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German Pages 234 Year 1987
KOSTAS CHRYSSOGONOS
Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 522
Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung Zur Methode der Verfassungsinterpretation bei der Normenkontrolle
Von Dr. Kostas Chryssogonos Dikigoros/Rechtsanwalt
Duncker & Humblot · Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Chryssogonos, Kostas: Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung: zur Methode d. Verfassungsinterpretation bei d. Normenkontrolle / von Kostas Chryssogonos. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1987 (Schriften zum Öffentlichen Recht; Bd. 522) Zugl.: Hannover, Univ., Diss., 1987 ISBN 3-428-06330-9 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1987 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin 61 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06330-9
Dem Andenken meines Vaters
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Frühjahr 1986 abgeschlossen und im Januar 1987 vom Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Hannover als Dissertationsschrift angenommen. Sie wird - abgesehen von Kleinigkeiten - unverändert vorgelegt. Herr Prof. Dr. Hans-Peter Schneider und Herr Prof. Dr. Götz Frank haben sie in jeder Phase ihrer Entstehung gefördert und das Promotionsverfahren überhaupt erst ermöglicht. Herr Prof. Dr. Otwin Massing hat das Drittgutachten erstellt. Herr Prof. Dr. D. Tsatsos hat mir mit Rat und Tat geholfen. Ihnen allen gilt mein besonders herzlicher Dank. Kostas Chryssogonos
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
13
Erster Teil Die Normenkontrolle im Gefüge der Staatsfunktionen I. Die Normenkontrolle im Laufe der geschichtlichen Entwicklung
15 15
1. Die Epoche des Konstitutionalismus
15
2. Die Entwicklung in der Weimarer Republik
17
3. Die Entstehung der Regelung des Grundgesetzes
20
4. Die Praxis des Bundesverfassungsgerichts
22
II. Die staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts
24
1. Das Bundesverfassungsgericht als oberstes Verfassungsorgan
24
2. Die Konsequenzen aus der Verfassungsorganqualität
28
3. Das Problem des Hüters der Verfassung
29
4. Das Bundesverfassungsgericht als Hüter des Grundgesetzes
30
ΠΙ. Normenkontrolle und Gewaltenteilung
34
1. Geschichtliche Entwicklung und grundgesetzliche Regelung der Gewaltenteilung
34
2. Die Einordnung der Normenkontrolle in das Gewaltenteilungsschema i n Weimar
36
3. Die Einordnung der Normenkontrolle im Gewaltenteilungsschema unter dem Grundgesetz
39
4. Der Grundsatz der Gewaltenteilung als Gebot der Rationalisierung der Organisation der Staatsgewalt
44
5. Konsequenzen
46
6. Gesetzeskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidungen
49
10
Inhaltsverzeichnis
IV. Normenkontrolle und Demokratie
49
1. Das Demokratieprinzip als normative Entscheidung
49
2. Das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Normenkontrolle . . .
56
3. Die Leugnung des Problems
58
4. Die öffentliche Akzeptanz des Bundesverfassungsgerichts
61
5. Die Verlagerung politischer Verantwortlichkeit
65
6. Möglichkeiten demokratischer Rechtfertigung der Normenkontrolle . . . .
70
7. Konsequenzen aus der Demokratieproblematik für die Normenkontrolle
72
V. Normenkontrolle und sozialer Rechtsstaat
75
1. Der Rechtsstaat als verfassungsrechtliches „Prinzip"
75
2. Eine „rechtsstaatliche" Methode?
79
3. Normenkontrolle und Sozialstaatspostulat
80
Zweiter Teil Normenkontrolle und Methode I. Das traditionelle „juristische Handwerkszeug"
84 84
1. Der staatsrechtliche Positivismus
84
2. Die Abwendung vom Positivismus
87
3. Die Integrationslehre
91
4. Das MethodenVerständnis des Bundesverfassungsgerichts
95
5. Die Leistungsfähigkeit des Methodenkanons und der Implementationsbedingungen der verfassungsgerichtlichen Entscheidung für die Beschränkung des Entscheidungsspielraums
99
6. Zu einem konsensorientierten Methodenkanon
104
a) Grammatisches Kriterium
104
b) Historisches Kriterium
110
c) Logisch-systematisches Kriterium
111
d) Teleologisches Kriterium
113
e) Zusammenfassung
117
7. Zum Verhältnis der Auslegungskriterien zueinander
118
Inhaltsverzeichnis II. Neuere Methodenansätze
122
1. Der Neopositivismus
122
2. Topik und Systemdenken
124
3. Die Topik im Verfassungsrecht
131
4. Die strukturierende Methodik
135
5. Die „Theorie der Rechtsgewinnung"
142
6. Die Offenheit der Gesellschaft der Verfassungsinterpreten
144
7. Konsensansätze in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . 149 8. Der funktionell-rechtliche Methodenansatz ΠΙ. Besondere Argumentationsfiguren bei der Normenkontrolle
151 153
1. Die Wertordnungslehre
153
2. Grundrechtseffektivität und Freiheitsvermutung
157
3. Die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit
159
4. Verfassungskonforme Gesetzesauslegung und gesetzeskonforme Verfassungsauslegung 161 5. Keine Prüfung der Zweckmäßigkeit und gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit 168 6. Der Judicial self-restraint
170
7. Die „political questions doctrine"
175
IV. Die Normenkontrolldichte
179
1. Tatsachenfeststellungen als Problem der Verfassungsinterpretation bei der Normenkontrolle 179 2. Abstufung der Normenkontrolldichte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 180 a) Evidenzkontrolle
180
b) Vertretbarkeitskontrolle
182
c) Inhaltskontrolle
184
3. Maßstäbe für die Abstufung der Normenkontrolldichte
188
4. Der Umfang der Abstufung der Kontrolldichte
191
5. Ein alternatives Kontrollmodell
192
a) Hochschulurteil (BVerfGE 35, 79ff.)
194
b) Kriegsdienstverweigerungsurteil (BVerfGE 48, 127ff.)
196
12
Inhaltsverzeichnis c) Volkszählungsurteil (BVerfGE 65, Iff.)
199
d) Wahlkreiseinteilungsurteil (BVerfGE 16, 130ff.)
201
V. Die Berücksichtigung der konkreten Spruchfolgen
203
1. Die Folgenproblematik in der Weimarer Zeit
203
2. Die Position des Bundesverfassungsgerichts
205
3. Die Stellungnahme der Literatur
208
4. Strategien zur Überwindung des Problems
209
Ausblick
211
Literaturverzeichnis
218
Einleitung Die vorliegende Untersuchung orientiert sich nicht an einem bestimmten Verfahrenstyp von Normenkontrolle, sondern macht sie als Funktion, i.S. einer direkten oder indirekten Prüfung von Gesetzen durch das BVerf G auf ihre Verfassungsmäßigkeit oder -Widrigkeit hin, zu ihrem Gegenstand. Eine solche Prüfung findet nicht nur im Verfahren der konkreten (Art. 100 11 GG, §§ 80ff. BVerfGG) und abstrakten (Art. 93 I Ziff. 2 GG, §§ 76ff. BVerfGG) Normenkontrolle statt, sondern auch, wenn sich die Verfassungsbeschwerde eines Bürgers (Art. 93 I Ziff. 4 a GG, §90 BVerfGG) oder einer Gemeinde oder eines Gemeindeverbands (Art. 93 I Ziff. 4 b GG, § 91 BVerfGG) gegen ein Gesetz richtet (individuelle Normenkontrolle). Ferner kann es im Wahlprüfungsverfahren (Art. 41 I I GG) vorfrageweise auf die Verfassungsmäßigkeit des Wahlgesetzes ankommen, kann im Bundesorganstreit über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen (Art. 931 Ziff. 1 GG) und im Föderativstreit (Art. 93 I Ziff. 3 GG) um die Gesetzgebungskompetenz gestritten werden 1 . Aus zeitlichen und räumlichen Gründen wird aber hier nur die Prüfung von Gesetzen wegen ihrer sachlichen, nicht dagegen wegen ihrer förmlichen Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz behandelt. Diese Prüfung w i r d im Prinzip nicht unter prozeßrechtlichem Aspekt erörtert. Die Arbeit beschränkt sich vielmehr auf die Frage der Verfassungsinterpretation im Rahmen der so verstandenen Normenkontrolle. Verfassungsprozeßrechtliche Erwägungen werden nur insoweit miteinbezogen, als sie für die Art und Weise, wie das BVerfG das Grundgesetz interpretiert, belangvoll sein könnten. Der erste Teil enthält eine knappe Darstellung der historischen Bedingungen, die zur Einfügung der Normenkontrolle in das Grundgesetz geführt haben sowie der Rolle, die sie seitdem gespielt hat (I. Kapitel), worauf eine kritische Skizzierung des Selbstverständnisses des BVerfG bezüglich seiner verfassungsrechtlichen Stellung und der sich daraus für die Normenkontrolle ergebenden Konsequenzen folgt (II. Kapitel). Sodann erfolgt die eigene Stellungnahme angesichts des Problems der verfassungsrechtlichen Verortung und Funktion der Normenkontrolle (III., IV. und V. Kapitel). Als Ergebnis jener Verortung der Normenkontrolle im Laufe der geschichtlichen Entwicklung und im Gefüge der Staatsfunktionen werden zugleich Anforderungen an die Methode der Verfassungsinterpretation im Rahmen der Normenkontrolle gestellt. 1
Vgl. Bogs, 31 f., Gusy 40.
14
Einleitung
Der zweite Teil enthält eine unter diesem Aspekt erfolgende kritische Bewertung der Leistungsfähigkeit des traditionellen juristischen Handwerkszeugs (I. Kapitel), mancher neuerer Methodenansätze, die die heutige Methodendiskussion in der Staatsrechtslehre maßgeblich beeinflußt haben (II. Kapitel), mehrerer Argumentationsfiguren, die entweder in der Rechtsprechung des BVerfG oder in der Lehre als methodische Vehikel zur Legitimierung des Interpretationsvorgangs bei der Normenkontrolle benutzt worden sind (III. Kapitel) sowie des neueren funktionell-rechtlich geprägten Ansatzes der Normenkontrolldichte (IV. Kapitel). Im Anschluß an diesen Ansatz wird ein eigener Alternatiworschlag gemäß den im ersten Teil entwickelten Richtlinien und in Zusammenhang mit den im I. Kapitel des zweiten Teils gemachten Vorschlägen zu einem neuen Verständnis des Methodenkanons vorgestellt. Das den zweiten Teil abschließende V. Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, welche Konsequenzen ihre voraussichtlichen Folgen, die sich aus der Eigenart des einzelnen zu behandelnden Falls ergeben, für die verfassungsgerichtliche Entscheidung bei der Normenkontrolle haben können. Der am Ende der Arbeit stehende Ausblick faßt den eigenen Ansatz systematisch zusammen und setzt sich summarisch mit dem vom BVerfG praktizierten Paradigma von Normenkontrolle auseinander. Die Untersuchung bewegt sich nicht allein auf abstrakt-theoretischer Ebene. Es w i r d vielmehr von konkreten geschichtlichen Problemen ausgegangen, welche die Normenkontrolle betreffen; ihre theoretische Ausarbeitung dient dann dazu, zu Ergebnissen im Hinblick auf die normenkontrollierende Tätigkeit des BVerfG zu gelangen. Hier handelt es sich also nicht um eine Theorie für die Theorie, sondern um eine Theorie der Praxis. Unter diesen Umständen ist freilich die Behandlung einer Reihe wichtiger verfassungsgerichtlicher Entscheidungen unverzichtbar. Ziel ist es, Grenzen der Normenkontrolle zu fixieren, welche dem BVerfG ermöglichen, sowohl grundgesetzlich gegenüber gesetzgeberischen Eingriffen gewährleistete Positionen als auch den legitimen Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers selbst nicht zu tangieren. Es fragt sich, mit anderen Worten, welche Rolle der Normenkontrolle innerhalb eines demokratischen Gemeinwesens, wie das vom Grundgesetz vorgesehene, zukommt und mit welchen spezifischen Mitteln die sich daraus ergebenden Aufgaben zu bewältigen sind. Es wird freilich nicht versucht, auf diese Fragen eine ein für allemal gültige Antwort zu liefern, sondern nur einen „Arbeitsvorschlag" zu machen, der Anlaß zu weiterer Diskussion geben könnte. Probleme, die sich der Praxis täglich neu stellen, könnte jedenfalls keine Theorie im voraus in allen Details lösen, sondern nur einen allgemeinen Rahmen angeben, innerhalb dessen sie gelöst werden können. Deswegen wird auch in der vorliegenden Arbeit manches bewußt offen gelassen.
Erster Teil
Die Normenkontrolle im Gefüge der Staatsfunktionen I. Die Normenkontrolle im Laufe der geschichtlichen Entwicklung 1. Die Epoche des Konstitutionalismus Die Gestaltung der Normenkontrolle durch das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland stellte ein Novum in der deutschen Verfassungsgeschichte dar. Ansätze zu einem richterlichen Prüfungsrecht gegenüber der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen gab es jedoch bereits in der Zeit des Deutschen Bundes, die sich aber nicht durchsetzen konnten 1 . Auch die Paulskirchenverfassung ließ die Möglichkeit einer solchen Prüfung offen, da sie in § 126 g „Klagen deutscher Staatsbürger wegen Verletzung der durch die Reichsverfassung ihnen gewährten Rechte" beim Reichsgericht vorsah la . Infolge des Scheiterns jener Verfassung, welche auch einen umfangreichen Grundrechtekatalog enthielt, kam es dazu jedoch nicht. Unter der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 fand keine gerichtliche Prüfung von Reichsgesetzen auf ihre inhaltliche Übereinstimmung mit den Verfassungsvorschriften hin statt. Von der Rechtsprechung wurde eine solche Prüfung nicht in Anspruch genommen2, von der Staatsrechtslehre überwiegend abgelehnt 3 . Bismarck hatte sie kurz vorher in einer Rede vor dem preußischen Abgeordnetenhaus im Jahre 1863, also während des preußischen Budgetkonflikts, entschieden zurückgewiesen. „Die politische Zukunft des Landes" dürfe nicht von den Richtern „abhängig gemacht werden" 4 . Die Nähe zum Gedankengang der herrschenden Meinung im Staatsrecht, wie sie von den 1
Vgl. E. R. Huber I, 1057. Vgl. auch § 126 a, in bezug auf Klagen der Einzelstaaten. 2 Vgl. RGZ 9, 232 (getroffen am 17.2.1883); F. Neumann I, 518. Anders Peine, 545. 3 Dazu Dopatka II, 34ff.; E. R. Huber I, 1059ff.; F. Neumann I, 518; Ladeur, in: Hase / Ladeur, 90ff., Scheuner IV, 39f., 51; Simon, 1255f.; Stern II, 969ff.; Wendenburg, 24ff.; breitere Befürwortung fand in der Lehre die Prüfung des formell verfassungsmäßigen Zustandekommens der Gesetze. Vgl. E. R. Huber I, 1059, Anm. 14, Wendenburg 27, Anm. 153. 4 Kohl, 172. la
16
1. Teil: Die Normenkontrolle im Gefüge der Staatsfunktionen
führenden Positivisten vertreten wurde, darf nicht geleugnet werden: „Nicht jeder einzelne Richter sondern der Kaiser ist zum Wächter und Hüter der Verfassung gesetzt". Jener habe „zu prüfen und zu konstatieren, bevor er das Gesetz verkünden läßt, daß es der Verfassung entsprechend errichtet worden ist". Die richterliche Prüfungszuständigkeit beschränke sich darauf, ob ein Reichsgesetz vom Kaiser ordnungsgemäß angefertigt und verkündet wurde (Ausfertigungslehre) 5. Damals hätte es auch politisch wenig Sinn gehabt, ein materielles Prüfungsrecht durchzusetzen, d. h. Reichsgesetze auf ihre inhaltliche Übereinstimmung mit der Verfassung hin prüfen zu lassen, da keine der herrschenden politischen und sozialen Mächte ein besonderes Interesse an einer solchen gerichtlichen Kontrolle hatte: Die Krone und der Adel deshalb nicht, weil sie im Gesetzgebungsverfahren maßgeblich beteiligt waren, sowohl durch die Mitwirkung des Bundesrates (Art. 5 RV), als auch durch die weitreichenden Kompetenzen des Kaisers (Art. 11 bis 19 RV). Und das Bürgertum ebenfalls nicht, weil die unter Mitwirkung der weitgehend von ihm beeinflußten Volksvertretung (Reichstag) verabschiedeten Gesetze nicht als Bedrohung gegen, sondern gerade als Garantie für die bürgerliche Freiheit und das bürgerliche Eigentum angesehen wurden. Außerdem hatte das Bürgertum wahrscheinlich auch wenig Vertrauen an eine von ihm nicht in demselben Maße wie der Reichstag beeinflußten Justiz. Dasselbe gilt freilich für die Arbeiterklasse und die Sozialdemokratie, die allmählich gegen Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer politisch relevanten Kraft geworden war. Es gab also systemimmanente „checks and balances", wodurch „jedes als relevant anerkannte Interesse die Chance erhielt, sich selbst zu verwirklichen und durchzusetzen" und dem Gesetz der Charakter eines Vertrags zwischen den sozialen Gewalten (Monarch, Adel, Bürgertum) verliehen wurde 6 . Der sich allmählich entwickelnde Prozeß der Verständigung zwischen jenen Gewalten erleichterte aufgrund einer expansionistischen Außenpolitik und einer repressiven Innenpolitik gegenüber der Arbeiterklasse dieses Zusammenwirken 7 . Unter diesen Umständen war eine richterliche Normenkontrolle im wesentlichen überflüssig 8 . Und „last but not least" war die Bismarcksche Reichsverfassung von 1871 ein reines Organisationsstatut ohne Grundrechtekatalog, so daß eine mate-
5 Laband I, Bd. II, 46. Vgl. E. R. Huber I, 1059, Anm. 13, mit umfangreichen Nachweisen. 6 Gusy, 20 f. Vgl. etwa die Überlegungen von R. v. Gneist, 230 f. 7 Vgl. etwa Ladeur, in: Hase / Ladeur, 92. 8 Vgl. Schmitt III, 67. Vgl. aber Peine, 547 f., der meint, „ i m Spätkonstitutionalismus hätte es eine Normenkontrolle als Verfassungsschutz rechtlich geben können".
I. Die Normenkontrolle im Laufe der geschichtlichen Entwicklung
17
rielle Verfassungsmäßigkeitsprüfung auf Bundesebene auch von der Sache her problematisch gewesen wäre 9 . 2. Die Entwicklung in der Weimarer Republik In der Weimarer Zeit hat sich diese Situation geändert. Die Weimarer Reichsverfassung sah zwar ebensowenig wie die Bismarcksche ein richterliches Prüfungsrecht gegenüber Gesetzen ausdrücklich vor. Sie enthielt aber einen umfangreichen Grundrechtsteil (Art. 109 ff. WRV) und lieferte damit den normativen Rahmen für eine materielle Prüfung auf Bundesebene. Dies würde jedoch gewiß nicht ausreichen, hätten die politischen und sozialen Machtverhältnisse sich nicht wesentlich geändert. In der neuen Verfassung wurde die Stellung des Reichstages im Gesamtgefüge der Staatsfunktionen verstärkt. Das Übergewicht der bürgerlichen Parteien in ihm hatte sich dagegen wegen der in den Jahren 1918/19 stattgefundenen Radikalisierung großer Teile der Bevölkerung abgeschwächt. Die SPD und die KPD besaßen schon einen erheblichen Teil der Sitze. Demgegenüber waren die Gerichte von Richtern besetzt, welche „ i n ihrer erdrükkenden Mehrheit der herrschenden Schichten entstammen" 10 . Das richterliche Prüfungsrecht erschien nunmehr als sinnvolle und wirksame Sicherung gegen eine instabile, unzuverlässige Volksvertretung, die „den liberalen in einen sozialen Rechtsstaat" 11 überführen könnte. Das mag zwar eine Überschätzung der Leistungsfähigkeit des Parlaments zugunsten der Arbeiterklasse oder eine grundsätzliche Fehleinschätzung der tatsächlichen Machtverhältnisse und Tendenzen gewesen sein 12 . Solche - wenn auch, retrospektiv gesehen, unrealistische - Befürchtungen könnten aber damals sehr wohl eine Rolle beim Verhalten des konservativen Bürgertums gespielt haben, zumal der Alptraum der russischen und der deutschen Revolution nahelag. Außerdem wurde selbst die parlamentarische Republik als das Ergebnis der Kriegsniederlage, als etwas von außen Gesetztes, der deutschen Tradition nicht Entsprechendes, angesehen13. In der Lehre wurde seit Beginn der Weimarer Republik zunehmend stärker die Ansicht vertreten, daß ein solches Prüfungsrecht trotz des Schwei-
9
Vgl. Peine, 529, 535. Heller IV, 9. Vgl. auch Kelsen I, 54. F. Neumann meinte, darüber hinaus, daß „der deutsche Richter . . . als Richter konservativ ist" (I, 531). 11 Heller IV, 9. Vgl. F. Neumann II, 37: Das richterliche Prüfungsrecht sei „dazu bestimmt, die bestehende Sozialordnung zu sanktionieren". 12 So charakteristisch F. Neumann I, 521: „Die sozialen Verhältnisse . . . werden sich von Jahr zu Jahr zugunsten der Arbeiterklasse verschieben". Im Jahre 1929! 13 Diesen letzten Aspekt betont Ladeur, in: Hase / Ladeur, 108f. 10
2 Chryssogonos
18
1. Teil: Die Normenkontrolle im Gefüge der Staatsfunktionen
gens der Verfassung besteht 14 , hauptsächlich von Staatsrechtlern konservativer Prägung 15 . Ganz offen wurden ihre Motive von Heinrich Triepel ausgesprochen: „Das richterliche Prüfungsrecht" sei „der wichtigste Schutz der bürgerlichen Freiheit gegenüber einem machthungrigen Parlament" 16 . Im übrigen war gemeinsamer Nenner aller - bis auf Kelsen - Befürworter des richterlichen Prüfungsrechts ihre kritische Haltung gegenüber dem staatsrechtlichen Positivismus 17 . Sozialdemokratische oder liberal-parlamentarisch geprägte bürgerliche Theoretiker 18 lehnten dagegen mit zum Teil ebenfalls offen politischen Begründungen das materielle Prüfungsrecht grundsätzlich ab oder fragten wenigstens nach seinen Grenzen 19 . Unter diesen Gegnern des Prüfungsrechts befanden sich auch die prominentesten derjenigen, welche an der positivistischen Tradition festhielten 20 . Nach der Änderung der politischen und sozialen Lage und nach der geschilderten theoretischen Vorbereitung war der Weg für die Inanspruchnahme des materiellen Prüfungsrechts durch das Reichsgericht geöffnet. In seinem Urteil vom 28.4.1921 hieß es, das Leipziger Gericht habe „ i n ständiger Rechtsprechung die Gerichte für befugt erklärt, die formelle wie die materielle Rechtmäßigkeit von Gesetzen und Verordnungen nachzuprüfen" 2 1 Diese Feststellung war freilich unzutreffend 22 , sollte aber wahrscheinlich dazu dienen, das Gericht von der Notwendigkeit der Begründung der Wende in seiner Rechtsprechung und damit auch der Auseinandersetzung mit der Lehre zu entlasten, denn in diesem Fall hätte es auch Argumente offen politischer Natur miteinbeziehen müssen. Man kann sich vorstellen, welches die 14 Eine Übersicht über die theoretische Auseinandersetzung in den ersten Jahren der Weimarer Republik findet man bei Thoma I, 268 ff. Sehr umfassende Nachweise über die ganze Zeitstrecke von 1919 bis 1933 gibt Wendenburg, 58ff. 15 Vgl. Wendenburg, 44f., 226ff. m.w.N. Als prominenteste Ausnahme darf H. Kelsen gelten. Jener Konservatismus oder die Angst vor dem Parlament, bedeutet jedoch keine grundsätzliche Ablehnung der demokratisch-republikanischen Staatsform als solcher. Vgl. dazu die Nachweise bei Wendenburg, 227f. 16 Triepel I, 537. 17 Vgl. Wendenburg, 225. Was Kelsen angeht, der sich vehement für das materielle richterliche Prüfungsrecht einsetzte (vgl. IV, 275f.), ist er m.E. bezüglich seiner Vorstellung von (legitimer) Rechtswissenschaft zwar Positivist, bezüglich seiner Vorstellung von (legitimer) Rechtsprechung aber eher Dezisionist. Vgl. dazu im zweiten Teil, 1,2. 18 Charakteristisch F. Neumann I einer- und Thoma I, 285 f. andererseits. Vgl. auch die Nachweise bei Wendenburg, 45f., 227. 19 Heller II. Die Stellung der SPD insgesamt war bezüglich des Prüfungsrechts eher negativ, obwohl nicht ganz eindeutig. Vgl. Wendenburg, 84 ff. 20 Vornehmlich Anschütz, Thoma und Radbruch. Vgl. Wendenburg, 225. 21 RGZ 102, 161, 164; vgl. auch RGZ 107, 377, 379. 22 Vgl. Heller I, 9f.; Neumann I, 519; Scheuner IV, 51; Hippel II, 557; Rinken, 1001; Hirsch II, 182.
I. Die Normenkontrolle im Laufe der geschichtlichen Entwicklung
19
Konsequenzen gewesen wären, wenn das Reichsgericht die Triepelsche Formel in seiner Entscheidung angeführt hätte. In einer Pressemitteilung des Richtervereins beim Reichsgericht vom 8.1.1924 hieß es, ein Gesetz, das die Reichsregierung geplant hatte und welches die durch Reichsgerichtsentscheidungen 23, unter Berufung auf die Grundsätze von Treu und Glauben und entgegen der positivrechtlichen Normierung erfolgte Aufwertung von Hypothekenforderungen begrenzen oder verbieten würde, könne „als ein Verstoß gegen Treu und Glauben, als unsittlich seiner unsittlichen Folgen wegen, als eine verfassungswidrige Enteignung. . . rechtsunwirksam" sein 24 . Hier waren also naturrechtliche Erwägungen und das richterliche Prüfungsrecht miteinander verwoben, um den Gesetzgeber davon abzuhalten, jene juristisch zumindest angreifbare richterliche Ersatzgesetzgebung contra legem abzuschaffen (obwohl das Parlament zuvor sich weigerte, eine solche Aufwertung gesetzlich vorzusehen). Nichtsdestoweniger wurde aber danach das Aufwertungsgesetz vom Reichstag verabschiedet. Als seine Gültigkeit vor dem RG zur Prüfung kam, wurde vom Gericht seine Zuständigkeit, Reichsgesetze auf ihre inhaltliche Übereinstimmung mit der Reichsverfassung hin zu überprüfen, prinzipiell nochmals bekräftigt. Als Begründung führte das Gericht aus, die Vorschriften der Verfassung können „nur durch ein ordnungsmäßig zustande gekommenes verfassungsänderndes Gesetz außer Kraft gesetz werden". Daher bleiben sie „auch gegenüber abweichenden Bestimmungen eines späteren, ohne Beachtung der Erfordernisse des Art. 76 erlassenen Reichsgesetzes für den Richter verbindlich und nötigen ihn, die widersprechenden Bestimmungen des späteren Gesetzes außer Anwendung zu lassen", da die Verfassung keine Vorschrift enthalte, „nach der die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Reichsgesetze den Gerichten entzogen und einer bestimmten anderen Stelle übertragen wäre" 2 5 . Jener Gedankengang stellte freilich nichts anderes als. eine petitio principii dar. Denn die entscheidende Frage war nicht, ob die Verfassung auf einer höheren Ebene in abstracto den Gesetzen gegenüberstand, so daß sie nicht durch einfaches Gesetz geändert werden könnte, sondern, ob den Gerichten die Kompetenz anvertraut war, über jene Unverbrüchlichkeit der Verfassung zu wachen. Im übrigen enthielt die Weimarer Reichsverfassung eine ausdrückliche Prüfungsermächtigung für andere Verfassungsorgane ebensowenig wie auch für die Gerichte. Woran lag aber dann das Besondere der Gerichtsbarkeit gegenüber anderen Staatsfunktionen, welches sie zum 23
Erst RG 107, 78. JW 1924, 90. 2 * RGZ 111, 320, 322f. 24
2*
20
1. Teil: Die Normenkontrolle im Gefüge der Staatsfunktionen
Garanten der Verfassung par excellence proklamieren könnte? Darauf wurde in der Entscheidung des RG nicht geantwortet. Im Ergebnis wurde jedoch das AufwertungsG als verfassungsgemäß anerkannt 2 6 . Mit ihren Drohungen konnten also die Richter am Ende nicht Ernst machen, für die Zukunft hatten sie jedoch ihren Machtanspruch nicht aufgegeben. Die auf diesem merkwürdigen Weg geschaffene Verwerfungskompetenz, die allen Gerichten zustehen sollte, wurde aber von ihnen sehr zögernd ausgeübt 27 . In einer so kontroversen Sache war wohl nichts anderes zu erwarten. Dann kam es aber zur faktischen Diktatur des Reichspräsidenten durch Notverordnungen gemäß Art. 48 Abs. 2 WRV und das richterliche Prüfungsrecht wurde überwunden und vergessen 28. Während der NS-Zeit war kaum etwas davon zu hören 29 . Während der Weimarer Zeit galt die Konzentration der Prüfungs- und Verwerfungskompetenz bei einem Verfassungsgericht, eventuell beim Staatsgerichtshof gemäß Art. 19 WRV (wie der Anfang 1926 dem Reichsrat zugeleitete Gesetzesentwurf der Reichsregierung vorsah), als Kompromißlösung, die von beiden Seiten akzeptiert werden könnte 30 . Dies vermutlich, weil der nicht nur mit Richtern, sondern auch mit politischen Persönlichkeiten besetzte Staatsgerichtshof im Verhältnis zur sonstigen Richterschaft 31 als parlamentsfreundlicher und kontrollierbarer anzusehen war. Die dafür erforderliche Verfassungsänderung konnte sich aber nicht durchsetzen. 3. Die Entstehung der Regelung des Grundgesetzes Die Errichtung eines Bundesverfassungsgerichtes mit allumfassenden Zuständigkeiten war zweifellos eine der Grundentscheidungen des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, obwohl darüber weder im Herrenchiemseer Konvent noch im Parlamentarischen Rat sehr ausführlich diskutiert wurde 3 2 . Ebenso zweifelsfrei ist es, daß diese Grundentscheidung auf dem Gedanken beruhte, die Wehrlosigkeit der Weimarer Reichsverfas26
RGZ 111, 320, 331. Zum Ganzen ausführlich Wendenburg, 51 ff. Hase, in: Hase / Ladeur, 114; Kommers, 41; Wendenburg, 52, Anm. 10. 28 Hase, in: Hase / Ladeur, 114ff.; Rinken, 1002. Die literarische Diskussion wurde allerdings bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung fortgesetzt. Vgl. Hippel II, 552 ff. 29 Vgl. Wendenburg, 92 ff. 30 Vgl. Hase, in: Hase / Ladeur, 113f.; Wendenburg, 72ff., jeweils m.w.N. 31 Die Richterschaft war damals überwiegend antidemokratisch orientiert. Charakteristisch sind etwa die Äußerungen des Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes, Leeb, wonach die Weimarer Gesetzgebung „Lügen-, Partei-, Klassen- und Bastardrecht" (!) sei (zitiert nach Wendenburg, 57). 32 Lauferl, 39, 52. 27
I. Die Normenkontrolle im Laufe der geschichtlichen Entwicklung
21
sung sei einer der Gründe des Zustandekommens des nationalsozialistischen Terrorregimes 33 . Man wollte einen „Hüter der Verfassung in wahrhaftem Sinne" haben 34 , man hatte „keine Angst vor . . . der Gefahr einer justizförmigen Politik" 3 5 . In diesem Sinne wurde später von einem Lande gesprochen, welches sich selbst nicht trauen kann 3 6 . Es kann hier dahingestellt bleiben, ob dies eine „Fehlinterpretation der Weimarer Misere" 37 , eine „Illusion der Juristen" 3 8 ist. Wichtiger ist festzustellen, daß die Entstehung der Regelung der Normenkontrolle Besonderheiten aufweist. Das „Ob" einer Prüfung der (materiellen) Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen wurde nämlich nicht diskutiert. Nur der Abgeordnete Paul (KPD) sprach gegen das Prüfungsrecht insgesamt und zwar nur beiläufig, im Rahmen seines Plädoyers für einen parlamentarischen Gewaltenmonismus 39 . In der Tat war aber diese Ansicht im Parlamentarischen Rat politisch irrelevant und wurde von den anderen Parteien überhaupt nicht zur Kenntnis genommen 40 . Diese Einigkeit über ein Thema, das in Weimar so kontrovers war, ist wahrscheinlich dadurch zu erklären, daß der Rat keine Wahlmöglichkeiten hatte. Wenn das Grundgesetz nichts darüber sagen würde, dann könnte man davon ausgehen, daß die Gerichte das Prüfungsrecht, genauso wie in der Weimarer Zeit, in Anspruch nehmen würden, zumal die große Mehrheit der Richter nicht als Freunde des zu errichtenden politischen Systems betrachtet werden konnten. Das richterliche Prüfungsrecht ausdrücklich auszuschließen, kam andererseits schon deshalb nicht in Frage, weil die Alliierten nicht zugestimmt hätten. „The Constitution should provide for an independent Judiciary to review federal legislation" hieß es in einem aide-memoire der Militärgouverneure zum Parlamentarischen Rat vom 22. November 1948 41 . Man kann davon ausgehen, daß diese Forderung schon früher den Verfassungsvätern inoffiziell bekannt geworden war. Die praktisch relevante Frage war also nur das „Wie" der Normenkontrolle: Ein allgemeines Prüfungsrecht für alle Gerichte oder Konzentration der Prüfungs- oder wenigstens der Verwerfungskompetenz in einem Verfassungsgericht? Der Parlamentarische Rat hat sich ganz bewußt für die zweite Alternative entschieden (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und 100 Abs. 1 GG). Richter33 Dolzer I, 27ff.; Dopatka II, 37; Rinken, 1003f.; Laufer I, 21. Herrenchiemseer Entwurf, Darstellender Teil S. 45f., zitiert nach JöR 1 (1951), S. 669. 35 Abgeordneter Süsterhenn im Parlamentarischen Rat, zitiert nach Dolzer, 29. 36 Scheuner II, 838. 37 Rinken, 1005. 38 Dopatka II, 38. 39 Laufer I, 89. 40 Laufer I, 90. 41 Kommers, 70. 34
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1. Teil: Die Normenkontrolle im Gefüge der Staatsfunktionen
licher Widerstand gegen Reichstagsgesetze war, so der Abgeordnete Menzel (SPD), eine politische Negierung des Weimarer Systems. Da aber ein großer Teil der Richter und Staatsanwälte immer noch nationalsozialistisch belastet war, sollte das Prüfungsrecht vom Verfassungsgericht, dessen Mitglieder von den politischen Gremien gewählt wurden, ausgeübt werden 42 . Durch die Konzentration der Verwerfungskompetenz beim BVerfG sollte also gemäß der Absicht des Verfassunggebers die Ausübung politischer Opposition von den Richtern verhindert werden. Im gleichen Sinne bemerkte auch der Abgeordnete Zinn (SPD) in Erwiderung des Vorschlags des Abgeordneten Strauß (CSU), namens seiner Fraktion, das Prüfungsrecht dem obersten Bundesgericht zuzusprechen, daß es sich um Rechtsfragen von politischer Bedeutung handelte, die die Mitwirkung von Richtern, welche die politischen Konsequenzen ihres Spruchs ermessen können, notwendig machten 43 . Es wurde also vom Grundgesetzgeber zweierlei versucht: Zum einen sollte „einem jeden einzelnen Einwohner Deutschlands der nötige Schutz gegen Beeinträchtigung der ihm verfassungsmäßig zugesicherten Grundrechte" gewährt bleiben und eine „Diktatur der parlamentarischen Mehrheit" verhindert werden 44 . Daher hatte man eine sehr umfangreiche Normenkontrolle vorgesehen, die außer der konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) auch eine abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) umfaßte. Im Jahre 1969 kam die zunächst auf einfachgesetzliche Ebene bestehende Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG) hinzu, die sich auch gegen Gesetze richten könnte 45 . Zum anderen sollte aber auch die verfassungsmäßige Sphäre des Gesetzgebers geschützt werden, so daß sich nicht ein jeder einzelne Richter über den demokratischen Prozeß der politischen Willensbildung hinwegsetzen könnte. 4. Die Praxis des Bundesverfassungsgerichts In den beiden ersten Jahrzehnten ihrer Existenz, etwa bis zum Jahre 1969, hat die Normenkontrolle zu großen Auseinandersetzungen mit dem Gesetzgeber, d. h. aber im wesentlichen mit dem Machtblock Regierung/Parlamentsmehrheit, wenig Anlaß gegeben. Konflikte fanden eher, wenn überhaupt, in anderen Bereichen statt, so ζ. B. in bezug auf die Statusfrage. Die wichtigsten durch die Normenkontrolle zustande gekommenen Konflikt42 Verhandlungen des Hauptausschusses, 1948 - 49, Parlamentarischer Rat, Bonn 1950, S. 31. 43 Verhandlungen, a.a.O., S. 274ff., vgl. auch JöR 1 (1951), S. 677f. 44 So Konrad Adenauer vor dem Zonenbeirat, zitiert nach Lauf er I, 54. 45 Die Verfassungsbeschwerde wurde vom BVerfG, durch den Umweg über Art. 2 Abs. 1 GG, interpretatorisch erweitert (Elfesurteil, BVerfGE 6, 32, 41).
I. Die Normenkontrolle im Laufe der geschichtlichen Entwicklung
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fälle waren das Südweststaatsurteil 46 und das Fernsehurteil 47 . Gelegentlich wurde dem BVerfG sogar vorgeworfen, durch seine Zurückhaltung verletze es seine verfassungsmäßige Rolle 48 . Die Feststellung, es sei „nicht gerechtfertigt, von einem übermäßigen Eingreifen des BVerfG in den Kompetenzbereich des Bundesgesetzgebers zu sprechen" 49 , scheint weitgehende Zustimmung finden zu können 50 . In der darauf folgenden Zeit, bis etwa zum Jahre 1979, hat das BVerfG sich mit der sozialliberalen Koalition auseinandergesetzt und mehrere Gesetze, welche Kernstücke ihrer Reformpolitik darstellten, kassiert 51 oder für verfassungswidrig erklärt 5 2 oder via verfassungskonforme Auslegung wesentlich umgestaltet 53 . Parallel zu diesem „activism" im Verhältnis zum Gesetzgeber war aber das BVerfG der Verfassung selbst gegenüber ebenfalls aktiv gewesen, indem es, durch restriktive Verfassungsinterpretation, solche Gesetze nicht beanstandete, die möglicherweise, bei anderer Verfassungsinterpretation, als Beeinträchtigungen von - fest im GG verankerten - Grundrechtspositionen hätten angesehen werden können 54 . Dieser doppelseitige „activism" hat dem BVerfG, oder wenigstens der jeweiligen Senatsmehrheit, erhebliche Vorwürfe eingebracht. „ N i c h t . . . vertretbar" 5 5 , „verkehrt die Funktion der Grundrechte in ihr Gegenteil" 56 , „es wäre das Ende der Verfassungsgerichtsbarkeit, wie sie 1949 gedacht w a r " 5 7 , hieß es in bitteren Sondervoten - von Mitgliedern des Gerichts selbst - gegen die jeweilige Auffassung der Senatsmehrheit. „Die Bundesrepublik Deutschland . . . verwandelt sich . . . Schritt für S c h r i t t . . . in einen autoritären Staat, in dem auch die kleinste demokratische Reform an den konservativen Vorurteilen des Verfassungsgerichts scheitern wird", hatte ein politischer Außenseiter hoher wissenschaftlicher Autorität geschrieben 58 . „Videant Judices! " warnte der Justizminister der betroffenen Regierung 59 . 46
BVerfGE 1, 14 ff. BVerfGE 12, 205ff. 48 Arndt II, 1608, Ridder I, 329f., 347f.; vgl. etwa auch Loewenstein, 263. 49 Lauferl, 351. 50 Vgl. auch Kommers, 246: „ I n most instances, the Court's role has been one of validating governmental policy", betreffend Bd. 1 - 3 3 der Entscheidungen; Ladeur, in: Hase / Ladeur, 302, McWhinney, insbes. 19, 37. si BVerfGE 39, Iff.; 48, 127ff. 52 BVerfGE 35, 79 ff. 53 BVerfGE 36, I f f . 54 BVerfGE 28, 243ff.; 30, Iff.; 39, 334ff.; 49, 24ff. ss BVerfGE 35, 149. 56 BVerfGE 39, 73. 57 BVerfGE 48, 200. 58 Abendroth III, 127. Vgl. auch Dopatka I, 45: „Etatistische Tendenz" (des BVerfG). 59 H.-J. Vogel. Vgl., zusammenfassend, Häberle V, 59ff.; Vorländer, 5f., Anm. 1 und Zweigert / Dietrich 20: „Gerichtlicher Autoritarismus in scheindemokratischem Gewand"; 47
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1. Teil: Die Normenkontrolle im Gefüge der Staatsfunktionen
Inwieweit die K r i t i k zutraf, kann hier dahingestellt bleiben. Sicher ist indessen, daß die Entscheidungstätigkeit des BVerfG, und zwar insbesondere im Rahmen seiner Normenkontrollfunktion, auf Dauer und mit zunehmender Intensität in Frage gestellt wurde. Das Problem, welches den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung darstellt, nämlich die Begrenzung der Normenkontrolle, die es dem BVerfG ermöglichen soll, zum einen den erwarteten Grundrechtsschutz zu leisten und zum anderen den verfassungsmäßigen Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers nicht zu beeinträchtigen, stellt sich nach jener geschichtlichen Erfahrung der 70er Jahre nicht als Scheinproblem, sondern als konkretes historisches Problem dar.
II. Die staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts 1. Das Bundesverfassungsgericht als oberstes Verfassungsorgan Das BVerfG begann seine Tätigkeit mit einer Verzögerung von über zwei Jahren (1949 - 1951) am 28. September 1951. Am 27. Juni 1952 übersandte sein Präsident im Auftrag seines Plenums eine Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts an den Bundespräsidenten, den Bundestag, den Bundesrat und die Bundesregierung. Anlaß dafür sollte vor allem die Beeinträchtigung der Tätigkeit des BVerfG durch das Nichtvorhandensein eines Einzelplans für das BVerfG im Bundeshaushaltsplan gewesen sein. Einnahmen und Ausgaben des BVerfG erschienen bis zum Jahre 1953 innerhalb des Einzelplans des Bundesjustizministeriums, und der Vollzug des Haushalts wurde vom Bundesfinanzministerium überwacht, wodurch es zu Spannungen mit dem BVerfG gekommen war. Am 11. Juni 1952 warf sogar die SPD-Fraktion der Regierung während einer Bundestagsdebatte vor, sie unternehme nichts, um das BVerfG (finanziell) arbeitsfähig zu machen, worauf die Antwort der Bundesregierung war, dies sei auf praktische Schwierigkeiten zurückzuführen 1 . Die Forderung nach einem eigenen Haushalt ist in der Tat von zentraler Bedeutung für die Konsequenzen, die dem BVerfG zufolge aus der in der Denkschrift in Anspruch genommenen Verfassungsorganqualität des Gerichts zu ziehen seien2. In der Denkschrift hieß es, das BVerfG sei „ein mit höchster Autorität ausgestattetes Verfassungsorgan" 3. Im üblichen deutschen staatsrechtlichen Sprachgebrauch hießen bis zu jenem Zeitpunkt Verfassungsorgane oder verfassungsunmittelbare Organe oder unmittelbare Verfassungsorgane „die in der Verfassungsurkunde . . . vorgesehenen Organe zum Unterschied von 1 2 3
Zum Ganzen ausführlich Lauf er, 259 f. BVerfG I, 145 f. BVerfG I, 144.
II. Die staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts
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den nicht durch die Verfassungsurkunde selbst eingesetzten Organe" . Das BVerfG versteht sich jedoch nicht einfach als Verfassungsorgan in diesem Sinne, welchem höchste Autorität zukommt (dann wäre die Redewendung „höchste Autorität" überflüssig, denn allen diesen Verfassungsorganen kommt höchste Autorität zu). Der Ausdruck „mit höchster Autorität ausgestattetes Verfassungsorgan" meint vielmehr, daß es „ein den anderen obersten Bundesorganen ebenbürtiges Verfassungsorgan" sei5. Unter „anderen obersten Bundesorganen" verstand man dabei den Bundespräsidenten, den Bundestag, den Bundesrat und die Bundesregierung 6 . Zur Begründung seiner Forderung nach Ebenbürtigkeit berief sich das BVerfG auf die Fülle der ihm im GG zugewiesenen Kompetenzen und die besondere Eigenart der von ihm zu entscheidenden Streitigkeiten als „politische Rechtsstreitigkeiten", d. h. solche, in denen „über politisches Recht gestritten und das Politische selbst. . . zum Gegenstand der richterlichen Beurteilung gemacht w i r d " 7 . Nachdem Richard Thoma auf Ersuchen des Bundesjustizministers sein die Forderungen des BVerfG ablehnendes Gutachten erstattet hatte, präzisierte das BVerfG seine Stellungnahme in diesem Punkt: „Nur jene Organe sind Verfassungsorgane, deren spezifische Funktion und Wesensart einheitsgründend oder. . . integrierend auf den Staat wirken". Das BVerfG gehöre zu ihnen, weil es „ i n den verfassungsmäßigen Prozeß der staatlichen Willensbildung. . . eingeschaltet" sei. Es sei aus dem vom GG normierten „System. . . der Machtverteilungen und Machtbegrenzungen nicht wegzudenken". Es orientiere sich „am Rechtswert", dadurch diene es aber zugleich dem „politischen Integrationswert" 8 . Es wurde später in diesem Sinne davon gesprochen, daß das BVerfG „an der Ausübung der obersten Staatsgewalt" 9 oder „an der obersten Staatsleitung" 1 0 teilnimmt. Diese verfassungsgerichtliche Argumentation erscheint aber in vielerlei Hinsicht als fragwürdig. Die Fülle der Kompetenzen allein kann kein Kriterium für die Heraushebung der Stellung des Organs darstellen. Auch der BGH hat eine Fülle von Kompetenzen, und seine Entscheidungen haben vielleicht weitergehende Wirkung auf das alltägliche Leben des durchschnittlichen Bürgers als jene des BVerfG. Der Bundespräsident hingegen, der vom BVerfG als eines der obersten Verfassungsorgane bezeichnet wird, hat praktisch wenige Kompetenzen. Was die „politischen Rechtsstreitigkeiten" angeht, sind diese ebenfalls kein Kriterium, denn auch Prozesse, die 4
Thoma II, 166; Laufer I, 297 und Anm. 75. BVerfG I, 145. 6 Vgl. Art. 93 I Ζ. 1 GG, § 63 BVerfGG. 7 BVerfG I, 145. 8 BVerfG II, 198 ff. 9 Leibholz I, 112. !0 Hessell, 228, 263 f. 5
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das Recht des Arbeitskampfs betreffen oder gegebenenfalls Strafprozesse können vom Gegenstand her politisch sein 11 , ohne daß dadurch die zuständigen Arbeits- oder Strafgerichte mit dem Bundestag gleichrangig würden. Und alle Gerichte sind wie das BVerfG in den Prozeß der staatlichen Willensbildung eingeschaltet und als Teile der dritten Gewalt aus dem System der Machtverteilung nicht wegzudenken (womit nicht gemeint ist, daß die Existenz irgendeines Gerichts durch den Art. 79 Abs. 3 GG gedeckt wird). Das wichtigste Argument des BVerfG ist aber, daß es staatsintegrierend wirkt, also dem Integrationswert dient. Man sollte hier zwei Argumentationsebenen grundsätzlich voneinander unterscheiden: Die Ebene des Seins und die Ebene des Sein-Sollens. Auf der Ebene des Seins fragt es sich, welche die tatsächliche Integrationsleistung des BVerfG ist. Auf der Ebene des Sein-Sollens fragt es sich, welche Integrationsleistung das BVerfG nach dem GG erbringen muß. Die tatsächliche Integrationsleistung konnte von der Denkschrift nicht gemeint sein, denn in jener Zeit war das Gericht erst seit wenigen Monaten tätig und man konnte nur schwer voraussagen, welche Leistung es erbringen könnte. Selbst aber, wenn das möglich gewesen wäre, könnte es jedoch nicht als ausschlaggebend angesehen werden. Ausschlaggebend ist vielmehr die vom GG gebotene Integrationsleistung. Sie festzustellen, setzt aber eine bis in die Tiefe hineingehende Analyse der Stellung des BVerfG innerhalb der vom GG gewollten Staatsform voraus 12 . Eine solche Analyse fehlt in der Denkschrift. Die tatsächliche Integrationsleistung könnte wiederum nur insofern relevant sein, als sie niedriger als die verfassungsrechtlich gebotene wäre. Dann könnte man über eine Heraushebung der Stellung des betroffenen Organs diskutieren, die seine Autorität erhöhen und zur Verbesserung seiner Integrationsleistung verhelfen könnte. Das ist aber in bezug auf das BVerfG nicht der Fall. Es ist eher umgekehrt: Die tatsächliche Integrationsleistung ist höher als die verfassungsrechtlich gebotene 13 . Mit anderen Worten: Einen Beitrag zur Bewahrung und Bewährung der Staatsform kann das BVerfG vor allem dadurch leisten, daß es das Vertrauen zu den Grundprinzipien dieser Staatsform, d. h. vor allem zum politischen Formprinzip der Demokratie im öffentlichen Bewußtsein stärkt. Und wenn dieses Prinzip vor allem durch (Parlaments-)Wahlen verwirklicht wird (Art. 20 I I 2 GG), dann ist es eben Aufgabe des BVerfG, das öffentliche Ansehen des Parlaments und der Regierung, die dadurch zustande kommen, zu fördern. Deswegen sollte ihnen die Qualität des obersten Bundesorgans zusammen - aus symbolischen Gründen - mit dem Bundespräsidenten und - aus bundesstaatlichen Gründen - mit dem Bundesrat (der allerdings im 11 12 13
Vgl. Schiaich II, 23. Vgl. dazu im III., IV. und V. Kapitel dieses Teils, bezüglich der Normenkontrolle. Vgl. dazu im IV. Kapitel.
II. Die staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts
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wesentlichen ebenfalls unmittelbar demokratisch legitimiert ist, da er praktisch die Mehrheiten der Landtage widerspiegelt), vorbehalten bleiben. Wenn sich das BVerfG dagegen in der Öffentlichkeit als einen mit Parlament und Regierung gleichrangigen Machtträger präsentiert, dann usurpiert es einen Teil jenes ihnen zukommenden Ansehens. Vertrauen in die Demokratie kann freilich nicht in erster Linie das BVerfG erzeugen, das ist vielmehr Aufgabe des Parlaments und der Regierung. Andererseits kommt es aber nicht darauf an, Legitimationsdefizite des Parlaments (wenn angenommen wird, daß das der deutschen Geschichte eigentümliche Mißtrauen gegenüber dem Parlament auch unter den GG, teilweise wenigstens, fortbesteht) 14 , durch Legitimationsüberschüsse des BVerfG oder allgemeiner der Justiz zu kompensieren, so daß die Legitimation und damit auch die Stabilität des politischen Systems insgesamt aufrechterhalten bleibt. Der Fortbestand einer solchen Situation auf Dauer würde nicht nur das politische Gleichgewicht zwischen den Staatsorganen verfassungswidrig verschieben, sondern selbst die Kontinuität der Staatsform im Notfall gefährden 15 . Im übrigen wurde die kühne Behandlung der staatsrechtlichen Terminologie in den Bemerkungen des Gerichts zum Gutachten von Thoma fortgesetzt. Nachdem sich das BVerfG in der Denkschrift als oberstes Bundesorgan präsentierte, um dadurch die Gleichrangigkeit mit den anderen obersten Bundesorganen zu erreichen, versucht es nunmehr in den Bemerkungen allen übrigen Verfassungsorganen, d. h. allen, welche nicht zugleich oberste Bundesorgane sind, selbst die Verfassungsorganqualität abzusprechen, so beispielsweise dem Bundesrechnungshof 16 . Nur solche Verfassungsorgane dürfen als Verfassungsorgane weiter gelten, „deren Entstehen, Bestehen und verfassungsmäßige Tätigkeit. . . den Staat konstituieren und seine Einheit sichern", d. h. also dieselben, die als „oberste Bundesorgane" qualifiziert wurden. Dadurch läßt sich auch § 1 Abs. 1 BVerfGG, der vom BVerfG als „Verfassungsorgan" spricht, für die Heraushebung der Stellung des BVerfG instrumentalisieren 17 . In der Tat war aber eine solche Deutung jener Vorschrift schon deshalb unzulässig, weil dem aus dem Jahre 1951 stammenden BVerfGG nur der herkömmliche staatsrechtliche Verfassungsorganbegriff, nicht dagegen der neue, erst nach der Denkschrift entstandene Verfassungsorganbegriff, zugrunde liegen konnte. § 1 Abs. 1 BVerfGG besagt also nur, daß das BVerfG ein in der Verfassungsurkunde vorgesehenes Organ ist und hat insofern nur deklaratorische Bedeutung. Selbst wenn man dem BVerfGG den Verfassungsorganbegriff der Denkschrift unterlegen dürfte, bliebe die Frage unbeantwortet, inwiefern überhaupt einfache 14 15 16 17
Vgl. ähnlich Schiaich I, 118. Ähnlich Massing I, 247 f. BVerfG II, 197 f. BVerfG II, 199.
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Gesetze etwas über die strukturellen Grundlagen der Staatsform aussagen können. Am Ende hat freilich das BVerfG seine Verfassungsorganqualität oder genauer: seine Gleichrangigkeit mit den obersten Bundesorganen, erfolgreich gegen den Widerstand des Bundesjustizministers Dehler durchgesetzt 18 . Nichtsdestoweniger war und ist heute noch jene Gleichrangigkeit dem GG nicht zu entnehmen. „Sicherlich war dies kein glücklicher Start für das Bundesverfassungsgericht", wurde bemerkt 19 . 2. Die Konsequenzen aus der Verfassungsorganqualität Aus der Verfassungsorganqualität zieht man personelle Konsequenzen für die einzelnen Mitglieder, welche „nicht als Beamte qualifiziert werden können" 2 0 , und organisatorische Konsequenzen für das BVerfG insgesamt, ζ. B. bei der Berufung und Abberufung der wissenschaftlichen Hilfskräfte und bei der Aufstellung des Haushalts des BVerfG als Einzelplan im Gesamtetat 21 . Damit war die Funktionsfähigkeit des BVerfG verbessert, seine Unabhängigkeit gegenüber den übrigen Verfassungsorganen und insbesondere gegenüber der Regierung stärker abgesichert. Bedenklich ist aber der Weg, der vom BVerfG betreten war, um dies alles zu erreichen, nämlich die Behauptung der Gleichrangigkeit mit den obersten Bundesorganen, da jene Behauptung, über personelle und organisatorische Probleme weit hinausgehend, von großer symbolischer Bedeutung ist. Als Argumentationsfigur in verfassungsgerichtlichen Entscheidungen spielt die Verfassungsorganqualität fast keine Rolle. Sie trat einmal im Apothekenurteil auf 2 2 , war aber für die Begründung jener Entscheidung im wesentlichen überflüssig. Sie sollte einfach die Möglichkeit für das BVerfG begründen, dieselben Anforderungen, die der BGH und das BVerwG an Gesetze stellten, welche objektive Berufszulassungsvoraussetzungen vorsehen, auch selbst zu stellen. Das wäre aber auch dann möglich, wenn das BVerfG als mit den oben erwähnten Gerichten wesensgleich und nicht als oberstes Bundesorgan betrachtet würde. Die Bedeutung der Verfassungsorganqualität liegt in einem anderen Punkt. Indem sich das BVerfG als mit den obersten Bundesorganen gleichrangig präsentierte, trug es gleichzeitig zur Schaffung der symbolischen Voraussetzungen für die zukünftige Intensivierung der Ausübung seiner 18
Kommers, 83 ff. Dolzer I, 44. Vgl. auch Schiaich II, 20ff. 20 Vor dem Statusstreit hatten die Richter am BVerfG dagegen Beamtenstatus. Vgl. hierzu Lauf er I, 257. 21 BVerfG I, 145 ff. 22 BVerfGE 7, 377, 413. 19
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Kompetenzen bei. Höhere Autorität verschafft auch größeren Handlungsund Entscheidungsspielraum 23 . Die Verfassungsorganqualität ist ferner für das Selbstverständnis der Verfassungsrichter relevant: Indem sie sich selbst als Träger eines der höchsten Ämter in der Bundesrepublik verstehen und von ihrer sozialen und politischen Umwelt als solche anerkannt werden, sind sie psychologisch dazu bereit, einen entsprechenden Teil der staatlichen Macht durch die intensive Ausübung ihrer Kompetenzen in Anspruch zu nehmen. 3. Das Problem des Hüters der Verfassung Das BVerfG ist oft als Hüter der Verfassung bezeichnet worden 24 . Unter „Verfassung" könnten aber in diesem Zusammenhang durchaus verschiedene Dinge verstanden werden. Man könnte etwa mit C. Schmitt „eine konkrete politische Entscheidung über Art und Form der politischen Existenz (Republik, parlamentarische Demokratie, bürgerlicher Rechtsstaat, bundesstaatliche Organisation)" als „Verfassung" bezeichnen 25 . In diesem Sinne kann kein Gericht, wie schon im Jahre 1852 C. F. v. Gerber erkannt hatte, „Hüter der Verfassung" sein 26 , selbst wenn es die weitestgehenden Kompetenzen hat. Es überschreitet einfach die institutionellen Möglichkeiten eines Gerichts, dies zu leisten. Sehr lehrreich dazu ist das Beispiel der Abschaffung des österreichischen Verfassungsgerichtshofes im Jahre 1933, als sich Österreich auf dem Wege von einer parlamentarischen Demokratie zum autoritären Ständestaat befand 27 . Aber auch keine „hochpolitische Instanz mit besonders intensiver politischer Kraft" kann „Hüter der Verfassung" in diesem Sinne sein, wie C. Schmitt glaubte 28 . Eine solche Instanz als „Hüter der Verfassung" zu proklamieren, hieße gerade ihre bereits intensive politische Kraft weiter zu verstärken, daher das politische Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Machtträgern verschieben und die Staatsform nicht zu „hüten", sondern weiter zu gefährden. Ein Beweis dafür ist, daß die Proklamierung des Reichspräsidenten zum „Hüter der Verfassung" gerade durch C. Schmitt 2 9 zur Rechtfertigung der Auflösung der Weimarer Reichs23 Vgl. Massing I, 228; Schiaich II, 21. Darüber hinaus meinte Leibholz III, 397, daß ein „Grundsatz eines freundlichen Verhaltens unter Verfassungsorganen" verfassungsrechtlich abgesichert sei, demzufolge jedes Verfassungsorgan „alles unterlassen sollte, was dem Ansehen des anderen Verfassungsorgans schaden könnte". Deswegen wäre ζ. B. der Austausch der Ratifikationsurkunden des Grundlagenvertrages mit der DDR unzulässig, als das Verfahren beim BVerfG noch anhängig war, meint ferner Leibholz. 24 Leibholz II, 127, III, 396, IV, 173; Smend II, 332ff.; Massing I, 222; Steffani, 385; Ridder I, 324; Laufer II, 94; Benda II, 3; Simon, 1277. 2 * Schmitt III, 69 f. 26 Gerberl, 80. 27 Dazu eingehend Kafka, 12ff. Vgl. auch Wendenburg, 33. 28 Schmitt III, 70. 29 Schmitt IV, insbes. 132 ff.
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Verfassung durch diesen Reichspräsidenten diente, die am Ende zum nationalsozialistischen Terrorregime führte. Eine Staatsform wird nur dann gefährdet, wenn mächtige politische und soziale Kräfte sie abzuschaffen und durch eine andere zu ersetzen versuchen. Dann ist aber ihre Bewahrung eine Frage der Machtverhältnisse, die wiederum historisch bedingt sind. Es kommt nicht mehr auf die rechtliche Verpflichtung, sondern auf die politische Überzeugung an: Alle diejenigen, die für die bestehende Staatsform eintreten, werden sie selbstverständlich zu schützen versuchen. Hier kommt keine Institution allein in Betracht, sondern alle staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen und zugleich jeder Bürger. Sie sind alle Hüter der Verfassung 30 . Eben diese Tatsache wird vom Art. 20 Abs. 4 GG verdeutlicht. Um einen anderen Verfassungsbegriff geht es, wenn man mit H. Kelsen die Verfassungsgerichtsbarkeit als Garantie der Verfassungsmäßigkeit der unter der Verfassung stehenden Normen (Gesetze, Verordnungen usw.) sieht 31 . Dann wird nämlich die „Verfassung" in formell-technischem Sinne verstanden, als Gesamtheit von Normen, die einen höheren Rang gegenüber anderen Normen besitzen. Dann ist es Funktion des „Hüters", bloß eventuelle Abweichungen von den „Spielregeln" abzustecken, die von Mächten stammen, die an dem „Spiel" beteiligt sind und die „Regeln" grundsätzlich akzeptieren, wie offensichtlich der Gesetzgeber. Diese Funktion kann ein Gericht zweifellos übernehmen. Dadurch kann man aber nicht die Vollziehung des politischen Programms der Regierung und der Parlamentsmehrheit als Ganzes verhindern. „Eine stetige . . . Konfrontation konfligierender Instanzen wäre entweder nicht durchzuhalten.. . oder. . . würde . . . zu gewalttätiger Konfliktbereinigung führen", hat zutreffend O. Massing bemerkt 32 . 4. Das Bundesverfassungsgericht als Hüter des Grundgesetzes Das BVerfG benennt sich in der Denkschrift als den „oberste(n) Hüter der Verfassung" 33 . I n den Bemerkungen zu dem Gutachten von Thoma hat es erklärt, es sei der oberste Hüter der Verfassung, weil es „mit letzter rechtlicher Verbindlichkeit für Volk und Staat die ihm durch das Grundgesetz zur Beurteilung zugewiesenen Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten zu entscheiden" habe 34 . Das ergibt sich aber bereits aus den einschlägigen Artikeln des Grundgesetzes und ist somit nichts anderes als eine Tautologie: 30
Vgl. Häberle V, 79; Simon, 1257; J. P. Müller, 95. Kelsen II, 85 (Leitsatz 2). 32 Massing III, 51. 33 BVerfG I, 144. 34 BVerfG II, 198. 31
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Das BVerfG ist Hüter der Verfassung, weil es diese Kompetenzen hat und die Tatsache, daß es der Hüter der Verfassung ist, bedeutet wiederum nichts anderes, als daß es diese Kompetenzen hat! Der Ausdruck „Hüter der Verfassung" taucht manchmal auch in Entscheidungen des BVerfG auf. So heißt es im Urteil vom 10.6.1975, § 31 BVerfGG erkenne „den verfassungsgerichtlichen Entscheidungen Bindungswirkung insoweit zu, wie die Funktion des Bundesverfassungsgerichts als maßgeblicher Interpret und Hüter der Verfassung dies erfordert", d. h. nur in bezug auf Entscheidungsgründe, die die Auslegung des Grundgesetzes betreffen und nicht die Auslegung einfachen Rechts, es sei denn, daß es sich um eine verfassungskonforme Auslegung handelt 35 . Hier wurde also der „Hüter der Verfassung" nochmals, genau wie in den Bemerkungen, als Inbegriff der Zuständigkeiten des Gerichts verstanden 36 . Völlig andere Bedeutung hatte der „Hüter der Verfassung" in einer Entscheidung vom 20.3.1952. Da hieß es, „bei der Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Ziff. 2 GG" steht „die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts als Hüter der Verfassung durchaus im Vordergrund", bei der Normenkontrolle nach Art. 100 GG dagegen trete sie zurück, weil da das BVerfG verhüte, daß „jedes einzelne Gericht sich über den Willen des . . . Gesetzgebers hinwegsetze" 37 . Hier versteht man unter „Hüter" offensichtlich ein Gegengewicht gegen den Gesetzgeber. Im Statusbericht ging es aber, wie dargestellt, nicht darum. Legt man das „Hüteryerständnis" der Bemerkungen zugrunde, dann wäre der Ausdruck „Hüter der Verfassung" überflüssig. So wird aber die tatsächliche Verantwortung verhüllt, die sich für das BVerfG aus seinen Zuständigkeiten ergibt: Verantwortung für die Bewahrung der Verfassung in beiden oben beschriebenen Deutungen, d. h. sowohl als Staatsform, als auch im formelltechnischen Sinne 38 . Die Staatsform kann, wie oben dargestellt 383 , kein Gericht allein hüten, insbesondere nicht das BVerfG, welches kein eigenes Initiativrecht und kein Zwangsmittel zur Vollstreckung seiner Entscheidungen hat 3 9 . Es kann aber zu der Bewahrung der Staatsform durch seine Entscheidungen beitragen, deren „Publizität. . . ein W e g . . . der politischen Erziehung des Bürgers in der Bundesrepublik" ist 4 0 , wenn freilich in diesen Entscheidungen die strukturellen Prinzipien dieser Staatsform in den Vor-
35 BVerfGE 40, 88, 93 f. 36 Vgl. auch BVerfGE 1, 396, 408. 37 BVerfGE 1, 184, 195ff.; ständige Rechtsprechung seitdem. 38 Im Sinne also des „Verfassungsgesetzes", wenn man die Terminologie von C. Schmitt II, 11 ff. zugrunde legt. 33a Vgl. unter II, 3. 39 Thoma II, 168. 40 Smend II, 335.
