die Zeit ihm zu bieten vermag, erwächst seinem revolutionären Geiste mit zunehmender Deutlichkeit die Einsicht seines „Nichtwissens" und des allgemeinen Charakters innerer Haltlosigkeit und Unfruchtbarkeit, den alle jene einzelnen Lehrgebäude ihm zu bewahren scheinen. 1 ) In diesem seinem „Habe nun, ach, . . . " spricht sich das Begehren nach einem prinzipiellen Erkenntnisbegriff, die Forderung eines neuen wissenschaftlichen Ideals aus. Die verstreute Mannigfaltigkeit jener Einzelstudien wird der umfassenden Einheit eines philosophischen Gesichtspunktes unterstellt. Und in der Negation des Überlieferten kündigt sich sogleich auch das neue Ziel an. W a s „alle Jene" in der Vielheit der Gebiete, was sie „in den Wissenschaften" erstrebten, das war die „Erforschung der Wahrheit". So faßt Descartes unter dem einheitlichen Begriffe der „Wahrheit" das „allgemeine Ziel" alles Forschens, das Ziel, auf das „alle einzelnen Studien gerichtet" werden müssen. Wie ihm denn das Schlagwort der „Recherche de la vérité" das ganze Leben hindurch der feste Grundausdruck seiner systematischen Forderungen bleibt. 2 ) Diese eine allgemeinste Wissenschaft, die jene Bücher nicht enthalten, in sich selbst „oder in dem großen Buche der W e l t " zu finden — dazu geht er auf die Wanderjahre. Der noch unbestimmte Begriff der Wahrheit gewinnt ihm allmählich genauere Formulierung. Die Vielheit der Wissenschaften wird durch ihn als solche nicht verworfen; nur wird für sie mit der I d e n t i t ä t des Z i e l e s zugleich die E i n h e i t d e s A u f b a u s erfordert. Wie jedes Gebäude in dem einheitlichen Plane e i n e s Architekten, die Staatsordnung in dem Streben des e i n e n Gesetzgebers zu einem und demselben Ziele die Gewähr der inneren Festigkeit erhält, so soll, unter Ablehnung aller der überkommenen Meinungen das G e b ä u d e d e r W a h r h e i t von Grund aus neu errichtet werden. Auf neuem, ») D VI, 4 ff. 2) Neben unzähligen Stellen aller Schriften vgl. besonders auch die Titel der „ R e c h e r c h e " und des „Discours", sowie die ausführlichere Überschrift der „ R e g e l n " D X , 351, 354 f. Zu Obigem noch D V I , 3, 19; X , 360, 495C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VI
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„Ich-selbst"
sicherem F u n d a m e n t e beschließt der Zwanzigjährige, den Bau der Wissenschaften nach bestimmtem Plane von Grund auf zu errichten. 1 ) Um dieses Planes aber nicht minder, als um der Grundlagen und ihrer Gewinnung willen ist, so erkennt es Descartes, eine genaue m e t h o d i s c h e A n l e i t u n g vonnöten. In solchem Problem der „Leitung des Geistes" tritt nun sogleich zu jener Zieleinheit die k o r r e l a t i v e E i n h e i t l i c h k e i t d e s E r k e n n t n i s q u e l l s , dem alle Ausgestaltung jenes Systems entspringen muß, und dessen ergiebiges Fließen jene Methode in das rechte Bett leiten soll. Der Einheit des Planes entspricht die Einheit des entwerfenden Geistes. So entscheidet sich Descartes in jener Alternative für das „Ich-selbst". Mit dieser prinzipiellen Wendung führt er die neue Philosophie herauf. Der Verwirrung des Denkens in die Einzelheiten überkommener Disziplinen stellt Descartes die u r s p r ü n g l i c h e R e i n h e i t d e s e i g e n e n B e w u ß t s e i n s gegenüber. Die „ganze Wahrheit" will er „aus sich selbst erfinden", „auf einem Grunde" aufbauen, der ganz ihm allein „gehört", der „eigenen Vernunft" — nicht aber „von Aristoteles noch von Plato" sie „entlehnen". Nicht „Geschichte" sondern „Philosophie" muß getrieben werden, will man zur „Wahrheit" vordringen; nicht in der Anstrengung des Gedächtnisses, sondern im ungetrübten „vollen Gebrauch unserer Vernunft", „durch sie allein geführt", werden wir die „reinen und soliden Urteile" erlangen können, die das Material zu jenem System der Wahrheit liefern dürfen. 2 ) Die Ausdrücke, die hier die produktive Tätigkeit des selbständigen Bewußtseins illustrieren, deuten bereits an, daß in solcher Berufung auf das eigene Ich über das Vertrauen auf die Leistungskraft der eigenen Individualität hinaus eine prinzipielle logische Tendenz sich ausspricht. E s ist wieder jener Gedanke von den „natürlichen", gesetzlichen Grundlagen aller echten Gestaltungen im Bewußtsein, der hier sich anmeldet. Der allgemeine Ausdruck, mit dem Descartes in dieser Zeit auf solche Ursprünglichkeit des „natürlichen Raisonnements", der „Ver') D V I , i i ff. Vgl. X , 265, 202 die ersten Ausführungen zur „ K e t t e " der Wissenschaften und ihrer Gruppierung; endlich aus jener späten Darstellung den Vergleich der „gesamten Philosophie" mit einem B a u m e , aus dessen einheitlicher Wurzel in bestimmter A b f o l g e und Verteilung Stamm und Zweige hervorgehen. D IX», 14. ») D V I , io, 13, 15; X , 367, 403, 498-
Die „menschliche Vernunft"
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nunft nach der Reinheit ihrer Natur", wie er später auch sagt, zurückgreift, ist der des „allgemeinen Menschenverstandes" (bon sens, bona mens). — ein Terminus, der, wie er den Titel einer dieser Zeit entstammenden, aber nicht erhaltenen Erstlingsschrift Descartes' bildet, so auch unmittelbar am Eingange der „Regeln" diesen allgemeinen Ursprungsort des Methodenproblems zur ausdrücklichen Bestimmung bringt. 1 ) Was er, Descartes, in sich-selbst findet, das müssen auch alle Anderen, die nur einmal darauf hingewiesen sind, dem Quell ihres Bewußtseins entnehmen können. 2 ) „Die Fähigkeit, gut zu urteilen, und das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, die recht eigentlich das ist, was man den gesunden Verstand oder die Vernunft nennt, ist der Natur nach in allen Menschen gleich". Alle „Verschiedenheit der Meinungen", alle Irrtümer der traditionellen Wissenschaft konnten nur dadurch entstehen, daß man jene allgemeine Fähigkeit nicht richtig „anwandte", daß man in der Führung der Gedanken nicht den „rechten Weg" verfolgte. Die „Vernunft", die die „einzige Sache ist, die uns zu Menschen macht", ist „voll und ganz in einem Jeden" vorhanden; „alle Menschen haben dasselbe natürliche Licht", und wenn sie es richtig anwendeten, so würden sie alle „dieselben Begriffe haben". 3 ) Es ist die g e s e t z l i c h e E i n h e i t d e s m e n s c h l i c h e n E r k e n n t n i s b e w u ß t s e i n s , die in diesen Ausdrücken gefordert und allem weiteren Aufbau zugrunde gelegt wird. Die „Regeln" geben dieser Tendenz, in der Einheit solches Erkenntnisursprungs die Einheit des Wissenssystems zu errichten, die reife systematische Fassung. Die „ u n i v e r s a l e W e i s h e i t " wird einerseits als Grundquell alles Einzelwissens gedacht. Die Wissenschaften, wie sie „nach der Verschiedenheit ihrer Gegenstände von einander unterschieden" werden, sind „in ihrer Gesamtheit doch nichts anderes, als die menschliche Weisheit, die immer eine und dieselbe bleibt, mag man sie auf noch so viele verschiedene Gegenstände anwenden". In dieser Bedeutung ') „Studium bonae mentis", eine Schrift aus den zwanziger Jahren, die bezeichnenderweise eine ähnliche Gestaltung gehabt zu haben scheint, wie diese erzählenden Partien des „Discours". Vgl. D X , 191 ff. 2 ) D X , 496, 503, 506, 518 vgl. auch VI, 27. 3 ) D V I , 2; II, 598; zu dem Gedanken dieses „Normalbewußtseins" vgl. noch B. C h r i s t i a n s e n , Das Urteil bei Descartes. Freiburg i. B. 1902. S. 74 ff. Zur Abtrennung des „natürlichen Lichtes" vom „natürlichen Instinkte" D i l , 529; VII, 38. 3*
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Die „universale Weisheit"
ist sie mit jenem „gesunden Verstände", dem „natürlichen Lichte der Vernunft" identisch. Von hier aus bestimmt es sich, „wessen die menschliche Vernunft fähig ist", was immer Gegenstand des Wissens wird sein können. „Was menschliche Erkenntnis ist, und wieweit sie sich erstreckt," das wird „in einer einzigen Frage befaßt". So erhält von der Einheitsbestimmung des Quells aus auch die Universalität der A n w e n d u n g , erhält in diesem Begrenzungsbegrifif die „universitas" des möglichen Wissens ihre präzise Formulierung. Der Ausdruck der „universalen Weisheit" bezieht sich unmittelbar auch auf das Korrelat zu jener Einheitsgrundlage: auf die Einheit des E r k e n n t n i s o b j e k t s , auf das System der „Wahrheit". Aller Beitrag zu diesem Z u s a m m e n h a n g des Wissens „vermehrt" zugleich das „Licht der Vernunft" — weil es „die wahrhaften Reichtümer unserer Seele ans Licht bringt". Alle besondere Erkenntnis ist „nicht so sehr um ihrer selbst willen zu schätzen", als weil sie zur allgemeinen Gestaltung der „Wahrheit der Dinge" „etwas beiträgt". Die Anklammerung an das Studium einzelner Wissenschaften, ohne Rücksicht auf diesen allgemeinen Zusammenhang, in den sie eingestellt sein müssen, ergibt keine wahre Erkenntnis, behindert vielmehr nur die „Erforschung der Wahrheit". Alle Wissenschaften, alle „Erkenntnisse, welche die Fassungskraft des menschlichen Geistes nicht übersteigen, sind durch eine so wunderbare Verbindung mit einander verkettet", „so unter einander verknüpft" und „von einander abhängig", daß wirkliche Erkenntnis auch des Einzelnen nur in der beständigen Beziehung auf das Ganze des Wissens gewonnen werden kann. Die „Erkenntnis einer Wahrheit" macht nicht etwa „von der Erfindung der anderen abwendig, sondern kommt ihr vielmehr zu Hülfe". Nichts gibt es, was uns „eher von dem rechten W e g zur Erforschung der Wahrheit ablenkt, als wenn wir unsere Studien nicht auf dieses a l l g e m e i n e Ziel, sondern auf irgendwelche besonderen richten". 1 ) Von dem einen Erkenntnisquell zur einen Wahrheit muß nun der einheitliche „rechte W e g " führen. In solcher Grundlegung und Zielsetzung sind zugleich E i n h e i t und U n i v e r s a l i t ä t als die Grundmomente der M e t h o d e bezeichnet, die lehren soll, jenen Weg zu verfolgen. Damit wird dies Problem ') D X , 360f., 396—400; 496f.; vgl. auch hier wieder die entsprechenden Formulierungen („Sagesse"!) D IX2, 2 ff. S. auch E. C a s s i r e r , Erkenntnisproblem I, 376 f.
Methode als Einheitsgesetz der Erkenntnis
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sogleich über den Fragebereich logischer Technik hinaus in den Mittelpunkt der philosophischen Aufgaben gerückt. Das „Instrument" ist nicht bloß Hülfsmittel und handliches Werkzeug; in ihm muß vielmehr das innerlich-gesetzliche, produktive Wirken in allem Erkennen, auf welche Gegenstände es sich auch beziehen mag, zur ausdrücklichen Charakterisierung gelangen. Die „Wahrheit" ist das Ziel, die Einheit der Vernunft bezeichnet die Herkunft — die Methode aber formuliert das alle Einzelgestaltung b e s t i m m e n d e E i n h e i t s g e s e t z d e r E r k e n n t n i s . So wendet sich nun Descartes' ganzes Interesse diesem Probleme, der Bestimmung der Grundbedingungen zu, die alle echte Erkenntnis beherrschen, und unter deren Direktive das Wahrheitsgebäude allein entstehen kann. „Mit allen Kräften" seines Geistes sucht er „die Wege zu wählen", die, in dem Studium des „Selbst", dem „allgemeinen Ziele" ihn näher bringen können. „Ich wollte sogar nicht damit beginnen, irgend eine der Ansichten gänzlich zurückzuweisen, die früher in meine Überzeugung sich hatten einschleichen können, ohne dort durch die Vernunft eingeführt zu sein, ehe ich nicht vorher genügend Zeit darauf verwandt hätte, den P l a n d e s W e r k e s , das ich unternahm, zu entwerfen und die w a h r e M e t h o d e zu suchen, um zur Erkenntnis aller Dinge zu gelangen, deren mein Geist fähig sein würde." Um sich der richtigen „Anwendung" des „natürlichen Lichtes" versichern zu können, wird eine neue „Logik", werden „Vorschriften" erfordert, nach denen man „seine Vernunft gut leiten", alle seine „Gedanken der Ordnung gemäß führen" muß. Wenn irgend eine Beschäftigung des Geistes, so ist die Bearbeitung dieser Aufgabe wirklich „gut und richtig". „Denn weit angebrachter ist es, überhaupt nicht an die Erforschung der Wahrheit über einen Gegenstand zu denken, als dies ohne Methode zu tun." Nach diesen Formulierungen könnte es wiederum fast scheinen, als ob die „Methode" nicht mehr als ein äußeres Hülfsmittel zur „Leitung des Geistes" bedeutete. Aber solche Vermutung wird doch sogleich im Keime erstickt, wenn man sich darauf besinnt, daß die wahre Erkenntnis doch eben durch die „reine Vernunft" selbst „geführt" werden sollte! In dem Quellgebiet der Vernunft liegen mit der Aufgabe der methodischen Anleitung zugleich alle Mittel, die diese gewähren können: es gilt nur, das ureigene Gesetz der Erkenntnis selbst herauszu') D VI, i7, vgl.
2)
3; X , 3 7 1 ; X I 2 , i 3 / 4 ) 15.
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Die „Methode" in der Mathematik
stellen, um das „natürliche Licht" vor der „Trübung" zu schützen, die es durch die falschen Anwendungen erleidet. — Um diese Gesetzlichkeit, die wahre universale Methode, die zum „allgemeinen Ziel" führen soll, ans Licht zu bringen, wendet sich nun Descartes zurück zu den Wissenschaften, deren Haltlosigkeit er empfindet, die er jedoch noch nicht gänzlich hat abweisen mögen. In ihrer Prüfung wird es ihm klar, was ihnen fehlt — das, was für die Errichtung jedes Gebäudes allererst erfordert wird: solide F u n d a m e n t e . An dem Grade der S i c h e r h e i t , den die Grundlagen der einzelnen Wissenschaften zu behaupten vermögen, mißt er daher den Beitrag, der in ihrer Gestaltung dem „reinen Licht" zuzuschreiben sein mag — und also auch den Wert, den sie für die Bestimmung der eigensten Gesetzlichkeit der Vernunft werden haben können. In der Revue, die sie vor dem kritischen Bewußtsein passieren müssen, haben sich fast alle, mehr als die anderen aber noch die Philosophie, die ihnen doch die Prinzipien darreichen soll, als gänzlich „zweifelhaft" und haltlos erwiesen. Nur eine Wissenschaft ist von diesem Vernichtungsurteil ausgenommen. „Unter allen denen, die bisher die Wahrheit in den Wissenschaften gesucht haben, sind es a l l e i n d i e M a t h e m a t i k e r , die einige B e w e i s e , d. h. sichere und evidente Gründe haben finden können". In dieser „Evidenz" der Gründe findet Descartes, was er als Kennzeichen echten Wissens sucht, gewahrt er „so feste und so solide Fundamente", daß es als schier unbegreiflich anzusehen ist, „daß man darauf nichts Höheres gebaut hat", als die praktischen Nutzanwendungen der „mechanischen Künste". Worin allerdings die „wahre Anwendung" jener Erkenntnisse denn nun bestehe, das „bemerkte" er damals noch nicht. 1 ) Vielmehr richtete er nun alles Interesse auf die Erforschung der inneren Gesetze, die dieser „soliden" Wissenschaft ihren Wert verleihen. Von dem „Studium der Mathematik" erwartet Descartes die grundlegenden Einsichten in das Wesen der Methode. „Ich glaube darin Glück gehabt zu haben, daß ich seit meiner Jugend auf gewissen Wegen mich befand, die mich zu Betrachtungen und Grundsätzen führten, aus denen ich eine Methode gebildet habe, in der ich, wie mir scheint, das Mittel halte, meine Erkenntnis von Stufe zu Stufe zu vermehren . . ." Diese „gewissen Wege" ergeben sich eben in der Arbeit an den ») D VI, 7 f-, ig-
„Bemerken" der „Regeln"
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mathematischen Problemen. Indem er die Aufstellungen der „Mathematiker" selbst wiederzuerfinden sich bemühte, „bemerkte" er „allmählich", in „langer Erfahrung", daß er dabei „ g e w i s s e r R e g e l n sich b e d i e n t e " . 1 ) Diese Betrachtungen und Arbeiten sind es, die im Entwicklungsgange Descartes' jenen Zeitraum ausfüllen, der vom ersten Auftauchen des Methodenproblems und den ersten Formulierungen dieser Aufgaben 2 ) sich hinerstreckt bis zur Abfassung der ersten unter den uns erhaltenen philosophischen Schriften, der „Regeln zur Leitung des Geistes". 3 ) Descartes hat uns gar keinen Zweifel darüber gelassen, daß alle seine Beschäftigung mit mathematischen Problemen während dieser Zeit unter der beherrschenden Direktive des p h i l o s o p h i s c h e n Interesses an der Methodenfrage gestanden hat — wie er auch systematisch solche Studien nur in der Hinsicht auf diese a l l g e m e i n e n Fragen der Erkenntnis fordert. „Ich erhoffte davon keinen anderen Nutzen, als daß sie meinen Geist daran gewöhnen würden, sich mit der Wahrheit zu erfüllen und nicht mit falschen Gründen sich zu begnügen." Um sich „in der Methode zu üben", „praktizierte" er — und so fordert er es von Jedem — die „Regeln" in den „Schwierigkeiten der Mathematik"; „fast nur" um die Methode „auszubilden", sind jene Disziplinen „zu lernen". 4 ) Und immer muß man in jenen „besonderen Studien" das „allgemeine Ziel" im Auge behalten — soll doch auch die Methode selbst den Weg zu ihm bezeichnen, das Erkenntnisgesetz, dessen genaue Befolgung zu jenem System der Wahrheit unser Forschen wird vordringen lassen. — Ob aber dann bei der Verwertung des so gewonnenen und bestimmten Verfahrens (wie es in den „Regeln" zur ausführlichen Formulierung gelangt), bei seiner Fruktifizierung für die Aufgaben jenes Aufbaus, vor allem für die Errichtung seiner Fundamente, ob dabei die Methode als das Gesetz der Erkenntnis in rein instrumentaler >) D V I , 3 ; X , 2 1 4 , 403/4. 4
) Auf diese Anfänge deutet die Erwähnung jenes Pariser Gesprächs, das Descartes' Namen den Gelehrten seiner Umgebung mit einem Schlage einprägte. D I , 213 f. 3 ) Über deren Abfassungszeit s. P. N a t o r p , Descartes' Erkenntnistheorie. Marburg 1882, S. 164 f. und D X , 486 fr. Für uns ist in diesen Feststellungen das Wichtigste die Fixierung der o b e r e n Zeitgrenze auf das Ende der zwanziger Jahre, woran tatsächlich g a r k e i n Z w e i f e l m ö g l i c h ist. *) D V I , 19, 22, 29; X, 442 vgl. 487/8; IX2, 14, vgl. noch VI, 374.
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Zwei Grundmomente der Methode
„Anwendung" aufgeht, ob sie in jenem Wahrheitssystem, wie es zunächst scheinen muß, schlechterdings keine Stelle mehr findet, das wird eine spätere Betrachtung uns zeigen müssen. b) Die G r u n d z ü g e der „reinen" Methode. Von zwiefacher Art sind die Grundmomente, die Descartes in dem Problem des Erkenntnisverfahrens befaßt. Die erste Forderung für alle Gestaltungen des Wissens ist die s i c h e r e G a r a n t i e ihrer Wahrheit. „Das Wahre vom Falschen zu unterscheiden" — durch diese Leistung des „Urteilsvermögens" wird die grundlegende, allgemeinste Funktion der „natürlichen Vernunft" bezeichnet. Was die echte Erkenntnis auszeichnet, sie „den Namen der Wissenschaft" verdienen läßt, das ist ihre „Sicherheit", ihre „Gewißheit", die in der „Festigkeit der Fundamente" sich gründet. „Wissenschaft" ist nichts anders, als „ s i c h e r e und e v i d e n t e E r k e n n t n i s " . Und das Gegenbild solcher „Solidität" ist alle irgendwie „zweifelhafte", alle nur „vermutungsweise" gefaßte, „bloß wahrscheinliche" Erkenntnis, — die unter allen Umständen abzulehnen ist. So zielt die „Leitung des Geistes" zuerst und vor allem auf „solide und wahre Urteile". Die Grundforderung für die Bestimmung des Erkenntnisgesetzes ist das K r i t e r i u m , das Prinzip d e r G e w i ß h e i t . Mit ihm gewinnt man die Grundlage für allen Aufbau; wird doch dieser selbst dahin definiert, daß er „in den Wissenschaften" die „Wahrheit" zu gestalten, in ihrem Zusammenschlüsse „etwas Festes und Bleibendes" zu „stabilieren" habe.1) Der eigentümliche Sinn des Methodenproblems aber erfüllt sich und erlangt seine Präzision erst mit Hinzunahme des anderen Momentes im Erkennen: das gegenüber jener Stabilität das dynamische Motiv des F o r t s c h r e i t e n s , der F o r s c h u n g zur Aufgabe stellt. Zugleich wird hier die R i c h t u n g der Methode auf die „universalitas" des Wissens betont. „Unter Methode verstehe ich sichere und leichte Regeln, deren genaue Befolgung dazu führt, niemals etwas Falsches als wahr zu unterstellen und keine Geistesarbeit unnütz zu verbrauchen, sondern stets schrittweise sein W i s s e n zu v e r m e h r e n und so zur Erkenntnis von allem dem zu gelangen, dessen man fähig ist." Die „Er») D X , 359, 362 fr., 513 etc.; VI, i, 10; VII, 17. Logik der reinen Erkenntnis. Berlin 1902. S. 513.
Vgl. H. C o h e n ,
„Beweise", „Erfindungen", „Ordnung" in der Mathematik
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forschung der Wahrheit" verlangt es, daß wir „in a l l e m , w a s sich d a r b i e t e t " , jene „soliden" Urteile fällen lernen. Die Fundierung soll jeweils den Ansatz bilden, um die Wissenschaften „weiter vorwärts zu treiben"; und die Methode muß es lehren, „durch Kunst" weitere Erkenntnisse zu „finden", ohne auf den „Zufall" der Entdeckung angewiesen zu sein. Dies ist es gerade, was der bisherigen „Logik", was dem Syllogismus abgeht: er vermag es nicht, aus seiner „Form" „Neues" hervorgehen zu lassen. Gerade hierauf aber muß die „Schärfe des Geistes" dirigiert werden: wie die Wahrheit der Dinge zu erf o r s c h e n , wie sie zu „entdecken", zu „finden" sei. So sind es denn auch zugleich mit der Sicherheit der Beweise die „subtilen Erfindungen", die die Mathematik vor den anderen Wissenschaften auszeichnen. Wie alle Forschung sichere Entscheidung über wahr und falsch erstrebt, so dient wiederum alle erreichte Gewißheit zur Grundlage und zum Ausgangspunkt für weitere und immer weitere Ausdehnung des Wissens, zur fortschreitenden Annäherung an das „allgemeine Ziel": „zur Erkenntnis von a l l e n Dingen zu gelangen, deren der menschliche Geist fähig ist". 1 ) Im Wissensgebäude der überlieferten Mathematik fand Descartes auch die stärkste Annäherung an den Erkenntnisbegriff, den seine Einheitsforderung erstrebte. In den „Beweisen", den „sicheren und evidenten Gründen" der Mathematik fand er wissenschaftlichen Inhalt, wie er ihn als in „sicheren Urteilen, die wir auf eine Erkenntnis, die vorhergeht, stützen", und in der N o t w e n d i g k e i t solcher „Konsequenzen" bestehend definierte. 2 ) Zugleich aber weist die mathematische Tradition in klarer Bestimmtheit auf ein allgemeines Problem der Methodenlehre hin, das gleichermaßen für das beweisende, wie für das „erfindende" Verfahren von grundsätzlicher Bedeutung ist: auf die O r d n u n g der Erkenntnisse. „Die langen Ketten von Gründen . . . deren die Geometer sich zu bedienen pflegen, um zu ihren schwierigsten Beweisen zu gelangen, haben mir Gelegenheit gegeben zu der Vorstellung, daß alle Dinge, die unter die Erkenntnis der Menschen fallen können, in der gleichen Weise auf e i n a n d e r f o l g e n " . Der Zusammenhang, der das Ziel der Methode bildet, wird für ihr W i r k e n zur Abfolge. Da „alle Wahrheiten aufeinander folgen und wechselseitig durch ein ') D X , 359, 3 7 1 / 2 , 406, 496, 5 0 6 ; I X 2 , 13/4.
') D X , 496/7, 5°3-
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Das „reine Objekt"
Band zusammengehalten werden", so besteht „das ganze Geheimnis" der rechten Methode, so liegt ihre Grundaufgabe darin, daß sie „die rechte Ordnung zu befolgen lehrt". „ D i e g a n z e M e t h o d e b e s t e h t in d e r O r d n u n g und D i s p o s i t i o n d e s zu E r k e n n e n d e n " , „fast nichts anderes" hat sie zu lehren. 1 ) In den „Regeln" erhält nun die Zuwendung des philosophischen Interesses zur Mathematik, die Anheftung der allgemeinen Methodenfrage an diese besondere Disziplin eine vertiefte Begründung. Daß diese Wissenschaft fähig ist, der Grundforderung der zweifelsfreien G e w i ß h e i t und der von aller bloßen Vermutung und Wahrscheinlichkeit geschiedenen strengen N o t w e n d i g k e i t der Zusammenhänge zu genügen, das hat seinen inneren sachlichen Grund in der B e s o n d e r h e i t d e s G e g e n s t a n d e s , dessen Erforschung ihr zur Aufgabe steht. Hier entspringen, wie alle Mittel der Erkenntnis, so auch das Problem, der Vorwurf selbst, dem „reinen Licht der Vernunft". Hier können nicht Umstände anderer Herkunft die reine Klarheit dieses Lichtes beeinträchtigen — denn hier handelt es sich grundsätzlich um nichts anderes als um die „Verbindung" von „Gründen", um „reine Herleitung des einen vom anderen". Vor allem setzen die mathematischen Wissenschaften „nichts voraus, was die E r f a h r u n g ungewiß gemacht hätte, sondern sie bestehen alle in r a t i o n a l a b z u l e i t e n d e n K o n s e q u e n z e n . " Der Gegenstand der Mathematik hat keine Rücksicht darauf zu nehmen, ob er „in der Natur der Dinge existiert oder nicht": sein Sinn und seine Geltung bleibt in dem Gebiet der „reinen Vernunft" beschlossen. So ist es der Charakter des „ r e i n e n O b j e k t s " , der den inneren Grund für die Vorzugsstellung dieser Wissenschaft bezeichnet — der dadurch eben auch ihren besonderen Wert für die Bestimmung der Gesetzlichkeit im Erkenntnisverfahren verbürgt. In ungetrübtester Reinheit muß hier, in dieser „notwendigsten Disziplin", die Kraft des erkennenden Geistes zur Ausprägung gelangen, wenn sie auch nicht etwa auf dies Gebiet beschränkt zu denken ist. An der Untersuchung des mathematischen Erkennens wird die einheitliche Methode gewonnen werden können, die in der Reinheit ihres Ursprungs, wie sie in der Reinheit des Objekts zutage tritt, dennoch zugleich als die u n i v e r s a l e Methode wird gelten und sich bewähren dürfen, und die so auch über den besonderen Kreis D VI, ig, 21; X 379, 451 vgl. 392fr., 403f.
Historische Anknüpfung
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jener Disziplin hinaus zu einer „höheren Weisheit" wird führen können. 1 ) — Solchen Anschluß an die überkommenen Ausgestaltungen der mathematischen Forschung begründet Descartes durch eine unmittelbare Anwendung jenes Gedankens von der allen Menschen gleicherweise gemeinsamen Vernunft auf die Leistungen der Geschichte. Alles, was an wirklicher Erkenntnis schon besteht, muß jenem Urquell entsprungen sein. „Denn der menschliche Geist besitzt etwas gewissermaßen Göttliches, in das die ersten Samenkörner nützlicher Erkenntnisse so gelegt sind, daß sie oft, wie sehr sie auch vernachlässigt und durch verkehrte Studien erstickt werden, eine spontane Frucht hervorbringen." So sind alle Erkenntnisse, die den Wert der Wahrheit tragen, aus jenen „Samenkörnern des Wissens" durch die „reine Führung der bloßen Natur" erwachsen, sie alle sind solche „ s p o n t a n e F r ü c h t e a u s d e n e i n g e b o r e n e n P r i n z i p i e n der M e t h o d e " . Die „Methode" ist eben nichts anderes als das Wirkungsgesetz jenes Urquells. Daher kann Descartes, wie Kepler und Galilei, von der Methode, wie er sie lehrt, sagen: sie sei „allerdings nicht neu, da nichts älter ist, als die Wahrheit"! Und so greift er, der sonst alles Überkommene verwirft, an diesem Punkte, wie Jene, zurück auf den wissenschaftlichen und mit ihm auf den philosophischen Zusammenhang mit den reifsten Leistungen des antiken Denkens. 2 ) Von den „schon erfundenen" Wissenschaften bleiben unter der sichtenden Direktive des „reinen Objekts" „allein die Arithmetik und die Geometrie übrig". D i o p h a n t und P a p p u s aber sind diejenigen Vertreter dieser überkommenen Disziplinen, in deren Werken Descartes die „Spuren der wahren Mathesis", wie sie den „Prinzipien der Methode" entsprungen ist, zu erblicken meint. 3 ) Pappus vor allem, dessen Schriften er genauer gekannt zu haben scheint als die irgend eines anderen antiken Mathematikers, gilt ihm als der hervorragendste Repräsentant des Verfahrens, dessen die alten Geometer sich bedient hätten, der „Analysis". 4 ) In dem Studium seiner Werke ist Descartes, wie man mit aller Wahrscheinlichkeit vermuten kann, die Verbindung ») D X , 365, 442; VII, 20, 64. ) D X , 217, 373, 376, 397; VII, 3.
2 4
3
) D X , 3 6 3 - 3 6 6 , 373-
) D X , 373, 376; VI, 17. Zu D e s c a r t e s ' K e n n t n i s der Pappischen Schriften vgl. außer der „Géométrie" die vielfachen eingehenden Briefstellen fs. Register D V , 606/7].
44
Pappus
der eigenen F o r d e r u n g e n und T e n d e n z e n mit den begrifflichen G e s t a l t u n g e n der antiken Methodenlehre erwachsen. W i e e n g dieser Z u s a m m e n h a n g ist, das wird unmittelbar ersichtlich, w e n n man eine Stelle aus den Schriften j e n e s M a t h e matikers mit den Grundlinien der Cartesichen Methodenlehre vergleicht. P a p p u s gibt dort eine kurze, treffende Charakteristik der mathematischen M e t h o d e der problematischen A n a l y s i s , wie sie unmittelbar aus den begrifflichen G r u n d l a g e n der h y p o t h e tischen M e t h o d e P i a t o s sich e r g e b e n hatte. D i e s e A u s f ü h r u n g ist für die Einsicht in den inneren Z u s a m m e n h a n g der Cartesischen mit der platonischen Methodenlehre wichtig g e n u g , um sie hier kurz w i e d e r z u g e b e n . 1 ) Z w e i W e g e der F o r s c h u n g sind nach dieser D a r s t e l l u n g z u unterscheiden: der analytische und der synthetische — die sich beide in der H e r a u s a r b e i t u n g der mathematischen E r k e n n t n i s ergänzen. D i e A n a l y s i s geht aus v o m G e s u c h t e n (Crjxovfievov), das als F e r t i g e s (yeyovög) zu G r u n d e g e l e g t w i r d , und führt v o n ihm aus d u r c h o r d n u n g s m ä ß i g e F o l g e auf etwas schon B e k a n n t e s , oder e t w a s , das d e n R a n g e i n e s A n f a n g s (td£iv aQ%fjs) besitzt. In der S y n t h e s i s n e h m e n wir dann wiederum den W e g von diesem E n d p u n k t e (voxaxov) der A n a l y s e , und, „ i n d e m wir das dort v o r h e r g e h e n d e n a c h d e r N a t u r d e r S a c h e (xara tpvoiv) ordnen und miteinander verbinden, g e l a n g e n wir zum Ziel: der B e s c h a f f u n g des G e s u c h t e n " . Zugleich mit dieser L ö s u n g ergibt sich der B e w e i s , der seinerseits ebenfalls der A n a l y s e d u r c h g ä n g i g entsprechend (ävrioTQocpog) verläuft. D e s c a r t e s hat selbst einmal die D o p p e l t e n d e n z des analytischen wie d e s synthetischen V e r f a h r e n s der „alten G e o m e t e r " auf das „ B e w e i s e n " und das „ F i n d e n " h e r v o r g e h o b e n , wie er diese j a auch der eigenen M e t h o d e zum Ziel setzte. 2 ) So nehmen auch seine B e s t i m m u n g e n in d e n allgemeinen Z ü g e n durchaus den gleichen V e r l a u f , wie ihn die P a p p i s c h e n E r ö r t e rungen vorzeichnen. D a s Interesse der F o r s c h u n g richtet den Blick auf den Begriff des G e s u c h t e n , des P r o b l e m s — wird d o c h auch ganz allgemein die M e t h o d e definiert als das V e r f a h r e n „ j e d e b e liebige S c h w i e r i g k e i t in den W i s s e n s c h a f t e n a u f z u l ö s e n " . 3 ) ') P a p p u s , collectio ed. F . Hultsch. Berlin 1877 Bd. II, S. 634 und 636; vgl. dazu M. A l t e n b u r g , Die Methode der Hypothesis bei Piaton, Aristoteles und Proklus. Marburg 1905; besonders S. 21 ff. 2) D VII, 155 f. •) D VII, 3. Die Disposition der „ R e g e l n " scheint zunächst solchem
Begriff des Problems
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E s ist sogleich klar, in welcher Richtung Descartes die Bestimmung dieses Begriffes wird suchen müssen. Der durchgängige Z u s a m m e n h a n g sollte die echte Wissenschaft charakterisieren — so kann dem Problem seine Bestimmtheit wie die Möglichkeit seiner Lösung nur aus den Zusammenhängen heraus erwachsen, in die es, seinem besonderen inhaltlichen Charakter nach, hineingehört. In allem Forschen muß man „voraussetzen, daß wir uns bei dem, was in einer Frage unbekannt ist, einer solchen Abhängigkeit desselben von Bekanntem bewußt sind, daß es dadurch völlig determiniert ist". Die Aufgabe der Forschung ist es dann, von dem so „als bekannt" genommenen „Unbekannten" aus die „Verbindungen", die „wechselseitigen Verknüpfungen" zu gewinnen, die das „Gesuchte auf rechte Weise mit Bekanntem zusammenbringen", die aus ihm „das Bekannte, gleich als wenn es unbekannt wäre, herzuleiten" gestatten. So müssen im Problem selbst die Ansätze für jene Verknüpfungen enthalten sein. 1 ) Das „Gesuchte" ist als ein Komplex verschiedenartiger Momente zu denken. Jede Frage enthält in s i c h s e l b s t notwendig zugleich Bekanntes, wie Unbekanntes: wie von diesem der Fragecharakter, so kommt dem Problem von jenem die g e n a u e B e s t i m m t h e i t dessen, was in ihm gesucht wird. Das V e r s t ä n d n i s des Problems ist die erste Voraussetzung für seine Lösung; durch sie wird die „Materie" für die weiteren Entwicklungen gegeben. Das „Unbekannte" selbst, das die Frage darbietet, „muß dennoch durch sichere Bedingungen so bezeichnet sein, daß wir allgemein bestimmt werden, dies Eine, und nicht ein Anderes zu erforschen". S o erhebt sich der Fragepunkt selbst aus dieser Fassung in „bekannten" Bedingungen. Durch sie wird ihm die Brücke zur Lösung geschlagen, die Verbindung mit anderen Erkenntnissen hergestellt. 2 ) Ausgehen nicht zu entsprechen: die ausführlichen Erörterungen zum Begriff des Problems bringt erst die 13. Regel. Indessen lehrt die Überschrift der 5. Regel, daß s a c h l i c h dennoch von ihm aus die Entwicklung der Methode sich vollzieht. E s muß allerdings schon hier darauf hingewiesen werden, daß bei Descartes die analytische Richtung, die man als das Grundmoment seiner Methodenlehre anzusehen gewohnt ist, oft genug, und im Verlaufe seiner weiteren Entwicklung immer stärker, gegen die synthetische zurücktritt. ') D X , 410, 430 ff., 460/1; vgl. E . C a s s i r e r , Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Bd. I, S. 384 f.; „Leibniz' System" S. 5 f. Zu Descartes' Verwertung der problematischen Analysis für das Verfahren seiner „Géométrie.", vgl. D VI, 372. s ) D X , 430, 437 f., 434 f., 460 f.
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„Analyse"
und
„Deduktion"
Der erste Schritt nun, mit dem die Methode ihr Wirken beginnt, besteht darin, das komplexe Problem nach diesen beiden Seiten hin zu zerlegen, es zu „ t e i l e n " . So wird zuvörderst bestimmt, was eigentlich das Gesuchte in der gestellten Frage ist. Und wenn dann „das Problem hinreichend verstanden ist, muß man genau zusehen, worin seine S c h w i e r i g k e i t besteht, sodaß dies, von allem Andern abgesondert, leichter gelöst wird". Eben darin besteht dann alle Kunst: diese Schwierigkeiten in den rechten Zusammenhang einzustellen, der die Bedingungen zur Lösung hergeben kann. 1 ) So soll sich in der „Teilung" selbst die Verbindung anbahnen, zu deren ausdrücklichem Vollzuge nun, jener mathematischen Methodik entsprechend, von hier der a n a l y t i s c h e W e g ausgeht, der W e g , der, in methodischer O r d n u n g beschritten, zu Bekanntem und damit zur Lösung des Problems hinführen muß. Die „verwickelten und dunklen Sätze" müssen allmählich auf bekannte „reduziert" werden. Diese Wegrichtung aber stellt nur ein S u c h e n , eine Vorbereitung und Hinleitung — insofern allerdings auch das eigentliche Verfahren des „Findens" — zu dem eigentlichen Ziel der Erkenntnisbildung dar, das in der umgekehrten Richtung erreicht wird: der „ D e d u k t i o n " . Und wie Pappus den synthetischen Beweis als die „Gegenstrophe" zur Analysis bezeichnete, so werden auch bei Descartes beide Verfahrungsweisen streng korrelativ gedacht. Dieselben „Reihen", dieselben „Schritte" sind es, die nach verschiedenen Richtungen nur durchmessen werden. 2 ) So ist es erklärlich, daß Descartes die näheren Bestimmungen für jene Stufen, für die „Ordnung" des methodischen Erkennens alle aus der Einsicht in das d e d u k t i v e Verfahren glaubt entnehmen zu dürfen. Die Direktive selbst für die „Teilung" und die „Analyse" wird von ihm nicht sowohl in der Diskussion dieser Begriffe, als vielmehr in der Beschreibung jener anderen Wegrichtung durchweg gewonnen. — Die nähere Bestimmung dieser „ O r d n u n g " vertritt der Terminus des „ E i n f a c h e r e n " . Für die analytische Richtung bezeichnet dieser Komparativ zunächst nichts weiter, als die Tendenz zur Auflösung des komplexen Problems und zur Zurückführung der gewonnenen Glieder auf Bekanntes, der dann der deduktive „Abstieg" entspricht. Die „gradweise" Reduktion ») D X ,
429. 432- 4 3 4 f-. 4 3 7 ; v g l . 3 9 4 f . ; V I ,
') D X ,
379,
392,
395.
18.
Das „Einfache"
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fordert die Ordnung des Materials nach dem Gesichtspunkt des „der Erkenntnis nach F r ü h e r e n " , dessen, was ohne das analytisch Vorhergehende erkannt werden kann, während dieses durch es bedingt ist. Es bilden sich nun nach diesem Gesichtspunkte im Doppelwege des Forschens ganze „Reihen" aufeinander reduzierter bezw. auseinander abfolgender Begriffe oder Wahrheiten. Es ist die erste und allgemeinste Grundforderung der Methode, daß alles, was irgend Gegenstand der Erkenntnis werden soll, nicht rein für sich, als „solitäre Natur", betrachtet werden darf, sondern in diese „Reihen" sich einordnen muß. Der Zusammenhang, den das Problem allgemein voraussetzte, gelangt in ihnen zur gesonderten Bestimmung. So wie die Dinge „auseinander e r k a n n t werden können", so muß diese Ordnung und Einstellung sie gruppieren und verbinden. Diese Forderung der Reihen enthält „das Hauptgeheimnis" der Methode.1) Dieser Stufenfolge, diesen „Graden" der Einfachheit gegenüber erhebt sich mit Notwendigkeit die Frage nach den Endgliedern solcher Reihen nach oben zu, wie sie bei Pappus die tä£ig äQxfjs auszeichnete. Solche jeweils höchste Stufen werden durch den Terminus des „ E i n f a c h s t e n " („maxime simplex", „simplicissimum", „pure simplex", auch schlechthin „simplex") charakterisiert — oder auch, zur Bezeichnung des Gegensatzes gegen alles „Respektive" der Rückbeziehung innerhalb der Reihenglieder, durch den Ausdruck des „Absolutesten" („maxime absolutum"}, — dem seinerseits, für die „respektiven" Stufen, der Komparativ des „magis absolutum" gegenübersteht.2) Jenem „prius" wird hier das „primo" des Erkennens entgegengestellt. Das „Absolute" vor allem unterstreicht besonders jene Auszeichnung des Bedingenden, selbst aber nicht Bedingten: es ist insofern „abgelöst", als es „nicht von Anderem abhängig" gedacht werden darf. Von den einzelnen Reihen überträgt sich die Bestimmung auf das Ganze des Erkennens. Wenn in jenen, je nach ihrem Gesichtspunkt und ihrer Stellung, das Endglied dennoch eine ») D X , 381 ff•) D X , 381 ff., 394 etc., 418, 420, 422 etc. Zwischen dem „Einfachsten" und dem „Absolutesten" besteht kein für die Methode wesentlicher Unterschied — höchstens, daß das „Absolute" die Betonung mehr auf den Inhalt, den Begriff verlegt, das „Einfache" dagegen mehr auf die Erkenntnisfunktion.
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Der „Intuitus"
nur r e l a t i v gültige Charakterisierung erhalten kann, so gilt die Bezeichnung des a b s o l u t E i n f a c h e n für jene ersten Stufen, auf die alle Erkenntnis gleichermaßen sich wird zurückbeziehen müssen. Der Einheitsgedanke des menschlichen Wissens, des Gebäudes, das in ihm sich gestaltet, fordert diese Anerkennung ursprünglichster, aller besonderen, komplexen Einzelerkenntnis — in welchen „Reihen" sie auch zum Entstehen kommen mag — zugrundeliegender Erkenntnisinhalte. Da diese „primitiven Begriffe" aber einer weiteren Rückbeziehung schlechterdings nicht mehr fähig sind, da in ihnen alle „Teilung", alle Reduktion auf „Bekannteres", genauer Erkennbares ihr Ende findet, und sie ihrem Begriffe nach „ohne Hülfe der Folgenden" erfaßt werden müssen, so können diese Gebilde nur „ d u r c h sich" erkannt werden (per se notae). Ihr Inhalt wie ihre Gewißheit, ihr Wahrheitswert, muß rein aus ihnen selbst erhellen. So sind diese „ e r s t e n u n d d u r c h sich e r k a n n t e n P r i n z i p i e n " nicht einmal d e f i n i e r b a r — denn durch solche Auseinanderlegung könnte doch nur an Stelle des „rein Einfachen" Zusammengesetztes eingeführt werden! Sie sind aus sich „evident", „ k l a r u n d d i s t i n k t " und können keine Falschheit enthalten. Über sie kann man nicht „denken, ohne zu glauben, daß sie wahr sind." 1 ) Im „Ergreifen" dieser „Einfachsten" bewährt die menschliche Vernunft ihre eigenste und ursprünglichste, ihre „einfachste" Erkenntniskraft — so wird es als ein A n s c h a u e n „ g e m ä ß d e m r e i n e n L i c h t e d e s G e i s t e s " bezeichnet. Die erste und wichtigste Grundfunktion alles Erkennens findet hier, an dem reinen Objekt dieser „pure simplices", ihre Präzision: der „ I n t u i t u s " . Er stellt unmittelbar das Wirken des „natürlichen Lichtes" in seiner allen Zweifel und alle Ungewißheit ausschließenden „Klarheit" und „Evidenz" dar. 2 ) Hier hört daher alle methodische „Leitung" des Denkens auf: alle Vorschrift kann nur lehren, zu diesem unmittelbaren Erfassen den Geist hinzuführen und diese Funktion ihrerseits von aller Beimischung anderer Instanzen „rein", „distinkt" zu erhalten. Zu den „Einfachen" und ihrer Schau alle komplexen Aufgaben h i n z u f ü h r e n , darin besteht das „ganze Geheimnis der Methode", nicht aber etwa darin, diesem Erschauen selbst Gesetze zu diktieren. Man kann dieses überhaupt nicht weiter nach seinem Wesen ») D X , VIII, 8 etc.
383, 407, 420, 426, 523 f.; II, 597 ; III, 666; VII, 145, 155; «) D X , 368f, 372f etc.; II, 599.
Die „Deduktion"
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bestimmen — nur auf seine Verwertung und Anwendung hat die logische Charakteristik zu achten. 1 ) Da nun jedes Problem als ein Komplex von Erkenntnisbedingungen gefaßt wurde, diese aber in jene Reihen durchgehend sich einordnen müssen, so hängt letztlich alle Einzelerkenntnis, welcher Art sie auch sein möge, von dem Intuitus der Einfachen ab. Alle weiteren Wahrheiten können „nicht anders erfaßt werden, als wenn sie aus jenen d e d u z i e r t werden, und zwar entweder auf unmittelbare und einfachste Weise, oder erst durch zwei oder drei oder mehr verschiedene Schlußfolgerungen". In dieser Ableitung vollzieht sich die Komplexion, als die „Mischung oder Zusammenfügung" der Einfachen zu den „respektiven" Erkenntnissen. 2 ) Die „ D e d u k t i o n " 3 ) ist daher als das zweite Grundverfahren des Geistes auszuzeichnen. In ihr wird der Zusammenhang mit dem „Gesuchten" geschlossen. Auf sie fällt daher alles Gewicht der F o r s c h u n g , der Aufgaben des „Findens" und Lösens. Durch sie wird die Erkenntnis über jene „wenigen" Einfachen hinaus auf alles irgend Wißbare erstreckt; alles, was „nicht selbst evident" ist, bringt diese Verkettung dennoch zu zweifelsfreier Bestimmung. Dem Zusammenhang aller Erkenntnisse wird in dem Grundverfahren der „notwendigen Konsequenzen", der „reinen Erschließung des einen aus dem andern", in dieser „kunstvollen" Deduktion der methodische Ort fixiert. Die „sichere", die „notwendige" Ableitung stellt so jenen „abgelösten" Simplices
gegenüber das Problem der V e r b i n d u n g
(,conjunctio,
>) D X , 372, 382. Für die adjektivische Charakterisierung des Intuitus als „klare und evidente", „klare und distinkte", „durchsichtige" Erkenntnis etc. vgl. D X, 366, 400—402, 407, 410, 425—427. 2) D X , 382f, 422, 427, 428. 3) „deductio", „illatio", und dementsprechend auch wohl „inductio". — Es muß sogleich bemerkt werden, daß Descartes diesen Begriff in einer Bedeutungsweite faßt, die sonst diesem Terminus nicht anhaftet. In der „Deduktion" ist zunächst nur das allgemeine Motiv der V e r k e t t u n g e n zu erblicken — ohne bestimmtere Voraussetzungen über deren Sonderart. Vor allem wird stets die Identifizierung mit dem syllogistischen Verfahren, und allgemein bloßer Ableitung des Einzelnen aus dem Allgemeinen abgelehnt. (D X, 372/3, 389, 405 f, 439; VII, 140). Descartes scheut sich sogar nicht, diesen Ausdruck, der ursprünglich für die absteigende Richtung gewählt wurde, auch gelegentlich für die Verkettung im a n a l y t i s c h e n Verfahren anzuwenden ( D X , 461), wie er auch von einem „Deduzieren" der Ursachen aus den Wirkungen spricht, obgleich er die ersteren als das „Einfachere", der Erkenntnis nach Frühere bestimmt hat! (D X, 383, 428). C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VI
4
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Verbindung
connexio, relatio, unio, componere; liaison etc.,) in den Vordergrund. Jene „wunderbare Verbindung" alles möglichen Wissens präzisiert sich hier in der Abkunft alles komplexen Inhaltes von den ursprünglichen, „aus sich" gewissen Begriffen des Geistes; die Einzelerkenntnis, wie sie in die „Reihen" sich einfügt, bedarf stets eines „notwendigen Erschließens aus gewissen sicher bekannten" Grundlagen. 1 ) Auch für dieses Verfahren gilt jene Bestimmung, daß allein die Direktive für die „Ausübung" dieser geistigen Funktion in den Kompetenzbereich der Methode, wie überhaupt begrifflicher Bestimmung falle. Das reine Verfahren a l s s o l c h e s wird auch hier, wie beim Intuitus, als untrüglich gedacht — die falsche A n w e n d u n g allein bringt den Irrtum herbei. Diese aber bildet im deduktiven Erschließen eine weit größere Gefahr als dort: verfehltes „Zusammensetzen" ist eine „Gruhdquelle alles Irrtums". Für die Bestimmung der echten Methode tritt daher das Problem der Verbindung immer mehr in den Vordergrund. 2 ) In dieser Aufgabe aber wird auch die wurzelhafte Einheit sichtbar, in der jene beiden Grundverfahren innerlich zusammenhängen. Wenn es hieß, daß die Deduktion entweder unmittelbar oder über mehrere Glieder hin erfolge, so hat nun für die erstere Art, für den einzelnen „immediaten" Schritt der Verkettung, wiederum die Erkenntnisgewißheit der intuitiven Funktion einzustehen. Das deduktive Verfahren bezeichnet im eigentlichen Sinne nur die Richtung auf die Aneinanderreihung solcher Verbindungsglieder zu ganzen Entwicklungen, während die „einfache Deduktion einer Sache von der anderen" selbst d u r c h d e n I n t u i t u s s i c h vollzieht. Solch unmittelbares Erschließen kann „unter verschiedene Betrachtung" fallen: auf ihre „unmittelbare" Sicherheit, die eigentliche Erkenntniskraft angesehen, weisen sie auf den Intuitus — während die „Deduktion" das Tendenzmoment in ihnen hervorhebt. 3 ) Damit erhält der Intuitus, wie wir ihn bisher betrachtet haben, die neue Wendung auf das Erschauen von „Verbundenem". Nicht nur die „Einfachsten" selbst, auch deren „not*) D X , 365, 368 f, 372, 425 f etc. F ü r die Beiwörter der „ D e d u k t i o n " (besonders „notwendig", „sicher", „kunstvoll") vgl. noch D X , 360, 369, 370, 400, 425. — Die psychologische Charakterisierung dieses Verfahrens stellt seine Verkettungsleistung der „gegenwärtigen E v i d e n z " des intuitiven E r f a s s e n s als „Sukzession" gegenüber, die die Funktion des G e dächtnisses hinzuzuziehen nötige. 2 ) D X , 365, 368, 372, 399. 3
) D X , 369, 370, 389, 399, 408, 4 2 1 , 425, 429, 432 etc.
„Einfache Verknüpfung"
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wendige Verknüpfung mit einander" muß in ihm zur evidenten Erkenntnis kommen. So wird das Problem der Verbindung auch auf ihn bezogen — ja, gegenüber der Reihungsaufgabe des deduktiven Verfahrens hat er das allgemeinste Grundmoment der Verknüpfung u r s p r ü n g l i c h s t zu vertreten, wie ja überhaupt von ihm die eigentlich grundlegende Erkenntnisleistung ausgeht. Zugleich aber tritt die Beziehung des Intuitus auf sein Objekt, das „Einfache", in ein neues Licht. Dessen logische Grundbedeutung hatten wir in dem „cognitu prius" erkannt — darüber hinaus jedoch scheint der Terminus immer zugleich die Forderung begrifflicher Abgelöstheit, den Gedanken einer inhaltsarmen, gleichsam punktuellen Einfachheit aufzustellen. Allerdings soll in diesen Endgliedern der analytischen Reihen eine unüberschreitbare Schranke für alle „Teilung" konstatiert werden: nur die „Dinge" werden „einfache genannt, deren Erkenntnis so durchsichtig und distinkt ist, daß sie in mehrere, noch distinkter erkannte, im Geiste nicht geteilt werden können". Unter dem Gesichtspunkt des Verbindungsproblems wird es nun aber ganz klar, daß jene „Teilung" eben nur auf die Wertstufen der „Distinktheit" und „Durchsichtigkeit" gehen, nur die Grade der Evidenz bezeichnen soll. Denn wenn es nun auch „einfache Verknüpfungen" geben soll, so kann doch unmöglich im Begriffe des „Einfachen" die Abweisung aller Art von Mehrheit beabsichtigt sein. Descartes selbst bezeichnet diese allgemeinsten Erkenntnisgrundlagen gelegentlich auch als „einfache Sätze" und „Aussagen", wie sie ja die Verbindungsglieder in ganzen „Diskursen" vertreten sollen. Es wird sogar eine besondere Gruppe von „Einfachen" ausgezeichnet, deren Funktion gerade darin aufgeht, andere Einfache „mit einander zu verbinden", „Fesseln" für diese zu bilden. Aus diesen „gemeinsamen Begriffen" setzt der Geist alle seine „Demonstrationen zusammen", auf ihre „Evidenz stützt sich alles, was wir in rationaler Erwägung folgern". 1 ) Die Forderung eines Inhalts also, der eine Mehrheit von Momenten nicht gänzlich ausschließt, ist für die rechte Bestimmung des „Einfachen" unerläßlich. In jener Abweisung der „Teilung" liegt allerdings noch eine andere Tendenz, als die des Aufstieges zur weiter nicht reduzierbaren Evidenzeinsicht. Im Begriffe des Intuitus und seines Gegenstandes sucht Descartes die Formulierung für einen Ein>) D X, 368f., 383, 407, 409 f-. 418 f., 428; VII, 162/3; VIII, 9; vgl. 1,476. 4*
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Einheitsbegriff des „Schauens"
h e i t s b e g r i f f , der durch den Zusammenschluß der T e i l e zu einem G a n z e n nicht bezeichnet werden kann. Hier mischt sich in eigentümlicher Weise mit der Forderung unmittelbarer Gewißheit der Erkenntnisgrundlagen — die letztlich a r i s t o t e l i s c h e r Abkunft ist — das Bedürfnis, für das Wesen der ursprünglichst dem Geiste entstammenden Erkenntnis den Gegensatz gegen alle vermeintliche Zusammensetzung eines gegebenen Materials zu betonen — einer logischen Grundtendenz also der p l a t o n i s c h e n Idee. Aus der mittelalterlichen Umbildung der platonischen „Schau" dringt Descartes wieder zum ursprünglichen Sinne des Gedankens durch. 1 ) Das „Einfache" ist die Einheit des Erkannten, wie es in der „einfachen Schau des Geistes" zur ursprünglichen Entstehung kommt; alle Gliederung, alle Mehrheit des Inhaltes muß daher erst aus ihr hervorgehen, in ihr zugleich entspringen. Die Einheit des methodischen „ A k t e s " bildet für beides die Grundlage. So wird das Erschauen des „Einfachen", somit auch der „einfachen Verbindung", gegenüber der „Sukzession" der deduktiven Folgerungskette als „ z u g l e i c h " charakterisiert. Der reine Erkenntnisgegenstand muß von allem Anderen „getrennt, und mit fest darauf gerichtetem Blick des Geistes" angeschaut, in „einem einzigen", „distinkten" „ A k t e des Denkens" erfaßt werden. 2 ) Auch jene Bestimmung, daß das „Einfache" wenn man „auch nur das Geringste von ihm mit dem Geiste berührt", schon völlig und klar erkannt sei, zeigt diese Tendenz gegen die Teilung der ursprünglichen Erkenntnis, wie sie aus dem „reinen Licht" und seiner Einheit erfließt. 3 ) Auf den logischen Grund der platonischen Idee weist auch Descartes' Bezeichnung der „Einfachen" als „ a l l g e m e i n e r " (communes, universalia). Hier kann es sich nicht um die AllObgleich er selbst die überlieferte Bedeutung des „Intuitus" durchaus abzuwehren bestrebt ist (D X, 369), so ist es ihm doch nicht gelungen, diesen Grundbegriff seiner Erkenntnislehre ganz von theologisch-mystischen Beimengungen freizuhalten. Vgl. z. B. D V , 136. — Zu Piatos Polemik gegen die Anwendung des Begriffspaares vom Ganzen und seinen Teilen auf die F r a g e der Erkenntnis vgl. Theätet pag. 201 e ff. und P. N a t o r p , Piatos Ideenlehre. Leipzig 1903, S. 108 ff., sowie im Sachregister „Einheit und Vielheit". 2) Die Grenze zwischen logischer und psychologischer Betrachtungsweise ist hier nicht durchgängig beachtet. — Für den analogen Tätigkeitscharakter der platonischen Idee vgl. N. H a r t m a n n , Piatos L o g i k des Seins. Philos. Arbeiten Bd. III, Gießen 1909, S. 186 ff. 5) D X , 400 f., 407.