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dergrund treten. Das BVerfG verkennt also das Wesen seiner Aufgabe als Hüter der Verfassung, wenn es aus der Hüterfunktion die Verfassungsorganqualität schließt 41 , wie schon dargestellt. Die Verantwortung des BVerfG für die Bewahrung des Grundgesetzes als Gesetz gebietet, daß es, um mit E. Forsthoff zu sprechen, als Gesetz (vom BVerfG) ernst genommen w i r d 4 2 , d. h. aber, daß alle Regelungen des GG als normative Entscheidungen und nicht als bloß unverbindliche Programme behandelt werden müssen. Damit ist noch nicht gesagt, wieweit die normative Wirkung reichen kann oder muß. Es ist nicht zu verkennen, daß den Verfassungsnormen außer dem gesetzlichen Charakter auch der deklaratorische Charakter innewohnt. Die Deklaration ist ja, neben dem Vertrag und dem Gesetz, eine der historischen Erscheinungsformen der Verfassungen 43. Verfassungsnormen, insbesondere Grundrechte, enthalten oft Aussagen, die der gesellschaftlichen Realität nicht in vollem Maße entsprechen und die entsprechend dieser Realität auch nicht umgeformt werden können, wenigstens nicht durch Gerichtsurteile. So kann z. B. Art. 12 Abs. 1 GG, wenn man mit dem BVerfG davon ausgeht, daß er „sich . . . nicht in der . . . Schutzfunktion gegen Eingriffe der öffentlichen Gewalt. . . erschöpft", sondern auch die „Teilhabe an staatlichen Leistungen", als objektive Norm, gewährleistet 44 , unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise nicht in vollem Maße verwirklicht werden. Es ist aber offensichtlich jenseits des verfassungsrechtlichen und tatsächlich Möglichen, daraus zu schließen, daß Art. 12 Abs. 1 GG eine Änderung der herrschenden Produktionsweise gebietet. Daher enthält die Aussage des Art. 12 Abs. 1 GG („frei zu wählen") neben dem normativen auch ein ideologisches, d. h. hier falsches Bewußtsein erzeugendes 45 Element. (Damit ist freilich nicht gesagt, daß sich auch das normative Element selbst nicht ideologisch auswirken kann.) Aufgabe eines Verfassungsgerichts als Hüter der Verfassung ist es jedoch, in jeder Verfassungsnorm ein normatives Element, einen Kern normativer Entscheidung, zu erkennen und dementsprechend zu entscheiden. Keine Verfassungsnorm darf als bloß ideologische Aussage behandelt werden. Klassisches Beispiel einer solchen Behandlung ist der Versuch, den gerade E. Forsthoff, der sosehr um die Gesetzesform der Verfassung bemüht war, 41
So aber BVerfG I, 144 und W. Rupp-v. Brünneck 3. Forsthoff I, 36. Vgl. Starck II, 520: „Jeder leerlaufende Verfassungsartikel untergräbt die Achtung vor der Verfassung und w i r k t desintegrierend". 43 So ζ. B. die englische B i l l of Rights (1689), die amerikanische Deklaration der Unabhängigkeit (1776), die französische Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte (1789) und die meisten Verfassungen der Volksdemokratien in Osteuropa. 44 BVerfGE 33, 303, 330f. 4 * Dazu Hollerbach II, 339f., 42. 42
II. Die staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts
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unternommen hatte, die Sozialstaatsklausel nicht als normative Entscheidung verfassungsrechtlichen Ranges anzuerkennen 46 . Auch in der Rechtsprechung des BVerfG kann man ähnliche Beispiele finden. Ein solches Beispiel ist das Radikalenurteil des Zweiten Senats. Dort heißt es, es gehe nicht an, „das Verbot in Art. 3 Abs. 3 GG nicht nur auf das bloße Haben einer politischen Überzeugung, sondern auch auf das Äußern und Betätigen dieser politischen Anschauung zu beziehen", denn „Äußern und Betätigen . . . f ä l l t . . . unter besondere Grundrechte" 47 . Wenn aber das Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 GG nur auf das Haben einer politischen Überzeugung bezogen ist, nicht aber auf das Äußern und Betätigen dieser Überzeugung, dann ist es keine Verfassungsnorm, sondern bloß trügerischer Schein. Das Haben der Überzeugung kann der Staat in keinem Fall kontrollieren: Es ist noch keine, Maschine erfunden worden, die die Gedanken der Menschen enthüllen könnte. Es bedarf also keiner Verfassungsnorm, keiner Norm überhaupt, um den Staat davon abzuhalten, etwas zu unternehmen, das er faktisch nicht unternehmen kann. Das Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 GG hat nur dann Sinn, wenn es auf das Äußern und Betätigen der Überzeugung bezogen wird. Außerdem gibt es ein solches „Haben", wie es die Senatsmehrheit meint, überhaupt nicht: Eine politische Überzeugung bekommt man nicht metaphysisch und nicht, wenn man schläft und träumt. Eine politische Überzeugung gewinnt man im Laufe bestimmter Sozialisationsprozesse, in der Familie, in der Schule, im Beruf usw. Die politische Überzeugung gewinnt man aus den Kontakten mit der sozialen Umwelt und aus den Erfahrungen, die sich aus diesen Kontakten ergeben. Wenn man also durch ein Verbot des Äußerns und Betätigens von bestimmten Überzeugungen, jene soziale Umwelt von diesen Überzeugungen zu „reinigen" versucht, dann wird es für den einzelnen schwierig oder unmöglich, diese Überzeugung zu bekommen und daher sie auch zu „haben" i. S. der Senatsmehrheit. Zusammenfassend: Statt das Diskriminierungsverbot auszulegen, hat die Senatsmehrheit es zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Im übrigen trägt eine unkritische Bezeichnung des BVerfG als „Hüter der Verfassung" ebenso wie die angebliche Verfassungsorganqualität zur Schaffung der symbolischen Voraussetzungen für die Intensivierung der Normenkontrolle und seiner anderen Kompetenzen bei, möglicherweise in verfassungsrechtlich bedenklichem Grade. Damit w i r d zugleich der falsche Anschein erweckt, es gehe um die durch die Tätigkeit des BVerfG erfolgende Bewahrung der Verfassung als einer vorgegebenen Größe. Insoweit erweist sich der Ausdruck „Hüter" als deut46
Forsthoff IV, insbes. 8f., 29. BVerfGE 34, 334, 368.
3 Chryssogonos
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1. Teil: Die Normenkontrolle im Gefüge der Staatsfunktionen
lieh positivistisch geprägt 48 . In der Tat ist aber die Verfassung im konkreten Streitfall gerade nicht vorgegeben, sondern aufgegeben: Eine der jeweils denkbaren Auslegungsalternativen muß gewählt, zur allein „richtigen" proklamiert und damit verbindlich gemacht werden. Deswegen ist das BVerfG mehr Interpret und weniger Hüter der Verfassung. Im Ergebnis ist festzustellen, daß unbegründete Leerformeln wie „Verfassungsorgan" i. S. eines mit Bundespräsident, Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung gleichrangigen obersten Bundesorgans sowie „Hüter der Verfassung", den verfassungsrechtlichen Status des BVerfG verfehlen und zur Bestimmung der Grenzen seiner Tätigkeit nichts beitragen können. Letzteres sollte vielmehr durch die Einordnung der Funktionen des BVerfG in das Gesamtgefüge der Staatsfunktionen unter Berücksichtigung der Strukturprinzipien der Verfassungsordnung, versucht werden. Gerade dies w i r d im Hinblick auf die Funktion des BVerfG als Normenkontrollorgan in den folgenden Kapiteln des ersten Teils unternommen.
III. Normenkontrolle und Gewaltenteilung 1. Geschichtliche Entwicklung und grundgesetzliche Regelung der Gewaltenteilung Die klassische Gewaltenteilungslehre, wie sie ihren Ausdruck vor allem in dem Werk von Montesquieu gefunden hatte 1 , war als politische Forderung des Bürgertums gegenüber der absolutistischen königlichen Gewalt entstanden. Seine immer wachsende wirtschaftliche und gesellschaftliche Macht sollte nunmehr auch im staatlichen Bereich Ausdruck finden. Da aber das Bürgertum sich noch nicht mächtig genug fühlte, um die gesamte staatliche Macht für sich selbst allein zu beanspruchen, mußte sie gespalten werden. Dadurch wurde ihm ein Anteil an ihr gewährleistet, und Krone und Adel wurden einer Kontrolle unterworfen, die es bisher nicht gab. Die von Montesquieu nachdrücklich empfohlene organische Gewaltenteilung, d. h. die Übertragung besonderer Funktionen an besondere Organe (Exekutive König; Legislative - Adel und Volksvertretung; Judikative - Richter aus der Mitte des Volkes), sollte einem funktionellen Zweck dienen 2 , d. h. der Kon48 Nicht von ungefähr hat P. Laband II, 46 den Ausdruck „Hüter der Verfassung" benutzt, um die Zuständigkeit des Kaisers zur Verfassungsmäßigkeitsprüfung der von ihm auszufertigenden Gesetze zu begründen und das materielle richterliche Prüfungsrecht auszuschließen. 1 Montesquieu XI, 6; schon vorher, aber mit Abweichungen, J. Locke; dazu Forsthoff V, Sp. 858. Ausführlich über die geschichtliche Entwicklung der Gewaltenteilungslehre berichtet Tsatsos, 111 ff. 2 Vgl. etwa Denninger I, 24f., 31; Forsthoff V, Sp. 860, Dolzer I, 91.
III. Normenkontrolle und Gewaltenteilung
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trolle und Mäßigung, der Relativierung der absolutistischen monarchischen Gewalt, und dadurch die Freiheit, vor allem des Bürgertums selbst, sichern. Der Schwerpunkt dabei war eindeutig die Teilung zwischen der Legislative und der Exekutive; die Judikative erschien mehr als Art Akzessorium, „en quelque façon nul". Dieses Schema entsprach auch der politischen Situation in Deutschland während des 19. Jahrhunderts. Mit der allmählichen Durchsetzung des parlamentarischen Regierungssystems war aber das Spannungsverhältnis Legislative/Exekutive entfallen; gleichzeitig wurde die Auseinandersetzung zwischen dem Bürgertum und der Krone, zusammen mit dem Adel, durch die zwischen dem Bürgertum und der Arbeiterklasse ersetzt. Die Fronten verliefen nicht mehr entlang der Gewalten, sondern quer durch sie hindurch. Die traditionelle Gewaltentrennung war immer weniger imstande, in diesen neuen Verhältnissen ihren funktionellen Zweck zu erfüllen. Das Grundgesetz hat einerseits am traditionellen Gewaltenteilungsschema im Prinzip streng festgehalten (Art. 20, Abs. 2 Satz 2 GG) 3 ; zum anderen aber, durch die Anerkennung der zentralen Rolle der Parteien (Art. 21 GG) und die Errichtung eines parlamentarischen Regierungssystems, hat es der geschichtlichen Entwicklung Rechnung getragen. Die Unterscheidung zwischen Legislative und Exekutive ist weiterhin relativiert worden; heutzutage sind praktisch beide mehr Vollstrecker des Willens der Spitze der jeweiligen Regierungspartei bzw. -parteien als gegeneinanderstehende, selbständige Gewalten. Unter diesen Bedingungen liegen heute die wirklichen Gewaltenteilungen hauptsächlich jenseits des traditionellen Schemas; es handelt sich um „Teilungen" zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Machtträgern (kapitalkräftige Kreise, Kirchen, Massenmedien, Verbänden usw.) oder, innerhalb der staatlichen Institutionen, zwischen Regierung und Opposition 4 und zwischen Regierung und Staatsapparat. Innerhalb der traditionellen Dreiteilung der Gewalten ist nunmehr das Verhältnis der Judikative mit den beiden anderen Gewalten von besonderer Bedeutung 5 . Parallel dazu hat sich auch die Erkenntnis verbreitet, daß der Richter kein Subsumtionsautomat, die Rechtsprechung daher kein „nul" ist (was sie freilich auch vorher nicht 3 Es scheint daher eher fragwürdig, inwieweit die Rede davon sein kann, daß die „Gewaltentrennung" in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG „nicht normiert" ist, wie Hesse II, 195 meint; der Ansatz in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 liegt m.E. dem Element der „Gewaltentrennung" viel näher als jenem der „Gewaltenbalancierung" (vgl. dens. II, 194). 4 Vgl. zuletzt H.-P. Schneider VII, 244f., der in der K r i t i k und Kontrolle der Regierung sowie in der Präsentation personeller und sachlicher Alternativen seitens der Opposition ein Stück Mäßigung, Hemmung und Kontrolle politischer Macht sieht und es in diesem Sinne für berechtigt hält, „von einer neuen Form demokratischer Gewaltenteilung im funktionellen Sinn" zu sprechen. 5 Es wurde von einem herausgehobenen „Funktionswert" der Judikative gesprochen (Massing II, 36). Vgl. Bachof IV, 9.
3*
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1. Teil: Die Normenkontrolle im Gefüge der Staatsfunktionen
war). Damit stellt sich die Frage nach den Grenzen zwischen der Funktion der Rechtsprechung und den anderen Staatsfunktionen mit besonderer Schärfe. 2. Die Einordnung der Normenkontrolle in das Gewaltenteilungsschema in Weimar Die Einordnung der gerichtlichen Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen in die herkömmliche Dreiteilung der Gewalten war bereits in der Weimarer Zeit zum Schwerpunkt des Streits um das richterliche Prüfungsrecht geworden. Einerseits wurde behauptet, jenes sei materiell als immanenter Teil der Funktion der Rechtsprechung zu verstehen und gehöre somit auch ohne ausdrückliche verfassungsrechtliche Ermächtigung zu den selbstverständlichen Aufgaben der Gerichte. Andererseits wurde behauptet, es sei materiell der Funktion der Gesetzgebung zuzurechnen und daher den Gerichten wesensfremd. Wenn dies so wäre, dann ginge es beim richterlichen Prüfungsrecht um eine Gewaltenüberschneidung, die freilich der Verfassung im Wege der Interpretation kaum zu entnehmen wäre. Zu den die oben skizzierte Frage im letztgenannten Sinne Beantwortenden ist vor allem die bis heute einflußreiche 6 Position von C. Schmitt zu rechnen, wenn auch nicht in vollem Maße. Schmitt geht von der These Montesquieu aus, der Richter sei nur „la bouche . . . de la loi", die Justiz als Gewalt sei „en quelque façon nul" 7 . Die Funktion der Rechtsprechung ist also die Erkenntnis von etwas tatsächlich schon Vorentschiedenem. Der Richter hat dementsprechend einen „unpolitischen Charakter" 8 . Die Entscheidung über „Zweifel über den Inhalt einer verfassungsgesetzlichen Bestimmung und ihre richtige Anwendung" sei keine „Entscheidung einer Verfassungsstreitigkeit" und „nur in einem sehr problematischen Sinne Justiz" 9 . Es geht vielmehr um „Gesetzgebung in Form eines justizförmigen Verfahrens" 10 . Nur jene Gesetze, die „offenkundig einer klaren zweifelsfreien verfassungsrechtlichen Bestimmung widersprechen", dürfen von den Gerichten nicht angewendet werden 11 , denn dies sei nichts anderes als die „Wahrung der eigenen verfassungsmäßigen Sphäre", welche „zu den verfassungsmäßigen Befugnissen jeder verfassungsmäßigen Gewalt" gehöre 12 . Im 6 Vgl. E. W. Böckenförde IV, 172 ff., der im wesentlichen die Schmittsche These wiederholt. 7 Montesquieu, 127. 8 Schmitt III, 78. 9 Schmitt III, 75. 10 Schmitt III, 77. Vgl. etwa auch Jellinek I, 608 (authentische Verfassungsinterpretation sei gesetzgeberische Tätigkeit). 11 Schmitt III, 95. 12 Schmitt III, 87.
III. Normenkontrolle und Gewaltenteilung
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übrigen wird vor der „Politisierung der Justiz" gewarnt 13 . Diese Schmittsche These steht im schroffsten Gegensatz zu dem Gedankengang, der anderthalb Jahrhunderte zuvor, zur Rechtfertigung des „Judicial review" von Α. Hamilton aufgestellt wurde 1 4 . Die Prämissen von Schmitt widersprechen gerade jenen von Hamilton: Der eine betrachtet das Recht als etwas Feststehendes, welches vom Richter gewissermaßen automatisch auf den konkreten Fall angewandt zu werden braucht. Dies geschehe durch den „rein logischen" Subsumtionsakt. Der andere betrachtet dagegen das (Gesetzes-)Recht nur als die Grundlage, sozusagen als normativen Rohstoff, welcher für die richterliche Entscheidung durch die Auslegung fruchtbar zu machen sei. Und da ferner Hamilton das Verfassungsgesetz als mit den übrigen Gesetzen zwar wesensgleich, ihnen jedoch gegenüber hierarchisch höher bezeichnete, war für ihn die Nichtanwendung von Gesetzen, deren Verfassungswidrigkeit aufgrund einer vom Richter gegebenen Deutung der Verfassung, die möglicherweise nur eine zwischen verschiedenen möglichen Deutungen sein könnte, festgestellt wurde, nur eine Selbstverständlichkeit der Funktion Rechtsprechung, während sie für Schmitt als grundsätzlich illegitim galt. Die Schmittsche These stellt allerdings selbst innerhalb des deutschen Rechtsdenkens eher einen Ausnahmefall dar. Auch der staatsrechtliche Positivismus des 19. Jahrhunderts war nicht so weit gegangen. Als Beleg dafür können die Ausführungen von C. F. v. Gerber herangezogen werden, wonach die Entwicklung „allgemeine(r) staatsrechtliche(r) Prinzipien in voller Freiheit", nach den „Gesichtspunkten und den Regeln ihrer Kunst", eine der legitimen Aufgaben der Rechtswissenschaft sei 15 . Man darf daraus schließen, daß solche Prinzipien dann auch bei der Rechtsanwendung durch die Gerichte mitberücksichtigt werden dürften (was nützte andernfalls ihre Existenz), die insoweit nicht bloße Subsumtion eines konkreten Sachverhalts unter den Normwortlaut sein sollte. Seine Auffassung hat C. Schmitt zwei Jahre später in seiner Schrift „Der Hüter der Verfassung" wieder dargestellt und näher erläutert. Die Eigenart der Grundrechte wurde von ihm nunmehr miteinbezogen: Sie enthalten Schmitt III, 98. The Federalist, No. 78: "The interpretation of the laws is the proper and peculiar province of the courts. A Constitution is, in fact, and must be regarded by the judges, as a fundamental law. It therefore belongs to them to ascertain its meaning, as well as the meaning of any particular act proceeding from the legislative body. If there should happen to be an irreconcilable variance between the two, that which has the superior obligation and validity ought, of course, to be preferred". Ähnlich die bahnbrechende Entscheidung des Supreme Court, Marbury v. Madison, 5 U. S. (1 Cranch) 137, 177 (1803): "It is the province and duty of the Judicial department to say what the law is. Those who apply the rule to particular cases, must of necessity expound and interpret that rule". 15 Gerber II, 238. 14
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1. Teil: Die Normenkontrolle im Gefüge der Staatsfunktionen
„vielfach überhaupt keine Entscheidung. .. sondern nur mehrdeutige Formeln, durch welche die Entscheidung hinausgeschoben und verschiedenartigen, oft sogar widersprechenden Gesichtspunkten Rechnung getragen werden soll." Bei solchen „dilatorischen Formelkompromissen" sei die gerichtliche Entscheidung „ i n Wahrheit überhaupt erst die wirkliche Normierung" 1 6 . Die „berechenbare und meßbare, tatbestandsmäßige Subsumtion des zur Entscheidung stehenden Falls" 1 7 , die nach Schmitt die eigentliche, legitime Aufgabe der Funktion Rechtsprechung darstellt, wäre also im Falle der richterlichen Prüfung von Gesetzen nur in sehr engen Grenzen möglich 18 . Die Konzeption von C. Schmitt wurde von H. Kelsen in einer Besprechung dieser letzten Schrift 1 9 kritisiert. „ I n jedem richterlichen Urteil steckt", so Kelsen, „bald mehr bald weniger ein Dezisionselement, ein Element der Machtausübung". „Die Meinung, daß nur die Gesetzgebung, nicht aber die echte Justiz politisch sei", sei „ebenso falsch wie die, daß nur die Gesetzgebung produktive Rechtserzeugung, die Gerichtsbarkeit aber nur reproduktive Rechtsanwendung sei" 2 0 . Er bemerkte ferner, daß „die meisten Prozeßentscheidungen Entscheidungen von Zweifeln und Meinungsverschiedenheiten über den Inhalt einer Gesetzesbestimmung sind". „Die Justiz fängt zumeist überhaupt erst an, wenn die Normen in ihrem Inhalt zweifelhaft und umstritten werden, da es ja sonst nur Tatbestands- und überhaupt keine eigentlichen Rechtsstreigkeiten gäbe 21 ". Es gibt kaum eine überzeugendere Bestätigung der Kelsenschen K r i t i k als jene von C. Schmitt selbst. In einer seiner älteren Schriften führte er nämlich aus, daß „der Richter etwas anderes sein muß, als der Mund, der die Gesetzesworte ausspricht, als eine Subsumtionsmaschine, ein Gesetzesautomat" 22 . Kriterium der Richtigkeit der Entscheidung sei nicht ihre strikte Bindung an das Gesetz 23 , sondern die Wahrscheinlichkeit, „daß ein anderer Richter ebenso entschieden hätte" 2 4 .
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Schmitt IV, 48. Schmitt IV, 15. 18 Vgl. aber Koch / Rüßmann, 97 ff., die nachweisen, daß auch „Prinzipien", worunter auch die Grundrechte verstanden werden, „als erste Prämisse eines deduktiven Hauptschemas fungieren können" (ebd. 103). Neuerdings sind auch A. Podlech und G. Schlink von der semantischen Gehaltslosigkeit von Grundrechten ausgegangen und haben sie als Argumentationslastregeln gedeutet (hierzu kritisch Koch / Rüßmann, 104ff. m.w.N.). w Kelsen III. Vgl. Leibholz II, 124f.; Drath, 165; Göldner, 38f. 20 Kelsen III, 586. Vgl. auch Kelsen IV, 243, 351 f. 21 Kelsen III, 589. 22 Schmitt I, 9. 2 3 Schmitt I, 5 ff. 24 Schmitt I, 7Iff. Noch stärker dezisionistisch geprägt Schmitt VI, 42 und passim. 17
III. Normenkontrolle und Gewaltenteilung
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3. Die Einordnung der Normenkontrolle im Gewaltenteilungsschema unter dem Grundgesetz Unter dem Grundgesetz sind die Vorgaben der Diskussion grundsätzlich geändert durch die Errichtung eines Verfassungsgerichts mit sehr umfangreichen Zuständigkeiten, unter anderen auch eine weitgehende Normenkontrolle. Nichtsdestoweniger wird jedoch weiter darüber gestritten, ob die Normenkontrolle insgesamt oder eine bestimmte Art davon, beispielsweise die abstrakte Normenkontrolle, „materiell" der Funktion der Gesetzgebung bzw. Verfassungsgebung oder jener der Rechtsprechung zuzurechnen ist. Es scheint zugleich, daß die Befürworter des Rechtsprechungscharakters sich im Vergleich mit der Weimarer Zeit vermehrt haben und heute die bei weitem herrschende Meinung bilden 2 5 . Eine Stellungnahme zu jener Auseinandersetzung wird durch das Fehlen eines festen theoretischen Fundaments der Funktionslehre insgesamt erschwert. Es gibt keinen überzeugenden materiellen Gesetzgebungs-26 oder Rechtsprechungsbegriff 27 , anhand dessen man das Wesen der Normenkontrolle beurteilen könnte. Auf der Grundlage, daß Gesetzgebung (gleich Rechtsetzung) die Setzung allgemein-abstrakter Rechtsnormen und Rechtsprechung die Anwendung jener Normen im Einzelfall sei, um auszusprechen, was Rechtens ist 2 8 , kann heute keine Funktionslehre entstehen. Zum einen kann die Mehrzahl der Gesetze wegen der Bedürfnisse der umfassenden sozialgestalterischen Tätigkeit des Staates keinen allgemein-abstrakten Charakter mehr haben, sondern ist auf konkrete Situationen zu beziehen. Eine Aufspaltung in 25 Aus der nahezu unübersehbaren Literatur, vgl. nur (in bezug auf die Verfassungsgerichtsbarkeit generell) Leibholz II, 125; Delbrück, 87; Häberle IV, 8f.; Hesse II, 227; Laufer II, 95; Rinken, 1026; Rupp-v. Brünneck, 3; Seuffert, 1369, 1373; Schefold Sp. 2726; Scheuner I, 204ff., V, 477; Schiaich II, 222 und (in bezug auf die Normenkontrolle) Bettermann Sp. 2019f.; Gusy, 120; Stern II, 950. Dagegen u. a. Drath, 95ff.; Ebsen, 142, 349; Esserl, 201f.; HirschI, 226; Loewenstein, 264f.; Rasehorn, 137; Simon 1278 f. und, etwas zweideutig, Denninger II, 201; Larenz, 348 ff. Interessant ist die Entwicklung der Thesen von E. Friesenhahn: Anfangs hatte er die „Staatsgerichtsbarkeit" als Rechtsprechung bezeichnet, die abstrakte Normenkontrolle jedoch als Teil „der materiellen Staatsfunktion Gesetzgebung" (I, 523 ff.) und die Verfassungsbeschwerde als „ein besonderes, der Verwaltungsgerichtsbarkeit zugehöriges Rechtsmittel" klassifiziert (I, 527). Nach dem Krieg hatte er seine ältere These gemildert, indem er die abstrakte Normenkontrolle einfach als keinen „notwendigen Bestandteil der rechtsprechenden Gewalt" betrachtete (II, 62). Später akzeptierte er den Rechtsprechungscharakter der Verfassungsgerichtsbarkeit ohne Einschränkung und Ausnahme (IV, 357f.). 26 Vgl. Böckenförde V, 339ff. 27 Vgl. Ipsen, 32 f. 28 So die i n der Tradition des staatsrechtlichen Positivismus stehende Lehre von R. Thoma III, 124 ff. An Thoma und Montesquieu anknüpfend definiert aber Ebsen, 107, heute noch die Rechtsprechungsfunktion und entwickelt weiterhin sein Konzept vom BVerfG als „Ausschuß für Verfassungsgestaltung" (a.a.O., 350).
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1. Teil: Die Normenkontrolle im Gefüge der Staatsfunktionen
„nur" formelle und materielle Gesetzgebung, die alle diese Gesetze in die quasi-illegitime Sphäre der nicht-materiellen Gesetzgebung verlegen würde, darf unter den heutigen Bedingungen und innerhalb der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes keinen verfassungsrechtlichen Bestand haben 29 . Andererseits ist es eine verbreitete Erkenntnis der zeitgenössischen juristischen Methodendiskussion, daß die Rechtsprechung nicht bloß als Rechtsanwendung erfaßt werden darf, sondern daß ihr ein schöpferisches Element innewohnt 30 . Deswegen läßt sich auch nicht zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung dadurch unterscheiden, daß man die letztere als eine „ausschließlich der Wahrung und mit dieser der Konkretisierung des Rechts" dienende Funktion ansieht, welcher „das politische Element der Gesetzgebung" fehlt 3 1 , denn die Wahrung des Rechts kann gerade politische Wertungen seitens des Richters verlangen. Es kann, mit anderen Worten, nicht davon die Rede sein, daß die richterliche Entscheidung sich am Maßstab des Rechts, die gesetzgeberische Entscheidung sich dagegen an Zweckmäßigkeitserwägungen orientiert, weil die Orientierung am Maßstab des Rechts auch die Einbeziehung von Zweckmäßigkeitserwägungen verlangen kann. Die Gleichsetzung der Gesetzgebung mit der Rechtsetzung und ferner mit der Politik, der Rechtsprechung dagegen mit der Rechtsanwendung und ferner mit dem Recht selbst ist grundsätzlich falsch; auch die Rechtsprechung trägt schöpferischen Charakter und enthält insofern ein politisches Element 3 2 , ist also Ausübung politischer Macht. Sicher ist indessen, daß das GG Gesetzgebung und Rechtsprechung als zwei verschiedene Funktionen auffaßt (Art. 20 I I 2 und I I I GG). Ferner ist davon auszugehen, daß es die Normenkontrolle als Rechtsprechung begriffen hat: Ihre Regelung ist im neunten Abschnitt, unter dem Titel „Rechtsprechung", enthalten. Selbst das Wort Bundesverfassungsgericht impliziert, daß es sich um ein Gericht handelt, nicht um ein Organ der Gesetzgebung oder um eine Verwaltungsbehörde, deshalb sind auch seine Tätigkeiten vermutlich als Rechtsprechung aufgefaßt. Die Entstehungsgeschichte bestätigt diese Ansicht: Bei der Auseinandersetzung zwischen der CDU/ 29
So Hesse II, 204. Vgl., statt vieler, Hesse II, 25f., Ipsen, 24ff., H.-P. Schneider I, 27f. jeweils m. w. N., sowie die Darstellung im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit, unter I und II. 31 So Hesse II, 221 f. Auch in der älteren Definition von Friesenhahn II, 27 tritt die Orientierung am Rechtsmaßstab in den Vordergrund: Das materielle Kriterium der Rechtsprechung sei „die Rechtsanwendung zur Entscheidung eines Rechtsstreites". Gleichwohl sollte es aber bemerkt werden, daß das von Hesse als Unterscheidungskriterium herangezogene fehlende politische Element von ihm verfahrensmäßig verstanden wird; Richterrecht entstehe nicht im politischen Willensbildungsprozeß und es besitze nicht im gleichen Maße wie das vom Parlament beschlossene Recht demokratische Legitimation (Hesse II, 222); insofern enthält der Hessesche Politikbegriff eher formale Elemente. 32 Vgl. Gusy, 46ff., insbes. 50; Heyde, 1247. 30
III. Normenkontrolle und Gewaltenteilung
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CSU- und der SPD-Fraktion um die Frage, ob die Normenkontrolle vom BVerfG oder vom obersten Bundesgericht ausgeübt werden soll, waren beide Seiten davon ausgegangen, daß es sich dabei um „Rechtsfragen" handelt 3 3 . Von noch ausschlaggebender Bedeutung dürften aber die unterschiedliche Legitimationsstruktur 34 und Funktionsweise 35 der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle und der parlamentarischen Gesetzgebung sein. Die Unterscheidung von Gesetzgebung und Rechtsprechung und die Einordnung der Normenkontrolle in den Bereich der letzteren sind also von Verfassungs wegen vorgegeben. Somit ist es verfassungsrechtlich aufgegeben, materielle Maßstäbe zu finden, d. h. eine Rechtsprechungslehre zu entwickeln, welche das legitime Tätigkeitsfeld aller Arten von Rechtsprechung abzugrenzen vermag, unter ihnen auch die Normenkontrolle 36 . Und wenn angenommen wird, daß die Rechtsprechung ein politisches Element enthalte, dann ist nichtsdestoweniger ihre Entscheidungsfindung unter anderen Voraussetzungen legitim als die im übrigen politischen Bereich, ζ. B. im Gesetzgebungsverfahren. Politische Willensbildung in der Rechtsprechung soll von anderen Arten politischer Willensbildung unterschieden werden, welches die Leistung einer noch zu entwickelden Rechtsprechungslehre sein soll. In der vorliegenden Arbeit wird versucht, zu einem Ansatz für eine solche Lehre speziell in bezug auf die Normenkontrolle als eine Art von Rechtsprechung zu gelangen. Der Rechtsprechungscharakter der Normenkontrolle und seine Bedeutung sind, mit anderen Worten, nicht vorgegeben, sondern - und insofern kann der herrschenden Meinung nicht zugestimmt werden - aufgegeben. Seine Annahme dient ferner dazu, auf dieser Grundlage ein wirksames Kontrollinstrumentarium gegenüber dem BVerfG zu entwickeln, welches die K r i t i k an verfassungsgerichtlichen Übergriffen in die gesetzgeberische Sphäre erleichtern wird 3 7 . Im übrigen vermag eine solche Analyse freilich nicht Grenzüberschreitungen vom BVerfG ein für allemal zu verhindern. Sie kann eben nur eine theoretische Grundlage für die K r i t i k solcher Überschreitungen anbieten. Die Rechtsprechungsqualität der Normenkontrolle bildet die Grundlage nicht nur der juristischen, sondern auch der nichtjuristischen K r i t i k an der 33
Vgl. Laufer I, 79 f. und JöR 1 (1951), S. 667 f. Dazu unter IV, 2 und 4. 35 Dazu unter III, 4. 36 Vgl. etwa Rinken, 1023 (RdNr. 75). 37 Vgl. das Sondervotum Rupp-v. Brünneck / Simon (BVerfGE 39, 68, 72) zum Abtreibungsurteil (BVerfGE 39, Iff.): „Die Erarbeitung eines geeigneten, die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers respektierenden Instrumentariums w i r d möglicherweise zu den Hauptaufgaben der Rechtsprechung in den nächsten Jahrzehnten gehören". 34
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1. Teil: Die Normenkontrolle im Gefüge der Staatsfunktionen
normenkontrollierenden Tätigkeit des BVerfG. Es wurde nämlich den Verfassungsrichtern vorgeworfen, daß sie „Politik machen" 38 , den konkreten Entscheidungen, daß sie „Kompetenzüberschreitungen des Gerichts markieren" 3 9 , wobei freilich vorausgesetzt wird, daß sie das nicht tun dürften 40 . Auch der Feststellung, daß es sich bei der Tätigkeit des BVerfG „um die Artikulation eines im Rahmen des Grundgesetzes zwar operierenden, in der Konsequenz aber möglicherweise darüber hinausdrängenden dezidierten, politischen Gestaltungswillens, der sich justizförmiger Verfahren nur als Vorwand bediene, handelt" 4 1 , liegt die Vorstellung zugrunde, es sei möglich, zwischen einer Tätigkeit, die sich innerhalb des grundgesetzlichen Rahmens hält, und einer solchen, die „darüber hinausdrängt", zu unterscheiden. Die von der Verfassung geforderte Grenzziehung, in deren Rahmen die Normenkontrolle als Rechtsprechung gelten kann, w i r d aber durch zwei Faktoren erschwert: Zum einen stellt jede Normenkontrolle (auch wenn man gewisse Kriterien finden kann, anhand derer sie sich von den übrigen Verfahren politischer Willensbildung absondern läßt, so daß sie sich als Rechtsprechung erweist) „begrifflich ein Hinübergreifen der richterlichen Gewalt in die gesetzgeberische Sphäre" 42 dar, wenn man sie vom Ergebnis her betrachtet. Eine allgemeinverbindliche verfassungsgerichtliche Entscheidung, die ein Gesetz kassiert, führt - abgesehen davon, ob sie sich im Rahmen legitimer Rechtsfindung bewegt oder einen bloßen politischen Willensakt darstellt zum gleichen Ergebnis wie ein Gesetz, welches später als das nunmehr kassierte erlassen worden wäre und es nach der Maxime „lex posterior derogat priori" abgeschafft hätte 43 . Obwohl also der Vorgang der Entscheidung unter Umständen als Rechtsprechung gelten kann, stellt ihr Tenor doch einen Akt negativer Gesetzgebung dar; in manchen Fällen sogar einen Akt positiver Gesetzgebung, wenn nämlich dem Gesetzgeber bestimmte Anweisungen für zukünftige Regelungen gegeben werden, so daß jene als verfassungskonform akzeptiert werden können. Zum anderen ist für die Normenkontrolle eine andere Art von rechtserheblichen Tatsachen von Belang als für jede andere Art von Rechtsprechung; während „ i m Gesamtbild richterlicher Tatsachefeststellungen . . . die Feststellung von Einzeltatsachen . . . überwiegt", worauf auch die Pro38
Lamprecht-Malanowski, insbes. 42 ff. Seifert, 116. 40 Vgl. etwaSeifert, 121 f. 41 Massing I, 211. 42 BVerfGE 1, 396, 409. 43 In der Tat ein weitergehendes Ergebnis, als ein späteres einfaches Gesetz, da dieses Gesetz i n aller Regel - im Gegensatz zur verfassungsgerichtlichen Entscheidung - nicht rückwirkend sein darf. 39
III. Normenkontrolle und Gewaltenteilung
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zeßordnungen zugeschnitten sind, handelt es sich bei 99,5% aller bei der Normenkontrolle festgestellten Tatsachen um allgemeine Tatsachen (legislative facts), d. h. um solche, die sich nicht auf einen einzelnen Menschen oder eine einzelne Sache, sondern auf eine Klasse von Menschen oder Sachen beziehen und deswegen nicht unmittelbar sinnlich wahrnehmbar sind 44 . Die Feststellung solcher Tatsachen bereitet freilich dem Richter größere Schwierigkeiten und bringt mehrere Unsicherheiten mit sich als dies bei den Einzeltatsachen der Fall ist. Von diesen Schwierigkeiten abgesehen, sollte jene Grenzziehung unter Berücksichtigung der Strukturprinzipien der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland stattfinden 45 , welche freilich in einem bestimmten Raum und in einer bestimmten Zeit, d. h. innerhalb einer bestimmten Gesellschaft, Geltung beanspruchen und deswegen die Miteinbeziehung der entsprechenden konkreten politisch-sozialen Situation erfordern 46 . Auf dieser Grundlage könnte dann die konkrete Tätigkeit des BVerfG entweder positiv oder negativ bewertet werden. Es kann dagegen nicht vom „Gleichgewichtszustand" und vom „Überleben" des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland als „Sollgrößen für das Bundesverfassungsgericht" 47 ausgegangen werden, um ihnen zufolge eine Theorie der Normenkontrolle zu entwickeln und die verfassungsrechtliche Spruchtätigkeit zu bewerten. Denn die Frage ist eben, was für einen Gleichgewichtszustand vom GG vorgestellt w i r d und was für einen Teil jenes Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht an der Erhaltung des Gleichgewichts anvertraut hat. Es wäre ferner m.E. eine petitio principii, für die Beantwortung dieser Fragen eine deskriptive Analyse der Rolle, die das BVerfG tatsächlich spielt, zugrunde zu legen, um dann die verschiedenen theoretischen Konzeptionen daraufhin zu befragen, ob sie imstande sind, eine solche Funktionsbestimmung des BVerfG zu liefern, die die von ihm wahrgenommene Rolle legitimiert 4 8 . Wenn die Legitimität jener Rolle als vorgegeben statt als aufgegeben betrachtet wird, dann handelt es sich nicht um eine verfassungsrechtliche Funktionsbestimmung, sondern um eine Apologie. 44
Zu alledem Philippi, 7 ff. Vgl. bereits unter II, 4. 46 Vgl. Böckenförde V, 332: „Die Begriffe von Gesetz und gesetzgebender Gewalt" (und ebendies gilt auch für die Begriffe von Rechtsprechung und insbesondere von Normenkontrolle) „sind . . . keineswegs apriorische Rechtsbegriffe . . . sondern . . . unterliegen dem Wandel verfassungsrechtlicher Wirklichkeit, staatsrechtlicher Lehren und politischer Theorien . . . Es handelt sich um staatsrechtliche Begriffe, die auf eine bestimmte, aber eben wandelbare verfassungsrechtliche und politisch-soziale Situation bezogen und von dieser nicht ablösbar sind." 47 So aber Ebsen, 226. 48 Dies scheint aber gerade das Anliegen der neuerschienenen Habilitationsschrift von Ebsen, insbesondere im 4., 5. 6. und 7. Kapitel (105ff.) zu sein. 45
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1. Teil: Die Normenkontrolle im Gefüge der Staatsfunktionen
4. Der Grundsatz der Gewaltenteilung als Gebot der Rationalisierung der Organisation der Staatsgewalt Wie bereits dargestellt, ist die Normenkontrolle vom Grundgesetz ihrem Wesen nach als eine rechtsprechende Tätigkeit aufgefaßt. Zugleich gleicht sie aber im Ergebnis einer negativen Gesetzgebungskompetenz und konstituiert somit eine Gewaltenüberschneidung: Einem Gericht, d. h. einem Organ der rechtsprechenden Funktion, wird die Befugnis eingeräumt, Gesetze zu beanstanden, an der Gesetzgebung also (negativ), teilzunehmen 49 . Unter organischem Aspekt bedeutet dies eine Durchbrechung der Gewaltentrennung, wonach die Gesetzgebungsfunktion von Gesetzgebungsorganen auszuüben ist. Nichtsdestoweniger stellt die verfassungsgerichtliche Prüfungs- und Verwerfungskompetenz das Kernstück der Gewaltenbalancierung dar, die innerhalb des Zusammenspiels der Träger des traditionellen Schemas noch geleistet werden kann 5 0 . Der funktionelle Zweck der Gewaltenteilung wird also merkwürdigerweise dadurch am effektivsten erreicht, daß sie organisatorisch durchbrochen wird. Zwischen dem organisatorischen und dem funktionellen Element der Gewaltenteilung scheint der Akzent in der Rechtsprechung des BVerfG eindeutig auf dem letzten zu liegen. Es wurde immer wieder betont, Gewaltenteilung bedeute „politische Machtverteilung, . . . Ineinandergreifen der drei Gewalten und . . . Mäßigung der Staatsherrschaft", wobei „gewisse Überschneidungen der Funktionen und Einflußchancen der einen Gewalt auf die andere" gebräuchlich zu sein scheinen 51 . „Dem Verfassungsaufbau der Bundesrepublik Deutschland" entspreche also „nicht eine absolute Trennung der Gewalten, sondern ihre gegenseitige Kontrolle und Mäßigung" 52 . Spätere Entscheidungen halten an dieser Linie fest 53 ; es wurde hinzugefügt, daß Ziel der Kontrolle und Mäßigung der Schutz der Freiheit des einzelnen sei 54 . 49 Der denkbare Einwand, die Beanstandung von Gesetzen durch das verfassungsgerichtliche Prüfungsverfahren sei keine Teilnahme an der Gesetzgebungskompetenz, weil der Erlaß solcher Gesetze nur ein untauglicher Gesetzgebungsversuch sei und es sich gar nicht um Gesetze, sondern um von Anfang an null und nichtige Akte handele, ist in zweierlei Hinsicht unzutreffend: Zum einen steht die Verfassungswidrigkeit nicht a priori fest, sondern ihre Feststellung ist vielmehr das Ergebnis eingehender Prüfung durch das Gericht. Die verfassungsgerichtliche Entscheidung, die sich daraus ergibt, ist methodisch gesehen keine bloße Widerspiegelung der einschlägigen Verfassungsnormen, sondern trägt unvermeidlich schöpferische Elemente i n sich. Zum anderen ist ein verfassungswidriges Gesetz ebenso wie ein verfassungsmäßiges durch das vorangegangene Verfahren demokratischer politischer Willensbildung legitimiert und schon deswegen keine Nullgröße. so Vgl. Hesse II, 201; Kelsen II, 55; G. Müller, 398f.; Stern II, 955, 964f., III, 10. si BVerfGE 3, 225, 247. Vgl. aber Meyn, 219f., 222. 52 BVerfGE 7, 183, 188. 53 BVerfGE 9, 268, 279; 22, 106, 111; 30, 1, 28; 34, 52, 59. 54 BVerfGE 9, 268, 279; 22,106,111. Von der Literatur Denninger II, 24f., Forsthoff V, Sp. 861; Ipsen, 130ff. m.w.N., Starck I, 5f.
III. Normenkontrolle und Gewaltenteilung
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Es werden aber noch andere aus der Gewaltenteilung abgeleitete Ge- und Verbote zum Ausdruck gebracht, welche das Gesamtbild komplizieren. Im Urteil des zweiten Senats vom 27.4.1959 (Bremisches Personalvertretungsgesetz), wurde festgestellt, daß „keine Gewalt. . . ein von der Verfassung nicht vorgesehenes Übergewicht über die andere Gewalt erhalten" dürfe, oder „der für die Erfüllung ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben erforderlichen Zuständigkeiten beraubt werden". Wenn also „zugunsten des Parlaments ein Einbruch in den Kernbereich der Exekutive erfolgt, ist das Gewaltenteilungsprinzip verletzt" 5 5 . Organisatorisch orientierte Gedanken treten also hier wieder in den Vordergrund: Wenn keine strikte organische Gewaltentrennung in dem Sinne, daß jede Gewalt oder Funktion 5 6 von besonderen Organen auszuüben ist, welche keinesfalls fremde Funktionen übernehmen dürfen, durchzuführen ist, so ist doch der Kernbereich jeder Gewalt zu respektieren. „Fremde" Organe dürfen nicht darin eindringen, obwohl nicht präzis gesagt wird, was dieser Kernbereich umfaßt 57 . Noch stärker organisch ist eine - relativ - neue Tendenz in der Literatur geprägt, derzufolge Gewaltenteilung eine „Aufgabe der Funktions- und Verantwortungsklarheit und der funktionsgerechten Organstruktur,, ist 5 8 . Daraus folgt „ein prinzipielles Verbot der Wahrnehmung oder Zuweisung von Funktionen, die der Struktur des Organs und der von ihm wahrzunehmenden Grundfunktion nicht entsprechen" 59 . Gewaltenteilung wirkt nicht nur mäßigend und freiheitssichernd, sondern vor allem rationalisierend und stabilisierend 60 . Die Bedeutung dieses Verständnisses für die Normenkontrolle ist einsehbar. Es kann nicht mehr die Rede davon sein, daß man „ i n der Aufhebung eines Gesetzes durch ein Gericht ebenso wie einen Eingriff in die gesetzgebende Gewalt die Übertragung der gesetzgebenden Gewalt auf zwei Organe" sehen kann, wie H. Kelsen festgestellt hatte (demnach erschien ihm ganz belanglos, „ob das zur Aufhebung verfassungswidriger Gesetze berufene Organ ein Gericht sein kann") 6 1 . Der justizförmige Ausbau und das entsprechende Verfahren des Bundesverfassungsgerichts werden zu Ansatzpunkten, um die Grenzen seiner Tätigkeit zu ziehen. Wenn man also - dieser neuen Tendenz in der Literatur folgend - den Grundsatz der Gewaltenteilung als Rationalisierungsgebot für die Organisation der staatlichen Macht versteht, dann folgt daraus, daß jede Funktion (Gesetzgebung, Vollziehung, Rechtsprechung) im Prinzip von einem Organ 55
BVerfGE 9, 268, 279f. Zum historischen Hintergrund der terminologischen Auseinandersetzung zwischen diesen Ausdrucksweisen siehe Denninger II, 23 f. 57 Ebenso unklar BVerfGE 34, 52, 60. 58 Küster, 403; vgl. auch Ipsen, 133ff., Hesse II, 196ff., jeweils m.w.N. 59 Hesse II, 199. 60 Hesse II, 202. Kelsen II, 54 f. 56
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1. Teil: Die Normenkontrolle im Gefüge der Staatsfunktionen
wahrgenommen werden soll, welches nach seiner Legitimationsstruktur, seinem Aufbau und seiner Funktionsweise besonders dazu geeignet ist 6 2 . So kann die Gesetzgebungsfunktion einem Rechtsprechungsorgan weder ausschließlich noch primär noch zu gleichen Teilen mit dem eigentlichen Gesetzgebungsorgan anvertraut werden. Die Teilnahme des Rechtsprechungsorgans an der Gesetzgebung muß eine Ausnahme sowohl im quantitativen (d. h. angesichts der Zahl der erlassenen Vorschriften) als auch im qualitativen Sinne (d. h. angesichts ihrer Bedeutung) bleiben.
5. Konsequenzen Das Verfahren der Normenkontrolle kennzeichnet sich vor allem durch die Justizförmigkeit und die sich daraus ergebende geringe Beweglichkeit gegenüber Problemen, die eine rasch sich wandelnde soziale Wirklichkeit jeweils stellt. Eine Normenkontrolle kann nicht aus eigener Initiative des BVerfG veranlaßt werden 63 , sondern findet nur nach Antrag anderer, dazu vom GG und BVerfG berechtigter Organe statt, welcher den Gegenstand des Verfahrens umschreibt und sich gegen ein bereits vorhandenes Gesetz richtet 6 4 . Der verfassungsgerichtliche Zugriff erweist sich insoweit als punktuell und nachträglich 65 - im Gegensatz zu jenem des Gesetzgebers 66. Anders als der Gesetzgeber kann sich das BVerfG im Wege der Normenkontrolle nicht mit den Fragen, die von ihm als die wichtigsten und aktuellsten Probleme des Gemeinwesens erachtet werden, in dem von ihm dazu als geeignet befundenen Zeitpunkt befassen. Ferner sind Fehlentscheidungen des BVerfG aus diesen Gründen nur schwierig korrigierbar 6 6 3 . Dem Gericht steht schließlich kein mit der Ministerialbürokratie vergleichbarer Informationsmechänismus zur Verfügung 67 . Daraus folgt, daß das Hinübergreifen des BVerfG in die gesetzgeberische Sphäre im Wege der Normenkontrolle, d. h. seine negative Gesetzgebungskompetenz, innerhalb gewisser Grenzen bleiben soll und sich nicht prinzipiell in eine positive Gesetzgebungskompetenz umwandeln darf. Denn für die Inanspruchnahme einer solchen Kompetenz ist das BVerfG von seinem 62 Vgl. Rinken, 1023f. (RdNr. 76), der von einem „Rückschluß von der Organstruktur auf die Kompetenz" spricht, womit gemeint ist, daß „ i m Zweifel das Organ zur Entscheidung l e g i t i m i e r t . . . ist, das der Entscheidung strukturell am nächsten steht". 63 Anders in Jugoslawien, wo das Verfassungsgericht mit eigenem Initiativrecht ausgestattet ist (vgl. Steff ani, 378 und Anm. 7, Massing II, 42 und Anm. 36). 64 Eine präventive Normenkontrolle wurde bereits in BVerfGE 1, 396ff., als vom Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG nicht mitumfaßt, abgelehnt. 65 Zu alledem ausführlich Bryde, 337f.; Gusy, 122ff. β6 Vgl. Gusy, 97 ff. 66a Vgl. Rupp-v. Brünneck, 25; H.-P. Schneider II, 449. 67 Vgl. Bryde, 338ff.
III. Normenkontrolle und Gewaltenteilung
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Aufbau und von seiner Funktionsweise her nicht ausgerüstet 68 : Es fehlen ihm, wie schon dargestellt, die erforderlichen Informationsquellen, Kenntnisse und Beweglichkeit, um sich mit den komplexen gesellschaftlichen Problemen so umfassend wie der Gesetzgeber auseinanderzusetzen. Diese Tatsachen sind vor allem faktisch relevant: Eine Entscheidungstätigkeit des BVerfG, die keine Rücksicht darauf nehmen würde, wäre politisch funktionsunfähig, weil sie sich den politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht anzupassen vermöchte. Auf Dauer würde sie die Autorität und sogar die Existenz des Gerichts gefährden. Unter dem organischen Aspekt der Gewaltenteilung erhalten sie darüber hinaus auch normative Relevanz: Der Anteil des BVerfG an der Gesetzgebungsfunktion soll ein begrenzter bleiben, sein Zugriff soll in erster Linie (nur) negativ und abwehrend sein 69 . Und dies, auch wenn man meinen würde, daß eine bessere Gewaltenbalancierung einen weitergehenden verfassungsgerichtlichen Zugriff und damit einen größeren Anteil an der Gesetzgebung für das BVerfG erfordere. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Methode der Verfassungsinterpretation im Rahmen der Normenkontrolle 70 und nicht zuletzt für die Grundrechtstheorie. Das BVerfG hat sich in diesem Zusammenhang in der Tat zurückgehalten. Verfassungsbeschwerden, die sich gegen ein gesetzgeberisches Unterlassen wenden, Teilhabe an staatlichen Leistungen zu gewährleisten, werden grundsätzlich als unzulässig verworfen 71 , es sei denn, der Gesetzgeber habe seine sich aus der Sozialstaatsklausel (Art. 20 Abs. 1 GG) ergebende Handlungspflicht willkürlich, d. h. ohne sachlichen Grund 7 2 , sachwidrig 73 verletzt. Auch im Numerus-clausus-Urteil (18.7.72), das im übrigen für eine zu weitgehende „Umdeutung" des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG oft kritisiert wurde 7 4 , wird daran festgehalten, daß ein eventueller „objektiver 68
Vgl. Dolzer I, 92ff., der die Komplexität der modernen Gesellschaften hervorhebt, welche einen „hohe(n) Grad an Information und Koordination" zu Voraussetzimg für eine „zusammenhängende politische Konzeption" mache. Da das BVerfG diesen Grad nicht erreichen könne, solle diese „politische Führungsaufgabe" den gesetzgebenden Körperschaften zugesprochen werden. Ausdifferenzierter spricht H.-P. Schneider III, 2104 von „funktionellen Bedingungen", u. a. Verfahren, Organisation, Informationsgewinnung, Problemverarbeitung und Urteilsfindung, die „zu einer Reservierung der Formen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen für ein Spruchkollegium führen, das schon von seiner Struktur und Zusammensetzung her bestimmte Probleme des politischen Gemeinwesens gar nicht sachgerecht lösen kann und deshalb Handlungsspielräume der Gesetzgebung... unweigerlich anerkennen muß". 69 Vgl. etwa in diesem Sinne Rinken, 1029f. (RdNr. 91). 70 Über das Problem des Verhältnisses von Verfassungsprinzipien und Methode ausführlich unter IV, 1. BVerfGE 1, 97, lOOf.; Bezugnahme in BVerfGE 2, 287, 291; 11, 255, 261 (std. Rechtspr.). 72 BVerfGE 1, 97, 105. 73 BVerfGE 40, 121, 133 f. 74 Etwa repräsentativ Starck II, 522 ff.
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1. Teil: Die Normenkontrolle im Gefüge der Staatsfunktionen
sozialstaatlicher Verfassungsauftrag zur Bereitstellung ausreichender Ausbildungskapazitäten für die verschiedenen Studienrichtungen" nur dann verfassungsrechtliche Konsequenzen hätte, wenn er evident verletzt wäre 7 5 . Abgesehen von den seltenen Fällen, in denen solche massiven Verstöße festgestellt werden können, werden Verfassungsbeschwerden nur dann als zulässig betrachtet, wenn ein „ausdrückliche(r) Auftrag des Grundgesetzes" besteht, der „Inhalt und Umfang der Gesetzgebungspflicht im wesentlichen umgrenzt hat" 7 6 , wie z. B. Art. 131 GG, ggf. auch in Verbindung mit dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Selbst dann wird nicht das BVerfG gesetzgeberisch tätig, sondern wird nur die Verfassungswidrigkeit des gesetzgeberischen Unterlassens festgestellt und der Gesetzgeber zum entsprechenden Handeln aufgerufen 77 . Insgesamt kann man feststellen: je mehr eine verfassungsgerichtliche Entscheidung dem Gesetzgeber ein positives Handeln vorschreibt, je mehr sie ihn nicht nur von gewissen Modellen der Gestaltung der sozialen Wirklichkeit abschreckt, sondern ihn vielmehr an ein konkretes, vom BVerfG mehr oder weniger bis in die Einzelheiten hinein bestimmtes, Modell fesselt 78 , desto größer ist die Beweislast für das Gericht. Und dies gilt nicht nur für Fragen mit finanzieller Relevanz, sondern auch für alle anderen: So ζ. B. wenn das BVerfG organisatorische Vorkehrungen für die Sicherung der Wissenschaftsfreiheit im Rahmen der Gruppenuniversität als verfassungsrechtlich geboten betrachtet 79 , oder wenn es im Falle des Schwangerschaftsabbruches aus der „Unzulänglichkeit aller anderen Mittel" auf eine „relative Verpflichtung" des Gesetzgebers „zur Benutzung der Strafdrohung", d. h. auf eine ganz bestimmte Form des gesetzgeberischen Eingriffs schließt 80 . Für die Grundrechte bedeutet das, daß sie in erster Linie als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe zu verstehen sind. Damit kann freilich weder eine institutionelle noch eine wertorientierte noch eine sozialstaatliche Grundrechtstheorie ausgeschlossen werden 81 . Es geht vielmehr um eine Ausdifferenzierung der Kontrolldichte 8 2 . Je stärker die traditionelle, abwehrende Funktion der Grundrechte hervortritt, desto dichter muß die Kontrolle sein und umgekehrt. 75
BVerfGE 33, 303, 333. BVerfGE 6, 257, 264. 77 So ζ. Β. BVerfGE 6, 257, 265; 8, 1, 9f.; 8, 28, 35. Zum ganzen vgl. von der Literatur Lerche II, Starck I, 25f., II, III, 75; Pestalozza II, 526ff. 78 Der Unterschied ist freilich eher quantitativ als qualitativ und daher fließend. Vgl. Lerche II, 352. 7 » BVerfGE 35, 79, 80 (Leitsatz 8), 130ff. so BVerfGE 39, 1, 47. 81 Für die verschiedenen Grundrechtstheorien vgl. den Überblick bei Böckenförde I, 1530ff. Vgl. gegen die hier vertretene Ansicht Martens, insbes. 26ff. 82 Siehe dazu ausführlich im zweiten Teil unter IV, 5. 76
I . Normenkontrolle und
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6. Gesetzeskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidungen Ein letztes Problem in diesem Zusammenhang ist die Vereinbarkeit des § 31 Abs. 2 BVerfGG, wonach bestimmte verfassungsgerichtliche Entscheidungen (unter ihnen die im Rahmen eines abstrakten oder konkreten Normenkontrollverfahrens getroffenen und die eine Verfassungswidrigkeitsbzw. Verfassungsmäßigkeitserklärung oder Nichtigkeitserklärung von Gesetzen enthaltenden, die nach einer Verfassungsbeschwerde getroffen waren) Gesetzeskraft haben, mit dem Gewaltenteilungsprinzip. In der Tat ist die Kraft dieser Entscheidungen größer als jene der einfachen Gesetze, denn sie können Gesetze annullieren, ohne von Gesetzen berührt werden zu können. H. Ridder hat die Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift in Frage gestellt: „Von dem . . . Prinzip der Gewaltentrennung . . . bleibt infolge der Super-Gesetzeskraft der bundesverfassungsgerichtlichen Judikate nichts! 8 3 ." Maunz dagegen bejaht die Verfassungsmäßigkeit angesichts des unklaren Inhalts und der unvollkommenen Verwirklichung des Gewaltenteilungsprinzips im GG 8 4 . Eine solche Berufung auf die Unvollkommenheit des Prinzips scheint mir überflüssig zu sein. Der einfache Gesetzgeber war vom Art. 94 Abs. 2 GG dazu ermächtigt, Entscheidungen des BVerfG Gesetzeskraft zuzusprechen. Damit war wohl Super-Gesetzeskraft gemeint 85 : Wenn Entscheidungen des BVerfG, die ein Gesetz für nichtig erklären, von einem neueren Gesetz aufgehoben werden könnten, dann hätte die Normenkontrolle selbst keinen Sinn mehr.
IV. Normenkontrolle und Demokratie 1. Das Demokratieprinzip als normative Entscheidung Die Demokratie (Art. 20 Abs. 1 GG) in Verbindung mit der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG) stellt das politische Formprinzip der Bundesrepublik Deutschland dar. Sie ist eine normative Entscheidung, kein bloßes Etikett 1 . Jede Verfassungsauslegung sollte vor allem eine demokratiekonforme Auslegung sein. Schon im Südweststaatsurteil hatte das BVerfG die Demokratie als „Grundlage des staatlichen Aufbaus" bezeichnet. Jede
83 Ridder II, 85. 84 Maunz, RdNr. 33. 85 Anders Ridder II, 85. 1 Laut Stern I, 560, ist die demokratische Grundordnung „eine normative Entscheidung, nicht bloß politisches Programm". 4 Chryssogonos
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1. Teil: Die Normenkontrolle im Gefüge der Staatsfunktionen
Verfassungsbestimmung muß so ausgelegt werden, daß sie mit dem Demokratieprinzip vereinbar ist 2 . Dem wurde entgegengehalten, daß keine „Ranghierarchie innerhalb des positiven Verfassungsrechts unter Rückgriff auf Gesamtinhalt, Gesamtzusammenhang und innere Einheit der Verfassung" bestehen könne 3 . „Alle in Kraft gesetzten Normen der Verfassung haben in gleicher Weise an dieser Positivität" (d. h. an der Positivität der Verfassung) „teil" 4 . Daraus folge, daß ein „Gebot grundsatzkonformer Konkretisierung von Verfassungsrecht" nicht bestehe, denn „die Technik konformer Interpretation" setze „einen Rangunterschied voraus" 5 . Ferner wurde versucht, gegen das Südweststaatsurteil, welches vom Zweiten Senat getroffen wurde, das Gleichberechtigungsurteil des Ersten Senats auszuspielen6. Dieser Versuch war meines Erachtens zum Scheitern verurteilt. Der Erste Senat hat nämlich festgestellt, daß „auf der Ebene der Verfassung selbst ranghöhere und rangniedere Normen in dem Sinne, daß sie aneinander gemessen werden könnten, grundsätzlich nicht denkbar sind", denn Ausnahmen von Grundsatznormen sind „nach der Regel vom Vorrang der speziellen gegenüber der allgemeinen Norm zu beachten" 7 . Der Senat hat nicht gesagt, daß höhere und niedere Normen in dem Sinne, daß die niederen den höheren konform auszulegen sind, undenkbar sind. Er hat dagegen ausdrücklich festgestellt, daß „jedes Gericht. . . dazu . . . berufen . . . ist, Verfassungsvorschriften, die einander zu widersprechen scheinen, miteinander in Einklang zu setzen, soweit dies mit den Mitteln der Auslegung möglich ist" 8 . Das ist aber dasselbe, was der Zweite Senat aus der Ranghierarchie geschlossen hat. Die Entscheidung des in dem Urteil angezogenen Bayerischen Verfassungsgerichtshofes geht freilich etwas weiter, indem dort behauptet wird, daß rangniedere Verfassungsbestimmungen wegen Verstoßes gegen ranghöhere nichtig sein könnten 9 . Der Zweite Senat hatte jedoch nicht gesagt, daß diese Möglichkeit für das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von Belang sein könne, was mit der Auffassung des Ersten Senats unvereinbar wäre. Der Erste Senat selbst ging offenbar davon aus, daß die eigene Rechtsauffassung von jener des Zweiten nicht abweicht; ansonsten hätte gemäß § 16 BVerfGG verfahren werden müssen. Eine Ranghierarchie ist aber überhaupt nicht notwendig, um die grundsatzkonforme Auslegung zu begründen. Eine Ranghierarchie wäre in allen 2
BVerfGE 1, 14, 32 f. 3 F. Müller V, 17. 4 F. Müller V, 55. s F. Müller V, 28. 6 F. Müller V, 51. 7 BVerfGE 3, 225, 231 f. 8 BVerfGE 3, 225, 231. 9 Vgl. Bachof I, 48, 45.
IV. Normenkontrolle und Demokratie
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Fällen sehr bedenklich, weil weder das BVerfG noch ein anderes Organ für die Erkennung solcher Rangunterschiede vom GG ermächtigt ist und die Inanspruchnahme einer solchen Überkompetenz das verfassungsmäßige Organgleichgewicht zerstören würde. Es geht hier einfach um eine Begriffszusammenordnung der Verfassungsbestimmungen. Wenn ζ. B. die Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG) in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt wird (Art. 20 Abs.2 GG), so sind die Verfassungsnormen, die diese Wahlen und Abstimmungen regeln, nichts anderes als Mittel zur Verwirklichung der Volkssouveränität. Sie müssen daher dementsprechend interpretiert werden, ohne daß es dabei notwendig wäre, sich auf eine Ranghierarchie zu berufen. Sie bestimmen zwar ihrerseits den Inhalt der Volkssouveränität des GG. Es darf aber nicht unterstellt werden, daß die generelle Norm keinen eigenen Inhalt habe und von den speziellen Normen beliebig umgeformt werden könne. Sie hat tatsächlich einen eigenen, von den speziellen Bestimmungen gewissermaßen unabhängigen Inhalt 1 0 . Nur dadurch kann man zur Normativität der Verfassungsprinzipien gelangen. Ansonsten würden sie zu sachlich entleerten Programmsätzen. Nur in einem solchen dialektischen Interpretationsverhältnis mit den speziellen Normen können sie ihre normative Wirkung entfalten. Andernfalls wäre diese Wirkung äußerst abgeschwächt, da die Prinzipien nur selten im konkreten Fall einschlägig sein können. Die entgegengesetzte Auffassung würde die Positivität der Prinzipien fast abschaffen und zugleich auch die Positivität der speziellen Normen abschwächen, denn bei isolierter Betrachtung wären sie gegen Mißdeutungen nicht gefeit. Unter diesem Aspekt scheint beispielsweise das Radikalenurteil des Zweiten Senats sehr bedenklich zu sein. Es ging um die Verfassungsmäßigkeit von § 9 Abs. 1 Nr. 2 des Schleswig-Holsteinischen Landesbeamtengesetzes (i.d.F. vom 10. Mai 1971). Dort hieß es, ins Beamtenverhältnis dürfe nur berufen werden, wer „die Gewähr dafür bietet, daß er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt". Der Senat meinte, diese Vorschrift verstieße nicht gegen Art. 3 Abs. 3 GG („Niemand darf wegen . . . seiner politischen Anschauungen benachteiligt. . . werden") 11 . Er führte aus, es sei „schlechterdings ausgeschlossen, daß dieselbe Verfassung, die die Bundesrepublik Deutschland aus der bitteren Erfahrung mit dem Schicksal der Weimarer Demokratie als eine streitbare, wehrhafte Demokratie konstituiert hat, diesen Staat mit Hilfe des Art. 3 Abs. 3 GG seinen Feinden auszuliefern geboten hat" 1 2 . 10 Vgl. Herzog I, RdNr. 25: „Das GG ist voll von Vorschriften, die . . . von Prinzipien Abweichungen vorsehen", und Hesse I, 14: „ W i l l sie" (d. h. die Verfassung) „die normative Kraft ihrer Grundprinzipien bewahren, so muß sie . . . stets ein Stück der Gegenstruktur in sich aufnehmen". " BVerfGE 39, 334, 338f. 12 BVerfGE 39, 334, 368f.
4'
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1. Teil: Die Normenkontrolle im Gefüge der Staatsfunktionen
Das Problem in diesem Gedankengang ist nicht so sehr, daß eine grundsatzkonforme Auslegung des Art. 3 Abs. 3 GG versucht wurde, obwohl diese Auslegung im konkreten Fall zu weit ging und praktisch zur Abschaffung des Art. 3 Abs. 3 GG als einer normativen Entscheidung führt 1 3 . Problematisch ist vielmehr der Grundsatz selbst, der als Grundlage der grundsatzkonformen Auslegung in diesem Fall benutzt wurde, nämlich die Konstruktion der sog. „streitbaren Demokratie". Diese sog. „streitbare Demokratie" hat in der Tat mit der Demokratie nichts zu tun. In der Entscheidung vom 18.2.1970 hatte der Zweite Senat eine Reihe von „streitbaren" Verfassungsvorschriften zusammengestellt (Art. 9 Abs. 2, Art. 20 Abs. 4, Art. 18, Art. 21 Abs.2 Art. 98 Abs. 2 und 5 GG) und daraus das „Prinzip der streitbaren Demokratie" konstruiert 14 . Das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) wurde dabei weder berücksichtigt noch erwähnt. Das Wort „Demokratie" wurde nur dazu benutzt, um die autoritäre Prägnanz des Prinzips etwas zu mildern. Es wäre genauer und ehrlicher „streitbarer Staat" zu sagen. Nicht nur hat die „streitbare Demokratie" mit Demokratie nichts zu tun, sie widerspricht vielmehr gerade dem Demokratieprinzip des GG, wenn sie als Prinzip konstruiert wird. Die unerläßlichste Voraussetzung einer Demokratie im westlichen, bürgerlichen Sinne, wie jeder Demokratie überhaupt, heißt Pluralismus 15 . Freiheit ist in erster Linie die „Freiheit des Andersdenkenden". Es ist „schlechterdings ausgeschlossen", um mit dem Senat zu sprechen, diesen eigenen normativen Inhalt des Demokratieprinzips, seine pluralistischen Konturen, den speziellen „streitbaren" Normen „auszuliefern". Demokratie und Streitbarkeit sind prinzipielle Gegensätze16. Der Ausschluß ihrer Feinde ist Kennzeichen aller Diktaturen. Ihre Freunde benachteiligen sie auch nicht. Der Verfas13
33.