Implizieren
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gemeinheit aristotelisch-mittelalterlicher Begriffstheorie handeln — dafür bürgt schon die A b w e i s u n g der syllogistischen D e duktion. E s ist vielmehr die a l l g e m e i n e A n w e n d u n g s m ö g l i c h k e i t , die diese fundamentalen Erkenntnisgebilde zu übergreifenden Momenten weiterer Zusammenhänge macht; nichts anderes ist es j a auch, was sie befähigt, in ihrer geringen Anzahl dennoch für alle unsere Einzelerkenntnisse, alle besonderen Deduktionsreihen die alleinige Grundlage zu bilden. D e r Intellekt b e z i e h t „ d i e e i n z e l n e I d e e a u s s i c h s e l b s t a u f V i e l e s " . In aller Besonderheit der verschiedenen Gegenstände werden doch die „ W e s e n h e i t e n durch eine und dieselbe Idee erkannt". Diese Geltungskraft der „allgemeinen Ideen" wurzelt eben in jener letzten universalen Einheit der natürlichen V e r nunft, in deren „einfacher S c h a u " sie j a erstehen. W a s jenes Einheits-Licht für die Gesamtheit der Erkenntnisobjekte bedeutet, das haben diese ursprünglichsten Ausprägungen der „ V e r n u n f t " in allem besonderen Wissen durchzuführen. W i e nahe hier Descartes dem Einheitsgedanken der platonischen Idee steht, das geht noch besonders aus einer gelegentlichen F o r mulierung des Problems hervor, in der er sogar das Motiv des TtaQadeiyfia aufnimmt: „die primitiven Begriffe sind w i e d i e O r i g i n a l e , nach d e r e n Muster wir alle unsere a n d e r e n E r k e n n t n i s s e bilden".1) — Die nähere Bestimmung nun für jene Verbindungseinheit sucht Descartes in dem Begriffe des I m p l i z i e r e n s zu gewinnen. Die „notwendige V e r k n ü p f u n g " stellt für alle wissenschaftlichen Zusammenhänge, ihre „notwendigen Konklusionen" und deduktiven Demonstrationsketten, die grundlegende Leistung des methodischen Verfahrens dar; sie muß nun, nach der allgemeinen Definition des „ E i n f a c h e n " , ohne vorangehende Kenntnis anderer Momente, also etwa der Verbindungsglieder, rein aus sich selbst im bloßen „Berühren" des Geistes gewonnen werden. Und dennoch müssen diese Glieder in solcher Erkenntnis tatsächlich vorhanden sein, dennoch bilden sie in ihr ein unerläßliches Moment! W e n n ihre Erkenntnis nicht der ihrer V e r k n ü p f u n g vorhergeht, so muß sie doch unmittelbar aus dieser selbst sich entnehmen lassen. In irgend einem Sinne müssen die einzelnen Glieder in ihr e n t h a l t e n , von ihr b e f a ß t ') D X , 439; VIII, 9, 27; III, 66, 665. Zum platonischen Begriff d e s „ U r b i l d e s " und „ B e i s p i e l e s " vgl. H. C o h e n , P i a t o n s Ideenlehre und die Mathematik. 1878. S. 22 f.
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Abstraktion und Negation
sein: soll doch ihre Verbindung eine „notwendige", indem Sinn und Gehalt der Begriffe selbst liegende, keine bloß „zufällige", äußere Zusammenstellung sein! So definiert Descartes die „notwendige Verbindung" der „einfachen Dinge mit einander" als eine solche, in der „das eine in dem Begriff des anderen auf e i n e g e w i s s e verw o r r e n e W e i s e so i m p l i z i e r t w i r d , d a ß wir n i c h t e i n s von b e i d e n d i s t i n k t e r f a s s e n k ö n n e n , wenn wir u r t e i l e n , beide seien von einander g e t r e n n t " . Die Einheit des intuitiv erfaßten „Einfachen" umschließt also zugleich die implizierten Glieder, mit einer Notwendigkeit, deren Leugnung eben der begrifflichen Wahrheit zuwider laufen würde. Man kann zwar im Erkennen gelegentlich von dem einen oder anderen der Glieder a b s e h e n , „an das eine denken, ohne auf das andere aufmerksam zu sein" — aber solche „Abs t r a k t i o n des Geistes" ist durchaus verschieden von einer V e r k e n n u n g des Zusammenhanges, von seiner B e s t r e i t u n g : solche „Verneinung" „schließt den Widerspruch in sich"! Man kann ein rechtwinkliges Dreieck zwar erkennen, ohne auf die Konstituentien zu achten, deren Zusammensetzung diesen Begriff ausmacht; dennoch aber kann es „nicht distinkt verstanden werden, wenn das Verhältnis zwischen den Quadraten seiner Seiten und seiner Basis negiert wird". „Ich kann den Triangel intelligieren, indem ich davon a b s t r a h i e r e , daß seine drei Winkel gleich zwei Rechten sind, aber ich kann nicht durch eine klare und distinkte Operation, d. h. indem ich recht einsehe, was ich sage, von ihm dies leugnen"! 1 ) Der Zusammenhang der begrifflichen Momente ist aller Willkür entzogen, er wird durch den Gehalt der Begriffe mit Notwendigkeit gefordert. So ist in dem Erschauen des „Einfachen" als der „einfachen Verbindung" zugleich die Möglichkeit und der grundlegende Ansatz zu einer ausführlichen Entwicklung seines Gehaltes, zu seiner Auseinanderlegung in die Einzelmomente der Verbindung gegeben. Der Intuitus vertritt daher in seiner allgemeinsten Erkenntnisleistung nicht nur die einzelne Erkenntnis des „Einfachen" selbst, sondern im letzten Grunde auch alle die >) D X , 418/9, 421 f.; 1 1 1 , 4 7 5 f r . ; VII, 117/8, 120/1, 225. Dieser Begriff des Implizierens und die Gegenüberstellung der „ A b s t r a k t i o n " und der „ N e g a t i o n " des Zusammenhangs spielt (worauf wir noch kommen werden) eine hervorragende Rolle in der ¿artesischen Metaphysik: für den N a c h w e i s von der substanziellen Geschiedenheit der Seele vom Körper. V g l . die oben angeführten Stellen.
Die „Enumeration"
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Entwicklungen, die „Diskurse", die aus ihm sich gewinnen lassen. In dem Maße aber, in welchem so die Probleme der Verbindung dem Kompetenzbereich des intuitiven Verfahrens eingefügt werden — in dem Maße also, in welchem die Deduktion an Eigenbedeutung scheint einbüßen zu müssen, schließen sich an diese zweite Grundoperation eine Reihe von Motiven an, die alle unter dem Namen der „ E n u m e r a t i o n " zusammengefaßt werden. Mit der letzteren wird, so erklärt Descartes oft und nachdrücklich, nicht etwa ein neues, ein drittes Verfahren eingeführt: diese „Aufzählung" soll nichts anderes sein als Deduktion; aber deren Sonderwert soll in ihr mit größerer Schärfe herausgestellt werden. 1 ) Die allgemeinste Bestimmung der Enumeration ist diese, daß durch ihre Kontrolle die l ü c k e n l o s e V o l l s t ä n d i g k e i t in jeder Erkenntnis verbürgt werde. Sie leistet „eine so sorgfältige und genaue Untersuchung alles dessen, was zu einer vorliegenden Frage gehört, daß wir aus ihr sicher und evident schließen können, nichts sei verkehrter Weise von uns ausgelassen worden." In ihr soll „alles Einzelne, was zu unserem Vorhaben gehört, in zureichender und geordneter Aufzählung umfaßt werden". 2 ) Diese zur „Vervollständigung der Wissenschaft" erforderliche Leistung aber dient nun verschiedenen Interessen, ordnet sich in verschiedener Weise der allgemeinen Struktur der Methode, wie wir sie bisher kennen gelernt haben, ein. Zunächst soll durch die „Aufzählung" die Vollständigkeit der Deduktionsketten überwacht werden — und insofern verbindet sich der Begriff der „enumeratio" mit dem der „kontinuierlichen Be') So werden „deductio" und „enumeratio" promiscue gebraucht, und die „Aufzählung" gelegentlich allein als das zweite Grundverfahren dem Intuitus gegenübergestellt, während die „einfache und durchsichtige" Deduktion „einer Sache aus der anderen" eben dem letzteren zugerechnet wird. (D X , 389, 407 ff. Vgl. auch den Aufsatz von J. B e r t h e t „ L a méthode d e Descartes avant le discours" im Descartes-Heft der R e v u e de Metaph. et de Morale. 4. année, Nr. 4 p. 400 ff.) — Der vieldiskutierte Cartesische Begriff der enumeratio birgt in sich eine ganze Reihe von Problemansätzen, die alle nicht durchgeführt werden. A u c h die Verwendung dieses T e r minus in den vielfachen Beispielen und in den späteren Schriften zeigt die charakteristische Unbestimmtheit mancher Hauptbegriffe der Cartesischen Erkenntnislehre, in denen ein ganzer K o m p l e x von ungeklärten F r a g e n mit einheitlichem Namen bezeichnet wird. W i e sehr Ähnliches vor allem für den Begriff des „Einfachen" gilt, dürfte schon jetzt merklich sein. ») D X , 387 f.
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Induktion
wegung", auf den wir noch zu sprechen kommen. 1 ) Dann aber richtet sie sich vor allem auf diejenigen Erkenntnisse, die in der Stufenfolge der „Reihen" „zu demselben Grade gehören". Auch diese Einzelglieder der jeweiligen Stufe sollen „in einer Ordnung durchmustert" werden — allerdings ist diese Ordnung nicht die gesetzlich fixierte der deduktiven Methodik, sie kann „verschieden sein und hängt von der Willkür eines Jeden ab." Es ist keine Ordnung bestimmter Abfolge, sondern vielmehr nur eine übersichtliche Aufreihung der zugehörigen Momente durch das Hilfsmittel der K l a s s i f i k a t i o n . Die Dinge, die derselben Stufe angehören, müssen, um der Vollzähligkeit sich zu versichern, in „gewisse Klassen", in „Kollektionen zusammengefaßt", „in gewisse Hauptteile disponiert" werden. 2 ) Und diese einteilende Funktion kommt schließlich auch der untersten Stufe in der jeweiligen Reihe zugute: dem Problem. Diese „Materie", die „Data", die, wie wir sahen, in der Frage schon vorliegen und die Richtung der Auflösung bestimmen müssen, sie müssen „einzeln durchlaufen und in zureichender Aufzählung umfaßt" werden; die „Schwierigkeit" ist („nach der siebten Regel") „mit Enumeration in möglichst kleine Teile zu zerlegen". 3 ) Das Beispiel aber, das für diese letztere Verwendung auftritt, weist auf einen wichtigeren Problemansatz im Begriffe der „Aufzählung" hin, der, ebensowenig durchgeführt und zu eindeutiger fruchtbarer Bestimmung gebracht wie die vorigen, doch den Blick auf eine allgemeine Verfahrungsweise des wissenschaftlichen Forschens richtet — ein Problem, dessen Wichtigkeit Descartes also nicht etwa übersieht, wenn er auch glaubt, es völlig unter seinem allgemeinen Deduktionsbegriff befassen zu dürfen. Es ist die Methode der I n d u k t i o n , der er in dieser Hauptbedeutung der „enumeratio" (die allgemeiner als die Deduktion mit dem Terminus der „inductio" belehnt wird) den logischen Ort in seiner Methodenlehre zu bestimmen sucht. Er faßt dies Problem sogleich in der vollen Allgemeinheit eines Denkverfahrens, das nicht auf die Anwendungen etwa im Erfahrungsgebiete beschränkt ist. So heißt es in dem klarsten der Beispiele, an denen er die Bedeutung der Enumeration darzulegen sucht: „Wenn man durch die Aufzählung zeigen will, daß ') So D X , 387, 389/90, 408. s ) D X , 390 f., 395 f. Man bemerkt den Zusammenhang mit dem e i n t e i l e n d e n Verfahren der antiken Methodenlehre. •) D X , 4 2 9 - 4 3 2 -
Das Allgemeine im Besonderen
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die Kreisfläche g r ö ß e r ist, als alle F l ä c h e n der anderen F i g u r e n von gleichem U m f a n g e , so ist es nicht n ö t i g , alle F i g u r e n zu durchmustern, sondern es genügt, dies von einigen im Besonderen zu beweisen, damit das Gleiche durch Induktion auch von allen anderen geschlossen wird." Man sieht, wie hier die W e i t e des Deduktionsbegriffs auch auf das „ E r s c h l i e ß e n " des allgemeinen G e s e t z e s auf Grund einzelner Fälle seine Herrschaft erstreckt. D a ß Descartes selbst allerdings die logische Schwierigkeit in solcher Ableitungsart wohl b e m e r k t , das geht aus einer anderen Stelle hervor, w o er den Hauptirrtum, der d e m deduktiven V e r f a h r e n begegnen kann, darin fixiert, „ d a ß wir urteilen, aus einer besonderen und zufälligen S a c h e könne etwas A l l g e m e i n e s und Notwendiges deduziert w e r d e n " . 1 ) W i r werden bald näher sehen, in welcher R i c h t u n g er die einschränkenden Bestimmungen für das echte V e r f a h r e n der im Einzelnen beginnenden D e d u k tion gesucht hat. Dieses Verfahren eines Erschließens allgemeiner Wahrheiten, wie sie im Durchlaufen besonderer g e w o n n e n werden, ist es im Grunde, auf das D e s c a r t e s abzielt, wenn er die Enumeration im G e g e n s a t z zur Intuition und „ e i n f a c h e n " D e d u k t i o n als diejenige „operatio" bezeichnet, in der „aus V i e l e m und D i s j u n k t e m E i n e s abgeleitet", „ g e s a m m e l t " , in welcher durch „vielfache u n d verwickelte" „ D e d u k t i o n " aus deren Gliedern E i n e s „ h e r a u s g e l o c k t " werde. E s ist eben die eine allgemeine Wahrheit, die einheitliche R e g e l , die in einer Reihe von Einzelfällen gewonnen wird, einer Reihe, in der dann zugleich wieder die abkürzende L e i s t u n g klassifizierenden Einteilens verwertet w e r d e n kann. A u c h das wird schon aus jenen A n d e u t u n g e n klar, d a ß dieses „ A l l g e m e i n e und N o t w e n d i g e " in j e n e n besonderen Fällen i m p l i z i e r t sein m u ß : die ableitende „ S a m m l u n g " besteht in einem H e r a u s h o l e n des grundlegenden A l l gemeinen aus d e m vorliegenden Einzelnen! Nicht die ganze Unendlichkeit möglicher Einzelfiguren noch auch die gleichfalls unendliche Anzahl ihrer K l a s s e n wird für die G e w i n n u n g jener geometrischen Einsicht d u r c h g e g a n g e n , sondern an einigen besonderen Beispielen wird der Beweis g e f ü h r t : die allgemeine B e ziehung, die zwischen den Flächeninhalten der Figuren besteht, wird aus dem besonderen Falle, in d e m eben das „ A l l g e m e i n e und Notwendige" letztlich bestimmend wirken muß, herausgelöst. Hier darf es genügen, nur „ W e n i g e s " oder gar „nur ') D X, 390, 424.
„Kontinuierliche Bewegung" des Denkens
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ein Einziges deutlich zu erkennen". 1 ) — Wir werden noch sehen, daß es tatsächlich im eigensten Sinne Leistung der Deduktion, der „notwendigen Verbindung" der „Einfachen" ist, die auch in diesem induktiven Vorgehen für die Wahrheit und Sicherheit der Erkenntnis einzustehen hat. In allen Bedeutungen der „enumeratio" aber wird unterschiedslos dies festgehalten: daß in ihr die A u s w e r t u n g d e s d e d u k t i v e n V e r f a h r e n s , nach der Bedeutungsweite, die diesem Begriffe nun einmal eignet, sich darstelle. So bleibt es also für die allgemeine Bestimmung der reinen Methode bei der Zweiheit der Grundfunktionen — zwischen denen nun die Beziehung, die das Problem der „connexio" anbahnte, zur innigen Verbindung durchgängigen korrelativen Zusammenwirkens in aller Einzelforschung fortgeführt und gesteigert wird. Die Tendenz der Enumeration auf die vollständige Aufzählung aller deduktiven Kettenglieder, durch die wir versichert werden sollen, keines ausgelassen zu haben (wodurch ja die ganze Ableitung haltlos und ungewiß gemacht würde) — dieser Gedanke einer exakten Überschau über ganze Entwicklungsreihen wird zugleich durch den Begriff einer „ k o n t i n u i e r l i c h e n u n d n i r g e n d s u n t e r b r o c h e n e n B e w e g u n g des G e i s t e s " vertreten. Das intuitive Erfassen bleibt gemäß dem „Vergleiche mit den Augen" stets auf das e i n z e l n e „Einfache" beschränkt. Soll der Geist diese „Naturen" mit „fest darauf geheftetem Blick" deutlich erschauen, so müssen sie sorgsam „von einander getrennt werden". Das bedeutet die Verbindung des Beiwortes „distinkt" mit denen des „klaren" und „evidenten". Und das gilt ebenso für die Verbindungsleistung des Intuitus: hier umfaßt sein Blick allerdings zugleich die implizierten Verbindungsglieder — aber gerade darin muß er doch streng auf die e i n z e l n e Verbindung geheftet werden. Nur soweit erstreckt sich die Kompetenz dieses Verfahrens. 2 ) Aus diesem Grunde trat dem Intuitus eben jene andere Operationsart zur Seite: es ist die Funktion des Deduktionsb.egriffs, der einzelnen, auch in ihrer Verbindungsleistung dennoch isolierten, „abgelösten" Erkenntnis gegenüber auf die Zusammenhänge, auf die „Reihen" hinzuweisen, in denen die grundlegenden „Einfachen" zum komplexen Problem, die „absoluten" Erkenntnisse zu den „ respektiven" hinuntergeführt l
) D X , 389, 392/3, 4 0 7 f., 4 2 9 , 4 3 2 *) D X , 369/70, 3 8 3 , 3 8 9 , 400, 407, 4 2 5 , 429.
Zusammenwirken von Intuitus und Deduktion
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werden. Und diese Reihen präzisierten sich dann als „Ketten", als F o l g e n von V e r b i n d u n g e n , in denen die einzelnen Schritte, die als solche noch unter das intuitive „Zugleich" fallen, zum sukzessiven „langen Kontext der Konsequenzen" zusammengeschlossen werden. Diesen „Kontext" aber selbst nun wieder n a c h d e r Einh e i t s e i n e s Z u s a m m e n h a l t s zu methodischer Bestimmtheit zu erheben, dafür wird jene Vereinigung der beiden Grundverfahren erfordert, die der Begriff einer K o n t i n u i t ä t d e s D u r c h l a u f e n s — meist in psychologischer Formulierung, aber in logischer Absicht — anstrebt. Durch diese „äußerst schnelle" Bewegung, die dennoch „die einzelnen Glieder deutlich erschaut", die „das Einzelne intuiert und z u g l e i c h auf das Andere übergeht", gelingt es, nun auch „ M e h r e r e s distinkt . . . zugleich zu fassen". So werden — das ist die allgemeine logische Tendenz dieser Bestimmungen — auch die langen Entwicklungsketten in die Grundcharakteristik der Erkenntnis, das einheitliche Zusammenschauen, in dessen Evidenz alle Wahrheit und Sicherheit gelegen ist, eingestellt. Im Vollzug dieser Bewegung „scheint" der Geist die Totalität der Stufen, die „ganze Reihe zugleich a n z u s c h a u e n " . Die beiden Grundverfahren scheinen hier „in eins zu verwachsen"; sie vereinigen sich zu dem einheitlichen fundamentalen Erkenntnisgesetz, wie es später in der „allgemeinen Regel" des „Klaren und Distinkten" formuliert wird. Jene allgemeinen Grundgesetzlichkeiten „sind nicht von einander zu trennen, weil man meist auf sie zugleich achten muß und weil sie alle in gleicher Weise zur Vervollkommnung der Methode zusammenwirken". 1 ) So führt die prinzipielle Charakteristik der Methode wieder auf den Begriff des einheitlichen Zusammenhangs, des E r k e n n t n i s - K o n t i n u u m s , dessen allgemeine Forderung den ersten Ansätzen ihres Problems schon zugrunde lag. Und damit ist zugleich der anderen Aufgabe genügt, die auf die G r e n z b e s t i m m u n g für das Reich der Erkenntnis zielte. Nur was in diesem so bestimmten Zusammenschluß der Grundverfahren entsteht, was dem Erkenntnissystem, das in ihm erwächst, sich einordnet, nur das kann als Gegenstand des unbezweifelbaren Wissens, als wirkliche Erkenntnis angesehen werden. Aller Beitrag zu dem Gebäude der Wahrheit muß sein Entspringen und seinen Bestand in jenen Grundoperationen des >) D X , 369, 387, 388, 392, 407, 455- 460; VI, 3, 21.
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Vollständiger Erkenntnisbegriff
Geistes nachweisen können. „Auf keine andere Weise wird Wissenschaft gewonnen", „nur diese beiden" Verfahrungsarten dürfen für die echte Erkenntnis „zugelassen werden"; alle anderen sind, soweit sie nicht unter ihrer beherrschenden Gesetzlichkeit stehen, „als verdächtig und irreführend zurückzuweisen". „Alle menschliche Wissenschaft besteht darin allein, daß wir distinkt sehen, wie jene einfachen Naturen zu der Zusammensetzung der anderen Dinge zusammenwirken". Damit ist das allgemeine methodische Grundgesetz vollständig gegeben: „Wenn die Methode richtig auseinandersetzt, wie man sich der Intuition des Geistes zu bedienen hat, damit wir nicht in einen wahrheitswidrigen Irrtum verfallen, und wie die Deduktionen zu finden sind, damit wir zur Erkenntnis aller Dinge gelangen, so scheint mir nichts daran zu fehlen, daß sie v o l l s t ä n d i g ist, da ja, wie gesagt, nur durch den Intuitus des Geistes oder die Deduktion Wissenschaft erlangt werden kann." 1 ) c) M e t h o d e u n d E r f a h r u n g . Wenn so in den allgemeinen Verfahrungsweisen, wie sie bisher entwickelt wurden, das Erkenntnisgesetz der Methode nach seinen prinzipiellen Momenten in aller Bestimmtheit und Vollständigkeit fixiert ist, so wird doch durch diese allerdings grundlegende Behandlung nicht etwa das Problem der Methode erschöpft, sein Anspruch nicht gänzlich erledigt. In der A b straktion von allen den Erkenntnisbereichen, in denen Zweifelhaftes, bloß Wahrscheinliches die strenge Gewißheit methodischer Erkenntnis zu trüben pflegt, wurde das Verfahren des „natürlichen Lichtes" zur Bestimmung gebracht. Sollen aber etwa jene Gebiete dauernd von aller exakten Bestimmung ausgeschlossen bleiben, sollte man sie etwa prinzipiell aus dem Bereich, aus der „universitas" der Dinge, wie sie von jener „Sonne" der Erkenntnis beleuchtet werden, verweisen müssen? Oder hat vielleicht die Auszeichnung der reinen Methode, die „auf alles auszudehnen ist, zu dessen Erkenntnis der menschliche Geist fähig ist", gerade auch dies nun möglich zu machen: daß auch jene Problemgebiete der Sicherheit des „reinen Lichtes" zugeführt, daß auch sie in die Welt der „universalen Weisheit" hineingezogen werden? Die weiteren Entwicklungen der „Regeln" erweisen es, daß die Strenge und Einheitlichkeit der Methode nicht mit einer ») D X, 366, 368, 370, 372, 400, 425, 427.
Problem der Durchführung
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Beschränkung ihres Geltungsbereichs etwa auf das „reine Objekt" der Mathematik erkauft werden sollte. Die Forschungstendenz, die mit jenen Grundlegungsbestimmungen innerlich verbunden ist, das Bestreben zur A u s b r e i t u n g jenes in der Selbstbeschränkung gewonnenen ursprünglichen Lichtes — dies bildet von nun an das zentrale Interesse. Am Ende der drei Regeln, die die Grundzüge des reinen Verfahrens festlegen, sagt Descartes, es bleibe ihm nunmehr „nichts anderes fast im weiteren Traktate zu tun", als das „im Einzelnen darzustellen, was hier im Allgemeinen zusammengefaßt" worden sei.1) Diese besonderen Ausführungen gelten nun nicht etwa allein einer Erläuterung der allgemeinen Bestimmungen durch Beispiele (wie die achte Regel), noch auch nur der Angabe von Vorschriften, wie man sich im methodischen Erkennen üben müsse (so in der neunten und zehnten Regel) — vielmehr werden sie alle von einem prinzipiellen und für das Problem der Methode gar nicht zu umgehenden Interesse geleitet: eben von jener Forderung der Ausbreitung, von dem P r o b l e m d e r D u r c h f ü h r u n g jenes reinen Verfahrens auch in solchen Gebieten, die bisher einer sicheren Erkenntnis nicht zugänglich geworden waren. Für die Herausstellung des Erkenntnisgesetzes rein als solchen kam alles an auf die Bestimmung der inneren, autonomen Sicherheit, der G e w i ß h e i t der „reinen Vernunft". Daher trat auch im Verlauf dieser Erörterungen immer wieder der Intuitus, als das „einfachste", d. h. eben als das grundlegende Verfahren in den Vordergrund. Wenn Deduktion oder Enumeration die allgemeinen Mittel für die Hinabführung dieser Erkenntniskraft zu komplizierten Problemen darstellten, so war das Interesse an ihnen dennoch gegenüber dem an der Gewißheit des rein intuitiven Erfassens zunächst sekundär. Die sichere „Unterscheidung von wahr und falsch" ist überall das primäre Problem. Das Interesse der Durchführung aber richtet seine Fragen vorwiegend an die Deduktion: sie soll jene ursprüngliche Gewißheit mit den „respektiven" Gegenständen verketten, und eben besonders mit jenen, deren weiter Abstand vom „Einfachen", deren Komplexheit das Zweifelhafte unausweichlich mit sich zu bringen scheint. Die beherrschende Frage ist nun: wie auch solche Erkenntnisobjekte in die „Reihen" der Methode und ihre „Ordnung" eingestellt werden können. Den Quell alles Irrtums, dem die Gewißheit des mathematischen Objekts entgegentrat, faßte Descartes in dem Aus») D X , 392.
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Erfahrung
druck der E r f a h r u n g . Die Abkehr von allem, „was Erfahrung unsicher gemacht hat", bedeutete unmittelbar zugleich die Zuwendung zum „reinen Licht" und seiner unfehlbaren Wahrheit. „Auf zwiefachem Wege gelangen wir zur Erkenntnis der Dinge, nämlich durch Erfahrung oder durch Deduktion". Da aber „die Erfahrungen der Dinge oft täuschend sind", so muß die exakte Methode allein in jenem „ersten Wege" gesucht werden. „Alle Täuschung, die den Menschen begegnen kann . . . entsteht niemals aus schlechter Herleitung, sondern allein daraus, daß gewisse ungenügend verstandene Experimente vorausgesetzt oder Urteile unbesonnen und ohne Fundament statuiert werden". Darum muß man auf die Deduktion für alle wahre Erkenntnis zurückgehen — und auf das, was ihr wiederum zugrunde liegt, also letztlich auf den Intuitus, der selbst im ausdrücklichen Gegensatz zu dem „fließenden Zeugnis der Sinne" und dem „Urteil der schlecht zusammensetzenden Einbildungskraft" sich definiert. Wenn sich nun also das Interesse wiederum von der gewonnenen einheitlichen Grundlage der Vielheit der Gegenstände zuwendet, wenn die Leistung des reinen Verfahrens in die besonderen Komplizierungen der Probleme hinein erstreckt werdensoll, so ist es vorauszusehen, daß alle Einzelbestimmungen der Methodenlehre mit sachlicher Notwendigkeit vor allem dem allgemeinen Problem der Erfahrungserkenntnis, diesem Urgebiet des Ungewissen zustreben werden. Die Frage muß sich erheben, ob die exakten Verfahrungsweisen jene Mängel zu beseitigen vermögen, ohne doch das Problem in seiner Besonderheit aufzuheben; ob die Methode fähig ist, den „ungenügend intelligierten Experimenten" gegenüber solche aufzuzeigen, die ihrem allgemeinen Gesetz sich einfügen; ob der „schlecht zusammensetzenden Imagination" (mit welchem Ausdruck Descartes nichts anderes bezeichnet als das „unbesonnene" Urteil über die Existenz eines sinnlich Vorgestellten) nicht doch ein „Fundament" unterlegt werden k a n n , das die Wahrheit des Urteils zu verbürgen imstande ist. Daß in der Tat die Cartesische Methode, trotz, ja gerade in jener ursprünglichen Beschränkung von allem Anfang an auf die Erfahrungserkenntnis zugleich dirigiert war, das ist gerade aus der Beziehung zu ersehen, in der sie zur Mathematik steht. In der vierten Regel ergibt sich mit der Berufung auf die MatheD X, 364 f., 368.
Der dritte Teil der „ R e g e l n "
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matik für die Bestimmung des logischen Verfahrens unmittelbar zugleich die Direktion dieser allgemeinen Methodenlehre auf das Problem einer „mathesis universalis''. Und diese Wissenschaft (von der wir im dritten Kapitel zu handeln haben) ist in dieser ersten Fixierung ihres Problems sofort mit aller Bestimmtheit über das rein mathematische Gebiet hinaus auf die Erkenntnis physikalischer Gegenstände bezogen. Sie darf deshalb als „universal" bezeichnet werden, weil sie nicht nur auf Arithmetik und Geometrie, sondern zugleich auf die anderen „Teile" der „Mathesis", auf „Astronomie, Optik, Mechanik und viele andere . . ." ihre Geltungskraft erstrecken, weil sie „aus j e d e m b e l i e b i g e n Objekte die Wahrheit herauslocken" soll.1) — So ist eben mit der Universalmathesis zugleich die allgemeine Methode selbst, aus der sie herfließen soll, nicht weniger auf die physikalische Erkenntnis, auf die Gebiete der Erfahrungswissenschaft dirigiert, als auf die „reinen und abstrakten" Disziplinen — wie das ja auch die „Essais" des „Discours" zeigen. Es ist aus mehrfachen Andeutungen in dem uns vorliegenden Fragmente der „Regeln" bestimmt zu schließen, daß nach den Ausführungen des zweiten Teiles, der die dreizehnte bis vierundzwanzigste Regel umfassen, und in dem eben die Grundzüge jener Universalmathesis zur Darlegung kommen sollten, der dritte Teil ausschließlich für die Behandlung der Erfahrungsprobleme, wohl im engsten Bezug auf die Anwendungen der Universalmathesis, bestimmt war.2) — Gerade diese Partien, diese speziellen methodologischen Fortbildungen des „weiteren Traktats", sind nicht mehr zur Ausführung gediehen. Wenn es trotzdem möglich ist, die allgemeinste Richtung, in der Des*) D X , 374, 377f.; vgl. I, 349. Auf den Umstand, daß gleich zu Anfang der „ R e g e l n " das Methodenproblem in dieser Verkettung mit der Universalmathesis auftritt, ist wohl der verbreitete Irrtum zurückzuführen, als ob Descartes' Methodenlehre l e d i g l i c h auf diese Wissenschaft gerichtet sei und womöglich auch sachlich in ihr aufginge. E s wird sich im Folgenden überall herausstellen, wieviel allgemeiner Descartes seine methodischen Grundgedanken angelegt hat — hier möge es genügen, einerseits auf die Disposition der Regeln hinzuweisen, in denen, der geplanten Dreiteilung entsprechend, speziell mathematische Methoden erst in dem „ T e i l e " (X, 442) der Methodenlehre einsetzen, der auf die 12. R e g e l folgt, andererseits aber an die „Proben" des „Discours" zu erinnern, in denen vor den mathematischen und physikalischen Problemen die m e t a p h y s i s c h e n zur Behandlung kommen. Vgl. I, 349, 370, 560. *) D X , 399, 427, vgl. 432, 441, 459.
Probleme der „Physik"
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cartes die Lösung des Erfahrungsproblems suchte, aus den „Regeln" selbst zu ersehen, so ist dies nicht so sehr gelegentlichen Antizipationen, als eben jener schon mit der achten Regel einsetzenden logischen Tendenz des Durchführungsproblems zu verdanken. Schon die Beispiele für die methodische Behandlung einzelner Fragen sind nicht aus mathematischem Gebiete entnommen — dessen Zusammenhang mit der reinen Methode Descartes als unmittelbar durchsichtig annehmen durfte — sondern sie wollen zeigen, wie kompliziertere Probleme physikalischer Natur der exakten Behandlung zugänglich gemacht werden können. In ihnen treten denn auch sogleich für die Formulierung und Lösung des Erfahrungsproblems entscheidende Momente zutage. Die Sonderart solcher Aufgaben gegenüber den „reinen" Objekten betont vor allem das Beispiel von der „anaklastischen Linie". 1 ) Dieses Problem, das, gemäß den allgemeinen Bestimmungen, als „zusammengesetzter und respektiver Vorwurf" angesehen wird, das durch die methodische Behandlung auf das „Absoluteste in dieser Reihe" zurückgeführt werden muß, um dann nach dessen „klarem Durchschauen durch den Intuitus des Geistes" „durch dieselben Schritte" wieder von ihm aus entwickelt zu werden — diese Aufgabe bleibt dem unlösbar, der „ausschließlich mit der Mathematik sich beschäftigt". Es kann nichts nützen, nach Art dieser Wissenschaft hier bloß irgend ein Verhältnis zwischen Einfalls- und Brechungswinkel „ v o r a u s z u s e t z e n " , sich das Problem im ganzen Umfange selbst zu stellen. Denn dann wird man eben nicht „die anaklastische Linie mehr suchen, sondern nur die, welche der besonderen Art dieser Voraussetzung folgen würde". Das optische Problem dieser Linie geht vielmehr über solches Selbstsetzen der „rein" mathematischen Objekte hinaus: es „gehört nicht zur Mathematik, sondern zur Physik"; und nur der kann die Analyse hier richtig vollziehen und die Lösung herbeiführen, der diese Zugehörigkeit zu einem anderen Gebiete, die Eigentümlichkeit dieser der eigenen „Voraussetzung" entgegenstehenden, daher als solche nicht im „Reinen" aufgehenden Frage sich zum Bewußtsein bringt. Daß aber in solcher Verschiedenheit der Fragestellung die methodischen Lösungsmittel, die eigentlichen Erkenntnisquellen dennoch die gleichen bleiben, daß man für alle Bearbeitung auch l
) DX, 393 fr.
Experiment und Deduktion
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solcher „physikalischen" Fragen immer auf das reine Verfahren und die in ihm sich gestaltenden Begriffe zurückgehen muß — diese Identität des Erkenntnisgesetzes mit allem Nachdruck festzuhalten, ist die Haupttendenz des Beispiels vom Magneten. 1 ) Was immer durch die einzelnen Erfahrungen, die „Experimente", hier zum Problem gestellt sein mag: so kann doch „nichts im Magnet erkannt werden, was nicht aus gewissen einfachen und durch sich bekannten Naturen besteht . . .". Intuitus und Deduktion mit ihren Begriffserzeugungen bleiben die einzig legitimen Gestaltungsmittel auch für diese Erkenntnisse. Dennoch aber — und damit wird jenem Gegensatze gegen das Selbst-Voraussetzen eine weitere Bestimmung gegeben — dennoch spielt hier die E r f a h r u n g eine gewisse Rolle. Man soll sorgfältig „alle E x p e r i m e n t e sammeln, die man von jenem Steine haben kann, aus denen man dann zu deduzieren sucht, welcher A r t die n o t w e n d i g e Mischung der e i n f a c h e n N a t u r e n s e i n m u ß , um a l l e j e n e W i r k u n g e n , die m a n im M a g n e t e r f a h r e n hat, p r o d u z i e r e n zu k ö n n e n " . Das „Deduzieren" bezeichnet hier das Ausgehen vom komplexen Problem und die Verbindung mit bekannten Einfachen: so ist es also die Erfahrung, das Experiment, das hier, wie in jenem anderen Beispiele, dem eigenen Voraussetzen gegenüber die Sonderart des Problems behauptet. Die Lösung auch dieser Fragen kann letztlich nur aus den reinen Begriffen erfolgen; aber die spezielle Bestimmtheit des Problems selbst und damit auch seiner Lösung hängt zugleich doch von der Erfahrung ab — die ja für sich allein allerdings nur ein trügerisches Zeugnis abgeben könnte. Die Einsicht in die „Natur des Magneten" ist dem Geltungsbereich der echten Erkenntnis und ihrer Gewißheit nicht entzogen, auch sie wird nach den allgemeinen Vorschriften der Methode erlangt, soweit sie eben „vom Menschen u n d a u s d e n g e g e b e n e n E x p e r i m e n t e n hat gefunden werden können". Diese Beziehung der reinen simplices zu den Erfahrungen, von denen aus eben die methodische Erklärung der wahrgenommenen „Wirkungen" gefordert wird, gelangt nun in jenen allgemeinen Erörterungen zu breiterer Behandlung, die wir unter dem Titel des Durchführungsproblems zusammengefaßt haben — Betrachtungen übrigens, deren nicht immer leicht zu überblickende Distinktionen wir aus weiter vorgreifendem !) DX, 427. C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VI
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D a s Erfahrungsproblem im Durchführungsteil
Interesse heraus mit einer Ausführlichkeit verfolgen werden, die das Problem der Erfahrung für sich allein nicht beanspruchen würde. Die eigentliche Aufgabe der Methodenlehre kommt nach Descartes erst hier zum vollen Austrag. Die „Regeln", wie sie bis dahin formuliert worden sind, stellen nur das allgemeine Gesetz der wahren Erkenntnis in aller Abstraktheit der freilich grundlegenden Charakteristik dar. Die „eingeborenen Prinzipien der Methode" werden dort gewissermaßen nur zum Bewußtsein gebracht. Jetzt erst sollen jener allgemeinen Einsicht gemäß, die überall die grundlegende bleiben muß, die Wege für die einzelnen Aufgaben der Erkenntnis, und gerade für diejenigen, die bisher einer sicheren Behandlung sich nicht hatten einfügen wollen, eröffnet werden. Bisher waren die Regeln „mehr eingeborene als mit Kunst bereitete": nun erst werden jene allgemeinsten Gesetze eigentlich zu „Regeln", zu „Vorschriften", die uns lehren, in die verschiedenen Gebiete und die Komplexheit ihrer Probleme die erleuchtende Kraft des „reinen Lichtes" einzuführen, die Gewißheit des Intuitus durch das Verfahren der Verbindung, durch die Deduktion, auch auf sie auszudehnen. 1 ) Der reine Begriff der Erkenntnis wird hier also konfrontiert mit der Mannigfaltigkeit der Aufgaben, die dem Forschen gestellt sind. Von der intensiven Einheitlichkeit des Erkenntnisgesetzes, seiner inneren Struktur aus sollen die Beziehungen hergestellt werden zum Ganzen der Erkenntniswelt, zu dem extensiven Reichtum ihrer Probleme. Unter diesen Gesichtspunkt wird nun auch die Begrenzungsfrage gestellt, die hier, was zunächst befremdlich anmuten muß, von neuem und mit verstärkter Betonung auftritt, gleich als wäre sie noch nicht zur Bestimmung gelangt. Das was die Grenzlinie letztlich bestimmt, ist allerdings durch jenen abstrakten Begriff des reinen Verfahrens in aller Vollständigkeit gegeben — hier aber ist die Aufgabe eben die, diese Linie selbst zu ziehen, ihren Verlauf durch die Problemgebiete selbst hindurch zu verfolgen. So ist denn das rein logische Resultat, das in dieser neuen Aufrollung der Grenzfrage zu Tage gefördert wird, auch wirklich wieder das alte: daß außerhalb des Intuitus und der Deduktion kein Wissen je entstehen könne. 2 ) Das Neue ist hier nicht dieses ') D X , 395, 398. 2 ) Mit D X , 366, 368, 370, 372 vgl. 400, 422, 425, 427, 439.
„Teilung" der Methodenfrage
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allgemeine Ergebnis, sondern die Fragerichtung, die nicht mehr auf das reine Gesetz als solches, sondern auf seine Durchführung in den einzelnen Problemgebieten eingestellt ist. „Alle Wege, die zur Erkenntnis der Wahrheit den Menschen offen stehen" müssen nun im Einzelnen „sorgfältig erforscht werden". 1 ) Die neue Wendung des Methodenproblems führt zu einer neuen Behandlungsart. Hier wird nicht mehr durch den logischen Einheitsbegriff der Erkenntnis Ausgangspunkt und Ziel, Subjekt und Objekt in unmittelbarer Korrelation befaßt: mit der Einstellung jenes Erkenntnisbegriffs in die Gesamtheit der Aufgaben, in die Mannigfaltigkeit der Erkenntniswelt spaltet sich das Problem der Methode in zwei Richtungen der Betrachtung. Die Aufgaben, die Probleme werden einerseits durch die subjektiven „Vermögen" charakterisiert, von denen sie uns dargeboten werden oder deren Hülfe wir uns zu ihrer Lösung bedienen — andererseits aber durch die Dinge, die Gegenstände, auf welche die Frage hinzielt, und welche die Lösung zur Bestimmung bringt. Es muß also die Frage nach dem Wesen und den Grenzen der Methode, wie sie hier verstanden wird, „in zwei Glieder geteilt" werden: „man muß sie beziehen entweder auf u n s , die w i r d e r E r k e n n t n i s f ä h i g s i n d , o d e r ' a u f die D i n g e s e l b s t , d i e e r k a n n t w e r d e n k ö n n e n ; beides untersuchen wir getrennt". 2 ) Das allerdings kann Descartes in dieser Teilung nicht vermeiden, daß allenthalben das eine Problem mit sachlicher Notwendigkeit über sich hinaus auf das andere weist: kommen doch eben die „Vermögen" nur soweit in Frage, als sie solche der Erkenntnis sind, und die „Dinge" nur insofern, als sie Erkenntnisobjekte sind, als sie „vom Intellekt erfaßt werden". 3 ) In der Untersuchung des „Wir, insofern wir der Erkenntnis fähig sind", der subjektiven Grundlage also, in der jene Idealgesetze des „reinen Lichtes" als „Vorschriften" auftreten und in der sie zur Verwirklichung und Durchführung kommen müssen, ergeben sich drei Grundvermögen, drei allgemeine „Instrumente" oder „Fähigkeiten des Erkennens": I n t e l l e k t , I m a g i n a t i o n {„imaginatio", auch „phantasia") und S i n n e . 4 ) ') D X, 399. Die Ausführlichkeit der obigen Erörterungen schien uns erforderlich für die Klärung der nicht ganz einfachen Dispositionsfrage in diesem ersten Teile der „Regeln". 2) D X, 398 vgl. 411. 3) D X, 399, 418. 4) Die Leistung des G e d ä c h t n i s s e s , das gelegentlich als viertes Vermögen hinzutritt, (D X, 398, 411) denkt Descartes durchaus in dem 5*
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Intellekt und Sinnlichkeit
Im eigentlichen Sinne „facultas cognoscendi" ist allerdings nur der Intellekt: er stellt das subjektive Vermögen dar, das allein wirklich die Forderungen der Methode in sich zur Erfüllung bringen kann. „Wahrheit und Falschheit können allein im Intellekt sein", er allein ist „der Wissenschaft", des „Erfassens der Wahrheit fähig". So muß also in ihm alle Erkenntnisgewißheit und alle Ausbreitung des Wissens letztlich zur Gestaltung kommen: Intuitus und Deduktion können nichts anderes sein, als „Aktionen", „Operationen des Intellekts"; nur in ihm können ihre „Vorschriften" Wirklichkeit werden. 1 ) Wenn aber auch von ihm allein die Erkenntnis allenthalben im letzten Grunde „abhängt", so stehen dennoch Imagination und Sinne in wesentlichem Bezug zu der Durchführung jener reinen Methoden, ihrer Ausbreitung auf alle Arten von Gegenständen. Die Verbindung, die sie mit dem Intellekt eingehen können, bringt ihre Sonderart zugleich in Beziehung zu dem Problem der Methode. Obgleich nämlich Wahrheit und Falschheit nie in jenen Vermögen, sondern immer nur im Intellekt zu Tage treten können, so ist es dennoch möglich, daß beide von ihnen ihren „Ursprung nehmen": der Intellekt kann von den anderen „Fähigkeiten" „unterstützt oder behindert werden". 2 ) Und das geschieht dadurch, daß der Intellekt auf Imagination oder Sinne sich richtet, auf sie „sich anwendet" — in dieser Zusammenarbeit vermag er die Erkenntnis auch auf die Inhalte auszudehnen, die in diesen Vermögen sich darstellen; in diesem Sinne gelten denn auch sie als „Erkenntnisfähigkeiten". Für die Durchführungsfrage wird daher das zentrale Problem darin bestehen, dieses „Unterstützen" und dieses „Behindern voneinander zu trennen; zu lehren, wie der letztere Einfluß abzuwenden, wie der erstere zu befördern ist, nach welchem Prinzip es gelingen kann, jene „Hilfsmittel" für die Erkenntnis wirklich fruchtbar zu machen. 3 ) allgemeinen Begriff der Imagination mitvertreten. (Vgl. D X , 414, 416, wie auch die späteren Schriften). Auf die Begründung, die psychophysiologischer Natur ist, haben wir hier nicht einzugehen, wie wir überhaupt diese Seite der Erörterungen, die hier auch nur „suppositionsweise" eingeführt wird (D X, 414 ff.), erst in einem späteren Zusammenhang zur Sprache bringen werden. (Kap. II, d.) Für die logische Fassung der Methodenlehre sind diese physiologischen Wendungen des Problems der Erkenntnisvermögen als solche unerheblich. — Der Terminus der Imagination oder Phantasie schließt, in seiner Vermittlungsstellung zwischen den Sinnen und dem Intellekt, häufig auch die ersteren in sich ein. 2) D X, 396, 398, 411. a) D 4iof. *) D X, 368, 395, 396, 398, 400, 411.
„Intellektuale" und „materiale" Gegenstände
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Die Regel, die hier sich ergibt, wird durch diese Bestimmung bezeichnet: „daß, wenn der Intellekt von den Dingen handelt, in denen nichts Körperliches oder Körperlichem Ähnliches liegt, er von jenen Fähigkeiten nicht unterstützt werden könne; daß man hier vielmehr, um nicht von ihnen behindert zu werden, alle Sinne und die Imagination . . . entfernen müsse". „Wenn aber der Intellekt sich etwas zum Problem setzt, das auf den Körper bezogen werden kann, so ist dessen Idee so distinkt wie möglich in der Imagination zu bilden". Und hier werden dann auch die Sinne ihre Bedeutung als „Erkenntnisfähigkeit" bewähren können.1) Schon hier weist also die Untersuchung der Erkenntnisvermögen über das bloß Subjektive hinaus auf die „zu erkennenden Gegenstände". Ihre Grundlagen, die „einfachen Naturen" und damit natürlich auch sie selbst werden entsprechend in zwei inhaltlich unterschiedene Gruppen eingeteilt: in „intellektuale" oder „spirituale" und „materiale" — denen sich dann noch „gemeinsame" überordnen, die jedem dieser Gebiete gleicherweise zugerechnet werden.2) Darin also besteht der korrelative Zusammenhang dieser objektiven mit jener subjektiven Einteilung: während die „rein Intellektualen" „ohne jede Hülfe eines körperlichen Bildes vom Intellekt erkannt werden" müssen, darf und muß die Erkenntnis der „rein Materialen, die als nur in Körpern vorhanden erkannt werden" sich jener „Hilfsmittel" bedienen. Die „Gemeinsamen" aber „können entweder vom reinen Intellekt erkannt werden, oder von demselben, wie er die Bilder (imagines) der materialen Dinge intuiert", auf sie sich „anwendet".3) Das erste und ursprünglichste Gebiet der methodischen Erkenntnis wird also durch diese „spiritualen Dinge" bezeichnet. In ihm braucht der Intellekt gar nicht über sich hinauszugehen, die Reinheit des in ihm wohnenden Erkenntnisgesetzes wird auf nichts anderes angewandt, als auf seine eigensten Inhalte.4) ') D X, 416 f. D X, 399, 419. Aus den späteren Schriften vgl. hierzu z. B. VIII, 23. 3) D X, 419 f4) Es darf schon hier angedeutet werden, daß diese „intellektualen" Gegenstände nichts anderes sind, als die der Metaphysik. Es wird also auch von hier aus wiederum klar, daß die Cartesische Methodenlehre nicht etwa mit der Konstituierung der Universalmathesis zusammenfällt. Sie ist sogar in e r s t e r I n s t a n z auf ein anderes Gebiet als das der „körperlichen Natur" bezogen. 2)
D e r „reine Intellekt" und das Erfahrungsproblem
Das „eingeborene Licht" scheint hier so rein und ungehemmt zu leuchten wie in keinem anderen Gebiete; diese „Dinge" sind so „leicht" zu erkennen, „daß es dazu genügt, der Vernunft teilhaft zu sein". Wie Descartes es dann später ausgedrückt hat: wenn der Geist „nur intelligiert, so wendet er sich in gewisser Weise auf sich selbst und betrachtet eine von den Ideen, die ihm selbst innewohnen"; „in der Intellektion gebraucht der Geist nur sich allein", hier ist er im eigentlichsten Sinne „intellectuspurus".x) Material und Ausgestaltung, Problem und Erkenntnismittel sind also hier im rein intellektualen Gebiete beschlossen — so fügt das Problem dieser Erkenntnisart den allgemeinen methodischen Bestimmungen zunächst nichts Neues hinzu.2) In der Erkenntnis der „materialen" Dinge dagegen soll sich der Intellekt auf Imagination und Sinne richten. Hier steht die Erkenntnis der Körperwelt, der körperlichen Wirklichkeit zum Problem. In der Erörterung dieser Anwendung der reinen Methode tritt daher die E r f a h r u n g , das „physikalische" Erkennen wieder in den Gesichtskreis der Behandlung. Jene „Hilfsmittel des Intellekts" sind es eben, von denen aus sich diese Frage erhebt — dieser Problemanspruch, der als solcher über die Kompetenz des reinen Verfahrens, des „bloßen Intellekts" und seiner eigenen Suppositionen hinausführt. Für die Bestimmtheit des jeweils vorliegenden Problems, als eines „materialen", bilden Imagination und Sinne eine gerade für die methodische Charakteristik nicht zu umgehende Instanz. Neben den reinen Begriffen, die ja alle aus dem Intellekt, als dem eigentlichen „der Wissenschaft fähigen" Vermögen herfließen müssen, erhalten für die Gestaltung dieser „physikalischen" Erkenntnisse noch die „Experimente" ihre eigene Bedeutung, die Erfahrungen, die der Geist macht, indem er sich durch die Imagination auf die Sinne „anwendet".3) Auf solche Weise kann es geschehen, daß diese anderen „Erkenntnisfähigkeiten" den Intellekt in seiner Wahrheitsentscheidung „behindern oder unterstützen", sie können entweder durch „ungenügend ver») D X , 383, 416, 419; VII, 73, 385) W e l c h e r Art diese „intellektualen" G e g e n s t ä n d e sind, w e l c h e m Sinne hier der Intellekt „sich auf s i c h selbst" w e n d e t sich allen Inhalt s c h ö p f t , das kann erst im z w e i t e n Kapitel zur k o m m e n . D i e A n d e u t u n g e n der „Regeln" sind zu spärlich, als ihnen allein die r e c h t e Auffassung hergeleitet w e r d e n könnte. 3 ) Vgl. dazu D X , 414 fr. 2
und in und aus Sprache daß aus
Einfache und komplexe Gegenstände
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standene Experimente" den Anlaß zum unbegründeten „Urteil" bieten, oder aber, wie in dem Beispiel vom Magneten, „durch die gegebenen Experimente" zur rechten Erkenntnis des physikalischen Gegenstandes führen. 1 ) In den weiteren Distinktionen kommt dann erst diese Bedeutung des Experimentes für die methodische Erkenntnis der durch die Sinne vermittelten Körper zu bestimmterer Fixierung. Bis hierhin handelte es sich ja noch um die „Einfachen", soweit ihnen, als „materialen", ein Bezug auf die Erfahrungswelt zukommt: das „Experiment", die sinnliche Vorstellung; die einzelne „Erfahrung" aber, das wird sich klar herausstellen, gilt Descartes durchaus nicht als „einfach" — dieser Ausdruck bleibt überall den rein intuierten Begriffen gewahrt. Wenn es einmal heißt, daß man „nur von ganz einfachen und absoluten Dingen eine sichere Erfahrung haben" könne 2 ), so ist dies, wie aus allen späteren Bestimmungen Descartes' sich ergibt, so zu deuten, daß der Intellekt, indem er sich auf die Gebilde, auf die „Bilder" jener sinnlichen Vermögen „anwendet", in oder an ihnen diese seine eigensten Begriffe, die „reinen" „Einfachsten", die aus seinem innersten Lichte herfließenden Grundlagen alles „materiellen" Erkennens „erschaut": so wie etwa die Figur (eines der Hauptbeispiele für die materialen Einfachen) bei aller Ursprünglichkeit dieses Begriffs doch z u g l e i c h an körperlichen Gegenständen, oder auf dem Papier, oder in der Phantasie erfaßt wird. Dadurch wird gerade jener erlaubte, geforderte Bezug auf diese „Hilfsmittel" ermöglicht. Die „reinen" — und das heißt doch eben von Erfahrung reinen — „und einfachen Naturen" können dennoch „in den Experimenten selbst intuiert werden". 8 ) Die Induktionsbedeutung der Enumeration hatte unter allgemeinerem Gesichtspunkt bereits darauf hingedeutet. 4 ) In voller Allgemeinheit also kommt das Erfahrungsproblem erst in der Untersuchung der „komplexen Dinge" zur Behand*) W i r sehen hier von jener besonderen Art der „materialen" Gegenstände ab, die der Beziehung auf das „Experiment" nicht bedürfen, sondern nur eine solche auf Imagination verlangen: über die O b j e k t e d e r M a t h e m a t i k und ihre Stellung zu den „intellektualen Dingen" einerseits und der Erfahrung andererseits werden wir im zweiten und dritten Kapitel zu sprechen haben. Die „ R e g e l n " drängen in ihrer Durchführungserörterung immer sogleich auf die Erfahrungserkenntnis hin, ohne der bloßen Imaginationsanwendung sich eingehender zuzuwenden. 2)
D X , 394.
3)
D X , 383.
*) vgl. oben S. 57.
Einteilung der „zusammengesetzten Naturen"
lung. 1 ) Die Einteilung erfolgt hier nicht nach der Sonderart des Inhaltes, den die Begriffe in sich verbürgen, sondern nach dem rein methodischen Gesichtspunkte, wie diese „Dinge", die „nur soweit betrachtet werden als der Intellekt sie erfaßt", in der Forschung zu exakter Bestimmung gelangen. Und diese Betrachtung (in der im Grunde jene Trennung von Subjekt und Objekt wieder einer unmittelbaren Korrelation gewichen ist) bezieht sich sogleich auch auf jene Erkenntnismomente, denen wir in der spezielleren Formulierung der „Experimente" schon begegneten. Descartes teilt die „komplexen oder zusammengesetzten Naturen" ein in derartige, die „der Intellekt als solche erf ä h r t , bevor er über sie eine Urteilsbestimmung abgibt" („alias intellectus tales esse experitur, antequam de iisdem aliquid determinare iudicet", auch: „experimur quales sint"), und solche, die „er selbst zusammensetzt". Die Hineinziehung des „Urteilens" — die bei Descartes fast durchweg das charakteristische Anzeichen für das Auftreten des Erfahrungsproblems im Existentialurteil bildet — weist sogleich darauf hin, daß das erste Glied dieser Disjunktion den selbsterschaffenen Gebilden des Geistes die k o m p l e x e n V o r s t e l l u n g e n d e r S i n n e entgegenstellt, wie sie vor aller Einordnung in die Reihen der Methode, vor aller bestimmten Behandlung und vor aller Beurteilung ihres Erkenntniswertes durch den Intellekt von diesem als Eindrücke schlechthin der sinnlichen Erfahrung entnommen werden.2) *) D a s „ E i n f a c h e " oder „ K o m p l e x e " tritt meist als Beiwort zu „res" oder „natura" auf. Da es sich in dieser ganzen Methodenlehre um „ D i n g e " nur immer insoweit handelt, als sie in die Erkenntnis eingehen, so bezeichnen jene Substantiva immer zugleich den Begriff und den Gegenstand, auf dessen Gestaltung die Begriffselemente und ihre Komplexionen zielen — wie auch in den späteren Schriften conceptus, essentia, natura und res immer als äquivalente Ausdrücke gebraucht werden. Bei den „Einfachen" fällt Gegenstand und Begriff völlig zusammen, hier soll der Geist unmittelbar das Wahre, den Gegenstand erfassen. Erst in dem Problem der komplexen Erkenntnisse, in die ja auch der Irrtum sich einschleichen kann, und die zur Gestaltung vor allem des körperlichen Gegenstandes bestimmter Vorschriften bedürfen, bildet sich ein gewisser Abstand heraus zwischen den Begriffen und den Erkenntnisgegenständen, auf die ihre Komplikation zielt, den „res cognoscendae". 2) D X , 399, 417—425. Wenn in diesem Zusammenhang die Erkenntnis der „intellektualen D i n g e " als eine solche bezeichnet wird, die in einer „Reflexion der Seele über sichselbst", in der „reflexiven Kontemplation ihrer selbst" zustande kommt, und wenn dieses „Betrachten" dann auch
Sinnliche Erscheinung und methodische Erkenntnis
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Für den Begriff nun dieses Erfassens der sinnlichen Vorstellungen, die eben durchweg als komplex gegeben gelten, trifft Descartes eine Bestimmung, die durch alle seine Schriften hindurch ein Grundmotiv der Erkenntnislehre bildet: „ . . . wobei zu bemerken ist, daß der Intellekt niemals von einem Experiment getäuscht werden kann, wenn er nur präzis die ihm vorliegende Sache intuiert . . . und nicht außerdem noch urteilt, daß die Einbildungskraft getreu die Objekte der Sinne wiedergebe, noch die Sinne die wahren Figuren der Dinge einführen, n o c h e n d l i c h d a ß d i e ä u ß e r e n D i n g e s o s i n d , w i e sie e r s c h e i n e n : in alledem sind wir dem Irrtum unterworfen." „Aber eben dies täuscht den Intellekt des Weisen nicht, da ja, was immer er von der Imagination empfängt, er davon zwar urteilen wird, daß dies sich auch wirklich in ihr abmalt, niemals aber behaupten wird, daß eben dies g a n z r e i n u n d o h n e j e d e V e r ä n d e r u n g von den äußeren Dingen auf die Sinne und von den Sinnen auf die Phantasie übergegangen sei, es sei d e n n d a ß er e b e n d i e s v o r h e r a u f i r g e n d e i n e andere Weise erkannt hat."1) Der Zusammenhang dieser Problemfixierung mit allem Vorangegangenen, vor allem auch mit den Formulierungen beim Beispiel des Magneten, ist unmittelbar ersichtlich. Nur im Intellekt kann Wahrheit und Falschheit sein; Einbildungskraft und Sinne können beide nur Erkenntnis veranlassen, nicht selbst in sich und ihren Gebilden sie vertreten. Das „immediat perzipierte" „Experiment" ist als solches niemals falsch — genauer: es steht gar nicht unter dem Begriffsgegensatz von Wahr und Falsch, der eben erst mit dem „Urteil" des Intellekts, mit der methodischen Einstellung und Benutzung solcher Inhalte für die Zusammenhänge der Erkenntnis auftritt. als „Erfahren" bezeichnet und jenem „durch den Sinn Perzipieren" unmittelbar koordiniert wird (D X , 422/3; II, 598), so muß man sich doch d u r c h a u s d a v o r h ü t e n diese Erkenntnisart ohne Weiteres etwa mit einer „inneren Wahrnehmung" zu identifizieren! Wir werden später sehen, was auch schon aus den in den „ R e g e l n " angeführten Beispielen sich vermuten ließe (D X , 419), daß in dem Begriff dieser Erkenntnis, die der Intellekt „aus sich selbst" gewinnt, zwei grundverschiedene Betrachtungsweisen mit einander sich vermischen. F ü r das jetzt vorliegende Problem muß es auf das schärfste betont w e r d e n , daß Descartes in solchem Bezug des Intellekts auf sich selbst kein neues Problemstadium sieht, daß vielmehr das ganze Interesse bei der Untersuchung der Dinge, die der Intellekt „erfährt", auf die „materiale" Erkenntnis gerichtet ist, auf das „Erfahren durch die Sinne". (S. bes. D X , 422 f.) >) D X , 423-
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Selbst- Zusammensetzen
Wie aber denn nun dieses Urteil methodisch zu vollziehen ist, wie es möglich sein kann, d a s s e l b e , was m a n „ e r f ä h r t " , „ v o r h e r a u f e i n e a n d e r e W e i s e " z u e r k e n n e n , das deuten, im Zusammenhang mit jenem physikalischen Beispiel, die weitere Ausführungen an, die mit den „komplexen Dingen" insoweit sich beschäftigen, als wir sie „selbst zusammensetzen". Erst an diesem Punkte setzt eigentlich die Aufgabe der Durchführung mit der vollen Allgemeinheit ihrer Direktion auf die Erfahrungserkenntnis und mit ihrer neuen Verwertung des methodischen Gesetzes ein. Die Deduktion, das eigentliche Forschungsverfahren, tritt in den Mittelpunkt. Dem Irrtum jener unbegründeten Urteile zu entgehen, und ihren Anspruch dennoch zu befriedigen, dazu kann nur dies Grundmittel der Durchführung verhelfen. Daher war auch die Gefahr dieses Irrtums in den bisherigen Distinktionen noch nicht eigentlich nach seinem logischen Orte bestimmt worden: die „Einfachen" sind „durch sich" gewiß und wahr, das „als zusammengesetzt Erfahrene" aber kann als solches nicht wahr oder falsch genannt werden. „Getäuscht werden können wir nur dann, wenn die Dinge, die wir meinen, auf irgend eine Weise von uns selbst zusammengesetzt werden." Im Gegensatz zu jenen erfahrenen Komplexen wird der allgemeinste Begriff dieses Selbst-Zusammensetzens (etwas umständlich) so formuliert: „Wir setzen aber, wir selbst, die Dinge zusammen, die wir intelligieren, so oft wir glauben, daß in ihnen etwas enthalten sei, was durch kein Experiment von unserem Geiste immediat perzipiert worden ist". Hier werden also nicht etwa von vornherein alle Erfahrungsinhalte aus dem selbstgeschaffenen Gebilde verwiesen; zugleich aber setzt diese Erkenntnisart mit oder neben den „Experimenten" einen Anteil anderer Herkunft, die Tätigkeit des „Wir selbst" voraus. Wie diese verschiedenartigen Momente zu einander sich verhalten, wie sie in jenen „Urteilen" zusammenwirken können, das bildet nun das Problem. Auch diese „Dinge" werden sogleich wieder in zwei Gruppen geteilt. In der ersten kommt jenes Erfahrungsmoment, das ja in der Definition der „Dinge, die wir selbst zusammensetzen", nicht etwa allgemein gefordert wurde, ganz in Wegfall. Diese Begriffe sind keine anderen als jene Komplexe, die wir, im reinen Verfahren der Deduktion, in der „notwendigen Verbindung" der „einfachsten und durch sich bekannten Naturen" sich zusammenschließen lassen. Diese Art des Selbst-Zu-
„Als zusammengesetzt Erfahren"
sammensetzens kann dem Irrtum wiederum nicht unterliegen. Erst die zweite Art bringt den Bezug solcher Fähigkeit des „Wir selbst" zu den „unmittelbaren" Erfahrungen: diese Inhalte setzen außer den „einfachen Naturen" „ a u c h a n d e r e v o r a u s , d i e wir v o n Seiten d e r S a c h e als z u s a m m e n g e s e t z t erf a h r e n " (quas aparte rei compositas esse experimur), also eben solche „Experimente", wie sie, rein für sich betrachtet „nicht falsch sein können". Alles kommt auf das Zusammenwirken der beiden Momente an, darin hat sich das Problem der Erfahrung schon präzisiert. Dieser Art von „Dingen" also sollte jenes „dritte Buch" der Regeln vorzüglich sich widmen. 1 ) Wie ist dies Beisammen von Experiment und reiner Methode zu denken? Sollen etwa die Erfahrungsvorstellungen, koordiniert mit den „Einfachen" und ihren Verbindungen, in die Deduktionsketten als selbständige Glieder sich einstellen dürfen? Das ist von vornherein unmöglich: den „Experimenten" würde so a u c h i n n e r h a l b d e r E r k e n n t n i s , in ihren Zusammenhängen, die unangreifbare Gültigkeit zugeschrieben werden, die sie, als aus dem „fließenden Zeugnis der Sinne" entsprungen, doch nur solange behaupten durften, als sie noch gar nicht unter dem intellektualen Gesichtspunkt von Wahr und Falsch standen. Die Tatsächlichkeit ihres Auftretens würde unmittelbar identifiziert werden mit ihrem Werte für die Darstellung der Wirklichkeit — gerade in diesem Punkte aber lag jener Grundirrtum der „unbesonnen und ohne Fundament" statuierten Urteile. Die „Erscheinungen" dürfen nicht schlechthin als „Bilder" der „äußeren Dinge" angesehen werden: würden aber die „Experimente" in der Erfahrungserkenntnis, der Erforschung des Wirklichen im gleichen Sinne als „einfach", als „absolut" und also unfehlbar angenommen werden, wie jene echten, aus ganz anderer Quelle herfließenden „Einfachen", so hieße dies eben nichts anderes, als sie zu vollgültigen Erkenntniszeugen, zu irrtumsfreien Repräsentanten des Wirklichen stempeln. Das Beispiel vom Magneten weist den rechten Weg zu einer Interpretation der Cartesischen Äußerungen, wie sie die Konsequenz seiner methodischen Grundanlage wahrt. Die Begrenzung der Erkenntniswelt ergab sich aus der Fassung des Methodenbegriffs: reiner Intuitus und reine Deduktion allein konnten wahres Wissen verbürgen. So muß nun auch in dieser besonderen Anwendung des allgemeinen Verfahrens alle eigent>) D X , 399.
Erfahrungserkenntnis nur in „notwendigen Verbindungen"
liehe Bestimmung, alle Erkenntnisgestaltung aus den „einfachen; Naturen" und ihrer Verbindung erfolgen. Die „Reihen" müssen die der reinen Deduktion bleiben, nicht können „Experimente" als Glieder in sie eintreten. Aber die Erfahrung hat dennoch in solcher Erkenntnis ihre bestimmte Bedeutung: sie zeigt die „Wirkungen" auf, die aus der „Mischung" jener reinen Begriffe sich müssen erklären lassen. In der Konfrontation der eigenen Zusammensetzung mit den als komplex erfahrenen Erscheinungen der Sinne liegt jenes Hinausgehen über die im reinen Gebiet verbleibenden „Suppositionen" des Geistes — das dann doch für die Erkenntnis selbst kein Überschreiten ihrer Grenzen bedeutet. Und dadurch wird diese Beziehung der beiden Momente auf einander möglich, daß eben die „materialen" Einfachen ihrem Begriffe nach einen Bezug zum Wirklichen, zum sinnlich Erfahrbaren besitzen, daß sie, deren G e l t u n g s w e r t durchaus dem reinen Intellekt angehört, dennoch von ihm, in seiner „Anwendung" auf Imagination und Sinne, in d i e s e n erschaut werden können. Alle „ s i c h e r e Erfahrung", alle E r k e n n t n i s der Erfahrung kann nur darin bestehen, daß der Intellekt entweder in den „einfachen und absoluten Dingen", in den ihm gegenüberstehenden „Bildern" den eigenen reinen Begriff „erschaut", oder aber daß er, wie in allen den komplexen Fragen, die eigentlich das Erfahrungsurteil bezeichnet, in der „Mischung" seiner Begriffe die exakte Erklärung herausgestaltet für die „Erscheinungen", die „Wirkungen", wie sie „von andersher zu ihm gelangen". Durchaus in diesem Sinne erfolgen Descartes' Bestimmungen innerhalb der Untersuchung über die „komplexen Dinge". Von allen Arten der „compositio" bleibt für die methodische Erkenntnis nur „die einzige Deduktion", als das Verfahren, „durch welches wir die Dinge so zusammensetzen können, daß wir ihrer Wahrheit gewiß sind". Nur wenn der Geist allein an die „notwendigen Verbindungen" sich hält, kann er aber den Begriff jenes Verfahrens erfüllen. Allen Irrtum können wir, auch gerade in der Wirklichkeitserforschung, vermeiden, wenn wir die Erkenntnisinhalte „nur dann mit einander verbinden, wenn wir intuieren, daß eine streng notwendige Verbindung des einen mit dem anderen besteht"; wenn wir also, wie hier auch das Beispiel, entsprechend dem vom Magneten, zeigt, rein in der Verbindung „einfacher Naturen" die eigentliche Erkenntnis suchen. So soll, durch die Vermittlung der „notwendigen Verknüpfungen der Einfachen untereinander", die Gewißheit des
Das „Experiment" nur für das Problem
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Intuitus „endlich auf alles Übrige ausgedehnt werden, was der Intellekt präzis . . . als in der Phantasie vorhanden erfährt". Dies allein darf der hierhin gehörige Sinn der „Enumeration" als eigentlicher Induktion, als eines Durchlaufens von Experimenten sein: nicht als Verbindungsglied tritt das „Experiment" ein, sondern nur für die besondere Fassung des Problems darf es in Frage kommen. In dieser Hinsicht allerdings ist sein Anteil für alle Erfahrungserkenntnis unerläßlich, insofern beeinflußt es auch die besondere Gestalt jener „Mischung" der Einfachen, die ja eben die „unmittelbar perzipierten" „Wirkungen" erklären soll. Die Erkenntnis selbst aber, die Lösung des Problems bleibt in ihrem Wahrheitswert, ihrem Gewißheitsgehalt durchaus in der Sphäre der reinen Entwicklungen beschlossen, wie sie der allgemeine Begriff der Methode für alle einzelne Erkenntnis fordert. Nichts anderes kann von den Dingen, von der Wirklichkeit, auf die uns jene „Erscheinungen" hinweisen, erkannt werden, als das, was so als Zusammensetzung von „materialen" Einfachen sich darstellen läßt. — Es ist schon hier unmittelbar ersichtlich, wie Descartes' Lehre von der Subjektivität der sinnlichen Qualitäten aus seinem Erkenntnisbegriff hervorwächst. Wie nun im Einzelnen diese Beziehung der sinnlichen Erfahrung auf die „Mischung" der reinen Begriffe gedacht werden soll, welche Rolle etwa des Genaueren das Experiment im eigentlichen Sinne (insofern es nämlich selbst schon durch methodische Fragestellung bestimmt wird) bei der Erforschung der „körperlichen" Natur zu spielen hat, wodurch und wie die „Erscheinungen" dem Problem, jener Mischung von bekannten und unbekannten Momenten, seine bestimmte Richtung geben: das wird in den „Regeln", so wie sie uns vorliegen, nicht zur Erörterung gebracht. Die einzige Bestimmung, die sich dort noch für die methodische Verwertung des Experimentes findet, scheint nicht dazu angetan, dem Problem die erreichte Eigentümlichkeit und Weite zu wahren. Descartes scheidet hier die „Fragen" in solche, die „vollkommen eingesehen werden, wenn man auch ihre Auflösung noch nicht kennt", und solche, die „nicht vollkommen eingesehen werden". 1 ) Es ist ersichtlich, daß diese letztere Art — deren Behandlung er dann auch dem dritten Teile der „Regeln" zuweist — jenes Hinausgehen über die eigene Voraussetzung zu bezeichnen geeignet ist, in welchem das physi') D X , 429—431-
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Beschränkung auf bestimmte Daten
kaiische Problem vom mathematischen sich unterscheidet. Sogleich wird auch die Beziehung zu dem Beispiel des Magneten aufgenommen; zu seiner Erforschung sollten ja Experimente gesammelt werden, die in dem Sinne als „Prämissen" dieser Erkenntnis gelten durften, als sie an der Abgrenzung des Problems beteiligt waren. Der Anspruch der Erfahrung scheint das Problem über die „vollkommen verstandene", selbstgesetzte Determiniertheit hinauszuheben. Nun verlangt aber die allgemeine methodische Fassung des Problembegriffs, die in der Frage die jeweils vorausgesetzte „bekannte Materie" der einzelnen Erkenntnis sieht, damit eben dies, „daß das Problem vollkommen eingesehen sei". Und darin sucht nun Descartes die Einordnung des Erfahrungsproblems in die allgemeine Methodenlehre auch von dieser Seite her zu gewinnen, daß er durch die jeweilige Beschränkung auf eine bestimmte Anzahl von Experimenten die nicht völlig determinierte Frage auf eine exakt umgrenzte zu reduzieren empfiehlt. „Damit die Frage vollständig ist, wollen wir sie streng determinieren, sodaß nichts weiter gefragt wird, als was aus den Daten hergeleitet werden kann: wie wenn jemand von mir wissen will, was über die Natur des Magneten beizubringen ist g e n a u a u s j e n e n E x p e r i m e n t e n , die G i l b e r t a n g e s t e l l t zu h a b e n b e h a u p t e t , seien sie nun wahr oder falsch. . . . Woraus leicht zu entnehmen ist, auf welche Weise alle unvollkommenen Fragen auf vollkommene reduziert werden können". „Denn wenn wir determiniert sind, nur diese oder jene Experimente vom Magneten zu betrachten, so bleibt keine Schwierigkeit, unser Denken von allem Anderen fernzuhalten." Kann man aber bei dieser Bestimmung bleiben? Muß es nicht jetzt gerade zum eigentlichen Problem werden, ob man im Interesse der rechten Erfassung des W i r k l i c h e n bei einer bestimmten Anzahl von Experimenten stehen bleiben darf — ob nicht vielleicht gerade die Eigentümlichkeit des Erfahrungsproblems, die Descartes selbst als den Gegensatz zu allem eigenen Voraussetzen erkannt hatte, uns immer wieder zwingen muß, über solche selbstgewählte Beschränkung hinauszugehen? Oder muß nicht zum mindesten gefragt werden, welcher Art diese „Experimente" sein müssen, um einen höheren methodischen Wert für die physikalische Erkenntnis vertreten zu dürfen, als jede willkürliche und zufällige Sinneswahrnehmung, um in der beschränkten Anzahl dennoch die rechte Frage
Descartes' Unsicherheit im Erfahrungsproblem
stellen zu können: diejenige, welche für den vorliegenden Gegenstand und seine Erkenntnis entscheidend ist? Es darf billig bezweifelt werden, ob Descartes diese Probleme zur Behandlung gebracht hätte, selbst wenn der dritte Teil der „Regeln" ausgeführt worden wäre. Die ganzen späteren Schriften zeigen seine innere Unsicherheit in diesem Punkte. Über gelegentliche Andeutungen ist seine Theorie vom Experiment und von der Eigentümlichkeit des Erfahrungsbegriffs nie hinausgekommen. Wir werden es noch sehen, wie von hier der methodische Grundmangel ausgeht für die physikalische Wissenschaft, wie Descartes' System sie fordert. Sein Interesse blieb, was aus historischen Gründen sehr wohl begreiflich ist, auf die andere Seite des Problems gerichtet, in deren Bestimmung er gegenüber aller phantastischen Willkür der traditionellen Naturlehre die exakten Erzeugnisse des „reinen Lichtes" als die konstituierenden Momente aufwies für alles Erfassen der Wirklichkeit, das Erkenntnis, das Wissenschaft sein will.
Zweites Kapitel. Die Erkenntnislehre der Metaphysik. a) D e r Z u s a m m e n h a n g d e r M e t h o d e n l e h r e m i t der M e t a p h y s i k . In dem Gesamtplan des Cartesichen Denkens, wie er in dem Parallelismus der historischen und sachlichen Abfolge sich uns darstellte, nimmt dem eigentlichen System der Philosophie gegenüber die Methode, der allgemeinsten Gruppierung der Aufgaben nach, eine bloß vorbereitende, propädeutische Stellung ein. Das Gebäude der „Wahrheit", in dessen Zusammenhängen alle Einzelerkenntnis ihre Fundierung wie ihre Auswertung finden soll, erfordert — so muß es zunächst erscheinen — zu seiner Errichtung die Hilfeleistung von Werkzeugen, die dann bei aller ihrer Wichtigkeit für das Zustandekommen des Aufbaus eben doch in diesem selbst keinen Platz finden können. Und so dürfte man vermuten (was ein ungefährer Überblick zu bestätigen scheint), daß Descartes mit dem Aufbau des Systems selbst jenes Problemgebiet gänzlich verlassen, und nur in der Bearbeitung der neuen Aufgaben, in der Erforschung der „metaphysischen" und der physikalischen Gegenstände vor allem, die Anleitung jener „Regeln" sich zunutze gemacht hätte. Indessen mußte schon innerhalb der Methodenlehre selbst die allgemeine Anlage des Problems, der Ausgang, dessen fundamentale Fassung dann alle Einzelausführungen fortwirkend bestimmte, über eine solche bloß instrumentale Bedeutung der Methode weit hinausführen. Wenn in ihr die „Instrumente des Wissens" geschmiedet werden müssen, so bezeugt doch eben die Herkunft dieser Erkenntnismittel selbst den unmittelbaren und durchgängigen Zusammenhang, in dem diese Probleme der „Logik" mit der allgemeinen Frage nach Art und Möglichkeit menschlicher Erkenntnis stehen. Auf dem Einheitsgrunde der „sapientia universalis1'' erwachsen, wie alle Einzelinhalte der
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M e t h o d e und S y s t e m
Erkenntnis, so auch die „Regeln", in deren Befolgung das „reine Licht" der Vernunft zu ungeschwächter Ausbreitung gelangen kann. Diese „Vorschriften", nach denen alles Forschen sich richten soll, stellen unmittelbar zugleich die gesetzliche Form dar, in der alle Erkenntnis aus jenem Einheitsgrunde sich herausbildet. Die „Instrumente", die „mit Kunst bereitet" werden, sind eben doch ihrem Gesetzesgehalt nach die „eingeborenen Prinzipien der Methode", sind nichts anderes als die ausdrückliche Formulierung des universalen Gesetzes, nach dem alle wahrhafte Erkenntnis zustande kommt. Wenn es für die Aufstellung der Methodenlehre verlangt wird, daß man von der „Ordnung der Dinge, wie sie existieren", gänzlich absehe 1 ), so verrät sich darin eine allgemeinere und tiefere Blickrichtung, als eine bloße Abstraktion von solchen Fragen für die spezielle Aufgabe einer Herstellung von Erkenntnisinstrumenten sie würde bedeuten können. Der Ausgang von der Sonne der Erkenntnis, deren Erleuchtung allein die Dinge uns zu „sichtbaren" Gegenständen werden läßt, diese systematische Grundeinstellung des ganzen Erkenntnisproblems ist es, die zugleich die Methode über alle Beschränkung auf den Bereich logischer Technik, auf bloße Hilfeleistung hinaus zum Grundausdruck eben jenes ursprünglichen Erkenntnisquells, jenes ersten und für allen Aufbau bedingenden Wissensfundamentes erhebt. Die Hilfsmittel, die „Instrumente" des Aufbaus stehen auf keiner anderen Ebene, als das Material zu ihm: dem gleichen Quell entspringen die „Regeln" der Forschung und Begründung wie die „Einfachen", aus denen aller echte Inhalt sich zusammensetzt. Nur für die logische Betrachtung werden diese beiden Seiten des Erkennens getrennt. Eben deshalb kann die Methode zum Aufbau dienen, weil sie der unmittelbare Ausdruck des Bodens, des Quells und Fundaments ist, der alles Material und alle Ordnung zugleich für den Aufbau herzugeben vermag. Wenn daher die Fragen der Methode in dem systematischen Gebäude der Wahrheit, der „Summe der Philosophie" 2 ) wirklich keine Stelle mehr finden sollten, so könnte das nur dadurch möglich sein, daß Descartes jene allgemeine Grundauffassung des Wahrheitsproblems auf dieser Stufe seiner Entwicklung wieder verlassen hätte. Auf anderen Fundamenten, als das ») V g l . D X , 381, 399. 2) E s sei hier erwähnt,
d a ß D e s c a r t e s d e n T e r m i n u s der „Philoso-
p h i e " n o c h in d e m g a n z a l l g e m e i n e n Sinne
der g e s a m t e n
W i s s e n s c h a f t , als W e l t w e i s h e i t g e g e n ü b e r der T h e o l o g i e C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VI
„natürlichen" faßt. 6
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Ontologischer Einschlag der „Metaphysik"
„natürliche Licht" sie vertritt, würde der Aufbau der Wissenschaften sich erheben müssen, wenn die Methode u n d mit ihr die „ m e n s c h l i c h e V e r n u n f t " , deren produktives Vermögen sie doch eben zur expliziten Formulierung bringt, zum bloßen Hülfsmittel, zur bloßen Anleitung für das Bearbeiten eines andersartigen Materials gestempelt werden dürfte. Wird man in der Entwicklung der Cartesischen Philosophie eine solche Wandlung der fundamentalen Anschauungen konstatieren müssen? Hat sich in dem Übergange von der Methodenlehre zur Metaphysik die systematische Grundeinstellung des Denkers, wie sie dort alle Problemfassung und -behandlung bestimmte, gewandelt? Oder bildet auch hier jener Ausgang von der „Sonne" der „menschlichen Weisheit" die tiefste und alle weitere Problemfassung bestimmende Grundlage — und wird s o m i t a u c h h i e r d a s G e s e t z d e r E r k e n n t n i s zum e i g e n t l i c h fundamentalen Problem? Die historische Anknüpfung und die allgemeinste Formulierung, in der Descartes die Aufgabe der „Metaphysik" bestimmt, könnte es vermuten lassen, daß er in ihr, der aristotelischmittelalterlichen Tradition folgend, den besonderen Wissensgebieten und ihrer Behandlung von Teilproblemen des Wirklichen eine Gesamtwissenschaft vom Sein als solchem, eine Ontologie zum Fundament unterzulegen beabsichtige. Als „erste Philosophie" bezeichnet ja auch Descartes die Lehre, die er in den „Meditationen" und im ersten Teil der „Prinzipien" (und entsprechend in den Ansätzen des „Discours" und der „Recherche de la vérité") zur Ausführung bringt — als den Teil jener „Summe", der für den weiteren Aufbau, vor allem für die Lehre vom körperlichen Sein, für die Physik, die „Fundamente", die „Prinzipien" aufrichten, für ihre besonderen Inhalte, das Naturgeschehen und seine „sekundären" Bedingungen die „premières causes" herleiten soll. Die „Kenntnis der Wahrheit aus den ersten Ursachen", das bezeichnen die „Prinzipien" als das allgemeine wissenschaftliche Ziel, zu dessen Gewinnung die „Metaphysik" als der „erste Teil" der „wahren Philosophie" eben jene ersten Grundlagen zu liefern hat. In diesem Werke tritt ja dann auch Descartes' L e h r e von d e n d r e i S u b s t a n z e n auf, die durchaus in den Bahnen der alten Ontologie sich zu bewegen scheint. Es bedarf nur eines allgemeinen Hinweises auf die Verwertung des Gottesbegriffs für die Fragen der physikalischen Erhaltung wie der Erhaltung der Seelensubstanz und demgemäß auf die Ordnung der Abhängigkeit, in
Die „erste Philosophie"
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der diese beiden endlichen Substanzen zu jener umfassenden Seinsgrundlage stehen sollen, um den breiten Einfluß dieser Denkweise auf die Cartesische Metaphysik von vornherein außer Frage zu stellen. Die Trennung der „ausgedehnten" von der „denkenden" Substanz hat unter diesem Gesichtspunkt vor allem die Tendenz, die Welt des physischen Seins von der Hineinmengung der substantiellen Formen", als seelischer Elemente, frei zu machen und andererseits der menschlichen Seele ihre Unabhängigkeit vom Körper und ihre Dauer über diesen hinaus zu sichern.1) Daß auch die „Meditationen", die eigentlich authentische Darstellung der Cartesischen „ersten Philosophie", dem Bannkreis dieser Interessen nicht entzogen sind, das lehrt schon der Titel dieser Schrift, der bei aller äußeren Bedingtheit seines Entstehens dem Autor trotz gelegentlichen Schwankens doch (in der zweiten Form) bleibend als der rechte Ausdruck für den Inhalt dieses Buches gelten konnte. „Gottes Existenz und die Unterscheidung der Seele vom Körper" — das weist sogleich mit aller Deutlichkeit auf jene Substanzenlehre hin, die denn auch in der gleichzeitigen „synthetischen" Darstellung der zweiten Responsionen mit allem Gewicht in den Vordergrund tritt. 2 ) Dazu sei jetzt nur dies noch erwähnt, daß unter den Beweisen für das Dasein Gottes auch hier jene Erwägung auftritt, welche aus der Fortdauer der existierenden Seele in den von einander unabhängigen Zeitmomenten die Existenz eines Wesens erschließt, das in beständiger Neuschöpfung diese Erhaltung der Substanz zu vollziehen imstande ist! 3 ) Wenn daher die instrumentale Leistungskraft der Methode in allererster Linie für die Bestimmung und Aufrichtung jener ,,premieres causes" in Anspruch genommen wird, so muß es allerdings scheinen, als ob ihr in dieser Grundlegung tatsächlich nur die Bedeutung eines Hilfsmittels zukommen könnte. Denn wenn auch jene Prinzipien ganz nach Art der „Einfachen" durch diese „beiden Bedingungen" charakterisiert werden: daß sie „so klar und evident seien, daß der menschliche Geist nicht an ihrer Wahrheit zweifeln kann . . ." und daß „von ihnen die 1)
Vgl. z. B. D I X 2 , 2ff., 14; III, 420; VIII, 24ff. DVII, 161. Welchen Raum diese Fragen in den „Meditationen" selbst einnehmen, dafür vgl. nur etwa die Stellen DVII, 14, 44/5, 49, 50. — Zur Geschichte des Titels der Meditationen vgl. Descartes' Briefwechsel mit Mersenne aus den Jahren 1640 und 1641. 3 ) Vgl. DVII, 17, 48/49. io f., 168; VIII, 13; I, 339. 9 2)
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Die Substanzenlehre und die „Ordnung der Gründe"
Erkenntnis der anderen Dinge abhängt, derart daß sie ohne diese erkannt werden können, aber nicht umgekehrt diese ohne sie" — wenn Descartes dazu immer wieder auf die zwingende Kraft des „deduktiven" Zusammenhangs in der Abfolge seiner metaphysischen Aufstellungen, auf die „Reihe und Verknüpfung" der „Gründe" in seiner Prinzipienlehre sich beruft 2 ), so würde dies alles rein aus sich doch noch nicht über eine bloß instrumentale Auffassung von der Methode hinauszugehen zwingen. Das Hilfsmittel zur Gewinnung der Grundlagen und der Zusammenhänge könnte eben doch von der Art sein, daß es in dem erreichten Aufbau selbst zum Wegfall kommen dürfte. Daß die Evidenz der „Prinzipien" und ihre prinzipielle Bedeutung samt der Verknüpfungskraft der Deduktionen dem methodischen Grundquell entstammt, — das ist damit noch nicht mit grundsätzlicher Bestimmtheit festgelegt. Es muß allerdings schon hier fraglich werden, wie eine solche Aufstellung von „Arten des Seins", wie die Substanzenlehre sie darstellt, mit der Anwendung einer Methode sich vereinigen ließe, deren Begriff die Rangierung aller Gegenstände nach der „Ordnung des Erkennens" zur prinzipiellen Grundforderung erhebt. In der Tat ist es, wie schon ein oberflächlicher Blick auf die Disposition der Cartesischen „prima philosophia" zeigt, nicht die Ordnung des Seins, der „Dinge wie sie existieren", sondern die Ordnung der Erkenntnis, die hier verfolgt wird, die „Ordnung der Gründe", die „von den leichteren zu den schwierigeren", also von den einfacheren zu den komplexeren Begriffen fortschreitet. Nicht von Gott geht Descartes aus, von dem doch die anderen Substanzen dem Sein nach abhängen, sondern vom Ich, von der Seele. Descartes spricht es häufig genug mit allem Nachdruck aus, daß er, gemäß den Forderungen der Methode, in den Meditationen die Dinge aufgeführt habe, wie s i e in der E r k e n n t n i s a u f e i n a n d e r folgen. Und so führt denn auch eine nähere Betrachtung dieser „Metaphysik", eine Prüfung ihres Aufbaus auf die eigentlich zentralen Tendenzen hin, mit aller Notwendigkeit und Sicherheit zu der Einsicht, daß unter jenem mittelalterlich anmutenden Titel und in aller vielfältigen Vermischung mit den nach außen hin so stark hervortretenden ontologischen Motiven eine ganz andere Grundeinstellung der Probleme ihr Wirken entfaltet — >) D I X 2 , 2, vgl. 9.
2)
Vgl. nur VI, 40; VII, 9, 13.
Die „Prinzipien der menschlichen Erkenntnis"
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eben jene, der schon die Methodenlehre entstammte. Das „Fundament", das in der Metaphysik für die Einzelwissenschaften gelegt wird, ist im Grunde nicht eine Lehre von der Substanz, sondern eine solche v o n d e n P r i n z i p i e n d e s E r k e n n e n s . Wenn jene Sonderdisziplinen alle an ihrem Teile unmittelbar auf das Sein ihr Interesse heften: hier wird, für die Fundierung des ganzes Gebäudes, nicht nach dem Sein, nach seiner allgemeinsten Wesensbestimmung etwa, die Frage gestellt, sondern nach der prinzipiellen Möglichkeit, in allen jenen Einzelwissenschaften das Sein zu fassen, es durch sie zu erfassen, zu begreifen. Der Ursprung des Wissens und die gesetzliche Bestimmtheit der Forschungsarbeit — dieses allgemeinste Problem der Erkenntnis, das in der Methodenlehre zur eingehenden Erörterung der einzelnen Strukturmomente durchgeführt wurde, wird hier nach seinen Grundfragen von neuem in Angriff genommen. Und wenn hier auch nicht mehr der Titel und der besondere Gesichtspunkt der M e t h o d e im Vordergrunde steht: so sind es eben doch die gleichen umfassenden Fragen der Erkenntnis, die hier wie dort, und zwar, wie wir es genauer verfolgen werden, in inhaltlich fast durchgängig entsprechender Weise zur Behandlung gelangen. 1 ) So wird es denn auch in der Überschrift zum ersten Teil der „Prinzipien" (der ja den „Meditationen" in den Grundzügen völlig entspricht) mit aller Klarheit ausgesprochen, daß in dieser „ersten Philosophie" die „ P r i n z i p i e n d e r m e n s c h l i c h e n E r k e n n t n i s " zum Problem gestellt werden, daß darin also das Fundament für das wissenschaftliche Gebäude in seiner Gesamtheit gelegt werden soll. Unter diesem Gesichtspunkt bedeuten jene „premieres causes" nicht sowohl erste Ursachen des Seins, als erste Gründe der Erkenntnis, — Prinzipien genau in dem Sinne, wie es die aus dem „reinen Licht" entspringenden „Einfachen" der Methodenlehre sind.2) „Etwas Festes und Bleibendes in d e n W i s s e n s c h a f t e n zu stabilieren", diese Grundabsicht der Cartesischen Metaphysik 3 ) stellt nicht nach dem Sein als solchem die Frage, dem Sein als dem gemeinsamen Untergrund ') Über diesen Zusammenhang der Metaphysik mit den „Regeln" vgl. noch P. N a t o r p , Descartes' Erkenntnistheorie S. 26 ff. und desselben Verfassers Aufsatz in der Revue de Métaph. et de Morale, 4« année Nr. 4: „Le développement de la pensée de Descartes depuis les „Regulae" jusqu'aux Méditations". (Deutsch im Archiv für Geschichte der Philosophie Bd. III, S. 10 ff.) 3 D I X 2 , i 6 ; VIII, 5, 39) DVII, 17.
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Die Erkenntnislehre der „Meditationen"
und Inhalt, an dem jene Sonderbehandlungen anzusetzen hätten; sie verlangt vielmehr die Aufrichtung eines Fundaments, das den gemeinsamen Erkenntnischarakter in allen jenen Disziplinen zur prinzipiellen Formulierung bringt — um erst von da aus auch den Begriff des allgemeinen Erkenntnisgegenstandes (wie ihn der Systemgedanke der „Wahrheit" enthielt) herauszustellen. Nicht auf die Allgemeinheit des Seins, sondern auf den einheitlichen Quell alles Wissens vom Sein geht das Interesse dieser Prinzipienlehre. Zum Sein kann man nur „durch die Vermittlung der Ideen" gelangen; nichts kann man „den Sachen . . . zuschreiben", was man nicht „vorher in ihren Ideen bemerkt". Wenn auch „unser Geist", der Träger dieser „Ideen", nicht „der Dinge oder der Wahrheit Maß" sein soll, so „muß er sicherlich doch das Maß sein von dem, was wir bejahen oder verneinen", von dem also, was wir von den Dingen erkennen! „Wir können k e i n e E r k e n n t n i s von den D i n g e n h a b e n , als d u r c h die I d e e n , die wir von i h n e n beg r e i f e n ; u n d f o l g l i c h d ü r f e n wir n u r d i e s e n I d e e n gem ä ß ü b e r s i e u r t e i l e n . . .." Diese „Regel" muß aller Einzelerkenntnis vorangestellt werden — durch sie wird aber eben von vornherein der Begriff des letzten Fundaments, der „ersten Prinzipien" mit sicherer Notwendigkeit auf die Grundlage, das Licht der Erkenntnis dirigiert, als auf die selbsteigene Gewißheitsinstanz für alle diese „Ideen". 1 ) So ist es die Grundabsicht dieser „ersten Philosophie", für alle die „Ideen" der einzelnen Gebiete den gemeinsamen Erkenntnisquell, für alle jene „Urteile" das beherrschende Gesetz, damit aber eben das methodische Kriterium aller besonderen Erkenntnis zur Auszeichnung zu bringen. „Distinkte Ideen von den Sachen zu bilden, über die man urteilen will . . ., das ist es hauptsächlich, was ich durch meine Meditationen zu lehren suche." „Das Hauptziel meiner Metaphysik ist, verständlich zu machen, welches die Dinge sind, die man distinkt begreifen kann." Die Metaphysik soll „eben jene Gedanken auseinandersetzen, mit deren Hülfe ich zu sicherer und evidenter Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen scheine". „Ich h a n d l e in d e n M e d i t a t i o n e n n i c h t im e i n z e l n e n v o n G o t t u n d d e r Seele, s o n d e r n im allgemeinen von allen den e r s t e n D i n g e n , die m a n e r k e n n e n k a n n , w e n n m a n n a c h d e r O r d n u n g p h i l o s o p h i e r t . " „Die ersten Begriffe ») DIU, 474, 476; V, 274.
„Anwendung" der Methode auf diese Erkenntnislehre
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klar und distinkt aufzufassen", darin bestimmt sich das Problem der „ersten Philosophie". 1 ) Wir werden sehen, wie diese „ersten Begriffe", diese „ersten Dinge", trotz aller ontologischen Mitbedeutung, doch wiederum jenes Fundament der „menschlichen Vernunft" als ersten Ausgang zur Formulierung bringen. Das Problem der Methodenlehre ist hier nach beiden Seiten aufgenommen: mit der Feststellung des fundamentalen Erkenntnisbegriffs soll zugleich die Grenze gezogen werden, die alles das umschließt, was wir „klar und distinkt" begreifen können. Das Wesen der Erkenntnis soll zugleich das der „Sache", des Gegenstandes bestimmen, der eben nur als Objekt der Erkenntnis, nur als Inhalt der „Ideen" für uns einen Sinn hat. Und alle Betonung liegt auf dem Gesetz, der „Ordnung" der Erkenntnis: ob dabei „erste Dinge", allgemeinste Seinsinhalte zugleich sich ergeben, das tritt für diese Problemeinstellung durchaus in den Hintergrund. Nicht als „Arten des Seins" kommen „Gott und die menschliche Seele" hier eigentlich und zunächst in Frage, sondern nach der Funktion, die diesen Begriffen in der methodisch geleiteten Prinzipienbestimmung für die Erkenntnis als solche zukommen mag, nach dem Sinn, der für das Problem der Fundierung der Wissenschaften, unserer exakten „Urteile", unserer „Ideen" von den Dingen in ihnen liegen kann. W a s aber kann nun noch die Forderung zu bedeuten haben, die zuerst den einzigen Verbindungspunkt zwischen den „Regeln" und der Metaphysik abzugeben schien: jene Grundbestimmung für den Plan des Wahrheitsgebäudes, daß durch die A n w e n d u n g der Methode eben nicht nur der Ausbau, sondern auch die Fundamente selbst zur exakten Bestimmung kommen sollen? Daß die Methode in den späteren Wissenschaften (in den Einzeldisziplinen, von denen man die eigentlichen Bestimmungen des Seins nach den Stufen, die sie vertreten, zu erwarten hat) ihre Auswertung finden soll, das läßt sich ohne weiteres verstehen. Wie aber kann das allgemeine Problem der Erkenntnis und ihrer Gewißheit selbst wieder nach jenen „Regeln" zur Behandlung kommen, nach jenen Vorschriften, die doch im Grunde eben nichts anderes sind, als Formulierungen, die sich in einer bestimmten Beleuchtung jenes allgemeinen Problems ergeben! Wie Descartes diese „Anwendung" sich denkt, das läßt sich noch aus den „Regeln" selbst ersehen. Denn jene breitere ') D I U , 192, 235, 239, 272; VII, 10, 157, vgl. 362.
Analoge Forderung in den „ R e g e l n "
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Neuerörterung des Methodenproblems, die mit der achten Regel einsetzte, war schon dort mit einer ganz entsprechenden Problemfassung eingeführt worden. „ W a s Erkenntnis sei" und „wie weit sie sich erstrecke", dieses allgemeinste Problem, das allen „Einzelstudien" voranzuschicken ist, weil „für die Untersuchung der Wahrheit notwendiger" als jene — das sollte dort bereits mit Hilfe „der schon vorher behandelten Regeln" zur Lösung gebracht werden. In dieser Erkenntnislehre selbst sollte das erste, das „vornehmste Beispiel" der Methode gegeben sein. 1 ) Die Ausführungen lassen dann auch ersehen, worin vor allem jene Anwendung sich dokumentiert, inwiefern wirklich die methodischen Gesichtspunkte schon hier ihre Wirksamkeit entfalten. An die Gesamtheit des Erkennens selbst, rein für sich betrachtet, an das Subjekt wie den ganzen Bereich der Gegenstände wird hier die Frage gerichtet, welche Momente in ihnen die primären sein müssen, welche „Ordnung" in dieser Erkenntniswelt herzustellen ist, in welcher Stufenfolge die Mittel und Probleme des Wissens nach ihrem Begriffe schon sich aneinanderschließen. Das Ergebnis war für die beiden korrelativen Glieder der Frage dasselbe: das Grundlegende in aller Erkenntnis muß der „reine Intellekt" sein und seine Inhalte, soweit sie ihm allein zugehören. In allen übrigen Erkenntnisarten und -gebilden ist jenes Moment das eigentlich bedingende und also das logisch primäre. „Wenn jemand sich zum Problem stellt, alle Wahrheiten, zu deren Erkenntnis die menschliche Vernunft zureicht, zu untersuchen, . . . so wird er durch die gegebenen Regeln finden, daß nichts früher erkannt werden kann, als der Intellekt, da von ihm die Erkenntnis alles Übrigen abhängt und nicht umgekehrt . . .." So ist der Intellekt das „absoluteste" überhaupt, für alle „Reihen" muß sein Verfahren, seine Entscheidung zwischen Wahr und Falsch die erste Voraussetzung bilden. Erst von da aus kann sich ergeben, inwieweit die anderen „Fähigkeiten" und die ihnen zugehörigen Vorstellungen zur Erkenntnis beizutragen vermögen, in welchem Sinne sie also, nach den Stufen ihrer Abhängigkeit voneinander, von ihm aus ihr Wirken entfalten können. 2 ) D X , 395, 397 f. Äußerlich sucht Descartes den Zusammenhang mit den „gegebenen R e g e l n " hier, wie auch in der Metaphysik, besonders durch den Begriff der Enumeration herzustellen, der in der Unbestimmtheit, die ihm anhaftet, sich dazu willig hergibt. E s kann aber kein Zweifel darüber bestehen, 2)
Identität der Problemanlage
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Es ist genau die gleiche Tendenz, die in der Anwendung der Methode auf die Probleme der „Metaphysik" als die eigentlich grundlegende Absicht zutage tritt, als das, was letztlich die Einzelbestimmungen alle bedingt — sowenig es in den Vordergrund der Darstellung gerückt sein mag. Schon äußerlich läßt sich der Zusammenhang mit jener Problemstufe der „Regeln" in dem emphatischen Ausdruck des „semel in vita" ersehen, der schon dort die Untersuchung einleitet, wie er dann in allen späteren Schriften durchgehends das allgemeine Problem der „ersten Philosophie" einzuleiten hat. „Einmal im Leben" muß man den Aufbau der Wahrheit „von den ersten Fundamenten neu beginnen": diese Fundamente selbst sich zum Problem machen, die ja eben nichts anderes sind als die „Prinzipien der menschlichen Erkenntnis". Diese Identität der Problemanlage in den beiden Stadien des Cartesischen Denkens, die auf den ersten Blick so divergent scheinen, weist nun aber hin auf eine breitere, bis in die Einzelheiten der Begriffe hinein sich bezeugende Übereinstimmung. So sehr in den Aufstellungen der „Metaphysik" der Zusammenhang mit einer ganz anderen Interessenrichtung unmittelbar ersichtlich wird, so ergeben sich doch andererseits bei tieferem Eindringen überall Beziehungen, die ein sicheres Fortwirken derjenigen Grundgedanken bedeuten, in denen die Methodenlehre sich konstituierte. Und es ist geradezu bedingend für das rechte Verständnis dieser Systematik, daß man diese Fortsetzung des Methodengedankens in den logischen Formulierungen der „Metaphysik" ans volle Licht stellt — daß man sie aller Aufnahme und Umbildung traditioneller Ontologie gegenüber prinzipiell in den Vordergrund der Untersuchung rückt. Erst nach bestimmter, in klarer Abscheidung gewonnener Fixierung dieser Identität der Cartesischen Philosophie in Methodenlehre und Metaphysik können die Kbmplikationen durchschaut und zur rechten Abstufung der einzelnen Motive geklärt werden, die das konkrete Ganze des Systems ausmachen. b) Das Cogito als r e i n e r Intellekt. Wenn in der Erkenntnisordnung (die ja der Grundforderung des methodischen Aufbaus gemäß die Disposition der Probleme daß das entscheidende und logisch fruchtbare Motiv in dieser „Anwendung" eben mit jener Übertragung des Begriffs einer Grundlegungsordnung auf die Fragen des Erkennens selbst gegeben ist.
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Die Vorstufe des Zweifels
in der „ersten Philosophie" bestimmt) die „Natur der menschlichen S e e l e " als erstes in die Untersuchung gezogen wird, wenn Descartes in dem Cogito das „erste Prinzip der Philosophie" errichten will, so dürfen wir von vornherein erwarten, daß in diesem Ausgange, der dem rein ontologischen Interesse so sehr zuwiderläuft, vor allem eben jene Rückwendung zum Intellekt, als dem eigentlichen Quell aller Erkenntnis, als dem subjektiven Bereich für jene „menschliche Weisheit" erstrebt wird. Daß jenes Prinzip, das für den ersten Anblick eine so gänzlich andere Richtung zu verfolgen scheint, wirklich diesen grundlegenden logischen Gedanken vertreten soll, diese Erkenntnis läßt sich bereits aus einer genaueren Untersuchung des „hyperbolischen Zweifels" gewinnen, der ja immer wieder als die unumgängliche Vorstufe für die Errichtung jenes ersten „Prinzips der menschlichen Erkenntnis" und für das rechte Verständnis seiner Bedeutung proklamiert wird. Wir kennen aus der Methodenlehre den Ausdruck des Zweifels als des Gegenbildes zu der Gewißheit, wie sie der Begriff der echten Erkenntnis für alle Ausgestaltungen, vor allem aber für die Grundlagen fordert. Der Charakter des Zweifelhaften war es auch, der in jener Überschau über die Wissenschaften diese alle als unbrauchbar für die wahre Erkenntnis und ihre Begründung erscheinen ließ — außer der einen Mathematik, deren „reines Objekt" das ungeschwächte Auswirken des „reinen Lichtes der Vernunft" repräsentieren durfte. Hier sollte die Ursprungskraft des Geistes, aus dem alle Gewißheit stammt, frei zutage treten, gegenüber allem „schwankenden Zeugnis der Sinne", gegenüber dem Grundquell alles Irrtums: der sinnlichen Erfahrung. Der „Intuitus" formulierte dann diesen Erkenntnisursprung nach der Eigentümlichkeit seines methodischen Wirkens; und der „reine Intellekt" wiederum gab die subjektive Unterlage für dieses Gesetz her, er war das erste, sachlich durchweg primäre „Erkenntnisvermögen". Ganz entsprechend liegt nun auch in der Metaphysik dem „universalen Zweifel" ausgesprochenermaßen diese Absicht zugrunde: in der Welt der Erkenntnis, der „Ideen" jene Momente, in denen wahre Gewißheit verbürgt liegen könnte, von allen den anderen, den ungewissen, oder durch sie erst bedingten abzuscheiden; gerade durch die skeptische Musterung „um so klarer" ans Licht zu bringen, was gegenüber den Wissensgebieten, die des sicheren Fundaments entbehren, „das Evidenteste", „das Sicherste und der Erkenntnis nach Leichteste"
Verwerfung der „Sinne" als „Prinzipien"
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sei. 1 ) Die „Regeln" sprechen gelegentlich die logische Einsicht aus, daß der Zweifel in sich selbst schon insofern eine Gewißheit, eine Erkenntnis berge, als mit ihm der Unterschied zwischen Wahr und Falsch vorausgesetzt werde. 2 ) Diese „Unterscheidung des Wahren von dem Falschen" aber ist ja eben der erste und prinzipiellste Ausdruck der Erkenntnisgewißheit, des Lichtes, das der Intellekt in sich trägt. Es muß also in dem aussondernden Wirken des „allgemeinen Zweifels", wie er auf die Gesamtheit unserer „Ideen" sich richtet, jenes Erkenntnisgebiet und jenes Vermögen sich herausstellen, dessen Gewißheitsbürgschaft als Forderung und als Besitz zugleich diesem Ausgang der „metaphysischen" Betrachtung zugrunde liegt. Und nun sind es in dieser Durchmusterung der Erkenntniswelt nicht die einzelnen „Ideen" selbst, auch nicht mehr, wie in jenem frühen Stadium, die einzelnen Wissenschaften, die auf ihre Sicherheit hin der Prüfung unterzogen werden: sondern, wie diese „Metaphysik" von allem Anfang an darauf ausgeht, die wahren Grundlagen für alle Einzelerkenntnis zu „stabilieren", so richtet sich auch die negierende Tendenz des Zweifels sogleich gegen die falschen „Fundamente der Erkenntnis", auf die man bisher geglaubt hatte, für die Richtigkeit angeblicher Wissenschaft sich berufen zu dürfen, gegen die „Prinzipien", auf die man meinte, alle Erkenntnis überhaftpt gründen zu müssen. 3 ) Es sind die „Prinzipien" „der Sinne", die der Zweifel als trügerische und also zu verwerfende Zeugen aufweisen, und denen gegenüber er in dem, „was der Erkenntnis nach das Leichteste ist", den Quell ergraben soll für „andere Fundamente der Wissenschaften, als wir sie bisher gehabt haben". Die Meinung der „Philosophen", „daß nichts im Verstände sei, was nicht vorher in den Sinnen gewesen wäre", soll ein für allemal mit der Wurzel ausgerottet werden. Alles Gewicht der Zweifelsbetrachtung ist zunächst auf diesen Punkt gelegt: das Ausgehen von den Sinnen und alle Berufung auf sie soll für die Fundierung. der wahren Erkenntnis in Bausch und Bogen, ein für allemal, verworfen werden. 4 ) Was aber in solcher Abweisung der „Erfahrung" als das echte Fundament sich herausstellt, das ist eben nichts anderes, ') D X , 510; VII, 446; VIII, 5; IX», 9. D X , 421; vgl. N a t o r p , Descartes' Erkenntnistheorie S. 30. ») D X , 526; VII, 12, 18. *) D V I , 3 7 ; VII, I 2 , 17fr., 1 5 8 ; X , 509f. 2)
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Ablehnung alles „Imaginabeln"
als der Intellekt, das Gebiet der „reinen" Begriffe, wie sie der „intuitus purus" herausbildet. Indem Descartes „alle Dinge in Zweifel" zieht, will er „zeigen, d a ß die G e w i ß h e i t n i c h t in d e n S i n n e n i s t , s o n d e r n im b l o ß e n V e r s t a n d , s o b a l d e r e v i d e n t e V o r s t e l l u n g e n h a t " . 1 ) Entgegen jener traditionellen Ansicht findet Descartes innerhalb des Intellekts eine Gewißheitsquelle, die nicht „vorher in den Sinnen gewesen" und durch ihr „fließendes Zeugnis" getrübt worden ist — den Intellekt selber. Der bekannte Ausspruch Leibnizens gegen Locke ist hier unmittelbar vorbereitet. In dieser Gegenüberstellung ist die Tendenz des Zweifels nicht erschöpft. Über die bloße Bestreitung einer angeblichen Evidenz und Bürgschaft der sinnlichen Erfahrung hinaus führt der „doute universel" zu einer Ablehnung alles dessen, w a s i r g e n d w i e in d a s G e b i e t d e s S i n n l i c h e n , was überhaupt unter den Geltungsbereich der I m a g i n a t i o n fällt. Und das trifft nicht nur jene Phantasievorstellungen, die doch letzten Endes aus dem Material vergangener Sinnesempfindungen sich zusammensetzen: der Zweifel stellt nun auch jene „einfachen und universalen" „Dinge" in Frage, die im Wachen wie im Traum, in der sinnlichen Erfahrung wie in der Phantasievorstellung gleichermaßen die sachlichen Grundlagen bilden. „Ausdehnung", „Figur", „Größe" — in den „Regeln" immerfort Beispiele für die „Einfachen", wie sie in der „reinen Schau des Geistes" als die evidentesten und untrüglichsten Erkenntnisse zutage treten — werden nun gleichfalls für die Gewinnung jener „ersten Erkenntnis", jener tiefsten Gewißheitsquelle abgewiesen! Und daraus ergibt sich dann als unmittelbare Folge, daß auch jene Wissenschaft, die in ihrem „reinen und einfachen Objekte" jene Begriffe und ihre Beziehungen zur exakten Ausgestaltung bringt, in den „universalen Zweifel" hineinbezogen wird. „Arithmetik und Geometrie", „die nur von den einfachsten und allgemeinsten Dingen handeln und sich nicht darum kümmern, ob diese in der Natur der Dinge sind oder nicht", auch diese Disziplinen, die der Berufung auf Erfahrung völlig sich entschlagen, und von denen die Methodenlehre eben deshalb ihren Ausgang nahm, sollen nun nicht mehr den Grad von Sicherheit behaupten dürfen, wie er für die letzte Fundierung der Erkenntnis erfordert wird. 2 ) In diesem Punkte also scheint die Bahn verlassen, auf welcher der Autor „der Regeln" zu seiner Begründung der D I X 2 , 7; entendement = intellectus.