14
Um diese Achse zentriert seine Einwände gegen die Entscheidung F. Müller V,
BVerfGE 28, 36, 48f. Vgl. etwa BVerfGE 5, 85, 205: „Der geistige Kampf, die Auseinandersetzung der Ideen, . . . die Geistesfreiheit", sei „eine Voraussetzung" der freiheitlichen Demokratie; das „Prinzip der Gleichbehandlung aller" sei „ein selbstverständliches Postulat für sie". Gerade deshalb äind die osteuropäischen Volks „demokr a tien" keine Demokratien. 16 Im KPD-Urteil war noch von einer bewußten „Synthese zwischen dem Prinzip der Toleranz gegenüber allen politischen Auffassungen und dem Bekenntnis zu gewissen unantastbaren Grundwerten der Staatsordnung" die Rede. In diesem Sinne erkannte das BVerfG ein grundgesetzliches „Bekenntnis zur einer streitbaren Demokratie" (BVerfGE 5, 85, 139). Danach ist dem GG eine Synthese zwischen dem Demokratieprinzip einer- und den „streitbaren" Verfassungsvorschriften andererseits zu entnehmen. Diese Normen, insbesondere der damals in Frage kommende Art. 21 Abs. 2 GG, waren als mit „Grundanschauungen der freiheitlichen Demokratie . . . jedenfalls theoretisch in Widerspruch" stehend betrachtet worden (BVerfGE 5, 85, 135). Die „streitbare Demokratie" des KPD-Urteils ist also etwas anderes als die „streitbare Demokratie" des Radikalenurteils: Im ersten Falle geht es um einen Sammelbegriff ohne eigenen normativen Gehalt, im zweiten Falle um ein Prinzip, d.h. um eine normative Entscheidung. 15
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sungsgeber hat einige Entscheidungen zur Abwehr möglicher Gefahren gegen die Staatsform getroffen. Die Normativität dieser Entscheidungen darf nicht bezweifelt werden. Ebensowenig darf aber aus diesen Entscheidungen ein Leviathanprinzip der Streitbarkeit konstruiert werden. In einer demokratischen Verfassung müssen die „streitbaren" Normen als Ausnahmevorschriften betrachtet werden. Die Streitbarkeit kann vielleicht als Sammelbegriff, keineswegs aber als Prinzip gelten, denn als Prinzip formt sie die Staatsform um und gefährdet sie dadurch mehr als wirkliche oder vermeintliche „Verfassungsf einde". Es ist „schlechterdings ausgeschlossen", daß der demokratische Grundgesetzgeber, der im „Schicksal der Weimarer Demokratie" eine „bittere Erfahrung" hatte, die Freund-FeindTheorie des prominentesten juristischen Befürworters der Verbrecher, die dieses Schicksal verursacht hatten 17 , seinem Grundgesetz zugrunde gelegt haben soll. Eine Demokratie versucht nicht auszuschließen, sondern zu integrieren. Das BVerfG hat also mit der Konstruktion der „streitbaren Demokratie" das Demokratieprinzip als „tabula rasa" benutzt, in der die speziellen Normen Beliebiges einschreiben können. Demokratie wurde von einer normativen Entscheidung zur ideologischen Verhüllung einer autoritären Konzeption degradiert. Wenn das Demokratieprinzip eine solche „tabula rasa" wäre, dann wäre die Charakterisierung der Staatsform durch das GG selbst überflüssig. Es bedürfte dann keines politischen Formprinzips mehr und die Charakterisierung der Staatsform wäre angesichts der speziellen Verfassungsvorschriften eine Aufgabe für die Verfassungsrechtsprechung und die Staatsrechtslehre. Es ist dagegen daran festzuhalten, daß das Demokratieprinzip eine echte normative Entscheidung mit eigenständigem Inhalt und daher für die Auslegung aller anderen Verfassungsvorschriften von Belang ist. Aus dem Demokratieprinzip ergeben sich konkrete Konsequenzen für die Verfassungsinterpretation durch das BVerfG im Rahmen der Normenkontrolle, denn die Methode dieser Interpretation muß - wie aus dem normativen Charakter des Demokratieprinzips folgt - in allen Fällen eine demokratische Methode sein 18 . Gegen Versuche, den Interpretationsmethoden die verfassungsrechtlichen Prinzipien zugrunde zu legen und sie dementsprechend auszugestalten, hat M. Kriele den Einwand vorgebracht, „die verfassungsrechtliche Stellung der Verfassungsrechtsprechung" sei „selbst eine Frage der Verfassungs17
Vgl. Schmitt III, 359ff. Vgl. vor allem, sehr deutlich, Abendroth 1,126f., II, 77; ferner Ehmke I, 89; Rinken 1018; Böckenförde II, 2099. Aus der Rechtsprechung, ebenso sehr deutlich, die Sondervoten von H. Simon und W. Rupp-v. Brünneck im Hochschulurteil, BVerfGE 35, 19, 148, 150, 152f. und im Abtreibungsurteil, BVerfGE 39, 1, 68, 69f. 18
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interpretation" und dürfe „nicht schon vorentschieden sein, wenn man das Problem der Interpretationsmethode zu erörtern beginnt". „Während man Methodenregeln aufstellt, scheinbar um dem Hineininterpretieren einseitiger politischer Vorstellungen in das Grundgesetz entgegenzuwirken, dienen in Wirklichkeit gerade diese Methodenregeln dem Zweck, die Interpretation auf bestimmte Ziele festzulegen" 19 , meinte er ferner. Alle Methodenregeln legen indes die Interpretation auf bestimmte Ziele fest. Von Bedeutung ist vielmehr, welches diese Ziele sind, d. h., ob sie mit der Verfassung vereinbar sind. Um das festzustellen, muß man natürlich erst die Verfassung, d. h. vor allem die verfassungsrechtlichen Prinzipien, auslegen. Die Auslegung dieser Prinzipien ist nicht so sehr eine technische Aufgabe, die das Aufstellen von Methodenregeln voraussetzt, welche dann wiederum durch die so ausgelegten Prinzipien bestätigt und normativiert werden. Die jeweilige Bedeutung der Prinzipien ergibt sich vielmehr aus der gesamten politischen Kultur eines Landes, vielleicht sogar aus Elementen, die der politischen Kultur aller westlichen Demokratien gewissermaßen gemeinsam und von einer langen historischen Tradition, die schon aus dem griechischen Altertum stammt, geprägt sind. Das „Hineininterpretieren" von einseitigen politischen Vorstellungen kann also kontrolliert und ausgeschlossen werden. Aus dem so gewonnenen Inhalt der Prinzipien im Zusammenhang mit der Ausgestaltung der Normenkontrolle ergibt sich dann ein Gesamtbild ihrer verfassungsrechtlichen Stellung, das die Methode bestimmen soll. Wenn man dagegen die Prinzipien außer acht läßt, dann ist der Weg zum „Hineininterpretieren" der einseitigen politischen Vorstellungen offen, denn dann gibt es keine Kontrollmaßstäbe mehr. Die juristische Methodik schwebt aber nicht im luftleeren Raum. Sie zeitigt, sofern sie auf die Praxis der Rechtsanwendung einwirkt, gewisse rechtliche und politische Konsequenzen. Sie soll verfassungsrechtlich bestimmt und gerechtfertigt sein 20 . Sie wird ferner von den tatsächlichen sozialen und politischen Machtverhältnissen bestimmt 21 . Es ist im übrigen auch zu fragen: Wenn die aufzustellenden Methodenregeln nicht auf Verfassungsvorschriften beruhen, woraus ergibt sich dann ihre Verbindlichkeit für den Richter? Oder handelt es sich etwa nur um unverbindliche Räte und Wünsche? Der Versuch, die Verbindlichkeit von Methodenregeln auf den „rechtsdogmatischen Konsens über die juristische Methodik" zu beziehen 22 , wobei jener dogmatische Konsens sich „auf den professionell ausdifferenzierten . . . Betrieb der Beschäftigung mit geltendem Recht in der juristischen 19 Kriele I, 30. 20 Engisch II, 94 f. und Fn. 104 m.w.N.; Forsthof III, 45; F. Müller II, 154, III, 140; Dolzer I, 113, Häberle II, 123. 21 Vgl. F. Müller III, 103. 22 Ebsen, 31.
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Ausbildung, im fachwissenschaftlichen Schrifttum und in den publizierten Entscheidungsgründen" bezieht 23 , scheint mir unergiebig zu sein. Es ist ersichtlich, daß die Annahme bestimmter Methodenregeln die Feststellung des normativen Gehalts rechtlicher Postulate steuert. Somit hat diese Annahme selbst eine gewichtige normative Bedeutung. Nicht ersichtlich ist es dagegen, woraus die verfassungsrechtliche Rechtfertigung jener Annahme stammt, falls sie nur auf den Konsens des professionalisierten Juristenstandes gestützt wird. Wenn es jenem Juristenstand freigestellt wäre, Methodenregeln beliebig aufzustellen, dann wäre er zugleich freigestellt, durch diese Methodenregeln (bzw. Methodenregellosigkeit) die geltenden Rechtsnormen beliebig umzudeuten. Man käme dann unter Umständen zu einer Art „Juristenstaat". Es ist ein Verdienst des funktionell-rechtlichen Methodenansatzes, den verfassungsrechtlichen Bezug des Problems der Auslegung von Rechtsnormen betont zu haben 24 . Aufgrund jenes Bezugs wird also hier davon ausgegangen, daß das Demokratieprinzip Umfang und Grenzen der Kompetenzen von Staatsorganen, darunter auch die Kompetenz des BVerfG zur Kontrolle von Normen, maßgeblich mitbestimmt 2 5 . Um aus dieser Feststellung konkrete verfassungsrechtliche Folgerungen zu ziehen, sollte man freilich erst einen (normativen) Demokratiebegriff zugrunde legen. Dies ist eine schwierige Aufgabe, da Demokratie heute zum „Inbegriff des guten Staates" 26 geworden ist und von fast allen politischen Systemen für sich in Anspruch genommen wird. Wenn man sich aber um einen normativen Demokratiebegriff bemüht, der innerhalb einer bestimmten Verfassungsordnung Geltung beansprucht, dann sollte freilich, wie bereits bemerkt, die konkrete Ausgestaltung jener Verfassungsordnung (mit-)berücksichtigt werden. Demnach ist festzustellen, daß dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich der Gedanke des „responsible government" zugrunde liegt, welcher den Meinungs- und Interessenpluralismus innerhalb des Volkes respektiert und einen „umfassenden Verantwortungszusammenhang" 27 in bezug auf die Organisation und Ausübung staatlicher Macht begründet, wobei die „Gesamtheit der Bürger eine letzte kontrollierende, aber auch kollektiv verantwortliche Instanz bildet" 2 8 . Weniger ist dagegen dem Grundgesetz eine identitäre Konzeption (Identität von Regierenden und Regierten) zu entnehmen 29 . 23
Ebsen, 26. Vgl. dazu im zweiten Teil, unter II, 7. 25 Die Ausführungen zum Demokratieprinzip gelten freilich analog für den Grundsatz der Gewaltenteilung und für das Sozialstaatsprinzip. 26 Bäumlin, Sp. 362. 27 H.-P. Schneider VI, 34. 28 Bäumlin, Sp. 365. Vgl. ferner Böckenförde VI, 24f. 24
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1. Teil: Die Normenkontrolle im G e f g e der Staatsfunktionen
2. Das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Normenkontrolle Die Normenkontrolle wird von einem Gericht ausgeübt, dessen Mitglieder „je zur Hälfte vom Bundestage und vom Bundesrate gewählt. . . werden" (Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG). Diese Mitglieder werden auf zwölf Jahre gewählt (§ 4 Abs. 1 BVerfGG), sind während dieser Zeit unabsetzbar (§ 105 BVerfGG nennt die einzigen Ausnahmen) und können nicht wiedergewählt werden (§ 4 Abs. 2 BVerfGG). Sie sind also im Gegensatz zu den Mitgliedern des Bundestages nur mittelbar durch das Volk legitimiert 3 0 , und ihre persönliche Verantwortung ist geringer, da sie nicht alle vier Jahre wiedergewählt zu werden brauchen. In der Tat gründet sich aber die öffentliche Akzeptanz der normenkontrollierenden Tätigkeit des BVerfG nicht auf die Wahl seiner Mitglieder, sondern primär auf seine Gerichtsförmigkeit. Diese Gerichtsförmigkeit impliziert, daß das BVerfG eine im politischen Prozeß der Bundesrepublik neutrale Instanz ist, welche dem Grundgesetz zur Geltung in der politischsozialen Wirklichkeit verhilft. Das Stichwort „Mund des Gesetzes" kennzeichnet nicht nur die Vorstelllung, die ein prominenter Repräsentant des französischen Bürgertums über die Rolle der richterlichen Gewalt in einem neu zu organisierenden konstitutionellen Staat vor zweieinhalb Jahrhunderten hatte 31 . Es kennzeichnet vielmehr einen festen Bestandteil der heute vermutlich in allen kontinental-europäischen Ländern herrschenden politischen Kultur. Dadurch wird aber der Richter von den Folgen seines Spruchs im erheblichen Teil entlastet, denn er spricht im Prinzip nicht eigenständige Worte, sondern jene des Gesetzes32. Demnach beruht die Akzeptanz der Richtersprüche nicht nur und nicht einmal in erster Linie auf der inhaltlichen Akzeptanz der von ihnen vorgeschlagenen Leitlinien einer zukünftigen Politik in ihrer Substanz oder der Ergebnisse, welche diese Politik liefert, sondern primär auf „Kompetenz, Sachverstand und Exklusivität" 3 3 . Daraus erklärt sich auch die geringe persönliche Verantwortung. Unabhängigkeit von den anderen Staatsorganen und vom Volke selbst ist das notwendige Korrelat der Gesetzesgebundenheit34. Durch ihre Justizförmigkeit nehmen 29 Wie sie von C. Schmitt II, 234 ff. entwickelt worden ist. Kritisch dazu Hesse II, 54f.; Böckenförde VI, 8ff.; Bäumlin, Sp. 363f. 30 Darin, daß „mit dem BVerfG . . . die Aufgabe der Vorrangsicherung (der Verfassung) einem demokratisch nur mittelbar legitimierten Staatsorgan anvertraut. . . wird" sieht Rinken, 1014 (RdNr. 50) die „demokratische Ambivalenz der Verfassungsgerichtsbarkeit" . 31 Montesquieu, 127. 32 Für den Entlastungseffekt von „Konditionalprogrammen", worunter sowohl Gesetzes- als auch bereits verfestigtes Richterrecht zu verstehen sei vgl. Ipsen 5 6 ff. 33 Massing III, 55. Vgl. auch Bryde, 342f.; Massing I, 239. 34 Schmitt II, 155.
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auch die Funktionen des BVerfG an diesem Entlastungseffekt teil und werden so legitimiert 3 5 . Deswegen legte auch der Statusbericht so großen Wert darauf, die Tätigkeit des BVerfG „materiell" als Rechtsprechung zu präsentieren (Gleiches gilt freilich für die in der Literatur herrschende Meinung) 36 . Da aber das Postulat vom „Mund des Gesetzes" methodisch unerfüllbar ist, da also auch die Rechtsprechung politisches Handeln, Ausübung politischer Macht darstellt 37 , bleibt diese justizförmig ausgeübte Macht unkontrolliert - zumindest aber in geringerem Maße kontrolliert als andere Formen von Ausübung staatlicher Macht. Unter diesem Aspekt kann von einem Spannungsverhältnis mit dem Demokratieprinzip gesprochen werden, wenn unter Demokratie (auch) der Gedanke des „responsible government" verstanden wird; mehr als jede andere stellt die richterliche Gewalt ein „irresponsible government" dar. Insoweit ist sie - um mit Justice Felix Frankfurter zu sprechen - in der Tat „inherently oligarchic" 38 . Dies gilt freilich für die Rechtsprechung insgesamt. In bezug auf die Normenkontrolle wird aber das Problem dadurch verschärft, daß die entsprechenden verfassungsgerichtlichen Urteile nicht unter dem Gesetz stehen, sondern Gesetzesgeltung beanspruchen 39 . Statt verhüllende Formeln wie die von der dichotomischen Trennung von Recht und Politik 4 0 aufzustellen, ist es Aufgabe einer materiellen Normenkontrollehre, die verfassungsgerichtliche Interpretationstätigkeit an einen umfassenden Verantwortungszusammenhang zu binden, in dem sie sich erst von anderen Formen politischer Machtausübung absondern ließe. Diese Aufgabe ist um so dringlicher, als die bisherige Interpretationstätigkeit des Bundesverfassungsgerichts sich als methodisch beliebig 41 und deswegen als unkontrollierte Machtausübung erweist.
35 Vgl. Massing 1,217 f. 36 Dazu unter III, 2. Wenn dagegen eine Normenkontrollkompetenz von einem politischen Organ wahrgenommen würde und/oder sich als politische Funktion präsentierte, dann könnte sie kaum mit der gleichen Intensität ausgeübt werden. Charakteristisch dazu dürfte etwa der Fall des Conseil Constitutionnel in Frankreich sein: Nachdem es anfangs heftig umstritten war, ob es sich um ein Gericht oder vielmehr um ein politisches Organ handele, versuchte der Conseil mit Nachdruck, sich als Gericht zu präsentieren. Dies wurde dann auch in der Literatur mit zunehmender Tendenz behauptet (vgl. Luchaire, passim). 37 Dazu unter III, 2 und im zweiten Teil unter I und II. 38 Frankfurter, Concurring in American Federation of Labor ν. American Ash and Door Co., 335 U. S. 538 (1949). Vgl. auch Massing III, 55: „Ein . . . aristokratisches Element. . . schiebt sich i n den Vordergrund,.. . das den Staat justizlastig zu machen droht". 39 Vgl. Massing I, 221: „Der zur Interpretation der Verfassungsnormen berufene Interpret und Verfassungsanwalt... ü b t . . . durch die Ermessensfreiheit in der Wahl der Auslegungsmodalitäten noch am ehesten unkontrollierte Macht aus". 40 So Leibholz II, 121 f. 41 Dazu im zweiten Teil unter I, 5.
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3. Die Leugnung des Problems Eine normativistische Betrachtungsweise würde freilich das Problem überhaupt leugnen. So versuchte W. Kägi die „logique de la constitution" gegen die „logique de la démocratie" 42 auszuspielen und die „Herrschaft der Verfassung" 43 an Stelle der Volkssouveränität zu stellen. Er unterschied zwar zu Recht zwischen den „verschiedenen Größen Volk (Volk als einfacher Gesetzgeber, als verfassungsändernde Gewalt und verfassunggebende Gewalt)" 4 4 und betonte ebenso zu Recht, daß „auch die Zuständigkeit des Volkes eine normierte und begrenzte ist" 4 5 . „Die Logik der Verfassung fordert" tatsächlich, „daß auch das Volk in seinen verschiedenen Zuständigkeiten tätig w i r d und daß sein Wille demgemäß nicht in allen Fällen gleich mächtig ist" 4 6 . Wenn man aber das Prinzip der Volkssouveränität aufrechterhalten will, sollen diese Zuständigkeiten doch so weit reichen (und dementsprechend ausgelegt werden), daß die politische Macht der demokratischen Legitimation und nicht anderen Kriterien zufolge (wie Fachkompetenz) verteilt wird. Das wird aber von Kägi nicht akzeptiert. Ihm zufolge sind die Grundrechte „eine absolute Schranke", eine „unverbrüchliche Norm" auch für das „pouvoir constituant", denn sie haben eine „vor- und überstaatliche Natur" 4 7 . Die Konsequenzen werden von Kägi selbst klargemacht: „Nicht der Wille des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, sondern der Richter bestimmt letztlich, was Recht ist". Was der „durch den Richter gehüteten" ratio des Gesetzes nicht entspricht, ist nicht Gesetz, sondern ein „untauglicher Versuch der Gesetzgebung". „Die Verfassung selbst ist nicht so sehr der Wille eines pouvoir constituant, sondern eine durch den Richter entfaltete Normordnung 4 8 ". Es geht in der Tat also nicht um die ratio des Gesetzes, sondern um die „ratio" des Richters. Fragwürdig ist es aber, warum der nunmehr fast gesetzesfreie Richterspruch als ratio, der gesetzgebende Akt dagegen als voluntas angesehen wird. Eine „rationale" Erklärung wird nicht gegeben, denn es gibt keine. Hier wird diese Konzeption, die so sehr gegen die „dezisioni42
Kägi I, 171; Kriele II, 778. Kägi I, 182. Vgl. auch Schiaich I, 103; Marcie I, 321f. 44 Kägi I, 162. Vgl. auch Kägi II, 137: „Rechtsstaatliche Hierarchie". 45 Kägi I, 157. 46 Kägi I, 182. 47 Kägi I, 47, 166; II, 141 f., 145f. Es ist allerdings richtig, daß es bestimmte „tragende Prinzipien" der „Idee der Verfassung" (Kägi I, 14) gibt, nicht weil es um voroder überstaatliche Werte geht, sondern weil ohne die Gewährleistung eines Mindestmaßes an Partizipationsmöglichkeiten an der staatlichen Willensbildung (seien sie demokratischer Art, z. B. Wahlrecht, oder auch einfach Rechtswegegarantien) keine normative Verfassung, sondern nur noch ein Trugbild vorhanden wäre. 48 Kägi I, 176. 43
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stisch-totalitäre Auffassung der Demokratie" gerichtet sei 49 , zu einem richterlichen Dezisionismus. Das politische Gleichgewicht wird zugunsten des Richters verschoben. Das Demokratieprinzip w i r d folgerichtig „als politische Zielformel und damit als Nicht-Rechtssatz", als „unverbindlicher Gesetzesinhalt" angesehen, auch wenn das nicht ausdrücklich gesagt wird 5 0 . Es w i r d praktisch als politisches Formprinzip vernichtet. „Die Legitimität . . . der liberalen Demokratie... beruht auf dem Normativen" 5 1 . An Stelle der Demokratie tritt die Herrschaft der Verfassung, d. h. der Richter, die ihren Inhalt letztverbindlich feststellen. Anstatt die Normativität der Verfassung zu fördern, schafft ein solcher Normativismus die wichtigste Verfassungsnorm, das politische Formprinzip, aus der Welt, um sie mit einem anderen genauso politischen Formprinzip, jenem das Richterstaats, zu ersetzen. Es ist eine gefährliche Illusion zu glauben „das government of men durch das government of laws ersetzen" 52 zu können. Kägi erkennt richtig, daß es „keine völlig freie, unbegrenzte Kompetenz" gibt, denn eine solche Kompetenz wäre „ein logischer Widerspruch", eine „rechtliche Unmöglichkeit" 5 3 ; er fordert ein „Gleichgewicht zwischen der légitimité juridique und der souveraineté politique" 5 4 . Wenn man aber seine Konzeption zugrunde legt, ist es unvermeidlich, das richterliche Prüfungsrecht gerade als eine solche unbegrenzte „Kompetenz" anzuerkennen und das Gleichgewicht zu beeinträchtigen. Die Normenkontrolle und die Verfassung insgesamt sind die Mittel, die Demokratie dagegen der Zweck, nicht umgekehrt. Nur auf dieser Basis kann auch die Normativität der Verfassung selbst aufrechterhalten bleiben. Das BVerfG hat seine Legitimation ähnlich zu der oben dargestellten Auffassung auf dem GG selbst begründet: Im Kalkarurteil bekannte es sich gegen eine Durchbrechung der „konkrete(n) Ordnung der Verteilung und des Ausgleichs staatlicher Macht" des GG, durch „einen aus dem Demokratieprinzip fälschlich abgeleiteten Gewaltenmonismus in Form eines allumfassenden Parlamentsvorbehalts". „Aus dem Umstand, daß allein die Mitglieder des Parlaments unmittelbar vom Volk gewählt werden, folgt nicht, daß andere Institutionen und Funktionen der Staatsgewalt der demokratischen Legitimation entbehrten", führt das Urteil weiter aus. „Die Organe der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt beziehen ihre institutionelle und funktionelle demokratische Legitimation 49
Kägi II, 128ff. Die Möglichkeit der Existenz solcher Verfassungsvorschriften w i r d von Kägi I, 130f. prinzipiell anerkannt. 51 Kägi I, 23. 52 Kägi I, 41. Vgl. auch Schmitt II, 138; Böckenförde III, 84 und, dagegen, F. Neumann II, 23 ff. Ausführlicher unter V, 1. 53 Kägi I, 100. 54 Kägi I, 185. 50
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1. Teil: Die Normenkontrolle im Gefüge der Staatsfunktionen
aus der in Art. 20 Abs. 2 GG getroffenen Entscheidung des Verfassungsgebers". Ein „alle konkreten Kompetenzzuordnungen überspielende(r) Auslegungsgrundsatz" 55 ist demnach ausgeschlossen. Woraus ergibt sich aber, daß nur die speziellen Kompetenznormen, nicht aber das Demokratieprinzip für die Ausgestaltung dieser „konkreten" Ordnung einschlägig sind? Diese Auffassung steht in schroffem Gegensatz zu der Auffassung des Südweststaatsurteils 56 . Der Senat bemüht sich aber nicht, die Wende in seiner Rechtsprechung zu erklären. Er nimmt das Südweststaatsurteil einfach nicht zur Kenntnis. Wenn aber das Staatsformprinzip nicht für die konkrete Ausgestaltung der Staatsform, d. h. die Kompetenz· und Funktionszuordnungen, einschlägig ist, wofür ist es dann einschlägig? Ist es dann mehr als ein Etikett? Ferner: Wenn „demokratische Legitimation" der Staatsorgane nichts anderes bedeutet, als daß sie durch die Entscheidung eines demokratisch legitimierten historischen Verfassungsgebers konstituiert sind, dann würde „Demokratie" nicht mehr etwas über die „konkrete" Ausgestaltung der Staatsform, nichts über die Verfassungsinhalte aussagen, sondern einfach bedeuten, daß die Verfassung, welche das Demokratieprinzip enthält, auf demokratische Weise entstanden ist. Dieses „Demokratieprinzip" wäre aber nicht mehr Prinzip, nicht mehr normative Entscheidung, sondern Verfassungsgeschichte. Es sollte freilich nicht unterstellt werden, daß sich aus dem Demokratieprinzip ein „allumfassender Parlamentsvorbehalt" gegenüber der Exekutive herleiten ließe. Der Senat bemüht sich aber nicht zu prüfen, was sich aus diesem Prinzip herleiten läßt. Er bemüht sich nicht darum, das Demokratieprinzip auszulegen und ggf. anzuwenden, sondern er bemüht sich, es beiseite zu lassen. Auch der Auffassung von P. Häberle 57 , „Verfassungsprozeßrecht" sei „ein Stück demokratischen Partizipationsrechts", kann hier nicht zugestimmt werden. Es kann hier dahingestellt bleiben, inwieweit die „Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" offen ist oder geöffnet werden soll 58 . Festzuhalten ist jedenfalls, daß die letzte Entscheidung von den Verfassungsrichtern getroffen wird, wenn auch sie gewisse Grenzen nicht überschreiten dürfen. Das Initiativrecht beim BVerfG, sei es die Verfassungsbeschwerde oder ein anderer Rechtsweg (konkrete Normenkontrolle) für den einzelnen Bürger oder sei es die abstrakte Normenkontrollklage für mächtige Parlamentsfraktionen oder Landesregierungen, ist zwar ein Recht auf politische Partizipation, d. h. auf Partizipation an der staatlichen Willensbildung, nicht aber ein demokratisches Partizipationsrecht. Es gibt eben Partizipations55
BVerfGE 49, 89, 125 f. Vgl. auch Stern II, 953; Schiaich II, 224. 56 BVerfGE 1, 14, 32 f. Vgl. auch oben III, 1. 57 Häberle III, 304. Vgl. auch, mit deutlicher obrigkreisstaatlicher Prägung, Marcie I, 327f. 58 Hierzu im zweiten Teil unter II, 5.
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rechte, die nicht demokratischer Natur sind, ζ. B. Rechtswegegarantien: Denn die Entscheidung wird nicht vom Betroffenen selbst getroffen, sondern von einer „dritten", „neutralen" Instanz, d. h. dem Richter. Es geht also grundsätzlich nicht um Selbstbestimmung (wie bei den demokratischen Partizipationsrechten, wenn auch unter Mitwirkung anderer Mitbürger [beim Wahlrecht] oder anderer politischer Kräfte [bei parlamentarischen Verfahren]), sondern es geht grundsätzlich um Fremdbestimmung durch den Richter. 4. Die öffentliche Akzeptanz des BVerfG Alle bisher skizzierten Auffassungen leugnen grundsätzlich das Legitimationsproblem. Man könnte das Problem zwar anerkennen, es aber ablehnen, daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen unter Berufung auf die materielle Legitimation, die aus der öffentlichen Akzeptanz rührt, welche die Mängel an formeller, d. h. aus dem Verfahren der Richterwahl und der Arbeitsweise des Gerichts herkommender Legitimation, kompensiere. Die gerichtlichen Entscheidungen würden demnach nicht von der Methode, sondern vom Ergebnis her legitimiert, weil die in ihnen verkörperten Werte öffentlich akzeptiert wären 59 . Diese Auffassung halte ich für höchst problematisch. Die tatsächliche jeweilige öffentliche Akzeptanz einer Entscheidung oder einer Institution ist eine nur schwierig meßbare und leicht veränderliche Größe. Aber auch wenn man davon ausgeht, daß sie mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden kann, vermag sie dennoch nicht die verfassungsrechtlichen Bedenken aufzuheben. Wenn dies der Fall wäre, dann bräuchten w i r keine Verfassung, sondern nur Meinungsumfragen. Unter Berufung auf seine „materielle" Legitimation, seine tatsächliche Akzeptanz, könnte auch ein militärischer coup d'etat dann gerechtfertigt werden. Das BVerfG hat bisher einen hohen Akzeptanzgrad bei seiner Tätigkeit gefunden. Charakteristisch ist die Spitzenposition des BVerfG in der Rangliste des Vertrauens bei den jährlichen Infas-Erhebungen, die es 1980 erstmals mit dem Bundestag teilte 6 0 . Anhand von empirischen Untersuchungen wurde ferner behauptet, der Bürger der Bundesrepublik vertraue im internationalen Vergleich rechtsstaatlichen Sicherungen mehr als seinen politi59 Charakteristisch Tribe, 52: " I t may be possible to justify constitutional adjudication not by ità method but by its results. Decicions are legitimate . . . because they are right. Both decisions" (Brown v. Board of Education, 347 U.S. 483 [1954] und Reynolds v. Sims, 377 U.S. 533 [1964], die die Diskriminierung gegen Schwarze betrafen) "have been accepted by the politicial processes at large as fundamental aspects of our constitutional law. The values these decisions invoked are values we truly hold". Ähnlich Drath, 99 ff.; Ebsen, 346 ff. 60 Simon, 1253; Der Spiegel 30.11.1978, S. 38 (46); Landfried, 152. Vgl. auch Dopatka II, lOlff.; Kommers, 264f.; Rinken, 1007f.
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sehen Einflußchancen 61 . Diese hohe öffentliche Akzeptanz des Karlsruher Gerichts ist von kaum zu überschätzender praktischer Bedeutung für seine Entscheidungsspielräume. Zutreffend hatte sein ehemaliger Präsident E. Benda bemerkt, „eigene potestas im Sinne einer Durchsetzungsmacht" habe es nicht 6 2 . Es braucht sie auch nicht: Es besitzt eine andere Art von Macht. Sie beruht auf seiner festen Verankerung als Kernstück der in der Bundesrepublik herrschenden Ideologie 63 . Diese Verankerung läßt die Ausnutzung der bestehenden legalen Wege durch die unmittelbar betroffenen politischen Instanzen sowohl zur Disziplinierung des BVerfG - durch Änderung des BVerfGG (z. B. Erhöhung der Zahl der Gerichtsmitglieder und gleichzeitig Herabsetzung der erforderlichen Mehrheit im Wahlmännerausschuß, so daß die Bundestagsmehrheit die zusätzlichen Stellen mit nahestehenden Personen besetzen könnte) - wie auch durch Abschaffung des Gerichts - durch Verfassungsänderung - als ziemlich unwahrscheinlich erscheinen 64 . Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang die eher defensive Haltung der sozialliberalen Koalition dem „activism" des BVerfG gegenüber, im Gegensatz zu der harten Kritik, die die Regierung Adenauers zum Fernsehurteil geäußert hatte 65 . Solche K r i t i k konnten sich die Sozialliberalen nicht mehr leisten 66 . Mit der „Überzeugungskraft" der „juristischen Argumente" 6 7 einzelner Entscheidungen hat das nicht mehr viel zu tun: Selbst gegenüber Entscheidungen mit höchst zweifelhafter Überzeugungskraft (Abtreibungsurteil), die von juristischer Seite, gleichgültig ob zu Recht oder zu Unrecht, heftig kritisiert wurden, könnte niemand in der Bonner Regierung daran denken, auf dem Podium des Bundestages zu sagen, das Kabinett habe zum Urteil Stellung genommen und sich darüber geeinigt, daß das Urteil falsch sei 68 . Es war gerade umgekehrt. Die CDU-Opposition warf den Sozialdemokraten nunmehr vor, sie verletzten das Grundgesetz 69 . Diese ideologische Verankerung ist in erster Linie auf objektive kulturelle, politische und wirtschaftliche Gegebenheiten zurückzuführen. Das 61
Almond / Verba, 106ff., 181ff.; Scharpf III, 9ff.; Stern III, 11. β2 Benda II, 5. 63 Hier i.S. von Vorstellungen, welche das Selbstverständnis des Gemeinwesens ausmachen, sich aus den objektiven wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen ergeben und sie z. T. widerspiegeln, z. T. aber zugleich verhüllen. 64 Vgl. Massing VI, 512f.; Zweigert / Dietrich, 21. Ein ähnlicher Versuch des Präsidenten Roosevelt aus dem Jahre 1937, den Supreme Court zu disziplinieren, war aus diesem Grunde gescheitert, siehe Dopatka II, 78 ff. 65 Dopatka I, 41; II, 81f.; Laufer I, 465. 66 Vgl. Dopatka II, 83f.; Massing IV, 120f. 67 So aber Benda II, 5. 68 So wie Bundeskanzler Adenauer in bezug auf das Fernsehurteil, zitiert nach Laufer I, 465. 69 Vgl. Lamprecht-Malanowski, 14, Fn. 28 und Interview M. Hirsch, ebd. 68.
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der deutschen Geschichte eigentümliche Mißtrauen dem Parlament und dem Parteienstaat gegenüber 70 hat daran einen nicht unerheblichen Anteil. Es ist ferner mit Vertrauen in eine (dem Anspruch nach) „neutrale Gewalt" gekoppelt. Sie stehe angeblich außerhalb und über den streitenden politischen und sozialen Gruppen und Interessen und balanciere diesen den Staat bedrohenden Pluralismus aus, verkörpere also staatliche Einheit und Kontinuität, sei somit „Hüter der Verfassung" und dadurch Garant der politischen und sozialen Normalität. In der Vergangenheit fungierte Kaiser oder Reichspräsident in dieser Rolle, nun das Bundesverfassungsgericht. Hinzu treten real vorhandene Probleme des heutigen Parlamentarismus. So ist bezüglich des Gesetzgebungsverfahrens eine Tendenz „zu legislativen Kleinarbeit" und zur „weitgehenden Bürokratisierung" im Wege der Verlagerung der Gesetzgebungsarbeit in die Ausschüsse festzustellen 71 . Unter diesen Umständen wandelt sich das Parlament - etwas überspitzt formuliert - zum Vollstreckungsausschuß von Gesetzesvorhaben der Ministerialbürokratie. Ergebnis des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens ist eine Massenproduktion von Maßnahmegesetzen, die keine (in der Tat freilich illusionäre, weil die gesellschaftlichen Spaltungen und Auseinandersetzungen leugnende) objektive Rechtsvernunft zum Ausdruck zu bringen vermögen, sondern nur an konkrete Zwecke gebunden sind. Demgegenüber erscheint das Bundesverfassungsgericht als der institutionalisierte Schiedsrichter zwischen den entgegengesetzten partikularen Interessen und damit als Wahrer der gesamtgesellschaftlichen Bedürfnisse, der der Identitätsfindung der politischen Gemeinschaft 72 und der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des politischen und gesellschaftlichen Systems und aller seiner Institutionen dient 7 3 . Mit anderen Worten: das Bundesverfassungsgericht wird nicht so sehr als ein Machtträger neben anderen, sondern vielmehr als die Verkörperung der Vernunft in der bundesdeutschen Gesellschaft angesehen74. Dazu trägt wahrscheinlich auch die Tatsache bei, daß es über keinen eigenen Vollstreckungsmechanismus verfügt, der die verfassungsgerichtlichen Entscheidungen notfalls auch mit dem Mittel der Gewalt in die Praxis umsetzen würde. Der Öffentlichkeit wird damit das Gericht als 70 H.-P. Schneider VII, 279, bemerkt, daß „die K r i t i k am Parlamentarismus . . . sich in Deutschland auf eine erheblich ältere Tradition stützen . . . kann als seine staatsrechtliche Verwirklichung". 71 H.-P. Schneider VII, 285. 72 Vgl. Massing III, 48: „Die Verfassungsgerichtsbarkeit als Sanktionsmechanismus und Instrument der sozialen Kontrolle definiert. . . die ins und die outs (Integrationsbzw. Ausbürgerungsfunktion)". 73 Nicht von ungefähr spielt die Argumentationsfigur der „Funktionsfähigkeit" verschiedener Institutionen eine Rolle von kaum zu überschätzender Bedeutung bei der Normenkontrolle. Vgl. u. a. BVerfGE 1, 208, 248 und 6, 104, 112 (F. des Parlaments); 35, 79, 124 (F. der Hochschulen); 48, 127, 159 (F. der Bundeswehr); 50, 290, 334 (F. der Unternehmen); 65, 1, 50 (F. der amtlichen Statistik). 74 Solche Auffassungen vertritt etwa Marcie II, 504f.
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machtloser Vernunftträger neben den vernunftslosen (weil partikularen Interessen und nicht von allen Seiten akzeptierten politischen Zielen dienenden) politischen Machtträgern (Verfassungsorgane, Parteien, Massenverbände usw.) präsentiert. Dies steigert selbstverständlich die gesellschaftliche Akzeptanz 75 . Durch solche Konstruktionen wie „Verfassungsorgan", „Hüter der Verfassung" und „wertgebundene Ordnung" 7 6 hat schließlich das Bundesverfassungsgericht selbst zu seiner ideologischen Verankerung beigetragen. Es läßt sich eine allgemeine Bürokratisierungstendenz der modernen westlichen Demokratien feststellen. Dies in dem Sinne, daß wichtige politische Entscheidungen zunehmend auf reale oder auch imaginäre Sachzwänge zurückgeführt und deswegen unter maßgeblicher Mitwirkung des Sachverstandes der staatlichen Bürokratie getroffen werden, wobei politische Auseinandersetzungen zum großen Teil erspart bleiben und die Politiker von den möglichen Entscheidungsfolgen entlastet werden. Auch die Tätigkeit der Verfassungsgerichte gehört in diesen Zusammenhang, da sie durch Sachverstand legitimiert wird und einen Entlastungseffekt mit sich bringt 7 7 . Die hohe öffentliche Akzeptanz des BVerfG indiziert zwar, daß dieses Legitimationsmodell (wenigstens im großen und ganzen) trotz aller K r i t i k effektiv funktioniert. Die sich aus dem Demokratieprinzip in bezug darauf ergebenden Bedenken vermag sie dagegen nicht aufzuheben. Wenn man das hier zugrunde gelegte Demokratieverständnis des „responsible government" als Ausgangspunkt nimmt, dann begründet nicht jede beliebige Art von öffentlicher Akzeptanz demokratische Legitimation, sondern nur diejenige, die aus der Herstellung eines umfassenden Verantwortungszusammenhangs im Hinblick auf die Organisation und Ausübung staatlicher Macht sowie auf die Wahrnehmung seiner Rolle als kontrollierende Instanz durch das Volk rührt. Es ist also daran festzuhalten, daß es gerade Aufgabe einer demokratischen Normenkontrollehre ist, die verfassungsgerichtliche Interpretations75 Vgl. zum ganzen Vorländer, 25 f. und Ebsen, 179 ff., der solche theoretischen Ansätze, die die Verfassungsgerichtsbarkeit „als autonome(n) Gegenspieler des demokratischen Prozesses" denken, „dualistisch" nennt und kritisiert (ebd. 186ff.). Ebsen selbst wird aber von einer solchen Denkweise beeinflußt, indem er das BVerfG im Anschluß an Häberle als verfassungsentbundenen „Regulator" des politischen Prozesses ansieht (ebd. 228). 76 Dazu im zweiten Teil unter III, 1. 77 Vgl. Massing III, 52: „Funktionen, die der Beratung parlamentarischer Körperschaften vorbehalten waren, sind an exekutive Instanzen übergegangen. . . , mögen diese auch - scheinbar interessenneutral - als Dritte Gewalt firmieren." Vgl. ferner Massing II, 134: „Verfassungsrechtliche Postulate, die darauf hinauslaufen, dem Bundestag die Rolle der politischen Führung der gesamten Politik zu erobern,.. . müssen sich . . . den Vorwurf einhandeln, auf Donquichotterien aus zu sein."
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tätigkeit an einen umfassenden Verantwortungszusammenhang zu binden. Dadurch wird freilich diese Tätigkeit begrenzt und beschränkt, was zu einer Rückgewinnung politischer Macht für den parlamentarischen Gesetzgeber führt. Da dieser trotz der festgestellten Probleme des heutigen Parlamentarismus immer noch der am ehesten kontrollierbare Machtträger in den modernen Demokratien westlicher Prägung ist, d. h. der Hauptträger politischer Verantwortung und demokratischer Legitimation, wäre dies unter Demokratiegesichtspunkten wünschenswert. Eine solche Entwicklung wäre um so mehr positiv zu beurteilen, wenn sie an eine Parlamentsreform und noch wichtiger - an die Herstellung zusätzlicher Möglichkeiten demokratischer Partizipation der Bürger am Verfahren politischer Willensbildung gekoppelt werden könnte.
5. Die Verlagerung politischer Verantwortlichkeit Die hohe öffentliche Akzeptanz in Verbindung mit dem Fehlen, wegen der Justizförmigkeit, funktioneller Verantwortung (in dem oben unter III. 2 am Anfang beschriebenen Sinne) bilden die Ursachen eines anderen, sehr gewichtigen Problems im Zusammenhang mit Normenkontrolle und Demokratie, nämlich des Problems der Verlagerung politischer Verantwortlichkeit von den politischen Instanzen auf das BVerfG. Das geschieht auf mehreren Wegen. Schon die Nichtbeanstandung eines Gesetzes, das eine bestimmte politische Konzeption zum Ausdruck bringt, verleiht dieser Konzeption Autorität und erleichtert daher ihre Durchsetzung. Wenn die Verfassungsmäßigkeitsprüfung von einem Gericht mit dem Ansehen des BVerfG durchgeführt und wenn die als Maßstab dienende Verfassung als „Wert "ordnung verstanden wird, dann hat das erfolgreiche Bestehen dieser Prüfung nicht nur rechtlich, sondern darüber hinaus auch politisch eine bestätigende Funktion: Ein als verfassungsmäßig geltendes Gesetz gilt zugleich als „Wert"-voll oder zumindest nicht „Wert"-widrig. Die Feststellung, die E. Kaufmann noch im Jahre 1950 zu machen imstande war, daß nämlich „die nach Rechtsnormen erfolgte Entscheidung eines Verfassungsgerichts . . . nichts über die politische Weisheit der bestrittenen Maßnahme" besage, welcher ein Verfassungsbegriff zugrunde lag, demnach „das Verfassungsrecht überwiegend Ermächtigungsnormen und Verfahrensnormen" enthalte 78 , diese Feststellung kann unter heutigen Umständen keine Relevanz mehr haben. Gerichtsautorität und Entlastungsfunktion des justizförmigen Verfahrens wirken nicht nur zugunsten des Gerichts, sondern auch des Gesetzgebers 79, der sich
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Kaufmann, 5 f. Vgl. Dolzer I, 98; Schlothauer, 76f.
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dadurch gegen den Druck mächtiger sozialer Interessengruppen besser durchsetzen kann: Der Rechtsstaat (oder, vielleicht präziser, Verfassungsgerichtsstaat) „schafft die Bedingungen dafür, daß durch die Begrenzung staatlicher M a c h t . . . seine politischen Kosten . . . minimiert werden können" 8 0 . Es wäre also nicht ganz unberechtigt, von einer Verfälschung der tatsächlichen politischen und sozialen Gleichgewichte zu sprechen, d. h. : der Verfälschung des öffentlichen (zumindest dem Anspruch nach!) demokratischen Prozesses politischer Willensbildung. An konkreten Beispielen fehlt es nicht: So bemerkte etwa D. Kommers, daß das Gericht mit dem Grundlagenvertragsurteil am Ende zur Legitimierung der Ostpolitik beigetragen hat 8 1 . Selbst Bundeskanzler W. Brandt hatte am 24. Januar 1974 vor dem Bundestag die Bestätigung des Grundlagenvertrages vom Bundesverfassungsgericht hervorgehoben und zugleich Versuche der Opposition zurückgewiesen, aus Passagen oder Sätzen der Begründung Bestätigungen ihrer Politik herauszulesen. Die K r i t i k am Bundesverfassungsgericht aus diesem Grunde, so Brandt, sei unsinnig 82 . Der Versuch der Regierung, eine Entscheidung als günstig zu präsentieren, die ihr alles andere als angenehm war, da sie ihr in einem außerordentlich wichtigen Bereich die zukünftigen Leitlinien ihrer Außenpolitik bis in die Einzelheiten hinein restiktiv vorgeschrieben hatte, zeigt deutlich, welche materielle Legitimierung eine Verfassungsgerichtsentscheidung für das nicht beanstandete Gesetz mit sich trägt, obwohl ja gerade diese Entscheidung primär nicht materiell, d. h. wegen ihres Inhalts, sondern durch das vorangegangene justizförmige Verfahren legitimiert ist! Ein anderes Beispiel ist das Volkszählungsurteil: Eine massive, auch „solche(n) Teilen der Bevölkerimg", die als „loyale Staatsbürger" gelten können 83 , umfassende Boykottbewegung gegen die für den 27. April 1983 vorgesehene Volkszählung war entstanden. Erst daraufhin wurden Verfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht erhoben. Die Volkszählung wurde durch einstweilige Anordnung am 13. April 1983 bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde ausgesetzt84, am 15.12.1983 wurden durch den Ersten Senat des BVerfG mehrere Vorschriften des Volkszählungsgesetzes, das die Volkszählung für den 27. April 1983 vorgesehen hatte, für nichtig erklärt 8 5 . Es ging um Vorschriften, die die Verwendung der 80 Massing V, 411. Vgl. auch, in bezug auf das amerikanische Supreme Court, Scharpf II, 533. 81 Kommers, 292. 82 Zitiert nach Kommers, 291. 83 BVerfGE 65, 1, 3. Gegen diese Unterscheidung von (a priori!) „loyalen" und unloyalen Teilen der Bevölkerung gelten freilich dieselben Bedenken wie gegen die Freund-Feind-Konstruktion. 84 BVerfGE 64, 67 ff. 85 BVerfGE 65, 1, 3.
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Angaben der Volkszählung (§ 9 Abs. 1) und ihre Übermittlung an oberste Bundes- und Landesbehörden (§ 9 Abs. 2), Gemeinden und Gemeindeverbände (§ 9 Abs. 3) betrafen. Die übrigen Vorschriften des Volkszählungsgesetzes blieben jedoch unbeanstandet. Dazu wurde angemerkt, daß mit dem Gang nach Karlsruhe „die übereifrigen Juristen ein Eigentor geschossen haben, das dem eigentlichen Widerstand die Luft abdreht: . . . Ab 1984 haben w i r dann die Volkszählung mit Make-up, die aber im wesentlichen dieselbe Datenmenge zur Planbarkeit und Kontrolle enthält" 8 6 . Das Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts hat also die Volkszählung als solche durchsetzbar gemacht, wenn auch unter Verlust von manchen Einzelvorschriften, die von Bedeutung waren: Es hat insgesamt die „Zähmung des Widerstandes" 87 bewirkt. Die Ersetzung wirklicher Auseinandersetzungen im laufenden politischen Prozeß durch symbolische Auseinandersetzungen vor Gericht wirkt also manipulierend und integrierend 88 : Die Grenzen, die den möglichen politischen Entscheidungen durch die objektiven Rahmenbedingungen gezogen sind, werden bis zu einem gewissen Grade verschoben, die Leistungsfähigkeit des politischen Systems insgesamt wird erhöht. Unter Demokratiegesichtspunkten ist das zum Teil erfreulich, da auch die Leistungsfähigkeit des demokratischen Gesetzgebers erhöht wird 8 9 , zum Teil aber bedenklich, da die „Demokratie hinfort durchs Nadelöhr der Justiz muß" 9 0 . Ferner wäre es vielleicht auch für den demokratischen Gesetzgeber besser, von Zeit zu Zeit eine Niederlage zu erfahren in dem Sinne, daß sich ein Gesetz nicht durchsetzen könnte. Dann würde sich der Gesetzgeber seiner Grenzen bewußter und die „Qualität" der Gesetze (verstanden als Funktionsfähigkeit unter bestimmten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen) könnte vielleicht verbessert werden. Das hohe Ansehen des Bundesverfassungsgerichts führt auch zu dem Ergebnis, daß die politischen Instanzen keinen Mut mehr haben, sich mit den Rechtsauffassungen des Gerichts auseinanderzusetzen. Die politischen Kosten einer solchen Auseinandersetzung w i l l niemand bezahlen. Es ist freilich nicht schlimm, wenn die Entscheidungen des Gerichts respektiert werden: doch geht es um mehr. Nicht nur werden die Entscheidungen vollstreckt, sie werden vielmehr ohne weitere Diskussion und Auseinanderset86
In der Berliner „taz", zitiert nach Massing VII, 22 f. Massing VII, 22. 88 Charakteristisch Tribe 48 (der aber diese Auffassung der Kritiker des Supreme Court nicht teilt): "The most far-reaching decisions of the Court are said to sap the body politic of the w i l l to seek truly meaningful reform: symbolic victories in the Court replace real victories in life." 89 Es wurde sogar den politischen Parteien vorgeworfen, sie selbst schöben dem BVerfG politische Entscheidungen zu, „um dem Druck starker Interessengruppen auszuweichen", Gerontas, 146,149. Vgl. Seifert, 120; Massing III, 53; Gusy, 262. 90 Massing VII, 26; V, 412. 87
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zung zur Grundlage jeder zukünftigen Politik in dem entsprechenden Bereich gemacht. Die Diskussion bewegt sich nicht mehr um die Frage, welche Politik zweckmäßiger ist, sondern darum, welche den zumeist langen, mit obiter dicta und Einzelheiten überladenen, oft recht komplizierten und dunklen Entscheidungen des BVerfG besser entspricht. Das wäre an sich ebenfalls nicht bedenklich: Es ist ja Sinn der Verfassung, gewisse politische Fragen ein für allemal verbindlich zu beantworten und sie von der weiteren politischen Auseinandersetzung abzuschneiden. Das Problem liegt darin, daß es nicht mehr diskutiert wird, welche Fragen in welcher Weise von der Verfassung abgeschnitten sind, sondern welche in welcher Weise vom Verfassungsgericht abgeschnitten sind 9 1 ! R. Smend hat diesen Vorgang schon im Jahre 1962 zum Ausdruck gebracht, als er sagte, daß „das Grundgesetz nunmehr praktisch so gilt, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt" 92 . Unter methodischer Hinsicht könnte das als unerträglicher Dezisionismus erscheinen (so war es aber von Smend selbst wahrscheinlich nicht gemeint). Empirisch ist es allmählich zu einer unwiderlegbaren Tatsache geworden. Der „Wille zur Verfassung" 93 wird durch den Willen zur Verfassungsgerichtsentscheidung ersetzt. Es sei hier daran erinnert, daß die ersten wichtigen geschriebenen Kodifizierungen des geltenden Rechts auf europäischem Gebiet, die in Athen mit Dracon (624 a. D.) und Solon (594 a. D.) stattfanden, das Ergebnis des Drucks der unteren sozialen Schichten waren, die der Willkür der aus den obersten Schichten herkommenden Richter entgegenwirken wollten, die bis zu diesem Zeitpunkt aufgrund ungeschriebenen Rechts judizierten, welches nur sie selbst kannten. Man wollte damit gleichsam die Gesellschaft der Rechtsinterpreten erweitern. Heute kann man in der Bundesrepublik (und vielleicht noch mehr in den Vereinigten Staaten) die gegenläufige Tendenz beobachten. Das Grundgesetz wird zum Hintergrund verschoben, die Rechtsprechung tritt in den Vordergrund. Die Gesellschaft der Verfassungsinterpreten wird zunehmend geschlossen bis zu dem Punkt, an dem nur noch die Verfassungsrichter als Verfassungsinterpreten gelten können. Am Ende der Entwicklung stünde die Auflösung des (Verfassungs-)Rechts durch den (Verfassungs-)Richter, der Demokratie durch den Justizstaat: Die politischen Instanzen würden zu Vollstreckungsausschüssen des Karlsruher Orakels 94 . 91 Laut Landfried, 84, hatten im Frühjahr 1983 acht von den sechzehn amtierenden Verfassungsrichtern den Eindruck, daß die Abgeordneten schon vor der parlamentarischen Entscheidung mögliche Einwände des Verfassungsgerichts antizipieren, und zwar im Sinne eines „zu weitgehenden" (sie!) „Gehorsams" aus Mangel an politischem Mut (!). 92 Smend II, 330. Vgl. den Spruch des ehemaligen Chief Justice des Supreme Court der USA C. E. Hughes: "We are under a constitution, but the constitution is what the judges say it is" (Hughes, 139). 93 Hesse I, 12.
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Auch hier fehlt es nicht an konkreten Beispielen: Das Radikalenurteil des Zweiten Senats 95 ist auch unter diesem Gesichtspunkt prototypisch 96 . Wegen des beim BVerfG anhängigen Prozesses wurden die Beratungen eines Koalitionsentwurfs für ein neues Beamtenrechtsrahmengesetz und eines Gegenentwurfs des Bundesrates unterbrochen, um die (am 22. Mai 1975 getroffene) Entscheidung abzuwarten. Die weitere Behandlung des Problems durch die gesetzgebenden Körperschaften, durch Regierung, Verwaltung und Justiz, war im wesentlichen von dieser Entscheidung geleitet, so daß die substantiellen Argumente in den Hintergrund traten 97 . Zugleich war die eigentliche verfassungsrechtliche Problematik nicht zur Sprache gekommen: Inwieweit nämlich die Entscheidung des Zweiten Senats verfassungsmäßig war und, wenn nicht, welche Lösungen verfassungsrechtlich unbedenklich gewesen wären. Wenn eine solche verfassungsrechtliche Diskussion hätte stattfinden können, dann hätte man vielleicht auch einer verfassungsrechtlich akzeptierbaren Lösung näherkommen können, als dies die ziemlich davon entfernte verfassungsgerichtliche Entscheidung tut. Es sei hier an die New-Deal-Zeit erinnert, in der sich F. D. Roosevelt mit seiner Politik gegen den kurzsichtigen Widerstand des Supreme Court durchsetzen konnte, obwohl am Anfang viele New Deal-Gesetze gescheitert waren. Er war aber bereit, die politischen Kosten hinzunehmen und nicht vor dem Gericht zu kapitulieren 98 . Die Autorität des Bundesverfassungsgerichts läßt aber ein ähnliches Unternehmen den Regierenden in Bonn als zu risikenbehaftet erscheinen. Zusamenfassend: Die hohe öffentliche Akzeptanz des BVerfG vermag die sich aus dem Demokratieprinzip ergebenden Bedenken gegen die Normenkontrolle nicht zu zerstreuen. Im Gegenteil: Sie verstärkt diese Bedenken, indem sie neben der verfassungsrechtlichen (insoweit das BVerfG letztverbindlich über die Gültigkeit von Gesetzen entscheidet) auch zu einer ideologischen Abhängigkeit der politischen Instanzen 99 vom Bundesverfassungsgericht führt. Sie benötigen die vom BVerfG „verliehene" Akzeptanz, um den Mangel an eigener Akzeptanz zu kompensieren; sie sind wegen dieser
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Vgl. Schuppert, 38; Roellecke I, 41. BVerfGE 39, 334ff. 96 Vgl. die Darstellung bei Bryde, 172 f. und Landfried, 75 ff. 97 Vgl. z. B. die Ausführungen des Abgeordneten Wendig (FDP) vor dem Bundestag: (Es) „ w i r d sehr oft die Rede davon s e i n , . . . ob und i n w i e w e i t . . . die vorliegenden Entwürfe . . . dem Beschluß des BVerfG entsprechen oder nicht. Die starke Stellung des BVerfG . . . führt dazu,. . . Rechtsprechung an die Stelle von Politik zu setzen". Zitiert nach Landfried, 80. 98 Vgl. die Darstellung bei Dopatka II, 78ff. 99 Damit ist freilich nicht gesagt, daß das BVerfG „unpolitisch" im Sinne einer dichotomischen Trennung von Recht und Politik ist. Der Ausdruck wird nur als Inbegriff für Regierung, Parlament, Verwaltung und die politischen Parteien im Bund und in den Ländern benutzt. 95
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fehlenden Akzeptanz fast zu blindem Gehorsam gegenüber dem Bundesverfassungsgericht verurteilt. 6. Möglichkeiten demokratischer Rechtfertigung der Normenkontrolle Dem Gedanken des „responsible government" 100 ist nicht nur die K r i t i k an der demokratischen Rechtfertigung der Normenkontrolle zu entnehmen, sondern auch ihre prinzipielle Begründung. Denn jenem Gedanken liegt die Vorstellung einer pluralistischen, ja sogar polarisierten, komplexen Gesellschaft zugrunde, welche sich in einem demokratischen Staat organisiert. Gesellschaftliche und politische Pluralität, Polarität und Komplexität erscheinen demnach als „Funktionsbedingungen demokratischer Willenbildungs- und Entscheidungsverfahren" 101 . Als absolute Majoritätsherrschaft kann auf solcher Grundlage die Demokratie nicht konzipiert werden 1 0 2 . Es bedarf vielmehr der Absicherung jener Funktionsbedingungen auch gegen den Mehrheitswillen. „Demokratie ohne Kontrolle ist auf die Dauer unmöglich", wie H. Kelsen bereits während der Weimarer Republik bemerkte 103 . Jene Kontrolle muß nicht denknotwendig eine Normenkontrolle oder überhaupt eine verfassungsgerichtliche sein. Die Beispiele Englands und Frankreichs während der Dritten und der Vierten Republik reichen als Beleg dafür aus. Die Kontrolle braucht nicht einmal durch staatliche Einrichtungen ausgeübt zu werden: Ein funktionelles Äquivalent dafür könnte unter Umständen auch die Ergänzung der demokratischen Repräsentation auf zentraler politischer Ebene durch plebiszitäre und/oder partizipatorische Elemente auf verschiedenen anderen Ebenen darstellen. Das Grundgesetz hat sich jedenfalls für ein starkes Verfassungsgericht und für eine umfassende Normenkontrolle entschieden. Die Verfassungsgerichtsbarkeit soll also „die Funktion eines wirksamen Schutzes der Minorität gegen Übergriffe der Majorität" leisten. Die Verfassungsmäßigkeit ist „ein eminentes Interesse der Minorität" 1 0 4 . Darüber hinaus wurde von H. Ridder vorgeschlagen, das Bundesverfassungsgericht solle sich selbst „als staatlich institutionalisiertes Instrument von Opposition" verstehen und das leisten, „was die . . . belastete parlamentarische Opposition nicht mehr leisten könnte" 1 0 5 . Dies ist aber gerade das, 100
Dazu unter IV, 1. Dazu H.-P. Schneider VI, 374ff. !02 Vgl. Bäumlin, Sp. 362f., 368. !03 Kelsen V, 76. Vgl. auch Kriele II, 778. !04 Kelsen II, 80f. Vgl. ferner Merkl, 104; Steffani, 380ff.; Stern II, 955; Kägi I, 185; Hesse II, 201; Korinek, 46; Scheuner V, 479f.; Ebsen, 340ff. los Ridder 1,331. 101
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was das Bundesverfassungsgericht nicht leisten darf. Die Kritik von G. Roellecke an Ridder kann keineswegs als unberechtigt angesehen werden: „Die Macht der Regierung i s t . . . so demokratisch legitim wie der Ausschluß der Opposition aus der Macht. Das BVerfG entschiede . . . nicht gerechter, sondern verstieße gegen ein Grundgesetz der Demokratie, wenn es der Opposition als Ausgleich für den Regierungsbonus einen Oppositionsbonus gewährte" 1 0 6 . Man kann allgemeiner feststellen, daß die Existenz einer gerichtlichen Normenkontrolle die Schutzfunktion der Verfassung fördert. Dies gilt nicht nur gegenüber politischen Minderheiten, sondern auch dem einzelnen Bürger gegenüber 107 . Das Verfassungsprozeßrecht ist eine Ergänzung der ihm eingeräumten demokratischen Partizipationsrechte. Es bleibt aber immer eine Ergänzung zu diesen Rechten, die die primären Mitwirkungsmöglichkeiten an der politischen Willensbildung bilden (Wahlrecht, Teilnahme an Interessenverbänden und Parteien, an der öffentlichen Meinungsbildung usw.), wie aus Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG sichtbar wird. Darüber hinaus soll die Normenkontrolle Berechenbarkeit und Kontinuität schaffen 108 , die in einer bürgerlichen Gesellschaft unentbehrliche Voraussetzungen des wirtschaftlichen Verkehrs und der Reproduktion der herrschenden Produktionsverhältnisse sind 1 0 9 . Sie sind aber, darüber hinaus, auch Voraussetzungen des Fortbestehens eines „normalen" politischen Lebens, Voraussetzungen der Rationalisierung des Bürgerkriegs: Wenn alles, bis ins Grundsätzliche hinein, immer erneut in Frage gestellt wird und das einzige, worauf sich die sozialen Gegner einigen, ein bestimmtes Verfahren der Konfliktbereinigung ist, dann ist auch dieses Verfahren nicht gesichert. Die unterlegene Partei wird oft versucht sein, andere Mittel zu verwenden, um sich durchzusetzen. Das Ziel scheint so wichtig zu sein, daß man manchmal bereit ist, sich auch unerlaubter Mittel zu bedienen. Die Existenz eines inhaltlichen Grundkonsenses, wie er etwa in den Grundrechten zum Ausdruck kommt, ist ein wirksames Hindernis gegen solche Entwicklungen 1 1 0 . Ein Maximum an Berechenbarkeit und Kontinuität boten die großen Kodifizierungen des Strafrechts und vor allem des bürgerlichen Rechts, die 106
Roellecke II, 15. Vgl. Ebsen, 321 ff. 108 Vgl. Lerche I, 699f.; F. Müller V, 122. Dies ist freilich eine Funktion des Rechts insgesamt. Bezüglich der Normenkontrolle gilt es aber in gesteigertem Maße, da sie, zumindest dem Anspruch nach, die Geltung der Verfassung als eines herausgehobenen, nur unter erschwerten Voraussetzungen abänderbaren Normengefüges sichert. 109 Vgl. etwa F. Müller IV, 15: Der „Vorsprung" (des Rechts) „an Formalität und Geltung" sei „ein Stabilisierungsfaktor ersten Ranges und eine unersetzliche Voraussetzung komplexer Gesellschaften vom Typus der Industriegesellschaft". no Vgl. Vorländer, 262ff., 271 ff. Charakteristisch etwa ebd. 268: „Der Legalitätsglaube legitimiert nicht mehr per se". 107
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primär im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts in vielen europäischen und nichteuropäischen (ζ. B. Japan) Ländern stattgefunden haben. Es ging um Tausende von Artikeln, die eine sehr große Zahl von komplexen Problemen mit Anspruch auf Vollständigkeit regeln sollten. Der Zeitpunkt ist nicht zufällig: Es war gerade während der industriellen Revolution oder kurz danach, d. h. als sich die kapitalistische Produktionsweise erstmals durchsetzte. Es ist aber auch nicht zufällig, daß keine Verfassung, zu keiner Zeit und an keinem Ort dieser Erde, diese Kodifikationsform hatte. Dies nicht wegen der fehlenden Materie: Die Grundrechte könnten detaillierter ausgestaltet sein und es könnten gewisse Organisationsnormen (ζ. B. die des BVerfGG, der Wahlgesetze, des Parteiengesetzes, der Geschäftsordnung des Bundestages) aufgenommen werden. Dies auch nicht wegen der kurzen Zeit der Verfassungsgebung: Die deutsche und die amerikanische Verfassung können ständig erweitert werden. Andere Faktoren sind ausschlaggebend: einerseits der Geltungsvorrang, der die Verfassungsnormen beständiger als die anderen Rechtsnormen erscheinen läßt; andererseits der Regelungsgegenstand, d. h.: der politische Prozeß, der sich rasch und radikal abändert. Wenn aber die geschriebene Verfassung keine Kodifikation im Sinne einer detaillierten, umfassenden Regelung sein kann, dann darf sie auch nicht als Ermächtigung und Rohstoff für den Ausbau einer solchen Kodifikation durch Richterrecht behandelt werden 1 1 1 . Die Durchnormierung, die bereits durch (Verfassungs-)Gesetzesrecht in diesem Bereich unerträglich ist, ist viel unerträglicher, wenn sie durch (Verfassung-)Richterrecht stattfindet. Es bestehen also Möglichkeiten, die Normenkontrolle zwar verfassungsrechtlich zu rechtfertigen; dies aber nur innerhalb gewisser Grenzen, nicht dagegen in uneingeschränktem Maße. 7. Konsequenzen aus der Demokratieproblematik für die Normenkontrolle Wenn die skizzierte Demokratieproblematik für die Methode der Verfassungsinterpretation im Rahmen der Normenkontrolle (mit-)bestimmend sein soll 1 1 2 , dann fragt es sich, welche konkreten Folgerungen daraus gezogen werden können. Die wichtigste Konsequenz, die sich aus dem Demokratieprinzip im Hinblick auf die Methode der Normenkontrolle ergibt, ist das Gebot, dem verfassungsrichterlichen Dezisionismus entgegenzuwirken und einen umfassenden Verantwortungszusammenhang richterlicher Machtausübung methodisch herzustellen, wobei sich prinzipiell die Gesamtheit der Bürger 111
Dagegen Kriele I, 239. Ähnlich der hier vertretenen Auffassung Zweigert, 72. 112 Vgl. unter IV, 2.
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als letzte kontrollierende Instanz herausstellen würde. Dies könnte durch die Orientierung der Methode der Verfassungsinterpretation bei der Normenkontrolle am Konsens jener Gesamtheit der Bürger erzielt werden. Damit könnte sich die Ausübung jener Macht dem Modell des „responsible government" etwa annähern. Mit anderen Worten: Aufgabe ist, den methodisch relevanten Konsens herauszuarbeiten, der als Leitfaden für die Rechtsfindungen benutzt werden soll. Es ist ferner eine verbreitete Erkenntnis, beinahe ein gemeinsamer Topos der zeitgenössischen Methodendiskussion, daß man bei der Interpretation von Rechtsnormen ohne Wertungen nicht auskommt. Diese Wertungen dürfen aber nicht höchstpersönliche Wertungen des Richters sein, sondern sollen vielmehr von einem möglichst breiten Konsens getragen werden. Nicht das verfassungsgerichtliche Normenkontrollverfahren, sondern in erster Linie das vorangegangene Verfahren demokratischer politischer Willensbildung ist der Ort, an dem grundsätzlich politische und soziale Wertungsdifferenzen aufeinander treffen und zu einem Konsens geführt werden müssen. Die Vorstellung, daß der Verfassungsrichter damit zum „Mund des Konsens" werden könnte, wäre freilich unrealistisch und irreführend. Es wird immer ein Ermessensspielraum für den Richter verbleiben; insofern w i r d seine Tätigkeit immer Ausübung politischer Macht darstellen 113 . Zum anderen wird freilich der maßgebende Konsens nicht das Ergebnis einer herrschaftsfreien Kommunikation darstellen, sondern die bestehenden gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen in sich aufnehmen 114 . Immerhin ist aber ein solches Verfahren konsensorientierter richterlicher Willensbildung demokratischer im Vergleich zu einer dezisionistischen. Eine weitere Konsequenz ist, daß das Bundesverfassungsgericht nicht über den ihm vorgelegten Fall hinaus entscheiden darf. Zugleich sollten auch „obiter dicta" so weit wie möglich vermieden werden: Denn das alles führte zu einer von der Schutzfunktion der Verfassung nicht gedeckten Bindung des politischen Prozesses an Verfassungsgerichtsentscheidungen. Alles, was bei einer Entscheidung dahingestellt bleiben kann, muß also zugleich dahingestellt bleiben. Auch unter diesem Aspekt ist das Radikalenurteil charakteristisch: Die Entscheidung wurde aufgrund einer vom Verwaltungsgericht Schleswig vorgelegten Frage getroffen. Die Frage lautete, ob die schleswig-holsteinische Regelung für die Ernennung zum Referendar nach der ersten juristischen Staatsprüfung (§25 Abs. 3 der Verordnung über die Juristenausbildung i.V.m. § 9 Abs. 1 Nr. 2 des Landesbeamtengesetzes), daß nämlich die Kandidaten die Gewähr dafür bieten sollen, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes
113 114
Vgl. dazu unter III, 2. Vgl. dazu im zweiten Teil unter II, 2.
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einzutreten, mit dem Grundgesetz vereinbar ist 1 1 5 . Das Bundesverfassungsgericht hat darüber hinaus festgestellt, daß dies von Verfassungs wegen nicht nur erlaubt, sondern sogar erforderlich ist: „Eine von der Verfassung geforderte Voraussetzung", hieß es im Radikalenurteil. Mehr noch: Die zuständigen Behörden haben die nicht nur mit dem Grundgesetz vereinbaren, sondern von ihm gebotenen entsprechenden einfachgesetzlichen Regelungen „ernst zu nehmen und sie mit diesem Inhalt anzuwenden" 116 . Das BVerfG hat also mehr entschieden, als es entscheiden sollte. Eine dritte Konsequenz ist, daß das Bundesverfassungsgericht insbesondere dafür zu sorgen hat, daß der demokratische Prozeß aufrechterhalten bleibt 1 1 7 . Grundlegend in dieser Richtung ist das Lüth-Urteil des Ersten Senats (15.1.1958): Dort wurde zwischen dem Gebrauch des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG (Freie Meinungsäußerung) „zum Zwecke privater Auseinandersetzungen" und jenem, in welchem „der Redende vielmehr in erster Linie zur Bildung der öffentlichen Meinung beitragen w i l l " , unterschieden. Je mehr es um den zweiten Fall geht, desto mehr muß der Schutz eines persönlichen Rechtsguts, das von der Meinungsäußerung berührt wird, zurücktreten. Es spricht hier eine „Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede" 1 1 8 . Deswegen sollte strenger am Maßstab einer Reihe von Verfassungsvorschriften, die sich als unmittelbar demokratiebezogen erweisen, kontrolliert werden 1 1 9 . Eine vierte Konsequenz aus dem Demokratieprinzip betrifft die Objektivierung der Grundrechte: Übermäßige gesellschaftliche Machtkonzentrationen in den Händen von wenigen Personen könnten unter Umständen die Wahrnehmungschancen der rechtlich vorhandenen politischen Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger gefährden und dadurch auch die Funktionsfähigkeit der demokratischen Staatsform in Frage stellen. Deswegen kann in gewissem Umfang die Deutung der Grundrechte nicht nur als Abwehrrechte gegen den Staat, sondern darüber hinaus auch als objektive Normen, die die Rechtsbeziehungen von Individuen miteinander beeinflussen können, eine Stütze im Demokratieprinzip des Grundgesetzes finden 1 2 0 .
us BVerfGE 39, 334, 339. 116 BVerfGE 39, 334, 351 f. n 7 Vgl. etwa die amerikanische „preferred freedoms "-Doktrin; dazu Ehmke I, 76 f.; Haller I, 553f. ne BVerfGE 7, 198, 212. h 9 Vgl. dazu i m zweiten Teil IV. 5. Vgl. H.-P. Schneider VI, 381: „Die politischen Freiheitsrechte (Art. 5, 8, 9, 17, 21, 38 G G ) . . . rücken . . . i n den Mittelpunkt einer am Leitbild der Selbstbestimmung des Volkes orientierten Demokratietheorie", Smend I, 313ff., insbes. 319, und den Überblick über die „demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie" bei Böckenförde I, 1534 f. 120 Vgl. H.-P. Schneider VI, 382 m. w.N.