2)
D V I I , 20, 24.
Der Zweifel auch gegen die Mathematik
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Erkenntnis in den unmittelbaren Erzeugnissen der „reinen V e r n u n f t " gelangt war. E s k ö n n t e scheinen, als ob nun d o c h für das „erste Prinzip" des E r k e n n e n s v o n A n f a n g an ein anderes Quellgebiet gesucht würde, als es jener A u s g a n g von der „menschlichen W e i s h e i t " zu bieten imstande ist. D a ß mit diesem Z w e i f e l an der G e w i ß h e i t der m a t h e m a tischen E r k e n n t n i s s e andere Interessenrichtungen und andere Instanzen in die Untersuchung eintreten, als sie der klare A u s g a n g von den F r a g e n der Erkenntnis enthalten darf — in w e l c h e Schwierigkeiten andererseits D e s c a r t e s besonders eben mit der B e g r ü n d u n g dieser letzten S t u f e des Zweifels sich verwickelt, das ist hinlänglich bekannt. U n s k o m m t es ja aber zunächst nicht auf das G a n z e der A u s f ü h r u n g e n an. In d e m K o m p l e x der B e s t i m m u n g e n und D u r c h f ü h r u n g e n suchen wir die immanent fortwirkenden T e n d e n z e n jenes früheren Stadiums der Cartesischen Philosophie: indem wir zu beweisen suchen, d a ß diese Motive auch hier die letzten E n d e s bestimmenden, die eigentlich zentralen sind. Unter diesem G e s i c h t s p u n k t e aber ergibt sich für den Z w e i f e l an der mathematischen Gewißheit ein Sinn, der unmittelbar an die Ergebnisse der „ R e g e l n " sich anschließt. 1 ) ') Daß Descartes diese letzte Ausdehnung der Zweifelsforderung durchaus ernst genommen wissen wollte, das geht außer den in den obigen und den folgenden Ausführungen zitierten Stellen besonders noch hervor aus der so oft wiederholten Äußerung, daß die Beweise seiner Metaphysik „evidenter und sicherer", und ihre Inhalte „der Erkenntnis nach früher" seien, als die der Mathematik. Die Fundierung aller, auch der mathematischen Wissenschaften durch seine Prinzipienlehre scheint ihm für deren Sicherheit so unerläßlich, daß er jedem Geometer, der ohne diese Grundlegung an seine Arbeit geht, eine wahrhafte, durchaus gewisse Erkenntnis seines Objekts abspricht. (Nur einige Stellen seien angeführt: DVII, 4, 15f., 32, 41, 69, 141, 383, 384; VIII, 6, 10; VI, 41; X, 513; I, 144.) Dazu muß noch dies genommen werden, daß nach Descartes jener den „Meditationen" entsprechende Teil des „Discours" gerade darum nicht eigentlich als authentische und beweiskräftige Darstellung seiner Metaphysik soll angesehen werden dürfen, weil er, aus äußeren Gründen, den Zweifel nicht im vollen Umfang habe entwickeln können. (DI, 560; VII, 247 u. a.) In Wirklichkeit aber fehlt in jener Darstellung nur diese letzte Stufe des Zweifels, die auf den Begriff des „deus malignus" gestützt wird — eine Wendung, die Descartes damals noch nicht öffentlich vorzubringen wagte. — Jene vielzitierte Stelle der „Meditationen", die diesen Teil des Zweifels als „sehr schwach und sozusagen metaphysisch" bezeichnet (VII, 36), ist vielmehr auf die unmittelbare Überzeugung des naiven, für jene abstrakten Untersuchungen nicht empfänglichen Lesers gemünzt: wie ja dann auch gerade um diesen Zweifel ,,zu heben" die ganzen Gottesbeweise in Szene gesetzt wer-
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Vorrang alles rein „Intellektualen"
Denn zwischen dem A u s g a n g jener Methodenlehre und dem der Metaphysik liegt ein für die neue Formulierung des Erkenntnisproblems überaus wichtiges Zwischenstadium. In jener „Anwendung" der „eingeborenen R e g e l n " auf die Gesamtheit des Erkennbaren ergab sich, entsprechend der Disposition der „Erkenntnisvermögen", die inhaltliche Einteilung aller Gegenstände (bezw. der „Einfachen", in denen sie auf das „reine L i c h t " bezogen werden) in „materiale" und „intellektuale". Da aber jene, die immer auf „Körperliches oder Körpern Ähnliches" bezogen sein sollten, in grundsätzliche Beziehung zur Imagination gesetzt wurden, e r h i e l t e n i h n e n g e g e n ü b e r d i e „ i n t e l l e k t u a l e n " B e g r i f f e , als dem reinen Intellekt allein, ohne alle Beziehung seines „Handelns" auf Imagination und Sinne, angehörig, mit diesem selbst unvermerkt e i n e p r i m ä r e R a n g stellung. Insoweit sie die unmittelbaren Erzeugnisse des „bloßen Intellekts" darstellten, mußten sie gegenüber jenen anderen, die ihrer Gewißheit und ihrem Wahrheitswerte nach zwar auch durch ihn verbürgt wurden, die aber eben doch die Anwendungskomplikation mit der Imagination erforderten, als das Ursprünglichere gelten. S o wurde schon hier die Koordination aller „Einfachen" nicht in jedem Sinne festgehalten. 1 ) Der Zweifel der Metaphysik hat die A u f g a b e , im Ganzen der Ideenwelt das eigentlich Begründende, das allem anderen gegenüber „der Erkenntnis nach Frühere" aufzufinden, um so den echten, den methodisch gesicherten A u s g a n g für alle Erden. Der Terminus „metaphysisch" vertritt bei Descartes o h n e j e d e A u s n a h m e den höchsten Wertausdruck in den Fragen der Erkenntnisbegründung (so „metaphysischer Zweifel" D VII, 172, 460; „metaphysische Gewißheit" D VII, 352; VI, 38; vgl. auch VII, 461, 475, 477.) — Die Einschränkung endlich jenes Zweifels auf die mathematische D e d u k t i o n und die Verläßlichkeit ihrer psychologischen Bedingung, des Gedächtnisses, ist nur gelegentlich. Zudem würde für die logische Betrachtung damit nichts gewonnen sein: wir wissen, daß die Deduktion als reines Verfahren auf derselben Stufe steht wie der Intuitus. Eine einfache Deduktion, wie in Descartes' Beispiel 2-^-3 = 5, ist von dem „einfachen Intuitus" und seinem Gewißheitsgrad in keiner Weise unterschieden. Nicht in dem Gegensatz einfacher Intuition zur deduktiven Verkettung besteht der Unterschied des cogito sunt von der mathematischen Erkenntnis, sondern in inhaltlichen Momenten, die für das Begründungsproblem einen prinzipiellen Abstand zwischen ihnen herstellen. V g l . die weiteren Ausführungen. *) Inwieweit die Beziehung auf die Imagination für diese Erkenntnisart, besonders eben für die Mathematik als unerläßlich gedacht wird, darüber vgl. Kapitel 3.
Die „intellektualen D i n g e " als die Probleme des Erkennens
kenntnis zu gewinnen. S o wird er denn gegen alle A r t von Erkenntnis gerichtet, soweit sie nur die Richtung auf sinnliche, auf „materiale" Gegenstände, auf „ K ö r p e r " einschlägt. Wenn das Ziel dieser ganzen Ausführungen immer wieder in die platonische W e n d u n g gefaßt wird: „den Geist von den Sinnen abzuziehen", so ist damit mehr noch erstrebt als die A b k e h r von der eigentlichen Erfahrung — die Absicht geht ganz allgemein darauf, „das Denken von den sinnlichen", „von den imaginablen", den „körperlichen Dingen wegzuwenden" und es rein auf die „intelligiblen" Gegenstände zu heften. 1 ) E s ist auch hier der innige Zusammenhang dieser „ D i n g e " , dieser „Ideen" mit den Erkenntnisvermögen, in denen sie auftreten, der dieser inhaltlichen Unterscheidung und der damit verbundenen Vorrangstellung der „intellektualen Gegenstände" einen exakten methodischen Sinn für das allgemeine Erkenntnisproblem verleiht. Dort wie hier bezeichnen eben die „intellektualen D i n g e " a l s I n h a l t e d e r E r k e n n t n i s z u g l e i c h d e r e n innerste subjektive Grundlagen. Diese „Dinge", die niemals in den Sinnen gewesen sind, und zu deren Erforschung die Imagination nicht hinzugenommen werden darf, sie sind die Probleme d e s I n t e l l e k t e s selber. Diese eigentümliche Doppelrichtung liegt aber hier wie dort schon in der allgemeinen Problemstellung begründet. Indem die Methode zur Behandlung des allgemeinen Erkenntnisproblems verwertet werden soll, werden die Grundfunktionen, die Quellen der Erkenntnis selbst zu G e g e n s t ä n d e n der methodischen Bearbeitung! S o sollen j a auch die eigentlichen Gegenstände der Metaphysik — die Prinzipien der Erkenntnis sein. Darum konnte die Behandlung der intellektualen Dinge, bei denen der Intellekt rein in sich beschlossen bleibt, als in einer „reflexiven Kontemplation seiner selbst" geschehend gedacht werden: der Intellekt betrachtet hier sich selbst, seine eigenen Gesetze. E s ist die Erkenntnis von der Erkenntnis selbst, die in diesem Wissensbereich die A u f g a b e bildet! Die „intellektualen D i n g e " sind die Probleme des Erkennens. 2 ) Diese A u f f a s s u n g erklärt auch die Beispiele, die Descartes für solche rein intellektuell zu behandelnden, rein intellektualen „ D i n g e " anführt. „ W a s Erkenntnis sei", „ w a s das Zweifelhafte", ») Vgl. D VII, 12, 13, 52/3, 131, 134, 157, 348; I, 35of., 353, 360; III, 267. V g l . D X , 422/3. Über eine weitere Bedeutung dieses „reflexiveil" Erfassens vgl. den Abschnitt d dieses Kapitels. 2)
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Herauslösung des „bloßen Verstandes"
„was Nichtwissen sei", — diesen „immateriellen" „Dingen" der „Regeln" entsprechen in den „Meditationen" die Probleme: „was das Wahre", „was das Bekannte" sei! 1 ) Und daher wird eben diese Art von „Dingen" „diätinkter" erkannt, darum ist sie „der Erkenntnis nach früher" als alles, was auf „Körperliches" geht, weil hier die Fragen der Erkenntnis rein als solcher, nach ihrem innersten grundlegenden Vermögen, ihrem eigensten Gesetz, vor aller Anwendung auf „außerhalb" ihrer stehende Gegenstände, zur Bestimmung kommen. Die intellektualen Dinge genießen in keinem anderen Sinne den Vorrang vor den materialen, als der reine Intellekt vor der Imagination, die seine Anwendung in bestimmter Richtung darstellt. Daß die „Seele" als „vom Körper getrennt" aufzuzeigen ist, das bedeutet unter diesem Gesichtspunkt nichts anderes, als die Herauslösung des Intellektualen, der reinen Erkenntnisgrundlage, des „bloßen Verstandes" aus der Komplikation mit anderen Erkenntnisvermögen, die ihn auf materiale Gegenstände heften. Die Gewinnung der wirklichen Fundamente sicherer Erkenntnis bildet den Gegenstand der Metaphysik und das Ziel vor allem schon dieser ersten Zweifelsbetrachtungen; damit ist es schon klar, daß der G e g e n s t a n d , der Inhalt, der durch den Zweifel im Bereich der Ideen zur Auszeichnung kommen soll, zugleich die eigentliche G r u n d l a g e der Ideen nach ihrem Wahrheitsgehalte wird vertreten müssen. So erfolgen denn nün die einzelnen Bestimmungen ganz analog jenen früheren in den „Regeln"; die Zweifelsbetrachtungen ordnen sich den alten logischen Grundtendenzen ein. Für die Gewinnung dessen, was „der Erkenntnis nach" von allem „das Erste" ist, was aller Einzelausprägung des Wissens gegenüber die letzten Bedingungen des Erkennens selbst vertreten muß, wird alles Imaginable schlechterdings abgelehnt: denn die Einbildungskraft ist eine „façon de penser particulière pour les choses matérielles11.2) Sie hat dies mit den Sinnen gemein, daß sie die Anwendung des eigentlichen Erkenntnisvermögens, nicht dieses selbst, repräsentiert : nur „durch Dazwischenkunft des Intellekts" kann sie Erkenntnis liefern. Darum eben darf sie zum Ausdruck, zur Formulierung, zur Erkenntnis der Er') D X , 419; VII, 29. Zu der anders gerichteten Tendenz des vierten Beispieles dort und der nach zwei Richtungen ausdeutbaren des dritten an der letzteren Stelle vgl. ebenfalls den Abschnitt d. DVI, 3 7 ; VII, 28, 3 8 7 ; III, 394.
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A b g r e n z u n g g e g e n die E i n b i l d u n g s k r a f t
kenntnis selbst nach ihrer allgemeinen, aller besonderen Anwendung vorangehenden Gesetzlickeit nicht verwendet werden; sie selbst ist der Grundlage gegenüber, die hier gesucht wird, logisch sekundär. So ist dies neben der Abwehr der sinnlichen Erfahrung die andere Grundtendenz des „universalen Zweifels": gegenüber dem traditionellen Vorurteil, als ob die Imagination alle Erkenntnis müsse vertreten können, als ob „ a l l e s , w a s n i c h t i m a g i n a b e l ist, a u c h n i c h t i n t e l l i g i b e l w ä r e " , zu einem reinen Begriff des Denkens, als des „bloßen Verstandes", des „reinen Intellekts" zu gelangen; durch die klare Ablösung des „rein Intellektualen" aus aller Vermengung mit imaginativen Vorstellungen die „idea cogitationis" in der Fundamentalität herauszustellen, die das Problem verlangt. Was seiner Natur nach nicht unter die Imagination fällt, das darf, wie auch die „Regeln" schon sagten, auch nicht ihrem „Examen" unterworfen werden; für die Bestimmung des letzten allgemeinsten Urbodens der reinen Erkenntnis ist diese „besondere" Denkart mit allen ihren Inhalten fernzuhalten. Es muß gesucht werden, ob es nicht jenseits alles „Materialen" der „sinnlichen" Dinge aller Art „etwas Festeres" und logisch Früheres gibt, von dem aus das „Sichere und Konstante" in den Wissenschaften gegründet werden kann.1) Daher muß an dieser Stelle auch die Mathematik zunächst abgewiesen werden: ihre auf das „besondere" „körperliche Objekt" dirigierte Erkenntnis 2) ist dem allgemeinen Problem des ersten Erkenntnisprinzips, der Erkenntnis rein als solcher gegenüber sekundär, in der Bestimmung und Begründung selbst abhängig von jener Frage. Solange die neuen „Fundamente" noch nicht errichtet sind, muß man an allen „materialen Dingen zweifeln", auch an den „reinen", den „Einfachen". Gegenüber den „metaphysischen Gedanken, die den reinen V e r s t a n d beschäftigen", „übt das Studium der Mathematik hauptsächlich die Imagination . . . und gewöhnt uns, sehr distinkte Begriffe vom Körper zu bilden". Der „hyperbolische Zweifel" geht auf alles, „was material ist", „allgemein auf alles", was auf die Natur „des Körpers bezogen ist", um eben jene „Idee des Denkens", des „reinen Verstandes" vor aller „besonderen" Ausprägung seiner Erkenntniskraft zur Auszeichnung zu bringen. Die „Sicherheit der metaphysischen Gedanken" ist eben nichts anderes als die Sicherheit des „reinen Verstandes". Aller Ver') D V I , 37; V I I , 130 f., 134, 162, 172, 390, 441; X , 513. 2)
D V I I , 64, 71, 74-
C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VI
7
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Das Cogito als „erstes Prinzip"
mischung der Erkenntnisgrundlagen mit Vorstellungen der Sinne oder der Imagination muß die höhere „Glaubwürdigkeit" des Intellekts entgegentreten, es muß gefragt werden, „was die reine und unverdorbene Vernunft diktiert". 1 ) Und dazu soll der „Weg" des Zweifels verhelfen: er soll es erkennen lassen, „ w e l c h e s d i e U r t e i l e s i n d , die v o m r e i n e n V e r s t ä n d e a b h ä n g e n u n d wie s e h r s i e e v i d e n t u n d g e w i ß sind". An diesem Begriff des „reinen Verstandes" aber ist nichts, „was ich mit Hülfe der Imagination begreifen könnte", diese „Idee", dieses „Ding" ist „rein intellektual". 2 ) Nur unter strikter Abwendung von allem Imaginablen k a n n d e r G e i s t „ s e l b s t s e i n e N a t u r g a n z d i s t i n k t e r f a s s e n " , nur in rein intellektualer Erforschung wird sich sein Begriff als der des „reinen Intellekts" herausstellen. Wenn nun also aus dem „Strudel" der Zweifelsbetrachtungen, aus der analytischen Durchmusterung aller „Ideen" als das wahre Fundament, als die „erste Erkenntnis", die „erste Sache" sich die „Idee des menschlichen Geistes", der „Natur der Seele" von allem anderen Inhalte abscheidet, so ist es klar, was dieses „intellektuale Ding", das eben doch zugleich „erstes Prinzip der Philosophie", „erstes Fundament" für alle Erkenntnis sein soll, seiner methodischen Grundtendenz nach zu bedeuten hat. „Die metaphysischen Gedanken, die den reinen Verstand üben, dienen dazu, uns den Begriff der Seele vertrauter zu machen" — dieses „reflexive Betrachten" der Seele selbst, der „Begriff, den ich von mir selbst habe", ist eben deshalb die „sicherste und evidenteste Erkenntnis von allen", ist deshalb „für jeden, der nach der Ordnung philosophiert", das „erste Prinzip", weil diese „Idee" nichts anderes bezeichnet, als die Grundlage alles Wissens, das Vermögen der Erkenntnis selbst! 3 ) Darum ist auch die Seele, die der Zweifel, auf die Gewißheit der Fundamente gerichtet, „vom Körper" abtrennte, „bekannter" (notior), „leichter erkennbar" (cognitu facilior) als der letztere, weil sie das Gebiet des rein Intellektualen gegenüber aller logisch sekundären Komplikation in der „körperlichen" Anwendung bezeichnet. 4 ) „Mich selbst" kann ich „klar und distinkt intelligieren" ohne jene „speziellen Fähigkeiten", jene „modi cogitandi" der Einbildungskraft und der Sinne: „ a b e r n i c h t u m g e k e h r t d i e s e o h n e m i c h " ! D a die „ S e e l e " >) D I U , 692; VII, 132, 145, 154*) D I , 350; I X 2 , 7; VII, 28. ») Vgl. D VII, 25, 28/9, 33 f., 53, 134, 353; X , So6, 527; VI, 32; VIII, 7, 8. 4 ) Vgl. D VII, 23, 130, 162, 440; VI. 3 3 ; VIII, 8.
Die Erkenntnis von der „intellektualen Natur"
gg
es ist, „ d u r c h die wir alle D i n g e b e g r e i f e n , so ist sie auch, sie allein, b e g r e i f b a r e r als alle a n d e r e n D i n g e zus a m m e n " — und daher erstes Fundament für den Aufbau des Wahrheitssystems. 1 ) Die Einsicht, die der Geist „in seine eigene Natur" gewinnt, stellt in diesem „Ich-selbst" das Fundament aller Erkenntnis in der „rein i n t e l l e k t u a l e n N a t u r d e r S e e l e " heraus. „Man muß mit der vernünftigen Seele beginnen, da sie es i s t , in w e l c h e r a l l e u n s e r e E r k e n n t n i s i h r e n Sitz hat". 2 ) Selbst dort, wo die „menschliche Seele" als die „rationale" gemäß der Tradition dieses Ausdrucks dem tierischen Wesen entgegengesetzt wird (die Tiere besitzen nach Descartes zwar Imagination und Sinne, aber eben keine „Seele" im eigentlichen Sinne), wird der Unterschied ausdrücklich so formuliert, daß, was den Tieren abgehe, eben die Erkenntnis sei.3) So wird denn die „Seele", der „Geist" auch unmittelbar durch die Ausdrücke des „intellectus" und der „ratio" bezeichnet. Die „Idee" der Seele ist die unseres „Intellekts". Der Zweifel, der uns von den „materiellen" Dingen weg den „metaphysischen" und vor allem der „Seele", als dem Sitz aller dieser Ideen, dem Ursprungsort aller Erkenntnis zuwendet, verhilft uns dazu, eine „sehr klare und sozusagen intuitive Erkenntnis von der intellektualen Natur" zu erwerben. So ist die Metaphysik in ihrem grundlegenden Teile die Lehre von der „intellektualen Natur" als dem Fundament, dem ersten Prinzip der „menschlichen Erkenntnis". 4 ) Ist es wirklich berechtigt, in dem so unmittelbar verständlich erscheinenden, konkret faßbaren Gedanken des Cogito sunt als der ersten und gewissesten aller Erkenntnisse diese allgemeine, abstrakt-logische Grundlegung erblicken und sie gar als die eigentlich prinzipielle Tendenz in jenem Systemanfang behaupten zu wollen ? Einer oberflächlichen Überschau über die allgemeinsten Beweisgänge der Cartesischen Metaphysik könnte eine solche Deutung als gewaltsam, geradezu als Paradoxie erscheinen. Ganz andere Motive und gedankliche Richtungen scheinen in jenem berühmten Satze am Tage zu liegen und seinen Sinn auszumachen, als diese Fragen reiner Erkenntnislehre, wie sie ja allerdings die „Regeln" durch ihre Problembeschränkung in unmißverständlicher Weise zur exakten Formulierung gebracht hatten. ») D VII, 78; 111,394*) D VII, 27, 137; 1,353-
2
) D VII, 12; X, 505.
3
) D X, 415. 7*
IOO
Das Beispiel vom Wachs
Das unmittelbare konkrete Bild, das in den literarischere Ausprägungen des philosophischen Genius sich ergibt, fällt selten zusammen mit den innerlichst wirkenden, den lebendigen r schaffenden Tendenzen, aus denen die sachliche Gestaltung des ganzen Gebäudes schließlich doch ihre Kraft und ihren Zusammenhalt erhält. Der geschlossene Charakter und die stilistische Glätte der auf den fremden Leser abgestimmten Darstellungen verwischt gar zu leicht die innerliche Verschiedenheit und die wahre Rangordnung der bedingenden Motive. Descartes' leichte, flüssige, dem populären Bewußtsein überall sich anpassende Schreibweise ist dafür das instruktivste Beispiel: bei keinem anderen Denker in der Geschichte der Philosophie ist die Tiefe der Problemstellung so unmittelbar in eine populäre und scheinbar leicht und eindeutig verständliche Form eingebettet. Bei keinem Denker hat man daher so oft wie bei ihm geglaubt, den gesamten Gedankengehalt seiner Schriften ohne weitere Zerlegung und abstraktive Behandlung seiner Darstellung entnehmen, und demgemäß auch durch die unmittelbare Wiedergabe seiner Entwicklungen, in aller ihrer Konkretheit, erschöpfen zu können. Indem man das Ganze des Systems und seiner idealistischen Grundeinstellung außer Acht ließ, indem man vor allem die „Regeln" als eine isolierte und für das Verständnis der eigentlichen „Philosophie" Descartes' wenig erhebliche Schrift ansah, beschränkte man die eigene Einsicht auf diejenigen Momente im Cartesischen Denken, deren Bedeutung für die endgültige Formulierung und die Ausgestaltung der einzelnen Aufstellungen zwar nicht unterschätzt werden darf, die aber für die prinzipielle Fassung der Grundprobleme in diesem System sekundär sind. Daß nun aber wirklich die Auszeichnung des wahren Erkenntnisvermögens, die Ausbildung eines Begriffs vom „reinen Intellekt" das eigentlich primäre, das zentrale Motiv in der Errichtung jenes „ersten Prinzips" der „ersten Philosophie" bildet, für diese Einsicht sind wir nicht etwa durchaus auf die terminologischen und sachlichen Zusammenhänge angewiesen, die die Metaphysik mit der Methodenlehre verbinden: Descartes selbst hat es durch eine Einschiebung in die Entwicklungen der zweiten Meditation außer Zweifel gestellt, wie sehr er in dieser logischen Tendenz des Cogito das eigentlich konstituierende Moment für diesen „Seelen"-Begriff gefaßt wissen wollte. Durch das Beispiel vom Wachs und der Erkenntnisart, mit der wir diese „Idee" erfassen, wird die alte Grundtendenz seiner Erkenntnis-
Identität U.Verschiedenheit in der „Inspektion des bloßen Geistes"
101
lehre in unzweideutiger Klarheit in das Zentrum auch der „Metaphysik" der „Seele" gerückt. Die Untersuchung wird hier ganz von neuem aufgenommen: sie beginnt mit der angeblichen Evidenz der Sinne. Die Empfindungen scheinen zunächst „viel distinkter erkannt zu werden" als „jenes ich weiß nicht was von mir, das nicht unter die Imagination fällt". Es zeigt sich dann aber, daß alle die sinnlichen Qualitäten des Wachses sich verändern können, während doch dasselbe Wachs als zurückbleibend, als beharrend angesehen wird. Die Identität dieses Gegenstandes in den Veränderungen aller seiner wahrnehmbaren Eigenschaften, das, was ich bei allem Wechsel als das zugrunde liegende Beharrliche „so distinkt erkenne", das kann gar „nicht etwa von dem, was ich mit den Sinnen erfaßte", sich herschreiben. Dieses Festhalten des Bleibenden in allem „fließenden Zeugnis der Sinne" ist vielmehr eine „ I n s p e k t i o n d e s b l o ß e n G e i s t e s " . Und mit der Erkenntnis der Identität zugleich setzt auch die der Verschiedenheit, wiederum gerade innerhalb des sinnlich Wahrnehmbaren, ein zugrundeliegendes reines Denkvermögen voraus, das in den Sinnen selbst die eigentliche Bestimmung und Unterscheidung vollzieht. „Nicht einmal die Körper werden selbst eigentlich durch den Sinn perzipiert, sondern durch den b l o ß e n I n t e l l e k t , so sehr, daß eine Sache ohne die andere empfinden nichts anderes ist, als die Idee einer Sache haben und i n t e l l i gieren, daß die Idee n i c h t i d e n t i s c h i s t mit d e r I d e e d e s a n d e r e n " . Die letzte fundamentale Bestimmung, die ursprüngliche Bestimmtheit in aller Erkenntnis ist — und das zeigt dann auch jenes andere Beispiel von den vorübergehenden Menschen — eine Inspektion des Intellekts, ein Hindurchblicken durch die „Kleider" des sinnlich Wahrgenommenen auf das, an dem die Qualitäten haften; das Wachs wird seinem innersten Gehalte nach von den „äußeren Formen unterschieden" und, „gleichsam seiner Gewänder entkleidet, nackt betrachtet". Von dem Sinnlichen geht solche Erkenntnis aus und auf den sinnlichen Gegenstand bezieht sie sich: aber die Erkenntnis, die Entscheidung selbst ist nicht in den Sinnen gegeben, sondern im Intellekt, der über das zugrundeliegende beharrliche Sein „urteilt", der es aus dieser Erscheinung e r s c h l i e ß t . Der Intellekt als das Vermögen des Urteils und der identischen Bestimmung wird sogar in der sinnlichen, „körperlichen" Erkenntnis als das fundamentale Erkenntnisvermögen involviert. 1 ) ') D V I I , 29fr., 132.
Im Anschluß an diese Stelle, die den Begriff
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Diese Erkenntnis primär gegenüber der der Ausdehnung
Aber auch darin entspricht nun diese am Beispiel des» Wachses sich vollziehende Entwicklung dem allgemeinen Gange jener prinzipiellen Zweifelsbetrachtungen, daß auch hier die auf Imagination bezüglichen, die materialen „Einfachen" von dem. zu gewinnenden Grundvermögen des Erkennens abgeschieden werden. Es könnte wie ein Widerspruch erscheinen gegen alle sonstigen Bestimmungen der Cartesischen Körperlehre: daß nun für die Bestimmung jener letzten Identitätsgrundlage im Wachs, des Beharrenden in ihm, nicht nur „Farbe", „Geruch" und „ T o n " , s o n d e r n a u c h die A u s d e h n u n g abgewehrt wird! DieParadoxie hat auch hier wieder jenen klaren Sinn für die Disposition des Erkenntnisproblems. Die Ausdehnung in ihrer bestimmten figuralen Gestaltung „begreife ich als unzähliger Veränderungen fähig". Da ich aber „Unzähliges nicht im Imaginieren durchlaufen kann, so wird diese Komprehension nicht von der Fähigkeit des Einbildens zustande gebracht". Die „Verschiedenheiten der Ausdehnung" weisen wiederum auf ein anderes, fundamentaleres Vermögen, weisen wieder auf den „bloßen Geist" als die eigentliche Bestimmungskraft zurück. Wenn die „Ausdehnung" wirklich das bleibende Sein, die Substanz des Körpers bezeichdes Urteils, genau wie durchgängig die „Regeln", rein dem Intellekt zuweist (wie noch viele andere Stellen), sei hier betont, daß die bekannte Theorie Descartes', die den W i l l e n als das eigentlich entscheidende Moment im Urteil behauptet, bei ihm in r e i n p s y c h o l o g i s c h e r (bezw. metaphysischer) Sphäre verbleibt, o h n e a u f d i e e i g e n t l i c h e M e t h o d e n l e h r e a u c h n u r d e n m i n d e s t e n E i n f l u ß z u g e w i n n e n . Man kann es zudem deutlich verfolgen, wie auch diese psychologischen Bestimmungen aus rein theodizeischen Interessen entsprungen sind. Nicht nach dem Kriterium der Wahrheit und des Irrtums wird in dieser Betrachtungsweise gefragt, sondern nach der ontologischen Möglichkeit des Irrtums bei der Herkunft des Menschen von Gott. Das Erkenntnisproblem des Urteils bleibt in der „Verknüpfung" beschlossen — gemäß den Formen, in denen dies Problem hier in der Metaphysik auftritt. — C h r i s t i a n s e n („Das Urteil bei Descartes" 1902), der gemäß seiner systematischen Stellung bemüht sein mußte, die Cartesische Urteilstheorie soweit als möglich erkenntnistheoretisch zu interpretieren, gesteht es selbst zu, daß Descartes „dem erkenntnistheoretischen Problem des Urteils ein psychologisches substituiere" (S. 8), daß es ihm nicht gelinge „den WahrheitsbegrifF auf das Urteil zu beschränken" (S. 48). „Von dem Anerkennen der Wahrheit unterscheidet Descartes das Erkennen der Wahrheit"; die Erkenntnis der Wahrheit als solcher „ist kein Urteil"; „Erkennen und Urteilen sind für Descartes absolut verschiedene Operationen" (S. 49). Letzteres gilt aber nur für jenen p s y c h o l o g i s c h e n Urteilsbegriff. Descartes versteht unter Urteil im l o g i s c h e n Sinne allerdings ein Erkennen: das der „notwendigen Verknüpfung", meist mit ausdrücklichem: Bezug auf „körperliche" Erkenntnis, auf Existentialbestimmung.
Die Mathematik nicht auf die Imagination letztlich fundiert
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nen soll, so kann sie dies eben nur auf Grund jener Identitätssetzung des „reinen Intellekts", die selbst erst die „Bilder" der Imagination zur Einheit des Gegenstandes zusammenschließt, die selbst also jene „Fähigkeit" erst zum Erkenntnisvermögen macht. So führt das Imaginable ebensosehr auf den Begriff des rein intellektualen Erkenntnisfundaments wie das sinnlich Wahrgenommene. Auch die Mathematik, die uns mit Hülfe der Imagination „distinkte Begriffe vom Körper zu bilden" lehrt, „selbst diese Wissenschaft, die man vielleicht am meisten der Imagination unterworfen glauben könnte, weil sie nur Größen, Figuren und Bewegungen betrachtet, ist keineswegs auf deren Phantome f u n d i e r t , sondern allein auf die klaren und distinkten Begriffe unseres Geistes". 1 ) Hier wird es völlig klar, was jener Zweifel an der Gewißheit der mathematischen Erkenntnis bedeutete und bezweckte. Der „reine Intellekt" muß unter Abstraktion von aller Anwendung und bestimmten Betätigung als das „einfachste", das „erste Prinzip" seinem eigensten innersten Gesetz nach charakterisiert werden. In diesem Ziel vereinigen sich die beiden Darstellungswege der zweiten Meditation mit den Ausführungen der „Regeln". „Und so bin ich . . . dahin gekommen, wohin ich wollte: denn da ich nun weiß, daß selbst die Körper nicht eigentlich von den Sinnen noch von der Einbildungskraft, sondern vom bloßen Intellekt erfaßt werden, nicht dadurch, daß sie berührt oder gesehen, sondern allein d a d u r c h , daß sie i n t e l l i g i e r t w e r d e n , so erkenne ich ganz o f f e n b a r , daß n i c h t s l e i c h t e r oder evidenter e r f a ß t werden kann, als mein Geist". Die „cogitatio" wird „früher und gewisser erkannt, als irgend eine körperliche Sache", denn sie ist das Primäre diesem Wissen gegenüber. Die rein intellektuale „Natur" des Geistes, insoweit eben alle Dinge dadurch „erkannt" werden, ist „von allem das Bekannteste": als „Fähigkeit desUrteilens", als „bloßer Intellekt" ist die „Natur des menschlichen Geistes" das „fundamentalste", das „erste Prinzip der menschlichen Erkenntnis".2) So bedeutet für die Sicherung der Erkenntnis das Cogito den ersten „festen und unbeweglichen Punkt", den Stützpunkt, an dem alle Hebel zur Gewinnung weiterer Prinzipien, wie aller Einzelerkenntnis anzusetzen haben. Als solcher „Punkt des 1) D III, 395-
) D VII, 29—34, 132, 360; III, cartes. Paris 1903. S. 219 fr. 2
395;
VIII,
7.
Vgl. auch L i a r d , Des-
Gewißheitskriterium der „allgemeinen R e g e l "
Archimedes" kann aber auch schon der Zweifel selbst gelten 1 ) — insofern eben schon im Zweifel, im P r o b l e m d e r G e w i ß h e i t die Voraussetzung eines Erkenntnisvermögens liegt, aus dem alle Bestimmung über Wahr und Falsch letztlich herfließen muß. Der „Zweifel", der ja auch als „intellektualer" Gegenstand gefaßt wird, fordert mit Notwendigkeit den Ursprung aller Denkbestimmtheit in der subjektiven Grundlage des Erkennens, im „reinen Intellekt". Dieser Intellekt, dieses „Denken" (cogitatici, pensée) ist also der eigentliche Ursprungsort für jene „Ideen", von denen wir allenthalben den Ausgang nehmen müssen, durch deren „Vermittlung" wir allein zur Erkenntnis der Dinge gelangen können, und auf die also alles „Urteilen" unmittelbar bezogen sein muß. 2 ) Der Geist (mens), wie er hier in seiner Reinheit, als „Intellekt" gefaßt wird, muß das Maß (mensura) sein von dem, was wir bejahen und verneinen. Daher wird für dieses eigentliche Erkenntnisvermögen nun die Auszeichnung eines Wahrheits-, eines Gewißheitskriteriums erfordert. Der Intellekt ist das Ursprungsgebiet für alle Wahrheit wie für allen Irrtum — wirkliche Erkenntnis entsteht erst, wenn dieses „Vermögen" mit aller Bestimmtheit auf die echten, die wahren Ideen dirigiert wird, wenn in ihm das leitende Mittel zur Auszeichnung kommt, das es ihm ermöglicht, überall „das Wahre vom Falschen zu unterscheiden". Nichts anderes war die Grundaufgabe der Methodenlehre rein als solcher: sie hatte die „Regeln" herauszustellen, die eben nichts waren, als Formulierungen der Gesetzlichkeiten, in denen der Intellekt zum „reinen Licht", zur wahren, untrüglichen Erkenntnis sich erhebt. Der „Intellekt" bezeichnete dort nichts anderes, als jenen „Teil" des „Wir, die wir erkennen", der fähig ist, die „Vorschriften" der reinen Methode zur Erfüllung, den Idealbegriff der „sapientia universalis" zur Verwirklichung zu bringen. Ganz entsprechend folgt nun in der „metaphysischen" Erkenntnislehre jenem Begriff des Erkenntnisvermögens, den die „intellektuale" Seele bedeutete, a l s z u s a m m e n f a s s e n d e r A u s d r u c k f ü r die g a n z e M e t h o d e die „ a l l g e m e i n e R e g e l " : daß von den Ideen, die im I n t e l l e k t e s i n d , d i e j e n i g e n als „ w a h r " und g e w i ß a n z u s e h e n s i n d , d i e wir „ k l a r u n d d i s t i n k t e r k e n n e n " . 3 ) D X, 515; VII, 24. *) Vgl. D VII, 102; III, 474, 476; V, 274. Die sachliche und terminologische Übereinstimmung dieser Abbreviatur mit den einzelnen Bestimmungen der „Regeln", besonders des Intuitus liegen auf der Hand und brauchen im Einzelnen nicht mehr er3)
System des Bewußtseins
105
Insoweit als die „Gedanken klare und distinkte Perzeptionen" ,sind, dürfen und müssen sie das „Maß", die „Regel für die Wahrheit der Sache" bedeuten, auf die diese „Erkenntnis" gerichtet ist. Was „diesen Ideen widerspricht, ist absolut unmöglich und schließt den Widerspruch in sich". In dieser Präzision muß der Gedanke verstanden werden, daß man für alle Erkenntnis von den „Ideen" auszugehen habe: die „Evidenz der Gründe", die „Vernunft" muß uns die letzte Instanz sein für alles, was wir „bejahen oder verneinen" ; alle Einzelerkenntnis, aller Aufbau der Wahrheit muß auf diesem sichersten, diesem tiefsten Fundament sich erheben. Der Intellekt, in der präzisen Fassung, die ihm die „allgemeine Regel" von der „klaren und distinkten Perzeption" verleiht, bildet das „erste Prinzip" aller „menschlichen Erkenntnis" — so wird das „Ich" des Cogito selbst zum Ausdruck aller Erkenntnisgewißheit und wahrhaften Ursprünglichkeit. Der Zusammenhang mit jenem Ausgange der Methodenlehre, der durch das „Ich-Selbst" zum „gesunden Verstand" und zur „menschlichen Vernunft" vordrang, liegt unmittelbar am Tage. Das Kriterium des „Klaren und Evidenten", in dem die produktive Gesetzlichkeit des „Denkens", des „Intellekts" heraustritt, bezeichnet nichts anderes als jene Grundlage der Gewißheit, der „Unterscheidung von Wahr und Falsch", aus der die Methodenlehre und der Plan des Wahrheitssystems zugleich erwuchsen. 1 ) In bestimmter Verfolgung jener Grundrichtung, die der junge Descartes mit der Sicherheit des geborenen Reformators eingeschlagen hatte, gestaltet sich nun das System als S y s t e m d e s B e w u ß t s e i n s . In dem Begriff der E r k e n n t nis, wie er sich hier herausarbeitet, erhält wiederum das Bewußtsein die Bestimmung seiner tiefsten Gesetzlichkeit, seiner allgemeinsten und grundlegenden Struktur. Der „reine Intellekt" örtert zu werden. Im „Discours" tritt diese „Regel" sowohl in der vorangeschickten Zusammenfassung der Methodenlehre mit den bekannten vier Regeln, wie auch in der dortigen Darstellung der Metaphysik auf. (DVI, 18 und 33.) Vgl. übrigens oben S. 59; für die Wiederaufnahme des „simul" (VII, 385) und für die Fortführung des methodischen Gedankens von der „notwendigen Verknüpfung" den Abschnitt c dieses Kapitels. Außerdem N a t o r p , Descartes' Erkenntnistheorie S. 34/35, „Développement de la pensée de Descartes . . ." S. 428; C h r i s t i a n s e n , Das Urteil bei Descartes 53fr. Die Polemik Christiansens g e g e n G r i m m (Descartes' Lehre von den angeborenen Ideen, Jena 1873) erledigt sich durch die Erwägung, daß für die Frage des Gewißheitskriteriums als für die Grundfrage der Erkenntnis die Deduktion durchaus in das „einfachste" Verfahren des Intuitus hineinfällt. ») Vgl. D IX, 208, 2 1 2 ; III, 474, 476; VII, 35, 379: VI, 33; VII, 22, 192.
X06
Die Probleme der Imagination und der Sinne
mit den „klaren und deutlichen Ideen" wird zum Fundament für alle weiteren Bestimmungen, in denen das System des Bewußtseins als System der Philosophie zur Ausgestaltung kommen kann. „Das Prinzip der Gewißheit, welches den einheitlichen Grund des Systems bildet, weist die Logik als die Grundlage des Systems aus. Es ist vorzugsweise diese Richtung, welche Descartes zum modernen Systematiker macht, zum Begründer der modernen Systematik." 1 ) c) D a s C o g i t o a l s E r k e n n t n i s b e w u ß t s e i n . Für das Problem des erkennenden Subjekts waren die „Regeln" nicht bei dem Begriffe des Intellekts verblieben. Wohl sollte er für die Fassung des „Wir, die wir der Erkenntnis fähig sind", das „Einfachste", das schlechthin Bestimmende ausmachen. Konnte doch allein in ihm Wahrheit und Falschheit, also eigentliche Erkenntnis statthaben. Aber dennoch sollte er jenen Begriff des „ W i r " nicht erschöpfen. Seine Erkenntniskraft blieb, solange er „für sich allein handelte", auf den Bereich der „rein intellektualen Dinge" beschränkt. Die Durchführungsaufgabe aber wies mit allem Nachdruck gerade auf die Fragen des „Körperlichen"; so traten dem Intellekt innerhalb d i e s e s „ W i r " Imagination und Sinne als „Hilfsmittel" zur Seite, die dann gemäß dieser ihrer Verbindung mit dem eigentlichen Quell des Erkennens auch als „Erkenntnisfähigkeiten" bezeichnet wurden. Wenn das Fundament und das eigentliche Wesen, wenn alle produktive Gesetzlichkeit des erkennenden. Subjekts in dem Intellekt als solchem präzisiert blieb, so mußte doch irgend eine Beziehung von ihm hinführen zu diesen Hilfsvermögen, deren Inhalte ihm den Übergang vermitteln zu dem Bereiche der „materialen" Erkenntnis. Wir haben die „intellektualen Dinge" als die Probleme, die Grundbegriffe der Erkenntnis selbst gefaßt. Diese Bedeutung läßt sich überall wiedererkennen, auch dort, wo andersartige Betrachtungsrichtungen hineinspielen in die Lehre von den „Prinzipien der menschlichen Erkenntnis": auch die ontologischen Bestimmungen sollen ausdrücklich und durchweg nur dem Interesse an der Erkenntnis, an der Fundierung der Wissenschaften dienen. Alle eigentliche Auswertung aber der in dieser „ersten Philosophie" herausgestellten Erkenntnisbestimmungen, *) H. C o h e n , Logik der reinen Erkenntnis. Berlin 1902. 8.513; vgL S. 14 und 360; Kants Theorie der Erfahrung S. 31 f.
Der „Intellekt" nur ein „ T e i l " der „ S e e l e "
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aller eigentliche wissenschaftliche Aufbau auf diesem „metaphysischen" Fundamente ist daher letztlich auf die Körperwissenschaften dirigiert. Auf die „Prinzipien der menschlichen Erkenntnis" folgen im System der „Philosophie" unmittelbar die „Prinzipien der materialen Dinge" und das ganze Gebäude der Physik. 1 ) Und so ist auch das ganze Interesse der metaphysischen Prinzipienlehre, nachdem einmal durch die Abwendung des Geistes „von den sinnlichen Dingen" jener Begriff des „rein intellektualen" — Intellekts gewonnen ist, von nun an sogleich wieder auf die Herstellung des Zusammenhangs gerichtet, der es ermöglichen muß, von diesem allgemeinen Fundament aus „etwas Festes und Bleibendes" in der Wissenschaft von den sinnlichen Dingen zu „stabilieren". Nach jener früheren Disposition des Problems bedeutet dies aber für den Intellekt die Einstellung in einen allgemeinen Begriff des Subjekts, innerhalb dessen die imaginative und sinnliche Beziehung ihn mit den Problemen des „Körperlichen" oder „Körpern Ähnlichen" verbinden. Descartes hat die beiden Problemstufen des „reinen Intellekts" und des allgemeinen Erkenntnissubjekts in den Darlegungen der „Metaphysik" weniger noch geschieden als in jenen Partien der „Regeln". Der Sujektsbegriff des Cogito hat sie beide in sich zu vertreten: ungemischt, und oft in einem merkwürdigen Nebeneinander, wirken sie bei der Formulierung und Verwertung dieses „ersten Prinzips" zusammen. 2 ) Das Cogito, wie es zuerst gewonnen wird, bildet nur einen „Teil" der „Seele". Daß die Erforschung ihrer „Natur" allem Andern vorangehen müsse, „weil sie es ist, in der alle Erkenntnis residiert", das hat zugleich mit jenem Primat des reinen Intellekts den allgemeineren Sinn des „Wir, die wir der Erkenntnis fähig sind". 3 ) Wenn es immer heißt, daß Imagination und Sinne auch den Tieren zukommen, die doch eben keine Erkenntnis und daher keine „Seele" haben, wenn also der Begriff unserer „rationalen" Erkenntnisseele im strikten Gegensatz zu jenen „körperlichen" Vermögen 4 ) bestimmt wird, so muß doch ') D VIII, 40. Vgl. außer den Darstellungen der „Meditationen" und der „Prinzipien" besonders auch D III, 474, 476 und IX, 208. •) Vgl. D X , 505 f. 4) E s sei hier vorausgenommen, daß Descartes diese Beziehung der Imagination als „körperlichen" Vermögens im buchstäblichen Sinne meint: Imagination und Sinne sind als solche für ihn gleichermaßen V o r g ä n g e 2)
„Bewußtsein"
io8
wiederum, soll anders jene Seele zur Erkenntnis der „materialen •Dinge" zureichen, soll jenes Prinzip auch als Fundament für •die Erfahrungswissenschaften gelten dürfen — so müssen eben doch Imagination und Sinne irgendwie mit dem „bloßen Verstand" in Verbindung gesetzt und also in irgend einem Sinne -auch in die „Seele" als das allgemeine Gebiet aller Art von Erkenntnis hineingezogen werden. Die Präzision, die der Begriff des „Cogito", des „Denkens" in jener tiefsten Erkenntnisgrundlage gefunden hatte, und die sich fortsetzte in der Hinzuziehung des allgemeinen Methodenausdruckes der „règle générale" {für die jenes „Ich" dann das eigentliche Verwirklichungsfeld bedeutet) — diese Bestimmtheit geht zwar nicht als solche verloren: sie wird dieser eigentlichsten „Essenz" der Seele durch die Beziehung auf eine neue Formulierung gewahrt, die innerhalb des -allgemeineren Bewußtseinsbegriffs wiederum die Interessen der reinen Erkenntnis, des „natürlichen Lichtes" zu vertreten hat. Der Terminus des „Cogito" aber erhält in dieser Doppelbeziehung eine verhängnisvolle Unbestimmtheit, die dann durch das Hineinspielen anderer Betrachtungsweisen und Interessen noch bedenklich erhöht wird. In der ursprünglichen und allgemeinsten Bezeichnung jenes .„Ich", jener „Seele" als „Denken" (,cogitatici, pensée) mag noch jene Forderung des „reinen Intellekts", des bloßen Verstandes und seiner „Urteile" das bestimmende Motiv bilden. Aber diese cogitatio wird oft genug gleichgesetzt dem allgemeineren Begriff des „ B e w u ß t s e i n s " (conscientia, perceptio),x) „Unter dem Ausdruck cogitatio fasse ich alles das zusammen, was so in uns ist, d a ß wir u n s s e i n e r i m m é d i a t b e w u ß t sind." Dieser Terminus bezeichnet daher nicht nur die „Operation" des „bloßen Verstandes", sondern „jede Art von Operationen der Seele". 2 ) Der reine Intellekt, der gemäß jenem Beispiele d e s K ö r p e r s , des Gehirns, von dem der Intellekt, die „ S e e l e " dagegen nicht abhängig sein soll! E r s t die Verbindung, die bei uns Menschen .zwischen K ö r p e r und Seele besteht, bringt jene körperlichen V o r g ä n g e in eine gewisse Beziehung zum seelischen Erkennen. S o treten die B e griffe „imaginatio" und „sensus" meist in doppelter Beziehung auf : als „rein körperliche" Bewegungsvorgänge (physiologische Veränderungen) und als seelische Vermögen, als unmittelbare Beziehung jener V o r g ä n g e auf das E r k e n n e n oder allgemein auf das S e l b s t b e w u ß t s e i n . Daß es über diese beiden Bedeutungen bei Descartes nie zur Klarheit kommt, das hat seine Ursache natürlich in der c r u x seines metaphysischen Dualismus, die in •dem Problem der Vereinigung von Seele und K ö r p e r sich darstellt. ») Z. B. D V I I , 28 f., 176, 3 5 2 ; VIII, 7 ; III, 474. ) D VII, 160; VIII, 7; III, 394! I X , 208.
2
„Sinne und Imagination" als
„modi cogitandi"
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vom Wachs die innerste Selbständigkeit der „Seele" und ihr eigenstes Wesen, weil die Grundfunktion alles Erkennens repräsentierte, ist also dennoch nicht die „Seele", das „Ich" schlechthin, sondern nur ein „Teil" davon. Neben dem „Intelligieren" erscheinen in den Beispielen für den Inhalt des Cogito die „Operationen" des „Imaginierens", „Empfindens", „Wollens" — „und andere". 1 ) Die Unbestimmtheit, die in der letzten Wendung sich ausspricht, und die einen deutlichen Gegensatz bildet gegen die klare Dreiteilung des „ W i r " in den „Regeln", deutet darauf hin, daß in diesem Bewußtseinsbegriff bereits eine weitere Komplizierung am Werke ist, die über das jetzige Stadium der Betrachtung, wie es jener Untersuchungsstufe des Erkenntnissubjekts entsprechen soll, wiederum hinausliegt — ein Hineinspielen von Motiven, die zwar vielleicht nicht gänzlich außerhalb des Interesses an der Erkenntnis fallen (das „Wollen" wenigstens kann durch die Beziehung auf jene Theorie des Urteils noch wesentlich hierhin gerechnet werden), die aber jene unmittelbare Korrelation zum Erkenntnisobjekt preisgeben und im letzten Grunde nicht unter das Problembereich der Methoden, der Kriterien der wahren Erkenntnis fallen. Es kommt daher für uns zunächst auf die erweiterte Fassung des Cogito nur insoweit an, als in ihr wiederum neben dem Intellekt die Imagination und die Sinne als „Operationen", als „Fähigkeiten" des „Ich" aufgestellt werden; in der Tat fällt auch in den weiteren Entwicklungen der „Metaphysik" alles Gewicht auf diese Vermögen. Obgleich die „Seele" nach der fundamentalen Bestimmung „kein anderes Objekt nötig hat als sich-selbst, um ihre Aktion auszuüben", kann sie sich dennoch „auch auf die materialen Dinge ausdehnen, wenn sie diese untersucht". Eben darum muß sie in Beziehung treten zu der für ihre Grundfunktion so streng abgewiesenen Imagination und zu den Sinnen; um den Erkenntniszusammenhang mit den Problemen des „Körperlichen" zu gewinnen, müssen „Sinne und Imagination" als „in mir" seiende „modi cogitandi" gedacht werden. 2 ) Wenn das Ich, die Seele, der Intellekt „sich auf sich selbst wendet", so bedarf es dieser Vermögen nicht, so sind sie mit aller Strenge fernzuhalten — will anders der Intellekt einen reinen Begriff seiner selbst gewinnen; wendet sich aber der Verstand auf die inhaltliche ') D VII, 28, 34, 160, 176; I, 366; VIII, 7. 2)
D I X , 206; VII, 29, 34/5; II, 622 etc.
no
Allgemeinster Begriff der „Idee"
Erkenntnis der „materialen Dinge", so muß er mit diesen „körperlichen" Fähigkeiten in Verbindung treten: so muß also deren Tätigkeit in das Ich hineingezogen und damit für ihre Beziehung auf den „bloßen Verstand" der logische Ort bestimmt werden. Genau parallel dieser erweiterten Fassung des Begriffs vom „Denken", vom erkennenden Subjekt geht eine allgemeinere Charakteristik des Bewußtseinsinhaltes, wie er jenem Korrelat zum „Wir" in der Methodenlehre entspricht. Die „Idee", die ja in der Erkenntniswelt das allgemeine inhaltliche Problem vertritt, und auf die daher alle methodische Bestimmung bezogen werden muß, gilt nicht allein als Grundausdruck für die Gestaltungen des „bloßen Verstandes", oder gar nur für diese, soweit sie Wahrheit verbürgen, soweit sie „klar und distinkt" sind 1 ): der Begriff der „Dinge, soweit sie vom Intellekt berührt werden", geht weiter, als dessen eigentliche und eigenste Inhalte reichen. Auch die „Bilder" der Imagination und der Sinne sind, mit ihm verbunden, solche Erkenntnisgegenstände, Inhalte jenes „Wir"; auch sie können in den Bereich des Cogito hineinfallen, wie es jetzt als „Bewußtsein" bestimmt ist. „Unter dem Ausdruck idea verstehe ich jene Form einer jeden cogitatio, durch deren immediate Perzeption ich mir eben dieser cogitatio bewußt bin". Die Ideen sind nichts anderes als „cogitationes"; dieser Ausdruck faßt „alles das" zusammen, „was immediat vom Geiste perzipiert wird" — „alles das, was in unserem Geiste ist, wenn wir eine Sache begreifen, auf welche Art wir sie auch begreifen mögen".2) So gelten also die Inhalte der Imagination und der Sinne, soweit sie eben vom Geiste „berührt" werden, auch als „Ideen". Nicht etwa rein für sich betrachtet sind sie so zu nennen, nicht „soweit sie in der körperlichen Phantasie . . . sind, sondern nur insofern als sie den auf sie . . . gewandten Geist i n f o r m i e r e n " , tragen sie diesen Titel von Erkenntnisinhalten, als welche sie in die „Seele", in den Bereich des Cogito hineinbezogen werden.3) Mit diesem „Informieren" ist jenes „Behindern" und „Unterstützen" wieder aufgenommen, in welchem die Methodenlehre die Beziehung der sekundären Erkenntnisvermögen zum Intellekt definierte. Das methodische Problem, um dessentwillen dieser allgemeine Begriff des „Bewußtseins" und seines Ideeninhaltes aufgestellt wurde, richtet nun das Interesse auf die Abgrenzung ») V g l . D I I I , 4 7 4 , 4 7 6 -
2)
D V I I , 35, 1 6 0 ; III, 392/3.
3)
D V I I , 160/1.
Dreiteilung der „Ideen"
III
des Anteils, der den verschiedenen Arten der Ideen, bezw. den verschiedenen „Operationen", in denen diese sich darstellen, an der Erkenntnis der Dinge zukommt. Jene erste Einteilung, wie sie in den „Regeln" auf Grund des Subjektsbegriffs sich ergab, die Unterscheidung der „intellektualen" und der „materialen" Dinge, steht in diesem Stadium der Entwicklung nicht mehr ausdrücklich zum Problem. Jetzt ist die Frage schon mit aller Bestimmtheit auf die Erkenntnis des „Körperlichen" dirigiert. In diesem Bereich aber geht, wie schon in den „Regeln", das ganze Interesse sogleich über das Gebiet bloß imaginativer „Anwendung" des Verstandes hinweg zu den Problemen, die auf die sinnliche Erfahrung, auf die Empfindung unmittelbar bezogen sind. Die Mathematik, die dort allerdings, wenigstens der Darstellung nach, weniger weit vom Intellekt rein als solchem abgerückt worden war, wird auch jetzt nicht als ein eigenes Problemgebiet in der Verbindung des Intellekts mit den anderen „Operationen" zur Erörterung gestellt: für die Vereinbarung, die der Verstand in ihren Erkenntnissen mit der Imagination eingeht, ergibt sich die allgemeine Möglichkeit vielmehr in der Erörterung der Beziehungen, die zwischen dem Intellekt und den S i n n e n sich konstatieren lassen. Die Prinzipienlehre als Lehre vom Bewußtsein zielt sogleich auf die Möglichkeit physikalischen Erkennens, auf die Wissenschaft vom Wirklichen. Als erstes und allgemeinstes Ergebnis jener weiteren Fassung des Bewußtseinsbegriffs ergibt sich eine Dreiteilung der „Ideen", die in allen Einzelzügen jener Einteilung der „Dinge, soweit sie erkannt werden", entspricht und unmittelbarer als alle anderen Bestimmungen die durchgängige innere Übereinstimmung der „metaphysischen" Erkenntnislehre mit der Methodenlehre der „Regeln" bezeugt. An die Stelle der „reinen und einfachen Naturen", in denen alle eigentlichen Bestimmungsmittel des sicheren Erkennens enthalten und beschlossen sein sollten, und die als unmittelbarer Ausdruck der Methode des „natürlichen Lichtes" gelten durften, treten jetzt die „ i d e a e innatae". Der Terminus weist sogleich auf die intimen Zusammenhänge hin, die diesen Begriff mit immer durchwirkenden Motiven der Cartesischen Philosophie und ihrer systematischen Grundtendenz verknüpfen. Die „reine" Gesetzlichkeit der Erkenntnis als solcher, zu der die „menschliche Vernunft" deshalb sich erheben kann, weil ihr ursprünglichster Begriff durch jene bestimmt wird, weil ihr jenes „natürliche Licht" i n n e w o h n t — dieser Grundgedanke von den „ein-
112
Das „Eingeborene" als Kriterienausdruck
geborenen Prinzipien der Methode", die in dem Licht der intuitiven Gewißheit mit dem Verfahren zugleich die echten Inhalte, die Einfachen und ihre Komplexionen aus den „Samenkörnern" der Vernunft erwachsen lassen, wird in diesem berühmten und oft so trivial mißverstandenen Terminus von neuem aufgenommen. Ganz wie jene „eingeborene" Methode werden auch diese „einfachsten Wahrheiten" der „ideae innatae" als „die ältesten" bezeichnet, weil sie „die wahrsten" seien. 1 ) Und deutlicher noch als aus der Methodenlehre selbst, die mehr dem abstrakten Begriff der Erkenntnis als solcher zugewandt war und erst mit dem Begriff des „Intellekts" die Beziehung zum Subjekt der Erkenntnis ausdrücklich wieder aufnahm — deutlicher noch erkennt man die Identität der inneren Tendenz, wenn man auf jenen Ausgang des Methodenproblems zurückblickt, der für die Gesetzlichkeit der „universalen Weisheit", als der „menschlichen", das subjektive Fundament in der allen Menschen gleicherweise eigenen „bona mens" gelegen wissen wollte. Nichts anderes haben die „eingeborenen Ideen" zu bedeuten, als die unmittelbaren Auswirkungen dieses „natürlichen Lichtes", wie es den Grund des Bewußtseins bildet — nur d a ß in dieser terminologischen Fassung die Beziehung auf den subjektiven Quell unmittelbarer zum Ausdruck gebracht wird als in der Wertbezeichnung des „Einfachen". Damit zugleich aber wird der Begriff der „Seele", insofern sie als das Quellgebiet dieser Ideenart gelten m u ß , von dem allgemeinen Bewußtseinsbegriff wiederum zurückgelenkt auf die präzise Bedeutung des Cogito, die, im Sinne des „reinen Intellekts", mit der Einschränkung auf das „Klare und Distinkte" jenes alte Motiv des „Moi-même" als des Vertreters des „ursprünglichen gesunden Verstandes" aufnahm. Dem Kriterium der „klaren und distinkten Perzeption" treten in diesen „eingeborenen Ideen" die inhaltlichen, alle Erkenntnis konstituierenden Elemente zur Seite, wie in den „Regeln" den „eingeborenen Prinzipien der Methode" die „Einfachen". Darum sind diese Ideen „eingeboren", weil wir sie als „primitive", als „ e i n f a c h e Begriffe nicht anderswo suchen können als in unserer Seele, die sie alle in sich d u r c h i h r e N a t u r hat". D a s „ E i n f a c h e " w i r d so mit d e m „ E i n g e b o r e n e n " als d e m V e r t r e t e r d e r „ n a t ü r l i c h e n " V e r n u n f t in E i n s g e s e t z t ; alle Erkenntnis erwächst aus „gewissen Samen von Wahrheiten, >) D VII, 464-
,ideae adventitiae"
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die natürlicher Weise in unserer Seele sind" ; und insofern „unsere Seele" Quell aller Erkenntnis ist, insofern in ihr auch die Kriterieninstanz, der Gewißheitsgrund gelegen sein muß, sind die „eingeborenen Ideen" die Konstituentien alles wahren Wissens. Der Begriff „der Seele" bestimmt sich eben selbst in diesem Enthalten der „Samenkörner", ihr eigenster Gehalt kommt mit ihnen zutage, in dem „Eingeborenen" und seinen methodischen Beziehungen präzisiert sich ihre eigenste Struktur. Daß die „ideae innatae" „zur Natur unseres Intellekts gehören", daß sie ihm „eingepflanzt" sind, daß sie „aus meiner eigensten Natur" stammen, das bedeutet eben die u r s p r ü n g l i c h e I d e n t i t ä t d e r „Seele" m i t d i e s e n dem I r r t u m der „ f l i e ß e n d e n " S i n n e s Vorstellungen e n t z o g e n e n „ewigen u n d u n v e r ä n d e r l i c h e n N a t u r e n " . Eben was die „eingeborenen" von allen anderen Ideen unterscheidet, dieses allgemeine Definitionsmoment, daß sie „irgend welche wahre, unveränderliche und ewige Essenzen repräsentieren", läßt sie nach einer anderen Richtung hin als „mit meiner Natur übereinstimmend" (naturae meae consentanea), als „mit mir geborene" gelten — insoweit eben „meine Natur", dieses „Ich" nichts anderes ist als die reine Erkenntnisgrundlage des „gesunden Verstandes", der „menschlichen Weisheit".1) Den „eingeborenen Ideen", die ich „nicht anders als von mir selbst haben kann", treten nun — entsprechend jenen „Dingen", die der Geist „als zusammengesetzt erfährt", die als solche daher „von anderswoher zu ihm gelangen" — die „ h e r a n k o m m e n d e n Ideen" (ideae adventitiaej gegenüber. Der Zusammenhang liegt hier schon in der Bezeichnung zu klar auf der Hand, als daß er genauerer Erörterung bedürfte. Nur dies eine Moment sei hervorgehoben: auch in der „Metaphysik" wird es durchaus festgehalten, daß die „Ideen", die uns „von andersher kommen", die „als aus den Sinnen geschöpft" anzusehen sind, keine Falschheit enthalten können, wenn sie „allein in sich betrachtet" und nicht „auf etwas anderes bezogen" werden. Erst das Urteil, in das man sie einstellt, bringt die Gefahr des Irrtums mit sich. Die Täuschungen, die den sinnlichen Vorstellungen zugeschrieben werden, sind vielmehr >) D VII, 38, 64, 105, 117, 135: VI, 64; VIII, 23f.; VIII 2 , 358; III, 383, 666/7; V, 354. Vgl.auch C h r i s t i a n s e n , Das Urteil bei Descartes S. 39, 70fr.; hier ebenfalls über die sachlichen und terminologischen Zusammenhänge der „eingeborenen Idee" mit dem „Klaren und Distinkten" (vgl. dazu D VII, 115 ff.), was wir alles nicht im Einzelnen zu verfolgen brauchen. C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VI
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ideae factae sive fictitiae"
Irrungen des Intellekts, der jene in seine Deduktionszusammenhänge einstellt. Was schon die „Regeln" sagten, wird hier bestätigt: der „hauptsächliche Irrtum" besteht „darin, daß ich von den Ideen, die in mir sind, urteile, daß sie gewissen außer mir bestehenden Dingen ähnlich oder konform seien". Durch solche Übertragung der Empfindungsbilder auf die Dinge, in solcher Beziehung, die das „Urteil" des „Intellekts" stiftet, ohne daß dieser die Berechtigung dazu „vorher auf andere Weise erkannt" hat, kommt aller Irrtum der „materialen" Erkenntnis zustande. 1 ) In den Ausdrücken der „ideae innatae" und der „ideae adventitiae" ist die prinzipielle Verschiedenheit der Herkunft weit nachdrücklicher noch betont, als in der entsprechenden Einteilung der „Regeln". Um so energischer muß sich also nun das Problem der Erfahrungserkenntnis in der Aufgabe präzisieren, zwischen diesen heterogenen Bewußtseinsgebilden, die eben doch beide einen Bezug auf die Erkenntnis enthalten sollen, eine Vermittlung herzustellen, die eine Art auf die andere zu beziehen und so die Sicherheit der „reinen" Erkenntnis mit der Problemeigentümlichkeit der sinnlich erfahrbaren, der zur „Physik" gehörigen „Dinge" zu vereinen. In der Methodenlehre wurde eine solche Verbindung der beiden heterogenen Momente in dem Begriffe des Selbstzusammensetzens angestrebt. So b e d e u t e t n u n a u c h j e t z t die d r i t t e I d e e n a r t , die d e r „ideae factae sive fictitiae", einen Ansatz zur method i s c h e n V e r m i t t l u n g zwischen dem „reinen Intellekt" ») D VII, 37ff-; VIII, 35 f.; III, 429; V, 354. Hier wie in den „Regeln" sagt Descartes von den sinnlichen Empfindungen immer nur dies, daß sie, für sich betrachtet, „nicht falsch sein können". Man könnte daraus schließen wollen, daß er für sie in ihrer Isolierung eine absolute W a h r h e i t in Anspruch nehme. Tatsächlich steht Descartes solcher Verwechselung einer Bewußtseinstatsächlichkeit mit der Wahrheit hier, wie auch an anderen Punkten des Systems, nicht durchaus fern. So heißt es von den „ideae adventitiae", daß sie „nicht eigentlich falsch sein können", denn ob ich das Eine oder Andere vorstelle, s o „ist e s d o c h n i c h t w e n i g e r w a h r , d a ß i c h d a s E i n e , a l s daß i c h d a s A n d e r e vors t e l l e". Die „Prinzipien" wenden sogar auf die Empfindungen, soweit sie „rein in sich betrachtet" werden, den Ausdruck des „Klaren und Distinkten" an! (vgl.DVII.35; VIII,33). Indessen beweist die Bestimmung des Intellekts als des einzigen „Vermögens", darin Wahrheit und Falschheit sein kann, ohne weiteres, daß die Grundmeinung der Methodenlehre — der die Metaphysik in diesem Punkte ohne Einschränkung folgt — eine andere ist. — Der Begriff der „materiellen Falschheit", der auch nur sehr vorübergehend auftaucht, ist für die methodischen Fragen nicht von Wichtigkeit. (Vgl. D VII, 42 f., 232 ff.).
Vermittlungsaufgabe dieser Ideenart
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u n d d e n E r k e n n t n i s f o r d e r u n g e n , d i e mit d e r Hinzunahme der s i n n l i c h e n „ E r k e n n t n i s f ä h i g k e i t e n " auftreten. Allerdings steht diese Bedeutung der Ideen, die „per figmenturn intellectus" zustande kommen, zunächst nicht im Vordergrunde der Darstellung. Die bestimmte Direktive, unter die jene Einteilung nach der gedanklichen Abfolge der „Meditationen" gestellt wird, läßt an dem allgemeinen Begriff der selbstgemachten Vorstellungen vor allem jene Seite hervortreten, die in den „Regeln" als Zusammensetzungen „durch Impuls" oder „durch Konjektur" bezeichnet und für die echte Erkenntnis abgelehnt wurde. So werden meist die willkürlichen Vorstellungsbildungen der „Syrenen, Hippogryphen etc." als das allgemeine Beispiel für die „von mir selbst gemachten", d. h. also hier für die von mir selbst f i n g i e r t e n „Ideen" aufgeführt. In diesem Sinne wird die „idea fictitia" aller wahren Erkenntnis, aller eingeborenen Idee, welche „wahre und unveränderliche Natur" zu gewährleisten vermag, strikt entgegengesetzt. 1 ) Wenn aber dann in dem klassischen Beispiel von den zwei Ideen, die wir von der Sonne haben, der falschen sinnlichen jene andere Idee gegenübertritt, die „aus den Gründen der Astronomie entnommen, das ist aus gewissen mir eingeborenen Begriffen herausgeholt oder auf irgend eine andere Weise von mir gemacht wird . . .", wenn, bestimmter noch, an einer anderen Stelle als Beispiel einer „idea facta vel fictitia" „diejenige" angeführt wird, „welche die Astronomen von der Sonne bilden durch ihr Raisonnement",2) so ist es ohne weiteres klar, daß das eigentliche Erkenntnisproblem dieser Ideenart darin besteht, die Ursprungsgewißheit des „Eingeborenen" für die Erkenntnis des Sinnlichen, der Erfahrungswelt zu verwerten — ganz entsprechend, wie in den „Regeln" gegenüber jeder unmethodischen Zusammensetzung, gegenüber allem „schlechten Verbinden" nach dem „blinden Impuls" die reine Deduktion dazu verhelfen soll, über den Geltungswert, über den Charakter der Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit, den die „erfahrenen" Vorstellungen der Wirklichkeit gegenüber tragen mögen, begründete, „sichere Urteile" zu fällen.3) Das Nebeneinander und der ausschließende Gegensatz der „eingeborenen" und der von außen „hinzukommenden" Ideen soll für die Erkenntnis der physika3)
D VII, 38, 116f., 119, 152; V, 358. D VII, 39 f., 152; HI, 383.
D
v i i , 39j III, 383. 8*
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ävafivtjotg
lischen G e g e n s t ä n d e einem methodischen Z u s a m m e n w i r k e n weichen, wie die „ G r ü n d e der A s t r o n o m i e " in ihrem B e z u g a u f die den Sinnen vorliegende S o n n e diese V e r b i n d u n g an einem, wissenschaftlichen F a k t u m vor A u g e n stellen. W i r w e r d e n später sehen, d a ß dieser B e z u g des Reinen, des E i n g e b o r e n e n auf das sinnlich G e g e b e n e nach seiner m e t h o dischen B e d e u t u n g nicht anders verstanden wird, als der B e z u g der „ E i n f a c h e n " auf die „ E x p e r i m e n t e " , wie ihn die Methodenlehre herstellt. Eine gewisse V e r b i n d u n g des E i n g e b o r e n e n mit den V o r s t e l l u n g e n der Sinnlichkeit, die allerdings als solche n o c h keine streng methodische ist, konstatiert D e s c a r t e s a b e r bereits in diesem Z u s a m m e n h a n g e , in der E r ö r t e r u n g des allg e m e i n e n B e w u ß t s e i n s g r u n d e s und seiner verschiedenartigen Inhalte. D i e subjektivische F o r m u l i e r u n g des „ E i n g e b o r e n e n " läßt, g e m ä ß der geschichtlichen H e r k u n f t , die in der G r u n d t e n d e n z dieses Begriffs sich verrät, mit dem G e d a n k e n der ävdfivtjaig zugleich Piatos Begriff der Sinne als der „ W e c k e r " des G e dankens heraufsteigen. W i e in d e m „Intuitus" der „ R e g e l n " die T e n d e n z des „reinen S c h a u e n s " fortlebte, in w e l c h e m P l a t o , g e g e n ü b e r allem Irrtum der S i n n e , die rein und sicher sich gestaltenden Begriffe des wissenschaftlichen E r k e n n e n s zur A u s zeichnung brachte, so wird nun auch das „ E i n g e b o r e n e " als d e r Urbesitz des Geistes, als sein innerstes V e r m ö g e n vielmehr, die reine U r k r a f t , die diesen Besitz aus sich gestaltet (denn d a s „ E i n g e b o r e n e " identifiziert D e s c a r t e s d u r c h w e g mit der „ F ä h i g k e i t " , der „ D i s p o s i t i o n " des Geistes, diese Begriffe in ihrer aller subjektiven W i l l k ü r entzogenen W a h r h a f t i g k e i t zu bilden), p s y c h o logisch so charakterisiert, daß, wenn man diese „ältesten weil, wahrsten I d e e n " einmal „ b e m e r k t " habe, man nicht „ g l a u b e , von ihnen jemals nicht g e w u ß t zu haben". D i e W a h r h e i t dieser „ e i n f a c h e n B e g r i f f e " und alles des unzähligen „ E i n z e l n e n " , was aus ihnen erfolgt, ist „meiner Natur so sehr g e m ä ß , d a ß w e n n ich zuerst sie a u f d e c k e , ich nicht sowohl etwas N e u e s hinzuzulernen scheine, als mich dessen, was ich schon vorher w u ß t e , zu erinnern, oder auf das zuerst acht zu haben, w a s schon längst in mir war, ohne daß ich j e d o c h schon früher den Blick meines G e i s t e s darauf gerichtet hätte". 2 ) E b e n dieses „ E r innern", das die eigentliche H e r k u n f t der Erkenntnis rein a u s d e m Geiste selbst, nach seiner eigensten W i r k u n g s k r a f t , ausVgl. C o h e n , Piatons Ideenlehre und die Mathematik S. 17f.; Kants. 2) D VII, 63/4, 464. Theorie der Erfahrung S. 11.
„Erweckung" des „Eingeborenen"
•drückt, kann darum doch in seinem Auftreten im Subjekt anknüpfen an die Ideen, die „von andersher herankommen". Die eingeborenen Ideen w e r d e n „ e r w e c k t in u n s b e i G e l e g e n h e i t " d e r V o r s t e l l u n g e n , d i e uns „ d u r c h d i e Org a n e d e r S i n n e " v e r m i t t e l t w e r d e n . Durch die „ideae adventitiae" wird in den Geist etwas hineingesandt, was ihm Gelegenheit gibt, durch seine eingeborene Fähigkeit „ j e n e I d e e n zu d i e s e r Z e i t e h e r a l s z u e i n e r a n d e r e n z u bilden".1) ') D III, 418; VIII j, 35g. Bei näherem Zusehen wird man allerdings in dem Begriff des „Erweckens", wie er meist formuliert wird, und demgemäß auch in dem der „eingeborenen Idee", soweit sie in diesem Zusammenhang auftritt, eine Zweideutigkeit entdecken, die nach ihren Konsequenzen für die Erkenntnislehre, von der doch alle diese Bestimmungen ausgingen, geradezu vernichtend wirken müßte. In dem Bestreben, den Begriff des „Eingeborenen", der Descartes durchaus unter der Wertfrage, als Gewißheitsinstanz erwachsen war, nun auch gegen die psychologischen Einwürfe und Mißverständnisse der Gegner zugleich nach dieser Seite klarzustellen, geht er, zum Gegensatz gegen alle dingliche Vorstellung von dem Vorhandensein solcher Ideen in „meinem Bewußtsein" vom Mutterleibe an, zurück auf die bloße „ F ä h i g k e i t d e s D e n k e n s " , aus welcher jene Ideen allmählich sich herausbilden. (D VII, 189; VIII 2,358f. -etc.) In dieser Betrachtungsweise aber schwindet ihm unvermerkt der •Kriterienwert jenes Begriffs aus den Händen und macht einem rein psychologischen Begriff des Eingeborenen und des „Erweckens" „bei •Gelegenheit" der sinnlichen Empfindungen Platz. Die „Idee", die „vorher" in uns hat sein müssen, ist in diesem Zusammenhange nichts anderes, als das Bewußtheitsmoment, das j e d e Vorstellung in sich trägt, und das als solches allerdings in keinem äußeren, „körperlichen" Geschehen, wie es in den „Organen der Sinne" sich abspielt, vorhanden sein, ihm keinesfalls entnommen werden kann. Die „Fähigkeit des Denkens, die in mir ist", ist nichts anderes, als das „Bewußtsein", das alle meine Vorstellungen, die unter anderem Gesichtspunkt in „eingeborene" und „hinzukommende" unterschieden wurden, in sich befaßt. — Es darf nur als eine Preisgabe der logischen Unterscheidung unter dem Zwang der psychologischen Erwägung verstanden werden, wenn Descartes sagt, daß in all unseren Ideen, rein als solchen betrachtet, nichts sei, „was dem Geiste, oder der Fähigkeit des Denkens nicht eingeboren wäre". Es werden dann ja auch die Ideen des „Schmerzes" und andere Empfindungen als „eingeboren" bezeichnet! (D V I I I 3 5 8 ; III, 418; IV, 183/4). Ein Versuch, die psychologische und die logische Feststellung terminologisch und sachlich einander übereinstimmend zu machen, wie etwa Entsprechendes in dem Leibnizischen Monadenbegriff angestrebt wird, ist bei Descartes nicht zu finden. — Wie locker übrigens unter diesem psychologischen Gesichtspunkte die Beziehung der eingeborenen I d e e zur sinnlichen Empfindung wird, das zeigt sich an einer anderen Stelle, wo als Beispiel die Idee Gottes angeführt wird, die durch die ihn .bezeichnenden „Worte" oder „Gemälde" in uns erweckt werden
X 18
Das „wahre" Dreieck im gezeichneten
In dem sinnlich Gegebenen, an ihm kann der Intellekt zur Entfaltung seiner eigenen reinen Gestaltungskraft kommen: denn; im S i n n l i c h e n s e l b s t s t e c k t ein B e z u g a u f d i e eingeb o r e n e n Ideen. Die mathematischen Figuren z. B. können, bei aller ihrer „reinen" Gültigkeit, doch in äußeren Dingen wahrgenommen werden. Der Triangel, wie wir ihn auf dem Papier gezeichnet „sehen", liefert allerdings nicht aus sich heraus schon den echten Begriff des Dreiecks, den wir wissenschaftlich zu bestimmen haben: aber dieser kann sich doch an jenem Bilde, „bei Gelegenheit" der gesehenen Zeichnung in uns gestalten. „Jene Figur könnte uns nicht lehren, auf welche Weise der wahre Triangel, wie er von den Geometern betrachtet wird, gefaßt werden muß, weil er darin nicht anders enthalten ist, als ein Merkur im rohen Holzblock. Aber weil s c h o n v o r h e r in uns d i e I d e e des w a h r e n D r e i e c k s w a r , und diese l e i c h t e r von unserem Geiste begriffen werden konnte, als die mehr z u s a m m e n g e s e t z t e F i g u r d e s g e z e i c h n e t e n D r e i e c k s , so erfassen wir, wenn wir jene zusammengesetzte Figur betrachten, nicht sie selbst, sondern vielmehr den Triangel." Hier kündet sich, innerhalb der rein subjektiven Erörterungen, der logische Grund an, weshalb die sinnlichen Vorstellungen bei aller ihrer Verschiedenheit von den eingeborenen dennoch für diese die Erweckungsgelegenheit abgeben können: sie sind selbst als zusammengesetzte Vorstellungen aufzufassen, in denen jene „einfachen", reinen Momente als Konstituentien enthalten sein müssen. Man wird an jene Bestimmung der „Regeln" erinnert, wonach die Komplexion der Einfachen mit den „als zusammengesetzt erfahrenen" Erscheinungen konfrontiert werden sollte; wonach die im reinen Begriff erfaßte „Mischung der einfachen Naturen" die sinnlich perzipierten „Wirkungen" sollte „produzieren" können. 1 ) Eine andere oft wiederholte methodische Bestimmung aus den Entwicklungen der „Metaphysik" gibt das Mittel an die Hand, solches Erschauen des Reinen am gegebenen Einzelnen einem allgemeineren logischen Zusammenhange einzuordnen. Auch hier bieten die „Regeln" wenigstens den ersten Ansatz. In jenem Beispiel für die Enumeration, das die Erkenntnis eines geometrischen Satzes in der „Induktion" aus einigen könne! (D VIII2,361). Vgl.noch C h r i s t i a n s e n , Das Urteil bei Descartes, S. 94ff. und L i a r d , Descartes S. 226ff. ») D VII, 382; X , 4 2 7 .
Gewinnung des Allgemeinen aus dem Besonderen
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besonderen Figuren entstehen ließ, wurde eine erste, noch im Felde des „reinen Objekts" verbleibende, Andeutung gegeben für die Formulierung eines wissenschaftlichen Induktionsbegriffs. Das Allgemeine sollte am einzelnen Fall gewonnen, d. h. im einzelnen Fall sollte die „einfache" Grundlage entdeckt und aus ihm herausgehoben werden. Die Erfahrungslehre würde nur die Bestimmungen hinzuzufügen brauchen, die sich mit der besonderen Natur des einzelnen Falls ergeben, wenn er als sinnlich perzipierter, „als zusammengesetzt erfahrener" gedacht werden soll. Es ist das gleiche logische Motiv, in der gleichen Allgemeinheit der Fassung, das in der „Metaphysik" unter dieser Formulierung uns entgegentritt: es sei „allgemein die Natur unseres Geistes, daß er die allgemeinen Sätze aus der Erkenntnis der besonderen bildet". 1 ) Ein Irrtum ist es zu glauben, „daß die Erkenntnis der besonderen Sätze immer von den universalen deduziert sein müsse', gemäß der Ordnung der Syllogismen in der Dialektik". Der methodische W e g der „wahren Logik" fängt eben nicht schlechthin bei dem Grundlegenden, dem „Einfachen" an: die Analyse geht der Deduktion voraus. Die Analyse, die „Teilung" gelangt vom einzelnen Fall, vom gegebenen Problem zu den prinzipiellen Bedingungen, die dann als solche über diesen einzelnen Fall hinaus auf andere Erkenntnisse erstreckt werden können. Wir sahen schon früher, daß insofern die analytische Methode vorwiegend die der Forschung, des „Findens" ist, im Gegensatz zu jener „Dialektik", wie zur deduktiven Begründung überhaupt. Daß das „Einfache" aus dem gegebenen Komplex, sei er nun als selbstgestelltes Problem oder als sinnlich Erfahrenes gegeben, herausgewonnen, in ihm „gefunden" wird, das bedeutet in der Terminologie der „Metaphysik": daß die grundlegende „eingeborene Idee" „bei Gelegenheit" der einzelnen Vorstellungen, vor allem der sinnlich erfahrenen oder der imaginierten, „erweckt", selbständig aus dem Komplex herausgestellt werden kann. Das Beispiel vom gezeichneten Dreieck deutet ausdrücklich darauf hin, daß hier nicht von einer Zusammensetzung des Einzelnen zur Gewinnung des Allgemeinen etwa die Rede sein kann, daß nicht etwa die prinzipielle Bestimmung auf das logisch vorhergehende Einzelne sich zu stützen hat — das gezeichnete Dreieck ist ja das Komplexe gegenüber dem „einfachen" Begriff des ») D VII, 140/1.
I20
Analytischer Ausgang vom Einzelnen
„wahren" Triangels. Die „Ableitung" des Allgemeinen aus dem Einzelnen ist durchaus im Sinne jener früheren Bestimmungen zu denken: die grundlegenden Erkenntnisse werden den einzelnen nicht „entnommen", sondern nur in ihnen gefunden ; ihrem Geltungswert nach muß der Geist sie aber schon „vorher" gehabt haben. 1 ) Die Wahrheit selbst fängt nicht bei dem Einzelnen an, sondern bei dem Allgemeinen; aber um sie zu „suchen", um sie zu „finden", kann man nicht von dem Allgemeinen den Ausgang nehmen, sondern hier „ m u ß m a n i m m e r b e i d e n b e s o n d e r e n B e g r i f f e n b e g i n n e n , um d a n a c h zu d e n a l l g e m e i n e n zu g e l a n g e n , o b g l e i c h man dann, w e n n m a n d i e a l l g e m e i n e n g e f u n d e n h a t , d a v o n umg e k e h r t wieder a n d e r e b e s o n d e r e deduzieren kann. S o , wenn man einem Kinde die Elemente der Geometrie lehrt, wird man ihm nicht im allgemeinen . . . ein Axiom . . . zum Verständnis bringen, wenn man ihm nicht Beispiele davon an einzelnen Fällen aufzeigt". Der deutliche Anklang dieser Ausführungen an die klassische Stelle im platonischen „Menon" zeigt es unmittelbar, wie hier die idealistische Grundtendenz im sokratisch-platonischen Begriff der „Hinführung" aufgenommen wird. 2 ) Ist das Allgemeine einmal gewonnen, die „eingeborene Idee" zu aktuellem Bewußtsein erwacht, so soll also das Einzelne daraus sich deduzieren lassen. Es muß daher der reine prinzipielle Begriff irgendwie zu ihm sich hinunterführen lassen. Die „Regeln" stellten daher die „Mischung" der Einfachen in ihren notwendigen Verbindungen dem erfahrenen Komplex gegenüber und forderten eine Übereinstimmung zwischen diesen „Dingen". Schon bei den „Einfachen" aber war der Schein der Isoliertheit schwer zu überwinden. Die „notwendige V e r bindung" konnte nur so zu einem wahrhaft innerlichen und zentralen Moment der Erkenntnis werden, daß sie in den Begriff des Einfachen selbst hineingezogen wurde. Das eine „Einfache" sollte im anderen „auf eine gewisse verworrene Weise" „impliziert" werden. Daneben aber trat dieser Begriff eines In-sich-Schließens noch in anderem Zusammenhange auf: ') Unter diesem Gesichtspunkt der Anamnesis muß auch die A b leitung des Wahrheitskriteriums aus einer einzelnen Erkenntnis (D VI, 33; VII, 35) verstanden werden. A u s der ersten gewissen Erkenntnis, auf die die „Metaphysik" stößt, wird das allgemeine Moment der Evidenz, des „Klaren und Dibtinkten" analytisch herausgeholt. *) D IX, 206; VII, 140/1.
Abstieg zu den Einzelerkenntnissen durch Explizieren
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-das Dreieck, das selbst als eine „Mischung oder Zusammensetzung" von „einfachen Naturen" anzusehen ist, muß in seiner „Erkenntnis" jene „bekannteren" Grundlagen „enthalten", „da diese es sind, welche in ihm eingesehen werden". Auch wenn man niemals daran gedacht habe, daß der Begriff des Dreiecks alle diese Momente in sich beherbergt, so seien sie doch ebensogut darin „ i n v o l v i e r t " , a l s die „ u n z ä h l i g e n R e l a t i o n e n " , wie sie in den geometrischen Sätzen vom Dreieck zutage treten. E s heißt sogar von solcher komplexen Erkenntnis, entgegen dem sonstigen Gebrauch dieses Terminus, daß sie oft „leichter" zu ergreifen sei, als die in ihr enthaltenen Konstituentien. 1 ) Beide Begriffe des Implizierens werden nun in dem Begriff der „eingeborenen Idee" (als deren Beispiel ja auch das Dreieck oft genug auftritt) verschmolzen. Die Gefahr der Isolation ist für diese Erkenntnisgebilde weit größer noch als für die reinen Grundlagen in der Formulierung des „Einfachen" und „Absoluten". Das Moment der „notwendigen Verbindung" scheint hier aus der Grunddefinition der konstituierenden Begriffe gänzlich verbannt. Tatsächlich stehen in den gelegentlichen Beispielen eingeborene Ideen, die dazu meist noch einen völlig divergenten Inhalt vertreten, nebeneinander, ohne daß eine Möglichkeit einzusehen wäre, sie miteinander, in einer wahrheitsgemäßen Notwendigkeit, zu verbinden. 2 ) ») D X , 421 f. ') Die Gefahr einer isolierten Auffassung der „eingeborenen Ideen", die Schwierigkeit, zwischen ihnen Verbindungen herzustellen, die doch selbst wieder Erkenntniswert haben sollen, tritt ganz offen zutage in eben jenem Begriff der „idea facta vel fictitia". Das Dreieck gilt als eingeborene Idee, als „wahre und unveränderliche Natur"; ebenso das Quadrat. Die Verbindung von Dreieck und Quadrat, etwa im Begriff des dem Quadrat einbeschriebenen Dreiecks geschieht offenbar durch ein „Tun" des Intellekts, das als solches durch keine der beiden Ideen notwendig gefordert wäre. Dennoch aber zeigt die wissenschaftliche Tatsache, daß aus dieser Verbindung Wahrheiten, Sätze sich ergeben, die ebenso notwendig sind, als die Sätze vom Dreieck oder Quadrat, sofern diese Figuren einzeln für sich betrachtet werden. Wenn man genau das „examiniert, was aus der Verbindung beider entsteht, so sieht man, daß dessen Natur nicht weniger wahr und unveränderlich sein muß, als die des Quadrats oder Dreiecks allein" (D VII, n7f.). Dieselbe Schwierigkeit ist in dem Beispiel von der astronomischen Idee der Sonne zu bemerken. Trotz dieser Einsicht vermag Descartes der Frage keine eindeutige klare •Lösung zu geben. Der Begriff der eingeborenen Idee hat bei ihm ebensowenig wie der des „Einfachen", trotz aller Verbindungstendenz, den isolierten Charakter je gänzlich verleugnen können.
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Begriff des Implizierens
Es ist das Moment des I m p l i z i e r e n s , in dem Descartes trotzdem die alte Tendenz der „notwendigen Verbindung" fortzusetzen sucht, jene Richtung auf den Zusammenhang der Erkenntnis, in dem alles Einzelne seinen Sinn und seine methodische Gewähr erhalten muß. Die „eingeborene Idee", die bald nach Art der „Mischung", wie das Dreieck eine solche darstellt, bald ganz dem bloßen „Einfachen" analog gedacht wird (für die bloße Frage des Erkenntnis w e r t es, wie sie das Grundmotiv in diesem Begriff bildet, ist die Unterscheidung ja irrer levant, dafür ist allein die Tendenz des „Reinen" das Entscheidende), soll eine „Komplexion" unzähliger einzelner Bestimmungen „in s i c h e n t h a l t e n " . Alles das, was mit Notwendigkeit von ihr ausgesagt, aus ihr entwickelt, mit ihr zusammengebracht werden kann, muß „zu i h r e m B e g r i f f g e h ö r e n " . Jede Einzelbestimmung, zu der man von der „eingeborenen Idee" aus in der Forschung gelangt, ist in der „wahren und unveränderlichen Natur", die sie bedeutet, „enthalten". In ihrem zusammenfassenden Wertausdruck sind zugleich alle die Folgerungen, — wie sie z. B. gegenüber der Idee des Triangels die unzähligen geometrischen Relationen bedeuten, die aus ihr sich ergeben, — notwendig miteinander verbunden". 1 ) Daher können alle diese Inhalte aus der „eingeborenen Idee" „hervorgeholt", aus ihr „eruiert" werden, wie sie ja selbst erst aus der „Fähigkeit des Denkens" hervortritt. Das, was ich „früher nicht in ihr bemerkte", was aber implizit doch in ihr lag, das wird von uns im Fortschritt des Erkennens expliziert. So hat ein „der Geometrie Unkundiger die Idee des ganzen Dreiecks, wenn er einsieht, daß es eine in drei Linien eingeschlossene Figur ist, wenn auch von den Geometern vieles andere von demselben Dreieck erkannt und in seiner Idee bemerkt werden kann, was von jenem nicht gewußt wird". Die Idee wird durch die hinzukommende Erkenntnis nicht eigentlich „vermehrt, sondern nur distinkter und ausdrücklicher gemacht, weil alles in eben jener, welche man schon vorher hatte, hat enthalten sein müssen, wenn nämlich sie wahr gewesen sein soll . . . Die Idee des Dreiecks wird nicht vermehrt, wenn die ') Vgl. zu „contineri in ..."DVII, 107, 110, n6ff., 121, 135, 137, 152,
156, 165 f., 225, 355 etc.; zu „fertmere ad . . . " VII, u s f . , " 8 , 141, 150,
152, 219, 225f., 355. Außerdem „coniuncta cum ..." VII, 117, 255; „connexa",.
„copulalio", „simul iuncta" etc. VII, 117, 119, 178, 423.
„Enthaltensein", „Abstraktion" und „Negation"
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verschiedenen Eigenschaften darin bemerkt werden, die vorher unbekannt waren". 1 ) Für den Erkenntniswert dieses Erfolgens, dieser Verbindungen und für die nähere Bestimmung solchen EnthaltenSeins, das darum eben doch nicht für das Verständnis der Begriffe selbst stets das Eingehen auf das darin Implizierte oder damit Verbundene fordert, greift Descartes hier wiederum auf jene negative Formulierung solcher sachlichen Notwendigkeit zurück, die in den „Regeln" derselben Doppelwendung entsprungen war. Wohl kann man die eingeborene Idee „klar und distinkt" und in ihrer Ganzheit erfassen, ohne der einzelnen Bestimmungen sich bewußt zu sein, die mit ihr verbunden sind (wie es ja auch von den „Einfachen" hieß, daß wir sie ganz besitzen, sobald wir „auch nur etwas von ihnen im Geiste berühren") — aber man kann sie nicht richtig, in ihrer Wahrheitsgeltung, begreifen, w e n n m a n j e n e b e s o n d e r e n B e s t i m m u n g e n v o n ihr „ n e g i e r t " . Solcher Versuch, das sachlich Zusammengehörige „real" zu unterscheiden (nicht „durch Abstraktion", im Absehen von dem einen oder anderen Momente, sondern durch eine Negationsbestimmung), führt den „Widerspruch", das negative Korrelat zu der Notwendigkeit jenes „Enthaltenseins", jenes „Zugehörens" herauf. 2 ) So wird die „eingeborene Idee" ganz im Sinne der Methodenlehre zum Grundausdruck für alle Notwendigkeit und Gewißheit der Erkenntnis. Was auch jene anderen Inhalte des „Bewußtseins" für die Erkenntnis zu bedeuten haben: die eigentliche Bestimmung muß überall und immer aus diesen reinen Grundlagen, diesen Schöpfungen der „Fähigkeit des Denkens" entspringen. d) D a s I c h und d i e E x i s t e n z . In dem vielspältigen Gewebe der Cartesischen „Metaphysik" haben wir die fundamentalen systematischen Züge wiedererkannt, die von allem Anfange an Descartes' philosophische Grundeinstellung charakterisierten. In einzelnen Ausführungen dieser „ersten Philosophie" fanden wir alle jene allgemeinen Begriffsbestimmungen wieder, in denen die Methodenlehre nach der einen Seite die Sicherheit und Bestimmtheit der Erkenntnis, nach der anderen ihre Forschungskraft, ihr Zureichen vor allem >) D VII, 368, 371; III, 383. D VII, 117, 225; 150—152, 188.
2)
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cogito ergo sunt
für die Probleme der Erfahrungswissenschaften zu gewährleisten suchte. Bei aller terminologischen Verschiebung, bei allem scheinbaren oder wirklichen Wechsel der Fragestellung im einzelnen erwies sich für die Grundbeziehungen der Erkenntnislehre auf den beiden Stadien der Cartesischen Philosophie die innerste sachliche Übereinstimmung. Aber jene Momente des „reinen Intellekts" und des Erkenntnisbewußtseins, und was in diesen Problemkomplexen an einzelnen Formulierungen sich ergab, bedeuten doch nichts weniger als das Ganze der Cartesischen Metaphysik. Die allgemeinen methodischen Erörterungen der „Regeln" schließen mit jener Untersuchung des Erkenntnissubjekts und der Erkenntnisinhalte ab. Die Metaphysik aber bleibt nicht bei dem Problem der „Seele", als ihrem ersten Prinzip stehen: der G o t t e s b e g r i f f , der in jener Methodenlehre keine Stelle hatte, bildet das zweite Fundament für die Wissenschaften; und erst in ihm ergeben sich eigentlich die sicheren Beziehungen des Subjekts zur wirklichen und begründeten Erkenntnis, zur Erkenntnis vor allem der „materialen" Dinge — so wie nun eben der Autor der „Meditationen" diese Beziehung und Begründung versteht. Dieser Aufbau der Prinzipienlehre aber weist wieder zurück auf andere Momente innerhalb des ersten Prinzips, des Cogito selbst, dessen Inhalt in den beiden Bestimmungen des Intellekts und des Erkenntnisbewußtseins auch nicht etwa erschöpft ist — wie es denn schon immer auffallen mußte, daß wir in unserer abstraktiven Betrachtungsweise den Nachsatz des „sum" gar nicht berücksichtigten. Es ist tatsächlich dieser Ausdruck, in dem sich alle Tendenzen zusammenfassen, die dem Begriff der Seele, des Ich in der konkreten Ganzheit seiner Bedeutungen ein von jenen systematischen Grundbestimmungen so abweichendes Gepräge verleihen. Die Erkenntnis und ihre Grundlagen, wie sie die Methodenlehre bestimmt hatte, schien Descartes in der klaren Abgrenzung ihres Problems und der damit erreichten Selbständigkeit dennoch des realen Fundaments zu entbehren, das für eine wahrhafte Sicherung und Begründung der Erkenntnis in ihrer Gesamtheit, in ihrem eigenen Begriff erforderlich ist. So sehr, wie wir sahen, die Methodenlehre sachlich auf systematischem Boden sich aufbaut — so kann man doch aus vielen Formulierungen schließen, daß Descartes, seinem ausdrücklichen Bewußtsein nach ihr Problem mehr als ein spezielles
Forderung von Seins-Fundamenten
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Anliegen der „Logik", als einer instrumentalen Wissenschaft, sich gedacht, daß er die „Regeln" eigentlich mehr zur Fixierung einer praktisch nutzbaren Methodologie, als zur Auszeichnung des Methodenproblems im Sinne fundamentaler systematischer Fragestellung geplant hatte. Jene Beschränkung auf die Dinge, soweit sie Gegenstände der Erkenntnis sind, jenes Absehen von den „Arten des Seins", in dem das Ausgehen von der „Sonne" der „menschlichen Vernunft" gegen alle Ontologie sich abgrenzte, mochte dem Denker doch andererseits wieder als eine Einengung der philosophischen Befugnis erscheinen, die zu der Eindeutigkeit und Klarheit der Formulierungen eben nur auf Kosten eines allzu abstrakten, des realen Fundaments entbehrenden Erkenntnisbegriffs gelangen konnte. Das wahre Fundament aber suchte er nun doch schließlich im Sein: und eben in ihm nicht als dem Vorwurf und Inhalt der Erkenntnis, sondern als der realen Unterlage, dem konkreten substanziellen Träger jener ideellen und abstrakten Gebilde, die selbst aus diesem Boden erst entsprießen. Andeutungen innerhalb der „Regeln" selbst weisen, wie wir sehen werden, mit aller Bestimmtheit darauf hin, daß Descartes schon auf dieser Stufe seiner Entwicklung zur eigentlichen Sicherstellung des Begriffs von der „menschlichen Erkenntnis" und ihren Inhalten Seinsgrundlagen voraussetzte und auf sie sich zu stützen glaubte — ontologische Fundamente, die eben nur in jener Herausarbeitung bloßer „Vorschriften" für das Erkennen nicht ausführlich behandelt werden sollten. Das Bedürfnis eines Seins-Fundamentes heftet sich sogleich an das „erste Prinzip" des Cogito. Bei dem reinen Erkenntnisursprung des „Intellekts" sollte es ebensowenig bleiben wie bei dem „Bewußtsein" als dem zusammenfassenden Ausdruck für jene drei „Erkenntnisfähigkeiten". Die Definitionsbestimmungen, die wir für dieses Bewußtsein und seine Inhalte, die Ideen, anführten, zeigten schon in ihrer Fassung das Hinausgehen über solche rein logisch dirigierte Betrachtungsweise. An die Stelle der Problemausdrücke für das subjektive Korrelat zum Erkenntnisgegenstande, wie wir sie in den „Regeln" fanden, trat hier ein Begriff des Subjekts, der seine konkretere Definition der Unmittelbarkeit des S e l b s t b e w u ß t s e i n s zu entnehmen suchte. Alles, „dessen wir uns in uns immediat bewußt sind", sollte zum Ich, zum Cogito gehören. Das „Denken" selbst bezeichnet nichts anderes als diesen Charakter innerer Bewußtheit, der allen meinen Vorstellungen anhaftet. Sinne und Imagination ge-
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Selbstbewußtsein
hören nicht deshalb zum „Bewußtsein", weil sie die Erkenntnisbeziehung des Intellekts zu den materialen Dingen fixieren, sondern weil ihre Inhalte, so gut wie die des „reinen Intellekts", so gut aber auch wie die „Operationen" des „Wollens", des „Zweifeins", uns „immediat bewußt" sind. Ihr Geltungswert für das Zustandekommen der Erkenntnis kommt für diesen Gesichtspunkt nicht unmittelbar in Frage. Selbst die Operationen „des Gehens" oder „Essens", insofern wir ein Bewußtsein von diesen unseren Tätigkeiten haben, gehören zu diesem Begriffe vom Ich. Ob die Inhalte, von denen ich mir bewußt bin, daß ich sie wirklich vorstelle, auch eine reale Erkenntnisgültigkeit haben — die Frage bedeutet für diesen Begriff des Cogito ebensowenig, wie die Unterscheidung des wirklichen „Gehens" von einem bloßen Schein des Gehens, wie ihn der Traum uns vorspiegelt. Wenn es von diesem Erfassen im Selbstbewußtsein heißt, daß es „nicht falsch" sein könne, so haben wir dies wiederum so zu verstehen, daß solche bloße Konstatierung tatsächlichen Erlebens noch gar nicht unter dem Gesichtspunkt von Wahr und Falsch stehen kann.1) Diese psychologische Fassung des Subjektbegriffs mit all ihrer logischen Unbestimmtheit kündet sich sogar schon in den „Regeln" an: als Beispiel für die „intellektualen Dinge", die der Geist durch die „reflexive Kontemplation seiner selbst" ergreift, wird neben den Begriffen der „Erkenntnis", des „Zweifelhaften" und des „Nichtwissens" auch „die Handlung des Willens, die man volitio nennen kann", angeführt.2) Wenn auch dann später für diese „Operation" der Seele eine Beziehung zum Erkennen gesucht wird — nach den „Regeln" selbst hat der Wille durchaus keinen Platz in der Erkenntnislehre3) — , so wird sie eben doch nicht als Erkenntnisfähigkeit eigentlich zuerst fixiert und in dieser Bedeutung dann unter einem logischen Bewußtseinsbegriff befaßt — vielmehr sollen alle diese „Vermögen" aus der „immediaten" inneren Perzeption, aus dem Selbstbewußtsein heraus ergriffen und erst dann für die weiteren Beziehungen zur Erkenntnis bereitgestellt werden. Es wird hier nun auch sogleich klar, welch eigentümliche Zweideutigkeit jenem Begriffe der „contemplatio reflexa," anhaftet, jener Bestimmung, daß der „Geist" — oder der „Intellekt", wie es meist sogar hieß — „sich auf sich selbst wendet" ') Vgl. D VII, 29, 35; VIII, 7/8; II, 38; etc. 3)
Vgl. D X , 370.
2)
D X , 419-
cognitio interna
127
und so das „intellektuale Ding" in sich selbst „erschaut".1) Wenn die Meditationen in ihren Beispielen für das Intellektuale auch die Erkenntnis „meiner selbst" anführen,2) so bedeutet dies nicht rein und unzweideutig die Erkenntnis von der „reinen" Grundlage alles wahren Wissens im „natürlichen Licht" der „menschlichen Vernunft" — wie doch der junge Descartes diese Richtung in aller Bestimmtheit einschlug, wenn er durch den konkreten Ausdruck des „Ich-Selbst" zum Erkenntnisfundament der „bona mens11 und der „universalen Weisheit" vordrang —: hier geht diese reflexive Wendung vielmehr im buchstäblichen Sinne auf mein Ich, das ich immediat mit allen meinen Vorstellungen zugleich perzipiere, dieses Ich-Selbst, das sich meiner inneren „Kontemplation" mit Evidenz als bleibender Bestand in allem Wechsel der Inhalte darstellt. Das „Ich" ist hier nicht Durchgangspunkt, sondern Endziel, nicht Problemausdruck für ein fundamentales logisches Prinzip, sondern Gegenstand, O b j e k t der Erkenntnis im gewöhnlichen Sinne. Auch hierfür bieten wieder die „Regeln" den ersten Ansatz. Neben jener logischen Formulierung, daß der Intellekt deshalb für alle Erkenntnis das „Leichteste", das „Bekannteste" sei — d. h. aber eben das Fundamentalste — „weil von ihm die Erkenntnis alles Übrigen abhängt und nicht umgekehrt", findet sich auch die Wendung, daß es deshalb so schwierig nicht sein könne, den Geist und seine „Grenzen" zu bestimmen, weil wir „ihn in uns selbst fühlen". 3 ) Und in der „Recherche" wird selbst der sonst so eindeutige Ausdruck des „gesunden Verstandes" für diese Art von Erkenntnis in der immediaten inneren Perzeption und ihre „Evidenz" verwandt! 4 ) Die Forderung der „Selbsterkenntnis", die für den Anfang der Metaphysik, als der Grundlegung für alles Wissen, die logische Tendenz jener „reflexiven Kontemplation" auf die Erkenntnis von der Erkenntnis selbst fortsetzte, sie vollendete in der Errichtung eines fundamentalen Subjektbegriffs und eines exakten Kriteriums in diesem — sie zielt doch nicht rein und in durchgängiger Bestimmtheit auf solche methodische Auszeichnung der Erkenntnisfunktion, sondern zugleich stets auch auf die „cognitio interna", dieses „intime" „ B e m e r k e n " der eigenen Bewußtseinstätigkeit. Auch jenes Verbleiben des Intellekts „rein in sich selbst" bei der Erkenntnis der intellektualen Dinge hat diese Nebenbedeutung, die durch den Ausdruck des Selbst') Vgl. D X, 422 f.
•) D VII, 29.
») D X, 398.
*) D X, 521.
128
E v i d e n z des „inneren Zeugnisses'
bewußtseins und den einer „inneren Erfahrung" charakterisiert wird. „Einfache" wie „Zweifel", „Denken", „Existenz" (welch letzterer Begriff ja ein „gemeinsamer" ist, und daher hier zu den intellektualen hinzugenommen werden kann) werden auf keine andere Weise erfaßt „ a l s d u r c h die e i g e n e E r f a h r u n g und d a s B e w u ß t s e i n o d e r i n n e r e Z e u g n i s , d a s e i n J e d e r in s i c h e r f ä h r t . " 1 ) Die Tendenz jenes Beispieles vom Wachs, das den Erkenntnisprimat des Intellekts darlegte, wird gleichfalls gelegentlich in diese Betrachtungsweise hineingezogen: „wir können niemals an irgend etwas denken, ohne daß wir zu g l e i c h e r Z e i t die Idee unserer Seele haben, als einer Sache, die fähig ist, an all das zu denken, was wir jetzt denken". 2 ) Und so stellt sich die „Seele" insofern als „bekannter" gegenüber dem „Körper", stellt sich das Cogito insofern als das „erste", das „evidenteste" Prinzip dar, als es gegenüber aller „äußeren", durch den besonderen Inhalt bestimmter „Ideen" vermittelten Erkenntnis den Vorzug der U n m i t t e l b a r k e i t einer „inneren Perzeption", des „inneren Zeugnisses" genießt. An Stelle des logischen Primats erhebt sich der Vorrang der Überzeugungskraft, wie sie dieses „intime", „immediate" „Bemerken" besitzt. Die Vermischung der Gesichtspunkte geht soweit, daß diese „cognitio interna" selbst als eine „eingeborene" bezeichnet, daß die Erkenntnis des „cogito sunt", das unmittelbare Bewußtsein von der Existenz meiner selbst als „denkenden", d. h. eben vorstellenden Wesens als eine „einfache" Erkenntnis der Gewißheitskraft des ,,Intuitus", des „natürlichen Lichtes" zugesprochen wird. 3 ) Gerade D X , 524; vgl. VII, 358 f., 422, 427, 443. S o soll ich, wie es schon jener Formulierung der R e g e l n (X, 419) nicht ganz fern lag, die „gemeinsamen" E i n f a c h e n , w i e z . B . den Begriff der Substanz, deshalb aus der „reflexiven K o n t e m p l a t i o n " meiner selbst gewinnen k ö n n e n , weil ich selbst eine Substanz bin! (VII, 44/5). «) D I U , 394; vgl. VIII, 8. 3) D VII, 35, 38, 140, 145; X , 368; IV, 144; V , 138. Diese Unbestimmtheit in den Begriffen des „Intuitiven" und des „ E i n f a c h e n " , die durch die logische Inexaktheit der Termini als solcher von vornherein begünstigt wurde, hat sich dann soweit gesteigert, daß D e s c a r t e s auch für die Erkenntnis von der „ V e r e i n i g u n g von Seele und K ö r p e r " „einfache", „primitive Begriife" fordert, obgleich er diese Erkenntnis deutlich v o n einer begrifflich-exakten w e g auf das unmittelbare E r f a h r e n verwies, das jeder „immerfort in sich selbst erprobt ohne zu philosophieren", und obgleich man nach dieser Bestimmung für das Erfassen jener Einheit w e d e r des „bloßen V e r s t a n d e s " noch des „ V e r s t a n d e s unterstützt von der Einbildungskraft", sondern nur der „Sinne", des „ L e b e n s und der g e w ö h n -
Ich und Existenz
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a u s dieser T e n d e n z d e r u n m i t t e l b a r e n inneren E r f a h r u n g eines einzelnen „ D i n g e s " heraus w i r d a u c h j e n e „ e r s t e " E r k e n n t n i s i m m e r der syllogistischen A b l e i t u n g e n t g e g e n g e s e t z t . D i e K o n s t a t i e r u n g d e s eigenen Ich als eines f e s t e n B e s t a n d e s innerhalb aller m e i n e r V o r s t e l l u n g e n w i r d , w i e sich s c h o n h e r a u s s t e l l t e , unmittelbar als das erste E r f a s s e n einer E x i s t e n z g e d a c h t , w i e schon der A u s d r u c k d e s „ E r f a h r e n s " auf eine solche obzwar nur innere Wirklichkeitsbes t i m m u n g hinweist. In der „ i n t u i t i v e n " E r k e n n t n i s d e s „cogito sum" wird m e i n D e n k e n mit meiner E x i s t e n z v e r b u n d e n . 1 ) D a ß die „ S e e l e " „ b e k a n n t e r " ist als der „ K ö r p e r " , das soll zugleich h e i ß e n , d a ß i h r e E x i s t e n z u n s g e w i s s e r s e i n m u ß , als liehen Unterhaltungen" sich bedienen soll! (III, 665 ff., 691fr.). Als Beispiele solcher Begriffe werden die „Begierde des Hungers", alle „Leidenschaften der Seele", die „Empfindungen" des „Schmerzes", des „Kitzels" etc. angeführt! (VIII, 23). Und trotzdem bezeichnet Descartes diese „gewisseste und evidenteste Erfahrung", die wir „täglich haben", ganz nach Art der „Einfachen" als eine „von den durch sich bekannten Dingen, die wir nur verdunkeln, wenn wir sie durch andere erklären wollen"! (V, 222). Wie diese „Ideen" des Schmerzes etc. dann auch andererseits als eingeborene bezeichnet werden (VIII 2 , 359). Auch hier wird also eine Gewißheit, die nicht in exakter logischer Begründung gewonnen wird, sondern welche gerade diejenigen in aller Bestimmtheit haben, „die nie philosophieren", dennoch in jene reinen Bildungen der Methodenlehre hineinbezogen. — Es braucht übrigens kaum erwähnt zu werden, wie gefährlich diese Verwischung der methodischen Begriffe und diese Voranstellung der unmittelbaren Gewißheit der inneren Erfahrung gerade im Begriff des Cogito dem Kriterium des „Klaren und Distinkten" werden mußte, das Descartes ja gerade an dieser „ersten Erkenntnis" orientiert wissen wollte. Leibniz hat später nicht müde werden können, immer und immer wieder gegen die logische Unzulänglichkeit und die Gefahr dieses Evidenzprinzips, gerade auch wegen des Bezugs zum „inneren Zeugnis", anzukämpfen. ') Insofern ist die andere Formulierung: „cogito ergo sum." bezeichnender. Descartes wurde zu der ersteren mehr durch den polemischen Gegensatz gegen alle syllogistische Auffassung gedrängt; die Unmittelbarkeit dieser „intuitiven" Verbindung, die darum doch, als Verbindung, „Deduktion" heißen könnte, sollte auch in der Formulierung zum Ausdruck kommen. — Für die Vermengung der Betrachtungsweisen in diesem Begriff des „Intuitiven" ist es charakteristisch, daß Descartes, obgleich er diese Beziehung der Existenz auf das Ich, „insofern ich denke", als „notwendig" bezeichnet (VII, 25), dennoch sie durchaus nicht als „notwendige Verbindung" denken will, die ja für den Existenzbegriff allein mit der Gottesidee herzustellen sein soll. Es zeigt sich eben schon hier, wie die so gefaßte „innere Erfahrung" seiner eigentlichen Erfahrungstheorie und ihrer Art, das Wirkliche zu bestimmen, durchaus zuwiderläuft. C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VI
9
IßO
„Unsere Seele existiert"
die irgend welcher körperlichen Dinge, unter ihnen auch des eigenen Körpers, weil wir sie in der inneren Perzeption unmittelbar gegenwärtig haben. Der Zweifel nimmt daher die ausdrückliche Direktion gerade auf die E x i s t e n z . Schon in den „Regeln" trat er nicht nur als Bürge für den Unterschied von Wahr und Falsch auf, sondern zugleich sollte er dadurch den „festen und unbeweglichen Punkt" abgeben können, daß man im Zweifeln doch an der Tatsächlichkeit dieser „Operation" selbst nicht wiederum zweifeln könne. 1 ) In allen späteren Zweifelsbetrachtungen steht dies Moment durchaus im Vordergrunde : durch den Zweifel an allem „Sinnlichen" wird unmittelbar gewiß, d a ß ich zweifle, dadurch aber zugleich, daß Ich, der ich zweifle, bin ! Der „archimedische Punkt" des Cogito ist insofern nicht reines Prinzip, sondern ein „Ding" im eigentlichen Sinne des Wortes 2 ); die „intelligible" Seele soll hier wirklich als „Ding", als „Sache" verstanden werden. Das „erste Prinzip" wird auch so formuliert: „ u n s e r e S e e l e e x i s t i e r t " . 3 ) Nichts gibt es, „dessen Existenz uns bekannter wäre". So wird das Einheitsgesetz der Erkenntnis als der Methode der „menschlichen Vernunft" unter diesem Gesichtspunkt (der aber, wie wir sahen, eben nicht der einzige in der „Metaphysik" ist) zu der Einzigkeit einer „primordialen Existenz". 4 ) Und in dem Bemühen, den Erkenntnisgrund realer zu fundieren, als der bloße Ausgang vom „reinen Licht" es vermöchte, in dem Versuche, das Subjekt in substanzieller Konkretheit zu fassen, wird jener Einheitsgrund aller Erkenntnis zu der „einzigen und identischen Kraft", die in meinem Ich sich den verschiedenen „modi cogitandi" unterlegt; wird er auch als „Unteilbarkeit" meiner individuellen, existierenden Seele gefaßt. 5 ) Wenn ich das Wachs erkenne, so erkenne ich zugleich und vor allem, „weit klarer noch", mein eigenes Dasein, sehe ich mit der allerunmittelbarsten Evidenz, daß „mein Geist existiert". 6 ) Daß dieses Ich im strengen Sinne als mein individuelles festgehalten wird, das geht neben jenen Definitionen des Selbstbewußtseins vor allem aus dem Gegensatz hervor, den der Zweifel zwischen mir und allen Dingen „außer mir" herstellt ») D X , 4 2 1 . ') D X , 5 1 3 — 5 1 5 , 5 2 1 , 527, 5 3 2 e t c . ; I, 353») D I V , 4444 ) vgl. P . N a t o r p , „ L e développement de la pensée . . . " d e M e t a p h . I V p. 418/9, 427. •) D X , 4 1 5 ; V I I , i3, 86; I I I , 124. •) D V I I , 3 3 ; V I I I , 8.