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V. Normenkontrolle und sozialer Rechtsstaat 1. Der Rechtsstaat als verfassungsrechtliches „Prinzip" Die Verfassungsgerichtsbarkeit wurde von R. Smend als „abschließende Krönung" des „rechtsstaatlichen System(s) des Grundgesetzes" bezeichnet1. Wenn damit gemeint ist, daß dadurch neue und eventuell besonders wirksame Rechtswege eröffnet werden, dann ist dem nichts zu erwidern. Wenn aber damit gemeint ist, Verfassungsgerichtsbarkeit sei eine Konkretisierung oder Vollendung eines „Rechtsstaatsprinzips", welches im Grundgesetz zu finden sei, dann ist zu prüfen, was dieses „Prinzip" vorschreibt. Der Ausdruck „Rechtsstaat" wird vom Grundgesetz in Art. 28 Abs. 1 gebraucht, um die Länder zu binden, ihre verfassungsmäßige Ordnung dementsprechend auszugestalten. Dabei öffnen sich zwei Auslegungsmöglichkeiten: Entweder geht es um ein selbständiges Prinzip wie ζ. B. Demokratie und Bundesstaat, die nicht nur in Art. 28 Abs. 1, sondern auch in Art. 20 Abs. 1 GG, welcher die grundlegenden, unabänderbaren (Art. 79 Abs. 3 GG) Prinzipien der Verfassungsordnung der Bundesrepublik vorschreibt, enthalten sind, oder aber es geht nur um eine bestimmte Zahl von Verfassungsnormen, die unter dem Stichwort „Rechtsstaat" verstanden werden (Rechtsstaat als Sammelbegriff) 2 . Es wurde schon dargestellt 3 , daß ein Verfassungsprinzip einen eigenen Inhalt, d. h. einen von den speziellen Vorschriften, die das Prinzip konkretisieren, gewissermaßen unabhängigen Gehalt haben muß. Ansonsten ginge es nur um die systematische Auslegung mehrerer Vorschriften, nicht um ein Prinzip. Es ist aber zweifelhaft, ob dies beim Rechtsstaatsprinzip der Fall ist. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bemüht sich nicht um eine Definition des Rechtsstaats, sondern versucht nur Elemente zu benennen, die den Rechtsstaat ausmachen4. In der Literatur wurden verschiedene Definitionen versucht, wobei die zentrale Idee eine Mäßigung der Staatsgewalt zu sein scheint 5 , die durch das „Recht" 6 oder die „Rechtsordnung" 7 oder die „Verfassung" und die „verfassungsmäßig erlassenen Gesetze"8 zustande kommt. Insoweit ergibt sich aber nichts, was nicht schon in Art. 20 ι Smend II, 331. Die herrschende Meinung geht dagegen davon aus, daß es um ein wirkliches Prinzip geht. Repräsentativ etwa Maunz / Zippelius, 90. 3 Siehe oben IV, 1. 4 Das Rechtsstaatsprinzip „bedarf . . . der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten" (BVerfGE 7, 89, 92f.). Vgl. auch Hesse II, 76f. 5 So bereits W. v. Humboldt. 6 H.-P. Schneider IV, 22. 7 E. R. Huber II, 83. β Sterni, 781. 2
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Abs. 3 GG gefunden werden kann. In einem Versuch, das staatliche Handeln auch inhaltlich zu bestimmen, wird darüber hinaus auf Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit hingewiesen 9 . Das alles ergibt sich aber ebenfalls aus geschriebenen Verfassungsnormen, nämlich aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 (Gesetz und Recht) GG. Die Behauptung, Rechtsstaat meine die „Herrschaft der Gesetze" 10 oder den „Primat des Rechts" 11 , kann die Frage nach dem Gehalt des sog. „Rechtsstaatsprinzips" nicht beantworten. Die Begrenzung staatlicher Macht durch Gesetze ist kein Abbau der Herrschaft von Menschen, sondern eben nur eine Begrenzung dieser Herrschaft. Herrschaft ist ein soziales Verhältnis, ein sozialer Prozeß; sie kann nur von Menschen und gegenüber anderen Menschen ausgeübt werden, auch wenn sie durch soziale und ökonomische Gegebenheiten bedingt ist. Gesetze können die Herrschaft und ihre Beschränkung nur ausdrücken. Herrschen können sie nicht 1 2 . Welche rechtliche Bedeutung die Gesetze für die Ausübung staatlicher Macht haben, w i r d jedenfalls im Grundgesetz selbst vorgeschrieben (z. B. Art. 20 Abs. 3 und Art. 80 Abs. 1 GG). Das Wort von der „Herrschaft der Gesetze" ist also mehr politische Lyrik denn rechtliche Aussage. Von den sog. „Elementen" des Rechtsstaatsprinzips 13 sind die meisten mit speziellen Verfassungsvorschriften identisch, so ζ. B. die Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG), die Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG), der umfassende Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG), die Grundrechte (Art. 1 - 1 9 GG), die Unabhängigkeit der Gerichte (Art. 97 Abs. 1 GG) und die Begrenzung der Normsetzungsbefugnis der Exekutive (Art. 80 Abs. 1 GG) 1 4 . Das Verbot rückwirkender Gesetze, das Gebot der Rechtssicherheit und das Erfordernis der Bestimmtheit der Gesetze sind aus Art. 2 Abs. 1 GG ableitbar. Wenn unter „verfassungsmäßiger Ordnung" als Schranke des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG alle „Normen, die formell und materiell der Verfassung gemäß sind", verstanden werden 15 , dann sollten zumindest diese Normen nicht so benutzt werden, daß sie der Einzelperson, die Subjekt des Grundrechts ist („jeder"), keine langfristige Sicherheit und Planungsmöglichkeit bieten. Die oben genannten Grundsätze machen also die Beschränkungen dieses Grundrechts berechenbar und voraussehbar; dies ist eine unerläßliche Voraussetzung für seine Existenz überhaupt.
9 H.-P. Schneider IV, 22; Stern I, 781. Vgl. auch Scheuner VI, 489f. 10 Schmitt II, 138; Böckenförde III, 84. 11 Hesse IV, 561; Böckenförde III, 84. ι 2 Vgl. F. Neumann II, 23ff.; Arndt III, 1273. 13 Vgl. BVerfGE 30, 1, 24f.; Benda III, 482ff.; Denninger I, lOlff.; Stern I, 784ff.; Herzog I, RdNr. 22ff.; Schmitt II, 125ff. 14 Vgl. bezüglich der Grundrechte die mit der hier vertretenen ähnlichen Auffassung von Meyn, 328ff. is BVerfGE 6, 32, 37 f.
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Es nützte nichts, wenn dieser Raum von rückwirkenden, unbestimmten und unberechenbaren staatlichen Eingriffen jederzeit beeinträchtigt werden könnte. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergibt sich „ i m Grund aus dem Wesen der Grundrechte selbst" 16 , das „Recht auf ein faires Verfahren" 1 7 ergibt sich als Sammelbegriff aus den Prozeßgrundrechten der Art. 101,103 und 104 GG 1 8 . Schließlich ist auch der allgemeine Gesetzesvorbehalt aus Art. 20 Abs. 3 GG ableitbar 19 . Insgesamt kann man also feststellen, daß alle „Elemente" des „Rechtsstaatsprinzips" mittelbar oder unmittelbar auf spezielle Verfassungsvorschriften zurückgeführt werden können und der Verankerung in einem gesonderten „Prinzip" nicht bedürfen. Es gibt jedoch Ansätze in der Literatur, die den Rechtsstaat als Prinzip mit eigenem normativen Gehalt verstehen und behandeln. So versuchte E. Forsthoff, einen formellen Rechtsstaatsbegriff gegen das Sozialstaatsprinzip auszuspielen. Die Gesetzgebung wird von ihm in einem technischen, entpolitisierten Sinne als Vermittlung zwischen der Verfassung und der vollziehenden Gewalt verstanden. Sie sei ferner an die abstrakte, generelle Form des Gesetzes gebunden 20 . Daraus folgen Hindernisse für die sozialgestaltende gesetzgeberische Tätigkeit, die akzeptiert oder sogar erwünscht werden 21 . Die politischen Auswirkungen dieses Verständnisses werden von Forsthoff selbst deutlich gemacht: Er meint, „die rechtsstaatliche Verfassung" sei „an den gesellschaftlichen status quo gebunden" 22 . Den Kern seiner Konzeption bildet freilich der ihr zugrunde liegende Gesetzesbegriff, das abstrakt-generelle Gesetz, das kausal und nicht zweckorientiert ist. Schon früher hatte C. Schmitt die Rechtfertigung dieses „rechtsstaatlichen" Gesetzesbegriffs unternommen. „Die Gleichheit vor dem Gesetz ist dem rechtsstaatlichen Gesetzesbegriff immanent, d. h., Gesetz ist nur das, was i n sich selbst der Möglichkeit nach eine Gleichheit enthält, also eine generelle Norm. Wo Spezial-Befehle oder bloße Maßnahmen getroffen werden, liegt infolgedessen kein Gesetz und keine Gleichheit vor 2 3 ." Es handelt sich also um ein formales Gleichheitsverständnis, das die Ungleichheit erst verursacht. Wenn nämlich ungleiche soziale Situationen gleich geregelt werden, wenn eine kompensatorische gesetzgeberische Tätigkeit ausgeschlossen wird, dann wird die Ungleichheit verstärkt.
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BVerfGE 19, 342, 348f. In diesem Sinne Meyn, 329, Anm. 520 m.w.N. BVerfGE 38, 105, 111; 26, 66, 71. Vgl. Benda III, 491 f. BVerfGE 49, 89, 126f. Forsthoff IV, 17 und 19. Forsthoff IV, 20 ff. Forsthoff IV, 18. Schmitt II, 154f. Vgl. aber die K r i t i k von F. Neumann II, 34ff.
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1. Teil: Die Normenkontrolle im Gefüge der Staatsfunktionen
Aufgrund solcher Überlegungen versuchte Forsthoff jedenfalls das Sozialstaatsprinzip als normative Entscheidung verfassungsrechtlichen Ranges abzuschaffen. „Das sozialstaatliche Bekenntnis" habe „keine institutionelle Bedeutung". Es berühre „die strukturelle Verfassungsform der Bundesrepublik" nicht. Sie sei „mit dem Begriff Rechtsstaat erschöpfend bezeichnet". Rechtsstaat und Sozialstaat seien „auf der Verfassungsebene nicht verschmolzen" 24 . Dieser sog. „rechtsstaatliche Gesetzesbegriff", auf den sich die ganze Konzeption gründet, entspricht jedenfalls den heutigen sozio-ökonomischen Bedürfnissen offenbar nicht 2 5 . Das Grundgesetz selbst geht davon aus, daß auch nicht abstrakt-generelle Gesetze erlaubt sind. Deshalb sieht es den Ausnahmefall des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 ausdrücklich vor. Das Bundesverfassungsgericht hat den Begriff „Maßnahmegesetz" daher zu Recht als verfassungsrechtlich irrelevant bezeichnet 26 . Auch W. Kägi hat den Rechtsstaat als verfassungsrechtliches Prinzip verstanden und behandelt. Er versuchte seinerseits, einen materiellen Rechtsstaatsbegriff gegen das Demokratieprinzip auszuspielen 27 . Er meinte, auch das Volk als Verfassungsgeber sei an die Grundwerte des Rechtsstaats gebunden 28 . Die „große Aufgabe unserer Zeit" sei die „Synthese von Rechtsstaat und Demokratie". Das „Postulat des demokratischen Rechtsstaates" lege jedoch „den Akzent auf den Rechtsstaat" 29 . Bei Forsthoff ebenso wie bei Kägi wurde der Rechtsstaat als verfassungsrechtliches Prinzip konstruiert, um Spannungsverhältnisse mit anderen Prinzipien festzustellen und diese Prinzipien dann zu relativieren. Die dem „Rechtsstaat" dabei zugrunde gelegten Konzeptionen sind dem Grundgesetz entweder nicht zu entnehmen (Kägi) oder von ihm ausdrücklich verworfen (Forsthoff). In beiden Fällen kann man also die Gefahren erkennen, die von dem unkontrollierbaren Gebrauch eines fiktiven Verfassungsprinzips ausgehen können. Darüber hinaus ist vor der Vorstellung „allgemeine(r) Grundsätze und Leitideen, die der Verfassungsgeber, weil sie das vorverfassungsmäßige Gesamtbild geprägt haben, von dem er ausgegangen ist, nicht in einem besonderen Rechtssatz konkretisiert hat" und welche die „einzelnen Sätze der geschriebenen Verfassung" angeblich verbinden und „innerlich zusammenhalten" 30 , nachdrücklich zu warnen. In den Fällen, in denen der Verfassungsgeber solche allgemeinen Verfassungssätze vorschreiben wollte, hat er 24
Forsthoff IV, 29. Vgl. Herzog I, RdNr. 44 ff. 26 BVerfGE 25, 371 ff. 27 Kägi II, insbes. 144ff. Vgl. auch die K r i t i k oben III, 2. 2 ® Kägi Π, 146. 2 9 Kägi II, 150. 30 BVerfGE 2, 380, 403. 25
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dies selbst getan und nicht dem Bundesverfassungsgericht überlassen: Solche Sätze sind die in Art. 20 Abs. 1 GG enthaltenen Verfassungsprinzipien. Neben und über ihnen auch andere, ungeschriebene Sätze zu „erkennen", deren Gehalt durch eine unvoraussehbare Fallrechtsprechung festzustellen ist, kommt der Apotheose der bereits beschriebenen Tendenz zur Entrechtlichimg des (Verfassungs-)Rechts 31 gleich. Mysteriöse, uferlose Übernormen (genauer: Scheinnormen), die aus einem ebenso mysteriösen vorverfassungsmäßigen Gesamtbild stammen und zu denen im wesentlichen nur die Verfassungsrichter Zugang haben, beherrschen hic et nunc das verfassungsmäßige Gesamtbild mit allen seinen Einzelheiten. Die Tätigkeit eines Verfassungsgerichts ähnelt unter solchen Umständen mehr der eines Orakels als der eines Gerichts im herkömmlichen Sinne. Wenn im Rechtsstaat also die staatliche Macht oder ihre Ausübung durch das Recht oder aufgrund des Rechts beschränkt w i r d 3 2 , dann ist ein Staat in dem Maße, in dem in ihm eine solche ambivalente Rechtsnorm wie das angebliche Rechtsstaatsprinzip gilt, kein Rechtsstaat mehr: Aufgrund des Rechtsstaatsprinzips w i r d dann in der Tat unkontrollierbare richterliche Macht ausgeübt 33 . Unter diesen Umständen kann ferner nicht die Rede davon sein, daß die Normenkontrolle Verwirklichung oder Krönung des Rechtsstaats sei: Wenn die Verfassung mit dem Verfassungsgericht identifiziert wird, dann bedeutet die Normenkontrolle nicht so sehr Machtbegrenzung, sondern vielmehr unkontrollierte richterliche Machtausübung. 2. Eine „rechtsstaatliche" Methode? Da der Rechtsstaat also nicht als Prinzip, sondern als Sammelbegriff verstanden werden soll, kann er für die Auslegung von speziellen Verfassungsvorschriften nicht herangezogen werden, auch nicht für die Auslegung der für die Normenkontrolle einschlägigen Vorschriften und daher auch nicht für die Methode der Normenkontrolle. F. Müller dagegen hat es unternommen, eine „rechtsstaatliche" Methode zu konstruieren; er macht den Rechtsstaat zum normativen Hauptbezugspunkt seiner „strukturierenden Methodik". Das Rechtsstaatsprinzip verlange „normativ von der juristischen Arbeit. . . eine wissenschaftliche i. S. einer rationalen, kontrollierbaren Methodik" 3 4 . Aufgrund dieser rechts31
Vgl. oben III, 5. K. Hesse (II, 77) meint, darüber hinaus, daß im Rechtsstaat die staatliche Macht erst durch das Recht konstituiert und in konkret-geschichtliche Gestalt gebracht wird. 33 Vgl. etwa Meyn, 320f., der sich gegen die Identifizierung des Rechtsstaats mit dem Richterstaat wendet. 34 F. M ü l l e r i n , 280. 32
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staatlichen Methodik sei „die Mäßigung und Kontrolle der Form der Ausübung von Staatsgewalt" zu erreichen, mit den „sozialen Vorteilen" der „Verläßlichkeit, Berechenbarkeit, Methodenehrlichkeit" 35 . Zu Recht wurde aber von B. Schlink bemerkt, daß „Klarheit, Bestimmtheit und Rationalität Bedingungen jeder Erkenntnis" 3 6 , nicht nur der juristischen, seien und daher nicht normativ begründet werden müßten. Es nützt jedenfalls nichts, zu eindeutigen Entscheidungen zu gelangen, wenn diese verfassungswidrig sind, es sei denn, daß man alle klaren Entscheidungen als verfassungsmäßig betrachtet (das behauptet wohl selbst F. Müller nicht). Daher ist dieser Versuch einer rechtsstaatlichen Begründung der Methode unfruchtbar gewesen. 3. Normenkontrolle und Sozialstaatspostulat Die Normqualität des grundgesetzlichen Bekenntnisses zum Sozialstaat (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 Satz 1 GG) wurde seit den ersten Jahren der Geltung des Grundgesetzes in Frage gestellt 37 . Jene Infragestellung setzt sich bis heute in verschiedenen Formen fort: Obwohl die prinzipielle Ablehnung des Normcharakters 38 kaum mehr Befürworter im staatsrechtlichen Schrifttum findet 3 9 , bleibt es immer noch eine offene Frage, was dem Sozialstaatsprinzip an normativem Gehalt zu entnehmen ist 4 0 . Trotz verbaler Anerkennung 4 1 kennzeichnet auch die Rechtsprechung des BVerfG „eine gewisse Scheu, diesen Grundsatz für die verfassungsrechtliche Prüfung fruchtbar zu machen" 42 . Hier wird davon ausgegangen, daß das Sozialstaatsprinzip, anders als der Rechtsstaat, eine echte normative Entscheidung und ferner ein Strukturprinzip der bundesrepublikanischen Verfassungsordnung darstellt, da es schon in Art. 20 Abs. 1 GG enthalten ist. Insoweit ist es für Methode und Dichte der Normenkontrolle mitbestimmend. Als erste verfassungsrechtliche Konsequenz daraus ist die prinzipielle Unzulässigkeit einer strikten Trennung von Staat und Gesellschaft, wie sie 35
F. Müller, IV, 86. Vgl. auch Christensen / Kromer, 42, 49, 53. ® Schlink, 97. 37 Vgl. die umfassenden Darstellungen der dogmatischen Auseinandersetzung bei Frank I, 62ff.; Hartwich, 295ff.; Kittner, 1352; Stern I, 880f., jeweils m.w.N. 38 Vornehmlich von Forsthoff IV, passim. 39 Die Normqualität wird heute nach fast einhelliger Meinung bejaht, so u. a. Abendroth IV, 85; Benda III, 510; Herzog II, RdNr. 2; Hesse II, 86f.; Kittner, 1354; Stern I, 877. 40 Vgl. Herzog II, RdNr. 3: „Die Auslegung und inhaltliche Konkretisierung dieses Sozialstaatsprinzips bietet der Verfassungsrechtslehre . . . fast unüberwindbare Schwierigkeiten." Zurückhaltender spricht Suhr, 73, vom Sozialen als einem offenen Begriff, der „eine Mannigfaltigkeit von Möglichkeiten miteinbegreift". 41 Seit BVerfGE 1, 97, 105 ständige Rechtsprechung. 42 W. Rupp-v. Brünneck in BVerfGE 36, 248, Sondervotum zu 36, 237 ff. 3
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von der vorpositivistischen konstitutionellen Staatslehre 43 und vom staatsrechtlichen Positivismus gemeint war 4 4 , festzustellen. Der Sozialstaat darf sich nicht mehr damit begnügen, die Rolle des Wächters einer sich selbst regulierenden „freien" Gesellschaft zu spielen. Es ist nicht genug, daß er die äußeren Voraussetzungen jenes Freiheitsbereichs (äußere und innere Sicherheit) durch den staatlichen Zwangsmechanismus schafft und daß er selbst in diesen Bereich grundsätzlich nicht eingreift, es sei denn aufgrund eines Gesetzes. Es ist vielmehr geboten, daß der Staat sich positiv dafür einsetzt, daß die durch ihn gewährleistete Freiheit nicht fiktiv bleibt und sich nicht zum Privileg für die sozial Mächtigen wandelt; er ist also verpflichtet, „für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen" 45 . Zudem erscheint diese staatliche Fürsorge auch unter Gesichtspunkten der Konsensfunktion der Verfassung im Zeitalter spätkapitalistischer Industriegesellschaft geboten 46 . Dies bedeutet zwar keine Forderung nach totaler Aufhebung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft 47 , wohl aber nach deren Relativierung 48 . Das Verfassungs- und insbesondere das Grundrechtsverständnis können davon nicht unberührt bleiben. Von H. Ridder wurde der Einfluß des Sozialstaatsprinzips auf die Grundrechte als „Sozialbezug der Grundrechte" bezeichnet 49 . Durch die Grundrechte soll nämlich reale Freiheit gewährleistet werden, d. h. nötigenfalls auch durch positive, fördernde Maßnahmen. Wenn Grundrechte dagegen nur als Abwehrrechte dem Staat gegenüber gedeutet werden, dann sind sie oft nicht effektiv oder sie garantieren lediglich eine fiktive Freiheit, also Unfreiheit und Ungleichheit, weil die tatsächlichen Voraussetzungen für ihre Inanspruchnahme und Ausübung nicht vorhanden sind 50 . Deswegen ergibt sich aus den Grundrechten eine umfassende Schutzpflicht des Sozialstaates, die sich nicht im Unterlassen von Eingriffs Ehmke II, 96f. m.w.N. 44 Ehmke II, 41 f. m.w.N. 45 BVerfGE 22, 180, 204. Von der Literatur vgl. Böckenförde III, 205; Häberle I, 66ff.; Kittner, 1353ff.; Stern I, 911. Weitergehend Hartwich, 344, dazu kritisch Benda III, 521. 46 So Vorländer, 266ff., 315f, 366f. 47 Wie sie von Ridder III, 3 ff. unter der Formel der „Homogenisierung von Staat und Gesellschaft" erhoben worden ist. Vgl. dazu die K r i t i k von Stein II, 72 f. 48 In diesem Sinne etwa Kittner, 1368, sowie aus verfassungs theoretischer Sicht Vorländer, 368ff. 49 Ridder III, 3 ff. Vgl. schon die früheren Thesen von Abendroth in seiner Auseinandersetzung mit Forsthoff auf der Staatsrechtslehrertagung im Jahre 1952, Abendroth IV, 87, 91. Ferner Stein I, 72, 74ff.; Frank I, 70f. und, zurückhaltender, Hesse II, 87. Auf die schroffe Gegenposition bezieht sich Martens, 32: „Wer . . . meint, die einzelnen grundrechtlichen Gewährleistungen um eine soziale Dimension erweitern zu sollen, überschreitet die Grenzen der Interpretation der Verfassimg und macht sich zu ihrem Herrn". Gerade aber diese Ineinssetzung der Grenzen der Interpretation mit dem herkömmlichen konstitutionellen und positivistischen Grundrechtsverständnis ist m.E. unter den veränderten normativen Vorgaben des Grundgesetzes verfehlt. 50 Vgl. Böckenförde III, 336ff.; Frank I, 70; H.-P. Schneider V, 18, 33f., 40. 6 Chryssogonos
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1. Teil: Die Normenkontrolle im Gefüge der Staatsfunktionen
fen erschöpft, sondern sich auch auf das Treffen entsprechender organisatorischer Vorkehrungen, ggf. auch auf den Erlaß strafrechtlicher Normen 5 1 und letztlich auf die Gewährleistung gewisser Leistungsansprüche erstrekken kann. Die Objektivierung der Grundrechte sollte, mit anderen Worten, auf das Sozialstaatsprinzip gegründet werden. Die Vorteile dieser Konzeption gegenüber der Wertordnungskonstruktion des BVerfG 52 liegen auf der Hand: Die Objektivierung erfolgt nicht mehr normativ unbegründet und unkontrollierbar, sondern wird auf der Grundlage des Sozialstaatsprinzips sowohl konstituiert als auch begrenzt. Sowohl von der verfasungsgerichtlichen Rechtsprechung 53 , als von der herrschenden Meinung in der Literatur 5 4 wird angenommen, daß sich das Sozialstaatsprinzip in erster Linie an den Gesetzgeber 55, nicht dagegen an den Verfassungsrichter wendet. Dieser könne nur die Einhaltung gewisser äußerer Grenzen überprüfen. Dies mit gutem Grunde: Wenn das Bundesverfassungsgericht dem parlamentarischen Gesetzgeber detaillierte Anweisungen für zukünftige Regelungen der unterschiedlichsten Lebensbereiche geben dürfte, dann würde allmählich das Parlament zu einem Vollstrekkungsausschuß des Bundesverfassungsgerichts. Dies wäre unter den Gesichtspunkten der Gewaltenteilung und des Demokratieprinzips unerträglich. Deswegen ist anzunehmen, daß die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle dichter sein soll, wenn die traditionelle, abwehrende Funktion der Grundrechte im Spiel ist, weniger dicht dagegen, wenn es sich um ihre objektiven Dimensionen handelt 56 . Eine besondere Frage ist, ob durch die Grundrechte in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip individuelle einklagbare Leistungsansprüche gegen den Staat gewährleistet werden können. Dies wäre freilich die weitestgehende Konsequenz, die aus einem sozialstaatlichen Verständnis der Grundrechte gezogen werden könnte: Dadurch würde nicht nur die negative Gesetzgebungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts in eine positive umgewandelt; auch die Haushaltskompetenz des Parlaments, die ein sehr wichtiges Instrument zur Steuerung der gesamten politischen und gesellschaftlichen Entwicklung ist, würde erheblich beeinträchtigt 57 . Davon 51
Vgl. etwa Sterni, 934f. Vgl. dazu die K r i t i k im zweiten Teil unter III, 1. 53 BVerfGE 1, 97, 105: „Das wesentliche zur Verwirklichung des Sozialstaates . . . kann nur der Gesetzgeber tun". Vgl. u.a. 8, 274, 329; 17, 1, 25; 22, 180, 204. Kritisch dazu Frank I, 64f., der meint, daß die Zurückhaltung des BVerfG die Normativität des Sozialstaatsprinzips entwertet. 54 Vgl. Benda III, 520; Herzog II, RdNr. 22ff.; Stern I, 915f., jeweils m.w.N. Ähnlich, aus verfassungstheoretischer Sicht, bezüglich der Bedeutung von in die Verfassung einzubauenden sozialen Grundrechten: Vorländer, 376f. 55 Dadurch w i r d der Gesetzgeber zum Eingriff nicht nur aufgefordert, sondern auch (verfassungsrechtlich) legitimiert, vgl. Kittner, 1364. 56 Vgl. ausführlich dazu unter IV, 3. 52
V. Normenkontrolle und sozialer Rechtsstaat
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abgesehen gibt es auch keine normativen Vorgaben auf Verfassungsebene, welche die Höhe der gebotenen Leistungen auch nur annähernd bestimmen könnten 58 . Darüber hinaus erscheint es unter rechtssoziologischem Aspekt zweifelhaft, inwieweit unterprivilegierte soziale Gruppen von solchen, ihnen gewährten Rechten effektiv Gebrauch machen könnten und inwieweit die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gegeben sind, die zur Verwirklichung der eventuell verfassungsrechtlich anvisierten programmatischen Ziele erforderlich wären. Insoweit kann wahrscheinlich der öffentliche politische Prozeß aussichtsreicher sein als die Anrufung der Gerichte 59 . Aus allen diesen Gründen sollten solche Leistungsansprüche nur sehr vorsichtig und grundsätzlich nur in Ausnahmefällen gewährt werden 60 . Der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Sozialstaatsklausel ist also in diesem Punkt im großen und ganzen zuzustimmen 61 . Insgesamt kann man feststellen, daß die Verbindung der Grundrechte mit dem Sozialstaatsprinzip zur Intensivierung und Verdichtung der Normenkontrolle beiträgt. Schließlich ist das Sozialstaatsprinzip auch insoweit für die Methode der Verfassungsinterpretation im Rahmen der Normenkontrolle von Belang, als es „die Realanalyse der Sozialordnung zum notwendigen Bestandteil der Verfassungsinterpretation" 62 macht. Eine Interpretation, die die tatsächliche gesellschaftliche Situation unberücksichtigt ließe, wie dies dem eigenen Anspruch nach der Positivismus tut, könnte zu gesellschaftlich unvernünftigen Ergebnissen gelangen. Eine Rechtsprechung, die sich eine solche asoziale Interpretationsmethode zu eigen machen würde, wäre in einem Sozialstaat unzulässig 63 . 57
Vgl. Starck II, 518 und etwa Vorländer, 375. Vgl. Kittner, 1379. 59 Blankenburg / Treiber, 30 ff. 60 In diesem Sinne Herzog II, RdNr. 49ff.; Kittner, 1379ff.; Stern I, 934ff.; schroffer Hesse II, 87. Etwas darüber hinaus scheint Frank I, 71, zu gehen: „Die unter Heranziehung des Sozialstaatsprinzips erfolgte Erweiterung der Grundrechte . . . kann sich bis zu individuellen Rechtsansprüchen gegenüber dem verantwortlichen Hoheitsträger verdichten". 61 Vgl. BVerfGE 33, 303, 332 f., wo ein Recht des die subjektiven Zulassungsvoraussetzungen erfüllenden Staatsbürgers auf Zulassung zum Hochschulstudium seiner Wahl aus Art. 12 Abs. 1 i. V.m. Art. 3 Abs. 1 GG und mit dem Sozialstaatsgebot zwar im Prinzip anerkannt wird, andererseits aber zugleich festgestellt wird, daß verfassungsrechtliche Konsequenzen daraus erst bei evidenter Verletzung jenes Verfassungsauftrages in Betracht kämen. Ferner hat das BVerfG in einer Reihe von Fällen gesetzliche Regelungen als für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, weil sie für bestimmte Personengruppen niedrigere als für andere oder gar keine staatlichen Leistungen vorgesehen hatten. Diese Entscheidungen (BVerfGE 38, 187, 197; 39, 316, 326f.; 42, 176, 188) sind unter Berufung sowohl auf den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) als auch auf das Sozialstaatsprinzip getroffen worden. 62 Kittner, 1354. 63 Vgl. im zweiten Teil unter I, 5. 58
*
Zweiter Teil
Normenkontrolle und Methode I. Das traditionelle „juristische Handwerkszeug" 1. Der staatsrechtliche Positivismus Die Positivisten des vorigen Jahrhunderts gingen von der Möglichkeit (die für sie zugleich eine Notwendigkeit war) aus, die Rechtsanwendung weitgehend zu rationalisieren und von der Politik scharf zu trennen. In diesem Sinne sprach Gerber für eine Präzisierung der dogmatischen Grundbegriffe und gegen diejenigen, denen „die Aufgabe der rechtlichen Bestimmung" solcher Begriffe „nicht sowohl als eine juristische, denn als staatsphilosophische oder politische" erschien 1. Noch deutlicher meinte Laband, die Aufgabe der Rechtsdogmatik sei „eine rein logische Denktätigkeit", und „alle historischen, politischen und philosophischen Betrachtungen" seien „ohne Belang" 2 . Auch Gierke war der Meinung, die „saubere Trennung des Rechtes von der Politik" sei „eine der vornehmsten Aufgaben der echten Staatsrechtslehre" 3 , obwohl er im übrigen die zu weitgehenden Thesen von Laband kritisierte 4 . Es blieb aber weitgehend ungeklärt, wie diese Aufgabe zu bewältigen sei. Darüber findet man bei Gerber und Laband wenig, und dies nur in den Vorworten ihrer Hauptwerke. Laut Gerber würde das deutsche Staatsrecht „seine wissenschaftliche Selbständigkeit. . . erst durch Begründung eines wissenschaftlichen Systems erlangen", welches „die einzelnen Gestaltungen als die Entwicklung eines einheitlichen Grundgedankens" darstellen würde. Dann wäre auch „die Grundlage sicherer juristischer Deduktion gegeben"5. Dieselbe Konzeption liegt auch der Labandschen These zugrunde, daß nur Gesetze, nicht aber die Rechtsordnung als solche, lückenhaft sein können 6 . Die Subsumtion eines Tatbestandes unter das geltende Recht gewährleistete, daß der Richter den Willen des objektiven Rechts und nicht seinen 1
Gerber II, s. V (Vorwort). Vgl. auch Gerber III, s. V I I I (Vorwort). Laband I, Bd. I, s. I X (Vorwort). 3 Gierke, 9. 4 So ζ. Β , Gierke, 10ff., 96. 5 Gerber II, s. V I (Vorwort). 6 Laband III, 75 ff. 2
I. Das traditionelle „juristische Handwerkszeug"
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eigenen zur Geltung bringe 7 . Der Zusammenhang mit der Begriff sjurisprudenz, die sich primär im Bereich des Zivilrechts entwickelte, vor allem mit der Puchtaschen „Genealogie der Begriffe", ist hier kaum zu leugnen 8 . Wie aber dieses System das Hineininterpretieren der politischen Vorstellungen des Interpreten zu verhindern und die Basis für die „juristische" Subsumtion zu bilden vermöchte, ist nicht ersichtlich. In der Tat geht es der Logik „um die Gültigkeit von Schlüssen, nicht um die Wahrheit atomarer Sätze" 9 . Logische Deduktion ist zwar möglich, aber nur unter der Voraussetzung, daß wir über den Gehalt des Normgefüges, welches den in Frage kommenden konkreten Sachverhalt regeln soll, schon im klaren sind, unter der Voraussetzung also, daß w i r eine bestimmte Gesetzes- oder Verfassungsauslegung als die richtige gewählt haben. Was aber als richtige oder auch bloß legitime Auslegung gelten darf, das eben macht das Methodenproblem aus; hier ist logische Deduktion allerdings kaum ergiebig. Ferner konnte das Gerbersche System selbst gar nicht unpolitisch sein. Das wurde durch den Labandschen Versuch belegt, der preußischen Verfassungsurkunde ein angebliches „monarchisches Prinzip" zugrunde zu legen, um daraus die während des preußischen Budgetkonflikts eingetretene eklatante Verfassungsdurchbrechung apologetisch zu rechtfertigen 10 . Im übrigen kehrt die dem eigenen Anspruch nach auszugrenzende Wirklichkeit nach Annahme der Positivisten selbst durch die Hintertür zurück, nämlich durch die Möglichkeit einer sog. „Verfassungswandlung". Natur am expellas furca, tarnen usque recurret. Nach G. Jellinek ist Verfassungswandlung das „fait accompli", d. h. „eine historische Erscheinung von verfassungsbildender Kraft, gegen welche alles Ankämpfen der Legitimitätstheorien ohnmächtiges Beginnen ist" 1 1 . Auf die Verfassungsmäßigkeit oder -Widrigkeit solcher vollendeten Tatsache kann es nicht mehr ankommen 12 , sondern nur auf ihre tatsächliche Durchsetzung. Es geht in der Tat um die bedingungslose Kapitulation des Normativen vor dem Faktischen 13 . 7
Laband II, 165. Ähnlich Anschütz, 166. Dazu Larenz, 19ff., insbes. 21. 9 Koch / Rüßmann, 59. Vgl. auch Alexy, 273, der zwischen interner Rechtfertigung (ob das Urteil aus den zur Begründung angeführten Prämissen logisch folgt, Stichwort „juristischer Syllogismus") und externen Rechtfertigung (Gegenstand: Richtigkeit der Prämissen) unterscheidet. 10 Laband III, 75 ff. 11 Jellinek II, 21. 12 Dies wird auch von Laband IV, 15, offen zugegeben, indem er schreibt, daß die von ihm als Verfassungswandlung betrachtete Schaffung eines Systems von Reichsverwaltungsbehörden „mit dem im Verfassungsgesetz vorgezeichneten Zustand kaum mehr eine Ähnlichkeit zeigt". 13 Vgl. die K r i t i k von Hesse VI, 128ff. und 137. Nicht von ungefähr zeigt sich hier eine Ähnlichkeit mit den Lassalleschen Ausführungen zum Verfassungswesen, 8
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2. Teil: Normenkontrolle und Methode
Insgesamt ist zweifelhaft, inwieweit die methodischen Ausführungen der Positivisten eine Methode im eigentlichen Sinne begründen 14 . Es wäre vielleicht zutreffender, von einem Appell an das Ethos des Interpreten zu sprechen. In der Zeit des Kaiserreichs wurde freilich im großen und ganzen ein geetzeskonformes Staatsrecht betrieben, was aber eher durch die politische Harmonie zwischen Staatsrechtlern, Richtern und Regierenden als durch den Einfluß der positivistischen „Methode" zu erklären ist 1 5 . Der Positivismus lieferte mehr die - ein falsches Bewußtsein erzeugende - Rechtfertigung dieses Zusammenspiels, und zwar sowohl für die gesetzes- oder verfassungskonforme Rechtsanwendung als auch für den in die Form einer Verfassungswandlung gekleideten Fall einer Verfassungsdurchbrechung; weniger bildete sie ein wirksames Kontrollinstrument gegenüber der Praxis der Verfassungsrechtsauslegung 16. „Der positivistische Begründungsstil erstarrte zur formalistischen Lebenslüge des Juristenstandes", hat Fr. Müller überspitzt, aber nicht unzutreffend, formuliert 1 7 . Nichtsdestoweniger bewirken die logischen Konstruktionen einen Entlastungseffekt für den Richter; noch immer wird von Zeit zu Zeit versucht, sich in manchen Fällen hinter einem solchen Effekt zu verbergen. So erklärte beispielsweise das BVerfG in einem politisch so heiklen Fall wie dem EVG-Vertragsurteil vom 7.3.53, es habe „allein nach dem Recht zu entscheiden" und könne für die politischen Konsequenzen seines Spruchs nicht verantwortlich gemacht werden, da sie für ihn keine Rolle spielen dürfen 18 ; die Nähe zum positivistischen Dogma der scharfen Trennung von Recht und Politik ist unverkennbar. In einer anderen politisch umstrittenen Sache konstatierte das Gericht mehr als zwei Jahrzehnte später (§218 StGB), es könne seine Entscheidungen „nur an Prinzipien orientieren, zu deren Entfaltung es selbst in seiner Rechtsprechung beigetragen" habe. Die in der Bevölkerung herrschenden Anschauungen seien hingegen irrelevant 19 . Dies entspricht dem Gerberschen Gedanken eines wissenschaftlichen (hier: verfassungsgerichtlichen) Systems, aus welchem Lösungen in konkreten Fällen deduziert werden, wodurch das deutsche Staatsrecht (hier: das bundesdeutsche Verfassungsgericht) seine Selbständigkeit erlangt: Die durch die Rechtsprechung entfalteten Prinzipien bilden insgesamt ein solches „System", welches als einziger Maßstab funktioniert und andere Erwägunwonach die Verfassung eines Landes durch die in ihm bestehenden tatsächlichen Machtverhältnisse gebildet wurde, die rechtliche Verfassimg dagegen nur ein Stück Papier sei (Lassalle, 472, 475f., 497), worauf Hesse I, 4 hinweist. 14 Vgl. Koch, 61. 15 Vgl. etwa Forsthoff II, 36. 16 Es kann hier dahingestellt bleiben, inwieweit dies für die juristische Methode insgesamt zutrifft. 17 F. Müller IV, 69. Vgl. Kriele I, 47; Hesse II, 30. « BVerfGE 2, 143, 181. 19 BVerfGE 39, 1, 67,
I. Das traditionelle „juristische Handwerkszeug"
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gen (hier: die in der Bevölkerung herrschenden Anschauungen) ausschließt. Insoweit, als von positivistischen Konstruktionen heute noch Gebrauch gemacht wird, ist also auch die K r i t i k am Positivismus nicht überflüssig. 2. Die Abwendung vom Positivismus Die Weimarer Zeit ist durch die Intensivierimg der Methodendiskussion und die eher kritische Haltung der meisten daran Teilnehmenden dem Positivismus gegenüber gekennzeichnet 20 . Die Abwendung vom Positivismus im Staatsrecht wurde von der inzwischen im Zivilrecht stattgefundenen Auflösung der Begriffsjurisprudenz durch die Interessenjurisprudenz, die hinter den Gesetzen reale Interessen und Interessenkämpfe sah, erleichtert 21 . Eine wahrscheinlich noch wichtigere Rolle spielte dabei die neue politische Lage nach dem ersten Weltkrieg, mit der sich sowohl die Staatsrechtslehrer als auch die Richter weniger in Übereinstimmung befanden als mit dem vor dem Krieg vorhandenen Zustand 22 , sowie die allgemeine politische Unsicherheit und Beweglichkeit jener Zeit. Es scheint, als ob im politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Bereich alles, was vorher als vorgegeben und gesichert gegolten hatte, in Frage gestellt war. Die K r i t i k am Positivismus 23 , deren Ansätze schon in einer Schrift von C. Schmitt aus dem Jahre 1912 zu finden waren 24 , wurde während des ersten Weltkrieges mit besonderer Schärfe von L. Nelson formuliert. Er schrieb, daß „einem Rechtslehrer, der metaphysische Voraussetzungen entbehren zu können meint, in Wirklichkeit nur die Klarheit des Bewußtseins um die metaphysischen Voraussetzungen fehlt, von denen er selbst Gebrauch macht" 2 5 . In der gleichen Richtung, aber ohne die deutliche idealistische Prägung von Nelson, äußerte sich kurz nach dem Kriege R. v. Laun. Er kritisierte die „herrschende Anschauung des Juristenstandes", die die rechtswissenschaftliche mit der mathematischen Objektivität gleichsetze. „Die bei20 Als Hauptvertreter des staatsrechtlichen Positivismus während der Weimarer Zeit gelten G. Anschütz und R. Thoma (vgl. etwa Wendenburg, 112). Bei Anschütz sind jedoch nur selten Aussagen über das Methodenproblem zu finden, obwohl man bei seiner Auslegung des positiven Normbestandes den positivistischen Ausgangspunkt wieder und wieder spüren kann. Thoma, der sich ausführlicher zur Methode geäußert hat, lehnt den Labandschen „einseitigen Logizismus" bewußt ab (IV, 5) und räumt ein, daß die juristische Entscheidung „mittels eines im Grunde irrationalen, also nicht aus logischer Denktätigkeit entspringenden Werturteils" zu treffen ist (IV, 4). Im übrigen lehnt er aber die Ineinssetzung „der historischen Ableitung, der soziologischen Erklärung, der politischen K r i t i k und der rechtsphilosophischen Würdigimg" mit der Rechtsauslegung ebenfalls ab (IV, 4). 21 Hierzu Larenz, 48ff.; Stein II, lOOf. 22 Vgl. Schlothauer, 24ff.; Grimm, 487ff. 23 Zum folgenden vgl. ausführlich Wendenburg, 137ff. m.w.N. 24 Schmitt I, passim. 2 5 Nelson, 206.
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2. Teil: Normenkontrolle und Methode
den Voraussetzungen der Gleichstellung von Mathematik und dogmatischer Rechtswissenschaft sind nicht gegeben, die dogmatische Rechtswissenschaft arbeitet weder ausschließlich mit allgemeingültigen Prämissen, wie die Mathematik, noch ausschließlich oder auch nur vorwiegend nach der deduktiven Methode 26 ". „Jeder juristischen Auslegung . . . haftet ein subjektives Moment an" 2 7 , welches von „subjektiven politischen Werturteilen" 2 8 beeinflußt wird. Statt strenger Objektivität wird von den Staatsrechtslehrern „Klarheit über die Grenzen zwischen Objektivem und subjektiv Bedingtem" gefordert 29 . Zu den prominentesten Kritikern des Positivismus gehört H. Heller. Mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Laun bemerkte er, alle Rechtsbegriffe hätten „ihre subjektiven ethisch-metaphysischen Voraussetzungen" 30 . Die Rechtswissenschaft sei „gesellschaftsgestaltend, politisch" 3 1 , juristische Konstruktion und Systembildung sei „stets ein produktives vervollständigendes Nachdenken der positiven Rechtsbestimmungen" 32 . Das Streben nach der positivistischen Scheinobjektivität müsse „mit einem erschreckenden Mangel an Produktivität und Normativität" bezahlt werden 33 . Der wichtigste Beitrag zur gesamten Problematik war vielleicht die Rektoratsrede von H. Triepel im Jahre 1927. Nachdem er dem Positivismus „schroffe Einseitigkeit" vorgeworfen hatte, sagte er, Methodensynkretismus sei „kein Majestätsverbrechen" 34 . Es wäre eine Selbsttäuschung zu glauben, „den ganzen Stoff der Rechtsordnung ohne Urteile wertenden Charakters beherrschen" zu können 35 . Demgemäß forderte er „die Verbindung der politischen E r w ä g u n g . . . in voller Offenheit. . . mit der logisch-formalen Begriffsarbeit" 36 . Der gemeinsame Topos der Kritiker ist die Infragestellung der positivistischen Rationalität. Der Glaube an die Möglichkeit einer rein logischen Rechtsanwendung war entfallen. Die K r i t i k ist aber auch selbst von den Schwächen des Positivismus gekennzeichnet: Es werden mehr Axiomen aufgestellt als Beweise vorgebracht. Eine bis in die eigentliche Tiefe hineingehende kritische Analyse der Praxis der Rechtsanwendung fehlt auch bei
26
Laun, 154 ff. Laun, 158. 28 Laun, 162. 29 Laun, 175. 3° Hellerl, 27, Fn. 78. 31 H e i l e r i n , 32Iff. 32 Heller III, 353. 33 Heller III, 323. Ähnlich V, 255, 266. 34 Triepel II, 18 f. 35 Triepel II, 21. 36 Triepel II, 37. 27
I. Das traditionelle „juristische Handwerkszeug"
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den Kritikern; daher sind sie nicht imstande, eine alternative Methode oder überhaupt eine echte Methode vorzuschlagen 37 . Sie sind also der Gefahr ausgesetzt, der Scylla des Positivismus zu entkommen, aber der Charybdis des Dezisionismus zu verfallen, indem sie die Willkür des jeweiligen Rechtsanwenders, d. h. des Richters, nicht verhüllten, wie es der Positivismus tat, sondern offen hinnahmen und rechtfertigten. Vielleicht war das auch bewußt das Anliegen mancher der Kritiker, nämlich die Richter den Gesetzen gegenüber kritisch zu besinnen. Die Bedeutung des Triepelschen Beitrags liegt darin, daß er eine Reihe alternativer Maßstäbe aufzustellen versuchte, die die erforderlichen Wertungen leiten sollten. Zunächst waren dies die im Gesetz selbst ausgedrückten Wertungen, dann das Rechtsbewußtsein der Gemeinschaft, und letzten Endes „entscheiden wir im Notfalle so, wie wir als Gesetzgeber entscheiden müßten" 38 . Das erste Stadium geht kaum über den Positivismus hinaus, denn es handelt sich um Kriterien, die aus dem Gesetz selbst herauszulesen sind. Das zweite ist so wenig konkret (abgesehen davon, daß es in einer pluralistischen Gesellschaft kein einheitliches Rechtsbewußtsein gibt, schon gar nicht in staatsrechtlichen Fragen), daß es kaum bessere Ergebnisse als die positivistische Logik liefern kann. Das dritte Stadium ist ein offenes Zugeständnis des Versagens der Methode: Denn Ziel einer spezifischen Methode der Rechtsprechung kann nur sein, sie von der Gesetzgebung irgendwie abzugrenzen, nicht beide zu identifizieren. Die Gefahr des Dezisionismus tritt hier deutlich hervor. Die dezisionistischen Elemente tauchen überraschenderweise bei H. Kelsen am stärksten auf. Laut Kelsen „muß die Interpretation des Rechts durch die Rechtswissenschaft von der Interpretation durch Rechtsorgane auf das schärfste unterschieden werden". Rechtswissenschaftliche Interpretation kann „nichts anderes als die möglichen Bedeutungen einer Rechtsnorm herausstellen". Die „Entscheidung zwischen den von ihr aufgezeigten Möglichkeiten . . . muß . . . sie . . . dem Rechtsorgan überlassen, das nach der Rechtsordnung zuständig ist, Recht anzuwenden" 39 . Folgerichtig stellt er fest, daß die gerichtliche Entscheidung keinen „bloß deklaratorischen Charakter" hat, sondern „nur die Fortsetzung des Rechtserzeugungsprozesses" ist. „Wenn die generelle Rechtsnorm angewendet werden soll, kann nur eine Meinung gelten. Es ist die Meinung, die in der Entscheidung des Gerichtes zum Ausdruck kommt. Sie allein ist rechtlich relevant; die Meinimg aller anderen ist rechtlich irrelevant 4 0 ". Rechtsanwendung sei also zugleich
37 38 39 40
In bezug auf Triepel und E. Kaufmann ähnlich Wendenburg, 142 und 146. Triepel II, 39. Kelsen IV, 352 f. Kelsen IV, 243 ff. Hervorgehoben im Original.
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2. Teil: Normenkontrolle und Methode
Rechtserzeugung 41. Andererseits hält aber Kelsen daran fest, daß Recht und Gericht miteinander verbunden sind, Politik dagegen dem Recht (d. h. aber, notwendig, der Rechtsanwendung) wesensfremd ist, was zu dem Schluß führt, das Gericht sei eine „objektive Instanz" 4 2 . Wie kann aber das Gericht Recht durch seine Entscheidungen erzeugen und zugleich objektiv und unpolitisch sein? Gibt es überhaupt so etwas wie objektive und unpolitische Politik? Trotz dieser Selbstwidersprüche kann jedenfalls Kelsen keineswegs als Testamentsvollstrecker von Laband gelten. Ihm zufolge ist die gerichtliche Entscheidung nicht reine Logik, sondern Willensakt, wenn auch innerhalb der Grenzen der „möglichen" Deutungen der Norm. Was aber möglich und was unmöglich ist, bleibt diffus. Eine juristische Methode wie die von Kelsen vorgestellte kann also kaum eine kontrollierende, hemmende Rolle spielen. Es geht eher um eine Freistellung der Richter 43 , die sich mit den wichtigsten Verfassungsprinzipien, insbesondere mit dem Demokratieprinzip, nicht vereinbaren läßt; dies wegen der mangelnden demokratischen Legitimation sowohl der Richter in personeller als auch der Rechtsprechung in funktioneller Hinsicht 4 4 . Eine demokratische Methode darf die durch die Rechtsanwendung und Auslegung ausgeübte Herrschaft von Menschen über andere Menschen 45 weder verhüllen (wie der Positivismus) noch offen akzeptieren (wie der Dezisionismus), sie muß sie vielmehr soweit wie möglich minimieren. Die Abwendung vom Positivismus endete dann mit der Abwendung von der Rechtsform als solcher, was in einer Schrift von C. Schmitt am Anfang der NS-Zeit seinen Ausdruck fand. Unter Hinweis auf den Italiener S. Romano führt er aus, „die Regel stellen eher das Objekt oder auch das Mittel der Rechtsordnung und nicht so sehr ein Element ihrer Struktur dar" 4 6 . „Wie der Nomos König, so ist der König Nomos" 47 , meint Schmitt ferner. Der Wille des Führers ist also nunmehr Gesetz. Damit kehren wir wieder zu der mittelalterlichen Maxime des „princeps legibus solutus est" zurück, die im wesentlichen die Auflösung der Rechtsform bedeutet. 41 Kelsen IV, 240. Vgl. auch Hippel I, 407: Die Auslegung führe „über Sinndeutung zur Sinngebung" und sei „insoweit freie, normentbundene Gestaltung der politischen Welt, wenn auch innerhalb der Grenzen eindeutigen Rechtssinnes". 42 Kelsen II, 119 f. 43 Zutreffend also die Charakterisierung von H.-P. Schneider I, 28: „Ein dezisionistischer Interpretationsbegriff" (betreffend die reine Rechtslehre). 44 Dazu oben, erster Teil, IV, 2. Im übrigen verkennt Kelsen auch das Verhältnis zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung. Es ist gerade die Rechtswissenschaft, der größere Spielräume zukommen, denn sie ist auf Konsenserzeugung in die Zukunft hin angelegt, während die Rechtsprechung auf Konsensfähigkeit hic et nunc angewiesen ist. Dazu ausführlicher unter I, 6. 45 Vgl. Arndt III, 1273; Massing I, 215, 221; Hoffmann-Riem, 345f. 46 Schmitt V, 24. 47 Schmitt V, 16.
I. Das traditionelle „juristische Handwerkszeug"
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Insgesamt scheint die intensivierte Methodendiskussion während der Weimarer Zeit ebenso wie der Positivismus wenig an Handlungs- und Kontrollmaßstäben für die Verfassungsrechtspraxis geliefert zu haben. Das Problembewußtsein war sicherlich gestiegen, Antworten konnten jedoch nicht gegeben werden. Einen Sonderfall stellt aber die Smendsche Integrationslehre dar, der noch nachzugehen ist. 3. Die Integrationslehre Auf einer anderen Ebene bewegt sich die K r i t i k R. Smends gegen den Positivismus. Dieser K r i t i k liegt ein Verfassungsbegriff zugrunde, der unter Verfassung nicht wie der Positivismus „die Rechtssätze über die obersten Staatsorgane, ihre Bildung, gegenseitiges Verhältnis und Zuständigkeit und die grundsätzliche Stellung des einzelnen zur Staatsgewalt" versteht, sondern „die Rechtsordnung des . . . Integrationsprozesses . . . des Staats". „Der Sinn dieses Prozesses", so Smend, sei „die immer neue Herstellung der Lebenstotalität des Staates", und die Verfassung sei „die gesetzliche Normierung einzelner Seiten dieses Prozesses" 48. Es geht also um einen Verfassungsbegriff, der sich nicht wie der positivistische grundsätzlich an der Regelungsfunktion der Verfassung, sondern an ihrer Legitimierungsfunktion orientiert. Dementsprechend werden auch die Grundrechte als politische Güter verstanden, in deren „Zeichen das deutsche Volk von Verfassungs wegen einig sein w i l l " , als auf der obersten normativen Stufe anerkannte grundliegende Elemente „eines bestimmten Kultursystems", welches mit dem Staat identifiziert wird. Dann sind sie aber „nicht Schranken, sondern Verstärkung des Staats und der Staatsgewalt,. . . deren Akte . . . um so wirksamer sein sollen" 49 . Der Smendsche Vorwurf ist also nicht nur, daß der Positivismus sich einer Scheinrationalität bedient, sondern daß er mit seiner „agnostizistischen Skepsis gegenüber allem über die positivistisch erfaßte Einzelheit hinausgehenden Wirklichkeits- und Normgehalt" die Verfassung hindert, ihre integrierende Wirkung voll zu entfalten 50 . In eine ähnliche Richtung geht auch der Hellersche Gedanke, die „mathematisierende Begriffsbildung" des Positivismus sei zusammen mit den „marxistischen Staatsverneinern. . . arbeitsteilig damit beschäftigt. . . den Staat zu beseitigen", indem sie seine „sittliche und metaphysische Fundierung" (sie!) verkennen 51 . Diese Äußerungen werden um so verständlicher, je mehr man sich daran erinnert, daß das politische System Weimars vom Anfang an ständig in Frage 48
Smend I, 187 ff. Smend 1,91 ff. so Smend I, 234. 51 H e i l e r i n , 333f. 49
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2. Teil: Normenkontrolle und Methode
gestellt wurde - und zwar nicht nur auf der praktisch-politischen, sondern auch auf der ideologischen Ebene, vom militaristischen Revanchismus, der von antiparlamentarischen Tendenzen begleitet wurde, einerseits, vom Kommunismus, wenn auch nicht mit der gleichen Wirksamkeit, andererseits. Man suchte also nach Werten, die das bedrohte System ideologisch stützen könnten und glaubte sie auch in der Reichsverfassung selbst finden zu können 52 . Von einer entwickelten Methode kann aber nicht die Rede sein. Smend zieht aus dem von ihm entwickelten Verfassungsverständnis folgende Konsequenzen: Erstens, die Möglichkeit einer Verfassungswandlung 5 3 . Diese wäre freilich auch unter positivistischen Vorzeichen ohnehin möglich 54 , und ihre Bedingungen und Grenzen werden nicht näher erörtert. Die Betonung dieser Möglichkeit aber in Verbindung mit der Integrationsaufgabe der Verfassung öffnet die Sicht für die Tatsache, daß die Verfassung nicht ein Ding, d. h. bloßer Buchstabe, sondern eine Norm, d. h. ein laufender sozialer Prozeß 55 , ist 5 6 . Zweitens wird von Smend eine Rangverschiedenheit der „einzelnen staatsrechtlichen Normen" behauptet, die sich aus ihrer Einordnung „ i n das Sinnsystem des staatlichen Integrationszusammenhanges" ergibt, ohne aber konkrete Folgerungen daraus zu ziehen 57 . Wenn damit die Möglichkeit verfassungswidriger Verfassungsnormen bejaht wird, ist dies entschieden zurückzuweisen 58 . Richtig ist allerdings, daß die Verfassungsprinzipien (Demokratie, Sozialstaat, Bundesstaat, Gewaltenteilung) wegen ihrer inhaltlichen Einschlägigkeit und ihrer Bedeutung für die Legi-
52 Der Auffassung, wonach die Integrationslehre „ i n der Konsequenz, i n der Betonung von Sinn- und Wertsystemen, gegen die positiv geltende, wertrelativistische Verfassung Weimars gerichtet" sei (Vorländer, 290), kann also hier nicht zugestimmt werden. Sie beruht m.E. auf einer falschen Ineinssetzung der Weimarer Reichsverfassung mit ihrer Auslegung durch den staatsrechtlichen Positivismus. Eben die positivistische Betrachtungsweise w i r d von Smend angegriffen. Von Smend als einen „Schrittmacher des Faschismus" (Hill, 166ff.), kann freilich nicht im Ernst die Rede sein (zur persönlichen politischen Einstellung Smends vgl. Wendenburg, 227 f., 230). Richtig ist allerdings, daß die Integrationslehre die realen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen eher vernachlässigt und durch eine Überharmonisierung, der eine gewisse Pluralismusfeindlichkeit innewohnt, gekennzeichnet ist (vgl. Vorländer, 288f. m.w.N.) Deswegen spricht H.-P. Schneider von demokratischer Konsoziation als Verfassungsaufgabe statt von Integration (VI, 2 und Anm. 11, 405 ff., VIII, 69 f.). Weniger harmonisierend Smend III, insbes. Sp. 1026. 53 Smend 1,241 f. 54 Vgl. unter I, 1. 55 Vgl. unter I, 5. 56 Vgl. auch Smend I, 192: „Als positives Recht ist die Verfassung nicht nur Norm, sondern auch Wirklichkeit, als Verfassung ist sie integrierende Wirklichkeit. . . Diese Wirklichkeit wird nicht durch die Verfassung als das ruhende, beharrende Moment im staatlichen Leben, sondern durch das sich immerfort erneuernde Verfassungsleben immer neu hergestellt". Man könnte etwa anders sagen, daß die Verfassung als Norm nicht nur ein „Sollen", sondern zugleich ein „Sein" ist; wenn nicht, dann ist sie keine Norm. s? Smend 1,240 f. 58 Vgl. hierzu im ersten Teil, III, 1.
I. Das traditionelle „juristische Handwerkszeug"
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timation der Verfassung und des Staats selbst, d. h. für die Herstellung politischer Einheit, als leitende Gesichtspunkte für die Auslegung der anderen Verfassungsnormen heranzuziehen sind 59 . Drittens meint Smend, „alle staatsrechtliche(n) Einzelheiten" seien „nicht an sich und isoliert zu verstehen, . . . sondern nur als Momente des durch sie zu verwirklichenden Sinnzusammenhanges, der funktionellen Totalität der Integration" 6 0 . Dies ist m.E. ein hilfsreicher Ansatz für das Verständnis der systematischen Interpretation, denn diese bezweckt in engem Zusammenhang mit der teleologischen Interpretation die Herstellung bzw. Erhaltung der Funktionsfähigkeit der in Frage kommenden Norm 6 1 . Funktionsfähigkeit der Norm in gewisser Zeit und in gewissem Raum bedeutet aber Angewiesensein auf Konsensgewinnung, die zur normativen Integration führt 6 2 . An anderer Stelle hatte Smend schon eine „elastische, ergänzende, von aller sonstigen Rechtsauslegung weit abweichende Verfassungsauslegung" gefordert. Dies, weil „der aufgegebene Erfolg befriedigender Integration . . . vom politischen Lebensstrom vielfach in nicht genau verfassungsmäßigen Bahnen erreicht werden . . . mag". Dann werde „die durch die Wertgesetzlichkeit des Geistes wie durch die Artikel der Verfassung aufgegebene Erfüllung der Integrationsaufgabe trotz dieser einzelnen Abweichungen dem Sinn auch der Verfassung eher entsprechen als ein paragraphentreueres, aber im Erfolge mangelhafteres Verfassungsleben" 63 . Hierin kommt m.E. die Grenzfunktion des teleologischen Auslegungskriteriums zum Ausdruck, denn eine lebensfremde Auslegung führt zur Funktionsunfähigkeit der Norm, d. h. zu ihrer Unfähigkeit, als Mittel normativer Integration zu dienen. Es scheint aber zweifelhaft, ob dies zu einer „von aller sonstigen Rechtsauslegung weit abweichende(n) Verfassungsauslegung" führt. Denn funktionsfähig müssen nicht nur die Verfassungsnormen, sondern alle anderen Rechtsnormen auch bleiben; dies soll auch durch ihre Auslegung geschehen 64 . Schon deshalb gehen die Einwände fehl, der Smendsche Ansatz bedeute eine „Abwertung des Normativen" 6 5 oder überschreite „die Grenze der Verfassungsinterpretation" 66 . Was insbesondere das Smendsche Grundrechtsverständnis angeht, so trifft zwar zu, daß die in den Grundrechten verkörperten „Werte" sich auf einen breiten Konsens stützen können, ja einen wichtigen Teil der nationa59 60 61 62 63 64 65 66
a.a.O. (Fn. 58). Smend I, 239. Hierzu unter I, 5. Hierzu unter I, 5. Smend I, 190. Vgl. unter I, 5. Kägi I, 144. Hesse II, 29.
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2. Teil: Normenkontrolle und M t h o d e
len politischen Kultur ausmachen, die sich in den Grundrechten ausdrückt und sie zu Elementen der nationalen Identität macht. Daher wirkt ihre staatliche Anerkennung integrierend, insbesondere, wenn sie von einem wirksamen Rechtsschutz durch ein Verfassungsgericht und von einer engagierten Grundrechtspolitik begleitet wird. Dies bedeutet jedoch nicht, daß sie eine Wertordnung in Form eines geschlossenen Wertsystems bildet noch daß die Argumentation aus Normen durch eine Argumentation aus Werten zu ersetzen sei. Dies würde zu einer Abwertung des Normativen führen, wie gerade die vom BVerfG propagierte „Wertordnung" in ihrer praktischen Handhabung gezeigt hat 6 7 . Auch die Smendsche Konzeption von Grundrechtsschranken erweist sich aber als bedenklich. Die Schranke der „allgemeinen Gesetze" umfasse demnach alle „Gesetze, die deshalb den Vorrang vor Art. 118 haben, weil das von ihnen geschützte gesellschaftliche Gut wichtiger ist als die Meinungsfreiheit", d. h. „Werte der Gesellschaft" wie „Sittlichkeit, öffentliche Ordnung, staatliche Sicherheit" 68 . Zu Recht bemerkte E.-W. Böckenförde, daß dadurch „die grundrechtlichen Freiheiten . . . dem Zugriff des jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Wertbewußtseins ausgesetzt. . . werden" und der „Charakter des rechtlich vorausliegenden entfallen w i r d " 6 9 . Die Öffentlichkeit könnte insofern von Belang für die Verfassungsinterpretation sein, als der allgemeine Sprachgebrauch für den Sinn verfassungsrechtlicher Ausdrücke (mit-) bestimmend sein könnte (z.B. „Meinung", „frei" usw.) 70 . Etwas ganz anderes wäre aber zu sagen, daß eine in der Bevölkerung vorherrschende politische Vorstellung, etwa die von ihr in bestimmter Weise verstandene „öffentliche Ordnung", wichtiger ist als die verfassungsrechtlich geschützte Meinungsfreiheit, so daß diese überspielt werden könnte. Der starke Einfluß, den die Integrationslehre auch (und vielleicht stärker noch als in Weimar) in der Zeit nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes gehabt hat, kann nicht geleugnet werden. Dies gilt insbesondere in bezug auf das BVerfG: In der Stellungnahme des Plenums zum Gutachten von R. Thoma wird unter ausdrücklichem Hinweis auf Smend 71 konstatiert, das Gericht solle „integrierend auf den Staat wirken" 7 2 . Es ist dieses ganz bestimmte Verständnis der Integrationsaufgabe, welches - wie noch zu zeigen ist - als Erklärungsmodell für die normenkontrollierende Spruchtätigkeit des Gerichts in politisch wichtigen Fällen dienen könnte 73 . 67
Dazu unter III, 1. es Smend 1,97 f. 69 Böckenförde I, 1534. 70 Hierzu unter I, 5. 71 BVerfG II, 198, Anm. 10. 72 BVerfG II, 198. 73 Vgl. im Ausblick. .^
I. Das traditionelle „juristische Handwerkszeug"
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Insgesamt scheint die Smendsche Konzeption trotz der bereits erwähnten Bedenken einen wichtigen Beitrag zum verfassungsrechtlichen Methodenproblem geleistet zu haben 74 ; einen Beitrag, der m. E. noch heute für die Entwicklung einer realitätsnahen staatsrechtlichen Methode von Bedeutung sein kann.
4. Das Methodenverständnis des Bundesverfassungsgerichts Das BVerfG bezeichnete sich in seiner Denkschrift zur Statusfrage als rechtsprechende Instanz 75 , die „echte richterliche Entscheidungen" zu treffen habe, „bei denen nicht etwa erfunden wird, was im Grundgesetz nicht enthalten ist, sondern bei denen das, was als Gehalt des Willens des Gesetzgebers tatsächlich vorentschieden schon vorhanden ist, gefunden w i r d " 7 6 . Davon aber, wie dieses „schon Vorhandene" zu finden ist, welche die „rational standards" sind, an denen das BVerfG „ i n seiner Eigenschaft als reine richterliche Körperschaft seine Entscheidungen" orientiert 77 , war während des Statusstreits nicht die Rede. Auch den Entscheidungen des BVerfG läßt sich unter diesem speziellen Aspekt wenig entnehmen. Es werden vielmehr verfassungstheoretische Gesichtspunkte entwickelt, an denen sich die Auslegung zu orientieren hat, wie z.B. die stärkst-mögliche Entfaltung der Wirkungskraft der Verfassungsnormen, insbesondere der Grundrechte 78 , die Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsordnung für alle Staatsbürger 79 , die Wahrung der „Einheit der Verfassung als eines logisch-teleologischen Sinngebildes" 80 , mit der auch die Verfassungsauslegung gemäß den Verfassungsprinzipien zusammenhängt 81 , sowie die Möglichkeit eines Bedeutungswandels von Verfassungsbestimmungen wegen einer Wandlung der Tat-
74
Die Kritik, nach dem Smendschen Verständnis grenze „die Verfassung nicht mehr ein und ab", sondern nehme „die Strömungen und Wertkonstellationen des jeweiligen Zeitgeistes in sich auf", der Interpret sei nicht mehr „Herr oder Kontrollinstanz solcher Entwicklungen", sondern habe sie „nachvollziehend zu erkennen und ihnen dann Ausdruck zu verleihen" (Böckenförde II, 2094), trifft also auf dieser generellen Ebene nicht zu; die Integrationslehre stellt vielmehr einen Ansatz dar, der dazu dienen kann, die Strömungen des Zeitgeistes in die Verfassung aufzunehmen, jene Verfassung aber gleichzeitig auch abgrenzend wirken zu lassen. Nicht zu vergessen ist, daß die Verfassung nicht nur dem „Zeitgeist" gegenüber, sondern auch dem Geist des Interpreten gegenüber abgrenzend wirken soll. 75 BVerfG I, 144 f. 76 BVerfG II, 198, unter Hinweis auf eine Äußerung des Abgeordneten v. Merkatz. 77 Leibholz II, 125. Insofern ist der Statusbericht deutlich positivistisch geprägt; in anderer Stelle (121 f.) w i r d jedoch die Rücksichtnahme auf die politischen Folgen der Entscheidung propagiert. 78 BVerfGE 6, 55, 72; 32, 54, 71; 39, 1, 38; 43, 154, 167. 79 BVerfGE 12, 45, 54. so BVerfGE 19, 206, 220; 34, 165, 183; 44, 37, 49f.; 55, 274, 300. 81 BVerfGE 1, 14, 32f.; 30, 1, 19.
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2. Teil: Normenkontrolle und Methode
bestände 82 . Die spezifischen (methodischen) Mittel, mit denen diese Ziele erreicht werden können, werden aber nicht ausgearbeitet. Dagegen hat sich das BVerfG in bezug auf die Mittel der Gesetzesauslegung im allgemeinen geäußert. Da es aber die „Grundsätze der allgemeinen Rechtslehre" auch bei der Auslegung des Grundgesetzes für bedeutsam hält 8 3 , besteht kein Anlaß zu der Vermutung, daß es seinen Methodenansatz nicht wenigstens prinzipiell auf die Verfassungsauslegung bezieht 84 . Dieser Ansatz beruht nicht so sehr auf der Ebene der bereits behandelten staatsrechtlichen Methodendiskussion, sondern vielmehr auf der allgemeinen juristischen Methodenlehre, vor allem auf dem Savignyschen Methodenkanon 85 . Das BVerfG benennt als „Auslegungsmethoden" die Auslegung „aus dem Wortlaut der Norm (grammatische Auslegung), aus ihrem Zusammenhang (systematische Auslegung), aus ihrem Zweck (teleologische Auslegung) und aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte (historische Auslegung)" 86 . Es wurde aber keine nähere Analyse dieser Kriterien unternommen und keine Rangordnung zwischen ihnen festgestellt. „Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung", so meint ferner das BVerfG, sei „der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend" sei dagegen „die subjektive Vorstellung d,er am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift" komme „für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen erhaltenen Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können" 8 7 . Hier wurde also eine Art Vorzugsregel aufgestellt, allerdings eher in negativer als in positiver Gestalt, da sie zu Lasten und nicht zugunsten eines bestimmten Kriteriums wirkte. Es scheint aber ziemlich zweifelhaft, inwieweit das BVerfG den von ihm aufgestellten Regeln tatsächlich folgt, oder sie stattdessen nur als nachträgliche Rechtfertigung bereits aus anderen Gründen getroffener Entscheidungen benutzt 88 . Man ist so weit gegangen, ihm „Methoden-Chaos" und „Methoden-Willkür" vorzuwerfen 89 . 82
BVerfGE 2, 380, 401; 3, 407, 422; vgl. auch 45, 187, 229. BVerfGE 1, 117, 127. 84 Vgl. Stein II, 106 f. 85 Savigny, 213 f. 86 BVerfGE 11, 126, 130; vgl. 47, 109, 127; ähnlich Β GHZ 49, 221, 223. 87 BVerfGE 1, 299, 312; Bezugnahme in 8, 274, 307; 10, 234, 244; 11, 126, 130f.; 20, 283, 293; 47, 109, 127; 48, 246, 256; 53, 135, 147; 53, 207, 212; ähnlich auch Β GHZ 49, 221, 223. 88 Vgl. Schlothauer, 62ff.; Hesse II, 23ff.; F. Müller III, 29ff.; Stein II, 110; Dreier, 17. 83
I. Das traditionelle „juristische Handwerkszeug"
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Die Vorwürfe scheinen mir nur zum Teil berechtigt zu sein. Zutreffend ist allerdings, daß der entstehungsgeschichtlichen Interpretation vielfach eine größere Rolle zukommt, als das Bekenntnis zur objektiven Auslegungstheorie vermuten ließe 90 . Nicht nur gibt es Fälle, in denen aus der Entstehungsgeschichte grundgesetzlicher Vorschriften zwingende Ergebnisse für ihre Auslegung abgeleitet wurden 9 1 ; diese Geschichte wird vielmehr in den meisten Fällen, in denen die Auslegung umstritten ist, für die Begründung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung miteinbezogen oder zumindest berücksichtigt. Charakteristisch ist in dieser Hinsicht das Abtreibungsurteil: Die Entstehungsgeschichte des Art. 2 Abs. 2 GG, die keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Rechtsauffassung des Gerichts bieten könnte, da kein Konsens über jene Frage im Parlamentarischen Rat bestand, wurde nichtsdestoweniger in Anspruch genommen, um diese Auffassung zu unterstützen 92 . Die gewichtige Rolle, die die Entstehungsgeschichte spielt, ist vor allem auf praktische Gründe zurückzuführen: Die Beratungen im Parlamentarischen Rat und andere relevante Materialien wie der Herrenchiemseer Entwurf sind relativ leicht zugänglich und handhabbar 93 . Man neigt ferner dazu, auf sie zurückzugreifen, auch um sich dadurch der demokratischen Legitimation des Parlamentarischen Rats zu bedienen. Im übrigen scheint es, als beruhe die K r i t i k auf einer Überschätzung der Leistungsfähigkeit des Methodenkanons, zu dem sich das BVerfG bekennt. So verlassen beispielsweise die Entscheidungen, die die Aufgabenverteilung zwischen gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt betreffen oder die Einheit der Verfassung zum maßgeblichen Gesichtspunkt für die Auslegung proklamieren, kaum den Boden herkömmlicher Interpretation 94 ; denn beides wird aus dem Gesamtzusammenhang der Verfassung abgeleitet und kann daher als Form der systematischen Auslegung betrachtet werden. Dasselbe gilt für die Heranziehung des zu regelnden Sachverhalts für die Inhaltsbestimmung der betroffenen Vorschrift durch Berücksichtigung politischer, soziologischer und historischer Zusammenhänge, wie sie beispielsweise im Urteil über die lebenslange Freiheitsstrafe stattfindet 95 , oder durch die Miteinbeziehung des Gesichtspunktes der Praktikabilität 9 6 ; all dies kann als dem Zweck der Norm immanent angesehen werden, daher als
89 90 91 92 93 94 95 96
men.
Schlothauer, 70. Vgl. Hesse II, 24; F. Müller III, 30; Ehmke I, 57f.; Stein II, 109f.; jeweils m.w.N. BVerfGE 2, 266, 276; vgl. auch 4, 299, 304f.; 33, 125, 153f. BVerfGE 39, 1, 38ff.; ad hoc die K r i t i k von Esser II, 556. Vgl. Walter, 2, Anm. 3. Anders Hesse II, 24, mit Hinweisen auf die entsprechenden Urteile. BVerfGE 45, 187, 229ff. So BVerfGE 21, 209, 217 f., in bezug auf die Auslegung steuerrechtlicher Nor-
7 Chryssogonos
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2. Teil: Normenkontrolle und Methode
Form teleologischer Auslegung 97 . Und wenn das BVerfG eine vom Wortlaut abweichende Auslegung bevorzugt, weil sie „eine sinnvolle Anwendung des Gesetzes . . . fordert" 9 8 , dann handelt es sich ebenfalls nicht um einen Verstoß gegen den Methodenkanon, sondern um eine in concreto praktizierte Vorziehung des teleologischen Elements gegenüber dem grammatischen: dies ist nicht auszuschließen, wenn keine feste Ranghierarchie besteht 99 . Die Abweichung vom Wortlaut ist auch dann keine Durchbrechung des Methodenkanons, wenn sie unter Hinweis auf geistesgeschichtliche (historische) und systematische, nicht aber auf teleologische Argumente erfolgt 1 0 0 . Eine Modifizierung hat allerdings der Methodenkanon durch die Heranziehung auch rechtsvergleichender Argumente erfahren. Diese wurden jedoch nur von Fall zu Fall berücksichtigt, ohne programmatisches Bekenntnis und ohne innere Folgerichtigkeit 101 . Prinzipiell wurde aber dem BVerfG die Möglichkeit rechtsvergleichender Argumentation von der Theorie nicht bestritten, obwohl sie zweifellos eine Erweiterung (und insofern eine „Durchbrechung") des ursprünglichen Methodenkanons darstellt - es sei denn, man qualifiziert sie als Unterfall der teleologischen Auslegung. Bei einer Gesamtwürdigung läßt sich feststellen, daß das wirkliche Problem nicht so sehr die richtige oder fehlerhafte Anwendung des Methodenkanons in der Praxis ist, sondern der Methodenkanon selbst: er kann nur sehr wenig leisten, d. h. nur wenige Argumente als illegitim ausschließen. Die vom Positivismus geforderten und vom BVerfG propagierten „rational standards" kann er nicht liefern; wenn er nicht weiter ausgearbeitet wird, vermag er überhaupt keine Standards zu liefern. Ein ebenso gewichtiges Problem ist aber auch, daß zuweilen der Methodenkanon überhaupt nicht angewendet wird, d. h. daß gar nicht methodisch argumentiert wird. Im Soraya-Beschluß hat das BVerfG die Legitimität solcher normentbundener Rechtsprechung durch die anderen Gerichtszweige anerkannt 102 : „Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Recht97
Anders Hesse II, 24 f. BVerfGE 9, 89, 104f., vgl. auch, unter anderen 2, 347, 374f. 99 Die entsprechenden Vorwürfe von Hesse II, 24 und F. Müller III, 30 f. wären nur dann berechtigt, wenn sich das BVerfG zu der von den beiden behaupteten Grenzfunktion des Wortlauts bekannt hätte. Dies hat es aber nicht getan (vgl. BVerfGE 34, 269, 289). io« So in BVerfGE 32, 54, 68f. 101 Vgl. einerseits BVerfGE 32, 54, 70, wo die Auslegung im Ausland bei „gleicher oder annähernd gleicher Fassung der Gesetzestexte" als für den Begriff „Wohnung" im GG maßgeblich angesehen wurde; andererseits BVerfGE 39, Iff., wo die entsprechenden Entscheidungen des amerikanischen Supreme Court, Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (1973), und des österreichischen Verfassungsgerichtshofes (EuGRZ 1974, s. 47f. und 57 ff.) von der Senatsmehrheit völlig ignoriert wurden. 102 BVerfGE 34, 269, 287. 98
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sprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter muß sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muß auf rationaler Argumentation beruhen". In der Tat sind gerade die „willenhafte(n) Elemente" jene, die bei einer solchen Tätigkeit in den Vordergrund treten; die „rationale Argumentation", die nicht näher präzisiert wird, stellt nur eine unwirksame Leerformel dar. Es folgt dann ein Hinweis auf die „Maßstäbe der praktischen Vernunft und (die) fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft": Zum einen sind aber beide Kriterien mehrdeutig und zum anderen funktionieren sie mehr als äußerste Grenze und weniger als Leitfaden einer legitimen Entscheidungsfindung 1 0 3 . Der vom Bundesverfassungsgericht im Soraya-Beschluß für die anderen Gerichte, betreffend die Auslegung und Fortbildung des einfachen Rechts, anerkannte Spielraum wird aber von ihm selbst, betreffend die Auslegung und Fortbildung des Grundgesetzes, ständig in Anspruch genommen. Dies geschieht durch die Verwendung des Arkanbegriffs der „Wertordnung" 1 0 4 . 5. Die Leistungsfähigkeit des Methodenkanons und der Implementationsbedingungen der verfassungsgerichtlichen Entscheidung für die Beschränkung des Entscheidungsspielraums Unter Methode der Rechtsanwendung oder Rechtsprechung kann wohl nur verstanden werden, daß die konkrete Entscheidung durch Auslegung der geltenden Rechtsnormen gemäß einer gewissen Technik gewonnen wird. An welchen Maßstäben sich diese Technik orientieren soll, mag umstritten sein; sie existiert aber überhaupt nur, wenn sie bestimmte Sollenssätze ausspricht, die den Gebrauch bestimmter Argumente für die Entscheidungsgewinnung und Begründung ge- oder verbietet. Nur dann ließen sich mit ihrer Hilfe legitime Entscheidungen von illegitimen unterscheiden. Es ist aber höchst zweifelhaft, ob der Methodenkanon (in der Form, in der sich das BVerfG zu ihm bekennt und ihn anwendet - insofern es ihn tatsächlich anwendet) diese Leistung zu erbringen vermag. Der Methodenkanon gebietet nicht ausdrücklich, daß alle Auslegungskriterien in jedem Fall anzuwenden wären. Selbst wenn man aber eine solche Regel unterstellen 103 104
*
Vgl. die K r i t i k von H.-P. Schneider II, 445. Vgl. hierzu unter III, 1.
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2. Teil: Normenkontrolle und Methode
konnte, würde dieses wenig nutzen, weil es keine Vorzugsregeln zwischen ihnen gibt. Und da der Methodenkanon des BVerfG solche Regeln nicht enthält (mit der Ausnahme der sich aus der objektiven Theorie ergebenden „negativen" Regel, die aber, wie bereits bemerkt, einen nur relativen Wert besitzt) 105 , kann der Verfassungsrichter ein Kriterium heranziehen, um es dann durch eine mehr oder minder willkürliche Bevorzugung eines anderen Kriteriums .zu beseitigen 106 . Andererseits kann die Kodifizierung der Auslegungskriterien im Methodenkanon - wenn überhaupt - nur wenige denkbare Argumente als den Kriterien nicht gerecht werdende ausschließen 107 . „Denkbares" Argument heißt hier ein Argument, das ein Mindestmaß an Konsensfähigkeit besitzt. Die Grenze zwischen legitimen und illegitimen Argumenten wird also tatsächlich nicht vom Methodenkanon, sondern von der Notwendigkeit eines Plausibilitätsminimums des Urteils gezogen, so daß die Entscheidungen von den Urteilsadressaten akzeptiert werden können 1 0 8 . Denn es ist das „Verhalten der Umsetzungsakteure,. . . von dem . . . die Effektivität" im Sinne der Implementationsmöglichkeit des Spruchs „ganz entscheidend . . . abhängt" 1 0 9 . Bei der Normenkontrolle tritt die Implementationsproblematik dann besonders deutlich hervor, wenn eine Gesetzesregelung beanstandet wird, denn sonst w i r d nur der status quo ante bestät i g t 1 1 0 . Die wichtigsten Umsetzungsakteure sind dabei einerseits der Gesetzgeber, der die für nichtig oder verfassungswidrig erklärte Norm häufig durch eine andere ersetzen muß, um ein entstandenes Regelungsdefizit zu kompensieren, und andererseits die oppositionellen politischen Kräfte sowie die öffentliche Meinung insgesamt, die ihn bei dieser Neuregelung zur Beachtung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung anzuhalten vermögen 1 1 1 . In den politisch wichtigsten Fällen kommt es gerade darauf an, einen
105 Vgl. unter I, 4.
i° 6 Vgl. Kriele I, 87. Ebendies wirft Esser I, 125 der Rechtsprechung des BGH in Zivilsachen vor. io? Vgl. Kriele I, 86. 108 v g l etwa Dreier, 21, der aber nur den „Erwartens- und Toleranzhorizont eines professionalisierten Juristenstandes" als relevant ansieht. In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechimg, die oft gewichtige politische Auswirkungen hat, insbesondere aber in der Normenkontrolle geht es nicht nur und nicht einmal in erster Linie um den Juristenstand, sondern vielmehr um den Erwartens- und Toleranzhorizont der politischen und sozialen Kräfte, d. h. um die realen Machtverhältnisse. i° 9 Gawron / Rogowski, 358. 110 Davon gibt es aber Ausnahmen; so die verfassungskonforme Auslegung, die einer „teilweise(n) Nichtigerklärung" (Schiaich II, 186) gleicht, oder Urteile, die obiter dicta enthalten, welche die zukünftige Gesetzgebung leiten sollen, wie das Radikalenurteil (vgl. im ersten Teil, unter IV, 1). m Dopatka II, 87, und Gawron / Rogowski, 367, legen großen Wert auf die Existenz eines starken Bündnispartners für das BVerfG, also in der Regel einer oppositionellen politischen Kraft, die von der Gesetzesbeanstandung profitiert und politischen Druck auf den Gesetzgeber ausüben kann. Dies ist nur teilweise richtig, denn das hohe Vertrauen der öffentlichen Meinung zum BVerfG (vgl. im ersten Teil, unter IV,
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bereits stattfindenden Konflikt zwischen diesen Faktoren des öffentlichen Lebens, der eine vorläufige Lösung durch die zu prüfende einfachgesetzliche Regelung gefunden hat, nunmehr endgültig durch Richterspruch zu beenden. Insoweit könnte man davon sprechen, daß „das Bundesverfassungsgericht . . . weniger als Gericht denn als Schlichter auftritt" 1 1 2 . Unter diesen Umständen muß das Gericht sich unbedingt als gegenüber den „Parteien" (nicht im prozeßrechtlichen, sondern im politischen Sinne) neutralen Dritten präsentieren, dessen Entscheidungen auf Sachverstand beruhen. Um den Anschein der Neutralität zu erwecken, muß man erstens an der eigenen Tradition, d. h. an der früheren Rechtsprechung, festhalten, um zu beweisen, daß die Entscheidung unabhängig vom jeweiligen Inhaber der Parlamentsmehrheit fällt und keine gezielte politische Aktion gegen ihn darstellt. Herstellung von Kontinuität ist also hier das Stichwort, die sich aber insoweit strukturell konservativ auswirkt, als es dem Gericht dadurch erschwert wird, eine Änderung der Lebensverhältnisse und/oder der herrschenden Anschauungen in den Blick zu nehmen. Die Bedeutung, die das BVerfG der Bewahrung der eigenen Tradition beimißt, kann man beim Durchblättern der Entscheidungsbände erkennen, in denen sich eine Fülle affirmativer Hinweise auf frühere Entscheidungen findet 1 1 3 . Mit der immer stärker zunehmenden Verdichtung der Rechtsprechung des BVerfG zu jedem einzelnen Thema gewinnt diese Grenze seiner Spruchtätigkeit ständig an Bedeutung 114 . Rechtsprechungskontinuität, insoweit sie realiter besteht 115 , garantiert jedoch noch nicht die methodische Richtigkeit; denn immer fragt sich, ob bereits die ursprünglichen Ansätze einer Rechtsprechungslinie oder Argumentationsfigur zutreffend waren. Selbst wenn dies angenommen wird, folgt daraus nicht ohne weiteres die Richtigkeit späterer Entscheidungen, da deren Prämissen, nämlich die Verfassungsnormen, fließend sind 1 1 6 .
4) wirkt auch bei Fehlen eines solchen Bündnispartners auf die Implementation der Entscheidung positiv aus. Es sei hier etwa an das Parteienfinanzierungsurteil vom 19.7.1966 (BVerfGE 20, 56) erinnert, wo sich die Bundesregierung und alle wichtigen politischen Parteien (CDU/CSU, SPD, FDP) für die Verfassungsmäßigkeit des kassierten Gesetzes äußerten (a.a.O., s. 64ff.). 112 Gawron / Rogowski, 367. 113 Vgl. Bryde, 163: „Eine . . . kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Rechtsprechung findet sich . . . so gut wie nicht". 114 Vgl. aber Bryde, 164 ff., bezüglich der Techniken des Gerichts, um den Entscheidungsspielraum nicht durch die eigene Rechtsprechung zu verengen. 115 Vgl. aber die Bedenken von Bryde, 164 m.w.N. 116 Vgl. dazu unter I, 6. Zur Rolle von Präjudizien allgemeiner Koch / Rüßmann, 184: „Praktisch tätige Juristen . . . kommen sehr häufig nicht durch Beachtimg der . . . Auslegungsregeln, sondern durch Rückgriff auf Ergebnisse der rechtswissenschaftlichen Dogmatik und/oder früherer gerichtlicher Entscheidungen (Präjudizien) zur . . . Auslegung". Ähnlich Kriele I, 243: „Die präsumtive Verbindlichkeit von Präjudizien ist für jeden Juristen eine täglich erfahrene Selbstverständlichkeit."
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Um den Anschein der Neutralität zu erwecken, ist es zweitens wichtig, daß in den wenigen politisch wirklich ausschlaggebenden Fällen die Entscheidungen „ausgewogen" sind; dies in dem Sinne, daß sie weder für den Sieger einen vollständigen Erfolg noch für den Unterlegenen eine totale Niederlage bedeuten, damit sich keine politisch relevante Kraft vom Gericht düpiert fühlt. Auch darum bemüht sich das BVerfG 1 1 7 mit einer Konsequenz, die vermuten läßt, daß jene Ausgewogenheit beabsichtigt ist 1 1 8 . Diese Bevorzugung einer „mittleren Linie" weist aber als solche nicht auf methodische Richtigkeit, denn unter gewissen Umständen konnte gerade eine mehr oder weniger „extreme" Position die verfassungsrechtlich gebotene sein, wenn nämlich die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes entweder ganz offensichtlich ist oder seine Verfassungsmäßigkeit gar nicht ernsthaft bezweifelt werden kann. Um den Anschein des auf Sachverstand beruhenden Urteils zu erwecken, benötigt man die Unterstützung der „Sachverständigen". Das sind in erster Linie die Mitglieder des Gerichts selbst: Die Veröffentlichung eines Sondervotums, das einen innergerichtlichen Meinungsstreit zum Ausdruck bringt, kann für den Richtigkeitsanspruch der Entscheidung gefährlich sein; dies aus dem besonderen Grund, daß der Dissenter ebenso wie seine Kollegen die Autorität seines Amtes für sich in Anspruch nehmen kann: Auch er gilt als kompetenter und neutraler Dritter, der die Rechtsvernunft zur Geltung bringt. Dann aber beginnt jene Vernunft merkwürdigerweise einem Januskopf zu ähneln. Es ist also zu konstatieren, daß wegen der „Vorwirkung der Möglichkeit von Sondervoten . . . tendenziell die Neigung wächst, sich um einen Konsens zu bemühen, der die Veröffentlichung eines Sondervotums überflüssig macht" 1 1 9 . Insoweit werden durch das Sondervotum dem Entscheidungsspielraum des Gerichts Grenzen gezogen. Andererseits könnte sich aber das Sondervotum in politisch gelagerten Fällen auch in der Gegenrichtung auswirken, indem es denjenigen politischen und sozialen Kräften oder auch nur Teilen der Fachöffentlichkeit, die mit der Entscheidung nicht einverstanden sind, zeigt, daß ihre Auffassung auch im Gericht selbst zum Ausdruck kommt und vielleicht in Zukunft eine Chance zum Sieg hat, falls die Mehrheitsverhältnisse geändert werden können. Wenn die Unzufriedenen noch rufen können, „ i l y a des Juges in Karlsruhe", und sei es nur in bezug auf die Dissenters, dann ist wohl ihre totale Entfremdung vom Gericht vermieden worden. Dies wird in eindrucksvoller Weise durch die Besprechung des Abtreibungsurteils von W. Abendroth bestätigt 120 , in der 117 Vgl. Ebsen, 353 ff., in bezug auf fünf heftig umstrittene Themen in den 70er Jahren, die Gegenstände von Normenkontrolle vor dem BVerfG geworden waren. 118 Vgl. dazu im Ausblick. 119 Ebsen, 261, unter Hinweis auf W. Geiger. 120 Abendroth III, 121.
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sich hohes Lob für Rottmann 1 2 1 , Rupp-v. Brünneck und Simon neben heftigster K r i t i k an der Mehrheit beider Senate fand. Ferner erfordert der Anschein des Sachverstandes ein Mindestmaß an Zustimmung von Seiten der Staatsrechtslehre. Die Berufung auf literarisch geäußerte Meinungen in Entscheidungsbegründungen weist gerade auf diese Notwendigkeit hin. Im übrigen ist dies aber die am wenigsten w i r k same Grenze: Abgesehen davon, daß auch die Mitglieder des Gerichts selbst publizistisch tätig werden und dadurch ihre Entscheidungen unterstützen können, läßt sich die These vertreten 122 , daß die deutsche Staatsrechtslehre dem BVerfG gegenüber eher an einem übermäßigen Konformismus denn an Antikonformismus leidet. Um sich nochmals auf W. Abendroth zu berufen, handelt es sich um „eine Bundesrepublik in der kritisches Denken immer schamloser diffamiert w i r d " 1 2 3 . Im übrigen vermag zwar die Möglichkeit von K r i t i k durch Sondervoten oder durch die Fachöffentlichkeit ein vorsichtigeres Umgehen des BVerfG mit der Methode zu erzwingen 124 ; dies aber nur unter der Voraussetzung, daß die Methode selbst imstande ist, eine solche Kontrollfunktion auszuüben, was wiederum - wie dargestellt - bezweifelt werden darf. Ferner stellt sich die Frage der methodischen Legitimität nicht nur in bezug auf die Entscheidungen, sondern auch im Hinblick auf die abweichenden Meinungen und die Fachliteratur 1 2 5 . Insgesamt läßt sich konstatieren, daß der Normenkontrolle durch das BVerfG faktische Grenzen gezogen sind, die sich als Implementationsbedingungen der verfassungsgerichtlichen Urteile erweisen. Zum einen lassen aber jene Grenzen dem Gericht einen erheblichen Entscheidungsspielraum, zum anderen garantieren sie keine automatische methodische Legitimität. Das Problem des richterlichen Desizionismus vermögen sie also nicht zu beheben, obwohl ihre Wirksamkeit im übrigen nicht zu bezweifeln ist. Die hohe öffentliche Akzeptanz des Bundesverfassungsgerichts und die ebenfalls hohe Befolgungsrate seiner Entscheidungen läßt vermuten, daß es sich in diesem Bereich politisch geschickt und erfolgreich verhalten hat. Im übrigen ist es interessant zu bemerken, daß sich gerade aus der Einsicht in diese Grenzen der erste historische Fall von richterlicher Prüfung eines Gesetzes wegen seiner Verfassungsmäßigkeit ergab, nämlich Marbury v. Madison 1 2 6 . Marbury war vom Präsidenten Adams als Friedensrichter 121 Wegen seiner vor dem Grundlagenvertragsurteil (BVerfG 36,1) i n bezug auf die Verfassungsmäßigkeit des Vertrags geäußerten Meinung, die zu seiner Ablehnung führte. 122 Empirisch ist sie allerdings nicht verifizierbar, da ihre Bestätigung die Beobachtung einer wirklich unüberschaubaren Fülle von Material voraussetzen würde. 123 Abendroth III, 121. 124 Vgl. etwa Ebsen, 257 f. 125 Vgl. Koch / Rüßmann, 185: „Die Dogmatik bietet. . . hinsichtlich der Begründbarkeit von Auslegungen keine Alternative zu den . . . Auslegungsregeln. "
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ernannt, die Ernennungsurkunde war ihm jedoch am Ende der Amtszeit von Adams nicht ausgehändigt worden. Er reichte dann Klage ein gegen den Innenminister des neuen Präsidenten Jefferson, James Madison, um ihn zu verpflichten, die schon unterzeichnete und mit dem Staatssiegel versehene Urkunde auszuhändigen. Dies lehnte Madison nicht nur ab, sondern er beachtete das vor dem Supreme Court anhängig gewordene Verfahren überhaupt nicht und nahm keine Stellung zu der Klage, obwohl er vom Gericht dazu aufgefordert worden war. Es bestand kein Zweifel, daß Madison eine ihm ungünstige Entscheidung nicht vollstrecken würde. Auf der anderen Seite war aber der Supreme Court der Auffassung, daß dem Kläger tatsächlich ein Recht auf Aushändigung der Ernennungsurkunde zustand, wie es in seiner Entscheidung selbst zum Ausdruck kam 1 2 7 . Um sich weder der Auffassung der Exekutive zu beugen noch die Implementation seiner Entscheidung zu gefährden, hat das Gericht den Umweg gefunden, die Vorschrift des Judiciary Act, auf die sich seine Zuständigkeit für den Fall gründete, auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu prüfen und sie für verfassungswidrig zu befinden! 6. Zu einem konsensorientierten Methodenkanon Die genannten Auslegungskriterien können die von ihnen erwarteten Ergebnisse nicht liefern. Eine „reine Logik" im Labandschen Sinne können sie schon deshalb nicht ermöglichen, weil eine solche metaphysische Logik ein Unding, etwas im Rechtsanwendungsprozeß nicht Vorhandenes ist. Logik kann nur eine zeit- und raumbedingte sein 128 . Demnach sind die Auslegungskriterien als Mittel zur Erkenntnis eines methodisch relevanten Konsens zu erfassen. a) Grammatisches Kriterium Dies gilt zu allererst für die grammatische Auslegung: Sie reicht beispielsweise bei Art. 22 GG, insoweit es sich um die Farben der Bundesflagge handelt, vollkommen aus 129 . Der Grund dafür liegt nicht darin, daß die Wörter „rot", „schwarz" oder „gold" mit bestimmten Farben irgendwie metaphysisch verbunden wären 1 3 0 , sondern darin, daß über den Wortlaut des 126
Zum folgenden ausführlich Scharpf I, 5 ff. m.w.N. Marbury v. Madison, 1 Cranch, 137, 154ff. (1803). 128 Vgl. Schlothauer, 179. 129 Das Beispiel wird von F. Müller III, 150 angeführt. 130 Eine solche Verbindung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem wird in der Semantik nicht mehr vertreten (vgl. Koch, 29f. m.w.N.; Koch / Rüßmann, 159). 127
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Art. 22 GG ein allgemeiner Konsens besteht 131 , d. h. ein Konsens, daß „rot", „schwarz" und „gold" entsprechende Farben repräsentieren. Ebenso ist die Dauer des Amtes des Bundesratspräsidenten schon aus dem Wortlaut des Art. 52 Abs. 1 GG herauszulesen, weil ein allgemeiner Konsens darüber besteht, welcher Zeitabschnitt „ein Jahr" mißt 1 3 2 . Im Anschluß an L. Wittgenstein könnte man also feststellen, daß „die Bedeutimg eines Wortes . . . sein Gebrauch in der Sprache . . . i s t " 1 3 3 . In den bereits erwähnten Beispielen gibt es einen fast einheitlichen Sprachgebrauch, deshalb steht die Bedeutung der entsprechenden Wörter fest. Ein solcher einheitlicher Sprachgebrauch bildet aber eher die Ausnahme als die Regel. Zum einen gibt es mehrere Sprachgebrauchsebenen, wie den allgemeinen hochdeutschen Sprachgebrauch, den juristischen Sprachgebrauch, den speziellen verfassungsrechtlichen Sprachgebrauch und, gegebenenfalls, auch den mit einer bestimmten Vorschrift verbundenen Sprachgebrauch 134 . Daraus folgt, daß es mehrere Konsensebenen gibt. Nun fragt sich, welche Ebene maßgebend ist. Zum anderen ist keineswegs sicher, daß auf einer oder auf mehreren dieser Ebenen ein Konsens tatsächlich besteht. Das Fehlen eines Konsens ist auf mehrere Gründe zurückzuführen: Der gleiche Ausdruck kann in verschiedenen Kontexten unterschiedlich gebraucht werden, also unterschiedliche Bedeutungen haben. Oder es können neue Situationen auftreten, in denen man nicht mehr weiß, wie die alten Ausdrücke zu benutzen sind 1 3 5 . Zu einem Dissens kann es kommen, weil man gemäß seiner sozialen Herkunft und politischen Orientierung dieselben Wörter unterschiedlich versteht und verwendet. Dies gilt für viele Ausdrücke, die im Grundrechtsteil des Grundgesetzes aufgenommen worden sind, wie Freiheit, Gleichheit, Menschenwürde usw. (gerade dadurch wurde ihre Aufnahme im GG erleichtert). Es kann auch so sein, daß ein Konsens nur teilweise besteht 136 .
131 Vgl. Habermas in: Habermas / Luhmann, 188: „Der Sinn des Sinnes besteht zunächst darin, daß er intersubjektiv geteilt wird, daß er für eine Gemeinschaft von Sprechern und Handelnden identisch sein kann". 132 Es wird hier nicht angenommen, daß die Entstehung eines solchen Sprachkonsens etwa das Ergebnis einer herrschaftsfreien Kommunikation ist. Es geht vielmehr um einen Konsens, der von den bestehenden sozialen und politischen Herrschaftsstrukturen geprägt ist. Vgl. etwa Marcuse, 110, wonach eines der wirksamsten Rechte des Souveräns darin bestehe, durchsetzbare Definitionen von Wörtern festzulegen. 133 Wittgenstein, Nr. 43. Vgl. auch die Entscheidung des BGH zu der Frage, ob Öffnungen in Häuserwänden, die mit Glasbausteinen ausgefüllt sind, als Fenster zu qualifizieren sind, die mit Rücksicht darauf getroffen wurde, was man im üblichen deutschen Sprachgebrauch unter Fenster versteht, bei Koch, 34f. Ferner Alexy, 289: „Hinweis auf den Sprachgebrauch". 134 Vgl. Stein II, 114 f. 135 v g l Koch, 41 ff., der zwischen semantischen Spielräumen, die durch „Mehrdeutigkeit und Mehrwertigkeit", „Vagheit" und „Porosität" der Ausdrücke verursacht worden sind, unterscheidet.
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Die Hierarchisierung der verschiedenen Konsensebenen erweist sich in mehrfacher Hinsicht als schwierig 137 : Wenn die Auslegung problematisch erscheint, ist der mit einer spezifischen Vorschrift des Grundgesetzes verbundene Sprachgebrauch gerade nicht vorgegeben, sondern aufgegeben. Der allgemeinere verfassungsrechtliche Sprachgebrauch kann seinerseits nur selten Fragen ohne weiteres beantworten, die konkrete Verfassungsnormen betreffen. Es wäre auch zu fragen, wie eigentlich jener Sprachgebrauch zustande kommt. Wenn man dies als gleichgültig betrachtet, indem man sich allein an den Definitionen orientiert, die von den primären (Verfassungsrichter) und sekundären (Verfassungsrechtler) Verfassungsinterpreten 138 stammen, dann proklamiert man jene Gruppe zur ausschließlichen Interpretationsinstanz über die Verfassung und dadurch zugleich zum alleinigen Inhaber der suprema potestas. Dies ist nicht nur politisch unhaltbar, sondern auch verfassungsrechtlich inakzeptabel, weil undemokratisch 139 . Auch am allgemeinen juristischen Sprachgebrauch kann man sich nicht allein orientieren: Zum einen wird die Normenhierarchie durch die unbeschränkte Übernahme der Begrifflichkeit des niederrangigen Rechts in die Verfassung möglicherweise gefährdet 140 . Zum anderen ist die Rechtssprache „ein Sonderfall der allgemeinen Sprache, keine von ihr völlig gelöste Sprache", wie K. Larenz bemerkt 1 4 1 . Dies gilt insbesondere für die verfassungsrechtliche Sprache, die der zivil- oder zivilprozeßrechtlichen Sprache gegenüber durch ihre geringere Technizität gekennzeichnet ist: wegen des der Verfassung immanenten deklaratorischen Charakters 142 kann dies nicht anders sein. Denn seine legitimatorische Funktion hat für das Verfassungsrecht eine erhebliche größere Bedeutung als für andere Rechtsdisziplinen. Daher müssen Verfassungsbegriffe so weit wie möglich für jedermann verständlich sein 143 . Jene deklaratorische Eigenart ist vor allem bedingt durch das Erfordernis, die sich in den ersten Nachkriegs jähren neukonstituierende rechtliche und politische Ordnung, in ihrer von allen als relevant anerkannten gesellschaftlichen und politischen Kräften konsentierten Identität mit aller Feierlichkeit und Deutlichkeit in der Verfassungsurkunde selbst hervortreten zu lassen. Durch Begriffe wie „Verantwortung vor Gott und den Menschen",
136 v g l die Unterscheidung von Engisch II, 108, in Anschluß an Heck, zwischen „Begriffskern", wobei „ w i r " (?) „uns über Inhalt und Umfang der Begriffe im klaren sind" und „Begriffshof,... wo sich die Zweifel einstellen". 137 Schwieriger jedenfalls, als E. Stein II, 114f. zu glauben scheint. 138 Dazu unter II, 5. 139 vgl. i m ersten Teil, IV, 7, und im zweiten Teil, II, 5. ho vgl., W e n n auch etwas weitergehend, Leisner 5 und passim. Larenz, 306. Vgl. Esser I, 48ff. ? Dazu auch im ersten Teil, I, 4. ι « Vgl. Häberle II, 122. 14
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„Frieden der Welt", „Würde des Menschen", „unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte", „menschliche Gemeinschaft" (statt Volksgemeinschaft!), „Gerechtigkeit in der Welt", „freiheitliche demokratische Grundordnung" usw. sollte offensichtlich der Wille bekundet werden, sich von der nationalsozialistischen Vergangenheit zu distanzieren. Beim Grundgesetz wie bei den meisten anderen Verfassungen handelt es sich also nicht nur um ein Gesetz, sondern auch um eine feierliche Charta der herrschenden Ideologie 144 . Wie bereits am Beispiel von Art. 12 Abs. 1 GG angedeutet 145 , zieht dies der normativen Funktion, also dem „Interpretationswert", Grenzen 146 . Im Ergebnis ist zu konstatieren, daß eine demokratische Methode vom allgemeinen (hochdeutschen) Sprachgebrauch auszugehen hat 1 4 7 . Wenn dieser Sprachgebrauch ganz einheitlich ist, wie in den oben angeführten Beispielen der Bundesflagge und des Bundesratspräsidenten, dann erlangt er normative Verbindlichkeit für das BVerfG: Es wäre eine Verfassungsdurchbrechung, wenn eine verfassungsgerichtliche Entscheidung anordnen würde, die heute als „weiß" verstandene Farbe sei nunmehr als „gold" zu verstehen und solle die heute als „gold" geltende in der Bundesflagge ersetzen. In den meisten Fällen wird freilich der Sprachgebrauch nicht so einheitlich sein; insoweit stellen die oben angeführten Beispiele eher Ausnahmefälle dar. Für die Feststellung jenes allgemeinen Sprachgebrauchs ist potentiell das gesamte deutschsprachige Schrifttum von Bedeutung. Der mündliche Sprachgebrauch kann dagegen nicht berücksichtigt werden, da er äußerst fließend und schwierig feststellbar ist. Um der Notwendigkeit zu entgehen, bei der Feststellung des allgemeinen Sprachgebrauchs eine unüberschaubare Fülle von Material berücksichtigen zu müssen, können Wörterbücher oder Fachliteratur, die sich mit dem semantischen Gehalt von Wörtern befaßt, behilflich sein. Für die Feststellung des juristischen Sprachgebrauchs kommt dagegen nur das juristische Schrifttum in Betracht und für die Feststellung des verfassungsrechtlichen Sprachgebrauchs nur das staatsrechtliche Schrifttum. Auch in Fällen, in denen er umstritten ist, kann der Sprachgebrauch Anhaltspunkte anbieten. Es steht beispielsweise vom Sprachgebrauch her nicht ganz fest, ob die Extension (reference) des sprachlichen Zeichens
144 Hier sowohl im Sinne von „sozial wirksamen Wirklichkeitssichten und Werthaltungen" als auch im Sinne von „verzerrte(r) Wirklichkeitssicht" (vgl. dazu Ebsen, 64 m.w.N.). 145 Im ersten Teil, unter II, 4, und im zweiten Teil, unter II, 3. 146 Vgl. Ebsen, 65ff., unter Berufung auf den Kompromißcharakter der „ideologiehaltigen Elemente der Verfassung", welcher „bisweilen um den Preis der Präzision erkauft ist". 147 Vgl. etwa Leisner, 12.
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„Leben" im Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auch das sich im Mutterleib entwikkelnde Leben umfaßt 1 4 8 . Alle im Bundestag vertretenen Fraktionen bejahten diese Frage, als die Reform des § 218 StGB diskutiert wurde 1 4 9 . Dieser Konsens aller im Parlament vertretenen politischen Kräfte, die im heutigen politischen System die Hauptträger demokratischer Legitimation sind, sollte im Hinblick auf den Ausdruck „Leben" - nicht dagegen im Hinblick auf den Ausgang des Normenkontrollverfahrens (es wird also nicht angenommen, daß einstimmig beschlossene Gesetze nicht beanstandet werden können) ein gewichtiges Indiz auch für das BVerfG sein. Über ihn sollte sich das Gericht nur unter der Voraussetzung hinwegsetzen können, daß es sich auf ebenfalls gewichtige genetisch-historische oder systematisch-teleologische Gesichtspunkte stützen kann. Nicht nur der Konsens, auch der Dissens sollte aber als methodisch relevant angesehen werden. Politischer Dissens herrscht, wie bereits bemerkt, im Hinblick auf mehrere Begriffe des Grundgesetzes. Ein charakteristisches Beispiel ist der Gleichheitssatz. Er kann in verschiedener Weise konzipiert werden: als Gleichheit, die den Abbau der Klassengesellschaft fordert, oder als Gleichheit, die nur formal verstanden wird, als Gleichheit der gesetzlichen Regelung oder auch nur als Gleichheit vor dem Gesetz, unabhängig davon, ob die tatsächlichen Situationen gleich oder ungleich sind. Dieser letzte Gleichheitsbegriff führt dazu, die bestehenden (ungleichen) sozialen Strukturen zu verfestigen. Obwohl keine dieser beiden extremen Anforderungen heute in der Bundesrepublik politisch relevant ist, bilden nichtsdestoweniger die von den politischen Kräften und von den sozialen Gruppen über die Gleichheit vertretenen Auffassungen, die naturgemäß vom sozialen Status und von der politischen Anschauung abhängen, ein ziemlich breites Spektrum 1 5 0 . Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der Normenkontrolle 151 kann es nicht sein, diesen politischen Dissens autoritativ und ein für allemal verbindlich zu lösen: Dazu fehlt ihm die demokratische Legitimation.
148 Zum semiotischen Dreieck (sprachliches Zeichen-Intension-Extension) Koch / Rüßmann, 12 8 ff. 149 Vgl. die Darstellung i n BVerfGE 39,1,12 ff. und die Zugeständnisse des Bundesjustizministers (a.a.O., s. 24) und des Vertreters des Bundestages (a.a.O., s. 30). 150 Einen Dissens setzen freilich alle Normenkontrollverfahren voraus, indem ein Antragsberechtigter die Verfassungsmäßigkeit einer einfachgesetzlichen Vorschrift bestreitet. Methodisch relevant ist nicht dieser einen konkreten Fall betreffende Dissens, sondern jener, der den Sinn grundgesetzlicher Aμsdrücke betrifft und sich als dauerhaft und politisch bedingt erweist. 151 Dies gilt freilich nur in bezug auf die Normenkontrolle, wo der Verzicht auf eine Lösung des Dissenses nur auf die Aufrechterhaltung des zu prüfenden Gesetzes bedeutet. In anderen Zweigen der Gerichtsbarkeit oder in bezug auf andere Funktionen des BVerfG, ζ. B. bei Entscheidungen über Organstreitigkeiten, würde dies zur Justizverweigerung führen und wäre deswegen unannehmbar.
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Es bleibt nichts anderes übrig, als zwischen der Verfassungsvorschrift als Handlungs- und Kontrollmaßstab zu unterscheiden 152 : Der Verfassungsrichter darf nur die Vertretbarkeit der vom Gesetzgeber gegebenen Lösung überprüfen 153 . Als Kontrollmaßstab w i r d die Norm auf dieses Minimum beschränkt. Den politischen Kräften kann aber nicht verwehrt werden, sich über die beste, gerechteste usw. Lösung auseinanderzusetzen und ihre verschiedenen Auffassungen auch damit zu begründen, daß sie dem Geist der Verfassung besser entsprechen. Dies wurde in den USA vom Supreme Court in aller Deutlichkeit anerkannt: Im Fall Katzenbach v. Morgan 1 5 4 wurde dem Kongreß die Möglichkeit eingeräumt, gewisse „literacy tests" zu untersagen, weil diese nach Auffassung der Legislative gegen die „equal protection clause" der amerikanischen Verfassung verstießen, obwohl nach Ansicht des Supreme Court selbst ein solcher Verstoß nicht festzustellen war 1 5 5 . Die richterliche Kontrolle der Vrfassungsmäßigkeit kann also die politische Kontrolle nicht in vollem Maße ersetzen: In dem verbleibenden Bereich stellt die Verfassungsnorm bloß einen Handlungsmaßstab dar, der im Prozeß der demokratischen politischen Willensbildung zur Geltung zu bringen ist. Mit der hier vertretenen Position sind verschiedene Lehren zum Problem des unbestimmten Rechtsbegriffs im Bereich des Verwaltungsrechts zu vergleichen (Beurteilungsspielraum, Vertretbarkeitslehre, Einschätzungsprärogative), die dahin tendieren, der Verwaltung bei der Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe einen Bereich eigenverantwortlicher, gerichtlich nicht voll überprüfbarer Entscheidungen anzuerkennen 156 . Diese Lehren stoßen aber in der Rechtsprechung auf Ablehnung, die der Verwaltung nur in Ausnahmefällen gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbare Beurteilungsspielräume zugesteht 157 . Es ist hier nicht der Ort, dieses „den derzeit umstrittensten Bereich des Verwaltungsrechts" bildende Problem 1 5 8 näher zu erörtern. Es darf nur darauf aufmerksam gemacht werden, daß die verwaltungsrechtliche Diskussion auf das Verfassungsrecht nicht übertragbar ist: Denn zwischen Verwaltungsbehörden und Verwaltungsgerichten bestehen nicht die gleichen Unterschiede an demokratischer Legitimation wie zwischen dem Gesetzgeber und dem Bundesverfassungsgericht. Davon abgesehen, können verwaltungsgerichtliche Urteile in aller Regel nicht zu einer ähnlichen Versteinerung des Rechtszustandes führen wie dies bei ver-
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So bereits Hesse III, 269. Vgl. auch Hesse II, 136, 179f., 229. Dazu unter IV, 2. 384 U.S. 641 (1966). Zum ganzen ausführlich Tribe, 27 ff. Vgl. Maurer, 101 f. m.w.N. Vgl. Maurer, 102ff. m.w.N. Maurer, 105.
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fassungsgerichtlichen Entscheidungen der Fall ist, da die Gesetze, auf denen sie beruhen, im Vergleich zu Verfassungsvorschriften unter leichteren Voraussetzungen abänderbar sind. Im Endergebnis ist festzustellen, daß in den meisten Fällen die grammatische Auslegung nur einen Ausgangspunkt darstellt. Die Heranziehung der anderen Auslegungskriterien ist also in aller Regel unentbehrlich.
b) Historisches Kriterium Auch das historische Kriterium zielt eindeutig auf die Erkenntnis eines Konsenses nämlich dessen, welcher in der Vergangenheit über den Sinn einer ähnlichen Rechtsinstitution oder Vorschrift bestand 159 . Es steht aber unter dem Vorbehalt der ausdrücklichen oder auch stillschweigenden Bestätigung durch den Grundgesetzgeber, denn es ist ohne diese Bestätigung nicht einzusehen, woraus der alte Konsens seine normative Verbindlichkeit auch unter der neuen, veränderten Lage herleiten könnte. Dies gilt beispielsweise bei den Grundrechten: Die Berufung auf ihren Ursprung als Abwehrrechte gegen den Staat vermag sie nicht auch heute automatisch als solche zu qualifizieren. Es ist dagegen m. E. unzulässig, die hier und heute zu leistende Verfassungsauslegung an konstitutionellen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts binden zu wollen. Gerade das Grundgesetz bringt im Art. 15 und in der Sozialstaatsklausel ein anderes verfassungspolitisches Verständnis zum Ausdruck. Dies wurde freilich vom BVerfG im Lüthurteil nicht zur Kenntnis genommen, und so blieb nichts anderes übrig, als die objektive Dimension der Grundrechte auf eine dunkle, normativ unbegründete Wertordnung zurückzuführen 160 . Ebensowenig ist aber den Kritikern der Wertordnungslehre zuzustimmen, wenn sie meinen, „mit den überkommenen Interpretationsmethoden ließen sich die objektiven Wirkungen der Grundrechte nicht begründen" 161 . Die historische Auslegung kann unter 159 Dagegen meint Alexy, 294, daß von „einem historischen Argument gesprochen werden kann, wenn Tatsachen aus der Geschichte des diskutierten Rechtsproblems als Gründe für oder gegen eine Auslegung angeführt werden". Dies bedeutet aber, daß man jene Geschichte prüft, um die Konsequenzen einer bestimmten Lösung des Problems zu konstatieren und sie dann aus diesem Grunde als empfehlenswert oder nichtempfehlenswert anzunehmen. Dies ist aber nichts anderes als eine teleologische Interpretation, denn genau da handelt es sich um die Erwünschtheit der Konsequenzen. 160 BVerfGE 7, 198, 204. Beispiele geglückter historischer Auslegung stellen dagegen BVerfGE 32, 54, 69ff. und BVerfGE 67, 256, 283ff. dar, wo die historische Auslegung unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte benutzt wird. 161 So aber Gusy, 68, und, bezüglich des Hochschulurteils (BVerfGE 35, 79ff.) Müller IV, 25 f. Aus Anlaß der Müllerschen Ausführungen bemerkte Maus, 168, daß jenes Grundrechtsverständnis ebenfalls gegen eine Konzeption, „die aus der politischen Verfassung Konsequenzen für eine Demokratisierung der Gesellschaft zieht", mobilisierbar sei.
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Rückgriff auf ältere deutsche Verfassungstexte und auf ältere, d. h. vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes veröffentlichte, staatsrechtliche Literatur, oder auch auf die Rechtsprechung jener Zeit (beispielsweise auf die Entscheidungen des Reichsgerichts), erfolgen. Auch die entstehungsgeschichtliche Auslegung zielt auf Konsenserkenntnis, nämlich eines Konsenses, der im Parlamentarischen Rat über die Bedeutung eines im Grundgesetz aufgenommenen Ausdrucks bestand; gerade darunter, nämlich unter der Unterstellung eines tatsächlich gar nicht vorhandenen Konsens, leidet die entstehungsgeschichtliche Argumentation im Abtreibungsurteil 162 . Im Hinblick auf seine Entstehungsgeschichte kann das Grundgesetz durch Bezug auf den Herrenchiemseeren Entwurf, die Verhandlungen im Parlamentarischen Rat und ähnliche Materialien aus jener Zeit interpretiert werden. c) Logisch-systematisches Kriterium Auch in der logisch-systematischen Auslegung zeigt sich, daß Rechtsanwendung nichts mit reiner, absoluter Logik zu tun hat, sondern nur mit einer relativen, geschichtlich bedingten Logik. Logisch-systematisch wird deshalb ausgelegt, weil mehrere Vorschriften als einschlägig gelten können. Was für einen Sinnzusammenhang zwischen ihnen besteht und ob sie überhaupt inhaltlich einschlägig sind, läßt sich nicht „rein logisch" ermitteln, sondern nur für den jeweiligen Regelungszweck. Daher läßt sich „die systematische Auslegung von der teleologischen kaum trennen" 1 6 3 . Auch die angeblich „logischen" Argumente, wie e contrario und per analogiam, dürfen nur teleologisch verwendet werden, denn sonst könnte das eine ebensogut wie das andere benutzt werden 1 6 4 . Ein Beispiel solcher geglückten logisch-systematischen Auslegung mit Rücksichtnahme auf den Regelungszweck stellt das Urteil über das Investitionshilfegesetz dar. Im Bereich der Finanzverfassung sei für Analogieschlüsse kein Raum, führt das Gericht aus, weil die politische Sensibilität des Sachbereichs der steuerlichen Einnahmen nach einer erhöhten Schutzwirkung der einschlägigen Verfassungsvorschriften für den Bürger verlange, welche ihrerseits den politischen Prozeß fördere und entlaste. Dies sei aber nur durch strikte Formenklarheit und strikte Formenbindung zu erreichen, deren Lockerung durch Analogieschlüsse auszuschließen sei 165 . Das 162 Vgl. unter I, 4. 163 Engisch II, 79. Vgl. Larenz, 312f. und Stein II, 118: Ziel der systematischen Auslegung sei die Erhaltung der Tauglichkeit der Verfassung „als Instrument normativer Integration". 164 v g l Esser I, 110. Kritisch zur „logischen" Begründbarkeit der juristischen Schlußformen auch Koch / Rüßmann, 258. 165 BVerfGE 67, 256, 288f.
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BVerfG geht hier von der Eigenart des Sachbereichs aus, welche den Regelungszweck erhellt und die systematische Auslegung leitet. Auf diesem Weg lehnt es auch den Gebrauch der Argumentationsfigur des milderen Mittels ab: Eine rückzahlbare Abgabe belaste zwar den Bürger weniger als eine solche, die dem Staat endgültig zufließt, sei aber kein milderes Mittel, denn „die Schwelle für die Einführung einer rückzahlbaren Abgabe . . . i s t . . . wesentlich niedriger als die Schwelle für Steuererhöhungen". Für den Bürger würde eine solche Ausweichlösung anstelle einer politisch nicht durchsetzbaren Steuer „ein Danaer-Geschenk" bedeuten 166 . Ein Gegenbeispiel stellt das neueste Kriegsdienstverweigerungsurteil des zweiten Senats dar: Hier wurde aus einer Reihe von Verfassungsvorschriften (Art. 12a, 73 Nr. 1, 87a und 115b GG) eine „verfassungsrechtliche Grundentscheidung für eine wirksame militärische Landesverteidigung" herausgelesen 167. Bemerkenswert ist indessen, daß es sich dabei um bundesstaatliche Kompetenzvorschriften (Art. 73 Nr. 1, 87a GG), Ermächtigungsnormen (Art. 12 a GG) oder Organisationsregelungen (Art. 115 b GG) handelt, also um „Gegenstände möglichen staatlichen Handelns" (mit Ausnahme freilich des Art. 115 b GG, der aber in der Entscheidungsbegründung eher beiläufig erwähnt w i r d und in jenem Zusammenhang nur eine geringe Rolle spielt). Mit der Annahme einer solchen verfassungsrechtlichen Grundentscheidung werden sie aber „zu materiell-rechtlichen Handlungsaufträgen" für den Gesetzgeber umgedeutet 168 . Übertragen auf die Gesamtheit der bundesstaatlichen Kompetenzvorschriften bedeutete dies, daß sie alle oder doch die meisten von ihnen zu verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen proklamiert werden könnten, deren Vollstreckung eine Pflicht des unter Kontrolle des BVerfG stehenden Gesetzgebers wäre. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle würde sich aber nicht nur auf das bundesgesetzgeberische Tätigwerden, sondern auch auf die Ausführung im Detail erstrecken, da die Pflicht des Gesetzgebers mehr umfasse als nur das Treffen von Maßnahmen oder die Errichtung von Institutionen (hier: Bundeswehr) überhaupt, nämlich das Treffen der geeigneten Maßnahmen, die Errichtung von funktionsfähigen Institutionen (funktionsfähige Bundeswehr), so daß deren Wirksamkeit im Ergebnis (wirksame Landesverteidigung) gesichert ist. Dies würde freilich das Ende der Gesetzgebung als selbständiger Funktion und die Apotheose des Richterstaats bedeuten. Es gibt keinen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt, der eine solche Entwicklung rechtfertigen könnte.
166 BVerfGE 67, 256, 289. BVerfGE 69, 1, 21. In ähnlicher Richtung bereits die frühere Rechtsprechung (BVerfGE 28, 243, 261; 32, 4Ò, 46; 48, 127, 159). 168 Sondervotum Mahrenholz / Böckenförde, BVerfGE 69, 57, 60. 167
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d) Teleologisches Kriterium Das teleologische ist das mit Abstand wichtigste Auslegungskriterium. Eine Norm ist schon ihrem Begriff nach immer auf Gestaltung der sozialen Wirklichkeit hin angelegt. Ohne Rücksicht auf die zu ordnende Wirklichkeit kann sie überhaupt nicht ausgelegt werden: Die Ordnung und das zu Ordnende sind in einem ständigen dialektischen Wechselverhältnis begriffen. Zu Recht wurde bemerkt, daß „jeder Rechtsbegriff . . . auf die gestellte Ordnungsaufgabe hin relativ" ist 1 6 9 . Man ist sogar soweit gegangen, in der „sprachliche(n), historische(n) und systematische(n) Auslegung nichts anderes als Aspekte einer teleologischen Auslegung" zu sehen, denn es handele sich bei der Auslegung von Rechtsnormen „immer um die Ermittlung ihres Telos im Sinne einer zweckbezogenen Bedeutung" 170 . Es sollte aber nicht angenommen werden, daß das Telos der Norm sich nur aus Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Systematik ergibt. Jenes Telos ergibt sich vielmehr aus der Projizierung einer Vorschrift einschließlich ihres vorgegebenen Wortlauts und ihrer Entstehungsgeschichte auf die soziale Wirklichkeit, die die Norm regeln soll. Nur wenn Rücksicht auf die Vorgaben dieser Wirklichkeit genommen wird, läßt sich das Telos der Norm und damit ihre Bedeutung feststellen. Dabei geht der Einwand, eine solche Betrachtungsweise verwische „den Unterschied zwischen legitimer systematischer Interpretation von Gesetzesbegriffen und illegitimer unmittelbarer Einbeziehung sozialer Aufgaben einer Norm in ihre rechtliche Interpretation" und drohe so „das Recht der Wirklichkeit unterzuordnen" 171 in zweierlei Hinsicht fehl. Zum einen ist die systematische Auslegung, wie bereits bemerkt, ohne Rücksicht auf die Regelungszwecke, die unter Berücksichtigung der zu ordnenden Wirklichkeit ermittelt werden, unzulässig, wenn man eine willkürliche richterliche Dezision ausschließen will. Zum anderen geht es bei dieser Einbeziehung der Wirklichkeit gar nicht um ihre Vorordnung gegenüber dem Recht, sondern um ihre Normierung durch dasselbe: Wenn man „rein rechtliche" Interpretation „logisch" betreibt, dann könnte es wohl dazu kommen, daß infolge tatsächlicher Entwicklungen und Sachstrukturen die Norm in ihrer praktischen Anwendung Ergebnisse liefert, die mit ihren ursprünglichen Aufgaben nichts mehr zu tun haben. Gerade dies bedeutete aber Unterordnung des Rechtes unter der Wirklichkeit. Wenn dagegen die konkreten politischen und sozialen Aufgaben der Norm (nicht nur die Absichten des Normset169
Esser I, 102. Vgl. F. Müller III, 121: Eine Rechtsnorm sei ein „sachgeprägtes Ordnungsmodell". Dies ist wegen des Sozialstaatsprinzips auch verfassungsrechtlich geboten (vgl. im ersten Teil, unter V, 3). i™ Stein II, 98. 171 Lecheler, 2277. 8 Chryssogonos
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zers!) 172 in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation in den Interpretationsvorgang einbezogen werden, dann ist die Normierung jener gesellschaftlichen Wirklichkeit durch das Recht überhaupt erst möglich. Die hier kritisierte Auffassung der juristischen Methode bleibt einem dualistischen Trennungsdenken verhaftet, das Staat und Gesellschaft als unterschiedliche, voneinander unabhängige Größen begreift 173 . Die Rechtsprechung sei eine ausschließlich staatliche Funktion, ihr normativer Rohstoff, das Gesetzesrecht, ein ebenso ausschließlich staatliches Produkt, die Gesellschaft aber ein strikt vom Staate getrennter Bereich, der nur als Regelungsobjekt fungiere. Unter dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ist diese Auffassung jedoch kaum haltbar: Der bundesrepublikanische Staat soll ein Sozialstaat sein. Wie bereits bemerkt, macht dies die Realanalyse der sozialen Umstände zum notwendigen Bestandteil der Verfassungsinterpretation 174 . Deshalb kann der Auffassung, wonach der heutige Jurist bei der Bewältigung seiner Entscheidungsaufgabe „Zweckerwägungen nur sekundär zur Ausräumung von Auslegungszweifeln" heranzieht 175 , nicht zugestimmt werden. Die Ausräumung von Auslegungszweifeln ist keine sekundäre, sondern geradezu die primäre Aufgabe des Juristen und insbesondere des Richters 176 , welche sich nur unter Heranziehung solcher Zweckerwägungen bewältigen läßt 1 7 7 . Selbst die Feststellung, es gebe kein Auslegungsproblem, stellt einen Auslegungsakt dar 1 7 8 . 172 Denn es könnte so sein, daß sich die subjektiven Absichten des historischen Gesetzgebers als den angeblichen Normzwecken entgegengesetzt erweisen. Wenn beispielsweise ein Anti-Trust-Gesetz unter dem Druck mächtiger Kartelle verabschiedet wird, das die Kartelle weiter stärken soll, dann muß es doch teleologisch (objektiv) gegen die Kartelle interpretiert werden. 173 Auf die Trennung von Staat und Gesellschaft nimmt Lecheler, 2277, ausdrücklich Bezug. 174 Vgl. im ersten Teil unter V, 3. 175 Luhmann, 3. An anderer Stelle (Luhmann in Habermas / Luhmann, 70) hat jedoch derselbe Autor die „gegenwärtig verbreitete Überschätzung der Funktion von Sprache" bemängelt und bemerkt, daß „Wortsignale... grenzanzeigende Funktion haben, aber Sprache allein eine zu hohe Beliebigkeit... hat" (ebd. 74). Wenn dies aber so ist, dann ist es kaum zu verstehen, wie Luhmann den Normtexten, die ja sprachlich formuliert sind, eine so hohe Leistungsfähigkeit beimißt, die es ihm ermöglicht, die Auslegungszweifel als von nur sekundärer Bedeutung anzusehen. Kritisch zur Luhmannschen Auffassung der Konditionalprogrammierung Ebsen, 228, bezüglich der von ihm sog. „richterlichen Konkretisierungsentscheidungen". 176 Vgl. Esser 1,127. 177 Deswegen trifft die Feststellung, Normen stellen „kontrafaktisch stabilisierte Erwartungen" dar, welche „gegen d i e . . . Implikationen eines Enttäuschungsfalles abgesichert sind" (Luhmann in Habermas / Luhmann, 65 ff.), nicht ganz zu. Eine Rechtsordnung und insbesondere eine Verfassungsordnung, die unter erschwerten Voraussetzungen abänderbar ist, soll durch die Zweckerwägungen auf der Interpretationsebene ein permanent lernendes System sein. Der „Enttäuschungsfall" kann nicht als interpretatorisch irrelevant gelten. 178 Vgl. Engisch II, 232, Anm. 74 a, m.w. umfassenden N.
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Durch die teleologische Auslegung sollen angesichts der bestehenden Sachstrukturen und Machtverhältnisse funktionsfähige Lösungen erzielt werden 179 . Dies ist aber keine rein technische Aufgabe, die sich nur durch überragende Sachkenntnisse bewältigen ließe 180 . Wenn man feststellen kann, daß „bei einem so komplexen System wie der Gesellschaft... sich kausal bestimmte Verläufe schwer voraussagen . . . lassen" und daß es unter diesen Umständen unmöglich ist, „aus einer Funktion auf eine Leistung, aus Zwecken auf Mittel, aus Problemen auf Problemlösungen zu schließen" 181 , so spricht dies nicht dafür, die Zweckerwägimg aus dem Rechtsanwendungsprozeß auszuschließen, sondern bedeutet nur, daß jene Erwägung nicht ausschließlich durch Sachkenntnisse geleitet werden kann. Denn zum einen sind diese Kenntnisse ihrerseits relativ und müssen von daher selbst Konsensgegenstand sein 182 , zum anderen sollen die sich aus der Sachlage ergebenden Konsequenzen, falls die Auslegungsvariante A oder Β als vorzugswürdig anerkannt wird, bewertet werden, bevor man die eine oder die andere Alternative zu wählen imstande ist 1 8 3 . Zwischen dieser Bewertung und der Bewertung, die die Legislative im Vorgang der Normsetzung unternimmt, gibt es keinen qualitativen Unterschied 184 wohl aber bezüglich der Vorgaben, die beide Verfahren als legitim gelten lassen. Denn zur Lösung von Wertungsdissensen durch Dezision ist - von seiner Stellung im Gefüge der Staatsfunktionen und insbesondere von seiner demokratischen Legitimation her - der Gesetzgeber legitimiert, nicht aber der Richter - und sei es auch der Verfassungsrichter 185 . Deswegen müssen verfassungsrichterliche Wertungen im Rahmen der teleologischen Interpretation, insbesondere bei der Normenkontrolle, wo 179 Vgl. Larenz, 319 f. Die „Funktionsfähigkeit" verschiedener gesellschaftlicher Institutionen taucht als Argumentationsfigur bei mehreren gewichtigen Entscheidungen auf (vgl. BVerfGE 1, 208, 248; 6, 104, 112; 13, 243, 247; 35, 79, 124; 48, 127, 159; 50, 290, 334; 65, 1, 50; kritisch dazu Christensen / Kromer, 41 f.) obwohl ihr Gebrauch nicht immer einwandfrei gewesen ist (vgl. unter IV, 5). 180 Gerade hier scheint mir die Müllersche Normbereich-Konzeption bedenklich zu sein (vgl. unter II, 3). 181 Luhmann, 9ff. 182 Vgl. dazu unter II, 3. 183 Vgl. Alexy, 296f.; Koch / Rüßmann, 227, 230. Larenz, 319ff. stellt „Strukturen des geregelten Sachbereichs, . . . die . . . der Gesetzgeber vernünftigerweise bei jeder Regelung mit berücksichtigt", und „rechtsethische Prinzipien,... in denen der Sinnbezug . . . einer Regelung... auf die Rechtsidee faßbar" wird, nebeneinander. Er macht nicht ganz deutlich, ob die rechtsethischen Prinzipien die Tatsachenbewertung leiten sollen oder ob es sich um voneinander unabhängige Kriterien handelt. 184 H.-P. Schneider I, 33, spricht von der „gemeinsame(n) Aufgabe einer Integration der Rechtsgemeinschaft", die sowohl der Gesetzgebung als auch der Rechtsprechung zukommt, deren Verhältnis „weniger die unterschiedliche Tätigkeit an sich als eine sachgebundene Arbeitsteilung" kennzeichnet. Ferner Ebsen, 38: „Wenn objektivteleologische Argumente zur Begründung einer Prämisse verwendet werden, so gibt es keinen prinzipiellen Unterschied zur Begründung von Normvorschlägen i n Gesetzgebungsverfahren" . 185 Vgl. im ersten Teil, unter IV, 7.
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das Konkurrenzverhältnis mit dem Gesetzgeber evident ist, von einem Konsens getragen sein. Funktionsfähigkeit bedeutet also in diesem Zusammenhang Konsensfähigkeit 1 8 6 . Jene bildet Ziel und zugleich Grenze der teleologischen Auslegung. Welche Anforderungen an die richterliche Interpretationstätigkeit sich daraus insgesamt ergeben, kann hier dahingestellt bleiben. In bezug auf die Normenkontrolle stellt sich das besondere Problem des Konkurrenzverhältnisses zwischen Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit: Der Gesetzgeber stellt Tatsachen, meistens allgemeine Tatsachen (legislative facts) 187 fest und zieht daraus Konsequenzen für die Beantwortung der Frage, welche Regelungen der sozialen Wirklichkeit erforderlich oder zweckmäßig sind. Dieselben Tatsachen sind aber auch für die Verfassungsinterpretation von erheblicher Bedeutung. Im Gegensatz zum Verfassungsrichter ist aber der Gesetzgeber dazu durch sein demokratisches Bestellungsverfahren und vor allem dadurch, daß er politische Verantwortung trägt, legitimiert 1 8 8 . Dem darf das BVerfG im Prinzip nur dann entgegentreten, wenn aufgrund konsensfähiger empirischer Daten und Sachkenntnisse und/oder eines bestehenden breiten sozialen Konsens festzustellen ist, daß sich jene gesetzgeberischen Tatsachenannahmen als unzutreffend erweisen 189 . Was dies im einzelnen zu bedeuten hat, ist an anderer Stelle noch detaillierter auszuführen 190 . Bereits hier darf jedoch einiges bezüglich der Konsensfeststellung hinzugefügt werden: Wenn es um Probleme geht, zu denen sich nur Fachleute geäußert haben, dann sollte der Verfassungsrichter sich über die entsprechende Fachliteratur informieren, ggf. auch durch Anhörung von Sachverständigen. Dies findet freilich auch heute in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts statt. Wenn man aber als Ziel dieses Vorgangs die Feststellung des vorhandenen Fachkonsenses betrachtet, dann ist es methodisch wichtig, daß auf alle Seiten des fachwissenschaftlichen Spektrums vom Verfassungsrichter Rücksicht genommen wird. Dagegen betrachtet sich heute das Bundesverfassungsgericht nicht als methodisch dazu verpflichtet. Deswegen drängt sich die Vermutung auf, daß Fachkenntnisse, wenn überhaupt, nur partiell und einseitig berücksichtigt werden. Wenn aufgrund dieses Verfahrens ein Dissens festzustellen ist, dann darf das Bundesverfassungsgericht 186 Darin liegt die Antwort auf die Frage, „wer der objektive Betrachter" ist (Lecheler, 2277), der über die Funktionsfähigkeit urteilen könnte: Es ist der methodisch relevante Konsens. 187 Dazu Philippi, lOff.; Ossenbühl, 461, 466. 188 Vgl. im ersten Teil, unter IV, 7. 189 Ein Konsens der prinzipiell alle Bürger, Organisationen, Interessengruppen usw, die sich zum in Frage kommenden Problem geäußert haben, potentiell umfassen soll. In erster Linie sind freilich die Auffassungen der im Parlament vertretenen politischen Kräfte zu berücksichtigen. Näheres dazu unter II, 5 und IV, 5. 190 Unter IV.