Revue
„Außer mir"
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— in welcher Außenwelt ebensowohl die „köperlichen Dinge" als andere „Seelen" begriffen sind. Der Zweifel läßt es zunächst durchaus noch offen, ob es „außer mir" noch andere, „von mir verschiedene" „Geister in der Welt gibt". 1 ) W o immer in diesen Betrachtungen allgemeinere Formulierungen einsetzen, da haben wir jene logischen Tendenzen zu erkennen, die wir bereits betrachtet haben. Hier handelt es sich nicht um den Gegensatz von Fundament und Aufbau, von „reinem" und angewandtem Intellekt, auch nicht um die Korrelation des „Wir, die wir der Erkenntnis fähig sind", zu den „Dingen, insoweit sie erkannt werden", — hier stehen sich unvermittelt die unzweifelhafte Existenz meiner „Seele" und die fragliche anderer Dinge, „von mir verschiedener" Wesen gegenüber. Alle Sicherheit, alle Evidenz fällt in diesem „ersten Prinzip" „auf meinen Zweifel und mich selbst", d. i. auf meine Existenz; alle Fragwürdigkeit dagegen auf all das, was etwa außer meinem unmittelbaren Bewußtsein vorhanden sein mag. 2 ) Daher spielt das Traumargument, das in jener rein logischen Betrachtungsweise wenig Bedeutung haben konnte, für diese Fassung des Cogito eine so große Rolle; indem ich mich auf meine individuelle Existenz besinne, drängt sich mir die Erwägung auf, daß alle Dinge, die ich als „mir fremd", als „außer mir", als „außer dem Intellekt" bestehend ansehe, nichts als „Träume", d. h. daß sie eben nicht selbst existierende Dinge sind, sondern nur Inhalte meines Selbstbewußtseins. 3 ) So aber wird das ganze Gewicht der Metaphysik, soweit sie eben doch in allen ihren Aufstellungen Erkenntnislehre sein will, auf das Problem von der Existenz außer mir befindlicher Dinge geworfen. V o n dem absoluten Gewißheitspunkte der eigenen Existenz aus soll der Übergang gewonnen werden zur Außenwelt — ein Übergang, der nun eben ein solcher der Erkenntnis sein soll. Wie die „äußeren" Dinge von mir erkannt werden können, welche Gewähr in meinem individuellen Bewußtsein selber sich dafür auffinden läßt, daß meine „Ideen" nicht „Träume" sind, sondern etwas wahrhaft Existierendes bezeichnen, und inwieweit sie für deren Erkenntnis Gültigkeit haben, das tritt uns als das zentrale Problem in der komplexen Darstellung der Metaphysik entgegen. Alle weiteren Entwicklungen werden zur Lösung dieser Grundfrage ersonnen. 4 ) 2) D X, 525; VII, 12. ») D VII, 14, 25, 42, 142/3. ') D VII, 22/3. 4) Vgl. D VII, 42; Natorp, Le développement. . . 422, 428; C a s s i r e r , Erkenntnisproblem I, 422/3.
9*
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Erkenntnis als Abbildung
Es muß dies sogleich vorweggenommen werden, daß unter solchem Gegensatz des Ich mit seinen „Ideen" einerseits und' der wirklichen existierenden Welt der Dinge andererseits der Sinn der Erkenntnis nun doch in einer Art von A b b i l d u n g dieser Dinge in jenen Vorstellungen gesucht wird. So sehr Descartes an dem Gegensatz gegen allen Sensualismus festhält, so sehr er immer wieder betont, daß es der „hauptsächliche Irrtum" sei, die sinnlichen Vorstellungen für getreue Abbilder der Dinge zu halten: sein Erkenntnisbegriff, soweit er unter jenem dualistischen Gesichtspunkte steht, kann doch nicht umhin, die „wahren Ideen" als „Bilder" des Wirklichen, als den existierenden Dingen „ähnlich" zu denken. So gilt ihm auch die astronomische Idee von der Sonne eben doch wieder als ein „Abbild" von ihr — als das „wahre", das der wirklichen Sonne „ähnliche", gegenüber dem Trug der sinnlichen Vorstellung, dem „kleinen" Bilde der Augen. Das erkennende Subjekt und die Welt, die erkannt werden soll, treten eben hier in gesonderte Existenzen auseinander. Während die „Regeln" mit ihrer sachlichen Korrelation zwischen dem „Wir" und den „Dingen, soweit sie erkannt werden", schlechterdings innerhalb des Bereichs der Erkenntnis und ihrer Kriterien verbleiben konnten, bedarf es hier einer eigenen Beziehung zwischen dem „Ich" und der Außenwelt. Eben diese soll, als eine E r k e n n t n i s b e z i e h u n g , jener Begriff des „ähnlichen. Bildes" herstellen.1) Es hieße allerdings auch von dieser Seite wiederum den Standpunkt der „Regeln" weiter von dem der „Metaphysik" abrücken, als es der historischen Tatsächlichkeit entspricht, wollte man in jener frühen Schrift jede Spur ableugnen von dem Dualismus, der mit dem „cogito sunt" der „ersten Philosophie" ganz offen eingeführt wird. Vielmehr haben wir, wie schon erwähnt, anzunehmen, daß Descartes zu der Selbständigkeit und konsequenten Klarheit jener rein methodischen Betrachtungen nur dadurch gelangte, daß er, der Tiefe und Tragkraft des eigenen Ausgangs nicht völlig sich bewußt, die Methode als ein Problem der Logik im engeren, rein instrumentalen Sinne ansehen wollte, innerhalb dessen die Grundfragen der Systematik noch nicht zu Worte kommen müßten. Damit aber werden eben diese schon in den „Regeln" für eine andere Betrachtung aufgeschoben, in der dann das ontologische Motiv ») Vgl. D VII, 39, 42, 68; VIII, 12.
Der Dualismus von Körper und Seele schon in den Regeln
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mitbestimmend wird. Wenn in der Methodenlehre von den „Arten des Seins", von den „Dingen, wie sie existieren", abgesehen werden soll, so bedeutet das allerdings die reinste Ausprägung idealistischen Geistes, wenn man diese Formulierung auf den Ausgang von der „Sonne" der „universalen Weisheit" bezieht. Aber eine in den Verlauf der methodischen Entwicklungen eingestreute Erörterung zeigt es mit aller Deutlichkeit, daß bei allen diesen reinen Fassungen zugleich jene andere Betrachtungsweise im Untergrunde liegt, die später in der Substanzenlehre zur Ausführung gekommen ist. Der D u a l i s m u s v o n K ö r p e r und S e e l e , wie er sich in jener Gegenüberstellung des Ich und der Außenwelt verrät (denn in der Tat spielt die Frage nach der Existenz anderer „Geister" in den Ausführungen der Metaphysik weiter keine Rolle, und andererseits wird die Frage nach der Existenz der „materialen Dinge" vor allem auf den eigenen Körper gerichtet, der dann die Vermittlung zu allem andern „Körperlichen" leisten soll) — diese Zweiheit liegt allen Aufstellungen Descartes', selbst eben den so eindeutig erscheinenden der Methodenlehre, immer doch als gleichsam selbstverständliche 1 ) Voraussetzung zugrunde. Alles Ringen um die reinen Formulierungen, um die konsequenten Durchführungen des idealistischen Grundgedankens findet an diesem dogmatischen Ausgang, der selbst, als Ausgang, kaum je und jedenfalls nicht für die grundlegenden Auseinandersetzungen in die Problemerörterung hineingezogen wird, einen beständigen und bis zu gewissem Grade auch nicht überwundenen Gegensatz. W a s aber die „Metaphysik" mit ihrem Rekurs auf das unmittelbare Erfassen des eigenen Ich wenigstens für den Außenanblick in den Mittelpunkt stellte, das konnte in den Untersuchungen der Methodenlehre, bei deren Ausgang jenes Ich eben nur den Durchgangspunkt gebildet hatte für ein tieferes Erkenntnisfundament, keine rechte Stelle finden. Der „gesunde Verstand" hatte dort etwas grundsätzlich Anderes zu bedeuten als das unmittelbare, und i n s o f e r n „natürliche", Selbstbewußtsein; nicht die „leichte" Erkenntnis vom Unterschiede zwischen Körper und Seele bezeichnete dort seine Grundfunktion. 2 ) In den „Regeln" greift Descartes eben doch nur ganz gelegentlich einmal zurück auf jene Dualität, deren ') „Auch die L o g i k e r und überhaupt Alle pflegen zu sagen, daß die 'Substanzen teils spirituale, teils körperliche seien". D VII, 175. 4) Beide Bedeutungsmotive treffen im „Poliander" der „ R e c h e r c h e " •zusammen.
Dort nur „Suppositionen"
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Erörterung ihm für die systematische Behandlung des gesamten Erkenntnisproblems allerdings unerläßlich schien. Es ist bezeichnend, daß dieses Hinüberspringen in eine so gänzlich andere Art der Problemeinstellung (das dann zu einer halb physiologischen halb psychologischen Behandlung des Erkenntnisvorganges führt) an dem Punkte auftritt, wo die mit dem Problem der Durchführung für das Erfahrungswissen eintretende Zweiteilung der Erkenntnisfrage zur ausführlichen Behandlung kommen soll — im gleichen Problemstadium also, das auch in der Metaphysik eigentlich zu der Vermischung des Erkenntnisbewußtseins mit dem individuellen Ich als der „Seele" gegenüber allem äußerlich Existierenden, und also zu jenem zweideutigen Begriff des „Bewußtseins" führte. Descartes hebt es in der zwölften Regel ausdrücklich hervor — und damit bezeugt sich der innere Zusammenhang der „Metaphysik" mit den „Regeln" auch von dieser Seite als durchgreifende sachliche Übereinstimmung — daß zum vollen, schlechterdings überzeugenden Verständnis seiner Lehre vom „ W i r " eigentlich jene „Gründe" vorausgeschickt werden müßten, die ihn selbst „dahin geführt haben". „ W a s der Geist des Menschen sei, was der Körper, auf welche Weise dieser von jenem informiert wird, was in dem zusammengesetzten Ganzen die Fähigkeiten sind, die zur Erkenntnis dienen, und was die einzelnen leisten", das will er an dieser Stelle nicht ausführlich auseinandersetzen; aber er glaubt diese Fragen nicht ganz übergehen zu dürfen. Alles was er anführt, und was immer daraus für die Charakteristik des Erkenntnissubjektes Und seiner methodischen Beziehungen sich ergibt, alle diese Bestimmungen will er an dieser Stelle nur als „Suppositionen" angesehen wissen, die eben sachlich doch nur durch jene fundamentale Lehre vom Körper und von der Seele ihre eigentliche Überzeugungskraft, ihre innere Gewißheit erhalten können. So ist das Bedürfnis nach der realen, nach der ontologischen Grundlage für den Erkenntnisbegriff von jenen klaren und einheitlichen Formulierungen doch nicht so fern gelegen, als die sachliche Divergenz der Problemstellungen es könnte vermuten lassen. 1 ) Wir haben es gelegentlich schon angedeutet, daß unter diesem dualistischen Gesichtspunkte der Intellekt als ein „rein spirituales" „Ding" (oder wie es später heißt, als „spirituale Substanz" 1 )) zur Einbildungskraft und den Sinnen insofern in ') D X , 411
ff.
5)
D X , 415; III, 396.
Intellekt als „Essenz" der denkenden Substanz
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Gegensatz tritt, als diese „körperlich" sind — das heißt aber hier, als sie am menschlichen Körper, am G e h i r n haften, dessen Hülfe der Geist in seiner auf sich selbst gerichteten „intellektualen" Erkenntnis gänzlich sich entschlagen kann! 1 ) Daß die Imagination als solche nicht zum erkennenden Vermögen, nicht zum „Intellekt" gehört, das heißt unter diesem Gesichtspunkt: daß sie zum „Körper", nicht aber zur „Essenz" meines Geistes als eines „denkenden Dinges", nicht zur d e n k e n d e n S u b s t a n z zu rechnen sei. Wenn es keinen Körper und damit keine Imagination gäbe, so würde die „Seele", so würde „Ich" „doch eben derselbe bleiben, der ich jetzt bin".2) Dennoch aber soll die Einbildungskraft und mit ihr das Vermögen der „Sinne", wie es jene Erkenntnisbeziehung forderte, und wie es nun hier das Problem der „Vereinigung von Seele und Körper" verlangt, auf die „intelligente Substanz" bezogen sein, und also auch in irgend einem Sinne in sie „hineingehören". Nur soweit eben die Imagination, als „körperlich", von der „intellectio" sich u n t e r s c h e i d e t , gehört sie nicht zu „meiner Essenz". Diese Abtrennung muß mit einer gewissen „Verl ) „Das Gehirn kann keinen Gebrauch finden zum reinen Intelligieren, sondern nur zum Imaginieren oder Empfinden". So buchstäblich ist es, auch für die psycho-physiologische Betrachtung, zu verstehen, daß hier die „Seele" „allein in sich selbst handelt"! (DVII, 358; II, 598) — W e n n man sich daran erinnert, daß das G e d ä c h t n i s zur Imagination, also mit ihr zum Gehirn gerechnet wird (X, 414fr.; VII, 357), das zu der Erkenntnis der „intellektualen Dinge" nicht nur nichts beitragen kann, sondern dabei gar nicht ins Spiel gesetzt werden d a r f , — so ergibt sich die höchst paradoxe Konsequenz, daß es für diese Art der Erkenntnisinhalte keine Erinnerung gibt! Tatsächlich hat Descartes selbst diese Folgerung gezogen: „Von den rein intellektualen Dingen gibt es eigentlich keine Erinnerung; sondern wenn sie zum ersten Mal auftreten, werden sie in gleicher Weise gedacht wie beim zweiten Mal; höchstens erinnern wir uns auch ihrer, insoweit sie an gewisse Worte angeheftet zu sein pflegen, weil diese körperlich sind". (Vgl. jene „ E r w e c k u n g " der Gottesidee durch „Bilder" oder „Worte".) Eine andere Stelle sucht die Verlegenheit so zu überwinden, daß sie neben den „Spuren im Gehirn" für die körperlichen Dinge noch „andere Spuren" annimmt, „die im Bewußtsein (pensü) selbst bleiben". „Aber diese sind von einer anderen Art als jene, und ich kann sie durch kein Beispiel erklären, welches von den körperlichen Dingen hergenommen ist, ohne daß dies davon sehr verschieden ausfiele" (111,425; IV, 114). — E s ist von eigenem Reize zu beobachten, wie in diesen ganzen Zusammenhängen die Bestimmungen des vorausgesetzten ontologischen oder psycho-physischen Dualismus sich mit den Erkenntnismotiven in jener Einteilung der „Fähigkeiten" und der Erkenntnisdinge verflechten. J)
D VII, 72, 73, 78, 133 etc.; VI, 33.
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Die „Vermögen" der Ichsubstanz
bindung" zusammen bestehen — sind doch Imaginieren und Empfinden Anwendungen des rein spiritualen Vermögens der Seele auf den „innerlich präsenten Körper", auf die „verschiedenen Dispositionen des Gehirns, mit dem sie verbunden" ist! Insofern haben also auch jene „körperlichen" Vermögen einen Bezug auf die Seele und ihr Erkennen.1) Eben diese Schwierigkeiten sucht nun der Aufbau der „Metaphysik", in dem die Begründung, die den „Regeln" versagt sein sollte, mit aller Komplikation der logischen und ontologischen Motive in Angriff genommen wird, von seinem „ersten Prinzip" des individuellen Bewußtseins und dessen realer Existenz aus zu lösen. In diesem Begriff des Erkenntnissubjektes tritt der Gegensatz von Körper und Seele, als eine Zweiheit von Seinsbestimmungen, von Substanzen sogleich in den Vordergrund — überall und immer wieder die klaren Tendenzen idealistischer Erkenntnislehre durchkreuzend und in ihrer sachlichen Formulierung und äußeren Einkleidung bedingend. Die i n d i v i d u e l l e S u b s t a n z des Ich wird als reales Fundament gedacht für jene bloßen „Vermögen" des Intellekts und der entsprechenden Erkenntnisweisen. Alle „Fähigkeiten", alle „Operationen" verlangen eine „Sache oder Substanz", deren „Attribute", deren Betätigungen sie darstellen. So bezeichnen „intellectus", „ratio", „mens" nicht rein das Ursprungsprinzip der Erkenntnis, sondern unmittelbar zugleich immer die „partikulare Natur", das Ding, die Substanz des Ich, die all jene „Modi", jene „actus cogitandi" „rezipiert", die „Sache, die mit jener Fähigkeit begabt" ist. So kann denn auch „außer mir" ebensoviel bedeuten, wie „außer dem Intellekt" !2) Immerhin hätte die Substanzenlehre nicht die Bestimmtheit der Formulierung und die extensive Bedeutung für die „Metaphysik" als die Lehre von den „Prinzipien der menschlichen Erkenntnis" gewinnen können, wäre ihr nicht von Seiten der Erkenntnislehre selbst der Weg bereitet worden! Es ist interessant zu sehen, wie jene Einteilung der intellektualen und materialen Dinge, die in den „Regeln" zu dem „vorausgesetzten" Unterschied von Seele und Körper nur in einem subjektiven, nicht in einem gegenständlichen Bezug stand, nun eben immer bestimmter darauf hinzielt, j e n e o n t o l o g i s c h e D u a l i t ä t zu ') D VII, 12, 71/2, 73, 78, 160/!, 181, 358, 387; X , 415 f., 520; VIII, 7;
II, 598; V, 221, etc. etc. ») D VII, 27, 174 etc.; VIII, 8; III, 394; V, 221.
Erkenntnis der Substanzen durch ihre Attribute
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r e c h t f e r t i g e n , sie aus der E r k e n n t n i s s e l b s t w i e d e r u m h e r v o r g e h e n zu lassen. Als uneingestandene Annahme liegt sie, trotz aller scheinbaren Voraussetzungslosigkeit des Ausgangs, von Anfang an dem „cogito surrt" und der Frage nach der Existenz „körperlicher Dinge" zugrunde: die Absicht der „Metaphysik" aber, die eben doch Erkenntnislehre sein will, geht dahin, die Unterscheidung der Seele vom Körper erst im Verlaufe der Entwicklungen (in der sechsten Meditation1)) zum Beweis zu bringen. So wird auch die Lehre vom Wahrheitskriterium und den „Ideen" sogleich auf dieses Ziel dirigiert. Das logische Mittel aber zu solcher Rechtfertigung arbeitet sich in jener Umwandlung heraus, die die Metaphysik mit ihrem neuen Terminus für die Grundinhalte alles Erkennens, mit der „eingeborenen Idee" am Begriff des „Einfachen" vollzieht. Nach den Bestimmungen der „Regeln" sollte die Erkenntnis des Wirklichen, des existierenden „physikalischen" Dinges durch die notwendige Verbindung, durch die rein deduktive Zusammensetzung von „Einfachen" erfolgen. Die Komplexion der Begriffe sollte fähig sein, die als zusammengesetzt erfahrene Vorstellung in der Erkenntnis, im Existentialurteil zu fundieren. So heißt es nun auch von der Substanz, die — als die „Sache, der immediat, als seinem Subjekte, das innewohnt, was wir perzipieren, oder durch die dieses e x i s t i e r t " 2 ) — eben das Erkenntnisproblem der Existenz und in diesem Zusammenhange vor allem das der „ k ö r p e r l i c h e n " Wirklichkeit zu vertreten hat 3 ), daß wir sie nicht „ i m m e d i a t d u r c h s i c h s e l b s t e r k e n n e n " , „ s o n d e r n nur d a r a u s , daß wir g e w i s s e F o r m e n o d e r A t t r i b u t e p e r z i p i e r e n " , indem wir dann, „da sie irgend einer Sache innewohnen müssen, um zu exi-stieren, jene Sache, der sie innewohnen, Substanz nennen".4) Aus den Beispielen anderer Stellen wissen wir aber, daß diese „Formen oder Attribute" eben jenen „Einfachen" der „Regeln" •entsprechen. Und so könnte es scheinen, als ob die Substanzen eben in der methodischen Zusammensetzung, der fort-schreitenden Komplexion der „Attribute" der Erkenntnis zu2) D VII, 161. ») Vgl. z . B . D VII, 8, 13. ") Daß Substanz und Existenz in der Metaphysik zugleich auch als "Problem und Ergebnis des „inneren Zeugnisses" auftritt, entspricht 'durchaus jenem unbestimmten, auch auf das „reflexive" Erfassen be-zogenen Ausdruck des „Erfahrens" in den „Regeln". 4) D VII, 176, 222; VIII, 25.
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Die „hauptsächlichen Eigenschaften"
gänglich gemacht werden sollten, ganz nach Art jener Erfahrungsbestimmungen, wie sie z. B. für das Erfassen des Magneten, getroffen wurden. Aber die Erkenntnislehre von der Substanz nimmt diesen Weg nicht. Auf direktere Art meint Descartes das Existierende im Denken fassen zu können. Und dennoch kann es nach der Grundanlage seiner Methode nicht anders sein, als daß das Wirkliche durch die „Ideen" begriffen wird, und zwar durch die „klaren und distinkten" Ideen des Geistes, die doch nichts Anderes sind als jene „Einfachen" oder „Attribute" und deren Verbindung. So hebt Descartes denn aus der Menge der „einfachen Begriffe, aus denen unsere Gedanken sich zusammensetzen", solche heraus, denen ohne weiteres die Befugnis zukommen soll, als „ h a u p t s ä c h l i c h e E i g e n s c h a f t e n " die Dinge, die Substanzen, in denen „jenes Etwas existiert, das wir „perzipieren", nach ihrer allgemeinen „Natur" und „Essenz" vollständig zu bestimmen. Auf diese „konstituierenden" Eigenschaften werden dann alle die anderen „Attribute", als „Modi", bezogen. Da nun aber die Gesamtheit der erkennbaren Dinge in „intellektuale" und „materiale" zerfällt, so muß es zwei solcher grundlegenden „Attribute" geben: allem Körperlichen „wohnt" die „Ausdehnung" „inne", unter deren „einer gemeinsamer Art (communi ratione)" alle anderen „Akte", wie „Figur" „Bewegung" etc. „übereinkommen"; alles „Intellektuale" dagegen, alle die „Akte", die wir „cogitative" nennen, wie „Intelligieren", „Wollen", „Imaginieren", „Empfinden" etc. „kommen unter dem gemeinsamen Moment des Denkens . . . überein". So ergeben sich in diesen „hauptsächlichen" Attributen die Substanzen des „Körpers" und des „denkenden Dings", des „Geistes", Jene ersten „Einfachen" sind die „distinkten Begriffe jener beiden Substanzen", jener „Naturen", die die anderen „Modi" zu „rezipieren" imstande sind.2) Nun traten in den „Regeln" bei der Beziehung der „Einfachen" auf die „Verbindung" gewisse „Einfache" auf, deren eigenste Funktion darin bestehen sollte, andere mit einander zu verknüpfen. Indem jetzt die Grundbegriffe nicht mehr rein als Glieder von Deduktionsketten, als Verbindungsmomente angesehen werden, sondern als unmittelbare Repräsentanten von Dingen und deren „Modi", tritt jener Unterschied unter den ') Vgl. VIII, 25.
2
) D VII, 45, 176; VIII, 23f.; V, 221.
Ausdehnung und Denken
139
Arten des „Einfachen" so in den Vordergrund, daß er nicht ohne eine ausdrückliche logische Charakterisierung bleiben kann. S o unterscheiden denn auch die „Prinzipien" die Begriffe, in denen wir „gleichsam Dinge und gewisse Affektionen der Dinge" ergreifen, von den „ewigen Wahrheiten", den „gemeinsamen Begriffen" 1 ), den „ A x i o m e n " , die „keine Existenz außer unserem Denken besitzen"! 2 ) Das Problem der Verbindung aber wird nun — gemäß jener Fortsetzung des Gedankens vom „Einfachen" und seinem „dunklen" Implizieren im späteren Begriff der „eingeborenen Idee" — als ein Enthaltensein der besonderen Bestimmungen, der „Modi" in jenen ersten Attributen gefaßt. Nicht nur der Begriff des „Dreiecks", den wir nach jener Stelle der „ R e g e l n " als eine Komplexion von „Einfachen" auffassen dürfen, sondern auch eben jene „ E i n f a c h e n " der A u s d e h n u n g und des D e n k e n s , die die Substanzen repräsentieren, diese „Naturen" des Geistes und des Körpers werden als solche gedacht, in denen die „Komplexion mehrerer Attribute zugleich enthalten ist". 3 ) Nach der Seite der Substanzen hin ist das als ein „reales" „Enthaltensein" der Modi in den Substanzen anzusehen ; für die Erkenntnis aber bestimmt sich darin die N o t w e n d i g k e i t d e s U r t e i l s ^ wie sie früher durch die „notwendige V e r ') Schon in den „Regeln" war der „gemeinsame Begriff" in dieser Bedeutung, als „Axiom", als Verbindungs-Einfaches zu unterscheiden von den „beiden gemeinsamen" Einfachen, die, wie „Substanz", „Ordnung", „Dauer", sowohl auf intellektuale wie auf materiale Dinge sich beziehen. Mit den eigentlichen Substanzerörterungen tritt dazu eine dritte Art von Gemeinsamen, die jenen Dualismus vermitteln sollen: diejenigen, die sich auf die „Vereinigung von Körper und Seele" beziehen. (Vgl. III, 664fr., 691fr.; VIII, 23). Die drei Arten sind nirgends prinzipiell gegeneinander abgegrenzt, in ihnen laufen die ontologischen mit den erkenntnistheoretischen Momenten mannigfach durcheinander. — Für das richtige Verständnis des „gemeinsamen" Substanzbegriffs und anderen beiden Seinsarten gemeinsamen Bestimmungen muß, zur Abgrenzung gegen Spinoza, dies beachtet werden, daß Descartes trotz seines Gottesbegriffs doch nicht etwa dadurch den Dualismus zu überwinden sucht, daß er diese „gemeinsamen" Begriffe als solche substanzialisiert, um jene auseinanderfallenden Momente der „Ausdehnung" und des „Denkens" als besondere Bestimmungen dieser ontologischen Einheit fassen zu können. In welchem Sinne bei Descartes der Gottesbegriff zum letzten einheitlichen Fundament wird, werden wir noch zu sehen haben. l ) D VIII, 22. Zu diesem Begriff eines Denkens, dem im Sein nichts entsprechen soll, vgl. u. a. noch D X , 418; VIII, 27—30; IV, 349. 3 ) D VII, 163.
j^o
Die „komplete Sache" und die „Abstraktion"
bindung" charakterisiert wurde. „Wenn wir sagen, etwas sei in der Natur irgend einer Sache, oder in ihrem Begriffe enthalten, so ist dies dasselbe, als wenn wir sagten, daß es von ihr wahr sei, oder von ihr bejaht werden könne." Was wir als in jenen „Naturen" „enthalten perzipieren, das können wir auch von ihnen wahrhaft bejahen". Und so sind von jenen „hauptsächlichen" Attributen alle die besonderen Bestimmungen, die Modi, als darin enthalten, zu „bejahen". 1 ) Zugleich erhält nun jene negative Charakteristik der „notwendigen Verbindung", die sich in dem „Enthaltensein" der eingeborenen Idee fortsetzte, die genaue Direktion auf die existierende Substanz, wie sie ihr von Anfang an nicht völlig fern gelegen hatte. Von der Negation, die innerhalb der notwendigen Verbindung für eins ihrer Glieder nicht statthaft sein sollte, •unterscheiden schon die „Regeln" die A b s t r a k t i o n . Auch dort bedeutete die Zahl z. B. eine „Abstraktion" von ihrem „Subjekt", von dem sie in „Wirklichkeit" nicht getrennt zu denken sei. Wir werden noch sehen, wie dort ebenso die Ausdehnung auf ihr „Subjekt" geheftet wird. Von dem Begriff der „Grenze" heißt es z. B., daß er, obgleich er sowohl für die „Ausdehnung" wie für die „Dauer" verwandt werden kann, und also etwas „Allgemeineres" bedeutet als diese Begriffe, darum doch nicht „einfacher" sei, als jene, sondern daß er von den „Einfachen" „abstrahiert werden mußte". Schon hier also liegt die Vorstellung zugrunde, daß mit den „Einfachen" selbst das Ding, die „ k o m p l e t e S a c h e " erfaßt werde, der gegenüber jene anderen Begriffe, wenn sie fälschlicherweise verselbständigt werden, als „entia abstracta" erscheinen. 2 ) Der Begriff des „Kompleten" spielt gemäß jener Beziehung der „hauptsächlichen Eigenschaften" auf die Substanz in der Erkenntnislehre der „Metaphysik" — in der eben das „simplex" -auch als „ens simplex" gefaßt wird 3 ) — eine Hauptrolle. Die Tendenz der notwendigen Verbindung vereinigt sich mit dem Verlangen, in den allgemeinsten Begriffen unmittelbar die Realität des Wirklichen zu ergreifen. „Ich kann sehr gut die Bewegung ohne Figur und die Figur ohne Bewegung intelligieren u n d b e i d e , i n d e m ich a b s t r a h i e r e v o m K ö r p e r : aber ich kann dennoch nicht die Bewegung k o m p l e t intelligieren •ohne d i e S a c h e , in w e l c h e r B e w e g u n g ist, noch die Figur ») D VII, 162 f. ») D X, 418 f., 422 fr. ') D VII, 53; VIII, 8; VIII s, 350/j.
„Reale Distinktion" der beiden Substanzen
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ohne die Sache, in welcher Figur ist." Solche „Abstraktion des Intellekts" mag für besondere Aufgaben erlaubt sein; aber sie darf nicht zu einer „realen Distinktion" gemacht, es darf nicht die „notwendige Verbindung" der Bewegung und Figur mit der „ausgedehnten Sache", der Substanz n e g i e r t werden. Man muß sich bei allen diesen „Formen oder Attributen" gegenwärtig halten, daß sie in der „Natur", der „Essenz" des Körpers enthalten sind, daß sie als „zu ihm gehörig" und nur an ihm haftend gedacht werden müssen. Nur die beiden Substanzen selbst (bezw. die Attribute, in denen sie unmittelbar sich darstellen) dürfen, die eine von der anderen, n e g i e r t werden; hier besteht nicht nur „formale", sondern „ r e a l e Distinktion", hier kann ich wirklich das Eine ohne das Andere „komplet" intelligieren. „Distinktion" bedeutet hier nicht „Abstraktion", sondern „Exklusion", aus der sich ergibt, daß die „eine Substanz existieren kann ohne die andere". 1 ) So faßt die Erkenntnis durch die „hauptsächlichen Eigenschaften" und die in diesen implizierten anderen „Attribute" bezw. „Modi" die Substanzen selbst, die „in sie eingehüllt" sind. Indem die „komplete Erkenntnis" durch die Attribute der Ausdehnung und des Denkens an die Spitze alles Erkennens gestellt wird, indem alle Einzelbestimmung als in diesen Begriffen enthalten gedacht wird, tritt nun auch für den Aufbau der „metaphysischen" Erkenntnislehre die Substanz, das „komplete Ding" in den Vordergrund des Interesses. In den „Fundamenten der Wissenschaften" wird vor allem die Grundlegung gesucht für das „klare und distinkte Erfassen" der beiden Substanzen rein als solcher, für die U n t e r s c h e i d u n g dieser „einfachen Dinge", die es allein möglich machen soll, sie selbst eben in der Strenge ihres Begriffs zu denken. Und wenn das „cogito sunt" die Existenz des Ich, der „denkenden Substanz" also, außer Zweifel stellte, so gilt nun alle weitere Erörterung, wie schon gesagt, dem Übergang, der Erkenntnisbeziehung (denn das Erkenntnisproblem bleibt doch immer das zentrale!), die vom individuellen Ich aus zum Wirklichen und zum „Körperlichen" hergestellt .werden kann. Es ist der Begriff der unendlichen S u b s t a n z , der E x i s t e n z G o t t e s , in dem diese Vermittlung sich vollziehen *) D VII, 120f., 220fr., 365 etc.; X , 442 ff.; IV, 120. Daß diese „reale" Getrenntheit und gegenseitige Unabhängigkeit der Substanzen aus der Erkenntnis heraus sich beweisen läßt, das suchen eben die Entwicklungen der „Meditationen", besonders die der sechsten, zu zeigen.
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Die unendliche Substanz
soll. E s braucht nicht darauf eingegangen zu werden, wie sehr die allgemeine Fassung dieses Begriffs und die Anlage der Beweise, die ihn sichern sollen, in das Fahrwasser dogmatischer Ontologie hineinlenken. Die Ideen in meinem Geiste werden mit diesem selbst als etwas Existierendes, etwas „Reales" genommen, und für sie wird dann nach der „Ursache" gefragt, nach der „ c a u s a cur existant"\ In der bekannten Unterscheidung des Seinsgehaltes, der den Ideen gemäß ihrer Bedeutung innewohnt, kommt es zu dem Schluß, daß die Idee Gottes in mir eine Ursache „außer mir", „außer dem Intellekt" haben müsse. Weil „ich, der ich jene Idee habe, existiere, schließe ich, daß auch Gott existiert". S o gelange ich über mein individuelles Bewußtsein und seine „Träume" hinaus auf eine allgemeine Seinsbasis. 1 ) E s wäre aber durchaus verfehlt, den Gottesbegriff der Cartesischen Metaphysik in dieser seiner ontologischen Bedeutung erschöpft zu glauben. Wäre es so, so müßte die Ansicht seltsam erscheinen, daß in dem anderen Grundbegriff der „Metaphysik", der „Seele", jene reinen Erkenntnismomente nicht nur enthalten seien, sondern die eigentliche Grundtendenz ausmachten. Der Begriff Gottes, wie er so oft in unmittelbarer Korrelation mit der „Seele" auftritt 2 ), gehört nicht nur als „Substanz" mit ihr unter den gleichen Gesichtspunkt (der dann auch das „Körperliche" mitbefassen müßte) — vielmehr ist er „intellektual" auch in jenem früheren Sinne, nach dem solchen „Dingen" die Funktion der Wissenschaftsbegründung in der Auszeichnung einer reinen Erkenntnisgrundlage zukommt! Und so sehr in der Ableitung und Verwertung des Gottesbegriffs die ontologischen Motive im Vordergrunde stehen: immer doch zeigt die Formulierung und die Art der Einstellung in die Problemzusammenhänge, daß auch in ihm die alte Tendenz der „universalen Weisheit" fortwirkt; ja daß Descartes die in dem Begriff der „Seele" gefährdete Selbständigkeit der logischen Motive hier von neuem zu stützen sucht. Obgleich die Deduktion durch den Kausalbegriff in der Darstellung durchaus als das beherrschende Moment erscheint (der Beweis aus der Erhaltung der Seele geht unmittelbar mit dem aus der „Existenz" der Ideen zusammen, während der eigent') Vgl. D VII, 14, 41 ff^. 49ff-, 52f., 102/3, 105/6, 107, 118, 164/5 etc. etc. S . auch C h r i s t i a n s e n , „ D a s Urteil bei D e s c a r t e s " S. 102. ») Vgl. z. B. D VII, 1, 7, 9 etc.; I, 144, 353-
Gott als „intellektuale Natur im Allgemeinen"
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liehe „ontologische", der nicht von der Existenz des Ich oder seiner Vorstellungen, sondern rein von der Idee als solcher ausgeht, erst spät und nachträglich eingeführt wird 1 )) so ist doch eine rein methodische Tendenz in diesen Schlüssen unverkennbar. Wenn es von dem Begriff Gottes heißt, daß er nicht in der Imagination gesucht werden dürfe, und daß er klarer und distinkter sei als alle körperlichen Dinge 2 ), wenn er in unmittelbarer Korrelation zur „Idee meiner selbst" und zu allen anderen „durch sich bekannten Wahrheiten" als „eingeboren" bezeichnet wird 3 ), so ist schon in diesen Formulierungen der innere Zusammenhang mit jenen Begriffen vom Erkenntnissubjekt merklich, der dann auch einmal mit aller Klarheit hervorgehoben wird: in der Ablehnung der „sinnlichen Dinge", die der Zweifel herbeiführt, und in der Besinnung auf die „erste Sache" der „Seele" „erwirbt man allmählich eine sehr klare und sozusagen intuitive Erkenntnis v o n d e r i n t e l l e k t u a l e n N a t u r im A l l g e m e i n e n , d e r e n I d e e , o h n e B e g r e n z u n g b e t r a c h t e t , d i e j e n i g e i s t , d i e uns G o t t r e p r ä sentiert, und, b e g r e n z t , die eines Engels oder der menschlichen Seele".4) Die Einschränkung des „ersten Prinzips" auf das individuelle Ich mußte für die Interessen der reinen Erkenntnislehre notwendig eine neue Auszeichnung ihres Wahrheitsbegriffs, ihres Begriffs einer Intellekts-Grundlage für alle Erkenntnis herbeiführen. Wenn der „Intellekt", die „Vernunft" zum existierenden Ich gemacht wurde, dem dann die ebenso selbständige Substanz des Körperlichen gegenüber treten soll, wie kann dann noch, im strengen Sinne der Erkenntnislehre, die Seele als das „erste Prinzip", das erste Fundament für den systematischen Aufbau aufrecht erhalten werden ? Selbst wenn eine Verbindung zwischen dem materialen Sein und dem seelischen in der Form einer kausalen Einwirkung einerseits und einer Abbildung andererseits sich sollte herstellen lassen — so würde doch eben darin das bestimmende Motiv ein rein ontologisches bleiben. Der systematische Ausgang von der Erkenntnis, vom Intellekt müßte prinzipiell preisgegeben werden. Erst der Begriff der u n e n d l i c h e n i n t e l l e k t u a l e n N a t u r Gottes ermöglichte unter dieser Betrachtung das Festhalten am methodisch - systematischen Primat des Intellektualen, der Er*) D VII, 67.
') DI, 353-
2)
Z . B . D VII, 139; VIII, 12, 13.
»)D VII, 51; 111,424.
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Die Perfektion der Wahrheit
kenntnis. 1 ) In jener „kausalen" Ableitung selbst spielt ein M o ment die bestimmende Rolle, das unmittelbar auf jene Intellektsund Wahrheitsbedeutung des Gottesbegriffs hinführt. Der Zweifel' beweist mir nicht nur, daß ein Unterschied zwischen Wahr und Falsch überhaupt bestehe, sondern er zeigt mir auch, daß ich für diesen Unterschied, den ich in der Erkenntnis festzulegen strebe, eben doch nicht durchweg und mit absoluter Sicherheit den Entscheid zu treffen vermag. So fordert der Begriff des Zweifels, als eines Denkens, das „ z u r W a h r h e i t t e n d i e r t " , aber sie nicht durchaus besitzt, als notwendiges Korrelat den Begriff der reinen und gewissen Erkenntnis, der Wahrheit selbst. „Wenn ich darauf achte, daß ich zweifle, oder daß ich eine unvollständige und abhängige Sache bin, so stellt sich mir die höchst klare und distinkte Idee des unabhängigen und kompleten Wesens entgegen, das ist Gott" — in dieser ontologischen Formulierung spürt man deutlich das Motiv der Wahrheit, wie es jene „unendliche" intellektuale Natur vertritt. Es ist eine „größere Perfektion, zu erkennen, als zu zweifeln". Die Idee, welche wir „vom göttlichen Intellekt haben, unterscheidet sich von jener, die wir von unserem Intellekt haben, nur so, wie die Idee der unendlichen Zahl von der Vier- oder Zweizahl". In diesem Sinne stellt der Begriff Gottes nichts anderes dar, als die unendliche Perfektion unseres Intellekts, die Erhebung vom *) Hierin zeigt sich der tiefste Unterschied der Cartesischen Ontologie von der S p i n o z a s , dessen Denkweise jene Anordnung der Substanzen nur als unvollkommene und nicht sicher durchgeführte Bestimmung des Seins erscheinen mußte. E r beseitigte den methodischen E i n schlag, der in Descartes' Begriff Gottes als einer rein intellektualen und nicht körperlichen Natur („Gott ist nicht Körper", in nichts „ähnlich den körperlichen Dingen" D VII, 188; VIII, 13) lag, indem er seine unendliche Substanz ebensowohl durch das Attribut der Ausdehnung, wie durch das des Denkens bestimmt sein ließ. Descartes d a g e g e n , der unter dem ontologischen Gesichtspunkte nun auch die endliche ausgedehnte Substanz nicht ganz aus dem Geltungsbereich der „intellektualen" göttlichen Substanz entfernen, sie ihr nicht als selbständig gegenüberstellen konnte, ging für diesen Zusammenhang auf den theologischen Begriff der Schöpfung zurück, während er für Gott und die menschliche Seele auch noch den Zusammenhang strenger Analogie beibehielt! (VII, 137). So konnte er es auch innerhalb dieser Betrachtungsweise aufrecht erhalten, d a ß d i e A u s d e h n u n g i n d e r E r k e n n t n i s , i m „ D e n k e n " s e l b s t e n t h a l t e n i s t , d a ß auch der „materiale" Inhalt eben doch als „Ding, soweit es erkannt wird", in die Universalität des reinen Erkenntnisbegriffes hineinfällt. — W i r werden sehen, wie dies auch in dem Begriffe Gottes als des Bürgen für die Richtigkeit unserer Erkenntnis, z. B. gerade auch der mathematischen von der Ausdehnung, fortwirkt.
Das Unendliche
Begriff der endlichen, vom Zweifel und Irrtum beschränkten und getrübten Erkenntnis zum Begriff der Wahrheit selbst. Nicht die Tatsache unserer Ideen überhaupt führt zum Gottesbegriffe, sondern nur die Ideen, soweit sie „klar und distinkt" sind! 1 ) Darum muß die Idee Gottes als die „erste und hauptsächlichste" von allen den Ideen bezeichnet werden, die ich „gleichsam aus dem Schatze meines Geistes nehme": der Wahrheitsgehalt für sie alle, ihr ganzer Erkenntniswert wird in jener „Quelle der Wahrheit" vertreten. Daß uns „die Ideen von Wahr und Falsch innewohnen", das beweist die „ideale Fähigkeit" zur Erkenntnis des Wahren; diese wiederum, in ihrer Beschränktheit und ihrem Irren, deutet auf einen fundamentalen Begriff der schlechthin wahren und gegründeten Erkenntnis. Das Tendenzmoment in unserem Erkennen, das der Zweifel unmittelbar sichtbar macht, wie auch die Forderung und Fähigkeit, über jedes gewonnene Ergebnis im Denken hinauszuschreiten (so z. B. beim Zählen über jede erreichte Zahl hinaus immer wieder eine größere zu begreifen) — diese ins Endlose weisende Tendenz, in der wir eben doch nie zum Unendlichen selbst gelangen, fordert zum logischen Korrelat die Errichtung eines Begriffs des vollendet Unendlichen, das, als „ I n f i n i t e s " gegenüber dem „ I n d e f i n i t e n " , die T o t a l i t ä t d e r E r k e n n t n i s , der Wahrheit bezeichnet. Gott als die „Einheit aller Perfektionen" hat vor allem eben diese P e r f e k t i o n d e r W a h r h e i t , der Gewißheit in der Erkenntnis zu vertreten. 2 ) Was in der „intellektualen Natur" unserer Seele, was im „endlichen" „Intellekt" als dem Vermögen von Wahr und Falsch „positiv", „real" ist, das ist nur eine Beschränkung des Wahrheitsbegriffs selbst, den der unendliche Intellekt vertritt. Die Idee der „intellectio", wie sie in uns in ihrer Unvollkommenheit betrachtet wird, ist selbst überhaupt nur möglich auf Grund des uneingeschränkten, des „allgemeinen Begriffs der intellektualen Natur". D a s U n e n d l i c h e i s t d e m E n d l i c h e n g e g e n ü b e r p r i m ä r , denn wenn ich von einer Sache spreche, „ohne daran zu denken, ob sie endlich oder unendlich ist", so „ist es das Unendliche, das ich begreife"! Der „allgemeine" Begriff ist der unbegrenzte. So bezeichnet die „intellektuale Natur im allgemeinen" v o r j e n e m B e g r i f f d e s Ich als des individuellen, e n d l i c h e n , b e s c h r ä n k t e n , „unvoll') D V I I , 53, 62, 137; V I , 33. b e g t i f f s v g l . v o r allem n o c h
S- 53—74-
*) V g l . D V I I , 5 0 - 5 3 ,
Zu dieser S e i t e des C a r t e s i s c h e n G o t t e s -
P. N a t o r p ,
Descartes'
Erkenntnistheorie,
139, 144; VIII, 1 5 ; I X a , 10.
C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VI
10
146
Vereinigung der ontologischen mit der methodischen Bedeutung
k o m m e n e n " „Intellekts" den u n e n d l i c h e n Intellekt. Und daher kann es nun im Gegensatz zu jener Aufstellung des „cogito sutn" als des „ersten Prinzips" auch heißen, daß wir gegenüber den „materialen Dingen" „viel mehr vom menschlichen Geiste erkennen, noch weit mehr aber von Gott", und daß ich „nichts f r ü h e r oder l e i c h t e r erkennen" kann als jene unendliche „Einheit der Perfektionen". „Früher ist auf gewisse Weise in mir die Idee des Unendlichen, als die des Endlichen, das ist die G o t t e s , als die meiner selbst". 1 ) In allen diesen Formulierungen steckt allerdings zugleich immer das ontologische Motiv. Das unendliche Sein, als der „allgemeine Begriff des Seins", ist primär gegenüber dem endlichen, als einer bestimmten Begrenzung des Seins. Die Idee der „unendlichen Substanz" ist früher, weil „mehr R e a l i t ä t in ihr ist". So bezeichnet Gott das Sein als solches; nicht, wie es nach den letzten Formulierungen scheinen könnte, nur insofern es „früher" als das endliche Sein e r k a n n t wird, sondern weil alles Endliche von diesem „ersten und höchsten Wesen" geschaffen und von ihm erhalten wird! Gott ist die „erste Ursache" alles Wirklichen, aller existierenden Substanzen; alle endlichen Substanzen, und so auch „ich", „hängen" von ihm „ab".2) Diese beiden Momente im Gottesbegriff sollen nun, gemäß jenem „ontologischen" Beweise, notwendig zusammengehören. In der Idee Gottes, die darin unter allen Ideen einzig dasteht, treten Essenz und Existenz in notwendige Verbindung. Die Existenz „gehört zu" der „wahren und unveränderlichen Natur", die der Gottesbegriff repräsentiert, sie ist „in ihr enthalten". Durch das „natürliche Licht" erkennen wir, daß hier Essenz und Existenz „untrennbar" von einander sind. Die Totalität der „intellektualen" Essenz, der Erkenntnis, die W a h r h e i t , und die Totalität des Seins, die unendliche S u b s t a n z , die „erste Ursache" sollen in der Einheit dieses „Wesens" und der Idee, durch die es uns repräsentiert wird, vereinigt sein.3) So sucht Descartes zwischen den ontologischen und den methodischen Tendenzen eine Übereinstimmung dadurch zu gewinnen, daß er im Gottesbegriff das fundamentale Erkenntnisprinzip mit der ersten Seinsursache in eins setzt. Der Ausdruck der „première cause", wie er in den „Prinzipien" auftritt, enthält unmittelbar beides zugleich. Die O r d n u n g der E r k e n n t n i s 2 ') D VII, 45, 53, 69, 1 8 8 ; V, 3 5 6 . ) D VII, 4 5 , 49. 107 ; V, 3 5 6 . ) D VII, 65/6, 67, 119, 163/4; VIII, 10 etc. etc.
a
Gott als e r s t e s Prinzip
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•soll von h i e r aus p a r a l l e l g e h e n m i t d e r O r d n u n g d e s S e i n s . „Weil Gott allein von Allem, was ist oder sein kann, die wahre Ursache ist, so ist es klar, daß wir den besten Weg des Philosophierens verfolgen werden, wenn wir aus der Erkenntnis Gottes selbst die Erklärung der von ihm geschaffenen Dinge zu deduzieren versuchen, und so die vollkommenste Wissenschaft erwerben, die ein Erklären der Wirkungen durch die Ursachen ist." 1 ) Daher kann das zweite Prinzip der Metaphysik, sobald es einmal aufgestellt ist, d u r c h g e h e n d s als d a s e r s t e g e l t e n . Die Idee Gottes ist die „am meisten klare und distinkte"; keine ist „durch sich wahrer". „Denn was immer ich klar und distinkt erfasse, was immer real und wahr ist . . . das ist ganz in ihr enthalten". Sie ist die „erste und ewigste aller Wahrheiten, die sein können, und die einzige, aus der alle die anderen hervorgehen". Eben als Schöpfer aller Dinge gilt Gott zugleich auch als „dator omnis luminis"; weil alles Sein aus ihm herquillt, sind in ihm auch „alle Schätze" der Wissenschaften und der Weisheit verborgen". 2 ) Und in eben dieser Doppelbeziehung soll nun auch der Begriff der Wahrheit selbst seine eigentliche volle Bestimmung erhalten. „Die Idee des Unendlichen befaßt, da sie alles Wahre in sich begreift, auch a l l e s , w a s es W a h r e s g i b t in den D i n g e n " . „Die W a h r h e i t b e s t e h t im Sein u n d d i e F a l s c h h e i t a l l e i n im N i c h t s e i n " . 3 ) So erhält in dem Begriffe Gottes die Erkenntnis ihren Realitätsgehalt. Sein und Wahrheit müssen durchgehends auf einander bezogen sein: darum gilt die unendliche „intellektuale Natur" zugleich als das Sein in seiner unbegrenzten Allgemeinheit. Die Beziehung aller Einzelerkenntnis auf das „Prinzip", das „Fundament" der Gottesidee wendet den Blick auf das, was „real und wahr" in ihr ist, was in seiner Wahrheit zugleich das Sein vertreten muß. Darum gilt Gott als Bürge nicht nur für die Geltung" des Kriteriums vom „Klaren und Distinkten" überhaupt 4 ) (als „intellektuale 2 ') D VIII, 14; VII, 53. ) D I, 350; VII, 46 ,53! VIII, 15. •) D V, 356. 4 ) Die rechte Erklärung jenes bekannten Zirkels gibt C h r i s t i a n s e n , indem er bei dem „Beweis" des Evidenzkriteriums durch den Gottesbegriff eine Verwechselung der logischen Erkenntnissicherheit mit dem psychologischen Überzeugungszwang konstatiert. („Das Urteil des Descartes" S. 96 f. Vgl. auch L i a r d , Descartes 173f.) — Es ist für die Unbestimmtheit des Cartesischen Evidenzbegriffs charakteristisch, daß die wahre Erkenntnis auch in logischen Zusammenhängen sehr oft als „persuasio" bezeichnet wird! (Z. B. D VII, 145).
10*
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Realitätsgehalt der wahren Ideen
Natur im allgemeinen"), sondern zugleich und vor allem für den Seins-, den Realitätsgehalt, der in den „klaren und distinkten", den „eingeborenen" Ideen enthalten sein soll. Vor allem in diesem letzteren Sinne gilt es, daß ohne die Aufrichtung jenes allgemeinsten und obersten Prinzips alle Erkenntnis des letzten Fundaments, und damit der inneren Gewißheit entbehren würde.. Alle „klare und distinkte" Erkenntnis und all ihr Inhalt, ihr Realitätsgehalt geht auf jene Einheit von Wahrheit und Sein zurück, die in dem Begriffe der göttlichen Substanz als „notwendige Verbindung" von Essenz und Existenz sich darstellt. Darum vor allem glaubte Descartes die Methodenlehre durch den Rückgang auf die „Seele" und von da auf die „intellektuale Natur im allgemeinen" fundieren zu müssen: alle Einzelbestimmung des erkennenden Verfahrens ergab sich ihm allerdings rein aus dem Prinzip der „universalen Weisheit", aber um den R e a l i t ä t s w e r t in aller Forschung, wie sie in der „Ordnung des Erkennens" ihre Inhalte entwickelt, um ihre Bezogenheit auf das Sein zu begründen — dazu konnte er, nach seiner Denkweise, der Zuflucht zu einer universalen Seinsgrundlage nicht entbehren. 1 ) — Durch die Vermittlungskraft dieser „evidentesten" Erkenntnis von der Existenz und der „Wahrhaftigkeit" Gottes soll nun vom individuellen ,,moi-meme" aus die Gewißheit von der Existenz der durch meine „materialen" Ideen bezeichneten Körperwelt, von der Wirklichkeit zunächst meines eigenen Körpers und dann der auf ihn einwirkenden Außendinge gewonnen werden. Die im Gottesbegriff erfaßte Seinsgrundlage muß diesen Übergang vollziehen. Wir brauchen die Deduktionen mit allen ihren vielfältigen Motiwerschlingungen hier nicht ins Einzelne zu verfolgen; die bestimmenden Momente sind in jener Doppeltendenz des Gottesbegriffs, der eben bei aller nachdrücklichen Direktion auf die Interessen der Erkenntnis dennoch die ontologische Selbständigkeit nicht preisgeben will, vollständig gegeben. Wenn nun aber dies oberste Prinzip mit aller Energie auf die Begründung einer wissenschaftlichen Erkenntnis von der „materialen" Außenwelt gerichtet wird, so muß sich für uns vor allem die Frage erheben, inwieweit diese Erfahrungstheorie mit den methodischen Bestimmungen der „Regeln" übereinstimmt, und in welchem Sinne etwa deren logische Lehre durch die metaphysische Fundierung; eine Weiterbildung erfahren hat. ») Vgl. noch D VI, 38 f.; VII, 13, 15, 71, 429/30 etc.