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nicht die eine Meinung der anderen vorziehen, denn dazu fehlt ihm die fachliche Qualifikation, sondern eben nur den Dissens feststellen und dementsprechend entscheiden, d. h. im Prinzip das angefochtene Gesetz unangetastet lassen. Wenn es sich dagegen um Probleme handelt, die Gegenstand einer allgemeineren politischen und sozialen Diskussion sind, dann sind die dazu von den betroffenen und interessierten politischen und sozialen Gruppen und Kräften geäußerten Meinungen vom Bundesverfassungsgericht zu berücksichtigen. Dazu können diese Gruppen und Kräfte vom Bundesverfassungsgericht zur Stellungnahme aufgefordert werden. Auch dies geschieht zuweilen in der Praxis des Gerichts. Wenn man es aber als methodisch geboten ansieht, um den Konsens oder Dissens festzustellen, der als Grundlage für die teleologische Auslegung dienen soll, dann sind erstens alle Betroffenen und Interessierten - nicht nur ein Teil von ihnen - zu berücksichtigen, und dann darf zweitens sich das Gericht nicht über einen eventuellen Dissens durch Dezision hinwegsetzen. Insgesamt läßt sich also feststellen, daß der teleologischen Verfassungsauslegung im Rahmen der Normenkontrolle Grenzen gezogen sind. Insoweit ließe sich sogar die These vertreten, die primäre Verantwortimg für die Verfassungsinterpretation solle dem Gesetzgeber zukommen.
e) Zusammenfassung Wenn man dem Methodenkanon die Funktion einer wirklichen Methode zusprechen will, dann sollte man ihn nicht als Mittel zu „rein" logischer Rechtsanwendung, sondern zur Konsenserkenntnis ansehen. Darum sind konsensfähige Argumente einzubeziehen, die die konsensunfähigen ausschließen. Insofern besteht also keine Alternative wie „Konsensstrategien statt Verfassungsinterpretation", kein Unterschied zwischen Textauslegung und Konsensfindung 191 . Die reale Alternative besteht zwischen Konsenserkenntnis und Konsensentzug, Beschaffung von Massenloyalität. Es muß aber zugleich betont werden, daß es nicht um einen Konsens für das Ergebnis im konkreten Fall geht, denn dies wäre ein methodisch irrelevanter Konsens, sondern um einen Konsens für die einzelnen Schritte, die zum Ergebnis führen. Es darf also nicht unterstellt werden, daß etwa für die Beanstandung eines verfassungswidrigen Gesetzes auch die Zustimmung der Bundestagsmehrheit, die es beschlossen hat, erforderlich sei. Wenn man dieses Methodenverständnis zugrunde legt, erscheint die Verfassung als ganzes, wie auch die einzelne Verfassungsnorm, als dialekti191
So aber Ladeur, 403.
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scher 192 sozialer Prozeß 193 . Die Norm fließt. Dies nicht allein, weil sie erst durch die praktische Anwendung von Fall zu Fall konkreten Gehalt gewinnt, sondern auch, weil der Wortlaut, d. h. der Sprachgebrauch der Gesetzeswörter, sowie die der systematischen und teleologischen Auslegung zugrunde liegenden Sachstrukturen und Machtverhältnisse (allgemeine Tatsachen) sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung ändern können. Aufgrund desselben Buchstabens und unter Verwendung derselben Methode kann man daher zu verschiedenen Zeiten zu verschiedenen Ergebnissen, d. h. zu verschiedenen Normsituationen kommen. Demnach kann die Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG), insofern sie insbesondere die Bindung des Verfassungsrichters an die Verfassung im Rahmen der Normenkontrolle betrifft, nicht bedeuten, daß er an eine verdinglicht verstandene Verfassung gekettet ist, sondern, daß seine Teilnahme an jenem Prozeß bestimmten Bedingungen und Grenzen unterliegt.
7. Zum Verhältnis der Auslegungskriterien zueinander Von mehreren Stimmen in der Literatur wird eine Grenzfunktion des Wortlauts angenommen. „Der mögliche Wortsinn umschreibt. . . aus rechtsstaatlichen Gründen den Spielraum einer normorientierten Konkretisierung, welche die verfassungsrechtliche Zuordnung der Funktionen respektiert", hat F. Müller dazu in repräsentativer Weise geschrieben 194 . Zugleich wird aber diese Grenzfunktion unter Berufung auf die Möglichkeit einer „Lückenausfüllung" 1 9 5 , einer „offenen Rechtsfortbildung" 196 oder eines „nachweislich fehlerhaft(en) Wortlaut(s)" 1 9 7 relativiert. Um von einer Grenzfunktion sprechen zu können, sollte man aber erst über die „Grenze" Klarheit gewinnen. Wenn sie durch den möglichen Wortsinn gebildet wird, dann kann das nur bedeuten, daß diejenigen Auslegungen auszuschließen sind, über die ein Konsens dahingehend besteht, daß sie jedenfalls nicht von dem in Frage kommenden Begriff mitumfaßt sind 1 9 8 , auch wenn kein Kon192 w e i l v o n d e n sozialen Auseinandersetzungen geprägt. 193 vgl. stein II, 117, der aber der Rechtsprechung eine größere Rolle einräumt als ihr m.E. zukommt, und etwa Pestalozza I, 427; Esser I, 45, 76f.; Häberle II, 116, 124; H.-P. Schneider VIII, 76; kritisch, in seiner Besprechung von Häberle, Henke, 587ff. 194 F. Müller, 153. Vgl. auch Hesse II, 30f.; V, 137ff.; Larenz, 307; Zippelius I, 57; skeptisch Bryde, 267ff.; ablehnend H.-P. Schneider I, 47 (Anm. 51); II, 452 und Kriele I, 223. Ebsen, 44, nennt drei Fälle, i n denen „die Einschränkung eines Rechtssatzes über die Grenzen des möglichen Wertsinnes hinaus . . . zulässig" sei, nämlich „zur Realisierung gesetzgeberischer Zwecke, zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen . . . , zur Durchsetzung rechtsethischer oder rechtspolitischer Ziele, w e n n . . . weitgehender gesellschaftlicher Konsens besteht. " 195 Zippelius I, 57 f. 196 Larenz, 307f. 197 F. Müller III, 154. 198 „Negative Kandidaten" also, wenn man die Terminologie von Koch, 43, zugrunde legt. Vgl. ferner Koch / Rüßmann, 194 ff.
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sens darüber besteht, was der Begriff tatsächlich umfaßt. Insoweit kann man von einer Grenzfunktion des Wortlauts sprechen, freilich nicht aus „rechtsstaatlichen" Gründen, sondern wegen der Bindung an die Verfassung. Eine Grenzfunktion kommt allerdings nicht nur dem Wortlaut zu, sondern prinzipiell allen Auslegungskriterien. Wenn es beispielsweise ganz eindeutig wäre, daß der Parlamentarische Rat für eine bestimmte Norm des Grundgesetzes die Auslegung A gemeint hat, dann wäre es nicht ohne weiteres möglich, die Auslegung - A vorzuziehen. Noch gewichtiger ist praktisch die Grenzfunktion, die dem systematisch-logischen und dem teleologischen Auslegungskriterium zukommt. Ein Beispiel dafür stellt das Apothekenurteil dar: Dort wurde festgestellt, daß „eine Auslegung, die dem Gesetzgeber jeden Eingriff in die Freiheit der Berufswahl schlechthin verwehren wollte, nicht richtig sein kann", denn sie würde „der Lebens Wirklichkeit nicht entsprechen und deshalb auch rechtlich nicht zu einleuchtenden Ergebnissen führen" 1 9 9 . Wenn man allein den Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 GG berücksichtigen würde, dann läge es vielleicht näher, von einem Berufswahlseinschränkungsverbot auszugehen und Einschränkungen nur insofern zuzulassen, als sie Modalitäten der Berufsausübung betreffen (Öffnungszeiten der Apotheken, Werbung usw.): Denn „Regelung" kann nicht mit „Einschränkung" identifiziert werden, um dann durch Zusammenlegung von Auswahl und Ausübung zu einer Einschränkungsmöglichkeit auch für die Berufswahl zu gelangen. Eine solche grammatisch orientierte Auslegung wäre aber lebensfremd, ließe nämlich die Norm des Art. 12 Abs. 1 GG funktionsunfähig werden und verstieße deshalb gegen die Grenzfunktion des teleologischen Kriteriums. Zugleich sollte aber betont werden, daß es nicht die „Lebenswirklichkeit" als eine abstrakte, „rationale" Größe ist, sondern eine bestimmte politische Bewertung dieser Wirklichkeit, die das Bundesverfassungsgericht zu seiner Auslegung von Art. 12 Abs. 1 GG führt. Diese Bewertung ist insoweit legitim, als sie sich auf einen breiten sozialen Konsens stützen kann 2 0 0 : Es gibt in der Tat kaum noch Befürworter eines uneingeschränkten „laissez faire, laissez passer". Das BVerfG versucht, den ideologischen überladenen, in der gesellschaftlichen Realität kaum zu verwirklichenden Satz 1 des Art. 12 Abs. 1 GG funktionsfähig zu machen. Es geht sogar so weit, am Parlamentarischen Rat K r i t i k zu äußern: „Der Grundgesetzgeber" sei bei Art. 12 Abs. 1 GG „nicht zu voller sachlicher und begrifflicher Klärung der Probleme gelangt" 2 0 1 . 199 BVerfGE 7, 377, 401. Auf diesen Konsens w i r d aber im Apothekerurteil nicht ausdrücklich Bezug genommen und das ist ein Mangel der Begründung. 2 °i BVerfGE 7, 377, 402. 200
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2. Teil: Normenkontrolle und Methode
Wegen der Grenzfunktion aller Kriterien darf nicht die Grenzfunktion eines einzelnen verabsolutiert werden. In manchen Fällen muß der Wortlaut etwas zurücktreten (freilich keineswegs völlig beseitigt werden), um die Norm funktionsfähig werden zu lassen 202 ; in anderen ist es vorzuziehen, dem Wortlaut strikt zu folgen, auch wenn die Norm auf diese Weise nahezu funktionsunfähig w i r d 2 0 3 , um dadurch einen erneuten, umfassenderen gesetzgeberischen Eingriff zu fördern 2 0 4 (wie das Reichsgericht dies mit der Auslegung des Begriffs „Sache" in § 242 StGB im Fall des Stroms getan hat). Dieser letzte Weg kann aber auf Verfassungsebene seltener begangen werden, da eine Verfassungsänderung im Vergleich zu einer Gesetzesänderung nur unter erschwerten Voraussetzungen unternommen werden kann. Deshalb und auch wegen der inneren Verwobenheit aller Kriterien 2 0 5 , die es nicht zuläßt, von Auslegungsmethoden zu sprechen, sondern nur von verschiedenen zusammengehörigen Aspekten der Auslegung, d. h. von Auslegungskriterien, besteht keine feste Rangordnung zwischen den Kriterien 2 0 6 . Hier ist es unausweichlich, dem Richter einen Spielraum zu lassen. Neuerdings wurde von H.-J. Koch und H. Rüßmann der Versuch unternommen, „staatstheoretische Erwägungen,. . . nicht dagegen sprachphilosophische Überlegungen oder gar hermeneutische Spekulationen darüber, was der wahre Sinn von Texten und was ein richtiges Verstehen i s t " 2 0 7 , zugrunde zu legen, um die Wahl der Auslegungsziele zu begründen und zu einer Rangordnung der Kriterien zu gelangen. Jenen „staatstheoretischen" Hintergrund bilden verfassungsrechtliche Gesichtspunkte, im speziellen ein bestimmtes Verständnis der Gewaltenteilungslehre, „deren klassischer Version zufolge die Gerichte ausschließlich fremde Entscheidungen, nämlich diejenigen der gesetzgebenden Körperschaften, vollziehen sollten" 2 0 8 . Demnach sei eine Rangfolge zu konstatieren, in der die Ergänzung im Lichte „vernünftiger" (objektiv-teleologischer) Zwecke erst zulässig sei, wenn der 202
Hierzu Engisch II, 83 und Fn. 82a m.w.N. und Ehmke I, 60. Dies ist insbesondere geboten, wenn es sich um die Erweiterung strafrechtlicher Tatbestände oder hoheitlicher Eingriffsbefugnisse in Privatrechte handelt; vgl. Ebsen, 43. 2 04 Vgl. etwa ähnlich Hesse IV, 140; H.-P. Schneider VI, 25f. 2 05 Ehmke I, 60; F. Müller III, 166; Larenz, 313. 206 Als unfruchtbar erweist sich sowohl der entsprechende Versuch von Larenz, 329ff., als auch die etwa selbstwidersprüchliche Position Alexys, 305, der Argumenten, „die eine Bindung an den Wortlaut des Gesetzes oder den Willen des historischen Gesetzgebers zum Ausdruck bringen", anderen Argumenten vorziehen will, es sei denn, es ließen sich vernünftige Gründe dafür anführen, den anderen Argumenten den Vorrang einzuräumen, was „den Teilnehmern des juristischen Diskurses überlassen bleibt". Dann gibt es aber eben keine Kontrolle und keine Rangordnung! - Dagegen eine Rangordnung ablehnend Esser I, 127, und, unter Berufung auf das fehlende „feste theoretische Fundament für die Auslegungslehre insgesamt", auch Engisch II, 84. Ferner Kriele I, 88f.; Ehmke I, 59 m.w.N.; Pestalozza I, 433, Skouris, 103f. 207 Koch/Rüßmann, 179. 208 Koch / Rüßmann, 164. 203
I. Das traditionelle „juristische Handwerkszeug"
121
Wortsinn der Vorschrift unbestimmt ist und auch das Zurückgreifen auf die gesetzgeberischen Zweckvorstellungen nicht ausreiche 209 . Wenn man aber die Konzeption des Gewaltenteilungsgrundsatzes als eines Gebotes der Rationalisierung der Organisation und Verteilung staatlicher Macht zugrundelegt 210 , dann erscheint der verfassungsrechtliche Ausgangspunkt von Koch und Rüßmann bedenklich. Diesem Verständnis zufolge kann unter Umständen eine arbeitsteilige Kooperation zwischen dem Gesetzgeber, also hier dem Verfassungsgeber, und dem Richter, hier dem ν ε ^ ε ε μ ^ ε π ΰ Ι ι ΐ β Γ , in dem Sinne erforderlich sein, daß das Verfassungsgericht als das „der Entscheidung strukturell am nächsten" stehende Organ 2 1 1 solche Tatsachen zu berücksichtigen hat, die eine strikt am Wortsinn orientierte Interpretation lebensfremd erscheinen und die so interpretierte Verfassungsnorm funktionsunfähig werden lassen. Einzuräumen ist allerdings, daß eine Entscheidung gegen den absolut eindeutigen Wortsinn wegen des Verfassungsbindungspostulats in der Regel unzulässig und jener Wortsinn insoweit der Ausgangspunkt der Interpretation ist. Das Vorliegen eines solchen ganz eindeutigen Wortsinnes (im bereits konstatierten Sinne des einheitlichen Sprachgebrauchs) ist aber wiederum die Ausnahme. Die angesprochene Grenzfunktion des teleologischen Kriteriums kann aber hauptsächlich gerade dann zum Zuge kommen, wenn eine bestimmte Auslegungsvariante vom Wortsinn naheliegt, nicht aber eindeutig geboten ist. Im Ergebnis kann also daran festgehalten werden, daß keine feste Rangordnung zwischen den Kriterien bestehen darf, es sei denn, es gibt einen ganz eindeutigen Wortsinn. Die Forderung nach Verfassungsbindung des Richters erschöpft sich jedenfalls nicht in der Grenzfunktion des Wortlauts 2 1 2 . Es geht vielmehr um eine umfassendere Forderung nach Konsensfähigkeit, und zwar Konsensfähigkeit hic et nunc 2 1 3 .
209
Koch / Rüßmann, 182. Vgl. im ersten Teil unter III, 4. 211 Rinken, 1023 f. (RdNr. 76). 212 So aber Schlink, 101. 213 Dies kann nicht in demselben Maße für die Staatsrechtslehre gelten, da schon die verfassungsrechtlichen Vorgaben unterschiedlich sind (einerseits Art. 20 Abs. 3 GG, andererseits Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG). Die Staatsrechtslehre könnte man daher als primär auf Konsensgewinnung in die Zukunft hin angelegt betrachten. 210
122
2. Teil: Normenkontrolle und Methode
II. Neuere Methodenansätze 1. Der Neopositivismus Als neuerer Methodenansatz kann der Neopositivismus zwar zeitlich, nicht aber inhaltlich gelten. Unter Neopositivismus ist eine besondere Art von K r i t i k an der Institution „Verfassungsgerichtsbarkeit" und/oder an der konkreten Entscheidungstätigkeit des Bundesverfassungsgerichts und anderer bundesrepublikanischer Gerichte zu verstehen. Gemeinsamer Bezugspunkt ist die Annahme einer weitgehenden Rationalisierbarkeit der Rechtsanwendung, die angeblich im Wege der Subsumtion zu erreichen sei. Es handelt sich im wesentlichen um einen Restbestand der positivistischen Ideologie. Daher rechtfertigt sich die Charakterisierung „Neopositivismus", wenn auch einzelne Vertreter jener Schule sich vom Positivismus gewissermaßen zu distanzieren versuchen 1. Unter Berufung auf die Subsumtionsideologie 2 w i r d entweder dem BVerfG der Gerichtscharakter überhaupt abgesprochen, oder man wirft seiner konkreten Rechtsprechung vor, sie überschreite die Grenzen legitimer Rechtsanwendung. Es zeigt sich hier eine gewisse Nähe zur Auffassung Carl Schmitts vom richterlichen Prüfungsrecht 3 . So meinte H. Krüger, „das Bestehen darauf, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit echte Rechtspflege ist", treffe „nicht den Kern der Sache", denn „ihr eigentlicher Maßstab" sei „nicht so sehr die Logik strenger Subsumtion als die Fruchtbarkeit der Lösung" 4 . Von Rechtspflege könne dagegen nur dort die Rede sein, „wo der richterliche Syllogismus angesetzt zu werden vermag", d. h. wo ein Sachverhalt unter eine Norm subsumiert werden kann. „Wesen und Aufgabe der Subsumtion . . . bestehen . . . in der Feststellung, ob ein konkreter Sachverhalt wirklich nicht mehr ist als die Aktualisierung der einschlägigen Norm. . . . Soll daher das richterliche Prüfungsrecht Subsumtion wie jede andere sein, dann muß . . . die Gebundenheit... an die Verfassung. . . dem Gesetzgeber lediglich Aktualisierung gestatten". Wenn also Gesetzgebung mehr als bloßer Verfassungsvollzug ist, dann könne man die Normenkontrolle „ i n der Sache als Gesetzgebung" ansehen5. In der Tat ist aber das soziale Leben ebensowenig Gesetzesvollzug wie die Gesetzgebung Verfassungsvollzug. Unter dem Obersatz wird nur ein rechtlich relevanter Sachverhalt subsumiert. Ebensogut können auch verfas1
Forsthoff I, 37: Der Positivismus sei „eine falsche Methode". Hier im Sinne einer interessenbedingten verzerrten Wirklichkeitssicht (vgl. Ebsen, 64). 3 Dazu im ersten Teil unter II, 1. Vgl. Ebsen, 123, der eine „interessante Parallele" zwischen Schmitt und Forsthoff feststellt. 4 Krüger II, 353. 5 Krüger II, 350f.; vgl. ähnlich Krüger I, 161ff. 2
II. Neuere Methodenansätze
123
sungsrechtlich relevante Gesetzesnormen unter einen Obersatz aus Normen des Grundgesetzes subsumiert werden. Es trifft ferner nicht zu, daß das Grundgesetz keinen Obersatz anzubieten vermag, weil „es zur Bewirkung (seiner) Anwendbarkeit einer vorhergehenden konkretisierenden Normsetzung . . . bedarf", was Aufgabe des Verfassungsrichters sei, der sich dadurch als Verfassungsgeber erweist 6 . Oft bedürfen Gesetzesnormen der Konkretisierung (es sei hier an den Grundsatz des Zivilrechts „Treu und Glauben" erinnert),- ohne daß dadurch der Richter zum Gesetzgeber wird. Geboten ist vielmehr, Bedingungen und Bindungen der Konkretisierung zu erkennen 7 . Um eine andere Achse ist die K r i t i k von E. Forsthoff zentriert. Hier stehen nicht Zweifel an der Rechtsprechungsqualität der Normenkontrolle im Vordergrund 8 , sondern Vorwürfe, daß die konkrete Verfassungsauslegung durch das BVerfG illegitim sei. Forsthoff geht davon aus, daß die Verfassung Gesetz sei und daher „den für die Gesetze geltenden Regeln der Auslegung unterstellt" sein soll 9 . Ihm zufolge sei „Gesetzesauslegung die Ermittlung der richtigen Subsumtion im Sinne des syllogistischen Schlusses" 10 . Diese „richtige Subsumtion" solle mit Hilfe der Auslegungsregeln, die Savigny formulierte und welche „durch die logische Struktur des Gesetzes festgelegt" seien 11 , ermöglicht werden. Eine nähere Analyse der Regeln und ihrer Leistungsfähigkeit w i r d jedoch nicht unternommen; das ist der Schwachpunkt der gesamten Konzeption. Es wurde bereits gezeigt, daß der Methodenkanon in seiner klassischen Form keine „richtige" Subsumtion im Sinne Forsthoff s gewährleisten kann. Die Forsthoffsche Gegenüberstellung von Verfassungsauslegung nach den Regeln der juristischen Hermeneutik und Verfassungsauslegung aus einem Wertsystem 12 stellt keine Methodenkritik dar, weil weder die eine noch die andere Auslegungsart gemäß einer wirklichen Methode betrieben wird: weder existiert eine hermeneutische 13 noch eine wertorientierte Methode 14 . Nur scheinbar stellt also Forsthoff Forderungen an die Methode der Verfassungsjudikatur. Es geht vielmehr um inhaltliche Forderungen, die die Inhalte der Rechtsprechung betreffen, wie z.B. die Eliminierung der Drittwirkung der Grundrechte 15 sowie die Abschaffung der Normativität der 6
Krüger II, 351 f. Vgl. auch im Ersten Teil II, 1 und 2. 8 Vgl. aber Forsthoff III, 39: Staatsgerichtsbarkeit sei „jenseits der Legitimitätsgrenzen des Richtertums". 9 Forsthoff I, 36. 10 Forsthoff I, 41. Kritisch Esser I, 167 f. 11 Forsthoff II, 39f. und VI, 525. Vgl. die K r i t i k von Esser I, 35f. und Pestalozza I, 434f. 12 Forsthoff I, 37 ff. und durchgängig. 13 Hierzu unter I, 4 und 5. 14 Hierzu unter I, 3 und III, 1. is Forsthoff 1,45 ff. 7
124
2. Teil: Normenkontrolle und Methode
Sozialstaatsklausel 16 . Seine Forderung, die Gesetzesform der Verfassung ernst zu nehmen 17 , nimmt Forsthoff selbst nicht ernst: So ζ. B., wenn er eine angebliche Auslegungsregel als „Kernstück der abendländischen Rechtskultur" bezeichnet, wonach „der Rückgriff auf den systematischen Zusammenhang erst zulässig ist, wenn die Auslegung über Wortlaut und Sinn der Textstelle nicht zum Ziele führt", ohne dafür einen einzigen Literaturhinweis anzugeben 18 (denn eine solche allgemeingültige und unwidersprochene Regel gibt es nicht). Desgleichen, wenn er die Sozialstaatsklausel als normative Entscheidung verfassungsrechtlichen Ranges abschaffen will, weil sich aus der Entstehungsgeschichte nichts dazu entnehmen läßt und dort „wo nichts gemeint ist,. . . sich auch nichts interpretieren läßt" 1 9 . Wenn es so wäre, dann sollte die erdrückende Mehrheit der vom Bundestage beschlossenen Gesetzesvorschriften nicht angewendet werden, denn der Entstehungsgeschichte läßt sich auch dazu nichts entnehmen. Unter methodischem Aspekt ist der Forsthoff sehe Ansatz jedenfalls wenig hilfreich. Unter den heutigen Bedingungen würde eine Rückkehr zur positivistischen Scheinrationalität auch den legitimatorischen Anforderungen, die an die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung gestellt sind, nicht genügen, daher erweist sie sich auch als unpraktikabel 2 0 . 2. Topik und Systemdenken Die juristische Methodendiskussion der Nachkriegszeit ist, insbesondere im Bereich des Zivilrechts, durch den Gegensatz vom topischen (Viehweg) und systemorientierten (Larenz, Canaris) Denken gekennzeichnet. In seiner erstmals im Jahre 1953 erschienenen Schrift „Topik und Jurisprudenz" stellte Th. Viehweg fest, daß die Gesamtstruktur der Jurisprudenz nur vom Problem bestimmt werden könne und ihre Begriffe und Sätze an das Problem gebunden blieben. Nur von daher könnten sie verstanden werden. Weil aber „die Topik die Techne des Problemdenkens ist,. . . muß die Jurisprudenz in den wesentlichen Punkten der Topik entsprechen" 1 . Die Topik entfalte „ein geistiges Gefüge, das sich bis in die Einzelheiten hinein eindeutig von einem deduktiv-systematischen unterscheidet" 2 . Statt ein allumfassendes System zu errichten, woraus in jedem Einzelfall die „richtige" Lösung 16 Forsthoff I, 48. Vgl. etwa Ebsen, 127 f., der hinter dem Forsthoffschen Ansatz ein „versteckte(s) verfassungsstrategische(s) Ziel" sieht, nämlich es dem Verfassungsrichter zu ermöglichen, „die Verfassung dem sozialen Trend entgegen(zu)halten". 17 Forsthoff I, 36. 18 Forsthoff 1,40 f. 19 Forsthoff I, 48. Vgl. auch die ausführliche Darstellung im ersten Teil, V, 1. 20 Vgl. etwa Hollerbach I, 250. 1 Viehweg, 97. 2 Viehweg, 14.
II. Neuere Methodenansätze
125
logisch abgeleitet werden könnte, sucht man „sachlich passende und ergiebige Prämissen, um Folgerungen ziehen zu können, die uns etwas einleuchtend erschließen". Dies sei „Topik erster Stufe". Um die sich aus diesem Verfahren ergebende Unsicherheit zu mildern, „sucht man nach einer Stütze, die sich am einfachsten in einem stets bereiten Repertoire von Gesichtspunkten bietet". Ein Verfahren, das solche Topoikataloge benutzt, sei „Topik zweiter Stufe" 3 . „Die Topik kann . . . eindeutige logische Nachprüfbarkeit nicht gewährleisten", gibt Viehweg zu 4 . „Die Logik . .. erhält. . . immer wieder . . . im entscheidenden Augenblick. . . den zweiten Platz" 'in der Jurisprudenz 5 . „Die juristische Techne" sei „eine Erscheinungsform jenes unablässigen Suchens nach dem jeweilig Gerechten, aus dem das positive Recht erst entspringt, und das sich anhand des positiven Rechts fortsetzt" 6 . Daher können die Topoikataloge nicht endgültig festgeschrieben werden, vielmehr kann man sie vergrößern und verkleinern. Dann „bleibt die Diskussion die einzige Kontrollinstanz . . . Die grundlegenden Prämissen . . . werden . . . durch die Annahme des Gesprächspartners legitimiert" 7 . Viehweg stellt also die absolute, reine Logifizierbarkeit der Jurisprudenz, die den eigentlichen Kern der positivistischen Ideologie ausmachte, in Frage 8 . Das Gerechtigkeitspostulat aber, welches von ihm als Gegensatz aufgestellt wird, bleibt etwas unklar. Indem er von dem „jeweiligen" Gerechten spricht, läßt sich vermuten, daß es um eine in Zeit und Raum (d. h.: in der Gesellschaft!) stehende „Gerechtigkeit" geht. (Im übrigen gibt es eine „reine", absolute und außerweltliche Gerechtigkeit ebensowenig wie eine reine Logik.) Dies ist dann aber weniger Gerechtigkeit und mehr soziale Funktionsfähigkeit, d. h. eine Frage der tatsächlichen Machtverhältnisse. Die richterliche Erkenntnis darüber soll durch die „Diskussion" kontrollierbar gemacht werden. Dies kann aber nur bedeuten, daß ein Konsens erforderlich ist. Um die gesamte Problematik fruchtbar zu machen, sollte man diesen Konsens theoretisch ausarbeiten. Das Fehlen einer solchen Ausarbeitung ist gerade die Schwäche der Viehwegschen Topik. In ähnliche Richtung zielt der Methodenansatz von J. Esser. Die K r i t i k der positivistischen Rationalität tritt deutlich hervor. „Die formale Logik. . . e r f ü l l t . . . nicht die wirkliche Erkenntnisaufgabe, sondern einen rein argumentatorischen Zweck", bemerkt Esser. „Sie wird nicht als eigentlicher Weg zur Erarbeitung der Entscheidung benutzt, sondern als Weg für 3 4 5 6 7 8
Viehweg, Viehweg, Viehweg, Viehweg, Viehweg, Viehweg,
35. 45. 91. 93. 42ff. 81 ff.
126
2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
die Rechtfertigung und Absicherung" 9 . „Das System im dogmatisierten S i n n e . . . i s t . . . nicht Ursprung, sondern Rahmen und Kontrolle von Gerechtigkeitsvorstellungen und Abwägungskriterien positivrechtlich möglicher und sinnvoller Regelung" 10 . „Die richterlichen Überlegungen und Bemühungen in der Findung wie auch in der Begründung der Entscheidung gehen zu einem überragend großen Teil dahin,.. . sie . . . sachlich überzeugend oder doch akzeptabel und in ihrem konkreten Gerechtigkeitsgehalt plausibel zu machen" 11 . Dies ist aber nicht nur im ontologischen Sinne, d. h. als Zusammenfassung der Methodenpraxis des BGH, gemeint. Das soll auch so sein: Die Rechtsordnung „erteilt den Auftrag zur Rechtsprechung in dem Sinne, daß nicht nur der spezifische Zweck, sondern auch die Rechtsnatur der materiellen Regelung erkannt und realisiert wird. Das bedingt eine weitgehende Eigenverantwortung der rechtsprechenden Gewalt unter Einschluß der Verantwortung für alle jene Korrekturen und Ergänzungen, ohne welche sich das Rechtssystem seines Anspruchs auf Gerechtigkeit beraubt sähe" 12 . Der Fortschritt im Vergleich zur Topik liegt darin, daß viel deutlicher wird, daß es nicht um eine absolute „Gerechtigkeit" geht. „Wesentlich ist keine sachliche Richtigkeitsgewähr im ontologischen Sinne", sondern „vielmehr die soziale Richtigkeit" 1 3 . Das Recht wird zutreffend als „Entschärfungssystem zur Absorption sozialer Konflikte" 1 4 aufgefaßt, dessen „Funktionsfähigkeit" hergestellt werden muß. Sie sei „voll abhängig von der kontrollierten Einschleusung vorrechtlicher oder jedenfalls vorpositiver Werturteile" 1 5 . Die Einsicht in diese Funktionsfähigkeit wird vom Vorverständnis des Interpreten gesteuert: „Die juristische Textauslegung kann nur relevant sein, wenn sie zuvor die konkreten" (d. h.: die sachlichen) „Probleme richtig versteht und aus diesem Verständnis heraus den Text befragt. . . . Das Vorverständnis von der aktuellen Ordnungsfrage her ist mehr noch als nur Bedingung des Verstehens, es ist Voraussetzung für ein als Entscheidungsgrundlage brauchbares Verstehen" 16 . Dieses Vorverständnis betrifft nicht nur die Sachlage, sondern auch die Textinterpretation selbst: „Auch eine angeblich autarke Textauslegung kann nicht isoliert von diesen hermeneuti9
Esserl, 111. Esserl, 101. 11 Esser I, 8. 12 Esserl, 17. 13 Esser I, 28. Vgl. auch I, 23: „Die Maßstäbe einer vorpositiven Gerechtigkeits- und Vernunftstruktur des Rechts haben keine andere Existenz als ihre jeweilige geschichtliche und gesellschaftliche". 14 Esserl, 198. 15 Esserl, 168. 16 Esser I, 138. 10
II. Neuere Methodenansätze
127
sehen Vorverständnis-Elementen vorgenommen werden" 1 7 . Als Kontrollinstrument und zu erreichendes Ziel zugleich fungiert der Konsens „potentiell aller von dieser Rechtsauslegung Betroffenen und an dieser Rechtsentwicklung Interessierten" 18 . Der Richter muß seine persönlichen Wertvorstellungen, wenn sie „von dem abweichen, was in Wahrheit zum Konsens gehört,... unter Kontrolle behalten, da die Anerkennung vorpositiver Wertkonsense etwas anderes verlangt als die rein persönliche Gewissensentscheidung des Richters" 19 . Auch hier ist der Fortschritt gegenüber Viehweg deutlich: Es wird nicht abstrakt von der „Diskussion" gesprochen, sondern von einem konkreten gesellschaftlichen Konsens. Durch den Esserschen Beitrag hat die Methodendiskussion wesentlich an Realitätsnähe gewonnen. Es ist ein Mißverständnis seiner Auffassung, wenn man sie dahin interpretiert, daß „der R i c h t e r . . . jeweils diejenige Auslegungsmethode wählt, die es ihm erlaubt, die von ihm für richtig erachtete Entscheidung als gesetzeskonform hinzustellen" 20 . Nicht die vom Richter persönlich für richtig erachtete Entscheidung ist nach Esser zu bevorzugen, sondern die sich aus einer funktionsfähigen, d. h. konsensfähigen Gesetzesinterpretation ergebende. Deshalb sind die Vorwürfe unberechtigt, ein solches Verfahren ließe illegitime richterliche Vorurteile im Entscheidungsvorgang einfließen und lockere die Bindung an das Gesetz, verstoße also gegen Art. 20 Abs. 3 GG 2 1 . Der Essersche Ansatz zeigt m.E. gerade die Voraussetzungen für eine strengere Gesetzesbindung, denn eine solche Bindung ist nur durch Präzisierung und (normative) Verbindlichmachung der Konsensproblematik zu erreichen; dies ganz abgesehen davon, ob das persönliche Anliegen von Esser auf eine strengere oder lockere Bindung hin ausgerichtet ist 2 2 . Ungeklärt bleibt allerdings bei Esser die Eigenart der juristischen Dogmatik, insbesondere der Auslegungskriterien, d. h. ihre Konsensrelevanz 23 . 17
Esser I, 122, unter Berufung auf Emilio Betti. Esser I, 24. 19 Esserl, 165. 20 So aber Larenz, 201. 21 So Larenz, 201; Roellecke II, 12ff. 22 Es läßt sich vermuten, daß eher das zweite der Fall ist: Esser zufolge (I, 84 f.) „lassen . . . die programmatischen und regulativen Insuffizienzen der politisch-technischen Legislative und die fehlenden Passungen zwischen je verschieden konzipierten Regelungen . . . die Rationalität nicht als Mitgift des Gesetzgebers, sondern nur als ein in Rechtslehre und Praxis zu verwirklichendes Postulat begreifen . . . Das Maßnahmegesetz ist schlicht ein Politikum, das den Veritasgedanken nur gezwungenermaßen durch Respektierung der rechtsstaatlichen Prinzipien und der Verfassungsmäßigkeit akzeptiert. Von einem.. . gesetzesimmanenten Gehalt an allgemeinen Gerechtigkeitsgrundsätzen kann beim Maßnahmegesetz nicht die Rede sein". Eine solch reine Veritas oder Gerechtigkeit existiert aber nicht, wie bereits bemerkt. Soziale Funktionsfähigkeit weist das Maßnahmegesetz gegenüber dem generell-allgemeinen sogar in erhöhtem Maße auf, denn es geht um die Regelung einer ganz konkreten Sachlage, auf deren Eigenart und Bedürfnisse i n der Regel mehr Rücksicht genommen wird. 18
128
2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
Larenz bemerkt dazu, daß „das Bild, das Esser. . . von der Juristischen Dogmatik zeichnet,. . . ersichtlich... an den Vorstellungen, die der dogmatischen Arbeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts und noch den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts zugrundelagen,. . . orientiert ist" 2 4 . Ferner bedarf der Klarstellung, welcher Konsens als methodisch relevant anzusehen ist, d. h. welcher Konsens maßgebend ist und was geschieht, wenn kein Konsens hergestellt werden kann. Auf der anderen Seite ist das Systemdenken zweifellos stärker als die Topik oder das Essersche Vorverständnis an der juristischen Methodentradition orientiert 25 . Es wäre aber verfehlt, das Systemdenken als im Grunde positivistisch zu bezeichnen, denn die positivistische Rationalität wird auch von seinen Vertretern in Frage gestellt. So bemerkt Larenz, es sei „eine Täuschung zu glauben, die Anwendung selbst solcher Normen, deren Tatbestand begrifflich ausgeformt ist, erschöpfe sich in dem logischen Vorgang der Subsumtion. Bevor es dazu kommen kann, findet bereits eine Beurteilung statt, die keineswegs immer wertungsfrei ist" 2 6 . „Der Anteil der logischen Subsumtion an der Gesetzesanwendung" sei „weit geringer, als die herkömmliche Methodenlehre angenommen hat und die meisten Juristen glauben" 27 . Jede Gesetzesauslegung hat Larenz zufolge „den Bedeutungszusammenhang, den Kontext und den systematischen Ort der Norm, ihre Funktion im Gesamtzusammenhang der betreffenden Regelung, zu berücksichtigen". Die Aufdeckung dieser Sinnzusammenhänge sei „eine der wichtigsten Aufgaben der wissenschaftlichen Jurisprudenz" 28 (von daher rechtfertigt sich die Ausdrucksweise „Systemdenken"). Es wird dabei zwischen „äußeren" und „inneren" Systemen unterschieden. Die ersten seien aus abstrakt-allgemeinen Begriffen nach den Regeln der formalen Logik gebildet. Die abstraktallgemeinen Begriffe seien von den Gegenständen, auf die sie sich beziehen, losgelöst und in ihrer Verallgemeinerung sowohl gegeneinander wie gegenüber den Gegenständen, mit denen sie stets in einer bestimmten Weise verbunden sind, isoliert und vereinzelt 29 . Die inneren Systeme seien dagegen offen „ i n dem Sinne, daß Änderungen sowohl in der Art des Zusammenspiels der Prinzipien, ihrer Reichweite und wechselseitigen Beschränkung, 23 Hierzu unter I, 6. Vgl. aber bezüglich der genetischen Auslegung die Bemerkungen von Esser selbst, II, 556. 24 Larenz, 215. 25 Vgl. die Gerberschen Ausführungen zum „wissenschaftlichen System" (zitiert in
I, i). 26
Larenz, 206. Larenz, 436. Vgl. auch Zippelius 1,100: „Der Anteil formallogischer Überlegungen am juristischen Denken darf nicht überschätzt werden". 28 Larenz, 420. 29 Larenz, 420ff. 27
II. Neuere Methodenansätze
129
wie auch die Auffindung neuer Prinzipien möglich sind"; alle Aussagen der Jurisprudenz über solche Systeme stehen „unter dem Vorbehalt künftiger besserer Erkenntnis" und „der Konstanz der maßgeblichen Wertungsmaßstäbe" 30 . Die Nähe dieser „inneren" Systeme zur Topik w i r d von Larenz selbst, wenn auch nicht vorbehaltlos, bemerkt 31 . Es gibt also Gesetze, denen „äußere" und solche, denen „innere" Systeme zugrunde liegen. Wo sich das „äußere" System als unzulänglich erweist, „bietet sich zunächst die Denkform des Typus an". Unter Berufung auf Engisch wird dem Typus die Bedeutung zugemessen, daß er „ k o n k r e t e r . . . als der Begriff. . . ist" 3 2 . Typen bilden dann Typenreihen statt logischen Systemen 33 . Der Systembildung wohnt freilich eine gewisse, unter Ausschluß aller außersystematischen Elemente stattfindende Tendenz zur Logifizierung inne. Es wird aber kein Anspruch auf vollständige Rationalisierung erhoben. Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung seien „ein und derselbe Prozeß" 34 , der von Wertungen gesteuert wird. Dies gelte insbesondere in bezug auf die Zuordnung zum Typus oder auf ausfüllungsbedürftige Wertungsmaßstäbe. Letztere „erhalten ihre inhaltliche Ausfüllung durch das allgemeine Rechtsbewußtsein der zur Rechtsgemeinschaft Verbundenen, das sowohl durch Tradition geprägt, wie in ständiger Neubildung begriffen ist" 3 5 . Da aber ein solcher Konsens dabei nicht immer möglich sei, bleibe „die Entscheidung der persönlichen Werteinsicht und Überzeugung des Richters überlassen" 36 . Insofern scheint das Systemdenken dem Richter sogar einen größeren Spielraum einzuräumen, als das Essersche Vorverständnis. Im Verfassungsrecht hat allerdings das Systemdenken, im Gegensatz zur Topik 3 7 , keinen großen Einfluß gehabt 38 .
30
Larenz, 467 f. Vgl. auch Canaris, 63 ff. Larenz, 470: „Wohl ließe sich eine Verbindung von topischem Denken und innerem System in der Weise denken, daß man als zulässige rechtliche Gesichtspunkte (topoi) nur solche gelten ließe, die sich aus dem inneren System rechtfertigen lassen". 32 Larenz, 443. Für Engisch dient der Typus als Vehikel zur Einbeziehung der sozialen Wirklichkeit bei der Auslegung: „Das Leben hat seine Gründe, wenn es seine Typen schafft. . . Entscheidend ist, daß wir uns bei der Auslegung der rechtlichen Typusbegriffe nach der Typik der Lebensphänomene umsehen und richten". Diese Miteinbeziehung soll aber nicht beliebig stattfinden: „Wenn man die soziale Wertung mit heranzieht, bewahrt man sich vor dem Mißverständnis, daß die Typik des menschlichen geselligen Daseins einfach identisch sei mit dem, was faktisch geschieht". (Englisch I, 277ff.). 33 Larenz, 45Iff. Vgl. aber die K r i t i k von Koch / Rüßmann, 13ff., gegen den Typusbegriff, die zum Ergebnis gelangen, „eine Notwendigkeit, zwischen Begriffen und Typen zu unterscheiden", gebe es nicht (a.a.O., 76). 34 Larenz, 280. 35 Larenz, 213f. 36 Larenz, 281f. 37 Hierzu unter II, 2. 38 Siehe aber P. Schneider, 51, Leitsatz 7 c. 31
9 Chryssogonos
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
Die allgemeine juristische ]\ïethodendiskussion, die immer noch überwiegend von Zivil- und Strafrechtslehrern geführt wird, läßt sich freilich nicht ohne weiteres auf das Staatsrecht übertragen. Methoden, die „am Beispiel" eines kodifizierten Rechts entwickelt worden sind, sind im Umfeld eines topisch strukturierten Rechts (wie der Verfassung) nicht immer anpassungsfähig 39 . Wenn man aus dieser allgemeinen Diskussion Konsequenzen für die verfassungsrechtliche Methode, spezifisch für die Normenkontrolle, ziehen will, dann ist es vor allem von Bedeutimg, nicht einzelne Methodenansätze detailliert auszuarbeiten, sondern vielmehr Problemstellungen und Tendenzen festzustellen, die für diesen speziellen Bereich von Belang sein können. In dieser Hinsicht läßt sich als gemeinsamer Topos der Methodendiskussion der Gegenwart die Infragestellung der positivistischen Rationalität feststellen 40 . Die Antworten darauf, wie die fehlende Rationalität zu kompensieren ist, sind allerdings unterschiedlich. Es geht aber eher um quantitative denn um qualitative Unterschiede. M. Kriele hat zutreffend bemerkt, es „wäre historisch verfehlt,. . . Topik gegen System auszuspielen, . . . denn Topoikataloge waren. . . fast immer mehr oder weniger rudimentäre Systeme . . . Die These vom topischen Denken . .. plädiert für Systemoffenheit, . . . für ständige Korrektur, Erweiterung und Modifikation. Insofern ist die These allerdings heute kaum noch ernstlich angefochten" 41 . Die Erkenntnis, daß der Rechtsfindungsprozeß notwendig auch „Wertungen" seitens des Richters einschließt 42 , hat sich allgemein verbreitet, wobei versucht wird, diese „Wertungen", sei es an einem „Konsens" oder an einem „allgemeinen Rechtsbewußtsein" oder an einer „Diskussion" 4 3 irgendwie festzumachen und dadurch gewissermaßen kontrollierbar zu machen 44 .
39 Es sei hier nur an Savigny erinnert, der die Anwendung der von ihm aufgestellten Regeln im Staatsrecht ablehnte (Savigny, 206). 40 Und dies gilt auch für Autoren, die keinem der Hauptansätze zuzurechnen sind, wie ζ. B. Engisch. Er meint, daß „die formale Logik . . . nur die notwendige,.. . nicht die hinreichende Bedingung der Richtigkeit der Entscheidung . . . liefert" (Engisch II, 201). Der Begriff der Subsumtion umfasse „auch Gleichsetzungen auf Grund irrationaler Wertungen" (Engisch II, 214). Vgl. auch Koch / Rüßmann, 23. 41 Kriele I, 150. Bezugnahme i n Esser I, 156. 42 Vgl. Podlech I, 185 m.w.N. 43 Vgl. Podlech I, 198ff., der Wertungen, deren Folgen zu Wertungen führen, „die von der Gesellschaft nicht geteilt werden", in juristischen Begründungszusammenhängen für unzulässig hält. 44 Vgl. auch Engisch II, 125: „Die Wertung, soweit nicht freies Ermessen eingeräumt ist, braucht keine höchstpersönliche Wertung des Rechtsanwenders zu sein. Es kann vielmehr bei normativen Begriffen gemeint sein, daß der Rechtsanwender vorgegebene Wertungen einer führenden, maßgeblichen Schicht aufsuchen und feststellen muß. Wir wollen insoweit von objektiven Wertungen sprechen". In ähnlicher Richtung Zippelius I, 23: „Grundlegend ist die Tatsache, daß auch in Wertungen . . . ein Konsens möglich i s t . . . Dabei wird nfan die Basis breitestmöglicher Übereinstimmung in der Wertung suchen".
II. Neuere Methodenansätze
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3. Die Topik im Verfassungsrecht Der topische Ansatz hat die verfassungsrechtliche Methodendiskussion wahrscheinlich noch stärker geprägt als die allgemeine juristische Methodendiskussion. Als erster hat diesen Weg H. Ehmke auf der Freiburger Staatsrechtslehrertagung im Jahre 1961 betreten. Das „relative Unrecht" der herkömmlichen Auslegungslehre sei, „daß sie. .. partielle Gesichtspunkte zu selbständigen Methoden" verabsolutiere. „Eine von der Sache her losgelöste .. . Methode, die in Anwendung auf die verschiedensten Probleme sachliche Ergebnisse hervorzubringen vermöchte", gebe es nicht 4 5 . Die Einheit der Jurisprudenz liege in ihrem topischen Charakter, der sich insbesondere im nichtkodifizierten Verfassungsrecht erweise: wegen der „strukturellein) Offenheit" der Verfassung 46 . Daher müsse „eine verfassungsrechtliche Hermeneutik, die die praktische Arbeit wirklich leiten will, zur materialen Verfassungstheorie werden" 4 7 . Sie mache das maßgebende verfassungstheoretische Vorverständnis aus, das alle schwierigen Interpretationsprobleme vorentscheide. Dieses Vorverständnis müsse aber nicht vom BVerfG, sondern vom „Konsens aller Vernünftig-" (d. h. Richter und Rechtslehrer!) und „Gerechtdenkenden" (d. h. des ganzen Gemeinwesens) bestimmt werden. Es komme in den „Prinzipien der Verfassungsinterpretation" zum Ausdruck, welche „im Gegensatz zu den gegenüber der Sache verselbständigten Auslegungsmethoden . . . am Problem entwickelte sachliche Regeln für Problemlösungen . . . darstellen". Diese Prinzipien seien einerseits materiellrechtliche, d. h. Grundrechte und Grundsätze die „auch in Fällen, die sie nicht direkt betreffen, für die Problemlösung relevante Gesichtspunkte darstellen können" und deren „tragender Grund" das Prinzip der Interpretation der Verfassung als einer Einheit sei, und andererseits funktionell-rechtliche, die „die Verteilung der Aufgaben der Verfassungsinterpretation und der Verfassungsfortbildung auf die verschiedenen Verfassungsorgane" betreffen 48 . Wichtiges Verdienst des Ehmkeschen Referats war m.E. die Einbeziehung normativer Gesichtspunkte, d. h. der materiell-rechtlichen Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in der Methode. Gerade diese Prinzipien mit ihrer inhaltlichen Einschlägigkeit für die Interpretation anderer Verfassungsnormen bilden den tragenden Grund der Einheit der Verfassung, nicht umgekehrt (woher käme dann im letzten Falle das Einheitsprinzip?). Wenn es Prinzipien wie Demokratie, Sozialstaat usw. nicht gäbe, dann gäbe es auch keine Einheit der Verfassung. Und es sind wiederum dieselben Prinzi45 46 47 48
*
Ehmke Ehmke Ehmke Ehmke
I, I, I, I,
60. 62. 64. 70 ff.
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
pien, auf denen die maßgebliche Verfassungstheorie begründet werden muß, nicht umgekehrt. Die Basis der materiell-rechtlichen Prinzipien ist ihre normative Verankerung im Grundgesetz, nicht die Verfassungstheorie. Deshalb kann der erforderliche Konsens m.E. nicht die materielle Verfassungstheorie allgemein betreffen, sondern nur die konkrete Auslegung dieser Prinzipien sowie aller anderen Verfassungsvorschriften. Was die funktionellrechtlichen Interpretationsprinzipien angeht (ζ. B. verfassungskonforme Gesetzesauslegung und political-question-doctrine), so handelt es sich dabei nicht um selbständige Prinzipien, sondern um kompetenzrechtliche Auswirkungen der materiell-rechtlichen Prinzipien, wobei freilich auch die speziellen Kompetenznormen berücksichtigt werden müssen. Unter diesem Gesichtspunkt kann auch der traditionelle Methodenkanon verarbeitet und für die praktische Arbeit benutzt werden 49 . Als konsequenteste topische Orientierung erweist sich aber wahrscheinlich der Methodenansatz von K. Hesse in seinen „Grundzügen des Verfassungsrechts". Da „die Verfassung kein abgeschlossenes und einheitliches System enthält,. . . müssen leitende Gesichtspunkte gefunden werden, die . . . die Entscheidung möglichst einleuchtend und überzeugend begründen (topoi)", führt Hesse aus. Bei der Suche nach solchen topoi, die keineswegs sachfremd sein dürfen, sei der Interpret durch das in der zu konkretisierenden Verfassungsnorm enthaltene „Normprogramm" begrenzt, welches mit Hilfe der herkömmlichen Auslegungskriterien zu erfassen sei 50 . Topik finde also ihre Grenze an der Grenzfunktion des Wortlauts 51 . „Leitende und begrenzende Bedeutung für die Heranziehimg, Zuordnung und Bewertung der so zu erarbeitenden Gesichtspunkte der Problemlösung" komme den „Prinzipien der Verfassungsinterpretation" zu, die sich dadurch in der Tat als allgemeiner Topoikatalog erweisen (darin liegt, unter topischem Gesichtspunkt, die Konsequenz des Hesseschen Ansatzes). Es geht um die Prinzipien der Einheit der Verfassung, der praktischen Konkordanz (statt Güterabwägung), der funktionellen Richtigkeit, der integrierenden Wirkung und der normativen Kraft der Verfassung. Dieses letzte Prinzip sei aber bereits in den anderen enthalten 52 . Allen diesen Prinzipien ist im Ergebnis zuzustimmen. Fraglich muß dabei allerdings bleiben, ob sie die Funktion eines allgemeinen Topoikatalogs übernehmen können oder ob sie vielmehr dem Methodenkanon zuzuordnen sind. Es ist nicht einsichtig, weshalb die Einheit der Verfassung, die prakti49 In der Diskussion auf der Staatsrechtslehrertagung hatte Ehmke von Seiten der meisten Teilnehmer Zustimmung gefunden, wie er selbst in seinem Schlußwort ( W D S t R L 20, S. 130 ff.) bemerkte. Kritisch nahmen allerdings die Verfassungsrichter Leibholz (a.a.O., S. 117ff.) und Friesenhahn (a.a.O., S. 121f.) Stellung. 50 Hesse II, 27. Zum Müllerschen Begriff des „Normprogramms" siehe II, 3. 51 Hessell, 30 f. 52 Hessell, 28ff.
II. Neuere Methodenansätze
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sehe Konkordanz und die funktionelle Richtigkeit nicht als Teilaspekte der systematischen Interpretation angesehen werden dürfen. Wäre es etwa systematisch folgerichtig, bei der Auslegung einzelner Verfassungsnormen die jeweils inhaltlich einschlägigen Verfassungsprinzipien zu ignorieren? Oder wäre es folgerichtig, ein Grundrecht im konkreten Fall nach Belieben beiseite zu lassen, wie es im Falle der sog. „Güterabwägung" geschieht? Oder wäre es, systematisch gesehen, hinzunehmen, wenn ein Staatsorgan, anstatt „sich im Rahmen der ihm zugewiesenen Funktionen zu halten,. . . durch die Art und Weise seiner Interpretation" des GG „die Verteilung der Funktionen" verschieben wollte? Die integrierende Wirkung schließlich ist nicht so sehr ein Kriterium als eine allgemeine Aufgabe, und zwar sowohl der Verfassungsgebung als auch der Verfassungsanwendung oder -auslegung oder -konkretisierung 53 . Es fragt sich eben, durch welche Mittel diese Aufgabe zu bewältigen wäre. Es fehlt nicht an verfassungsrechtlichen Aufsätzen, die die Topik entweder prinzipiell bejahen 54 oder praktisch anwenden 55 . Allerdings fehlt es auch an K r i t i k nicht. Es würde der Topik „eine beinahe unbegrenzte Offenheit der Argumentation", die zur „Infragestellung der Normgeltung der Gesetze" führe, vorgeworfen. Die Funktionsfähigkeit der Topik als Methode der Verfassungsinterpretation setze „einen breiten Verfassungskonsens . . . auch über den Verfassungsinhalt. . . voraus, . . . jenseits der Spannung und Polarisation des Politischen". „Komme es zu einer Polarisation der WertHaltungen", dann hänge „jede Topikinterpretation in der Luft", denn sie würde „der vorausgesetzten Konsensbasis beraubt" 5 6 . 53 Die terminologische Auseinandersetzung, die zu jener Begrifflichkeit geführt hat (vgl. Ausdrücke wie Rechtsfindung und Rechtsfortbildung), wäre nicht notwendig gewesen, wenn man sich klar darüber gewesen wäre, daß „Anwendung" kein mechanischer Vorgang ist, sondern auch eine schöpferische konkretisierende Tätigkeit seitens des Rechtsanwenders enthält. Dann könnte man diesen Ausdruck ebensogut wie den Ausdruck Konkretisierung (oder auch Auslegung) benutzen. Auf der anderen Seite gibt es auch Autoren, die den Ausdruck Konkretisierung mechanisch benutzen (vgl. unter II, 3). Ausschlaggebend ist also hier nicht so sehr die Form der jeweiligen Begrifflichkeit, sondern ihr materieller Inhalt. 54 So Häberle II, 122 f., der ein „offene Auslegung" und die „Öffnung des Methodenkanons" fordert; sie habe Inhalte und Grenzen, zu denen „Aspekte der überkommenen Auslegungsmethoden, ebenso sozialwissenschaftliche Perspektiven" gehören. Vgl. auch Arndt III, 1277 f., der das Systemdenken als kodifikatorisches, die bestehenden sozialen Verhältnisse im Grunde konservierendes ansieht, das Problemdenken dagegen als reformierendes, welches sich an einer „distributiven oder neuschaffenden Gerechtigkeit" orientiert. Zum einen bezieht sich aber dieser Ansatz mehr auf die Gesetzgebung als auf die Rechtsprechung, zum anderen überspitzt er die Unterschiede zwischen den beiden Denkweisen. Ferner U. Scheuner VII, 38, Anm. 111, der den Gedanken eines geschlossenen Grundrechtssystems ablehnt und schreibt, daß „daher nirgends wie hier eine Anwendung des Stils der Topik sich anbietet". 55 So beispielsweise H.-P. Schneider I, der eine Reihe von „Kriterien des Richterrechts im demokratischen Rechtsstaat" aufstellt (Legitimität, Objektivität, Rationalität, Stabilität, Kontinuität, Publizität), welche einem Topoikatalog ähneln (a.a.O., 37ff.). se Böckenförde II, 2092 ff.
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
Diese Kritik, die sich allerdings gegen Ehmke und nicht gegen Hesse richtet 5 7 , scheint nur zum Teil berechtigt zu sein. Das Anliegen von Ehmke war gerade, unter Einbeziehung der sog. materiell- und funktionellrechtlichen Prinzipien der Interpretation, die Auslegungsmöglichkeiten abzugrenzen und dadurch einen „self-restraint" des BVerfG zu fördern 58 . Zutreffend ist allerdings, daß ein Konsens auf allgemeiner verfassungstheoretischer Ebene, wie ihn Ehmke meinte, schwer erreichbar und wahrscheinlich auch wenig ergiebig ist. Auch deshalb kommt es vielmehr auf einen punktuellen, einzelne Verfassungsnormen betreffenden Konsens an. Von anderer Seite wurde der Topik vorgeworfen, daß „eine Entscheidungsbegründung, die ein Potpourri von Gesichtspunkten darstellt, der Kritik kaum zugänglich ist" und daß auch „das Fehlen von Prämissen sich nicht behaupten läßt, wenn eine präzise Folgerungsbeziehung zwischen Prämissen-Potpourri und Rechtsfolgeanordnung nicht verlangt w i r d " 5 9 . Wenn aber der Konsens als Kontrollinstrument eingeführt wird, dann handelt es sich nicht mehr um ein beliebiges Potpourri. Im übrigen betrifft die Topik die Rechtsauslegung, nicht die Folgerungsbeziehung zwischen Prämisse und Anordnung. Man könnte wohl einen topisch gebildeten Obersatz in einen Syllogismus einordnen, wo eine „präzise Folgerungsbeziehung" verlangt wird. Unter anderem Aspekt wurde kritisiert: . . . „indem die Topiker juristische Entscheidungen . . . dann für gerechtfertigt halten, wenn sie von allen Vernünftig- und Gerechtdenkenden anerkannt werden können, verdecken sie den fundamentalsten Sachverhalt der bürgerlichen Gesellschaft: Die Kapitalisten . . . kommandieren . . . über die politischen Macht- und die ideologischen Manipulierungsmittel der Gesellschaft. Demzufolge ... können . . . soziale Meinungsunterschiede . . . n i c h t . . . im herrschaftsfreien Dialog gelöst werden. In der juristischen Argumentation artikulieren sich nicht Zufallsideen, es werden in ihr entgegengesetzte materielle Interessen kaschiert" 60 . Auf die Herstellung eines herrschaftsfreien Dialogs kommt es aber nicht an, denn ein solcher Dialog könnte sich nur in einer herrschaftsfreien Gesellschaft entwickeln 61 . Alle geschichtlichen Gesellschaften, bis zu unserer Zeit, waren aber in Klassen gespalten und durch das Herrschaftsphänomen gekennzeichnet. Die juristischen Entscheidungsprozesse werden 57 Der Hessesche Ansatz wird von Böckenförde (II, 2095 f.) als „hermeneutischkonkretisierende Verfassungsinterpretation" klassifiziert, vor allem wegen der Aufnahme von Elementen der Lehre F. Müllers (a.a.O., Anm. 83). 58 Vgl. Ehmke 1,97 f. 59 Koch/Rüßmann, 115. 60 Klenner, 194. 61 Vgl. etwa Habermas, in Habermas / Luhmann, 139: „Die kontrafaktischen Bedingungen der idealen Sprechsituation erweisen sich als Bedingungen einer idealen Lebensform".
II. Neuere Methodenansätze
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notwendig von den Merkmalen der entsprechenden Gesellschaft geprägt, ebenso wie die politischen Willensbildungsprozesse. Dies bedeutet aber keineswegs, daß es gleichgültig ist, wie diese Prozesse innerhalb jenes Rahmens ausgestaltet sind. Eine demokratische politische Willensbildung aufgrund von „Wahlen und Abstimmungen" unterscheidet sich erheblich von einer faschistischen politischen Willensbildung. Eine auf Konsens hin angelegte Judikatur unterscheidet sich erheblich von einer dezisionistischen. Es kommt gerade darauf an, die „entgegengesetzte(n) materielle(n) Interessen" nicht zu kaschieren, sondern auf sie Rücksicht zu nehmen. Es versteht sich von selbst, daß dadurch Klassenherrschaft nicht eliminiert, sondern nur minimiert werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hat sich allerdings nie zur Topik bekannt zumindest nicht offen 62 . Es sind auch nur wenige Entscheidungen unter Anwendung der Lehre der Topik von ihren Vertretern besprochen worden 63 . Deshalb ist es schwierig, ihre praktische Leistungsfähigkeit einzuschätzen. Als Hauptverdienst der verfassungsrechtlichen Topik bleibt also die Infragestellung der positivistischen Rationalität übrig (die hatte freilich sowohl die frühere staatsrechtliche Methodendiskussion während der Weimarer Zeit als auch die zeitgenössische zivil- und strafrechtliche Methodendiskussion geleistet), ferner die Orientierung an einer neuen, mehr innerweltlichen, konsensgeprägten Rationalität. Insofern bietet die Topik einen fruchtbaren Ansatzpunkt für weitere methodische Untersuchungen im Bereich des Staatsrechts. Dies gilt freilich auch für die Verfassungsinterpretation im Rahmen der Normenkontrolle. Eine komplette Theorie der Normenkontrolle vermag dagegen die Topik nicht anzubieten.
4. Die strukturierende Methodik Die von F. Müller postulierte „strukturierende Methodik" w i r d zwar am Beispiel des Verfassungsrechts erarbeitet, beansprucht aber zugleich, ein „Rahmenmodell. . . für alle . . . Rechtsbereiche" aufzustellen, die „Grundausstattung des Instrumentariums juristischer Arbeitsweisen" zu liefern, bei der freilich „die aus Kodifikationslage, Sachproblematik, Eigenart der Normbereiche, Wissenschafts- und Praxisgeschichte gespeiste Unterschied62 Von Böckenförde (II, 2092, Fn. 25) wurden als Beispiele topischer Verfassungsjudikatur das Grundlagenvertragsurteil, BVerfGE 36, Iff., das Radikalenurteil, BVerfGE 39, 334ff., das Abtreibungsurteil, BVerfGE 39, Iff., und das Diätenurteil, BVerfGE 40, 296 ff., aufgeführt. Es wurde aber nicht näher erläutert, welches die topischen Elemente sind. 63 Vgl. aber Ehmke I, 80ff., zum Prinzip der Einheit der Verfassung und seiner Anwendung bzw. Nichtanwendung in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Dieses Prinzip hängt aber nicht unbedingt mit der Topik zusammen.
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
lichkeit der rechtlichen Teildisziplinen" sich „ i n speziellen Interpretationsaspekten" ausdrückt 64 . Schon dieser Ansatz scheint nicht unbedenklich zu sein. Es ist vielmehr zu fragen, inwiefern vielleicht die staatsrechtliche Methode gegenüber der Methode der übrigen Rechtsdisziplinen etwas qualitativ unterschiedliches sein soll. Die Eigenart der staatsrechtlichen Methode ergibt sich daraus, daß im Gegensatz zu anderen Gerichtszweigen, die an das einfache Gesetz gebunden sind, das Verfassungsgericht mit seinen Entscheidungen den Gesetzgeber bindet. Deshalb sollte aber die Grenzfunktion der staatsrechtlichen Methode dem BVerfG gegenüber viel wirksamer sein als die Grenzfunktion der juristischen Methode allgemein den anderen Gerichten gegenüber. Verfassungsrecht hat die ihm spezifische Frage „Quis custodiet custodes?" zu beantworten. F. Müller behandelt diese Problematik kaum. Er sagt nur, daß das Gebot einer Normkonkretisierung in Bindung an die zu konkretisierende Norm „sich im Verfassungsrecht. . . mit dem größten Nachdruck stellt", weil „Verfassungsrecht.. . durch höhere Instanzen innerstaatlichen Rechts nicht mehr abgesichert ist" 6 5 . Damit wird das eigentliche Problem des Spannungsverhältnisses zwischen dem Verfassungsrichter und dem Gesetzgeber, der über eine überlegene demokratische Legitimation verfügt, nicht zur Kenntnis genommen, obwohl ein Konkretisierungsprimat des Gesetzgebers prinzipiell anerkannt wird 6 6 . Auf der anderen Seite werden aber Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung, Rechtsprechung und Wissenschaft beziehungslos als „verschiedene Funktionen von Rechtsverwirklichung" nebeneinander gestellt, denen eine „ i m Grundsatz gemeinsame Struktur fallbezogener Normkonkretisierung" 67 zukomme, denn „Gesetzgebung, Verwaltung und Regierung arbeiten verfassungsmethodisch prinzipiell ebenso wie Judikative und rechtswissenschaftliches Forschen" 68 . Es w i r d dabei m.E. verkannt, daß es nicht um verschiedene Verfassungskonkretisierungsprozesse geht, sondern um einen einheitlichen Prozeß, der im Rahmen des Gesamtprozesses politischer Willensbildung läuft. Aufgabe der Methode ist es auch, die Funktion jedes der darin Beteiligten im Verhältnis zu den übrigen zu bestimmen. Kernstück der „strukturierenden Methodik" ist ihre Normtheorie. Derzufolge bestehe die Norm aus zwei gleichrangigen Teilen: Zum einen aus ihrem Wortlaut, welcher „das Normprogramm, den . . . Rechtsbefehl ausdrückt", und zum anderen aus dem „Normbereich", d. h. dem „Ausschnitt sozialer 64 65 66 67 68
F. F. F. F. F.
Müller III, Müllerin, Müller III, Müller III, Müller III,
20. 78f. 74. 19. 24.
II. Neuere Methodenansätze
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Wirklichkeit in seiner Grundstruktur, den sich das Normprogramm als seinen Regelungsbereich ausgesucht oder z.T. erst geschaffen hat (wie weitgehend bei Formvorschriften)" 69 . Der Normbereich ist also weder Tatbestand im herkömmlichen Sinne noch ein selbständig normativ wirksames Faktum 7 0 . Es geht um „Sachaspekte (Realdaten)", die „für die Bildung der konkreten Entscheidungsnorm mitkonstitutiv sind", nicht aber selbständig und beliebig, sondern eben auf Grund des Normtextes: „ M i t Hilfe" des Normprogramms „läßt sich sagen, wie weit im zu entscheidenden Fall der Normbereich zu ziehen ist" 7 1 . Damit „erweist sich die Rechtsnorm als sachgeprägtes Ordnungsmodell" 72 . Es wird ferner zwischen Rechtsnorm und Entscheidungsnorm unterschieden, wobei „die Entscheidungsnorm keine selbständige Größe neben der Rechtsnorm" sei, sondern „deren jeweils von einem bestimmten Fall her und auf seine verbindliche Lösung hin konkretisierter Aggregatzustand, d. h. sie muß ihr methodisch zugerechnet werden können" 7 3 . Damit wird zweierlei versucht 74 : Zum einen soll die Bindung an das Gesetz aufrechterhalten werden, denn die soziale Wirklichkeit wird nicht von sich selbst, sondern nur aufgrund des Normtextes normativ miteinbezogen. Zum anderen soll aber auch die strikte positivistische Trennung zwischen Recht und Wirklichkeit aufgehoben werden. „Recht und Wirklichkeit sind keine selbständig je für sich bestehenden Größen 75 ." Dem Positivismus wird von F. Müller vorgeworfen, daß er „die Minderung oder den Verlust rechtlicher Normativität in Kauf" nimmt 7 6 , weil er die Tatsache ignoriert, daß „die Norm mehr ist als ein sprachlicher Satz, der auf dem Papier steht" und daß „ihre Anwendung sich nicht a l l e i n . . . in Auslegung eines Textes erschöpfen kann". Es handele sich vielmehr „um fallbezogene Konkretisierung dessen, was Normprogramm, Normbereich und die Eigenheiten des Sachverhalts an Daten liefern" 7 7 . Was dagegen die Topik angeht, „macht der verbindliche Primat der Normbindung die Vorstellung eines primär topischen Problembezugs unzulässig", denn die Norm wird „nur als ein Topos unter anderen" angesehen, und „wenn das Problem es erfordert, müssen auch normfremde Topoi herangezogen werden" 7 8 . 69 F. Müller II, 147; III, 117. Vgl. auch Hesse II, 19 und H. Huber, 192 (Anm. 6), 197 und durchgängig, die diese Konzeption aufgenommen haben. Ferner Majewski, 68ff.