Die „eingeborenen Ideen" und die „Natur der D i n g e "
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Durch den für das „intellektuale" wie für das „materiale" Sein identischen Unendlichkeitsursprung soll von vornherein eine Übereinstimmung gesetzt werden zwischen unserer Erkenntnis, unseren Ideen, soweit sie „klar und deutlich", d. h. „wahr", d. h. „real" sind, und den „äußeren" Dingen, die wir zu erkennen suchen. Unsere „eingeborenen Ideen" und alles, was mit ihnen sich ergibt, haben deshalb ihre sichere Geltung für die Erkenntnis •der „außer uns" befindlichen Welt, können deshalb dazu verhelfen, das rechte „ähnliche" Abbild von ihr zu konstituieren, weil Gott die „ewigen Wahrheiten", diese „wahren und unveränderlichen Naturen" (unter ihnen treten in diesen Erörterungen immer die „mathematischen Wahrheiten" als die „einfachsten" unter ) D V I I I 34, 40 f. •«) D V I I , 80,
43
ff-, 156.
>) D V I I , 8 1 .
') D V I I , 435. v g l .
15.
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Das Experiment
wissenschaftliche Vorgehen angesehen, sich von den Problemen der „reinen Mathematik" sollen unterscheiden können. So stark gerade in den systematischen Zusammenhängen das Interesse an der Hervorhebung der „klaren und distinkten" „Prinzipien" alles Erkennens überhaupt geneigt ist, die Frage nach dem grundsätzlichen Unterschied der physikalischen Bestimmung von jeder rein begrifflichen Konstruktion zurücktreten zu lassen, so hat doch Descartes dies letztere Problem nie gänzlich aus den Augen verloren. Es bleibt für ihn, wie auch aus dem Bisherigen schon hervorgeht, dies die unerläßliche Forderung für alle Methodik physikalischer Erkenntnis: daß hier die reinen „Gründe" der „Vernunft" mit dem „Experiment" sich vereinbaren müssen. Seine eigene wissenschaftliche Betätigung läßt denn auch, bei aller Willkür einzelner Bestimmungen, die Richtung auf diesen Zusammenhang überall verspüren. Und es gelang auch dem Physiker Descartes nicht nur, einige gerade für das methodische Verständnis exemplarische Experimente anzustellen — wie das berühmte Experiment mit der Glaskugel, das zur Erklärung des Regenbogens erdacht wird — sondern zugleich fand der Philosoph methodische Formulierungen von instruktiver Bestimmtheit. So vereinzelt und zerstreut diese Ansätze zu einer begrifflichen Charakterisierung, des Experiments im strengen Sinne und damit jenes Zusammenhangs von „Erfahrung" und „Vernunft" in den Ausführungen Descartes' bleiben mögen, so sehr man für den Mangel einer einheitlichen durchgeführten Theorie die innere Unsicherheit des Denkers gegenüber dem Problem der Erfahrung verantwortlich machen muß — es ist eben doch eine unerläßliche Aufgabe historischen Überschauens, den Zusammenhang solcher gelegentlichen, aus der wissenschaftlichen Arbeit hervorwachsenden Formulierungen mit der Grundanlage des philosophischen Erkenntnisbegriffs sich klar zu machen, nach der inneren Übereinstimmung der verschiedenartigen und verschiedenwertigen Aufstellungen zu suchen. Von der Tendenz der Cartesischen Physik, die Grenzen zwischen den mathematischen und den physikalischen Begriffen zu verwischen, werden wir im dritten Kapitel zu sprechen haben; jetzt aber muß es uns darauf ankommen, die Fortsetzung der methodischen Aufstellungen und Unterscheidungen zu verfolgen, aus denen die Erfahrungslehre der „Regeln" sich zusammensetzte. Immer wieder betont Descartes die Wichtigkeit der Experimente für die Behandlung aller physikalischen Fragen, die metho-
Zusammenstimmen von Vernunft und Experiment
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dische Notwendigkeit, durch sie die „Raisonnements zu stützen und zu r e c h t f e r t i g e n " ! Um seine „Gründe dem E x a m e n d e r S i n n e zu unterwerfen", greife er selbst ja überall und immer wieder zurück auf die Erscheinungen der Sinne. 1 ) W i e aber solche „Rechtfertigung" verstanden werdefi muß, daß sie nicht etwa eine Bestimmung der Vernunftgründe als solcher durch das absolut gesetzte Experiment bedeutet, das zeigen dann wieder andere Formulierungen, in denen die „geringe Glaubwürdigkeit" aller der „Beobachtungen" hervorgehoben wird, „ d i e n i c h t v o n d e r w a h r e n V e r n u n f t (von dem wahren Grunde, de la vraye raison) b e g l e i t e t s i n d " . Die Experimente ihrerseits sollen nur insoweit wiederum in Frage kommen, als sie sich „durch die Vernunft r e c h t f e r t i g e n lassen". So erhalten in der physikalischen Forschung die rein begrifflichen Gebilde ihre genaue Bestimmtheit nur durch den Bezug auf die gegebenen „Wirkungen"; und diese wieder dürfen ebensowenig für sich und absolut genommen werden, sondern weisen auf die Begriffe zurück, die sie zu rechtfertigen haben. Vernunft und Experiment müssen miteinander zusammenstimmen (accorder)?) Wenn Descartes auf die unzähligen Experimente der eigenen physikalischen Darlegungen oft sich beruft, so ist damit eben nicht die Einzelerfahrung rein für sich gemeint, sondern die Geltung, die die „Gründe" hier zur Rechtfertigung, zur Erklärung der wirklichen Erscheinungen besitzen. „Ich b e w e i s e im Einzelnen fast ebensoviele Experimente, als es Zeilen in meinen Schriften gibt." Und dadurch will er nicht allein „Rechenschaft von allen Phänomenen der Natur" gegeben haben, wie sie in bestimmten Erfahrungen uns vorliegen, sondern den Hinweis zugleich f ü r a l l e w e i t e r e n „ E x p e r i m e n t e , d i e m a n a n s t e l l e n k a n n " . 3 ) Das „Experiment" ist hier nicht im einfachen Sinne der sinnlichen Einzelerfahrung, sondern in seiner methodischen Bedeutung gefaßt. So betont Descartes gelegentlich, es sei „unmöglich, daß man nicht viele überflüssige u n d s e l b s t f a l s c h e Experimente mache, wenn man nicht die Wahrheit der Sache kennt, ehe man jene anstellt"! 4) In dieser paradoxen Formulierung wird der methodische Gedanke, daß man zur Verwertung der sinnlichen Empfindung ihre Gültigkeit „vorher auf andere Weise" konstatiert haben muß, für die methodologische Charakterisierung des wissenschaftlichen E x -
3)
') D I , 370; II, 29, 366; IX 2 , 17. 4) D I, 196. D IV, 224/5.
2)
D VI, 334, 340; I, 100.
Das Experiment als Problemausgang
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periments verwandt. Auf ein „sicheres Ziel" muß man hinblicken, wenn man zu einem für die methodische Erkenntnis nützlichen, ja überhaupt zu einem richtigen Experiment gelangen will. Die Erfahrung, ohne die „Rechtfertigung" der Vernunft, bietet eben keine Gewähr für die Zugehörigkeit des Wahrgenommenen zu dem als „Ziel" vorgesetzten Problemkomplex und kann, in diesen und seine intellektualen Verbindungen eingesetzt, ebensogut Falschheit als Wahrheit veranlassen. Erst die methodische Kontrolle kann die Erfahrung, die einzelne „Erscheinung" zum „Experiment" machen und sie der wissenschaftlichen Verwertung zuführen. 1 ) Mit diesen Formulierungen werden wir wieder auf die alten Bestimmungen der „Regeln" hingewiesen, die ja bezeichnenderweise ihre klarste Ausprägung auch gerade an Beispielen gefunden hatten. Die wechselseitige Übereinstimmung von Erfahrung und Vernunft war dort gefaßt als die des Problems, wie es durch die Experimente in seiner Besonderheit bestimmt wird, mit den komplexen Gebilden methodischer Deduktion. Und so werden denn nun auch in den allgemeineren logischen Fassungen, die für das Problem der Erfahrungserkenntnis in den Schriften der „metaphysischen" Zeit sich finden, die Grundmotive jener Methodenlehre fortgeführt und zu klarerem Ausdruck gebracht. Alle eigentliche Erklärung der „Phänomene", der „Experimente", der Wirkungen muß aus den „Gründen" der Vernunft, den „causae" erfolgen. Die „Gründe der Astronomie" müssen die wahre Idee von der Sonne liefern; in den „ewigen Wahrheiten der Mathematik" liegen die Grundbedingungen für alle physikalische Einzelerklärung. Aber darum muß man doch von den Erscheinungen a l s d e n P r o b l e m b e d i n g u n g e n ausgehen, durch sie die besondere Art der Deduktion mitbestimmt sein lassen. In d i e s e m ( a n a l y t i s c h e n ) S i n n e g e h t a u c h h i e r d e r W e g v o n d e n „ W i r k u n g e n " zu den „ U r s a c h e n " . 3 ) Die „Prinzipien", die konstituierenden Momente für die Erfahrungserkenntnis, die „Einfachen" der Ausdehnung und ihrer Modi „sind so weit (vasta) und so fruchtbar, daß viel mehr aus ihnen folgt, als wir in dieser sichtbaren Welt enthalten -sehen; und auch viel mehr, als unser Geist im Denken je durchlaufen könnte". Darum bedürfen wir der „Experimente": „ n i c h t z w a r , u m s i e a l s G r ü n d e zu g e b r a u c h e n , u m ') D IV, 501.
2)
D VI, 64.
Determination der Deduktionen
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e t w a s zu b e w e i s e n , denn wir suchen die Gründe der Wirkungen von den Ursachen zu deduzieren und nicht umgekehrt die der Ursachen von den Wirkungen; s o n d e r n n u r d a m i t wir u n s e r e n G e i s t d e t e r m i n i e r e n , a u s d e n u n z ä h l i g e n W i r k u n g e n , die, w i e wir u r t e i l e n , v o n j e n e n U r s a c h e n p r o d u z i e r t w e r d e n k ö n n e n , d i e e i n e e h e r zu b e t r a c h t e n , als die a n d e r e " . Darin besteht der „Gebrauch" der Phaenomene oder Experimente, ihr „Nutzen zum Philosophieren". 1 ) Je weiter man ins Einzelne hinabsteigt, um so unübersehbarer werden die Möglichkeiten, die sich aus den „Mischungen" der Einfachen, und wiederum aus denen ihrer Komplexionen, die sich mit der Explizierung der „eingeborenen Ideen" ergeben. Je mehr man also ins Einzelne kommt, um so mehr bedarf man der Experimente, um die unzähligen „Möglichkeiten der Existenz", die sich in der reinen Betrachtung der „Gründe" ergeben, zu tatsächlichen Existenzen, zu Einzelwirklichkeiten zu determinieren. 2 ) Indem aber durch diese bestimmte Beziehung der „Einfachen" auf die gegebenen Experimente deren Erklärung geleistet, diejenige „Mischung" der „einfachen Naturen" aufgezeigt wird, die eben diese Wirkungen zu „produzieren" imstande ist, muß sich zugleich die innerliche, tatsächliche Konstitution dieser „materialen Dinge" ergeben, wie sie auch in anderen Zusammenhängen, anderen Erfahrungsmomenten, anderen „Wirkungen" sich äußert. Indem man „alle die Eigenschaften erklärt, die die Erfahrung" uns erkennen ließ, erhält man zugleich die Möglichkeit, aus den gefundenen „Ursachen" „dann auch andere Eigenschaften zu deduzieren, die nicht so leicht bemerkt werden können". 3 ) So ergibt sich doch innerhalb dieser Erklärung gegebener Experimente selbst der Ansporn und die Befugnis zum Hinausgehen über deren Einzelheit — wie ja auch die Anweisung zu neuen Experimenten davon ausgehen sollte. ») D VIII, 81/2.
2
) D V I , 64 f.
3
) D VI, 83.
Drittes Kapitel. Die Methodologie der Universalwissenschaft und der Übergang von der Mathematik zur Physik. a) Die „Mathesis universalis". Die neue „Logik", die Descartes' Methodenlehre bedeuten sollte, ließ in der Fragestellung und in den einzelnen Formulierungen das Zusammenwirken zweier allgemeiner Problemtendenzen verspüren. Für die Interessen einer grundsätzlichen Reformation des wissenschaftlichen Denkens forderte und erstrebte Descartes, wie seine philosophischen und wissenschaftlichen Vorgänger und Zeitgenossen, die logische Herausarbeitung eines neuen allgemeinen „Instrumentes des Wissens". Das war es, wovon sein Methodengedanke den Ausgang nahm: mit der bewußten Auszeichnung und präzisen Ausgestaltung eines echten „Organons", wie es, zulangend für die prinzipiellen Ansprüche aller Forschung, dem rationalen Ursprungsorte der Erkenntnis sich sollte entnehmen lassen — mit dieser allgemeinen und doch streng auf die sachlichen Probleme bezogenen „Leitung des Geistes" sollten die „Regeln" den Problemanspruch einer exakten instrumentalen Forschungslogik zur Erfüllung bringen. Der formalistischen und bloß der Darstellung zugute kommenden Syllogistik gegenüber bedeuteten sie die echten, fruchtbaren „Vorschriften" für alles wissenschaftliche Vorgehen. Die Allgemeinheit dieser Aufgabenstellung aber, die über alle bloß abstraktive Herausarbeitung spezieller wissenschaftlicher Verfahrungsweisen hinaus den Blick auf den prinzipiellen Begriff der Methode als solcher richtete, auf die Struktur alles Verfahrens, soweit es nur wahre und sichere Erkenntnis zutage fördern will — diese Problemfassung mußte sogleich dahin wirken, den Schwerpunkt des Interesses vom bloß Methodologischen, vom rein instrumentalen Begriff der Methode auf eine andere Betrachtungsebene zu verlegen. Indem das Problem dieser „Logik" nach Ausgang und Ziel auf das Ganze eines
Erkenntnisprinzip und Methodologie
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idealistischen Erkenntnissystems bezogen wurde, gewann es selbst eine zentrale systematische Bedeutung, hinter der das methodologische Interesse zurücktreten mußte. Die Methodenlehre übernahm die Aufgabe, zum Ausgang und Fundament alles wissenschaftlichen Aufbaus einen exakten Begriff der Erkenntnis nach ihrer Ursprünglichkeit, ihrer Geltungskraft, ihren Grenzen zu gestalten. Darin konstituierte sich dann jener sachliche Zusammenhang, der nach der literarischen Seite hin in der Übereinstimmung der „Regeln" mit den wichtigsten Problementwicklungen der Metaphysik sich dokumentierte. Die methodologische Absicht konnte allenfalls noch den besonderen Charakter der Formulierungen mitbestimmen — aber wie jener Allgemeinheitsanspruch nur auf dem Grunde dieses philosophischen Erkenntnisbegriffs Geltung gewinnen konnte, so mußte diese ganze Fragerichtung sachlich um so weiter in den Hintergrund gedrängt werden, je mehr sich das Bewußtsein von der fundamentalen systematischen Bedeutung des Methodenproblems, als des Ausdrucks der „universalen Weisheit", durchzusetzen vermochte. Weil aber die „Metaphysik", als die Lehre von den „Prinzipien der menschlichen Erkenntnis", eben dieses Grundproblem des Systems ihrerseits im wesentlich entsprechenden Sinne wieder aufnahm, so kam es wiederum hier nicht zu einer eindeutigen und genauen Heraushebung des m e t h o d o l o g i s c h e n Gedankens. Wenn auch die Fundamente des Wahrheitsgebäudes auf Grund der methodischen „Leitung", auf Grund der „Anwendung" der allgemeinen „Vorschriften" auf den „intellektualen" Gegenstand zur Konstituierung gelangen: so wird doch der Schwerpunkt der Betrachtung wieder in dem Maße von solcher instrumentalen Auswertung der methodischen Bestimmungen abgerückt, als sich dieser Gegenstand, dieses Problem selbst wieder mit dem des allgemeinen Erkenntnisbegriffs, in diesem Sinne also auch mit dem der Methodenlehre, identifiziert. Es ist von besonderem Interesse, diese eigentümliche Verschiebung der Bedeutungsmomente in denjenigen Partien der „Regeln" zu verfolgen, die den allgemeinen Erkenntnisbestimmungen der metaphysischen Prinzipienlehre entsprechen; indem Instrument und Anwendungsobjekt nur zwei Seiten desselben Problems darstellten, mußte der methodologische Gesichtspunkt notwendig zurücktreten gegenüber dem systematischen, von dem ihm selbst erst Fundierung und Rechtfertigung seines Anspruches zuwachsen konnte.
i6o
Methode und „Universalmathesis"
In eben diesen Partien der „Regeln" aber meldet sieb bereits jene neue Zuwendung zur methodologischen Frage, die dann den Charakter des unmittelbar folgenden zweiten „Buches" dieser Schrift durchgängig bestimmt. Was im „intellektualen"^ Gebiet, in jener „reflexiven Betrachtung" zusammenfiel, das tritt nun in dem Problembereich des „Materialen" wirklich in zwei getrennte Sphären auseinander. Die Methode ist hier in keinem Sinne Gegenstand, sondern bloß Instrument, Mittel zur Bearbeitung jenes durch bestimmte Momente scharf abgegrenzten Problemstoffes der „sinnlichen", der „körperlichen Dinge". Nicht das allgemeine logische Fundament, nicht der Begriff der Erkenntnis als solcher steht hier in Frage — jetzt handelt es sich vielmehr um Entwicklungen innerhalb einer gewissen Gruppe von begrifflichen Inhalten, die auf einen bestimmten, der Erkenntnis gegenüberstehenden, ihr zum Ziel gesetzten Gegenstand hinstreben. So treten hier die „Vorschriften", die „Instrumente" der Problemaufgabe selbständig gegenüber; die Methodenlehre wird zur Methodologie. Es sind die Anweisungen der „ U n i v e r s a l m a t h e s i s " , die, schon zum Anfang der „Regeln" angekündigt, nun in diesem zweiten Teile der Schrift zur Ausführung gelangen. Der Terminus und die Stellung des Problems in der Disposition der Methodenlehre (die auf den ersten Blick zu Bedenken Anlaßgeben können) erhalten zufolge unserer bisherigen Bestimmung einen klaren Sinn. Daß trotz der engen Beziehung des rein, logischen Gedankens auf diese „allgemeine Wissenschaft" beide Probleme nicht etwa nach ihrem Geltungsbereich und demgemäß nach ihrer sachlichen Bedeutung identifiziert werden dürfen — das braucht nun nicht mehr betont zu werden. So. unmittelbar die Fragen bei der ersten Einführung des Begriffs in den „Regeln" wie im „Discours" aneinander geheftet werden,, so darf man doch die Methode nicht schlechthin auf die „materiale" Erkenntnis beschränken wollen: auch die „intellektuale'V die Erkenntnis von der Erkenntnis und ihren Bürgen untersteht dem allgemeinen logischen Gesetze. Auch sofern das Methodenproblem als methodologisches Anliegen gedacht wird, kann, es nicht in einer Methodologie der „materialen" Wissenschaften erschöpft werden. So gehört ja auch in den „Regeln" die spezielle Beziehung auf den „körperlichen" Gegenstand erst jenem „Teile" des Methodenproblems an, der von der zwölften Regel ab der eigenen Behandlung entgegenreift. Daß aber diese eine Anwendungsrichtung allein und un-
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Disposition des Systems
mittelbar auf die allgemeine logische Theorie folgt, daß nicht etwa, gemäß der inhaltlichen Einteilung der Erkenntnisobjekte, zu der Methodologie der „materialen" Erkenntnis sich in Koordination eine solche der „intellektualen" gesellt — das kann uns jetzt nicht mehr verwundern, nachdem wir gesehen haben, wie die letztere nach ihrem Gegenstand und dementsprechend nach der Allgemeinheit ihrer durch kein besonderes „Hülfsmittel" eingeschränkten methodischen Gesetze in den Bereich der allgemeinen Erkenntnislehre hineinfällt, wie sie daher der „körperlichen" Erkenntnis gegenüber nicht als beigeordnetes, sondern als übergeordnetes Gebiet sich darstellen muß. Dieselbe Gliederung finden wir dann ja auch in dem Aufbau des Systems; in dieser Dispositionsfrage stimmen die „Prinzipien" mit den „Regeln" völlig überein. So sehr, wie wir sahen, der „intellektuale" Gegenstand in den Begriffen von Seele und Gott seine eigene ontologische Wendung erhält: darüber hat doch Descartes keinen Zweifel gelassen, daß diese „Dinge" in seiner Metaphysik nicht als eigene Gegenstände im eigentlichen Sinne in Betracht kommen sollten, als welche sie den Körpern logisch zu koordinieren wären — häufig genug hat er mit aller Klarheit darauf hingewiesen, daß die ganze Bedeutung und Geltungskraft dieser Begriffe für die „erste Philosophie" in ihrem Fundierungswert für die Fragen der Erkenntnis, in ihrer Prinzipienbedeutung zu suchen sei. Daher folgen auch auf den ersten Teil, auf die „Prinzipien der m e n s c h l i c h e n E r k e n n t n i s " als die Probleme des zweiten Teiles die „Prinzipien der m a t e r i a l e n D i n g e " . In dem „Baume" des Wahrheitssystems entspringt aus der Wurzel der Metaphysik der eine und einheitliche „Stamm" der Physik; auf der „intellektualen" Fundierung erhebt sich als der positive wissenschaftliche Aufbau das System der „materialen" Erkenntnis. So muß man es verstehen, daß Descartes für die Methodologie dieser Erkenntnisart, mit ihrenbesonderenBedingungen und „Hülfsmitteln", den Ausdruck der „ U n i v e r s a l w i s s e n s c h a f t " einsetzt. So sehr die Ansicht abgewehrt werden muß, als ob mit diesem Terminus der systematische Einheitsgedanke der „universalen Weisheit" ohne Vermittlung verbunden werden dürfte, so sehr läßt doch gerade dieses Bild vom „Baume" der „Wahrheit" es ersehen, daß, da nach erfolgter allgemeiner Fundierung die „materiale" Erkenntnis das einheitliche Ausgangsgebiet für alle weiteren Wissensdisziplinen darstellen soll, die M e t h o d o l o g i e dieses Erkennens (wie sie, auf Grund der allC o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VI
II
IÖ2
, , m a t h e s i s universalis'
gemeinen Methodenlehre erwachsend, auf die besonderen Bedingungen der Körperwissenschaft eingestellt wird) als die a l l g e m e i n e W i s s e n s c h a f t s c h l e c h t h i n g e l t e n darf. Die Universalität gilt dem Gegenstand im engeren Sinne; wenn es in jener vorläufigen Erwähnung der „scientia generalis" heißt, daß sie dazu verhelfen müsse, „aus j e d e m b e l i e b i g e n Objekte die Wahrheiten herauszuholen", so zielt diese Allgemeinheit, wie auch die Beispiele zeigen, eben auf die Gesamtheit des „materialen" Gebietes, das Anwendungsbereich für die „mathesis". Nur die Wissenschaften, die als „Teile der Mathesis" angesehen werden, sollen durch diese „allgemeine Erforschung" ihre exakte methodologische Direktive erhalten. Der ursprüngliche Einheitsgedanke der Erkenntnis aber wird in dieser Spezialisierung des Methodenproblems deshalb nicht beeinträchtigt, weil dieser Erkenntnisbereich dem Gebiet des „Intellektualen" nicht als koordinierte Welt gegenübersteht, sondern sich auf ihm, als seinem allgemeineren und tieferliegenden Fundament erhebt.1) Ihrer methodischen Stellung nach wird die „Universalmathesis" als eine mathematische Wissenschaft charakterisiert. *) Vgl. D X, 374, 377. So bezeichnen denn die „Regeln" diese „allgemeine Wissenschaft" auch genauer als „ m a t h e s i s universalis"; wie sie dann auch in der Hineinziehung der Imagination keinen Zweifel über diesen eingeschränkten Sinn der „Universalwissenschaft" bestehen lassen. Eine wirkliche Vermengung der beiden Betrachtungsstufen könnte man allein in einer Briefstelle finden, die den späteren „Discours" unter dem Titel „Le projet dune Science universelle" ankündigt (DI, 339). Dieser Unbestimmtheit entspricht aber hier durchaus die Unklarheit in der Disposition dieser Schrift — die übrigens nicht so sehr sachlichem Schwanken, als der aus der Korrespondenz mit Mersenne klar ersichtlichen historischen Zufälligkeit ihres Entstehens bezw. der Zusammensetzung der in ihr vereinigten Sonderausführungen zuzuschreiben ist. So sehr nämlich auch die „Metaphysik" als „Probe" der neuen „Methode" auftreten soll — so werden doch unter dem ausdrücklichen Titel der „Essais" nur Behandlungen „materialer" Gegenstände befaßt. Die Absicht, die diese Schrift verfolgte: breitere Kreise für das philosophische und wissenschaftliche Vorgehen des Autors zu interessieren, heftete das Hauptinteresse auf die in sachlicher Hinsicht willkürlich herausgegriffenen mathematischen und physikalischen Probleme und die Methode, soweit sie an ihnen sich bewährt; in ganz unverbindlicher Weise sollte damit zugleich die Metaphysik nach einigen ihrer Grundmomente erwähnt werden. Es kam Descartes hier gar nicht auf die rein sachliche Stellung der einzelnen Gebiete und damit des Methodenproblems an; die „Methode" selbst bildete dabei meist nur den allgemeinen Ausdruck für die neue Denkungsart, die in diesen Proben ersichtlich werden sollte.
Nicht bloße mathematische Methodik
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Nicht aber - darf ihr Inhalt mit dem rein mathematischer Disziplinen identifiziert werden. Ihr Anwendungsbereich wird vielmehr durch die Gesamtheit der „materialen Dinge" bezeichnet. Die Probleme der Astronomie und Optik sollen nicht minder dieser Methodik unterstehen als die der Arithmetik und Geometrie. „Figuren und Zahlen" sind hier in keinem anderen Sinne bloße „Beispiele", Einzelanwendungen als „Töne und Sterne". Das „reine Objekt" wird hier in einem anderen Sinne auf den Gegenstand der Erfahrung bezogen, als es Descartes in der herkömmlichen Mathematik der Fall zu sein scheint. Denn diese Theorie der „scientia generalis" wehrt es ausdrücklich ab, bei den mathematischen Problemen in ihrer Isoliertheit stehen zu bleiben; diese „höhere" Wissenschaft will sich von der Eingeschränktheit auf die allzu „abstrakten", ohne „Anwendung" (usage) bleibenden Inhalte, auf solche „partikulären Studien" und „törichten Probleme" loslösen, „mit denen die Logisten oder die Geometer müßigerweise zu spielen pflegen": mit der Anleitung zur Lösung rein mathematischer Aufgaben soll unmittelbar zugleich auch eine allgemeine methodologische Fixierung für die exakte Behandlung der physikalischen Disziplinen, der „Astronomie, Musik, Optik, Mechanik und vieler anderer" gegeben werden.1) Die mathematische Methodik wird in dieser „mathesis universalis" ihrem Begriffe nach auf die Verwertung für die Wirklichkeitserkenntnis bezogen: „das unterscheidet diese „höhere Weisheit" von dem Spielen mit den isolierten Problemen aller auf das rein mathematische Gebiet gehefteten Erkenntnis.2) Darum heißt es, daß diese Betrachtungsweise nicht „wegen der mathematischen Probleme" angestellt werde, daß diese „vielmehr fast nur deshalb zu erlernen seien, um die Methode weiter auszubilden". Das Problem und das Verfahren der Universalmathesis als solcher soll von den >) D X , 373, 377 f; VI, 17. ! ) Hier liegt der sachliche Grund für die auf den ersten Blick so befremdend geringschätzige Beurteilung, die Descartes häufig über alle rein mathematische Betätigung zum Ausdruck bringt, wonach geometrische und arithmetische Problemlösung für sich allein geradezu in keinem anderen Sinne als „Spiele" von ihm gedacht scheinen als die L ö s u n g von Wort-Diagrammen. Der große Methodiker der Mathematik vermißte eben die rechte systematische Einstellung der mathematischen Probleme in die Gesamtheit der Erkenntnis, die Einsicht von der Bedeutung, die jenen „reinen" Wissenschaften trotz und in aller Unabhängigkeit ihrer Bestimmungen von der sinnlichen Erfahrung dennoch für die Erkenntnis des Wirklichen zukommt. 11*
Hilfeleistung der Imagination
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„Figuren" nicht weniger sich abscheiden „als von jeder anderen Materie". 1 ) Von allen jenen Einzelgegenständen losgelöst und doch auf sie alle bezogen, will diese „Wissenschaft" nichts anderes bedeuten als eine Methodologie exakter, d. i. mathematischer Naturwissenschaft. Wenn also für die Universalität dieser Problemstellung die mathematischen Gebilde auf dieselbe Stufe mit den physikalischen Gegenständen treten, so ist damit andererseits auch gesagt, daß es für diese Methodologie ihrem allgemeinen Begriff nach nicht auf jene Seite des Erkenntnisproblems ankommt, die in der Besonderheit des Erfahrungsanspruches die Fragen der „Physik" von denen der „reinen Mathematik" abscheidet. Gewiß wird sich die Universalmathesis in ihrer Anwendung mit den Bestimmungen vereinigen müssen, die aus jener prinzipiellen Erwägung hervorgingen —• aber ihr eigenes Problem ist zunächst darauf nicht gerichtet; allein die methodischen Grundmittel zur Gewinnung exakter Erkenntnis, wie sie für den ganzen Bereich des „Materialen", ohne Unterschied der Disziplinen, gelten sollen, kommen hier in Frage. Das gibt uns nun auch den ersten Fingerzeig zur rechten Einschätzung der Funktion, die hier den „Hülfsmitteln der Imagination und der Sinne" zugesprochen wird. Die prinzipielle Forderung, diese sekundären „Erkenntnisfähigkeiten" bei aller Erforschung von „Körperlichem oder Körpern Ähnlichem" ins Spiel zu setzen, vollzog die Abscheidung von aller „intellektualen" Erkenntnis. So muß denn in der spezialen Methodologie der materialen Wissenschaften der Beitrag dieser methodischen Mittel ein wesentliches Moment ausmachen — hier muß also die geforderte Hilfeleistung zur genauen Formulierung gelangen. Das aber ist schon jetzt klar, daß es sich jetzt nicht um eine derartige Beziehung auf die sinnliche Erfahrung handeln kann, wie sie in der Erörterung des Erfahrungsproblems zutage trat; die Allgemeinheit der Fragestellung verlangt die Zurückstellung dieses Anspruchs, die „Universalmathesis" als solche verbleibt im Gebiete des „Reinen". In einem gänzlich anderen Sinne vielmehr kommt jenes Doppelgespann hier in Frage: nicht die Sinne sind es, auf die es ankommt, während die Imagination nur das Zwischenglied zwischen Sinnesorgan und Intellekt bedeuten dürfte, sondern die Imagination, die „Phantasie" bildet hier das methodische Hülfsmittel, das seinerseits durch die sinnD X , 442, 452.
Geometrische Anschauung
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liehe Repräsentation nur unterstützt wird, wie die geometrische Anschauung des Dreiecks durch die gezeichnete Figur. 1 ) Wie aber hat nun Descartes diese Beziehung auf die Imagination, die er für alle „materiale" Erkenntnis, und so besonders auch für die mathematische im weitesten Sinne, als notwendig angesehen wissen wollte, des Genaueren definiert? Darüber kann kein Zweifel mehr entstehen, daß alle eigentliche Erkenntnisbestimmung ursprünglich vom Intellekt kommen muß. Der Verstand ist es, der in der „Anwendung" auf das imaginative „Bild" in ihm die eigentliche exakte Bestimmung trifft — das hatte sich als erstes logisches Fundament aus den Zweifelsbetrachtungen heraus ergeben. Die Imagination kann eben nur „Hilfsmittel" sein. Wie aber soll sie dann ihre beanspruchte Unerläßlichkeit für diese besondere Erkenntnisart behaupten können; was kann die Anheftung des Verstandes an dieses „besondere" „körperliche" Vermögen der Sicherheit und dem Gehalt seiner Begriffe hinzufügen? Eine allgemeine und eindeutige Beantwortung dieser Frage hat Descartes nicht gegeben. 2 ) Auch in den prinzipiellen Bemerkungen zu dem Problem der Imagination, wie sie in den späteren Schriften und in den Briefen sich finden, stehen beide Problemansprüche ohne Ausgleich einander gegenüber. Immer wieder heißt es, daß, während die Metaphysik sich mit den Gegenständen des bloßen Verstandes beschäftige, die Mathematik „die Imagination übe". Die Einbildungskraft wird als d e r „Teil d e s G e i s t e s " bezeichnet, „ d e r am m e i s t e n den m a t h e m a t i s c h e n W i s s e n s c h a f t e n D i e n s t e leistet". 3 ) Der allgemeine Begriff der Figur soll keine ,,intellectio distineta" bedeuten, wenn er „nicht auf irgend eine spezielle Figur bezogen ist"; 4 ) es soll aber gerade die Einbildungskraft charakterisieren, daß sie die besondere, die einzelne Figur „als praesent" mit aller Deutlichkeit uns darbietet, in ihrem Bilde uns zu einem „evidenten Intuieren" gelangen läßt. Andererseits wird in klarer Konsequenz der allgemeinen logischen Ausführungen die „Evidenz der Vernunft" auf das strengste von der „unserer Imagination oder unserer Sinne" abgeschieden, und aller echte Erkenntniswert auch beim Mathematischen in die erstere verlegt. „Selbst diese ganze Wissen») Vgl. D X , 417, 453. 2) V g l . a u c h N a t o r p , Descartes'ErkenntnistheorieS. 149fr.; C a s s i r e r , .Leibniz' System, Marburg 1902, S. 3 7 f r . ') D X , 202t.; 111,692; 11,622. 4) D V I I , 223.
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Eingeschränktheit der Imagination
schaft, die m a n a m m e i s t e n u n s e r e r I m a g i n a t i o n u n t e r w o r f e n g l a u b e n k ö n n t e , weil sie nichts anderes betrachtet als Größen, Figuren und Bewegungen, i s t d e n n o c h k e i n e s w e g s auf d i e s e P h a n t o m e f u n d i e r t , s o n d e r n n u r a u f die k l a r e n und d i s t i n k t e n Begriffe unseres G e i s t e s ; was diejenigen genugsam wissen, die sie nur ein wenig ergründet haben." l ) Und je schärfer in den prinzipiellen Erörterungen der Metaphysik der Intellekt von der Imagination als einer „gänzlich verschiedenen Operationsweise" abgetrennt wird, um so mehr wird der Imagination auch an Befugnis für die mathematische Erkenntnis entzogen. Die Erörterungen, die sich um das Beispiel des Tausendecks gruppieren, weisen mathematische Erkenntnisse auf, die nicht nur ihrem wesentlichen Gehalt nach von jenen „Phantomen" nicht abhängen, sondern die nicht einmal ihrer als B e g l e i t u n g des begrifflichen Moments bedürfen. Das Tausendeck läßt sich nicht distinkt imaginieren, das Bild, das man dabei erlangen könnte, würde sich nicht von dem des „Zehntausendecks" unterscheiden. Daher kann hier die imaginative Vorstellung schlechterdings nicht dazu beitragen, „die Eigenschaften zu erkennen, in denen das Tausendeck von anderen Vielecken sich unterscheidet". An dieser „ k o n f u s e n I d e e " kann sich keine distinkte Erkenntnis ihres Gegenstandes entwickeln. Sehr wohl kann ich dagegen den Begriff jener Figur klar und distinkt d e n k e n und aus ihm eine Fülle von Erkenntnissen schöpfen: von dieser „Idee" „ i n t e l l i g i e r e " ich ebensogut, daß es eine aus tausend Seiten bestehende Figur ist als ich intelligiere, daß das Dreieck eine Figur ist, die aus drei Seiten besteht". Diese „Intellektion" ist nicht „konfus", „denn Vieles kann s e h r klar u n d sehr distinkt d a v o n bewiesen werden". „In der Tat intelligieren wir jenes Ganze zugleich klar, wenn wir es auch nicht ganz zugleich imaginieren können". 2 ) Die Konsequenz, die sich hieraus ergibt, ist nicht nur diese, daß die „Ideen", durch die eigentlich die mathematischen Objekte erkannt — und das heißt eben intelligiert — werden, von sich aus nicht solche der Imagination und in diesem Sinne nicht „körperlich" sind (weil doch eben geometrische Erkenntnis auch dort stattfindet, wo die Ideen „nicht unter die Imagination fallen" 3 )): sondern zugleich damit muß es g a n z a l l g e m e i n als ) D III, 395; VI, 39-
4
) D VII, 72, 385-
3
) D VII, 385.
Intellekt und Imagination
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möglich bezeichnet werden, die geometrischen Gebilde zu denken, zu erkennen, ohne die „Hülfe" der Imagination überhaupt in Anspruch zu nehmen. Die „Figur" des Fünfecks kann ich ebensowohl „wie die Figur des Tausendecks intelligieren o h n e die H ü l f e d e r I m a g i n a t i o n " . „Eine und dieselbe Sache, wiedas Fünfeck, intelligieren wir anders und anders wieder imaginieren wir sie." „Da die Grenzen unserer Imagination sehr kurz und sehr eng sind, während unser Geist fast keine Grenzen hat, so gibt es wenige, s e l b s t k ö r p e r l i c h e Dinge, die wir imaginieren könnten, o b g l e i c h wir f ä h i g s i n d , s i e zu b e g r e i f e n . " Und so gibt es allgemein eine „ r e i n e I n t e l l e k t i o n s o w o h l der k ö r p e r l i c h e n als der u n k ö r p e r l i c h e n S a c h e n , ohne jede körperliche Gestalt".1) Trotz alledem wird die „Forderung der „Regeln", in aller „materialen" Erkenntnis sich des imaginativen Hülfsmittels zu bedienen, auch in diesen Zusammenhängen nicht etwa preisgegeben. Wie Descartes das imaginative „Intuieren" des Dreiecks oder Fünfecks dem reinen Intelligieren dieser „Ideen" stets schlechthin koordiniert, so spricht er es gelegentlich auch allgemein aus, daß die „einfachsten", die grundlegenden Inhalte der materialen Erkenntnis, „Ausdehnung, Figur und Bewegung zwar auch erkannt werden können durch den Verstand allein, a b e r viel b e s s e r d u r c h den V e r s t a n d , wie er von d e r I m a g i n a t i o n u n t e r s t ü t z t wird". 2 ) Und so wird man nun auch in den speziellen Ausführungen zur Universalmathesis einen durchaus eindeutigen und der prinzipiellen Schwierigkeit gerecht werdenden Begriff jener „Unterstützung" vergebens suchen. Die allgemeinsten Formulierungen allerdings, die sich dort für die Verwertung der Imagination und der Sinne finden, scheinen dem Dilemma dadurch zu entgehen, daß sie die Hilfeleistung rein auf das psychologische Gebiet verlegen, sie rein auf die Funktionen der „Aufmerksamkeit" und des „Gedächtnisses" beziehen.3) Das distinkte Erfassen der e i n z e l n e n „Idee" soll dadurch erleichtert werden, daß ihr Bild, ihre „Gestalt" der Einbildungskraft, bezw., „um dies bequemer leisten zu können", „die Sache selbst, die diese Idee repräsentiert, den Sinnen dargestellt", und so die ganze Aufmerksamkeit darauf geheftet wird. „Um aber aus Mehreren Eines zu deduzieren . . . muß man von den Ideen der Dinge 2 >) D VII, 72, 178, 387; III, 395. ) D VII, 72, 17S; III, 691. ) Vgl. D X , 410, 4 1 7 , 453; VI, 20.
3
„Zeichen" und „Linien"
das weglassen, was jetzt nicht in Betracht kommt 1 ), damit man das Übrige um so leichter im Gedächtnis behalten kann. Und auf diese Weise muß man nicht die Dinge selbst den äußeren Sinnen darbieten, sondern nur a b k ü r z e n d e F i g u r e n v o n i h n e n (compendiosae illarum quaedam figurae), die, sofern sie nur genügen, um den Irrtum des Gedächtnisses zu vermeiden, um so kürzer, desto bequemer sind". 2 ) Wo aber die Weite der Zusammenhänge auch das „Behalten" der „ganzen Figuren" selbst wiederum erschwert und das Denken zugleich zu „zerstreuen", die Aufmerksamkeit abzulenken geeignet ist, da sollen nun nicht mehr die Figuren selbst betrachtet, selbst „gezeichnet" und so „den äußeren Sinnen dargeboten" werden — dann treten wieder an ihre Stelle „zur Unterstützung der Imagination" „kurze Zeichen" (brevissimae notae)\ und indem die „Kunst des Schreibens" diese Noten in der Gestalt von „Buchstaben" sinnlich darstellt, giebt sie die Möglichkeit an die Hand, „ M e h r e r e s z u s a m m e n z u f a s s e n " , einen größeren Zusammenhang von „Bildern" zu überschauen, als es die in ihrer Ausdehnung so beschränkte Einbildungskraft mit den „Linien" allein vermöchte. 3 ) So kann es in allen noch so komplizierten Zusammenhängen erreicht werden, daß wir, „nachdem wir das Einzelne distinkt inspiziert haben . . alles durch eine sehr schnelle Bewegung des Gedankens durchlaufen und soviel als möglich zugleich intuieren". 4 ) Es ist nun sogleich klar, daß die Bedeutung der Imagination für die Erkenntnis des Materialen in dieser psychologischen Hülfeleistung s y m b o l i s c h e r Z e i c h e n d a r s t e l l u n g nicht völlig definiert sein kann. Wir haben es schon gelegentlich bemerken können, wie den psychologischen Erwägungen Descartes' immer eine sachliche Tendenz zugrunde liegt. So weist uns hier die Vereinigung der n f i g u r a e compendiosae" mit den „brevissimae notae" in ihrer rein psychologischen Fassung auf die Vereinigung von Geometrie und Algebra zurück, die in der Methode der analytischen Geometrie vollzogen wird. Die Darstellung in den Figuren hat eine engere Beziehung auf den Gegenstand der materialen Erkenntnis, als sie der Begriff einer symbolischen Repräsentation, eines „bequemen" „Ausdrucks" mittels der „Kunst des Schreibens" bedeuten kann. Wenn es heißt, daß ') quidquid praesentem attentionem non requiret. 2 3 ) D X , 417, vgl. 410. ) D X , 454; VI, 20. *) D X , 455. Zum Ganzen vgl. n o c h X , 413, 417, 438, 449, 453 ff.
„Beziehungen oder Verhältnisse"
169
die „Figuren" nur deshalb als besonders dienlich zu solcher Bezeichnung anzusehen seien, weil „nichts leichter unter den Sinn fällt als die Figur", und weil die „unendliche Anzahl der Figuren" gar wohl fähig sei, „alle Verschiedenheiten der sinnlichen Dinge auszudrücken (exprimere)", so deutet die Einschränkung auf die „sinnlichen Dinge" und der Hinweis darauf, daß der „Begriff der Figur in allem Sinnlichen involviert" werde, doch wieder (trotz der sehr lockeren und nur im Sinne „bequemer" Repräsentation zu fassenden Bezeichnung, die das Beispiel an dieser Stelle einführt) darauf hin, daß für den Gegenstand, insoweit er „material" ist, ein sachlicherer, methodisch reinerer Bezug auf die Gebilde der mathematischen Anschauung gefordert wird. 1 ) Es ist ja auch ohne weiteres klar, daß eine symbolische Repräsentation im rein psychologischen Sinne, als „Kunst des Schreibens", auch für die „intellektuale" Erkenntnis hätte in Anspruch genommen werden können, analog jener Ausdehnung, die das Gedächtnis durch die „Namen" auch auf das „intellektuale Ding" gewann. Um nun die sachliche Beziehung auf die Imagination, als geometrische Anschauung, in ihrer Stellung zum Problem der Universalmathesis, der allgemeinen Methodik der „materialen" Erkenntnis, zu definieren, bedarf es der Zuwendung zu dem einheitlichen Gegenstand, dem „reinen Objekt" dieser Wissenschaft. Die Universalität dieser „Mathesis", wie sie auf alle mathematischen und physikalischen Probleme Anwendung soll finden können, muß ja in ihrem Inhalt sich konstituieren, insofern dieser ein Problemgebiet bezeichnet, das allen jenen Disziplinen, der Geometrie und der Arithmetik, wie der Optik und der Astronomie gleichermaßen innewohnt, ihrer Gestaltung zugrunde liegt — ganz entsprechend jener logischen Bestimmung des „Allgemeinen" als der einheitlichen „einfachen" Idee, die „auf Vieles angewandt wird." Diesen a l l g e m e i n e n G e g e n s t a n d der Universalwissenschaft, um dessentwillen alle die Einzeldisziplinen „Teile der „Mathesis" genannt werden dürfen, definiert Descartes in dem Begriff der „ B e z i e h u n g e n o d e r V e r h ä l t n i s s e " (habitudines sive proportiones; rapports ou proportions). Die „mathesis universalis" ist die W i s s e n s c h a f t v o n d e n „ a l l g e m e i n e n V e r h ä l t n i s s e n " (proportions en général). Alle die „besonderen Wissenschaften, die man gewöhnlich mathematische nennt, . . . ') DX.4I3-
170
„Allgemeine
Größe"
kommen, obgleich ihre Objekte verschieden sind, doch darin alle miteinander überein, daß sie nichts anderes betrachten als die verschiedenen Beziehungen oder Verhältnisse, die in jenen sich finden". In dieser Erforschung der Verhältnisse als solcher wird die „Summe der ganzen rein mathematischen Wissenschaft umfaßt" und damit zugleich alle physikalische Erkenntnis, soweit sie unter die mathematische Methodik gebracht wird.1) Alle Proportionen nun werden methodisch auf eine bestimmte, auf die „einfachste" Verhältnisart dirigiert. „Die Proportionen müssen darauf reduziert werden, daß eine Gleichheit ersichtlich wird zwischen dem Gesuchten und etwas Bekanntem"; alle Beziehungsarten „sind zu Gleichheiten (Gleichungen2)) zu entwickeln". Da nun die Gleichheit nur in Inhalten gefunden werden kann, die dem „Mehr und Weniger" unterstehen, „was alles unter dem Namen der Größe befaßt wird", so kann der einheitliche und von aller besonderen Anwendung losgelöste Inhalt der Universalmathesis auch durch die „ a l l g e m e i n e G r ö ß e " (magnitudines in genere) definiert werden. Die exakte, die mathematische Bestimmung der allgemeinen Größenverhältnisse ist es, die alle Einzelerkenntnis der mathematischen wie der physikalischen Objekte begründet; die Fragen der Größenrelationen sind die „einfachsten" Probleme, die allen „Teilen" der Mathesis gleichermaßen innewohnen; wozu dann in diesen „gemäß der Besonderheit ihrer Objekte" neue, spezielle Problemmomente hinzutreten. So präzisiert sich in dem Begriff der Größe die einheitliche Methodik für den Wissenschafts-Stamm der „materialen Erkenntnis". 3 ) Bliebe die Universalmathesis in ihren Entwicklungen bei diesem abstrakten Begriff der Verhältnisse und der Vergleichungsgrößen stehen, so müßte sie als eine rein begriffliche Theorie nach Art der Algebra verstanden werden, und die Hülfeleistung der Imagination würde doch wieder auf die psychologische Repräsentation der Proportionen und Gleichungen in den Buchstaben-Zeichen eingeschränkt. Die Algebra in ihrer Isoliertheit aber gilt Descartes als eine allzu „abstrakte", als eine „dunkle und verworrene Kunst, die den Geist behindert, statt einer Wissenschaft, die ihn ausbildet". 4 ) Erst durch die Hinzuziehung ») D X , 385; VI, 20. S. den Begriff der Gleichung in der „Geometrie" D V I , 372. ä)
D X , 440 f., 378; vgl. C a s s i r e r , Leibniz' System S. 8 f.
4)
D VI, 18.
Übertragung auf die Ausdehnungs-Größe
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einer anschaulich-geometrischen Darstellung soll sich mit der Allgemeinheit ihrer Entwicklungen die Klarheit und Distinktheit vereinigen können, wie sie für die Erkenntnis des materialen Objekts gefordert werden muß. Da aber „nichts von der Größe im allgemeinen ausgesagt wird, w a s n i c h t a u c h auf j e d e b e l i e b i g e im b e s o n d e r e n b e z o g e n w e r d e n k ö n n t e " — so wird es als methodische Regel aufgestellt, die allgemeinen abstrakten Beziehungen „auf d i e j e n i g e S o n d e r a r t d e r G r ö ß e zu ü b e r t r a g e n , die von a l l e n am l e i c h t e s t e n u n d d i s t i n k t e s t e n in u n s e r e r I m a g i n a t i o n g e m a l t wird", das ist auf die geometrische Figur. 1 ) O h n e d i e G r ö ß e a l s s o l c h e „ i r g e n d w i e d a r a u f zu b e s c h r ä n k e n " , soll sie doch in der Behandlung ihrer Probleme an die Objekte angeheftet werden, „die dazu dienen können, mir ihre Erkenntnis l e i c h t e r zu machen". Diese Objekte sind die des Urgebiets der Imagination: der Ausdehnung. So „kann und muß" denn „alles das, worin genau die Schwierigkeit" in den mathematischen und physikalischen Aufgaben besteht, „von j e d e m a n d e r e n O b j e k t e a b g e s c h i e d e n und d a n n auf A u s d e h n u n g u n d F i g u r e n ü b e r t r a g e n werden".2) Auch die Figur aber kommt wiederum nicht im allgemeinen Sinne der synthetischen Geometrie für diese Methodik als solche in Frage: galt die Algebra als verworren, so heißt es von der überkommenen Geometrie, sie sei „so an die Betrachtung der Figuren gebunden, daß sie den Verstand nicht üben kann, ohne zugleich sehr die Imagination zu ermüden"; ihre „oberflächlichen Beweise" scheinen Descartes „mehr die Augen und die Imagination als den Intellekt" anzugehen, sodaß man sich „in gewisser Weise des Gebrauches der Vernunft selbst entwöhnt" habe. 3 ) Die Beschränktheit der Imagination, wie sie die Betrachtungen über das Tausendeck ans Licht stellten, sollen in dieser Methodik ebensogut überwunden werden, wie andererseits wieder die abstrakten algebraischen Beziehungen durch die imaginative Anwendung die vermißte Klarheit und Distinktheit erlangen sollen.4) Nicht in unbeschränkter Konkretheit sollen daher die Figuren auftreten dürfen — in der Methodologie der Universalmathesis sind „die Proportionen 5 ) n i c h t ' w e n i g e r v o n i) D X, 441.
l
) D X , 441 f.; vi, 20. ') D X, 375; VI, 20. ) Zur „Geometrie" als einer algebraischen Theorie vgl. D X , 78, 333, 461—469; L i a r d , Descartes S. 47. 5 ) So in Buchenaus Übersetzung (Philos. Bibliothek Bd. 26, S. 92) richtig statt „propositiones". 4
IJ2
„Zusammenwirken" dreier Wissenschaften
j e n e n F i g u r e n zu a b s t r a h i e r e n , ü b e r die die G e o m e t e r h a n d e l n , a l s v o n j e d e r a n d e r e n M a t e r i e " : nur in ihrer „einfachsten" Form, als „Linien" (Strecken) kommen hier zunächst die geometrischen „Bilder" in Frage. Die Entwicklungen der Größenbeziehungen müssen in der algebraischen Behandlung von Streckenverhältnissen der Imagination vorgeführt werden, weil „in keinem anderen Objekte distinkter alle Unterschiede der Proportionen sich darstellen lassen". Um bei der Beschränktheit der Einbildungskraft doch stets klare „Bilder" zu erhalten, darf diese immer nur „auf eine oder zwei" Strecken „zugleich" gerichtet werden, erst in der „sukzessiven" Aneinanderreihung werden die weiteren Zusammenhänge gestaltet; und es sind wiederum die algebraischen Beziehungen mit ihren „kurzen Noten", die diese Aufreihung ermöglichen. So soll die Forderung erfüllt werden, in der methodischen Behandlung der materiellen Objekte „nichts zu tun ohne die Hülfe der Imagination". Alle exakte Erkenntnis der Größenbeziehungen, alle algebraischen „Operationen" werden in dieser Weise „auf das Examen der Imagination bezogen". 1 ) So erklärt sich jener Satz des „Discours", daß in der „Universalwissenschaft" „drei Künste oder Wissenschaften zusammenwirken" und in ihr ihre „Vorteile" vereinigen: die „ L o gik", die „Analyse der Geometer" und die „Algebra". Aus der Logik stammt die allgemeine methodische Grundlage; die „allgemeinen Größen", die „Proportionen", wie sie die Algebra behandelt, bezeichnen den einheitlichen Gegenstand (wie ja hier auch die Proportionszusammenhänge, die Gleichungen, die einzelnen Glieder der Deduktionsketten durch die algebraischen „Buchstaben" repräsentiert werden); die geometrisch-anschauliche Darstellung endlich gibt das Mittel zur „ P r ü f u n g " der Entwicklungen, zur distinkt-imaginativen Ausprägung. Für die besondere Art der Ausübung liegt der Schwerpunkt auf diesem letzten Momente. Nur diejenigen Größenrelationen sind nach dieser Methodik als exakt anzusehen, werden nach ihr „klar und distinkt" eingesehen, für die auf diese Weise eine geometrische Darstellung sich geben läßt 2). So sehr der Imagination ») DX,441,443. 449 f-, 452. 454.464; VI,20; VII, 113. Vgl. auch C a s s i r e r , Leibniz' System S. 38f. 2 ) Vgl. dazu auch D VI, 390, 392; II, 517. Der Ausschluß der „mechanischen" Kurven bezw. Funktionen aus der mathematischen Behandlung, der damit begründet wird, daß für sie „eine exakte Erkenntnis ihres "Maßes" nicht möglich sei, wird letzten Endes allerdings nicht durch die
Methodik der analytischen Geometrie
173
der Eigenwert genommen werden soll, den ihr die traditionelle Geometrie zuzuschreiben scheint, so sehr der logisch-algebraische, der intellektuale Anteil in der Universalmathesis dem imaginativen sachlich vorausliegt, so soll dieses „Examen" der anschaulichen Darstellung dennoch ein wichtiges und unerläßliches methodisches Moment bilden. Die Imagination ist nicht bloß psychologisches Hilfsmittel, sondern sie bedeutet eine eigene Instanz im Zusammenwirken der bestimmenden Prinzipien des wissenschaftlichen Verfahrens. Unschwer erkennt man in diesen allgemeinen Formulierungen die Grundbestimmungen, durch die sich die Methodik der analytischen Geometrie definiert 1 ). Für unser allgemein - logisches Interesse genügt es, die wichtigsten unter den Einzelbegriffen des Verfahrens anzudeuten, soweit sie eben zugleich auf die physikalische Anwendung dirigiert sind. Die methodische Vergleichungsbetrachtung setzt voraus, daß „Gesuchtes und Gegebenes an einer gewissen Natur gleicherweise partizipieren" 2 ). Die Formulierung der Verhältnisse und ihre Reduktion auf die Gleichheit „des Gesuchten mit etwas Bekanntem" ist nur möglich durch die Bezugnahme auf eine gemeinsame Basis, eine bestimmte „ D i m e n s i o n " der Vergleichung. Die drei Dimensionen des Raumes bieten für dies Moment das erste, im rein mathematischen Gebiete verbleibende Beispiel 3 ). Der Durchführung der Vergleichungserwägungen aber dienen die Mittel geometrische Einschränkung, sondern durch die enge Fassung des Funktionsbegriffes bedingt. ') Vgl. dazu C a s s i r e r , Leibniz' System S. 8ff.; Erkenntnisproblem Bd. I. S. 380f. — E s muß hier ausdrücklich bemerkt werden, daß die Darstellung der „ G é o m é t r i e " , die man als die eigentlich authentische Quelle für das Verständnis der Cartesischen Erfindung anzusehen gewohnt ist, durchaus nicht die Methode der „Universalmathesis" als solche bedeuten will, sondern nur deren A n w e n d u n g auf geometrische Probleme einerseits und auf die Theorie der algebraischen Funktionen andererseits ! Die Ausführungen dieses dritten „ Essais " stellen nichtsanderes dar als jene „Einkleidung" des Verfahrens in die Probleme der Zahlen und Figuren, von der die vierte Regel sagt, daß sie die allgemeine Lehre nicht „verdecken", „sondern vielmehr sie so bekleiden und schmücken will, daß sie dem menschlichen Geiste sich besser anpassen möchte". Figuren und Zahlen haben nur als besonders „evidente" und „sichere Beispiele" der allgemeinen Theorie zu gelten (X 374). — In diesem Sinne kann die Frage als unnütz betrachtet werden, ob die „Géométrie" mehr auf eine analytische Behandlung der Geometrie als auf eine geometrische Veranschaulichung der algebraischen Funktionen hinzielt. 2
) D X , 440.
3
) D X , 448-
m
. O r d n u n g und M a ß "
der „ E i n h e i t " und des „ M a ß e s " . Indem die Größenbeziehungen auf die geometrischen Verhältnisse übertragen werden, ergibt die Reduktion eine zahlenmäßig bestimmte Wiederholung des gleichen geometrischenEinheitsmaßes bezw.,bei inkommensurablen Größen, eine Zuordnung von Strecken, die zum Einheitsmaß in einem bestimmt definierten Verhältnis stehen 1 ). Die „Dimension" bezeichnet daher „nichts anderes als die Art und Weise, gemäß deren irgend ein Objekt als meßbar betrachtet wird". Und so definiert sich die Methode der „Universalmathesis" in den beiden Hauptbegriffen der „ O r d n u n g " und des „ M a ß e s " 2 ) . Während dem Begriff der „Ordnung" die Funktion zufällt, das allgemeine logische Grundmotiv der Methode für das Problem der Größenrelationen zur Durchführung zu bringen, liegt in dem Moment des „Maßes" eben jene Beziehung zur imaginativen Darstellung, zur Übertragung der „allgemeinen Größen" auf die der ebenen Geometrie, die das Eigentümliche dieses Verfahrens gegenüber einer Proportionenlehre bezeichnet, die sich solcher „Vermittlung" der Streckeneinheit nicht bedient. Die Geometrie selbst ist, unter dem Gesichtspunkt der neuen Mathesis betrachtet, nichts anderes als „eine Wissenschaft, die allgemein die M a ß e aller Körper zu erkennen lehrt 3 )". Daher soll sich auch die Methodologie der „Universalmathesis" „hauptsächlich" mit dem Prinzip des „ M a ß e s " beschäftigen 4 ). Die „Ordnung" aber bleibt darum doch die grundlegende Bestimmungsinstanz: „die Hilfeleistung der Methode besteht hauptsächlich in diesem Fortschritt, daß die Schwierigkeit, die in der Erkenntnis des Maßes besteht, schließlich nur noch von der Erforschung der Ordnung abhängt" 5). In dieser logischen Voranstellung des Ordnungsbegrififes kommt die allgemeine Grundtendenz wieder zum Vorschein, die bei aller Anlehnung an die Imagination die eigentliche Erkenntnisinstanz dennoch durchweg im „reinen Intellekt" gelegen sieht. Im Begriff der „Dimension", wie Descartes ihn faßt, liegt nun aber auch, entsprechend seiner ursprünglichen Beziehung auf die allgemeinen Größenrelationen, die allen „ T e i l e n " der „Mathesis" als gemeinsames „sujet" zugrunde liegen, unmittelbar die Richtung der allgemeinen Methodik auf die Auswertung in physikalischen Problemen. Neben den räumlichen Dimen2 3 >) D X , 4 4 5 . 4 4 7 , 449/50. ) D X , 378, 447, 4 5 i f ) D V I , 389. e ) D X , 452; vgl. C a s s i r e r , D X , 451. Leibniz' S y s t e m S. 9ff.
4)
Physikalische Auswertung
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sionen treten als Beispiele von solchen Modi, „gemäß denen die Objekte als meßbar betrachtet werden", „Schwere" und „Geschwindigkeit" auf 1 ). Solche Beziehungsgrundlagen — deren es in jedem Objekte „unendlich viele verschiedene geben kann" — liefern die Mittel, um die Grundforderung der Methode, die „allgemeine Regel" des „Klaren und Distinkten" auch in der Erforschung der wirklichen „sinnlichen Dinge" zur Durchführung zu bringen. Für die Lösung physikalischer Probleme dürfen keine „neuen Seinsarten" angenommen werden: aus den „entia jam nota", den „einfachen Naturen" und deren „Mischung" müssen alle erfahrenen „Wirkungen" sich erklären lassen 2 ). Der „mathesis universalis" kommt aber genau dies zu: die exakte Bestimmung der einzelnen Momente in dieser Mischung zu leisten. So werden die Bewegungsvorgänge durch die Vermittlung der Geschwindigkeitsdimension als Verhältnisse unter mathematischen Größen dargestellt. Darin besteht daher alle Schwierigkeit in der Behandlung der Probleme : eben jene Basis für die Vergleichung, die Größenbestimmung zu finden, und auf sie die entsprechenden Momente zu beziehen. „Fast der ganze Eifer der menschlichen Vernunft besteht darin, diese Operation (der Größenvergleichung) zu präparieren" 3 ), die in den Objekten involvierten Vergleichungsbeziehungen herauszuschälen. Das gilt für die mathematischen Objekte in keinem prinzipiell anderen Sinne als für die physikalischen. Wie die Probleme dreidimensionaler Figuren in diesem Verfahren auf Fragen der „allgemeinen Größen" und damit auf die Behandlung von Streckenbeziehungen in der Ebene übertragen werden 4), so müssen auch die Proportionen, in denen das Gewicht oder die Bewegungsform der physikalischen Körper sich bestimmen läßt, von dem besonderen Bezug auf diese Dimensionen losgelöst und „ d u r c h e i n e g e w i s s e A n a l o g i e " auf die Ausdehnungsgröße übertragen werden. Die „Analogie" — oder wie es in einer allgemeinen Bedeutung dieses Terminus auch heißt: die „Vergleichung" 5) — ist das methodische Mittel, das es erlaubt, alle Probleme des „Körperlichen", an welchem besonderen „sujet" sie auch haften mögen, nach ihren grundlegenden Momenten abzuscheiden und 2 *) D X, 447f. ) Vgl. noch D X , 413, 43Bf. » ) D X , 440. *) Vgl. dazu VI, 440; X, 452«) In den „Regeln" gehen beide Bedeutungen dieses Ausdrucks unbefangen neben einander her, oft sehr zum Schaden der Eindeutigkeit der Darstellung.
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Methode der Analogien in der Dioptrik
in einem exakteren Zusammenhang zur Behandlung zu bringenEs soll nicht etwa durch die Analogie als solche (die übrigens selbst' wieder durch mehrere Zwischenglieder sich vollziehen kann) eine „Erklärung" geleistet werden, so wenig als es darauf ankommt, ob den vermittelnden „Dimensionen" unmittelbar ein selbständiges Moment im wirklichen Objekt entspricht: sondern nur der Hebel zur Reduktion der konkreten Probleme auf mathematische Größenbestimmungen kann und muß in ihr gegeben werden 1). Es steht zu vermuten, daß der dritte Teil der „Regeln" gerade für diese, durch die Vermittlung der „Dimensionen" sich vollziehende, mathematische Behandlung der physikalischen Probleme nähere Formulierungen geben sollte. 2 ) Einen gewissen Ersatz kann uns hier ein Beispiel aus dem ersten der „Essais" gewähren, aus der „Dioptrik", in welcher Disziplin Descartes nächst der Geometrie am klarsten die methodische Tendenz seiner Universalwissenschaft zur Durchführung gebracht hat. Es handelt sich um das grundlegende Problem der Lichtbrechung, dessen exakte Lösung dann in dem bekannten Sinusgesetz gegeben wird. Das allgemeine Vorgehen in dieser Frage der „Physik" folgt dem Wege, der schon in dem optischen Beispiel der „Regeln" eingeschlagen wurde: der analytische Rückgang führt zu dem „Absolutesten in dieser Reihe", dem Begriff der „Naturkraft". Und unter dessen Direktive wird (durch das Zwischenglied der „Inklination der Bewegung") das Problem der Lichtbrechung analogisch (per imitationem) übertragen auf die Frage nach der Bewegungsänderung eines auf eine Fläche geschleuderten Balles. In der Untersuchung dieses „Bewegungs"-Problems ergeben sich dann zwei Dimensionen, zwei meßbare „Quantitäten", die nun unter Absehung von allen anderen Bestimmungen des bewegten Körpers, wie „Schwere, Größe, Figur", rein für sich und von einander getrennt behandelt werden: die Bewegung und ihre Geschwindigkeit einerseits, die Richtung der Bewegung andererseits. So gelingt es, durch die „Analogie" dieser Dimensionsgrößen und ihrer funktionalen Beziehung zu denen der analytischen Geometrie, jene Quantitäten „in Linien darzustellen, die Proportionen durch die Quantität dieser geraden Linien", die „miteinander verglichen werden", zur Maßbestimmung zu bringen. Das allgemeine Gesetz der Lichtbrechung, die mathematische Funktion, die erst alle Bestimmung der besonderen „Wirkungen" ') DX, 439, 441, 448.
*) Vgl. DX, 459, auch 389 „de qua postea
Exakte Tendenz dieser „Vergleiche"
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in den verschiedenen Medien möglich macht, stellt sich so als ein „Verhältnis zwischen Linien" dar. Auf diese Weise werden die Probleme der Physik „denen der Mathematik gewissermaßen ähnlich gemacht". Und es wird auf das strengste betont, daß solche auf dem Wege der Analogie gewonnene Bestimmung als vollgültige Problemlösung zu gelten hat: nicht nach irgend einer besonderen „Seinsart" des Lichtes fragt die Optik, sondern nach einer exakten Bestimmung durch die „aus sich bekannten" „einfachen Naturen", wie „Körper, Figur, Ausdehnung, Bewegung, Ort", die gemäß ihrer Herkunft aus dem „reinen Licht der Vernunft" den allgemeinen Gegenstand der Mathematik, als der ersten und „einfachsten" Wissenschaft bilden. „Es ist nicht nötig, daß ich es unternehme, wirklich zu sagen, w a s d i e N a t u r d e s L i c h t e s i s t , und ich glaube, es wird genügen, daß ich mich zweier oder dreier Vergleiche bediene, die dazu verhelfen, es so zu begreifen, wie es mir am bequemsten scheint, u m a l l e d i e j e n i g e n v o n s e i n e n E i g e n s c h a f t e n zu e r k l ä r e n , die d i e E r f a h r u n g u n s e r k e n n e n l ä ß t , und um dann alle die anderen abzuleiten, die nicht so leicht bemerkt werden können." Der Zusammenhang mit den früheren Bestimmungen der Methodenlehre liegt auf der Hand. Die physikalische Erkenntnis besteht in einer analytischen Zurückführung auf die „einfachen" Begriffe, aus deren „Mischung" dann die sinnlich erfahrenen „Wirkungen" sich müssen rekonstruieren lassen. Die „Universalmathesis" gibt in ihrer analogischen Vermittlung zwischen den verschiedenen Dimensionen die Methode zur exakten Erforschung jener „Mischung". Die mathematische Fixierung der „Proportionen oder Verhältnisse" im Gebiet der wirklichen Körperwelt, diese exakte Formulierung der physikalischen Gesetzlichkeit gilt für die Methodologie der Universalwissenschaft gegenüber aller willkürlichen und unmethodischen Analogie-Erklärung der „substanziellen Formen" als die echte, aus dem „Schatz des Geistes", dem „reinen Licht" gewonnene „Erkenntnis der materialen Dinge". 1 ) Die Erkenntns des körperlichen „Dinges" gründet sich in der der mathematischen Proportionen — wie ja auch der allgemeine Begriff der „Natur" in den „mathematischen und mechanischen Gesetzen" sich definierte. ') D VI, 83—102.
C o h e n u n d N a t o r p , P h i l o s o p h i s c h e Arbelten VI
12
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Die spätere Theorie der physikalischen Erkenntnis
b) D i e „ a b s t r a k t e " M a t h e m a t i k u n d d i e „ P r i n z i p i e n d e r materialen Dinge". Der Begriff der physikalischen Erkenntnis, wie er in dem Gedanken solcher Anwendung und eigentlichen Auswertung der „Universalmathesis" sich bestimmt, ist jedoch nicht zum bleibenden und durchgängig beherrschenden Gesichtspunkt der Cartesischen Naturlehre geworden. Der systematische Aufbau der „materialen" Wissenschaft, den die „Prinzipien" geben sollen, ist weit davon entfernt, in seiner allgemeinen Struktur und der besonderen Formulierung der einzelnen Aufstellungen eindeutig und bestimmt die exakte Anwendung jenes Verfahrens, die Erfüllung jener methodischen Forderungen zu repräsentieren, die aus jenen allgemeinen und grundlegenden Andeutungen sich ergeben mußten. Vielmehr wurde der fundamentale modern-wissenschaftliche Gedanke einer allgemeinen Reduktion der physikalischen Probleme auf Funktionalbestimmungen der Mathematik nach der Exaktheit seiner methodischen Formulierungen wie nach der kritischen Beschränkung seines Begriffs der „Erklärung" durchkreuzt und verdrängt von einer in allgemeineren Begriffsfassungen sich bewegenden Tendenz, die zwar auch den Bezug der Physik auf die Mathematik in den Vordergrund zu stellen bemüht war, die aber mit der Preisgabe jener Selbstbeschränkung zugleich die Möglichkeit verlor, diesem Zusammenhange wahrhafte methodische und wissenschaftliche Fruchtbarkeit zu verleihen. Es ist nicht nur der Wechsel des allgemein-systematischen Gesichtspunktes, der die Lehre von den „Prinzipien der materialen Dinge" so weit abrückt von der Methodologie der „Universalwissenschaft": in den Gegensätzen der beiden Darlegungen tritt zugleich und vor allem eine innere Wandlung in Descartes' prinzipieller Stellungnahme gegenüber dem Problem der Wirklichkeitserkenntnis zutage. Schon die „Essais" stellen nur zum geringen Teile eine wirkliche Ausprägung des Verfahrens der „Universalmathesis" dar. Die späteren Partien der „Dioptrik" und der „Meteore" bieten in ihrer unkritischen A r t , die erfahrenen „Phänomene", ohne Hinzunahme irgendwelcher exakten mathematischen Einzelbegründung, zu „erklären", genau den gleichen Aspekt, wie der kosmische „Roman" der „Prinzipien", der den kommenden Systematikern der „neuen Wissenschaft" als so unzureichend und methodisch wertlos galt. Und so zeigen denn auch die
Analogien und Dimensionen
logischen Formulierungen des „Discours" (dessen sachliche Stellung wir früher schon mit der des ausgereiften Systems identifizierten), daß Descartes im Grunde doch mit jener Forderung einer exakten Maßbestimmung aller Naturvorgänge die Aufgabe der Physik keineswegs erschöpfend bezeichnet, ja nicht einmal nach ihrem zentralen Interesse erfaßt glaubte. — So sehr die Methodologie der Universalwissenschaft in ihrer Allgemeinheit über dem Unterschiede der mathematischen von den physikalischen Disziplinen stehen sollte, so ist es doch ohne weiteres klar (was bei Descartes selbst nicht zu besonderer Heraushebung gekommen ist), daß jener Bezug, den alle p h y s i k a l i s c h e Anwendung der Methode auf die Erfahrung, auf das Experiment zu nehmen hat, und nach welchem, gemäß den Feststellungen der „Regeln", die Wirklichkeitserkenntnis von aller Behandlung der selbstgestellten mathematischen Probleme sich prinzipiell unterscheidet — daß diese Beziehung hier in den jeweiligen D i m e n s i o n s b e g r i f f e n ihren logischen Ort finden muß. Die analytische Reduktion des zum Problem gestellten Phänomens auf die in ihm enthaltenen, seiner exakten physikalischen Struktur zugrunde liegenden Größenbeziehungen wird ermöglicht durch die geeignete Wahl aus den unendlich vielen möglichen „Dimensionen". In der methodischen Verwertung der „Analogien", der „Vergleiche" wird der W e g gefunden, der, von der Besonderheit des gegebenen Naturproblems ausgehend, schließlich dennoch zu einer Lösung der Aufgabe in den exakten Mitteln rein mathematischer Theorie zu führen vermag. Und nicht in den Analogien selbst liegt die eigentliche Erkenntnis: diese methodischen Momente sind und bleiben bloße M i t t e l der Reduktion, bloße „Voraussetzungen", deren Wert darin beschlossen ist, daß sie die sinnliche Gegebenheit des einzelnen Phänomens zur „klaren und distinkten" Bestimmung hinaufzuführen gestatten. Dieser Disposition des Problems entspricht durchaus jene Formulierung des „Discours", nach der die allgemeinen „Suppositionen", die den Einzelbestimmungen der „Essais" zugrunde liegen, in ihrer eigenen Geltung durch den Erklärungswert dieser Annahmen für die erfahrungsmäßig bekannten „Wirkungen" erwiesen werden. „Denn wie mir scheint, folgen dort die Gründe in der Weise auf einander, daß, wie die letzten durch die ersten bewiesen werden, die ihre Ursachen (causes) sind, so umgekehrt die ersten durch die letzten, die ihre Wirkungen sind". Wenn die vorausgesetzten „Ursachen" fähig sind, „Wirkungen", die 12*
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B l o ß e Suppositionen
„die Erfahrung sehr gewiß gemacht" hat, zu „erklären", so werden damit auch sie selbst als gültig „erwiesen" (prouvées). Unter diesem Gesichtspunkte sind eben die „Ursachen" nichts anderes als die Mittel zur exakten Bestimmung; wie die „Suppositionen der Astronomen", aus denen diese, „obgleich dieselben fast alle falsch oder ungewiß sind", dennoch „sehr klare und gesicherte Konsequenzen ziehen". Diese „Hypothesen" kommen nicht „als wahre", sondern „nur als für die Erklärung der Phänomene g e e i g n e t e Positionen" in Betracht. 1 ) So sehr diese Bestimmungen auf Grundmotive der Cartesischen Methode nach der Doppelrichtung des analytischen und deduktiven Weges und der Fassung des Erfahrungsproblems zurückweisen, so sehr sie als schlichte Konsequenz aus den methodologischen Ansätzen der Universalmathesis nach ihrer Einstellung auf die Naturerkenntnis erscheinen müssen — so sind doch eben diese Formulierungen in dem Darstellungszusammenhange selbst, in dem sie auftreten, durchaus nicht als eigentlich prinzipielle Feststellungen, sondern nur als Ausdruck einer v o r l ä u f i g e n P r o b l e m e i n s c h r ä n k u n g gedacht! Der Terminus der „Suppositionen" soll n i c h t d e n E i g e n w e r t e i n e s m e t h o d i s c h e n B e g r i f f s r e p r ä s e n t i e r e n — wie ihn etwa Keplers Auswertung des antiken Hypothesenbegriffs behauptet — vielmehr gilt er Descartes als A u s d r u c k d e s M a n g e l s gegenüber der eigentlichen Begründung, dem wirklichen „Beweisen" (demonstrare), wie es allein in der Deduktion aus den „evidenten Prinzipien" sich ergeben kann. Nur weil die Verbindung zwischen den „Prinzipien der Metaphysik" und der physikalischen Einzelerkenntnis im „Discours" und seinen „Essais" aus äußeren Gründen noch nicht dargestellt werden sollte, verbleibt es hier bei den bloßen Voraussetzungen. So spricht es Descartes mit aller Bestimmtheit aus, daß man „nichts von dem zu glauben verpflichtet" sei, was er in den „Essais" ausgeführt habe; erst durch die Kenntnis der „allgemeinen Ursachen" werde es möglich, diese vorläufigen „Suppositionen", die selbst nicht als „Prinzipien", sondern als bloße „Folgerungen" anzusehen seien, und mit ihnen alles, was aus ihnen geschlossen wurde, wirklich demonstrativ zu sichern. Wahre Erkenntnis, wie die Methode sie fordert, verlangt Deduktion aus den „ersten Ursachen", die wir aus den „Samen der Wahrheiten" ziehen müssen, die „natürlicher Weise in unseren Seelen sind"; der ') D VI, 76, 83; VIII, 85,
Die Frage nach den „ersten Ursachen"
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bloße „Nachweis" „a posteriori" muß in der eigentlichen wissenschaftlichen'Konstituierung der Physik durch den „Beweis a priori" ersetzt werden. 1 ) So richtet sich denn auch die bekannte Polemik Descartes' gegen Galilei, dessen Vorgehen selbst in Descartes' Wiedergabe für diesen Punkt durchweg den methodischen Forderungen der „Universalmathesis" entspricht, gerade auf die Beschränkung, in der der eigentliche Begründer der „neuen Wissenschaft" seine Aufstellungen gewann. Die,,ersten Ursachen", das „Warum" in der Natur habe Galilei vernachlässigt, daher seien seine unbewiesenen Voraussetzungen mit allen ihren Konsequenzen, sei seine ganze „ohne Fundament gebaute"' Theorie wertlos. Galileis Fallgesetze müßten schon deshalb abgelehnt werden, weil er nicht erklärt habe, „was Schwere sei". 2 ) Auch jener Verzicht Descartes' auf die Angabe der „Natur des Lichtes" muß daher als nur vorläufige Beschränkung verstanden werden. So wenig als er Galilei die Berechtigung zugesteht, in der bloß hypothetischen Fixierung seiner Dimensionsbegriffe (wie z. B. der „Schwere") ohne die Erklärung der „Ursachen" zur Formulierung von Gesetzen fortzuschreiten, die die Geltung physikalischer Erkenntnis beanspruchen dürften, so wenig glaubt er selbst bei den „Vergleichen und Schatten" seines Vorgehens im Problem des Lichtbrechungsgesetzes stehen bleiben zu dürfen. Auch für dies Problem muß die „Ursache der Brechung", und damit die des Lichtes, seine eigentliche „Natur" angegeben werden. Die mathematische Bestimmung der Erscheinungsvorgänge tritt damit zurück gegenüber dem Interesse an den „Ursachen", an der inneren Struktur der wirklichen Dinge. Gerade darin will Descartes mit seiner „Philosophie" sich von der „gewöhnlichen" Naturbetrachtung unterscheiden, daß er „die ersten Ursachen und wahren Prinzipien sucht, von denen man die Gründe deduzieren kann für alles, was man zu wissen fähig ist". So sollen aus den „metaphysischen Prinzipien" „sehr klar die der körperlichen oder physischen Dinge deduziert" werden. 3 ) Es ist verständlich, daß unter dem Vorwalten dieses Gesichtspunktes der Deduktion der Sonderanspruch der E r f a h r u n g völlig in den Hintergrund treten mußte. Jene methodische Bestimmung des Experiments, nach der diesem die A u s w a h l ') D V I , 76, 269; I, 476 f.; II, 141/2, 201; vgl. noch VI, 68,233. ) D II, 380, 385 ff., 433; vgl. dazu II, 544. «) D I X 2 , 5, 10.
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Keine besondere Gewißheitsart für die Wirklichkeitserkenntnis
unter den „Einfachen", die besondere Direktion der „Ableitung" auf das gerade vorliegende Wirklichkeitsproblem zufällt, findet allerdings auch hier eine gewisse Verwertung. Um zu dem Aufbau der wirklichen Welt von jenen allgemeinen, „weiten" Prinzipien aus zu gelangen, wird die vorausgeschickte Aufstellung einer „kurzen Geschichte der hauptsächlichsten Naturerscheinungen", einer „ B e s c h r e i b u n g der P h ä n o m e n e " erfordert. 1 ) Der Zusatz „nach Baconischer Methode" aber deutet schon an, was zugleich aus der sachlichen Stellung dieses Gedankens in der Cartesischen Philosophie sich ergibt: daß hier der intime Zusammenhang des einzelnen Experimentes mit der jeweiligen begrifflichen bezw. mathematischen Bestimmung als solcher nicht mehr streng festgehalten wird. Wie überhaupt immer wieder das analytische Motiv der Cartesischen Methodenlehre unter dem Vorwalten der Deduktionsbetrachtung zurücktreten muß, so ist nun auch in der systematischen Darlegung der „Prinzipien" von einer Sonderart der physikalischen gegenüber der rein mathematischen Erkenntnis a u s d e m G e s i c h t s p u n k t d e s E r f a h r u n g s p r o b l e m s nirgends die Rede. Eine besondere G e w i ß h e i t s a r t für die Wirklichkeitserkenntnis gegenüber der „reinen" mit ihrem eigenen Voraussetzen auszuzeichnen, dazu konnte Descartes gemäß der Grundeinstellung des Methodenproblems nicht gelangen; denn alles Gewicht war dort darauf verlegt, daß jede wirkliche Bestimmung aus den reinen und schlechthin evidenten Begriffen des Geistes herfließen müsse, daß also keine Erkenntnis als solche anzuerkennen und zuzulassen sei, die nicht eine der mathematischen mindestens gleiche Gewißheit beanspruchen dürfe. 2 ) Wie weit dann aber solche Gewißheit der reinen Begriffe und ihrer Verbindungen, die ihnen als solchen natürlich bleiben muß, doch eine Modifikation nach der Richtung erleiden möchte, in welcher sie zu Aussagen über Wirklichkeit, zu Erfahrungserkenntnissen verwertet werden — wie weit jene Bedeutung des Experiments, auf die Descartes doch eben aufmerksam geworden war, mit der A n w e n d u n g der reinen Bestimmungen diese in eine andere Sphäre der Betrachtung und damit vielleicht unter einen neuen Gewißheitsbegriff als den der „reinen Mathematik" stellen muß: dieses Grundproblem aller Erfahrungsmethodik ist bei Descartes nicht zur Auszeichnung und Behandlung gekommen, weder in der Methodenlehre, noch gar in dem deduktiven Aufbau der Physik. >) D I, 251; VIII, 81; 1X2,104/5.
») Vgl. D X, 366.
Der geometrische Raum als Materie
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A l l e die „evidenten Erwägungen", die in den „Prinzipien" über die „materialen D i n g e " angestellt werden, sollen von „absoluter und mehr als moralischer Gewißheit" sein, weil sie auf das „metaphysische Fundament sich stützen", weil sie „aus den ersten und einfachsten Prinzipien der menschlichen Erkenntnis in kontinuierlicher Reihe deduziert" werden. 1 ) W e n n so im Hinblick auf das Erfahrungsproblem der Unterschied der physikalischen von der mathematischen Erkenntnis mehr und mehr verwischt wird, so steigert sich diese Gefahr aufs höchste durch den besonderen Charakter jener „Ursachen", der „Prinzipien", aus denen Descartes alle Naturerkenntnis deduzieren will. Die speziellen „Prinzipien der materialen Dinge", wie sie aus denen der „menschlichen Erkenntnis" deduktiv sich entwickeln, sollen alle in diesem obersten begriffen sein: „ d a ß es in Länge, Breite und T i e f e ausgedehnte Körper gibt, die verschiedene Figuren haben und sich in verschiedener W e i s e bewegen". 2 ) Und diese Beziehung der wirklichen Körper auf die Begriffe der „Ausdehnung, Figur und B e w e g u n g " (Inhalte, die ja auch stets als Beispiel der „Einfachen" und als der eigentliche Gegenstand der Geometrie angeführt wurden) beschränkt sich nicht etwa darauf, in diesen Momenten die allgemeinsten Bestimmungen des physischen Seins zu erblicken — in der Feststellung, daß „die Ausdehnung des Raumes . . . nicht verschieden von der Ausdehnung des K ö r pers" sei, soll nicht etwa nur die Bedeutung der Geometrie als eines besonderen, wenn auch grundlegenden Mittels für die Wirklichkeitserkenntnis prinzipiell begründet werden: vielmehr gilt, wie bekannt, der Raum selbst Decartes schon als die „Materie", die „ A u s d e h n u n g " als die „ausgedehnte Substanz". „ D i e Idee, die wir vom Körper oder der Materie im allgemeinen haben, ist e n t h a l t e n in der, die wir vom Räume haben". Die „ E i g e n s c h a f t " der „Materie", Raum einzunehmen, ist nichts anderes als die „wahre F o r m und E s s e n z " der „materialen" Substanz, in dem uns bekannten Sinne, daß die Essenz, das „hauptsächliche A t t r i b u t " die Substanz selbst vollgültig repräsentiert. 3 ) Die letzteren Formulierungen weisen unmittelbar auf die 0 D VIII, 328; vgl. dazu auch VIII, 85, 99, 327; I, 144; HI, 233, 298; VI, 21/2, 64; IX2, 10. — Eine schwache und nicht fortgeführte Andeutung eines Gewißheitsunterschiedes findet sich in der Briefstelle II, 142. Vgl. auch VI, 64 und I, 250 mit V, 275. 2) D I X , 10. s ) D II, 482; VIII, 49; XI, 36, 2
Die ausgedehnte Substanz
prinzipielle, allgemein - logische Problemwendung hin, die wir bereits kennen gelernt haben. Durch die fortschreitende in notwendigen Verbindungen sich vollziehende Komplexion der „Einfachen" sollte nach der Methodenlehre der „Regeln" die wahre Gestaltung des physikalischen Gegenstandes sich erreichen lassen; die Geltung dieser „Mischung" sollte sich in ihrer Fähigkeit bewähren, die erfahrenen „Wirkungen zu produzieren". In der Erkenntnislehre der Metaphysik aber übernahm dann die „eingeborene Idee" der „Ausdehnung" als der „hauptsächlichen Eigenschaft" alles Körperlichen diese Tendenzen der Komplexion und Verbindung. Die Selbständigkeit und Eigenart des Existierenden, als der S u b s t a n z , seine konkrete Dinglichkeit wollte Descartes in dem Begriff jenes methodischen Vereinigens verschiedener „Naturen" nicht genügend anerkannt scheinen. Wenn die Substanz „außerhalb des Intellekts" stehen sollte, so mußte ihr Begriff aller Einzelsetzung, allem Verbinden und Trennen des „abstrahierenden" Verstandes vorauf gerückt werden. Wie alles besondere Sein aus dem Sein der Substanz herfließen muß, so sollen alle besonderen Bestimmungen über die Dinge in der umfassenden Idee der Substanz, bezw. des „Attributs", durch das sie „vollständig" bestimmt wird, „enthalten sein". So gilt der Begriff der „Ausdehnung" als die „komplete Idee" einer „ausgedehnten Substanz"; und alle die Einzelmomente, die in den „Regeln" und anderwärts neben der Ausdehnung stehen — Figur, Bewegung, Zahl usw. — sind ihr gegenüber als bloß abstrahierende Bestimmungen, als in jener Grundidee begriffene „Modi" anzusehen 1). Dieses Motiv kommt übrigens schon innerhalb der methodologischen Erörterungen der letzten „Regeln" zum Anklingen. Und es ist außerordentlich bezeichnend, daß hier der Begriff der I m a g i n a t i o n jene Tendenz zur Überwindung der „Abstraktheit" aller intellektualen Einzelbestimmungen, jene Hinwendung zur konkreten Vollständigkeit der Substanz, des „ D i n g e s " in sich vertreten soll. Die Geometrie, so heißt es hier, betrachtet das „ausgedehnte Objekt" „unter Abstraktion von allem anderen, als daß es figuriert ist". Ihre Figuren sind die „Grenzen" eines substanziellen Inhaltes, wie ihn der allgemeine Begriff der Ausdehnung bezeichnet. Wenn ich aber (so heißt es in einer späteren Formulierung) dermaßen „eine Figur betrachte, ohne an die Substanz zu denken, deren Figur 1
Vgl. noch DIU, 475; V, 271; VII, 381, 433 5 VIII, 44/5- 3°.
Die „wahre Idee der Sache" in der Imagination
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sie ist, so vollziehe ich eine A b s t r a k t i o n d e s G e i s t e s , die ich nachher leicht erkennen kann, wenn ich zusehe, ob ich nicht diese Idee von der Figur allein, wie ich sie besitze, aus einer umfassenderen Idee genommen habe, die ich auch in mir habe, und mit der sie derart verbunden ist, daß, obgleich man an die eine denken kann, ohne auf die andere zu achten, man doch keinesfalls sie von dieser anderen ableugnen kann, wenn man an beide denkt" 1). Diesen Gegensatz der notwendigen Verbindung und der Abstraktion übernimmt für das Problem der „realen Ausdehnung" in den „Regeln" der Gegensatz von Imagination und bloßem V e r s t a n d . Wohl mag es für die Konstituierung der Mathematik als einer „ a b s t r a k t e n " Wissenschaft notwendig sein, durch den „Intellekt" die Linie, die Oberfläche zu betrachten, ohne auf den „Körper", die „ausgedehnte Sache" zu „achten". Während aber „der Intellekt genau nur darauf achtet", was gerade zur Untersuchung steht, und alles andere „wegläßt", „muß die Imagination die wahre Idee der Sache selbst bilden, damit eben der Intellekt selbst, wenn es die Anwendung erfordert, auf deren andere Bedingungen gerichtet werden kann, die in jenem Worte („Ausdehnung", „Oberfläche" oder dergl.) nicht ausgedrückt sind, niemals aber unklugerweise urteilt, daß sie a u s g e schlossen seien ". ,,Was immer betreffs der Figuren oder Zahlen bewiesen wird, ist notwendig zusammenhängend (continuum) mit dem, wovon es ausgesagt wird" 2). Der Gedanke dieses Zusammenhangs aber, der nach seiner wertvollen logischen Tendenz unmittelbar verständlich ist, führt eben schon hier zu der Annahme einer „realen" substanziellen Verbundenheit, die nicht etwa in der „notwendigen Verbindung" der „Einfachen" gegründet, sondern durch die Imagination unmittelbar und in aller Konkretheit erfaßt werden soll. So „kann und muß" man in allen „materialen" Untersuchungen „sich der Hilfe der Imagination bedienen", in deren „Bild" alles das, was abstraktiv getrennt wurde, „realiter" aber als zusammengehörig zu denken ist, zusammentritt. Und wie unter der Erkenntnisinstanz der Imagination die Linie Breite, die Oberfläche Tiefe haben soll, so muß dies Hilfsvermögen auch zeigen, daß die Ausdehnung überhaupt nichts anderes ist als die „reale Ausdehnung", der „wahre Körper", von dem jene Bestimmungen nur „Modi" sind. Darin will Descartes die ») DX, 441, 446f.; ni, 475; VII, 381.
*) DX, 421, 445.
„Reale Ausdehnung"
„widerstreitenden" und „schlecht begriffenen Prinzipien" verbessern, mit denen die „Geometer die Evidenz ihres Objekts vermengen". Die Inhalte der Mathematik sind nichts „Abgetrenntes und vom Objekt selbst Geschiedenes"; solche „entia abstracta", „entia philosophica" „ f a l l e n n i c h t u n t e r die I m a g i n a t i o n " ; die „körperliche Idee" der Ausdehnung stellt den Körper selbst dar, wie er existiert — die „extensio" ist identisch mit dem „extensum". Wenn man die „reale" Trennung von Ausdehnung und Körper behauptet, so „urteilt" man „schlecht", weil man „ a n d e r s u r t e i l t , a l s m a n i m a g i n i e r t " . „Wir bilden nicht zwei verschiedene Ideen in u n s e r e r P h a n t a s i e , die eine des Körpers und die andere der Ausdehnung, sondern nur die einzige des ausgedehnten Körpers". Die „wahre Idee" der Ausdehnung „involviert notwendig den Begriff des Körpers". So ist es die Imagination, durch welche die „schlechte" Abstraktion des Verstandes aufgehoben, in welcher der existierende Körper, die „reale Ausdehnung" erkannt wird. In ihr übertragen sich unmittelbar die mathematischen Bestimmungen auf die Inhalte der Physik, identifizieren sich mit ihnen.1) — Die allgemeine, durch die Forderung des „Realen", der „Existenz" bestimmte Tendenz zum Dinglich - Substanziellen, wie wir sie so, nach dieser Richtung durchaus übereinstimmend, einerseits in der „wahren Idee" der Imagination und der „realen Ausdehnung" der „Regeln", andererseits in der „eingeborenen Idee" des „hauptsächlichen Attributs" und der „kompleten Sache" der späteren Zeit wirksam finden — sie ist es nun eben auch, die Descartes schließlich dazu führt, den Methodengedanken der „Verhältnisse oder Proportionen" als der zentralen Erkenntnismomente für alles Wirkliche und mit ihm die präzise Einstellung auf die einzelnen „Dimensionen" als Grundlagen mathematischer Bestimmung preiszugeben und den Begriff der Ausdehnungssubstanz an die Spitze alles physikalischen Aufbaus zu stellen. Nicht von den Vorgängen und ihrer Gesetzlichkeit, nicht von der exakten Funktionsbestimmung der Erscheinungen nach den verschiedenen Momenten der „Wirkungen" soll die Physik ausgehen, sondern von dem Begriff des körperlichen Seins, das alle Einzelmomente in sich enthält, an dem alle Vorgänge, alle „Wirkungen" sich vollziehen. Die Abstraktionen, die besonderen „Hypothesen", die in Galileis Unter') DX, 421, 438, 440—446-
Geometrie und Physik
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suchung des Falles die mathematischen Bestimmungen ermöglichten, gelten Descartes so gut wie die „Vergleiche" seiner eigenen Dioptrik deshalb als ungenügende, und daher abzulehnende Aufstellungen, weil sie der „kompleten Sache" nicht unmittelbar schon zu ihrem Recht verhelfen. Die Relationsmethodik der „mathesis universalis" mit ihren hypothetischen „Dimensionen" scheint ihm-nicht zu dem eigentlichen Gegenstand der Wirklichkeitserkenntnis, zum physikalischen „ D i n g " zu gelangen. Nicht im Zusammenschluß solcher Einzelbestimmungen spezieller Gesetze will er nun die Natur zur Erkenntnis bringen — ihr innerstes Sein selbst soll in einem fundamentalen Substanzbegriff erfaßt werden. Die Heraushebung der einzelnen Momente, wie „ F i g u r " oder „Bewegung", darf „ n u r " als abstraktive, vom „kompleten" Ding sich entfernende Handlung des Intellekts gewertet werden; wie sich auch die „Quantität" von der Ausdehnungs-Substanz nicht „in re", sondern „tantum ratione", nur „ex parte nostri conceptus" unterscheidet. Und wie die „allgemeine G r ö ß e " zur geometrischen spezifiziert wurde, so stempelt Descartes nun den Begriff der Substanz, für dessen Bestimmung nach seinem rein logischen Gehalt im Wachsbeispiel der wichtigste Ansatz gegeben war, für alle Fragen der Physik zu dem der „res extensa". Aus der Verbindung des Substanzmotivs mit der Einsicht von dem Geltungswert des geometrischen Raumes gewinnt Descartes seinen Begriff von der physikalischen Materie 2). Die Direktion der Geometrie auf die Anwendung in der Physik führt so unter dem ontologischen Zwangsgedanken zu einer Identifizierung der Prinzipien und damit auch des Gegenstandes beider Wissenschaften, — die schließlich auf nichts anderes intendiert als auf das Zusammenfallen von Geometrie und Physik überhaupt. „Keine anderen Prinzipien werden von mir in der Physik zugelassen noch gewünscht, als in der Geometrie oder in der abstrakten Mathesis, weil so alle Phänomene der Natur erklärt werden und sichere Beweise von ihnen gegeben werden können". „Ich gestehe, keine andere Materie der körperlichen Dinge zu kennen, als jene allgemein teilbare, figurable und bewegliche, die die Geometer Quantität nennen und zum Objekt ihrer Beweise annehmen; nichts vollends in ihr zu be') Vgl. zum Wert der „Abstraktion" in der letzteren D V I , 99; III, 208, 217/8. 2) Vgl. noch D VIII, 33, 4iff-! IX 2, 321; VII, 7 1 - 8 0 ; Cassirer, Leibniz' System. Einl. III.
Keine Abgrenzung
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trachten als jene Teilungen, Figuren und Bewegungen; und nichts über sie als wahr zuzulassen, was nicht aus jenen Gemeinbegriffen, an deren Wahrheit wir nicht zweifeln können, so evident deduziert wird, daß es als mathematischer Beweis anzusehen ist."*) Die ursprüngliche Tendenz der „Universalmathesis", die darin bestand, die „Sicherheit und Evidenz der mathematischen Beweise in die Materie der Physik einzuführen", die „physischen Materien durch mathematische Gründe" zu „examinieren", sie auf „die Gesetze der mathematischen Wissenschaften" zu „reduzieren" — sie wird in diesem obersten „Prinzip der materialen Dinge" zu der Identität von Mathematik und Physik übersteigert. Damit wird auch die rechte Erklärung dafür gegeben, daß in dem „Baume" der Wissenschaften der Mathematik keine eigene Stelle vor oder neben der Physik angewiesen ist. So spricht Descartes es bereits in einer Briefstelle aus der ersten Zeit nach der Abfassung des „Discours" aus, daß seine „ganze Physik nichts anderes" sei „als Geometrie", nämlich nicht jene „abstrakte Geometrie", die in der „Erforschung von solchen Fragen" sich genügen läßt, die „nur dazu dienen, den Geist zu üben", sondern „eine andere Art Geometrie, die sich zum Problem die Erklärung der Phänomene der Natur stellt". 2 ) Es ist bezeichnend, daß Descartes als Beispiel an dieser Stelle nicht die mathematischen Bestimmungen der Dioptrik, sondern seine Erklärungen des „Salzes, des Schnees, des Regenbogens etc." anführt: In dem Objekt der „Ausdehnung" sollten Geometrie und Physik übereinkommen — so mußten ihm die beiden Wissenschaften selbst zusammenfallen. W a s unter dem methodischen Gesichtspunkte nie gerechtfertigt werden konnte — stehen doch gerade nach Descartes in der Mathematik die „ewigen Naturen" als „Möglichkeiten des Existierens", in der Physik dagegen die wirklichen Existenzen zum Problem — das strebte der ontologische Gedanke des „kompleten Dinges" dennoch aufzustellen und zu behaupten. Es ist merkwürdig genug, daß Descartes selbst so wenig zum Bewußtsein dieses inneren Widerstreites gekommen ist. 3 ) s ) D II, 268, 380; 1,331/2, 476; III, 39') D VIII, 78 f. W i e sehr dem Denker die Einsicht von dem unersetzlichen methodischen Wert der reinen Mathematik im strengen Sinne für die Physik unter dem wachsenden Einfluß dieser so unbestimmten, weder begrifflich noch inhaltlich genau definierten Identifizierung des geometrischen Raumes mit der physikalischen Materie verloren ging, dafür braucht nur auf die tatsächliche Gestaltung seiner Naturlehre selbst hingewiesen zu werden. 3)
Das Naturgeschehen D e n n o c h ist d e r S o n d e r c h a r a k t e r des physikalischen P r o b l e m s , v o n d e m M e t h o d i k e r D e s c a r t e s u n v e r m e r k t , in seiner expliziten w i s s e n s c h a f t l i c h e n D a r s t e l l u n g selbst an einem zentralen P u n k t e z u m prinzipiellen A u s d r u c k g e k o m m e n . D i e Z u w e n d u n g zu den P r o b l e m e n d e s N a t u r g e s c h e h e n s u n d seiner G e s e t z e führt zu der A u s z e i c h n u n g eines f u n d a m e n t a l e n Prinzips, an d e s s e n B e g r ü n d u n g der B e g r i f f d e r R a u m - S u b s t a n z k e i n e n A n t e i l hat — für d a s D e s c a r t e s vielmehr unmittelbar w i e d e r auf die „Prinzipien der M e t a p h y s i k " z u r ü c k z u g r e i f e n sich g e z w u n g e n sah. Jenes „ P r i n z i p " der „ r e a l e n A u s d e h n u n g " g i b t für d e n A u f b a u d e s W i r k l i c h e n nur die a l l g e m e i n e substanzielle G r u n d lage ; zu d e m B e g r i f f der h o m o g e n e n M a t e r i e m u ß ein M o m e n t der D i f f e r e n z i e r u n g hinzutreten. E s ist der B e g r i f f der B e w e g u n g , in d e m das G r u n d m i t t e l zur D e t e r m i n a t i o n der b e s o n d e r e n physikalischen Inhalte g e g e b e n w e r d e n soll. „Alle Variation d e r M a t e r i e , o d e r alle V e r s c h i e d e n h e i t ihrer F o r m e n hängt ab v o n der B e w e g u n g . " N u n soll allerdings die „ B e w e g u n g " , o b g l e i c h sie als „ t o t o g e n e r e v o n der F i g u r v e r s c h i e d e n " e r k a n n t w a r , d u r c h a u s nichts a n d e r e s b e d e u t e n als eine b e s o n d e r e B e s t i m m u n g , einen „ M o d u s " , eine b l o ß e „ E i g e n s c h a f t " der A u s Bei aller günstigen Deutung des Korpuskular-Gedankens und aller Berücksichtigung der historischen Bedingtheit des Physikers Descartes darf doch neben seiner Verkennung Galileis, die ja eben dieser seiner prinzipiellen Auffassung vom Wesen der physikalischen Erkenntnis entspringt, vor allem dies nicht vergessen werden: daß seine „Ursachen", seine „Erklärungen" zum größten Teile s i n n l i c h e n A n a l o g i e n entnommen werden! Descartes selbst hat diese Wandlung seines methodischen Analogiebegriffs formuliert: „das geeignetste Mittel, das der menschliche Geist haben kann, um die Wahrheit der physikalischen Fragen zu erklären", besteht nach dieser Auffassung darin, immer „nur Bewegungen mit anderen Bewegungen, Figuren mit anderen Figuren etc. zu vergleichen, d. h. nur Dinge, die wegen ihrer Kleinheit nicht u n t e r u n s e r e S i n n e f a l l e n k ö n n e n , mit s o l c h e n , d i e d a r u n t e r f a l l e n , die sich aber im Übrigen nicht mehr von jenen unterscheiden, als ein großer Kreis von einem kleinen". Was „durch keinen solchen Vergleich" der „ n i c h t e m p f i n d b a r e n " (.insensiblesj Ausdehnungsbestimmungen mit „ e m p f i n d b a r e n " „erklärt werden kann" (welcher Vergleich dadurch vermittelt wird, daß ich den aus jenen Vorgängen entspringenden Effekten „ ä h n l i c h e Wirkungen in d e n e m p f i n d b a r e n D i n g e n b e m e r k t habe"), das soll dadurch schon als „falsch bewiesen" sein! (D II, 367f.; VIII, 326). Es ist eben die prinzipielle Voraussetzung von der durchgängig gleichen Struktur der reinen Ausdehnungsmaterie, in der die Geltung und Alleingeltung dieser Vergleichserklärungen sich begründen soll. Wieviel rein sinnliche Momente in diesen Vergleichen stecken, das kann man in den Ausführungen der „Prinzipien" auf Schritt und Tritt verfolgen. >) D VIII, 52 f.
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Veränderung und Beharrung
dehnungssubstanz ; sie soll in deren Begriff enthalten sein *) — wie sie denn auch stets zum Objekt der Geometrie gerechnet wird. 2 ) Und auch alle die dynamischen Momente, die in diesem. Begriff, nach seiner Fassung bei Descartes, mit den rein phoronomischen kompliziert sind, sollen in jenem Ausdehnungsbegriff enthalten, von diesem „Prinzip" „abgeleitet" sein: wurde doch andererseits ja auch z. B. die „Undurchdringlichkeit" als eine dem Räume, der „Ausdehnung" als solcher notwendigerweise zukommende Eigenschaft gedacht ! Dennoch ist es der Bewegungsbegriff, der über die alleinige Geltung der Ausdehnungsinstanz hinausführte. Das Interesse der physikalischen Bestimmung wird hier von dem ruhenden substanziellen Sein abgelenkt zu der Betrachtung der Vorgänge in der Natur, zur Definition des Geschehens. Anstatt des Raumes tritt die Z e i t an die Spitze der fundamentalen Bestimmungen ; dem Begriff der Materie stellt sich das Problem des G e s e t z e s entgegen. Wie die Figur mit der Ausdehnung, so ist „die Bewegung mit der Dauer oder der Zeit verknüpft". Im Moment der D a u e r aber kündigt sich der Begriff an, der eben die bleibende Identität des Gesetzes in allem Zeitabfluß, in aller Veränderung zum Ausdruck bringt. Die „Dauer" bezeichnet „den Modus, unter dem wir eine Sache begreifen, insofern sie b e h a r r t " . s ) Das Grundprinzip der Physik, soweit diese die „ V e r ä n d e r u n g e n " in der Natur zu erforschen hat, das Fundament aller Erkenntnis der Phänomene, soweit sie als durch konstante Gesetze bestimmte Bewegungsvorgänge betrachtet werden, formuliert sich in dem Begriff der E r haltung. Damit ergibt sich eine bedeutsame Wendung im Begriff der S u b s t a n z . Die Erhaltung des körperlichen wie des seelischen Seins, wie sie Gott vollziehen sollte 4 ), bedeutete nichts als das Verbleiben jener „Dinge" in der Existenz. Hier aber tritt die Beharrung als Korrelat zur Veränderung, als ein Moment in der Veränderung selbst auf. 5 ) Die gesetzliche Bestimmtheit, nach der alle Übertragung der „Bewegungen" von einem Körper zum anderen, alle „Wirkung" der Dinge auf einander sich regelt, findet ihren Ausdruck in dem Prinzip, daß die Bewegungen n i e a l s s o l c h e a u f h ö r e n , sondern nur ihr „Subjekt" wech') Vgl. dazu D VIII, 26f., 40f., 55, 61; XI, 36; X, 419; VII, 62, 176; III, 2) S. noch II, 71; XI, 40. 3) D VIII, 26; X, 421. 650; V, 270, 402. 4) Vgl. noch D VIII, 13, no, 165 ; V, 53; XI, 37 etc. *) Vgl. zu dieser grundlegenden Bedeutung des Cartesischen Erhaltungsbegriffs H. C o h e n , Logik der reinen Erkenntnis, S. 200, 209.
Bewegungsgesetze
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sein; daß in aller Veränderung die „Quantität der Bewegung sich erhält". 1 ) Daher wird in dem Aufbau der physikalischen Prinzipien der Erhaltungsgedanke zum Fundament der „Regeln der Bewegung", in denen die „ G e s e t z e d e r N a t u r " zur Bestimmung kommen. Obgleich die Bewegung nur einen „Modus" der Ausdehnungsmaterie bedeuten soll, so muß für die exakte Konstituierung der Gesetzlichkeit in diesen „Veränderungen" dennoch ein eigener Begriff der Erhaltung zum selbständigen Prinzip erhoben werden. Und diese Erhaltung der „Bewegungsquantität" kann nicht gefaßt werden und wird auch von Descartes nicht gedacht als die beharrende Existenz eines materiellen Inhaltes: diese Konstanz ist nichts anderes als die Gesetzlichkeit der Veränderung selbst. Es ist nun der Gottesbegriff, der die beiden Beharrungsbegriffe, die sich in der Cartesischen Physik als solcher unvereint gegenüberstehen, zur versöhnenden Einheit bringen soll. „Wir verstehen auch, daß es eine Perfektion in Gott ist, nicht nur daß er in sich selbst unveränderlich ist, s o n d e r n a u c h d a ß er auf die k o n s t a n t e s t e u n d u n v e r ä n d e r l i c h s t e W e i s e o p e r i e r t " . Darum ist Gott nicht nur die Ursubstanz, die den endlichen Substanzen ihren Fortbestand garantiert, er ist zugleich Urheber und Prinzip der „Gesetze der Natur" nach der Konstanz ihres Wirkens! 2 ) So wird jener Naturbegriff der metaphysischen Erkenntnislehre an dieser bedeutsamsten und nach der späteren historischen Einwirkung fruchtbarsten Stelle der Cartesischen Physik wieder aufgenommen. Es ist das Erhaltungsprinzip, das hier die Anwendung der mathematischen Gesetze auf die Probleme der Physik vermittelt; unter seiner Direktive werden jene „abstrakten" Bestimmungen, jene bloßen „Möglichkeiten des Existierens" zu physikalischen (dynamischen) Bewegungssystemen zusammengeschlossen, die die sinnlich wahrnehmbaren „Wirkungen" zu erklären berufen sind. Und es ist nun gerade für das methodische Problem von höchster Bedeutsamkeit, daß der fundamentale Begriff der Erhaltung in diesem seinem ersten systematischen Auftreten bei Descartes sogleich die prinzipielle Fassung gewinnt, in der ihm die Befugnis zuwächst, über alle doch wieder nur abstraktiv ') D VIII, 61; XI, 11. — E s ist charakteristisch, daß mit dem Wiederaufkommen der Frage nach den V o r g ä n g e n der Natur und ihrer Gesetze sogleich wieder die Maßbestimmungen der „Universalmathesis" in die Erscheinung treten. *) D VIII, 6i f.; XI, 37f-, 43-
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Das Erhaltungsgesetz
abgegrenzten physikalischen Einzelsysteme hinaus das G a n z e des Universums als e i n h e i t l i c h e s S y s t e m zu Begriff zu bringen. Wie die Bewegungsgesetze als „leges naturae" im präzisen Sinne den Begriff der Natur selbst aufrichten, einen Wirklichkeitsbegriff, von dem die mathematischen und rein phoronomischen Bestimmungen nichts wissen konnten, so führt das Grundgesetz der Erhaltung der Bewegungsquantität auf einen exakten wissenschaftlichen Begriff der einen und einzigen Welt — zu dem das Prinzip der unendlichen homogenen RaumMaterie nur eine allgemeine Vorbereitung geben konnte. Das Eingreifen des ontologischen Gottesbegriffs erhält so eine ganz prinzipielle methodische Bedeutung. Nicht darin liegt der wissenschaftliche und logische Wert dieser Heranziehung des Begriffes von Gott, daß in ihm nach aristotelischem Vorbild die „primäre Ursache der Bewegung" gesucht wird, sondern darin, daß seinem „konstantesten und unveränderlichsten" Handeln die Funktion zufallen soll, „dieselbe B e w e g u n g s q u a n t i t ä t im Universum zu erhalten". Mit diesem Prinzip, wie es Descartes dem der Ausdehnungssubstanz in unverwischter Selbständigkeit zur Seite stellt, tritt den allgemeinen Beziehungsgesetzen der mathematischen, der „reinen" Wissenschaften, die sich ja „nicht darum kümmern", ob ihre Gebilde „in der Natur der Dinge" wirklich vorhanden sind, der eigentümliche Anspruch der Physik, als der Wissenschaft von der existierenden Erfahrungswelt, von dem einen und einzigen „Universum" gegenüber. Es ist Leibniz, der diese sachliche und methodische Bedeutung des Erhaltungsgedankens — die der Physiker Descartes inaugurierte, die in dessen logischer Disposition aber nicht zur klaren Anerkennung gelangte — in den fundamentalen Bestimmungen seines Systems und seiner Erkenntnislehre zum reifen Ausdruck brachte. Sein „metaphysisches" „principe de convenance", das die Sphäre der „realen" Wirklichkeit von der der „idealen Wahrheiten" schied, das die methodische Richtung der auf Existenz bezogenen „vérités contingentes" von der Geltungsart aller im bloßen Gebiete der „Möglichkeit" verbleibenden „vérités nécessaires" abgrenzte, findet seine instruktivste und exakteste Repräsentation in dem wissenschaftlichen Prinzip, mit dem er Descartes' Erhaltungsgedanken fortzuführen und inhaltlich zu verbessern suchte: im Satz von der Erhaltung der Kraft.