70 71
F. Müllerin, 121.
F. M ü l l e r i n , 120. 72 F. Müller III, 121. Vgl. auch Christensen / Kromer, 46ff., 52 und durchgängig, die die Müllersche Konzeption aufgenommen haben. 73 F. M ü l l e r i n , 119. 74 Vgl. etwa V. Neumann, 339. F. M ü l l e r i n , 118. 76 F. Müller III, 59. 77 F. M ü l l e r i n , 61. 78 F. Müller III, 79. Fragwürdig bleibt es aber, was F. Müller hier als „Norm" versteht. Wenn es sich nur um den Normtext handelt, dann ist gegen die Heranziehimg
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
F. Müller verdeutlicht die Funktion des Normbereichs an Beispielen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Es w i r d unter anderen auf eine Entscheidung aus dem Jahre 1963 hingewiesen 79 , derzufolge bei Anordnung einer Liquorentnahme nach § 81 StPO das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) fordere, daß der beabsichtigte Eingriff in angemessenem Verhältnis zur Schwere der Tat steht. Weil nämlich bei einer solchen Liquorentnahme „Störungen des Gesundheitszustandes wie Schmerzen und Übelkeit möglich sind", was in besonderen Fällen „zu ernsten Komplikationen führen kann" 8 0 , ist es „nicht gerechtfertigt,. .. wegen einer Bagatellangelegenheit den Beschuldigten gegen seinen Willen einem solchen Eingriff zu unterwerfen" 81 . Dies bedeute, daß „Eigenart und Auswirkungen . . . von Eingriffen in das Recht auf körperliche Unversehrtheit . . . fachmedizinisch in der Perspektive des grundrechtlichen Normprogramms zu untersuchen" seien. Sie seien also „Strukturelemente, . . . die . . . vielfach das eigentliche Entscheidungsmoment eines Falles ausmachen" 82 . Der Fall ist in der Tat sehr günstig für die Müllersche Konzeption ausgestaltet: Es geht um einen Sachbereich, der relativ speziell und abgeschlossen ist und der unter der Perspektive einer wissenschaftlichen Disziplin zu untersuchen ist, welche Schlüsse mit relativ hohem Wahrscheinlichkeits- oder Gewißheitsgrad anzubieten vermag, nämlich der Medizin. Dennoch sind es nicht die unwiderlegbaren, fachmedizinisch zu erkennenden Strukturelemente des Sachbereichs, die unvermeidlich, quasi mechanisch, zu einer bestimmten „Konkretisierung" führen. Denn auch die medizinischen Wahrheiten sind - wie alle übrigen naturwissenschaftlichen Wahrheiten - keine ein für allemal feststehenden „absoluten" Wahrheiten. Sie können als wissenschaftliche Wahrheiten gelten, weil sie zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Raum (d. h. in einer bestimmten Gesellschaft) von den Wissenschaftlern als Wahrheiten akzeptiert werden 83 . Es kommt also auf einen sozialen Konsens an, d. h. den Konsens der Fachleute, der in bezug auf die Liquorentnahme schon für die grammatische Auslegung des Art. 2 Abs. 2 GG maßgeblich ist. (Und es kommt hier auf diesen Konsens nur der Fachleute deshalb an, weil sich keine andere soziale oder politische Gruppe dazu geäußert hat.)
solcher „normfremder Topoi" nichts einzuwenden, denn die Norm kann, wie Müller selbst schreibt, nicht mit ihrem Normtext identifiziert werden. Daher sind jene Topoi gar nicht „normfremd". 79 F. Müller I, 20. 80 BVerfGE 16, 194, 198. 81 BVerfGE 16, 194, 203. 82 F. M ü l l e r l , 20. 83 Vgl. etwa die wissenschaftstheoretische Untersuchung von T. S. Kuhn, passim. Vgl. unter sozialwissenschaftlicher Perspektive Blankenburg, 14 ff., mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Kuhn.
II. Neuere Methodenansätze
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Ein anderes von F. Müller erwähntes Beispiel ist das Apothekenurteil. Der dortige Versuch des Gerichts, „die größeren Lebenszusammenhänge, die als Gegenstand des Gesetzes nur pauschal und unklar gefaßt würden, notfalls mit Hilfe von Sachverständigen durch möglichst umfassenden Einblick in einzelne klarer erfaßbare Sachverhalte aufzulösen und sie damit für die Zwecke verfassungsgerichtlicher Nachprüfung optimal zu rationalisieren", wird von ihm positiv bewertet. „Nur so können", setzt er fort, „Inhalt und sachliche Begründung eines Gesetzes unter Ausschaltung subjektiver Wertungen erfaßt,. . . die der Regelung zugrundeliegenden Tatsachen rational differenziert werden, die im Normbereich die Wahrscheinlichkeit hypothetischer Kausalverläufe richterlich beurteilen lassen". Durch eine solche „Analyse der Normbereiche" erhalte „der Schutz der Grundrechte vor dem Gesetzgeber . . . umgrenzte objektive Maßstäbe" 84 . Es ist wohl einzuräumen, daß hier das BVerfG die tatsächlichen Verhältnisse im Bereich des Apothekenwesens eingehend und umfassend prüft, um Folgerungen für die Zulässigkeit des gesetzgeberischen Eingriffs in die Gründung neuer Apotheken daraus zu ziehen. Das wurde aber keineswegs „unter Ausschaltung subjektiver Wertungen", lediglich „rational" gemacht. Die Feststellung, daß „die Freigabe der Gründung neuer Apotheken zu einer starken Vermehrung der Apotheken" und Verschärfung des Konkurrenzkampfes führen wird und dies wiederum die Gefahr mit sich bringt, daß die Apotheken „ i n dem Bestreben, den Umsatz zu steigern. . . ihre gesetzlichen . . . Pflichten vernachlässigen" und „durch Werbung. . . die Tablettensucht fördern", welches „die ordnungsmäßige Arzneimittelversorgung der Bevölkerung beeinträchtigt und die Volksgesundheit damit schädigt" 85 , dies alles ist keinesfalls nur „objektiv" und „rational". Es setzt vielmehr ein bestimmtes marktpolitisches Verständnis voraus. Das liberale Verständnis des „laissez faire, laissez passer" würde dagegen aufgrund einer Selbstregelungsfähigkeit des Marktes argumentieren und den Schluß ziehen, daß die Schärfung der Konkurrenz die Marktverhältnisse verbessern und es den Apotheken ermöglichen würde, ihre gesetzlichen Pflichten besser zu erfüllen. Der Fall ist besonders ungünstig für die Müllersche Konzeption ausgestaltet. Es geht um Fakten relativ allgemeiner Art, die einer sozialwissenschaftlichen Analyse bedürfen, deren Ergebnisse in aller Regel nicht den Gewißheitsgrad einer naturwissenschaftlichen Analyse haben können. Darüber hinaus sind sozialwissenschaftliche Wahrheiten im Vergleich zu naturwissenschaftlichen Wahrheiten relativ, weil das Subjekt der sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse gleichzeitig Teil ihres Objekts, d. h. der Gesellschaft, ist 8 6 , m.a.W.: weil das aus seinem sozialen Bewußtsein bestimmte β4 F. Müller I, 26. β5 BVerfGE 7, 377, 414. 86 Vgl. hierzu Marx-Engels, Durkheim, Scheler, Mannheim, passim.
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
Vorverständnis des erkennenden Subjekts von seinem sozialen Sein mehr oder weniger gesteuert wird. Ferner geht es um Fragen, die nicht nur wissenschaftlich behandelt worden sind, sondern auch politisch aktuell und manchmal umstritten sind. Es ist also hier viel deutlicher als im Liquorentnahmefall, daß es keine unwiderlegbaren Strukturelemente des Sachbereichs gibt, von denen eine eindeutige Lösung rational, durch Sachverstand, zu entnehmen wäre. „Objektiv" und rational ist die Argumentation des BVerfG nur insoweit, als es sicher ist, daß das entgegengesetzte liberale Verständnis schon historisch überwunden ist, d. h. ein auch die engagierten Befürworter der Privatmarktwirtschaft umfassender Konsens besteht, daß die klassische liberale Marktwirtschaft nicht mehr in reiner Form durchzuführen ist 8 7 . Es geht um eine zeit- und raumbedingte ratio. Der maßgebliche Konsens soll hier nicht nur Sachverständige, sondern auch die realen politischen Kräfte umfassen, weil es eben um politisch interessante Fragen geht, d. h. weil sich diese Kräfte dazu „geäußert" haben. An diesem maßgeblichen Konsens sollte sich das BVerfG orientieren 88 . Insgesamt scheint also die Müllersche Normtheorie auf eine Überschätzung der Leistungsfähigkeit der „Normbereichsanalyse" zu beruhen. Sie läuft Gefahr, die schon diskreditierte Scheinobjektivität der formallogischen Subsumtion durch eine andere Scheinobjektivität, nämlich durch die Fachkenntnisse und die „rationale" Bewertung von Sachstrukturen der sozialen Wirklichkeit, zu ersetzen. Gewiß gibt es Fälle, in denen aus dem Sachbereich einer Norm zwingende Folgerungen für ihre Auslegung gezogen werden können. Manchmal können sie sogar so offensichtlich sein, daß keine Fachkenntnisse notwendig sind 89 . Dies ist aber eher die Ausnahme; darauf darf keine Theorie der Normstruktur, geschweige denn der Rechtsfindung bauen. Die Problematik der „strukturierenden Methodik" zeigt sich auch in dem Gebrauch des herkömmlichen Methodenkanons. Seine Regeln wirken „nicht als Fremdkörper", sondern „umschreiben grundlegend einen Teil der notwendigen Elemente praktischer Rechtsfindung" 90 und seien sogar „die am nächsten liegenden Konkretisierungselemente... in einer Rechtsordnung . . . mit kodifiziertem Verfassungsrecht" 91 . Sie erfassen aber „deshalb nur einen Teil der Konkretisierung, weil sie Rechtsverwirklichung auf Interpretation, . . . Normkretisierung auf Normtext-Auslegung einschränken 87
Vgl. ferner i n bezug auf das Apothekenurteil unter I, 6. Im Apothekenurteil wurde freilich kein ausdrücklicher Bezug auf jenen Konsens genommen; insoweit ist die Entscheidungsbegründung angreifbar. 89 Nichtsdestoweniger können sie aber vom BVerfG nicht zur Kenntnis genommen werden. Ein Beispiel dazu stellt das Kriegsdienstverweigerungsurteil zur Dauer des Kriegs- und Zivildienstes dar (vgl. unter IV, 5). 90 F. M ü l l e r i n , 176. 91 F. Müller II, 157f.;III, 148. 88
II. Neuere Methodenansätze
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wollen". 9 2 Hinzutreten Elemente aus dem Normbereich und hilfsweise auch dogmatische Elemente, d. h. Aussagen einschlägiger Rechtsprechung und Literatur 9 3 , lösungstechnische Elemente 94 , Theorie-Elemente, die aus verschiedenen Verfassungstheorien stammen und zum verfassungstheoretischen Vorverständnis beitragen (Verfassungstheorien seien allerdings „vor allem danach zu beurteilen, wieviel oder wie wenig Raum sie für undifferenziert ideologische Argumente lassen") 95 , und schließlich verfassungs- und rechtspolitische Elemente, d. h. „das wertende Bedenken von Inhalten, das Abwägen von Konsequenzen", welche aber „nur zu Vergleichs-, Abgrenzungs- und Klarstellungszwecken. . . nicht dagegen als quasinormativ" benutzt werden dürften 96 . Elemente aus den herkömmlichen Auslegungsregeln gehen den anderen vor und seien miteinander gleichrangig 97 . Die Funktion von dogmatischen und Theorie-Elementen als Konsensträgern wird also verkannt, ebenso wie die Funktion der Auslegungskriterien als Mitteln der Konsenserkenntnis 98 , innerhalb deren freilich auch die dogmatischen und Theorie-Elemente zu nutzen sind. Die Funktion der verfassungspolitischen Elemente bleibt ungeklärt: Wenn sie Vergleichs- und abgrenzungsweise benutzt werden dürfen, dann wirken sie doch quasi-normativ. Darüber hinaus ist fragwürdig, wo die Trennungslinie zwischen verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Elementen verläuft. Insgesamt wird also die herkömmliche Auslegungsmethode von F. Müller, ebenso wie von den Positivisten, verdinglicht verstanden. Da sie aber in der „strukturierenden Methodik" eine wichtige Rolle spielt, d. h. bei der Erkenntnis des „Normprogramms", das den „Normbereich" umgrenzt, tritt die sich daraus ergebende Scheinrationalität immer deutlicher in den Vordergrund. Zusammenfassend: Die strukturierende Methodik könnte den Positivismus wieder (und zwar auf höherer Ebene) zum Leben erwecken. Das Kerndogma des Positivismus war der Glaube an die Möglichkeit, aus einer hohen Autorität quasi automatisch, „rein logisch", zwingende Folgerungen für Einzelfälle zu ziehen. Diese Autorität war für die Positivisten des 19. Jh. das Gesetz. Die angeblich strikte Bindung daran sollte dann die Ausschaltung aller überpositiven Normen und der sozialen Wirklichkeit bewirken. Weil es aber keine solche Rationalität gibt, deshalb bedeutete Positivismus gerade die Auflösung der Bindung an das Gesetz - hinter den Vorhängen der „reinen Logik" 9 9 . Es macht nun keinen qualitativen Unterschied aus, wenn man 92 93 94 95 96 97 98
F. M ü l l e r i n , 167. F. M ü l l e r i n , 184ff. F. M ü l l e r i n , 187ff. F. M ü l l e r i n , 189ff. F. M ü l l e r i n , 194ff. F. M ü l l e r i n , 201 f. Vgl. unter I, 5.
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
zu der Autorität des Gesetzes auch die Autorität der Fachkenntnisse hinzufügt, wenn man beides in der gleichen scheinrationalen Weise benutzt. Eine solche „Methodik" könnte dann ebenso wie der Positivismus apologetischrechtfertigend funktionieren 100 , obwohl dies sicherlich nicht das bewußte persönliche Anliegen von F. Müller ist 1 0 1 . Fragwürdig erscheint auch die Notwendigkeit des Gebrauchs einer ganz neuen und ziemlich komplizierten Terminologie: So könnte beispielsweise die Normbereichsanalyse vielmehr der teleologischen Auslegung im herkömmlichen Methodenkanon zugeordnet werden 102 . Für eine Methode der Verfassungsinterpretation, die sich als Kontrollinstrument gegenüber der normenkontrollierenden Tätigkeit des BVerfG verstehen will, vermag zwar die strukturierende Methodik - vor allem in bezug auf die Berücksichtigung der sozialen Wirklichkeit beim Interpretationsvorgang - gewisse Anhaltspunkte, aber keine neue Gesamtkonzeption zu bieten.
5. Die „Theorie der Rechtsgewinnung" Die von M. Kriele entwickelte „Theorie der Rechtsgewinnung" stellt ähnlich wie die „strukturierende Methodik" einen Versuch dar, die diskredierte positivistische Rationalität mindestens teilweise durch eine neue zu ersetzen. Wenn diese neue Rationalität für F. Müller hauptsächlich aus Fachkenntnissen rühren soll, so soll sie für Kriele dagegen hauptsächlich aus Interessenabwägungen aufgrund von Gerechtigkeitskriterien rühren. Kriele geht davon aus, daß „das Vorhandensein eines Rechtssatzes, der durch bloßes Verstehen subsumtionsgeeignet wird, ein Grenzfall i s t " 1 0 3 . Daher kann man „die Verfassung in der Regel nicht interpretieren, ohne dabei die Ungewißheit zwischen alternativen Möglichkeiten durch Dezision zu beenden". Diese Dezision muß dann „weder an parteilichen Interessen noch an weltfremden Doktrinen, sondern an unparteilicher Vernünftig99 Im übrigen ist die Gesetzeskonformität sowohl der Staatsrechtslehre als auch der Rechtsprechung in der Zeit des Kaiserreichs, wie bereits bemerkt, aus politischen Gründen zu erklären. Dazu unter I, 1. 100 Eine solche Annahme der „strukturierenden Methodik" durch das BVerfG wird aber dadurch erschwert, daß F. Müller eine ganz eigenartige Begrifflichkeit entwikkelt hat, die nicht einmal jedem Verfassungsrechtler zugänglich ist. E.-W. Böckenförde hat in diesem Zusammenhang von einem „Kommunikationsdefizit" gesprochen (II, 2096, Anm. 90). 101 Es gibt kaum einen anderen Verfassungsrechtler in der Bundesrepublik, der so viele, politisch besonders wichtige, verfassungsgerichtliche Urteile negativ rezensierte wie F. Müller. 102 Vgl. Larenz, 320; Ebsen, 34. 103 Kriele I, 196.
II. Neuere Methodenansätze
143
k e i t , . . . d. h. an der Gerechtigkeit" orientiert sein 104 . Diese „Gerechtigkeit" bedeute, daß „es . . . immer auf das allgemeine oder, bei Interessenkonkurrenz, auf das fundamentalere Interesse" ankomme. „Die immer neu zu diskutierende Interessenberechnung ist das Kennzeichen der Rationalität: diese ist dynamisch, nicht statisch", meint er ferner. Die Legitimität der Entscheidung beruhe „auf der Erwartung der Rationalität der Berücksichtigung und Abwägung der Interessen bei der Aufstellung von Rechtsregeln" 1 0 5 . Insoweit seien juristische und politische Argumentation strukturgleich 1 0 6 , denn (rechts-) politische Argumentation sei „ i m Prinzip rational" in dem oben beschriebenen Sinne, obwohl „ihre Rationalität in der politischen Wirklichkeit begrenzt und korrumpiert" sei 107 . Die juristische Argumentation unterscheide sich von der (rechts-)politischen nur „durch ihre Bindung an die Entscheidungen der rechtssetzenden Gewalt und durch ihre Präsumptive Bindung an Präjudizien" 1 0 8 . Eine kritische Auseinandersetzung mit Kriele wird dadurch erschwert, daß er es nicht unternommen hat, die praktische Bedeutung seiner „Theorie" anhand von Besprechungen verfassungsgerichtlicher Urteile aufzuzeigen. Bei einem solchen Vergleich mit der Praxis würde sich die Fragwürdigkeit seines Ansatzes erweisen. Denn erstens ist unklar, was im konkreten Fall als „allgemeines" oder „fundamentales" Interesse gelten kann 1 0 9 und wie es geschützt werden könnte. Fraglich könnte darüber hinaus sein, ob eine Interessenkollision überhaupt vorliegt. So hat z.B. das Hochschulurteil sowohl das Interesse der Hochschullehrer und der wissenschaftlichen Mitarbeiter durch die Zusammensetzung der Hochschulorgane bei der Verwirklichung ihres Rechtes auf freie Forschung und Lehre (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) geschützt und gesichert zu werden, als auch das Interesse der Studenten auf Mitsprache in der Wissenschaftsverwaltung (sie sollen „nicht bloße Objekte der Wissensvermittlung, sondern. . . selbständig mitarbeitende, an den wissenschaftlichen Erörterungen beteiligte Mitglieder der Hochschule" sein) anerkannt 110 . Es ist nicht einzusehen, welches Interesse das allgemeinere oder fundamentalere ist. Man könnte diese Interessen freilich in eine von der Verfassung gebotene Rangfolge zu bringen versuchen; dann wäre aber zu fragen, wie diese anhand der Verfassung ermittelt wird damit wäre man wieder am Anfang. Fraglich ist auch, ob diese Interessen nur durch eine bestimmte Zusammensetzung der Hochschulorgane oder 104
Kriele I, 170. Vgl. auch Kriele I, 227: „Vernunftrechtliche Erwägungen beherrschen das Recht durch und durch". 105 Kriele I, 186. 106 Kriele I, 195. Vgl. auch I, 203. 107 Kriele I, 186. 108 Kriele I, 195. los Vgl. F. Müller VI, 165. no BVerfGE 35, 79, 120f. und 125.
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
vielleicht auch auf anderem Wege gesichert werden könnten, ohne zu kollidieren. Die gleiche Frage spielte eine zentrale Rolle im Abtreibungsurteil: Angenommen, daß dem ungeborenen Wesen das Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) zukommt, welches gegenüber dem Recht der Frau auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit Vorrang verdient 1 1 1 , kommt es darauf an, ob dieses Interesse des nasciturus besser durch das von § 218 a StGB in der Fassung des Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 18. Juni 1974 vorgesehene Verfahren oder durch strafrechtliche Sanktionen geschützt werden könnte 1 1 2 . Hier kann die „Theorie der Rechtsgewinnung" nicht weiter helfen. Zweitens bleibt ungeklärt, wer und inwieweit die erforderliche Abwägung vorzunehmen hat: das Bundesverfassungsgericht oder der Gesetzgeber? Warum sollte eigentlich das Bundesverfassungsgericht für beliebige Interessenabwägungen zuständig sein und nicht nur diejenigen Gesetze beanstanden können, deren Verfassungsmäßigkeit durch Subsumtion festgestellt werden könnte? Die von der „Theorie der Rechtsgewinnung" skizzierte Rationalität vermag also kaum ein generelles Kriterium für eine legitime Rechtsprechung anzubieten, jedenfalls nicht für die verfassungsgerichtliche. Was zusammenfassend zur „strukturierenden Methodik" gesagt worden ist, gilt analog auch für den Krieleschen Ansatz: Es macht keinen qualitativen Unterschied, ob man der Autorität des Gesetzes die Autorität der Gerechtigkeit hinzufügt, wenn man die gleiche Scheinrationalität benutzt. Daher könnte auch die „Theorie der Rechtsgewinnung" - ebenso wie der Positivismus apologetisch rechtfertigend funktionieren. Für die methodische Kontrolle der Tätigkeit des BVerfG im Rahmen der Normenkontrolle ist sie unter diesen Umständen kaum ergiebig.
6. Die Offenheit der Gesellschaft der Verfassungsinterpreten Die Konsensproblematik, die von den topisch orientierten Schriftstellern in den Mittelpunkt der zeitgenössischen Methodendiskussion gerückt worden ist, wurde vor allem in bezug auf das Verfassungsrecht von P. Häberle fortgesetzt und theoretisch weiter ausgearbeitet. Unter dem Stichwort der „offene(n) Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" stellte er die These auf, „ i n die Prozesse der Verfassungsinterpretation" seien „potentiell alle Staatsorgane, alle öffentlichen Potenzen, alle Bürger und Gruppen eingeschaltet". Es gebe keinen „Numerus clausus der Verfassungsinterpreten". Sie seien also alle „zumindest als Vorinterpreten tätig", obwohl die Verant111
BVerfGE 39, 1,37f., 42f. 112 BVerfGE 39, 1, 52ff.'
II. Neuere Methodenansätze
145
wortung „bei der letztlich interpretierenden Verfassungsgerichtsbarkeit" verbleibe 113 . Dies ist von Häberle anscheinend eher faktisch und nicht nur normativ gemeint. Daher enthält sein Beitrag eine (verfassungs-)soziologische Dimension. Gerade von sozialwissenschaftlicher Seite kam aber auch die heftigste K r i t i k an der Konzeption Häberles: Im Gegensatz zu ihr stellte man fest, daß „die Verfassungsinterpreten eine relativ geschlossene Gesellschaft bilden, in der Nicht-Juristen keine Rolle spielen" 1 1 4 . Dies wurde mit statistischen Daten gestützt, wonach im Zeitraum von 1969 bis 1979 von den insgesamt 83 vor dem BVerfG auf getretenen Gutachtern 71 Juristen und nur 12 NichtJuristen waren. Auch jene, die das BVerfG anrufen, bildeten keine offene Gesellschaft: „Die Verfassungsbeschwerde . . . w i r d . . . in erster Linie von Strafgefangenen und Angeklagten in Strafprozessen, in zweiter Linie von Bürgern in ihrer Rolle als Steuerzahler b e n u t z t . . . Im übrigen . . . treten . . . Anwälte recht häufig als Absender auf, die das Bundesverfassungsgericht zu einer vierten Instanz . . . zu machen suchen" 115 . Wenn aber die Beschwerdeführer beim BVerfG sich als eine relativ geschlossene Gesellschaft erweisen, dann ist die These der „offenen Gesellschaft" in ihrem Kern getroffen, denn die anderen Verfahren und insbesondere die in unserem Fragenkomplex interessanten Formen der abstrakten und konkreten Normenkontrolle, sind im Zugang sehr restriktiv gehalten 116 . Die Geschlossenheit der Gesellschaft der das BVerfG Anrufenden wird wiederum auf das Verhalten des Gerichts selbst zurückgeführt, denn der Geschäftsanfall des Gerichts w i r d „antizipatorisch durch die Erwartungen an die Problemlösungsfähigkeit justizieller Entscheidungen gesteuert", obwohl „potentiell sehr viel mehr Verfassungsprobleme möglich wären" als jene, die „tatsächlich zur Kenntnis des Gerichts kommen" 1 1 7 . Von ausschlaggebender Bedeutung für eine Bestandsaufnahme in bezug auf diese Kontroverse scheint in erster Linie das Ausmaß an Offenheit der Verfassungsinterpretation des Gerichts und nicht der „Gesellschaft" der das Gericht anrufenden Personen, Organisationen usw. zu sein. Denn der Zugang zum BVerfG ist vom GG und vom BVerfGG so großzügig ausgestaltet, daß die Geschlossenheit dieser Gesellschaft der Petenten primär durch die Geschlossenheit der Interpretation und vielleicht auch durch die us Häberle III, 297. 114 Blankenburg-Treiber, 24; vgl. Dopatka II, 72. 115 Blankenburg-Treiber, 20. 1X6 Vgl. die Statistik bei Landfried, 48, wonach 95% der vom Anfang der Tätigkeit des BVerfG bis zum 31.12.1983 anhängig gewordenen und 97,5% der durch Entscheidung erledigten Verfahren Verfassungsbeschwerden waren. Die Erfolgsquote bei Verfassungsbeschwerden ist allerdings sehr niedrig: Nur 1,08% der bis zum 31.12.1976 erledigten Verfassungsbeschwerden waren erfolgreich. Davon scheiterten 87% schon bei der Vorprüfung gemäß § 93 a BVerfGG. (Vgl. dazu Rupp-v. Brünneck, 26.) 117 Blankenburg-Treiber, 20. 10 Chryssogonos
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
Geringschätzung der Leistungsfähigkeit des Gerichts insgesamt erklärt werden könnte. Die entscheidende Frage ist also, inwieweit und in welcher Weise die Gesellschaft insgesamt vom Gericht bei seiner Interpretation des Grundgesetzes berücksichtigt wird, werden kann und werden soll. Man hat dabei von zwei „Arenen . . . juristischer Verfassungsinterpreten", die für Nicht-Juristen geschlossen seien, gesprochen, nämlich einerseits „die Träger jener Rollen, in die sich die Fallbearbeitung vor Gericht ausdifferenziert", die als „primäre" Verfassungsinterpreten oder als „forensische Arbeitsgruppe" gelten, und andererseits der „Hof der sekundären Verfassungsinterpreten, zu denen kommentierungsfreudige Praktiker, vor allem aber die Rechtslehrer an den Universitäten zählen" 1 1 8 . In der Tat sind jene zwei „Arenen" noch geschlossener: Nicht alle Rollenträger bei der Fallbearbeitung vor Gericht spielen eine ausschlaggebende Rolle dafür, wie die Verfassimg am Ende interpretiert wird, sondern nur die Verfassungsrichter. Manchmal sind nicht einmal alle Verfassungsrichter dabei beteiligt: entweder, weil sie nicht anwesend sind und die Entscheidung nur von sechs oder sieben der acht Richter getroffen wird, oder weil sie die Rechtsauffassung der Mehrheit prinzipiell nicht teilen 1 1 9 . Schließlich werden nicht alle Rechtslehrer an den Universitäten vom Gericht berücksichtigt, sei es, weil sie sich literarisch zu den verfassungsgerichtlichen Entscheidungen nicht äußern, oder sei es, weil ihre eventuellen Äußerungen nicht zur Kenntnis genommen werden. Und wenn auch unter Umständen die Literatur für das BVerfG vorbereitend und wegweisend wirken kann, ist sie doch oft im wesentlichen eine Reproduktion der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung 120 . Die Effektivität dieser zweiten „Arena" darf also nicht überschätzt werden: In vielen Fällen stellt sie nicht mehr dar als ein Alibi, welches der Rechtsprechung einen wissenschaftlichen Anschein verleiht und dadurch die Autorität des BVerfG erhöht, ohne es wirksam kontrollieren zu können 121 . Die beiden schon erwähnten Gruppen von Verfassungsinterpreten können auch politisch und sozial nicht als für die ganze Gesellschaft repräsentativ angesehen werden. Von den zwischen 1951 und 1983 gewählten insgesamt 53 Verfassungsrichtern war die absolute Mehrheit, nämlich 27 Richter, von den Unionsparteien (CDU/CSU) nominiert, 3 waren von der FDP, die übrigen 23 von der SPD nominiert 1 2 2 . Besonders deutlich war die Diskrepanz während der sozialliberalen Koalition in Bonn: 9 der 16 im Jahre 1971 amtierenden Verfassungsrichter wurden von den Unionsparteien vorge118
Blankenburg-Treiber, 25f. Ein Beispiel solcher prinzipiellen Meinungsverschiedenheit bietet vor allem das Sondervotum zum Abtreibungsurteil, BVerfGE 39, 1, 68ff. an. 120 Vgl. etwa Hoffmann-Riem, 340 f. 121 Vgl. auch unter I, 5. * 2 2 Vgl. Landfried, 44. 119
II. Neuere Methodenansätze
147
schlagen (5 im Ersten, 4 im Zweiten Senat), nur 7 von den Koalitionsparteien (3 von der SPD in jedem Senat und 1 von der FDP im Zweiten) 1 2 3 . Was die Staatsrechtslehrer angeht, darf man auch ohne vorliegende statistische Daten davon ausgehen, daß eine noch größere Mehrheit als bei den Verfassungsrichtern konservativ orientiert ist. Auch der soziale Hintergrund der Verfassungsrichter dürfte als keineswegs repräsentativ für die ganze deutsche Gesellschaft angesehen werden: Nach den Angaben von D. Kommers waren alle 46 von 1951 bis 1971 nominierten Verfassungsrichter vor ihrer Wahl als Beamte, Richter, Professoren, Abgeordnete oder Anwälte tätig. Nur drei Verfassungsrichter stammen aus einem bäuerlichen Elternhaus, nur zwei kommen aus der Arbeiterschaft. 31 dieser Verfassungsrichter waren zum Zeitpunkt ihrer Wahl mehr als 50 Jahre alt 1 2 4 . Ähnliches gilt erfahrungsgemäß auch für die Mehrheit der Staatsrechtslehrer. Insoweit also Verfassungsrichter und Staatsrechtslehrer die verbindliche Verfassungsinterpretation steuern, die sich in Form von verfassungsgerichtlichen Urteilen präsentiert, kann man von einer kleinen Gruppe privilegierter und politisch konservativ geprägter Personen sprechen, die einen nicht geringen Anteil an der politischen Macht besitzen 125 . Kontrolle wird zwar auf der Input-Seite ausgeübt, da das BVerfG kein eigenes Initiativrecht hat und nur auf Antrag anderer tätig wird. Wie aber bereits bemerkt, ist der Zugang so großzügig ausgestaltet worden, daß viele politisch wichtigen Fragen der gerichtlichen Prüfung unterworfen werden, wenn auch nicht alle möglichen Verfassungsprobleme zur Kenntnis des Gerichts kommen. Auf der Output-Seite entfaltet das Angewiesensein des BVerfG auf die Mitwirkung anderer Staatsorgane für die Implementation seiner Entscheidungen im Regelfall kaum Kontrollwirkung, weil „die politischen Kosten offener Nichtabnahme von Entscheidungen. . . auch für die anderen Staatsapparate . . . im allgemeinen zu hoch . . . sind" 1 2 6 . Natürlich gibt es gewisse Toleranzgrenzen, deren Überschreitung durch eine Entscheidung des BVerfG den Widerstand anderer Staatsapparate oder gesellschaftlicher Kräfte provozieren und das stillschweigende Unterlaufen der Entscheidung sowie einen erheblichen Legitimitätsverlust für das Gericht verursachen könnte 1 2 7 . Eine 123 vgl. Kommers, 130 und 140 ff. Auch nach den Richterwahlen in den Jahren 1975 und 1977 war das Gesamtbild nicht verändert: Im Ersten Senat saßen drei CDU- und drei SPD-Mitglieder sowie jeweils ein von den beiden großen Parteien nominierter neutraler, im Zweiten zwei CDU-Mitglieder, ein CSU-Mitglied, zwei von den Unionsparteien nominierte neutrale, zwei SPD-Mitglieder und ein FDP-Mitglied: insgesamt also neun von den Unionsparteien nominierte Richter gegenüber sieben der Koalition (Vgl. Lamprecht-Malanowski, 41). 124 Kommers, 144 ff. 125 Charakteristisch wird von Hesse II, 263, dem BVerfG „Anteil an der obersten Staatsleitung" zugesprochen. 126 Ladeur, in: Hase / Ladeur, 286. 127 Vgl. Blankenburg / Treiber, 28: „Es sind zunächst Konsensbedürfnisse,... die erklären können, warum . . . die Konkretisierungsarbeit an den vage formulierten 10*
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
solche Implementationsgrenze gibt es aber für jede Form staatlicher Tätigkeit 1 2 8 , und zwar in jeder Staatsform. Insofern stellt dies kaum eine besondere Schranke für das Gericht dar, noch beinhaltet sie eine Öffnung der Gesellschaft der Verfassungsinterpreten. Die Gesellschaft der Verfassungsinterpreten erweist sich also in dem Maße als offen, in dem es eine wirksame gesellschaftliche Kontrolle der Through-put-Mechanismen des Gerichts 129 gibt, also in dem Maße, in dem es eine auf gesellschaftlichen Konsens hin angelegte verfassungsrechtliche Methode gibt; von diesem Konsens ist die ziemlich geschlossene Gesellschaft der „primären" (d. h. Verfassungsrichter) und „sekundären" (d. h. Staatsrechtslehrer) Verfassungsinterpreten nicht nur faktisch, sondern auch methodisch abhängig. Da aber weder der herkömmliche Methodenkanon 130 noch der funktionell-rechtliche Kanon (die Dreistufenlehre) 131 in der Form, in der sich das BVerfG zu ihnen bekannte, diesen Konsens miteinbeziehen, ist es eine sehr kühne These, von einer „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" im ontologischen Sinne zu sprechen. Es wäre dagegen sehr begrüßenswert gewesen, wenn man von einer Öffnung der Gesellschaft der Verfassungsinterpreten im Sinne eines unerfüllten Verfassungsgebots gesprochen hätte. Denn das Demokratieprinzip verlangt normativ, daß demokratisch unlegitimierte Herrschaft, wie sie von den „primären" Verfassungsinterpreten durch ihre verbindliche Verfassungsinterpretation ausgeübt wird, soweit wie möglich zu minimieren ist 1 3 2 . Eine demokratische Methode fordert also, die Interpretationen jener exklusiven Gruppe an einem (methodisch relevanten) gesellschaftlichen Konsens zu binden 1 3 3 . Es sollte dabei betont werden, daß es sich nicht um einen Konsens handeln kann, der das jeweilige Ergebnis im konkreten Fall betrifft. Wenn dies so wäre, dann ginge die Schutzfunktion der Verfassung gegenüber Minderheiten fehl 1 3 4 . Es handelt sich vielmehr um einen Konsens, der die Bedeutung Grundrechten aus der großen und theoretisch oft sogar unbeschränkten Fülle logisch zulässiger und logisch gleichwertiger Möglichkeiten.. . eine bestimmte, relativ begrenzte Anzahl gebotener oder verbotener Verhaltensweisen heraushebt". Ferner Ladeur, in: Hase / Ladeur, 287; Gawron-Rogowski, 359ff. Vgl. auch unter I, 5. 128 Vgl. Gawron / Rogowski, 359 f. 129 Für die Unterscheidung von Input, Output und Throughput-Mechanismen siehe Ladeur, in: Hase-Ladeur, 285. 130
Hierzu unter I, 4. Hierzu unter IV. 132 v g l hierzu im ersten Teil, IV, 7. 131
133
In diesem Sinne Bryde, 293f.; Dolzer I, 112f. Ähnlich Stein II, 106. Auf diese Ineinssetzung von methodisch relevantem Konsens und methodisch irrelevantem Konsens im Ergebnis des konkreten Falls zentriert Schlink, 86, seine Einwände gegen den konsensualistischen Ansatz. Ähnliches gilt für die Bedenken Krieles gegen die amerikanische empirisch-soziologische Methode von McDougal und Laswell (Kriele I, 110 ff.). 134
II. Neuere Methodenansätze
149
von gesetzlichen Begriffen betrifft und sich aus dem öffentlichen Sprachgebrauch ergibt, oder auch um einen Konsens, der methodisch relevante allgemeine Tatsachen (legislative facts) betrifft, insoweit sie nicht anhand empirischer Daten mit einiger Sicherheit feststellbar sind 1 3 5 . Zwar kann es sein, daß eine unter Berücksichtigimg eines solchen methodisch relevanten Konsenses getroffene verfassungsgerichtliche Entscheidung im Ergebnis nur wenig Konsens erzeugen kann. Dies ist dann aber methodisch irrelevant.
7. Konsensansätze in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Konsensansätze finden sich in mehreren Entscheidungen der 50er Jahre. Als erstes sei das Homosexualitätsurteil erwähnt, demzufolge der Verstoß gegen das Sittengesetz, das die freie Entfaltung der Persönlichkeit einschränkt (Art. 2 Abs. 1 GG), nach den allgemein anerkannten und als Sittengesetz geltenden sittlichen Werturteilen zu beurteilen sei, unabhängig davon, welche geschichtlichen Erfahrungen den Grund jener Werturteile bilden. Daher verstoße die gleichgeschlechtliche Betätigung „eindeutig" gegen das Sittengesetz 136 . Dem ist zwar im Prinzip, nicht aber im Ergebnis zuzustimmen, denn die Feststellung der allgemeinen Anerkennung der Sittenwidrigkeit der Homosexualität ist unzureichend begründet: Die Verurteilung seitens der öffentlichen Religionsgemeinschaften, aus deren Lehren in aller Regel große Teile des Volkes die Maßstäbe für ihr sittliches Verhalten entnehmen 137 , reicht allein nicht aus. Es wäre vielmehr zu untersuchen, welchen Einfluß jene Lehren bezüglich des in Frage kommenden Problems der Homosexualität in der Bevölkerung haben. Ebensowenig können die Auffassungen der Betroffenen, d. h. der Homosexuellen, ignoriert werden 1 3 8 , denn auch sie sind Teil des Volkes. Insofern wäre eher ein Dissens als ein Konsens festzustellen. Wenig hilfreich ist auch die Berufung des Urteils auf die Begründungen von Strafgesetzentwürfen aus der Zeit vor 1949, die als Grund für die Pönalisierung der Homosexualität die herrschenden sittlichen Wertungen angegeben hatten 1 3 9 : Zum einen ist nicht sicher, ob solche Begründungen schon in jener Zeit zutreffend waren, zum anderen ist zweifelhaft, ob jene Anschauungen - falls sie damals herrschten - fortbestehen. Das BVerfG berief sich also auf einen Konsens, dessen Vorhandensein es nicht bewiesen hatte.
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Hierzu unter I, 5 und IV, 5. 136 BVerfGE 6, 389, 435. 137
So BVerfGE 6, 389, 435. Dies macht aber ausdrücklich das Gericht, BVerfGE 6, 389, 436. 139 BVerfGE 6, 389, 435f. 138
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2. Teil: Normenkontrolle ujid Methode
In zwei anderen Fällen nahm das BVerfG das „allgemeine Gerechtigkeitsempfinden" 1 4 0 und die „fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft" 141 als Maßstab für die Beurteilung eines eventuellen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Es hat sich aber noch weniger als im Homosexualitätsurteil zu beweisen bemüht, daß die aus der Verfassungsvorschrift abgeleiteten Folgerungen jenem gesellschaftlichen Konsens entsprechen. Daher hat die Berufung auf diesen eine eher rhetorische Bedeutung. Ferner berief sich das BVerfG auf das „allgemeine Rechtsgefühl und Rechtsbewußtsein", um den unantastbaren Ordnungskern der Institute Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) zu bestimmen 142 ; dies geschah ebenfalls, ohne näher auszuführen, wie jener Konsens festzustellen wäre. Im Urteil über das schleswig-holsteinische Wahlgesetz stellte der Zweite Senat des BVerfG fest, die staatspolitische Gefahr, daß die gesetzgebenden Körperschaften in eine Unzahl kleinerer Gruppen zerfielen und damit funktionsunfähig würden, sei ein zureichender Grund für eine differenzierende Behandlung der politischen Parteien bei der Zuteilung von Sitzen nach Verhältniswahlrecht. Dabei bestimme sich der Grad der zulässigen Differenzierungen „nach den Wertungen, die im Rechtsbewußtsein der konkreten Rechtsgemeinschaft lebendig sind" 1 4 3 . Es werden sowohl die Länderverfassungen und -Wahlgesetze als auch die internationale Lage und die Wahlrechtsliteratur berücksichtigt; aus allem ergebe sich, daß „die Gefahr der Parteizersplitterung als ausreichendes Motiv erachtet" wird, um „den Proporzgedanken zu modifizieren" 1 4 4 . Dies stellt m.E. einen legitimen Interpretationsvorgang dar: Die Gefahr der Parteienzersplitterung und der Funktionsunfähigkeit des politischen Systems ist nach der geschichtlichen Erfahrung der Weimarer Zeit nicht illusorisch. Die fast in allen Ländern getroffenen Wahlrechtsregelungen dagegen indizieren die Existenz eines breiten Konsenses darüber, daß diese Gefahr tatsächlich droht. Daher rechtfertigt sich eine teleologisch bedingte Relativierung der Wahlgleichheit durch Differenzierung des Erfolgswerts der Stimmen. Insgesamt sind aber die Konsensansätze in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung eher selten, und selbst in diesen wenigen Fällen erweist sich die Konsensorientierung als nicht immer konsequent.
"0 BVerfGE 4, 219, 246. 141 BVerfGE 9, 338, 349. ι 4 2 BVerfGE 10, 59, 66. 143 BVerfGE 1, 208, 248 f. 144 BVerfGE 1, 208, 249 ff.
II. Neuere Methodenansätze
151
8. Der funktionell-rechtliche Methodenansatz Als funktionell-rechtlich orientiert kann man eine Reihe relativ junger Beiträge zum Methodenproblem betrachten, die entweder auf der Ebene der allgemeinen juristischen Methodendiskussion 145 oder aber auf jener der Erörterung der Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Verfassungsinterpretation liegen 146 . Als Ausgangspunkt kann dabei die Einsicht gelten, daß das traditionelle juristische Handwerkszeug nicht als wirksames Kontrollinstrumentarium gegenüber der Rechtsprechung zu fungieren vermag 1 4 7 . Ein wichtiges Verdienst des funktionell-rechtlichen Ansatzes ist ferner die Betonung des normativen (verfassungsrechtlichen) Bezugs des Methodenproblems. Als etwa repräsentativ dazu dürfte die Forderung von H.-P. Schneider gelten, „die neuere Methodendiskussion von ihrem hermeneutischen Kopf auf die verfassungsrechtlichen Füße" zu stellen" 1 4 8 . Dies wird manchmal bis zur völligen Ausschaltung der hermeneutischen Problematik überspitzt 149 . Diese verfassungsrechtliche Grundlage des funktionell-rechtlichen Ansatzes bildet vornehmlich ein Verständnis des Gewaltenteilungsgrundsatzes, das der zuerst von O. Küster entwickelten Lehre nahekommt, wonach Gewaltenteilung ein Gebot darstellt, die Verteilung der staatlichen Macht auf die verschiedenen Organe zu rationalisieren; dies in dem Sinne, daß jedes Organ im Prinzip solche Kompetenzen wahrzunehmen hat, die seinem organisatorischen Aufbau (Organstruktur) und/oder seiner Legitimation am ehesten entsprechen 150 . Die sich aus dem Demokratieprinzip ergebende Problematik tritt dagegen nicht mit der gebotenen Deutlichkeit und in entsprechendem Umfang hervor.
145 So vor allem die Beiträge von H.-P. Schneider I und I I und Ipsen. Weitere Nachweise bei Rinken, 1023 (Anm. 61). 146 U. a. Hesse III, Rinken, Schuppert, H.-P. Schneider III. Etwa in diese Richtung auch Böckenförde II, 2097 f. mit seiner Forderung nach einer verbindlichen Verfassungstheorie, die die Interpretation leiten soll. Weitere Nachweise bei Rinken, 1023 (Anm. 62), Schiaich II, 221 (Anm. 22). 147 Vgl. Rinken, 1023 (RdNr. 75): „Das Ungenügen des Methodenparadigmas . . . legt einen Paradigmenwechsel nahe, durch den die verkürzte Applikationsperspektive zugunsten einer umfassenden Regelungstheorie hin überschritten wird." 148 H.-P. Schneider II, 452. Vgl. auch H.-P. Schneider I, 9 und 30ff.; Ipsen, 28f.; Hesse III, 262; Rinken 1023 (RdNr. 76); Schuppert, 52f.; Gusy, 88ff. 149 Dies ist ein Kennzeichen der Habilitationsschrift von C. Gusy, deren Gegenstand die Normenkontrolle im auch von der vorliegenden Untersuchung vorausgesetzten Sinne ist. 150 Vgl. Rinken, 1023 (RdNr. 76): „Entscheidende Prämisse" sei die Annahme, daß der „Zusammenhang von Funktionszuweisung, Organkompetenz und Organstruktur als Legitimationszusammenhang . . . von der Verfassung... in jeweils spezifischer Weise funktionsgerecht ausgestaltet ist." Nicht weit davon entfernt ist der amerikanische Gedanke des „structural due process". Vgl. dazu J. P. Müller, 79ff. m.w.N.
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
Unter funktionell-rechtlichem Gesichtspunkt lassen sich verschiedene Kategorien der Grenzen feststellen, denen die Verfassungsgerichtsbarkeit unterliegt. Es handelt sich erstens um eine „funktionelle" Grenze, die sich aus der Notwendigkeit für das BVerfG ergibt, „bei seiner Kontrolle der anderen Gewalten nicht so weit (zu) gehen, daß es der Sache nach deren Funktionen wahrnimmt, also etwa selbst zum Gesetzgeber w i r d " 1 5 1 . Man unterscheidet dann zwischen „funktionellen" Grenzen und „materiellrechtlichen Grenzen" 152 , „Grenzen der Interpretationsmacht" 153 oder „Grenzen, die sich aus dem Erfordernis der Justitiabilität ergeben" 154 . Es handelt sich hier offensichtlich um eine Fortsetzung der Unterscheidung Ehmkes zwischen materiell- und funktionell-rechtlichen Prinzipien. Darüber hinaus werden „institutionelle Grenzen" 155 oder „institutionelle Gegebenheiten, (die) zu einer Reduzierung der Reichweite verfassungsgerichtlicher Entscheidung" 156 zwingen, konstatiert. Damit sind hauptsächlich verfassungsprozeßrechtliche Regelungen gemeint, die die Zuständigkeiten des BVerfG normieren und zugleich beschränken. Es läßt sich aber bezweifeln, ob es sich wirklich um verschiedene Kategorien von Grenzen handelt oder ob sie miteinander verwoben sind. Als relativ autonom erweisen sich allerdings die institutionell- oder prozeßrechtlichen Grenzen, da sie das Verfahren und nicht die Substanz betreffen. Selbst sie sind aber von der Verfassungsinterpretation abhängig, wie das Beispiel der Ausdehnung des Anwendungsbereiches der Verfassungsbeschwerde durch die extensive Interpretation des Art. 2 Abs. 1 GG zeigt 1 5 7 . Im übrigen läßt sich deshalb nicht zwischen funktionell- und materiell-rechtlichen Grenzen unterscheiden, weil die verfassungsrechtliche Bestimmung der Funktion eines Organs gerade den Umfang seiner Tätigkeit begrenzt, also hier die Grenzen der (legitimen) Interpretationstätigkeit des BVerfG festlegt. In dieser Form ist allerdings die Grenzziehung noch nicht präzise genug, um als Kontrollinstrument gegenüber der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung bei der Normenkontrolle wirksam werden zu können. Erst die speziellen, funktionell-rechtlich geprägten Maßstäbe, wie u. a. die Unter-
151 Hesse III, 262. Etwa ähnlich spricht H.-P. Schneider III, 2104 von Verfahren, Organisation, Informationsgewinnung, Problemverarbeitung, Urteilsfindung und Legitimation als funktionellen Grenzen. Vgl. auch Simon, 1280ff.; Haller, II, 472. 152 H.-P. Schneider III, 2104. Simon, 1280 und 1283. 154 Hesse II, 262. Von dieser funktionell-rechtlichen Lehre ist offenbar das BVerfG beeinflußt worden, wenn es von „sachlichen und funktionellen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit" spricht - allerdings im Verhältnis zum verfassungsändernden, nicht zum einfachen Gesetzgeber (BVerfGE 67, 256, 285). iss Hesse I, 262. 156 H.-P. Schneider III, 2104 (r. Sp.). 1 57 Bahnbrechend das Elfesurteil, BVerfGE 6, 32, 41.
III. Besondere Argumentationsfiguren bei der Normenkontrolle
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Scheidung zwischen Handlungs- und Kontrollnorm 1 5 8 und vor allem das Kontrolldichtetheorem 159 können Anhaltspunkte dafür bieten.
ΠΙ. Besondere Argumentationsfiguren bei der Normenkontrolle 1. Die Wertordnungslehre Eine der wichtigsten Argumentationsfiguren des Bundesverfassungsgerichts, die dazu dient, die Normenkontrolle zu verdichten, ist die „objektive Wertordnung" des Grundgesetzes. „Hierin kommt eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck", erklärte das BVerfG im Lüthurteil. Obwohl jene Grundrechte immer noch als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat zu deuten seien, erwiesen sie sich aber zugleich als auch objektiv, und zwar für alle Bereiche des Rechts geltend; einfachrechtliche Vorschriften seien im Geiste des Wertsystems auszulegen1. Als Begründimg begnügte man sich dabei mit dem Hinweis auf drei frühere Entscheidungen, in denen vom Grundgesetz als einer „wertgebundenen Ordnung" die Rede war 2 . Diese Ordnung wurde aber in jenen Entscheidungen mit der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" identifiziert, welche sich im wesentlichen mit dem unabänderbaren Kern des Art. 79 Abs. 3 GG deckte. Um eine ganz andere Wertordnung ging es im Lüthurteil: Sie betrifft speziell die Grundrechte und soll dazu dienen, sie um eine objektive Dimension zu erweitern. Es kann sehr wohl sein, daß die Gesamtratio des Grundgesetzes eine prinzipielle Verstärkung der Grundrechte mitumfaßt; dies ist jedoch kein hinreichender Grund für ihre Objektivierung, denn sie stellt offenbar nicht nur ein Plus, sondern ein qualitatives Aliud dar. Die Wertordnungsformel ersetzte also im Lüthurteil die erforderliche Begründung; zugleich unterblieb die Ausdifferenzierung der Objektivierung unter Rückgriff auf die Verfassungsprinzipien, vor allem auf das Sozialstaats- und das Gewaltenteilungsprinzip 3 . Die Objektivierung erfolgt also unkontrolliert und unbegrenzt. Es war ferner von einer WertrangoTÖnung !58 Vgl. unter I, 6 a. iss Vgl. unter IV. 1 BVerfGE 7, 198, 204f. 2 BVerfGE 2, 1, 12 (SRP-Urteil); 5, 85, 134ff., 197ff. (KPD-Urteil); 6, 32, 40f. (Elfesurteil). 3 Vgl. hierzu im ersten Teil unter III, 5 und V, 3 und im zweiten Teil unter I, 6b. Von mehreren Staatsrechtslehrern w i r d dem BVerfG dagegen nicht so sehr vorgeworfen, daß es die Grundrechte durch einen falschen Weg objektiviere, sondern daß es sie überhaupt objektiviere, wie von Forsthoff I, 45ff.; Gusy, 68f.; Roellecke I, 38ff.
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
die Rede, die eine Abwägung zwischen den im konkreten Fall konfligierenden Werten ermöglichen soll, wobei allerdings ungeklärt bleibt, ob und inwieweit alle abzuwägenden Werte verfassungsrechtlich verankert sein müssen4. Das Problematische in dieser Abwägung ist aber, daß keine Waage zur Verfügung steht: Die Rangordnung ist keine von vornherein fixierte, feste Ordnung (dies kann sie keinesfalls sein, da es keinen in der Verfassung verankerten Rangunterschied gibt), sondern nur eine Leerformel, die vom BVerfG beliebig ausgefüllt werden kann 5 . Die Wert ab wägung wird zu einem Blankocheck für eine unkontrollierbare Kasuistik 6 . Die Wertordnungslehre hat zu heftiger K r i t i k der Staatsrechtslehre Anlaß gegeben. Erstens wurde dagegen eingewendet, es könne im pluralistischen Gemeinwesen keine „überzeitliche(n) Werte mit absoluter, dem pluralistischen Meinungsstreit entzogener Geltung" geben7. Zweitens werde die Schutzfunktion der Grundrechte, insbesondere gegenüber Minderheiten, relativiert, da nur der mit den jeweils herrschenden Wertauffassungen konforme Freiheitsgebrauch nunmehr als wertverwirklichend und daher legitim gelten kann 8 . Vielmehr komme es zu einer Umdeutung des ursprünglichen Freiheitsgebrauchs zum Gehorsam gegenüber den sich aus den Werten ergebenden Handlungspflichten 9 . Und drittens seien die Grundrechte kein geschlossenes, umfassendes System, kein Kodex, sondern punktuelle Gewährleistungen 10 ; ein solches Grundrechtssystem sei schon deshalb aus4 BVerfGE 7,198, 215, wo die Rede von einer Abwägung zwischen dem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG und den seine Ausübung beschränkenden Rechten und Rechtsgütern ist. 5 Vgl. Goerlich 58, 131ff., 136; Böckenförde I, 1534; Denninger III, 168; Pestalozza I, 447ff.; Majewski, 108ff. 6 Als Alternative zur Wertabwägimg schlägt K. Hesse das „Prinzip praktischer Konkordanz" vor, wonach verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter in der Problemlösung einander so zugeordnet werden müssen, daß jedes von ihnen Wirklichkeit gewinnt. Die Grenzziehungen müssen daher im jeweiligen konkreten Fall verhältnismäßig sein (Hesse II, 28f.). Interessanterweise wird im Lüthurteil selbst eher praktische Konkordanz als Güterabwägung betrieben: Die dem Grundrecht der freien Meinungsäußerung zugemessene höhere Bedeutung wird normativ, d. h. unter Rückgriff auf seine für die „freiheitlich-demokratische Staatsordnung. . . schlechthin konstituierende" Funktion, begründet, wobei die mysteriöse Wertrangordnung in der Tat keine Rolle spielt (BVerfGE 7, 198, 219ff.). Die beiden Grundrechte wurden also aneinander so zugeordnet, daß jedes von ihnen durch verhältnismäßige Grenzziehung Wirklichkeit gewann. 7 H.-P. Schneider V, 20. Vgl. Hesse II, 127; Pestalozza I, 436f.; Vorländer, 379f. Dagegen BVerfGE 39,1, 67: „Das Bundesverfassungsgericht. . . kann seine Entscheidungen nur an . . . Prinzipien orientieren, zu deren Entfaltung es selbst in seiner Rechtsprechung beigetragen h a t . . . Auch ein allgemeiner Wandel der in der Bevölkerung herrschenden Anschauungen . . . würde daran nichts ändern können." Dazu kommentierte Denninger III, 181 (Anm. 36): „Schrecklich". β Böckenförde 1,1534; H.-P. Schneider V, 38f. 9 Denninger III, 169. 10 Forsthoff I, 40; Hesse II, 128; Scheuner VII, 37f. und Anm. 110; H.-P. Schneider V, 21. Dagegen sieht Dürig II, RdNr. 5 ff. im Grundrechtsteil des GG ein „lückenloses) Wert- und Anspruchssysstem", das auf der Grundlage der Menschenwürde beruht.
III. Besondere Argumentationsfiguren bei der Normenkontrolle
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geschlossen, weil die ganze Verfassung eine Einheit konstituiere, die nicht zugunsten geschlossener Subsysteme gesprengt werden dürfe 11 . Das Bedenklichste an der Wertordnungslehre ist aber, daß sie die normativen Begründungen durch eine beliebige und unvorhersehbare Kasuistik substituiert und dadurch zur Lockerung oder zur Auflösung der Bindung des Verfassungsrichters an das Grundgesetz führt. Intersubjektiv nachprüfbare Kriterien werden entbehrlich, die Gesellschaft der Verfassungsinterpreten wird geschlossen12. Wertordnung wird zur „Verhüllungsformel für richterlichen Dezisionismus" 13 . Insofern ähnelt sie freilich der positivistischen „reinen Logik" und dem herkömmlichen Methodenkanon, denn diese waren ebenfalls Verhüllungsformeln. Im Vergleich mit dem Positivismus erweist sich die Wertideologie aber als effizienter, denn sie impliziert einen Rückgriff auf ethische Maßstäbe, materielle Gerechtigkeit und ähnliches und wirkt daher in höherem Maße legitimierend. Durchaus zutreffend wurde sie also von H. Goerlich als „ Arcanum der Verfassungsinterpretat i o n " 1 4 charakterisiert, denn Arcanum bedeutet ein Mysterium mit religiösen Elementen. Gerade einen solchen quasi-religiösen Charakter besitzt die Wertideologie. Die durch die Wertordnungslehre bewirkte Objektivierung der Grundrechte erschöpft sich aber nicht in der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte gegenüber allen übrigen Rechtsbereichen, die es dem BVerfG ermöglicht, sich an deren Auslegung zu beteiligen und dadurch seine Kompetenzen zu Lasten der übrigen Gerichte zu überschreiten. In späteren Entscheidungen wurde der Wertordnung eine weitgehende Auftragswirkung gegenüber dem Gesetzgeber entnommen 15 . Bedenklich daran ist nicht so sehr, daß die Gesetzgebung zu bloßem Verfassungsvollzug wird, sondern vielmehr, daß die Verfassung keine Schranke und Kontrolle mehr bieten kann, sondern nur den äußeren Rechtsfertigungsschein für die Tätigkeit des BVerfG liefert. Gesetzgebung und Regierung werden dadurch zu Vollstreckungsausschüssen des Karlsruher Orakels, die Demokratie selbst w i r d tendenziell entbehrlich 16 . Gegen die K r i t i k Goerlichs an der Wertordnungslehre wurde von K.-H. Ladeur eingewendet, eine Institution wie das BVerfG habe nicht die 11 Ehmke I, 85, 89. Weitere Nachweise für die K r i t i k gegen die Wertordnungskonzeption seitens der Staatsrechtslehre bis 1973 finden sich bei Goerlich 20 (Anm. 31) und 179 (Anm. 864). Für eine K r i t i k der deutschen Wertphilosopie siehe Podlech I, 204ff., der den Schluß zieht, daß Werte „prinzipiell keine Begründung leisten können" (a.a.O., 208). 12 Vgl. Denninger III, 167. 13 Böckenförde I, 1534. Vgl. etwa Bryde, 175f. 14 Goerlich, 140. 15 Primär in BVerfGE 35, 79, 114ff. und 39, 1, 42; eingehende Analyse der Rechtsprechung in der Zwischenzeit bei Goerlich, 66ff. 16 Vgl. Gusy, 76ff.
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
Funktion, unter offener Darlegung der Entscheidungsalternativen die Rationalität einer Entscheidung sichtbar zu machen, denn die institutionelle, imaginäre Konfliktlösung durch das Bundesverfassungsgericht sei gerade begründet durch die Unmöglichkeit der Konstitution einer allgemeinen Rationalität innerhalb der politischen Willensbildungsverfahren. Der Zugang zur Bestimmung der Funktionsweise des BVerfG werde verstellt, wenn man die strukturellen politischen, ideologischen und institutionellen Bedingungen ignoriert 17 . Es kommt aber nicht nur darauf an, die strukturellen Bedingungen, die die Funktionsweise des BVerfG bestimmen, zu erkennen (dies ist allerdings in erster Linie Sache der Politikwissenschaft); es kommt auch darauf an, die Konformität jener Funktionsweise des Gerichts mit seinen eigenen Prämissen zu prüfen. Es wurde bereits bemerkt, daß die öffentliche Akzeptanz des BVerfG zum Teil auf der Annahme beruht, daß seine Tätigkeit das Grundgesetz zur Geltung bringt 1 8 . Wenn, man Inkonsequenzen des Gerichts in diesem Punkt aufzeigen kann, dann übt man systemimmanente Ideologiekritik aus (und das ist in erster Linie Sache einer kritischen Staatsrechtslehre). Die neuere Rechtsprechung des BVerfG in diesem Punkt ist allerdings durch eine Wende gekennzeichnet, die im Mitbestimmungsurteil zum Ausdruck kam. Dort führte der Erste Senat aus, die Bestimmung der Wirtschaftsordnung sei eine gesetzgeberische Gestaltungsaufgabe, die ebenso wie die Gewährleistung von Grundrechten zu den konstituierenden Elementen der demokratischen Verfassung gehöre. Daher könne sie nicht im Wege einer Grundrechtsinterpretation weiter eingeschränkt werden, als es die Einzelgrundrechte gebieten. Jene seien in erster Linie Abwehrrechte des einzelnen und nur zweitrangig objektive Prinzipien, könnten also nicht zu einem Gefüge objektiver Normen verselbständigt werden. Die objektive Dimension der Grundrechte wird also unter Hinweis auf das Lüthurteil prinzipiell anerkannt, jedoch nur in zweiter Linie hinter der Abwehrdimension. Entscheidender ist noch, daß von Werten, Wertsystemen und Wertordnungen im Mitbestimmungsurteil keine Rede mehr ist 1 9 . Kurz danach spielte das Wertordnungsdenken eine nicht unerhebliche Rolle bei zwei Urteilen desselben Ersten Senats 20 . Seitdem (Anfang 1980) ist aber von Werten in der Rechtsprechung des BVerfG kaum noch die Rede. 17
Ladeur, in: Hase / Ladeur 262f. Vgl. im ersten Teil unter IV, 2. 19 BVerfGE 50, 290, 337 f. Dies ist höchstwahrscheinlich nicht zufällig. Es sei hier daran erinnert, daß Berichterstatter des Gerichts im Mitbestimmungsurteil der Verfassungsrichter K. Hesse war, der bereits im Jahre 1978 meinte, die schon vorhandene „Erarbeitung des konkreten normativen Inhalts und der Tragweite der Einzelgrundrechte" durch die Rechtsprechimg mache den „unvermittelten Rückgriff auf Werte" entbehrlich (Hesse V, 432). 20 BVerfGE 52, 223, 247 (Schulgebet): Die Bekenntnisfreiheit sei auf die Menschenwürde als obersten das ganze grundrechtliche „Wertsystem" beherrschenden Wertes 18
III. Besondere Argumentationsfiguren bei der Normenkontrolle
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Die Rechtsprechungswende wurde im Urteil des Ersten Senats vom 16.6.1981 (Gesetz über die Veranstaltung von Rundfunksendungen im Saarland) bestätigt. Dort wurde zwar auf das Lüthurteil hingewiesen, jedoch ohne Berufung auf die Wertordnungskonstruktion. Der Hinweis spielt allerdings eine eher zweitrangige Rolle. Der Senat bemüht sich vielmehr, die von ihm anerkannte objektive Dimension der Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) eigenständig zu begründen: „Rundfunkfreiheit ist primär eine der Freiheit der Meinungsbildung... dienende Freiheit. Bloße Staatsfreiheit bedeutet noch nicht, daß freie u n d . . . umfassende Meinungsbildung durch den Rundfunk möglich wird; . . . es bedarf dazu vielmehr einer positiven Ordnung, welche sicherstellt, daß die Vielfalt der bestehenden Meinungen im Rundfunk in möglichster Breite und Vollständigkeit Ausdruck findet. . . . Um dies zu erreichen, sind materielle, organisatorische und Verfahrensregelungen erforderlich 21 ." Es w i r d also Zweck und systematischer Zusammenhang der in Frage kommenden Einzelregelung aufgegriffen; dies ist ein deutlicher Fortschritt gegenüber der Wertordnungslehre, obwohl an ihrer Stelle noch kein Gesamtverständnis der Grundrechte vorgeschlagen wird, wie es unter Rückgriff etwa auf die Sozialstaatsklausel und auf Art. 15 GG möglich wäre 2 2 . 2. Grundrechtseffektivität und FreiheitsVermutung Der Grundsatz der Grundrechtseffektivität ist erstmals in der Entscheidung des Ersten Senats des BVerfG vom 17. 1.1957 entwickelt worden. „Aufgabe der Verfassungsrechtsprechung" sei es, „die verschiedenen Funktionen einer Verfassungsnorm, insbesondere eines Grundrechts, zu erschließen". Dabei sei „derjenigen Auslegung der Vorzug zu geben, die die juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm am stärksten entfaltet (Thoma)" 23 . Der Hinweis auf Thoma ist allerdings falsch, da dieser sich nur zum prinzipiell normativen oder programmatischen Charakter der Grundrechte geäußert hatte 24 . Darüber hinaus ist zumindest problematisch, inwieweit man solche Grundsätze ohne normative oder irgendeine andere Begründung, nur unter Hinweis auf einen einzigen Staatsrechtler, axiomatisch aufstellen kann. Des weiteren bleibt dabei ungeklärt, was unter „Auslegung" zu verstehen ist und was ihren Rahmen überschreitet 25 , desgleichen, bezogen und damit dem Toleranzgebot zugeordnet. BVerfGE 53, 257, 298 (Versorgungsausgleich): Die Gerichte haben bei der Auslegung und Anwendung von einfachem Recht, insbesondere von Generalklauseln, den grundgesetzlichen Wertmaßstäben Rechnung zu tragen. 21 BVerfGE 57, 295, 320. 22 Vgl. im ersten Teil unter V, 3 und im zweiten Teil unter I, 6 b. 23 BVerfGE 6, 55, 72. 24 Vgl. die Nachweise bei Ehmke I, 87 f. und Pestalozza I, 443 f. 25 Vgl. BVerfGE 43, 177, 183f. (Abweichende Meinung zu 43, 154ff.).
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
was im konkreten Fall als „stärkste Entfaltung der juristischen Wirkungskraft" gelten kann 2 6 und wie man im Falle von Grundrechtskollisionen zu verfahren hat. Die praktische Bedeutung des Grundsatzes ist allerdings gering. In der Entscheidung des Ersten Senats vom 17.1.1957 wurde er dazu benutzt, um aus Art. 6 Abs. 1 GG eine „für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts" verbindliche Grundsatznorm herzuleiten. Die Begründung aus der Grundrechtseffektivität war aber im Grunde überflüssig, denn diese Deutung des Art. 6 Abs. 1 GG wurde hinreichend und überzeugend mit Argumenten aus dem Wortlaut der Norm, aus der Systematik des Grundgesetzes (sozialer Rechtsstaat) und aus der Entstehungsgeschichte begründet 27 . Ähnliches gilt für die Entscheidung des Ersten Senats vom 13.10.1971, in der Bezug auf den Grundsatz der Grundrechtseffektivität genommen wurde, um die Subsumtion auch der Geschäfts- und Betriebsräume unter den Begriff „Wohnung" in Art. 13 GG zu begründen. Die Grundrechtseffektivität wurde aber nur hilfsweise erwähnt und war insoweit überflüssig, als das Ergebnis schon hinreichend durch entstehungs- und geistesgeschichtliche Argumente getragen wurde 2 8 . Auch die Bezugnahme auf die Grundrechtseffektivität im Abtreibungsurteil erweist sich als überflüssig, denn damit sollte (noch einmal hilfsweise) der Schutz auch des nasciturus von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG begründet werden 29 . Daß der nasciturus unter den Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG fällt, ergab sich aber schon aus der grammatischen Auslegung jener grundgesetzlichen Vorschrift 30 . Die Berufung auf die Grundrechtseffektivität scheint dagegen für die Begründung des Urteils des Zweiten Senats vom 15.12.1976 entscheidend gewesen zu sein, nämlich für die Frage, ob Art. 33 Abs. 5 GG nur ein „Regelungsauftrag an den Gesetzgeber einschließlich eines Regelungsprogramms" zu entnehmen ist oder auch grundrechtsgleiche subjektive Ansprüche des Beamten. Die Grundrechtseffektivität erlaubte es, die zweite Alternative vorzuziehen, obwohl selbst die Senatsmehrheit zugab, daß sie über den Wortlaut hinausgeht 31 . Das generelle Axiom der Grundrechtseffektivität ersetzt also hier eine (legitime) historische, systematische oder teleologische Argumentation und fördert den richterlichen Dezisionismus. 26 27 28 29 30 31
Vgl. Pestalozza I, 444. BVerfGE 6, 55, 72 ff. BVerfGE 32, 54, 69ff. BVerfGE 39, 1, 38. Siehe hierzu oben I, 6 a. BVerfGE 43, 154, 166f.
III. Besondere Argumentationsfiguren bei der Normenkontrolle
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Zu ähnlich unglücklichen Ergebnissen führt auch die hauptsächlich von P. Schneider vertretene Freiheitsvermutung 32 , d. h. die Maxime „ i n dubio pro libertate". Aufgegeben ist es nicht, Regeln für Zweifelsfälle aufzustellen, sondern vielmehr, (methodische) Wege zu öffnen, wodurch die Zweifel aufgehoben werden könnten 33 . Darüber hinaus verkennt diese Ansicht, daß die Verfassung nicht nur Freiheitsgewährungen, sondern auch Kompetenznormen enthält; sie führt also zu einseitiger Einschränkung der Kompetenz zugunsten der Freiheit (obwohl es zweifelhaft ist, inwieweit eine solche schroffe Gegenüberstellung von Freiheit und Kompetenz für die Gewährleistung realer Freiheit unentbehrlich ist) 3 4 . Daher ist K. Hesse zuzustimmen, wenn er anstelle von maximaler von „optimaler Wirkungskraft" der Verfassungsnormen spricht 35 .
3. Die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit Eine Vermutung für die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze hatte C. Schmitt schon in der Weimarer Zeit vertreten. Im Gegensatz zu den bereits behandelten speziell verfassungsrechtlichen Argumentationsfiguren (Wertordnung, Grundrechtseffektivität, Freiheitsvermutung) stellt sie dem Anspruch nach nicht ein Mittel zur Verdichtung, sondern zur Verdünnung der Normenkontrolle dar. Laut Schmitt sei „bei der Ausübung dieses richterlichen Prüfungsrechts . . . immer davon auszugehen, daß im Zweifelsfalle die Vermutung für die Gültigkeit des Gesetzes spricht" 3 6 . Dies ist konsequent zur Auffassung C. Schmitts vom Wesen und den Grenzen der Rechtsprechung 37 . Ihnen zufolge sei „die Entscheidung, welche den Zweifel über den Inhalt einer verfassungsgesetzlichen Bestimmung beseitigt,. . . ihrem Wesen nach nicht mehr richterliche Entscheidung" 38 . Es wurde bereits dargestellt, daß diese Position methodisch unhaltbar ist. Auch sachlich ist sie unergiebig: Zum einen bleibt zu fragen, welches die Zweifelsfälle sind. Diese Frage vermag die Schmittsche Subsumtionsideologie nicht zu beantworten. Zum anderen 32
P. Schneider, 31 f. Vgl. Ehmke I, 87, im Anschluß an A. Keller: Es sei „ i m Zweifel.. . weder die freiheitlichere noch die unfreiheitlichere, sondern nur die richtige Regelung" vorzuziehen. Ähnlich Pestalozza I, 446: Es sei „nicht die vermutlich freiheitlichere Lösung, sondern die richtige Konkretisierung zu suchen . . . Darüber entscheiden allein sachliche Maßstäbe." K r i t i k übt auch Scheuner VII, 37. 34 Sie widerspricht also der Einheit der Verfassung, wie Hesse II, 29 und Ehmke I, 81 und 86 ff. erkannt haben. 35 Hesse II, 30. Vgl. Hesse I, 15. 36 Schmitt III, 88. 37 Siehe hierzu im ersten Teil III, 2. 38 Schmitt III, 79 f. 33
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
ist es gerade die Aufgabe der verfassungsrechtlichen Methode, bei der Behebung von Zweifeln bei der Verfassungsauslegung zu helfen. Gegen die Verfassungsmäßigkeitsvermutung lassen sich also im Prinzip dieselben Bedenken wie gegen die Freiheitsvermutung geltend machen, wenn auch mit geändertem Vorzeichen. Interessanterweise kann in diesem Punkt auch die Kelsensche Reine Rechtslehre in ähnlicher Richtung wie der Schmittsche Gedankengang verstanden werden. Kelsen schreibt, daß „ i n allen Fällen beabsichtigter oder unbeabsichtigter Unbestimmtheit der niederen Stufe sich der Rechtsanwendung mehrere Möglichkeiten bieten. Das anzuwendende Recht bietet in allen diesen Fällen nur einen Rahmen, wobei jeder A k t rechtmäßig ist, der sich innerhalb dieses Rahmens hält, den Rahmen in irgendeinem möglichen Sinn ausfüllt" 39 . Als solche ausfüllenden Akte könnten sowohl das Gesetz als auch die verfassungsgerichtliche Entscheidimg verstanden werden. Da aber das Gesetz dem Urteil zumindest zeitlich vorangeht, ist zu dem Zeitpunkt, zu dem sich das Verfassungsgericht mit dem Gesetz befaßt, der verfassungsrechtliche Rahmen von ihm schon verfassungsmäßig ausgefüllt, und dem Gericht bleibt nur übrig, einen eventuellen Verstoß gegen den „möglichen Sinn" der Verfassungsvorschriften festzustellen 40 . Auf die Verf assungsmäßigkeitsvermutung hatte in der Münchener Tagung der Staatsrechtslehrer im Jahre 1950 der Referent M. Drath Bezug genommen, ohne dabei zu präzisieren, welche normativen Folgen daraus zu ziehen wären 41 . Seitdem spielt diese Vermutung als selbständiges Abgrenzungskriterium für die Normenkontrolle kaum mehr eine Rolle, und zwar weder in
39 Kelsen IV, 348. So wird Kelsen von Ebsen, 115 ff. verstanden und für einen „restriktiven Ansatz" in Anspruch genommen. Die Verfassungsinterpretation in Österreich, wo der Einfluß Kelsens immer noch stark ist, scheint wenigstens im Bereich der Grundrechte in eine solche Richtung zu tendieren (vgl. Korinek, 43 ff., der die Reine Rechtslehre in diesem Sinne versteht, 42), obwohl dies überwiegend auf politische Gründe und nicht auf Kelsen zurückgeführt werden könnte (vgl. Walter, 2 f. und Anm. 8, der aber die Reine Rechtslehre, ebd. Anm. 5, anders versteht). Dementsprechend gilt die Judikatur des österreichischen Verfassungsgerichtshofes als zurückhaltender im Vergleich zu der des BVerfG (vgl. Walter, 2; Spanner II, 53; Korinek, 31ff.). Charakteristisch dürfte dafür das Beispiel des Erkenntnisses vom 11. Oktober 1974 sein (EuGRZ 1974, 47f. und 57 ff.). Der Antrag der Salzburger Landesregierung zur Aufhebung des § 97 Abs. 1 Ζ. 1 des Gesetzes vom 23. Januar 1974 (Strafgesetzbuch), welche die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruches innerhalb der ersten drei Monate nach Beginn der Schwangerschaft vorsah, wurde vom Verfassungsgerichtshof abgelehnt. Dem Gericht zufolge ist der grundrechtliche Schutz des Lebens nur gegen staatliche Eingriffe gerichtet. Die Straflosigkeit der Abtreibung stelle aber keinen solchen Eingriff dar. Auch liege kein Verstoß gegen den Art. 1 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention vor, der den gesetzlichen Schutz des Rechts jedes Menschen auf Leben gebietet, denn weder nach seinem Wortlaut noch nach seiner Entstehungsgeschichte noch nach der Staatenpraxis lasse sich die Auffassung begründen, daß diese Bestimmung auch das Leben des Ungeborenen mitumfasse. 40
41
Drath, 164.
III. Besondere Argumentationsfiguren bei der Normenkontrolle
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der Theorie - von einzelnen Beiträgen abgesehen42 - noch in der verfassungsgerichtlichen Praxis 43 . Die Probleme, die mit der Normenkontrolle zusammenhängen, sind komplexer geworden und fordern differenziertere sachliche Lösungen. Mit der Leerformel der Verfassungsmäßigkeitsvermutung kommt man kaum mehr aus. Der Vermutung könnte nunmehr unter Umständen eine Bedeutung für äußerste Zweifelsfälle zugemessen werden, wie es ζ. B. mit der Maxime „ i n dubio pro mitiore" im S traf recht der Fall ist 4 3 a . Auch dann ist es aber schwierig einzusehen, warum man eine Verfassungsmäßigkeitsvermutung zugunsten des Gesetzgebers statt einer Freiheitsvermutung zugunsten des von der gesetzgeberischen Regelung (negativ) betroffenen Bürgers vorzuziehen hätte. Von Belang ist dagegen der hinter der Vermutung stehende Gedanke, daß die Normenkontrolle irgendwie eingegrenzt werden muß und nicht zum Vehikel für die beliebige und unverhältnismäßige Verlagerung politischer Macht vom Gesetzgeber auf das Verfassungsgericht werden darf. Dazu bedarf es aber, wie bereits erwähnt, anderer Maßstäbe 44 . 4. Verfassungskonforme Gesetzesauslegung und gesetzeskonforme Verfassungsauslegung Auf die Verfassungsmäßigkeitsvermutung nahm das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 7.5.1953 ausdrücklich Bezug. Es hieß dort, ein Gesetz sei „nicht für nichtig zu erklären,.. . wenn es im Einklang mit der Verfassung ausgelegt werden kann; denn es spricht nicht nur eine Vermutung dafür, daß ein Gesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist, sondern das in dieser Vermutung zum Ausdruck kommende Prinzip verlangt auch im Zweifel eine verfassungskonforme Auslegung des Gesetzes"45. Damit wurde 42 So Meder, 56ff., der die getroffene Entscheidung (des Gesetzgebers) nur da aufgeben möchte, „wo sie mit hoher Wahrscheinlichkeit soviel unbefriedigender ist als die konkurrierend angebotene Alternative, daß sie im Vergleich mit dieser geradezu unhaltbar wird" (62). Kritisch allerdings zu der Auffassung, daß „die Macht die Vermutung des Rechts für sich hat" Arndt I, 143 f. Meder räumt allerdings selbst ein, daß das, „was . . . jeweils als unvertretbar anzusehen ist und wo jene äußerste Grenze im Einzelfall v e r l ä u f t , . . . am Ende wiederum Gegenstand einer Entscheidung... b l e i b t , . . . deren Ergebnis ebenfalls nicht vollständig vorhersehbar ist" (63). Damit ist aber nicht sehr viel gewonnen. 43 Von einer Verfassungsmäßigkeitsvermutung ist i n BVerfGE 9, 338, 350 die Rede, welche die differenzierende Behandlung unterschiedlicher Tatbestände betrifft. Sie wird also nur andeutungsweise als Synonym für die geringe Kontrolldichte bei Art. 3 Abs. 1 GG (Gleichheitssatz) verwendet. 43a Als Ausdruck einer Verfassungsmäßigkeitsvermutung könnte, darüber hinaus §15 Abs. 2 Satz 4 BVerfGG gedeutet werden, wonach bei Stimmengleichheit im zuständigen Senat des BVerfG „ein Verstoß gegen das Grundgesetz . . . nicht festgestellt werden" kann. 44 Eine Verfassungsmäßigkeitsvermutung gilt auch i n den USA (vgl. Kauper, 609f.; Meder, 61, Anm. 78), jedoch mit anderem Inhalt.
11 Chryssogonos
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
die Vermutung funktionell umgekehrt: Nach dem ursprünglichen Schmittschen Verständnis bedeutete sie die Begrenzung der richterlichen Interpretationsmacht auf Verfassungsebene. Nach der bundesverfassungsgerichtlichen Auffassung bedeutet sie dagegen die Erweiterung dieser Interpretationsmacht auf die Ebene des einfachen Gesetzes. Die Vermutung war dadurch als selbständiges Abgrenzungskriterium erledigt 46 . Allerdings hat sich das BVerfG bemüht, das neugewonnene Terrain richterlicher Aktivität einzugrenzen. Verfassungskonforme Auslegung dürfe nicht „den Gesetzeszweck außer acht lassen" 47 , keinem „nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz . . . einen entgegengesetzten Sinn geben" 48 und nicht mit „dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten" 4 9 ; es sei denn, um eine von ihm beabsichtigte, weitergehende Auslegung einzuschränken, also um das Gesetz mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen 50 . Inwieweit aber das Gericht diese Grenzen respektiert hat, ist umstritten 51 . Als charakteristisches Gegenbeispiel könnte die Entscheidung vom 17.3.1959 erwähnt werden. Es ging um die Vereinbarkeit des § 18 Abs. 3 des rheinlandpfälzischen Landesgesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit mit Art. 19 Abs. 4 GG. Die Vorschrift lautete: „Gegen die Entscheidimg des Kreisrechtsausschusses . . . kann wahlweise Verwaltungsbeschwerde an den zuständigen Regierungspräsidenten oder Klage im Verwaltungsstreitverfahren erhoben werden. Der eine Rechtsbehelf schließt den anderen aus". Dem BVerfG zufolge ist diese Bestimmung dahin verfassungskonform auszulegen, daß eine verwaltungsgerichtliche Klage gegen den Beschwerdebescheid des Regierungspräsidenten zulässig wäre. Demnach sei nur die gleichzeitige Klageerhebung ausgeschlossen52. Diese „verfassungskonforme Auslegung" widersprach aber der in der Literatur allgemein vertretenen Meinung 53 und konnte durch keines der herkömmlichen 45
BVerfGE 2, 266, 282; ständige Rechtsprechung. Aus der Literatur vgl. zustimmend Bachof II, 292; Friesenhahn III, 153; IV, 357; eher ablehnend dagegen Bogs, 22; Göldner, 44f.; Lerche I, 698, Anm. 76; Skouris, 97ff. m.w.N. 47 BVerfGE 2, 266, 282. « BVerfGE 8, 28, 34. 49 BVerfGE 18, 97, 111. so BVerfGE 9, 194, 200. 51 Charakteristisch Bachof II, 293: „Sinn und Wortlaut der Gesetze . . . werden .. . i n beträchtlicher Weise vergewaltigt." Vgl. Bogs, 62ff.; Friesenhahn III, 153f.; Göldner, 68ff.; Hesse II, 33 und Anm. 53; Rinken, 1088; Spanner I, 513ff.; Ehmke I, 74f.; Skouris, 107f.; F. Müller III, 74; Ebsen, 93ff.. Die heftigste K r i t i k kam vom Gericht selbst: In ihrem Sondervotum zu BVerfGE 33, 52 stellten W. Rupp.-v. Brünneck und H. Simon fest, die von der Senatsmehrheit unternommene verfassungskonforme Auslegung erinnere „ i n der Methode an das Vorgehen des Prokrustes" (BVerfGE 33, 78, 83). 52 BVerfGE 9, 194, 199 f. 53 Wie das Gericht selbst, BVerfGE 9,194, 198, einräumte; vgl. auch Spanner I, 515 m.w.N. 46
III. Besondere Argumentationsfiguren bei der Normenkontrolle
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Auslegungskriterien gestützt werden 54 . In der Tat ging es in diesem Urteil gerade um eine grundlegend neue Bestimmung des normativen Gehalts der auszulegenden Vorschrift, was - wie das BVerfG selbst hervorgehoben hat „nicht durch einen Spruch des Bundesverfassungsgerichts geschehen. . . kann" 5 5 . Das Bedenkliche des Grundsatzes der verfassungskonformen Auslegung ist aber nicht nur, daß sich aus seiner praktischen Handhabung durch das BVerfG Grenzüberschreitungen ergeben; problematisch ist sein Fundament überhaupt. In aller Regel sind die Verfassungsnormen im Vergleich mit einfachgesetzlichen Normen genereller gefaßt und mehrdeutiger. Um sie als inhaltliche Leitlinien für konkretere Normen anzuwenden, bedarf es zuerst der Konkretisierung. Von der Legitimität dieses Konkretisierungsvorgangs hängt die Legitimität des ganzen Verfahrens der verfassungskonformen Auslegung ab. Indem jedoch das BVerfG die ganze Normerhaltungsproblematik ausschließlich auf die Ebene des einfachen Gesetzes beschränkte, gerät der ausschlaggebende Konkretisierungsvorgang aus dem Blick. Mit anderen Worten: Das Problem der Normerhaltung findet seine Antwort nicht primär in der Wahl zwischen den verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten des einfachen Gesetzes, sondern zwischen den verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten der Verfassung, denn hier ist der Spielraum viel breiter. Die Manipulierung der Gesetzgebung durch das BVerfG setzt Grenzüberschreitungen bei der Gesetzesauslegung im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung nicht voraus. Ein Konkretisierungsmonopol des BVerfG im Verfassungsbereich wäre schon dafür ausreichend. Wenn also die Auslegungsmacht auf Verfassungsebene unangetastet bleibt, dann stellt die verfassungskonforme Auslegung nicht richterliche Selbstbeschränkung, sondern vielmehr richterliche Machtusurpation dar: Die negative Gesetzgebungskompetenz des BVerfG wird in eine positive umgewandelt, da es autoritativ anhand seiner unkontrollierbaren Verfassungsinterpretation feststellen kann, mit welchem konkreten normativen Gehalt einfache Gesetze gelten 56 . Dies um so mehr, als auf Verfassungsebene das Arcanum der Wertordnung 57 und das des Rechtsstaats„prinzips", ins Spiel kommen. Zugleich wird auch der politische Spielraum des Gerichts erweitert 58 , da es 54 Hierzu Spanner I, 515f.; zum ganzen vgl. auch Bogs, 70f.; Ebsen, 93; Ehmke I, 74f. (Anm. 88); Zippelius II, 116 (Anm. 39). Im übrigen hat das Gericht das Verhältnis der verfassungskonformen Auslegung mit den herkömmlichen Kriterien nicht näher erläutert, wenigstens nicht programmatisch. ss BVerfGE 8, 71, 78f. 56 Zugleich wird durch die Inanspruchnahme einer Kompetenz auch der anderen Gerichte, Gesetze „verfassungskonform" auszulegen, ihr interpretativer Spielraum ebenso erweitert. 57 Vgl. BVerfGE 8, 210, 221: „Sind zwei verschiedene Deutungen einer Norm möglich, so verdient diejenige den Vorzug, die einer Wertentscheidung der Verfassung besser entspricht".
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den möglichen normativen Gehalt von Gesetzen reduzieren kann 5 9 , ohne sich unmittelbar politisch mit dem Gesetzgeber auseinanderzusetzen. Die verfassungsrechtlichen Probleme, die sich aus einer solchen verfassungskonformen Auslegung ergeben, zeigen sich deutlich im bisher politisch wichtigsten Fall, in dem jener Grundsatz angewendet wurde, nämlich im Grundlagenvertragsurteil. Der Antrag der Bayerischen Staatsregierung vom 28.5.1973 auf Nichtigkeitserklärung des Gesetzes zum Vertrag vom 21.12.1972 zwischen der BRD und der DDR (Grundlagenvertrag) wurde vom Zweiten Senat des BVerfG am 31.7.1973 abgelehnt. Das Gesetz sei in der sich aus den Entscheidungsgründen ergebenden „verfassungskonformen" Auslegung mit dem Grundgesetz vereinbar. Es ging dabei vor allem um die Fragen, ob der Vertrag eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR seitens der BRD enthielte, was von der Bayerischen Staatsregierung behauptet, von der Bundesregierung dagegen abgelehnt wurde 6 0 , und ob eine solche Anerkennung gegen das Wiedervereinigungsgebot der Präambel des Grundgesetzes verstoße. Die letzte Frage wurde vom BVerfG positiv beantwortet: Die Wiedervereinigung sei ein verfassungsrechtliches Gebot, welches freilich den zu politischem Handeln berufenen Organen, vor allem den Gesetzgebungsorganen, einen „breite(n) Raum politischen Ermessens" überlasse. Das BVerfG könne dem Gesetzgeber erst entgegentreten, wenn er die Grenzen dieses Ermessens „eindeutig" überschreite, wenn seine Maßnahme also einer Wiedervereinigung „offensichtlich" entgegenstehe. Eine solche Überschreitung liege vor, wenn die Bundesreplubik auf einen Rechtstitel aus dem Grundgesetz verzichte, „mittels dessen sie in Richtung auf Verwirklichimg der Wiedervereinigung. . . wirken kann, oder. . . sich an der Begründung eines . . . Rechtstitels beteiligt, der ihr bei ihrem Streben nach diesem Ziel entgegengehalten werden kann" 6 1 . Demnach sei die Anerkennung der DDR von der BRD durch den Vertrag nicht als völkerrechtliche Anerkennung, sondern nur als eine de facto Anerkennung besonderer Art zu würdigen. Der Vertrag habe also einen Doppelcharakter; er sei „seiner Art nach ein völkerrechtlicher Vertrag, seinem spezifischen Inhalt nach ein Vertrag, der vor allem inter-se-Beziehungen" regele 62 . Dabei ist zu bemerken, daß eine „offensichtliche" Grenzüberschreitung etwas anderes ist als eine „eindeutige". Offensichtlich heißt, daß sie auf den 58 Vgl. Bryde, 176f., und, i n bezug auf die vom Supreme Court der USA praktizierte verfassungskonforme Auslegung, Kirchheimer, 102 ff. 59 Zutreffend spricht Skouris, 108 von „Inhaltsverkürzung", „teilweiser Eliminierung des Norminhalts". Es w i r d oft vorgeschlagen, die verfassungskonforme Auslegung durch eine Teilnichtigkeitserklärung ganz oder teilweise zu ersetzen, so z. B. von Friesenhahn III, 154; K. Heck; Spannerl, 513f., 530ff.; Skouris, 108ff. 60 BVerfGE 36, 1, 8 und 12. 61 BVerfGE 36, 1, 17 f. 62 BVerfGE 36, 1, 22ff.
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ersten Blick zu erkennen ist. Als eindeutig kann sie sich aber auch nach sorgfältiger Prüfung und Überlegung erweisen. Hier ist jedoch weder das eine noch das andere der Fall. Denn es ist zumindest zweifelhaft, ob das einseitige Festhalten an der Nichtanerkennung der DDR als Völkerrechtssubjekt (obwohl das „ i m Sinne des Völkerrechts" vorgegeben und von der Anerkennung durch die BRD unabhängig ist, wie das Urteil selbst zugibt 6 3 ) zur Wiedervereinigung beiträgt oder ihr vielmehr entgegensteht 64 . Es ist denkbar, daß man durch Entspannung und gegenseitiges Vertrauen, was sich auch auf eine gegenseitige de jure Anerkennung gründen könnte, der Wiedervereinigung näherkommen könnte. Dadurch könnte wahrscheinlich auch der Friedensauftrag des Grundgesetzes besser erfüllt werden, von dem aber in dem Urteil nicht die Rede ist 6 5 . Es geht hier in der Tat um politische Alternativlösungen, zwischen denen die Wahl nicht „eindeutig" sein kann, denn es ist überhaupt nicht möglich zu beweisen, daß die eine oder die andere Lösung effektiver wäre. Abgesehen davon, versucht das Urteil diesen Beweis auch nicht, ζ. B. durch das Zurückgreifen auf historische Erfahrungen in ähnlichen Situationen in anderen Ländern oder auf die deutsche Erfahrung in der Zeit von 1949 bis 1973, beizubringen. Insofern ist das Urteil unbegründet, beruht auf einer offenen petitio principii. Wenn also der Vertrag eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR enthielt und der Gesetzgeber die Auffassung vertreten hätte, daß dadurch der Wiedervereinigung besser gedient sei, dann wäre es für das BVerfG unzulässig, das entsprechende Gesetz für nichtig zu erklären, denn es könnte nicht beweisen, daß diese Ansicht eindeutig falsch ist. Wenn es das Gesetz doch für nichtig erklären wollte, so sollte es sich wenigstens darum bemühen, diesen eindeutigen Beweis durch eine Prüfung der historischen Erfahrungen und der gegenwärtigen politischen Lage in konsensfähiger Weise darzulegen. Tatsächlich enthielt der Vertrag aber keine völkerrechtliche Anerkennung, wie der Bevollmächtigte der Bundesregierung selbst bekräftigte 66 . Auch das BVerfG akzeptierte diese Auffassung, wie seine Ausführungen zum 6. Absatz der Vertragspräambel, zu den Art. 7 und 8 des Vertrages und dem Zusatzprotokoll 67 (betreffend die Frage der „inter-se-Beziehungen") und zu Art. 3 Abs. 2 des Vertrages (betreffend die Qualität der Grenzen zwischen der BRD und der DDR) zeigen. Der Antrag der Bayerischen Staatsre63
BVerfGE 36, 1, 22. In bezug auf die inter-se-Beziehungen-Konstruktion und den angeblichen „Doppelcharakter" des Vertrags schrieb U. Scheuner (III, 583), daß „alle diese Deutungen . . . sich im internationalen Bereich nicht leicht durchsetzen werden" und der Innenpolitik „die Last der Fortbehauptung fiktiver Positionen aufbürden". 65 Darauf hat Frank II, 1511 f. hingewiesen. 66 BVerfGE 36, 1, 12. 67 BVerfGE 36, 1, 23. 64
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gierung sollte also schon daran scheitern, daß er von einer unzutreffenden Auslegung des Grundlagenvertrags ausgegangen war. Aus diesem Grund erübrigte sich die weitere Prüfung der Verfassungsmäßigkeit. Indem das BVerfG eine - im übrigen richtige - Auslegung des Vertrags als verfassungskonforme Auslegung präsentierte, hatte es sie aber verfassungsrechtlich sanktioniert und dadurch den politischen Ermessens- und Entscheidungsspielraum für die Zukunft wesentlich abgeschnitten. Es entschied also unzulässigerweise über das Entscheidungsnotwendige hinaus 68 . Es zeigte sich im Grundlagenvertragsurteil, daß das BVerfG aufgrund einer willkürlichen Verfassungsauslegung den normativen Gehalt von einfachgesetzlichen Normen ein für allemal autoritativ feststellen 69 und dadurch in die Sphäre der positiven Gesetzgebungskompetenz eingreifen kann. Wenn es also keine Kriterien gibt, die schon die Verfassungsauslegung kontrollierbar machen, dann wird die verfassungskonforme Auslegung zu einem Vehikel zum Umsturz der verfassungsmäßigen Kompetenzverteilung. Dies um so mehr, als sie auch den Spielraum des Gerichts in concreto (hinsichtlich der Spruchsfolgen) erweitert 70 . Folgerichtig scheint die Ansicht, daß „Verfassungskonformität. . . nicht nur atypisches, dem Normenkontrollverfahren zugeordnetes Sonderprinzip, sondern allgemeines, gegenüber der Normenkontrolle verselbständigtes Regelprinzip jeder Rechtsanwendung" sei 71 , sehr bedenklich. Die offene Annahme einer solchen quasi-gesetzgeberischen Funktion der verfassungskonformen Auslegung 72 könnte die schon skizzierten Probleme, die sich aus ihr ergeben, nur vermehren, es sei denn, daß die entsprechende verfassungsgerichtliche Praxis schon auf der Ebene der Verfassung kontrollierbar gemacht werden könnte 73 . Es darf hier noch einmal darauf aufmerksam gemacht werden, daß die Verfassungssätze keinen umfassenden Kodex bilden und nicht als Anhaltspunkte für eine schrittweise richterliche Kodifizierung dienen dürfen. Daher dürfen ζ. B. Grundrechte nicht in ähnlicher Weise wie Generalklauseln des Zivilrechts konkretisiert werden. 68
Vgl. hierzu im ersten Teil IV, 7. Nach Seuffert, 1373, stellt die verfassungskonforme Auslegung „authentische Interpretation" dar. 70 Dies galt insbesondere im Grundlagenvertragsurteil. Nachdem der Antrag der Bayerischen Staatsregierung auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung mit 4:4 Stimmen abgelehnt wurde (BVerfGE 35, 193 ff.), wurde von ihr ein (zweiter) Antrag auf Ablehnung des Richters Dr. Rottmann gestellt, dem mit 4:3 Stimmen stattgegeben wurde, denn Dr. Rottmann selbst könnte dabei nicht stimmen (BVerfGE 35, 246ff. und Abw. Meinung 35, 255ff.). Eine Nichtigerklärung von einer so geschaffenen Mehrheit und mit einem 4:3 Stimmenverhältnis wäre dann politisch kaum denkbar. Vgl. Bryde, 181. 71 Göldner, 46. 72 Vgl. Göldner, 63, 107ff., 112. 73 Dies geschieht aber, wie bereits bemerkt, durch die verfassungskonforme Auslegung gar nicht. 69
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Es werden andererseits oftmals Vorschläge gemacht, die dahin tendieren, dem BVerfG das Konkretisierungsmonopol oder selbst den Konkretisierungsprimat bezüglich der Verfassungsvorschriften streitig zu machen und den so geschaffenen Spielraum dem Gesetzgeber zu überlassen. Da also die Einbeziehung des Gesetzgebers im Verfassungsauslegungs- oder Verfassungskonkretisierungsprozeß gemeinsamer Nenner aller dieser Versuche ist, deshalb kann man sie alle - überspitzt formuliert - als Ansätze zu einer gesetzeskonformen Verfassungsauslegung bezeichnen 74 ; dies in dem Sinne, daß sie die jeweiligen Ansichten des Gesetzgebers über die Auslegung der Verfassung gewissermaßen als maßgeblich betrachten. Insofern greifen sie die Vermutungsproblematik in ihrem ursprünglichen Sinne wieder auf. Schon in der Münchener Tagung der Staatsrechtslehrer im Jahre 1950 hatte W. Abendroth „eindeutige Verletzungen" der dem Gesetzgeber gezogenen grundgesetzlichen Schranken als Voraussetzung für den Eingriff des Verfassungsgerichts verlangt 75 . Seitdem ist vom „Konkretisierungsprimat" des Gesetzgebers die Rede 76 : Damit ist gemeint, der Verfassungsrichter dürfe eine gesetzgeberische Konkretisierung von Verfassungsvorschriften, insbesondere von Grundrechten, nur dann beanstanden, wenn sie sich mit einiger Eindeutigkeit als verfassungswidrig erweist, nicht schon dann, wenn ihm eine andere Konkretisierungsmöglichkeit als der Verfassung besser entsprechend erscheint. Was aber als eindeutig oder vertretbar zu gelten hat, darüber wird kaum etwas Präzises gesagt 77 . Auch wenn sich das BVerfG zu dieser Auffassung bekannt hätte, würde es also im konkreten Fall doch wiederum selbst entscheiden, wieweit es seine Auslegungsmacht begrenzt wissen w i l l 7 8 . Damit ist aber kaum ein wesentlicher Fortschritt erzielt 79 . Im übrigen leidet die Primatsformel auch darunter, daß keine Differenzierungen in der Abgrenzung der Konkretisierungsspielräume, je nach Grundrecht 74
So ausdrücklich Hesse II, 34. ™ Abendroth I, 127. Vgl. auch Abendroth II, 77. 76 Delbrück, 91 f.; Göldner, 182ff., 201 ff.; Hesse II, 32f.; Ipsen, 158ff.; F. Müller III, 84; Larenz, 327; Zippelius II, 114. In diesem Sinne bereits Bachof III, 54; Ehmke I, 69, jedoch ohne ausdrückliche Bezugnahme. Dagegen Huber, 203 (Konkretisierungsprimat des BVerfG im Bereich der Grundrechte). 77 Göldner, 204, sagt in etwa repräsentativ, daß „die Anforderungen an die innere Überzeugungskraft der richterlichen Argumentation. . . um so höher zu bemessen sein . . . werden, je weiter sich die richterliche Verfassungskonkretisierung von dem gesetzgeberischen Regelungsplan entfernt". Was ist aber von der richterlichen Argumentation zu fordern, damit sie als überzeugend und daher legitim gelten kann? Das ist eben die Hauptfrage jeder Methode, die immer noch offen bleibt. Es hat also wenig Sinn, über die Quantität der Anforderungen zu diskutieren, wenn man sich über ihr Wesen nicht i m klaren ist. 78 Dies w i r d von Göldner, 182 f., zugegeben. 79 In der entgegengesetzten Richtung die Bedenken von Ebsen, 131 ff., gegen den von ihm als „restriktiven Ansatz" bezeichneten Gedanken vom gesetzgeberischen Konkretisierungsprimat: Er meint, dies würde „zum Leerlaufen der Verfassungsgerichtsbarkeit" führen und wäre „ i n verfassungstheoretischer Perspektive gewissermaßen systemwidrig".
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oder Grundrechtsdimension (subjektiv-objektiv), unternommen werden. Insgesamt kann sie also nur wenig effektiv sein. Das BVerfG steht jedenfalls solchen Ansichten eher negativ gegenüber. Schon im Kriegsdienstverweigerungsurteil vom Jahre 1960 bekräftigte es, daß „soweit sich durch Auslegung die sachliche Reichweite eines Grundrechts unmittelbar erschließen läßt,.. . kein Raum für eine konstitutive Regelung durch den einfachen Gesetzgeber... bleibt". Eine authentische Verfassungsinterpretation sei ihm verwehrt 80 . Noch weiter geht das Kriegsdienstverweigerungsurteil vom Jahre 1970: „Nicht das System von Normen, Instituten und Institutionen im Range unter der Verfassung bildet den Maßstab für die Auslegung verfassungsrechtlicher Bestimmungen; vielmehr liefern die letzteren umgekehrt die Grundlagen und den Rahmen, an den die übrigen Rechtsäußerungen und -erscheinungen sich anzupassen haben 81 ." Im Grundlagenvertragsurteil führt dann das Gericht diese Denkweise bis zu ihrem logischen Ende: „Maßstab im Normenkontrollverfahren ist das Grundgesetz. Es verbindlich auszulegen, ist Sache des Bundesverfassungsgerichts". Demnach könne das Prüfungsobjekt weder „materielles Verfassungsrecht" schaffen noch „zur Auslegung des Grundgesetzes herangezogen" werden 82 . Die zitierten Passagen erwecken den Anschein, als ob das Gericht nicht nur einen Konkretisierungsprimat, sondern sogar ein Konkretisierungsmonopol für sich in Anspruch nimmt. Für den Gesetzgeber bleibt kaum Raum übrig 8 3 .
5. Keine Prüfung der Zweckmäßigkeit und gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit Man trägt Eulen nach Athen mit der Feststellung, das BVerfG dürfe nicht die politische Zweckmäßigkeit der gesetzgeberischen Entscheidungen, sondern nur ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen 84 . Das Gericht hat diesen 80 BVerfGE 12, 45, 53. Nach Hesse II, 34, stellt aber gerade dieses Urteil für die Interpretation des Art. 4 Abs. 3 GG ein Beispiel gesetzeskonformer Verfassungsauslegung dar. 81 BVerfGE 28, 243, 260f. 82 BVerfGE 36, 1,13 f. 83 Aus der Literatur vgl. Leisner, 64, der unter Berufung auf den praktisch kaum erreichbaren (vgl. die K r i t i k von Majewski, 18ff.) begrifflichen „Selbstand der Verfassung" den „Blick nach unten", d. h. zum einfachen Gesetz, nur nach „Erschöpfung aller Erfüllungsmöglichkeiten durch das von der Verfassungsrechtsprechung doch mehr und mehr explizierte Verfassungsrecht" zulassen will. 84 Statt vieler sei hier nur Leibholz II, 127, genannt: „Als politisch neutrales höchstes Verfassungsgericht" habe das BVerfG Entscheidungen des Gesetzgebers nicht unter Zweckmäßigkeitspunkten nachzuprüfen. Insbesondere könne es nicht „seine politisch-sachlichen Erwägungen an die Stelle der politisch-sachlichen Erwägungen von Regierung und Gesetzgebung setzen".
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Grundsatz in ständiger Rechtsprechung immer wieder hervorgehoben 85 . Es gibt aber keine absolute Grenzlinie zwischen zwei qualitativ unterschiedlichen Größen, d. h. zwischen der „Zweckmäßigkeitsprüfung" einerseits und der „Verfassungsmäßigkeitsprüfung" andererseits. Eine verfassungsrechtliche Frage ist nichts anderes als eine Zweckmäßigkeitsfrage, deren weitere Diskussion unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten von Verfassungs wegen durch eine von ihm gegebene verbindliche Lösung abgeschnitten ist. Daher bleibt die Zweckmäßigkeitssphäre eine Negativchiffre, die jenen Teil umfaßt, der von der Verfassung nicht mitumfaßt ist. Eine Antwort darüber, was von der Verfassung umfaßt und was abgeschnitten ist, kann aber unter diesem Gesichtspunkt nicht gegeben werden. Damit, daß die Zweckmäßigkeit oder „Weisheit" der gesetzgeberischen Entscheidungen nicht geprüft wird, ist also deswegen keine Methodenregel für die Verfassungsauslegung gewonnen, weil das von der Zweckmäßigkeitssphäre Erfaßte erst nach Feststellung der vom Gericht als richtig angesehenen Verfassungsauslegung feststeht. So interpretiert man beispielsweise erst Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG dahingehend, daß jene Verfassungsnorm kein bestimmtes Organisationsmodell für die deutschen Universitäten vorschreibe. Nur nach dieser Interpretation steht fest, daß dem Gesetzgeber die Wahl zwischen einer Ordinarienuniversität und einer Gruppenuniversität freisteht und daß die gesetzgeberische Entscheidung aufgrund von politischen Zweckmäßigkeitserwägungen zu treffen ist. Die Argumentationsfigur der gesetzgeberischen „Gestaltungsfreiheit" führt darüber nicht hinaus; denn Gestaltungsfreiheit heißt eben, daß „es . . . nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts zu prüfen ist ... ob er" (d. h. der Gesetzgeber) „jeweils die gerechteste und zweckmäßigste Regelung getroffen hat" 8 6 . Es geht also um dieselbe Negativchiffre, die dem Raum entspricht, innerhalb dessen die Wahl zwischen mehreren Lösungsalternativen nicht von Verfassungs wegen in einer bestimmten Weise vorgeschrieben und deshalb nach politischen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten vom Gesetzgeber zu treffen ist. Ausschlaggebend ist aber gerade die Frage, wieweit dieser Raum von der Verfassung eingegrenzt ist; dazu vermag die Gestaltungsfreiheitsformel ebensowenig wie die Nichtprüfung der Zweckmäßigkeit eine Antwort anzubieten.
es So unter anderem BVerfGE 3, 162, 182; 4, 7, 18; 4, 352, 357; 9, 201, 206; 11, 105, 123; 14, 105, 117; 14, 288, 301; 14, 312, 319; 19, 354, 367; 21, 73, 78; 26, 302, 310; 27, 18, 30; 27, 375, 390; 28, 227, 242; 31, 171, 189; 36, 174, 189 usw. 86 BVerfGE 9, 201, 206. Vgl. BVerfGE 14, 105, 117; 21, 73, 78; 27, 375, 390; weniger deutlich BVerfGE 10, 234, 246; 14, 288, 293; 32, 157, 167. Von der Literatur vgl. Meder, 61 (Anm. 81), Rinken, 1031, Göldner, 202 (Anm. 120), Pestalozza I, 199, Stein I, 48.
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6. Der Judicial self-restraint Der Grundsatz des Judicial self-restraint ist amerikanischer Herkunft. In den 30er Jahren versuchte der US-Präsident F. D. Roosevelt der seit 1929 andauernden großen ökonomischen Depression durch staatliche Interventionsmaßnahmen entgegenzuwirken. Diese Politik, die „New Deal" genannt wurde, fand in verschiedenen gesetzlichen Regelungen Ausdruck, die zur Prüfung ihrer Verfassungsmäßigkeit vor den Supreme Court der Vereinigten Staaten gelangten und von der Gerichtsmehrheit für verfassungswidrig gehalten wurden. Die heftige Auseinandersetzung, die sich daraus zwischen dem Präsidenten und dem Supreme Court ergab, endete dann mit einer spektakulären Wende der Rechtsprechung des Gerichts, welches seine frühere Position des laissez-faire nunmehr aufgab (im Jahre 19 3 7) 87 . Der Judicial self-restraint war das Kind jener merkwürdigen Entwicklung: Er tauchte im Jahre 1936, also in der Mitte der Krise, in einem Dissent des (der New-Deal-freundlichen Minderheit des Gerichts angehörenden) Richters Harlan F. Stone auf. In seinem Sondervotum zu einer der Entscheidungen des Supreme Court, die wichtige New-Deal-Gesetze beanstandeten, schrieb Stone: „The only check upon our own exercise of power is our own sense of self-restraint 88 ." Dies war von Stone zunächst als Nichtprüfung der Zweckmäßigkeit des zu prüfenden Gesetzes gemeint 89 . Es ging also in der Tat nicht um eigentlichen seZ/-restraint, sondern vielmehr um die normativ bedingten Grenzen der richterlichen Beanstandungsbefugnis, denn weder der amerikanische Supreme Court noch das Bundesverfassungsgericht sind von Verfassungs wegen mit der Kompetenz ausgestattet, verfassungsmäßige Gesetze wegen politischer Untauglichkeit zu kassieren. Seit 1937 hat sich das Supreme Court gegenüber der Politik des Präsidenten zurückgehalten. Zur Bezeichnung dieser allgemeinen Tendenz des Gerichts wurde der terminus „self-restraint" verwendet. Gemeint war mit „self-restraint" also kein normativer Grundsatz mit spezifischem Gehalt; insofern hatte er eher statistische als methodische Bedeutung 90 . Seitdem ist er zum Inbegriff aller Argumentationsfiguren des Supreme Court geworden, 87
Vgl. zum ganzen Dopatka II, 78f. United States v. Butler, 297 U.S. 1, 78f. (1936). 89 United States v. Butler, 297 U.S. 1, 78f. (1936): "Courts are concerned only w i t h the power to enact statutes, not w i t h their wisdom . . . For the removal of unwise laws from the statute books appeal lies not to the courts but to the ballot and to the processes of democratic government". Vgl. schon Thayer, 156: "Under no system can the power of courts go far to save a people from ruin; our chief protection lies elsewhere". 90 Vgl. Murphy-Pritchett, 30 f. In diesem Sinne galt der ehemalige Justice F. Frankfurter als angesehener Befürworter des self-restraint; vgl. Colegrove v. Green, 328 U.S. 549, 552ff. (1946) und American Federation of Labor ν. American, Sash and Door Co., 335 U.S. 537, 555 (1949). Vgl. auch Haller I, 552f., Loewenstein, 252f. 88
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die darauf zielen, das richterliche Prüfungsrecht irgendwie zu beschränken, unter ihnen vornehmlich die ältere und diffuse „political questions doctrine" 9 1 . Das bedeutet aber, daß die Diskussion auf der allgemeinen Ebene des selfrestraint den Blick auf die konkreten Probleme verstellen und somit irreführend wirken kann. Wenn man etwas aus der langen amerikanischen Erfahrung mit dem judicial review für das eigene Land gewinnen will, dann ist es zweckmäßiger, die einzelnen Techniken des Supreme Court bei der Handhabung seiner Prüfungskompetenz in den Blick zu nehmen und zu erörtern, ob ihre Anwendung sich auch außerhalb der USA empfehlen würde. Unter dem Namen „Selbstbeschränkung" wurde der Begriff des „selfrestraint" von G. Leibholz im Statusbericht erwähnt und fand so Eingang in die deutsche Diskussion. Damit war aber nichts der deutschen Staatsrechtslehre Fremdes gemeint, sondern einerseits die Verfassungsmäßigkeitsvermutung („the benefit of doubt" nach Leibholz) und andererseits die Nichtprüfung der Zweckmäßigkeit der gesetzgeberischen Entscheidungen 92 . Im übrigen ist zu beachten, daß sich der Statusbericht selbst bei der Charakterisierung des BVerfG als Verfassungsorgan sehr wenig „self-restraint" auferlegte. Es ist jedenfalls einzuräumen, daß in der folgenden Zeit, und zwar bis etwa zum Anfang der 70er Jahre, das BVerfG eine gewisse Neigung zu Selbstbeschränkung zeigte, so daß heftige politische Auseinandersetzungen mit den Regierenden in Bonn überwiegend ausblieben. Es wurde ihm sogar vorgeworfen, es lege sich zuviel Selbstbeschränkung auf und verfehle damit seine verfassungsmäßige Rolle 93 . Der verfassungsgerichtliche self-restraint wurde dagegen von Mitgliedern des Gerichts in literarischen Äußerungen als Beleg dafür erwähnt, daß das BVerfG sich seiner verfassungsmäßigen Rolle bewußt sei und nicht in die Sphäre anderer Verfassungsorgane eingreife 94 . Als Synonym für „Selbstbeschränkung" war auch von „Zurückhaltung" die Rede 95 . Die diesen Ausdrücken zugemessene Bedeutung war nicht immer die gleiche; entweder wurden Zurückhaltung und Selbstbeschränkung beziehungslos nebeneinander gestellt 96 , oder die Selbstbeschränkung wurde - anders als im Statusbericht - als Aufforderung verstanden, nicht mehr zu entscheiden als der Fall verlange, die Zurückhaltung dagegen als 91 Vgl. v. d. Heydte, 912f.; zum Zusammenhang von „political questions" und „self-restraint" siehe Scharpf I, 2f.; Zuck, 365; Henkin, 625. Zu den verschiedenen Prinzipien, die das Supreme Court in diesem Zusammenhang entwickelt hat, vgl. auch Fraenkel, 39. 92 Leibholz II, 126f. 93 Vgl. dazu im ersten Teil, unter I, 4. 94 Friesenhahn IV, 363; G. Müller, 406; Geiger I, 453. 95 G.,Müller und Geiger, a.a.O. (Anm. 94). 96 G. Müller, 406.
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Sammelbegriff, der sowohl die Respektierung der Kompetenzen und der Gestaltungsfreiheit der anderen Verfassungsorgane als auch die Rücksichtnahme auf die politischen Folgen des Spruchs einschließe 97 . Von den K r i t i kern wurde die Zurückhaltung des Gerichts dagegen als Zurückhaltung bei der Auslegung der Verfassung, insbesondere der allgemeinen Verfassungsprinzipien (Demokratieprinzip, ect.) verstanden 98 . In allen diesen Beiträgen wurde der self-restraint nicht normativ hergeleitet und abgegrenzt. Von „judicial self-restraint" war erst am 31.7.1973 in einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung die Rede (Grundlagenvertragsurteil). Jener Grundsatz bedeute „nicht eine Verkürzung oder Abschwächimg" der Kompetenz des BVerfG, sondern nur „den Verzicht Politik zu treiben, d. h. in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen" 99 . Dies ist aber im Ergebnis mit der Nichtprüfung der Zweckmäßigkeit und mit der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit identisch. Andererseits ist gerade dieses Urteil durch eine verfassungsrechtlich höchst bedenkliche Beschränkimg dieses Raums „freier politischer Gestaltung" gekennzeichnet. Die Bezugnahme auf den „self-restraint" spielte also eher eine verdeckende Rolle für den tatsächlich praktizierten „Judicial activism". In ihrem Minderheitsvotum im Abtreibungsurteil hatten dann die Verfassungsrichter H. Simon und W. Rupp-v. Brünneck der Mehrheit des Ersten Senats des BVerfG vorgeworfen, sie verkenne „das Gebot richterlicher Selbstbeschränkung (judicial self-restraint)". Darunter wurde der „sparsame Gebrauch . . . (der) Befugnis des BVerfG, Entscheidungen des parlamentarischen Gesetzgebers zu annullieren", verstanden, dessen Ziel es sei, „eine Verschiebung der Gewichte zwischen den Verfassungsorganen" zu vermeiden. Jenes Gebot gelte vor allem, „wenn es sich nicht um die Abwehr von Übergriffen der staatlichen Gewalt handelt, sondern wenn dem vom Volk unmittelbar legitimierten Gesetzgeber im Wege der verfassungsgerichtlichen Kontrolle Vorschriften für die positive Gestaltung der Sozialordnung gemacht werden sollen". Das BVerfG dürfe also „nicht. . . selbst die Funktion des zu kontrollierenden Organs . . . übernehmen" 100 . Hier wurde also der judicial self-restraint unter Berufung auf das Demokratieprinzip und die verfassungsmäßige Kompetenzverteilung normativ begründet und mit konkretem methodischem Gehalt ausgefüllt: Er sollte zu einer Herabstufung der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolldichte führen 1 0 1 . Es ist aber nicht ersichtlich, warum die Bezugnahme auf das Stichwort „self-restraint" dabei erforderlich war. 97
Geigerl, 453. Ridder I, 347. 99 BVerfGE 36, 1, 14. 100 BVerfGE 39, 68, 69f. (Abs. Meinung zu 39, Iff.). 101 Vgl. hierzu im ersten Teil III, 5. 98
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Der Judicial self-restraint taucht manchmal auch unter dem Stichwort „Zurückhaltung" auf. Im Beschluß des Ersten Senats vom 26.2.80 zur Verfassungsmäßigkeit des hessischen Gesetzes über die Neuordnung der gymnasialen Oberstufe hieß es, das Bundesverfassungsgericht müsse sich „bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung schulrechtlicher Regelungen der Bundesländer große Zurückhaltung auferlegen". Dies folge daraus, daß der Bund auf diesem Gebiet weder eine Gesetzgebungsbefugnis noch eine Verwaltungshoheit hat und daher den Ländern eine „weitgehende eigenständige Gestaltungsfreiheit" zusteht, die nur durch die grundgesetzlichen Grenzziehungen eingeschränkt ist 1 0 2 . Der Senat blieb allerdings bei der vagen Zurückhaltungsformel, ohne etwas Näheres dazu auszuführen, welche konkreten Folgen daraus zu ziehen wären. Am Ende scheiterten freilich die Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz, so daß man in einem pragmatischen Sinne in der Tat von Zurückhaltung sprechen könnte. Unter Zurückhaltung in bezug auf bestimmte Verfassungsvorschriften ist aber keineswegs zu verstehen, daß alle Gesetze, die am Maßstab dieser Vorschriften geprüft werden, vom BVerfG als verfassungsmäßig hingenommen werden sollen, denn dies würde die Prüfung überhaupt überflüssig machen. Es ist also wenig hilfreich, von Zurückhaltung zu sprechen, weil dem Begriff die erforderliche Bestimmtheit fehlt. Wichtig ist dagegen die unter Berufung auf die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern erfolgende normative Begründung: Es ist hier im Grunde das Bundesstaatsprinzip, das dem BVerfG Zurückhaltung gebietet. Das Bundesstaatsprinzip kann aber nur auf diesem speziellen Gebiet der Kontrolle landesrechtlichen Vorschriften und in Bereichen, wo die Kompetenzen zugunsten der Länder verteilt sind, relevant sein. Wichtiger für die Gewinnung und normative Absicherung konkreter Abgrenzungskriterien, die die gesamte normenkontrollierende Tätigkeit des BVerfG betreffen würden, sind die übrigen im Art. 20 Abs. 1 GG enthaltenen Verfassungsprinzipien sowie das Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Etwa seit Anfang der 70er Jahre steht der Judicial self-restraint im Mittelpunkt der literarischen Diskussion über die Grenzen der Normenkontrolle. Gleichzeitig ist aber sein Gehalt unsicherer denn je geworden. Neben der herkömmlichen Auffassung, die ihn mit der Nichtprüfung der Zweckmäßigkeit gleichsetzte 103 , wurde häufiger die Auffassung vertreten, es ginge um einen Sammelbegriff 104 , unter dem verschiedene Beschränkungen der Normenkontrolle, wie die political questions doctrine, die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes, die Offenheit der Verfassung 105 , die ver102 BVerfGE 53, 185, 196. Identisch 59, 360, 377. 103 Laufer II, 103 f.; Maunz / Zippelius, 306f. (unter dem Begriff „Zurückhaltung"). 104 v g l Rupp-v. Brünneck, 17: „Die richtige Eingriffslinie im Verhältnis zum Gesetzgeber". los Seifert, 117 ff.
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
fassungskonforme Gesetzesauslegung, die Verfassungswidrigkeits- anstelle der Nichtigkeitserklärung 106 , das Scheitern zahlreicher Verfassungsbeschwerden 107 , der Unterschied zwischen den Grenzen verfassungsrechtlicher Bindung des Gesetzgebers und den Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolle (Verfassungsnormen als Kontroll- und Handlungsmaßstäbe) und die Rücksichtnahme auf die politischen Folgen der Entscheidung 108 , die Anerkennung eines nur eingeschränkt kontrollierbaren Prognosespielraums und der „favor conventionis" im Bereich der auswärtigen Gewalt 1 0 9 zusammengefaßt werden könnten. Ferner wurde behauptet, der judicial selfrestraint gebiete eine völlig eindeutige Verfassungsdurchbrechung als Voraussetzung der Feststellung der Verfassungswidrigkeit (bzw. Nichtigkeitserklärung) 110 bzw. verbiete „daß das Verfassungsgericht das volle Spektrum gegebener Interpretationsvarianten in seiner Spruchpraxis . . . ausschöpft", womit „die eigenständige Verantwortung der kontrollierten Verfassungsorgane unmittelbar als selbständiges Element in die Interpretationsmethode" einbezogen w i r d 1 1 1 . Aus dem „judicial self-restraint" wurde schließlich auch ein Gebot, „die Grenzlinie zwischen Recht und Politik schärfer als zuvor" zu ziehen, abgeleitet 112 . Wegen dieser Mehrdeutigkeit, die mit dem „judicial self-restraint" verbunden ist, ist er kaum in der Lage, ein konkretes und effektives Abgrenzungskriterium für die Normenkontrolle anzubieten. Schon der Ausdruck seZ/-restraint oder Selbst-beschränkung kann zu Mißverständnissen führen. Er erweckt den Anschein, als ob es um eine Tugend des Verfassungsrichters geht. Darauf kommt es aber nicht an. Nicht der gute Wille des Verfassungsrichters, sondern die Verfassungsrechtsordnung beschränkt ihn. „Man . . . muß . . . nach einer normativen Theorie des judicial. . . restraint suchen", hatte R. Zuck zutreffend bemerkt 1 1 3 . Der Gebrauch eines solchen ambivalenten Begriffs könnte den ganzen Ansatz diskreditieren. Es wurde in der Tat auch legal self-restraint seitens des Bundestages 114 oder theoretical self-restraint seitens der Staatsrechts106
Stern II, 958, 960. κ>7 Benda II, 4. 108 Hessell, 228f. !09 Stern II, 959, 961. 110 Delbrück, 83, 105, unter Berufung auf W. Abendroth und auf den Amerikaner Holmes (Holmes, dissenting in Bartels v. Iowa, 262 U.S. 404, 412 (1923): " I think I appreciate the objection to the law but it appears to me to present a question upon which men reasonably might differ and therefore I am unable to say that the constitution of the United States prevents the experiment being tried"). In diesem Sinne wird richterliche Zurückhaltung auch von Stein I, 48f., II, 122 f. verstanden. Vgl. ferner etwa Stern III, 18. 111 Dolzer II, 21 f. 112 Dolzer I, 86. 113 Zuck, 366. Vgl. Scheuner V, 473. 114 Gerontas, 152 f.
III. Besondere Argumentationsfiguren bei der Normenkontrolle
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lehrer, die den „Richter . . . auf Theorien festlegen . . . wollen, die normativ nicht belegbar sind" 1 1 5 , gefordert. Und als der ehemalige Bundeskanzler H. Schmidt auf der Tutzinger Tagung im Jahre 1978 dem BVerfG „Selbstbeschränkung" empfohlen hatte, fand es der anwesende Präsident des Gerichts E. Benda nicht unangemessen zu erwidern, diese These sei „verfassungsrechtlich . . . nicht. . . haltbar" 1 1 6 , obwohl Benda sich ein Jahr davor literarisch zu der Notwendigkeit der Selbstbeschränkung geäußert hatte 1 1 7 . Nicht zu Unrecht hat H.-P. Schneider den Grundsatz des „judicial selfrestraint" zusammenfassend als „ebenso unverbindlich wie nichtssagend" charakterisiert 118 . 7. Die „political questions doctrine" Die „political questions doctrine" ist, genau wie der „judicial selfrestraint", amerikanischer Herkunft. Sie ist Teil des allgemeinen Konzepts der „justiciability doctrine" 1 1 9 . Gemäß Art. III, Section 2 der amerikanischen Verfassung sind die Gerichte dazu befugt, verschiedene „cases" oder „controversies" zu entscheiden. Daher wurden vom U.S. Supreme Court zwei Beschränkungen für die Bundesgerichte abgeleitet: Zuerst beschränken diese zwei Worte die Kompetenz der Bundesgerichte, so daß sie nur Fragen entscheiden dürfen, die ihnen im Rahmen einer Rechtsstreitigkeit vorgelegt werden - und zwar in einer Form, die traditionell als geeignet angesehen wurde, in einem Gerichtsprozeß entschieden zu werden. Zunächst beschränken sie diese Kompetenz, indem sie die Rolle der Judikative im Rahmen der Dreiteilung der staatlichen Gewalten definieren, um das Nichthineingreifen der Judikative in die verfassungsmäßige Sphäre der anderen Gewalten zu sichern 120 . Darüber hinaus hat aber der Supreme Court seine eigene Kompetenz beschränkt (?), indem er gelegentlich die Entscheidung von Fragen, für welche er zuständig war, ablehnte. In diesem Sinne ist „Justiciability", wie Justice Frankfurter bemerkte, kein Rechtsbegriff mit festem Gehalt und nicht wissenschaftlich verifizierbar 121 . Es sind zwar funktionelle Gründe, us Achterberg, 659. Vgl. Häberle III, 305, Bryde, 353. ne Zitiert nach Lamprecht-Malanowski, 9. 117 Benda II, 4. h 8 H.-P. Schneider III, 2104. Im ähnlichen Sinne Schiaich II, 219, Rinken, 1027 f., Hesse III, 264f., Simon, 1279. 119 v g l Tribe, 69ff.: "The political question doctrine is plainly a part of justiciability doctrine as a whole". 12° Siehe ζ. Β. Flast v. Cohen, 392 U.S. 83, 94f. (1968). 121 Frankfurter, concurring in Poe v. Ullman, 367 U. S. 497, 509 (1961): "Justiciability . . . is not a legal concept w i t h fixed content or susceptible to scientific verification". Er meinte ferner, der Gebrauch von Justiciability sei das Ergebnis von "subtle pressures, including the appropriatness of the issues for decision . . . and the actual hardship to the litigants of denying them the relief sought".
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die den Supreme Court dazu führen können, die Entscheidung zu verweigern: Die „delicacy" der Funktion der Rechtsprechung; die relative Schwierigkeit, eine Fehlentscheidung zu korrigieren; die Rücksichtnahme auf die Auffassung anderer Verfassungsorgane und deren eigener verfassungsmäßiger Sphäre; die Notwendigkeit auch für das Gericht, „to keep within its power" sowie die immanenten Beschränkungen der Rechtsprechung, besonders ihr negativer Charakter und die fragwürdige Durchsetzbarkeit der Entscheidungen 122 . Diese Erwägungen beziehen sich aber nicht auf ein allgemeingültiges Gesamtkonzept der Methode und der Grenzen der Verfassungsauslegung. Es geht vielmehr um eine Neuabwägung von Fall zu Fall, bei der auch rein politische Gesichtspunkte nicht ausgeschlossen werden können 1 2 3 . Es wurde sogar verallgemeinernd gesagt, dem Supreme Court stehe die Möglichkeit zu, die Ausübung seiner Kompetenzen abzulehnen 124 . Unter kontinentalen Maßstäben käme dies aber einer unzulässigen Justizverweigerung nahe. Ferner darf bezweifelt werden, ob dies als Judicial selfrestraint oder nicht eher als judicial activism zu klassifizieren wäre - und zwar nicht nur gegenüber dem Gesetzgeber, der nicht mehr wissen kann, wann mit einem Eingriff des Gerichts zu rechnen ist, sondern auch gegenüber der Verfassung selbst, da der Verfassungsrechtsschutz kasuistisch abgelehnt werden kann 1 2 5 . Die Besonderheit der „political questions doctrine" gegenüber der „justiciability doctrine" insgesamt ist, daß hier die substantielle Prüfung nicht in einem konkreten Fall, sondern vielmehr in einer ganzen Kategorie von ähnlichen Fällen abgelehnt w i r d 1 2 6 . Eine Ablehnung aufgrund der „political questions doctrine" wirkt also als „precedent" und bindet die Gerichte nach dem Prinzip des „stare decisis" auch für die Zukunft 1 2 7 . Auf welche Gründe diese Doktrin nun aber zurückgeführt werden kann und ob sie überhaupt existiert, dies ist in den USA äußerst umstritten. Die klassische Auffassung der political questions meint, es gehe darum, daß die Gerichte aufgrund ihrer Verfassungsauslegung festgestellt haben, eine bestimmte Verfassungsvorschrift betraue mit der Lösung bestimmter Fragen ausschließlich ein anderes Organ, z. B. den Kongreß oder den Präsi122 So die Zusammenfassung in Rescue Army v. Municipal Court of Los Angeles, 331 U.S. 549, 571 (1947). 123 In diesem Sinne bemerkt Tribe, 53: "The constitutional and the political interpenetrate". 124 Bickel II, 127: "Power to decline the exercise of jurisdiction that is given". Dies ist aber umstritten. Vgl. Wechsler, 6 ff. 125 vgl. Henkin, 617: "Wisdom might sometimes advise the courts to stay their hand. They can usually do t h a t . . . by invoking established principles permitting a court to withhold relief for want of equity". Vgl. ferner Scharpf II, 534f. 126 vgl. Baker v. Carr, 369 U. S. 186, 217 (1962): "The doctrine . . . is one of political questions, not one of political cases". 1 27 Vgl. Scharpf II, 537f.
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denten. So sei ζ. B. das Verfahren des „impeachment" gemäß Art. 1 Section 3 der amerikanischen Verfassung deshalb eine „political question", weil damit ausschließlich der Senat von der Verfassung betraut ist 1 2 8 . Die vornehmlich von F. Scharpf vertretene funktionelle Auffassung meint, die „political questions doctrine" werde vom Supreme Court nur dann angewendet, wenn es keinen Zugang auf die relevante und erforderliche Information habe, die eine substantielle Prüfung der Verfassungsmäßigkeit ermöglichen würde, oder wenn eine einheitliche Haltung aller Staatsorgane erforderlich und daher eine bereits getroffene Entscheidung (z. B. der Exekutive in bezug auf ein völkerrechtliches Problem) zu respektieren sei, oder schließlich, wenn ein anderes Organ eine breitere Verantwortung für komplizierte Fragen speziell der Außenpolitik trage 1 2 9 . Eine dritte, prudentielle Auffassung meint, es gehe um Fälle, in denen das Supreme Court fürchte, daß es „impolitic or inexpedient" wäre, ihre Kompetenz (d. h. das Prüfungsrecht) auszuüben, weil die Konsequenzen einer Entscheidung unvorhersehbar oder die Fragen „too high" für die Gerichte wären 1 3 0 , oder, allgemeiner, weil der Institution des Supreme Court eine innere „vulnerability" innewohne 131 . Es sei also eine Sache der politischen Abwägung und Weisheit 132 . Eine vierte Auffassung lehnt das Vorhandensein der „doctrine" überhaupt ab 1 3 3 . Sie meint, die „political questions" seien entweder durch die Nichtprüfung der Zweckmäßigkeit der Entscheidungen der politischen Organe oder durch das Fehlen subjektiver gerichtlich verfolgbarer, individueller Ansprüche zu erklären oder durch die Ablehnung einer Entscheidung im konkreten Fall wegen eines „want of equity" 1 3 4 . Daher gebe es keine autonome „political questions doctrine". Es gibt auch Autoren, die keiner dieser Auffassungen zugerechnet werden können 135 . Die vom Supreme Court besorgte Zusammenfassung der Gründe, 128
So z. B. Wechsler, 7 ff. Vgl. auch Weston, 296 und Dolzer I, 104. Scharpf II, 567 - 583, 587. 130 Finkelstein, 344 f. 131 Bickel I, 75. 132 v g l Finkelstein, a.a.O. (Fn. 130): "Always there w i l l be a weighing of considerations in the scale of politicial wisdom". Ähnlich Bickel 1,46: "There is something different . . . from the interpretative process; something greatly more flexible, something of prudence, not construction and not principle". 129
133 Henkin, 600: "There may be no doctrine requesting abstention from judicial review of political questions". ι 3 4 Henkin, 622. 135 So z. B. Tribe, 79, der sowohl von der klassischen, als auch von der prudentiellen und funktionellen Auffassung beeinflußt wird: "The political question doctrine, ... at bottom reflects the mixture of constitutional interpretation and judicial discretion which is an inevitable by-product of the efforts of federal courts to define their own limits".
12 Chryssogonos
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
derentwegen eine „political question" bejaht werden kann (Baker v. Carr), bringt wenig Klarheit in bezug auf die Frage, ob das Gericht eine dieser Theorien akzeptierte 136 . Es wurde daher zu Recht kommentiert: „Political question doctrine is in a state of some confusion" 137 . Die „doctrine" wird jedenfalls überwiegend in Fragen der Außenpolitik und nicht in den wichtigen Grundrechts- und Kompetenzverteilungsfragen ins Spiel kommen 1 3 8 . Eine ausschlaggebende Rolle für die Begrenzung der Normenkontrolle spielt sie also auch in den USA nicht. Um so weniger gerechtfertigt erscheint es, dieser „doctrine" eine solche ausschlaggebende Rolle für die Begrenzung der Normenkontrolle in der Bundesrepublik beimessen zu wollen. Nicht nur wegen der Unklarheiten, von denen die „political questions doctrine" begleitet wird, sondern auch wegen des institutionellen Ausbaus der Verfassungsgerichtsbarkeit wäre einem solchen Vorschlag nicht zuzustimmen: Im Gegensatz zum amerikanischen Supreme Court ist das BVerfG nicht nur zur Entscheidung von „cases and controversies" berufen, sondern mit umfassenden Normenkontrollbefugnissen ausgestattet. Einem solchen System ist die Vorstellung von Verfassungsvorschriften, die nicht als Maßstäbe für die Normenkontrolle angewendet werden können, prinzipiell fremd 1 3 9 , und zwar nicht nur, wenn dies auf „funktionellen" oder „prudentiellen" Überlegungen beruhen würde. Auch eine Interpretation, die eine Verfassungsnorm als in diesem Sinne unjustitiabel betrachten würde, wie dies etwa der „klassischen" Auffassung entspricht, wäre mit dem System des Grundgesetzes unvereinbar, nicht zuletzt, weil sie das öffentliche Vertrauen im Verfassungsrechtsschutz beeinträchtigen würde 1 4 0 . Das bedeutet jedoch nicht, daß alle Verfassungsvorschriften in vollem Umfange als Kontrollmaßstäbe anzuwenden sind 1 4 1 - 1 4 2 . Für die Bestimmung der Kontrolldichte könnten also Überlegun136 Baker v. Carr, 369 U.S. 186, 217 (1962): "Prominent on the surface of any case held to involve a political question is found (either): a textually demonstrable constitutional commitment to a coordinate political department; a lack of judicially discoverable and manageable standards for resolving it; the impossibility of a courts undertaking independent resolution without expressing lack of the respect due coordinate branches of government; an unusual need for unquestioning adherence to a political decision already made; (or) the potentiality of embarassment from multifarious pronouncements by various departments on one question". 137 Tribe, 71. 138 v g l Scharpf II, 584f. und I, 417: Die political questions doctrine „kann . . . nicht zum Ausgangspunkt einer allgemeinen Theorie der richterlichen Selbstbeschränkung gemacht werden". 139
Vgl. Bryde, 311. Zu Recht wird also die Übernahme der „political questions doctrine" von der ganz überwiegenden Meinung in der deutschen Literatur abgelehnt. Vgl. u. a. Friesenhahn IV, 363; H.-P. Schneider III, 2104; Stern II, 961f.; Geiger II, 21; Leibholz V, 118; Rinken, 1027. Dagegen Dolzer I, 107ff., II, passim und - mit Vorbehalt - Ehmke I, 75 ff. 141 So wird ζ. B. ein Verstoß gegen das Wiedervereinigungsgebot und den Gleichheitssatz nur nach Überschreitung gewisser äußerster Grenzen in Frage kommen 140
IV. Die Normenkontrolldichte
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gen, die denen der political-question doctrine verwandt sind, durchaus von Belang sein 143 .
IV. Die Normenkontrolldichte 1. Tatsachenfeststellungen als Problem der Verfassungsinterpretation bei der Normenkontrolle Die Normenkontrolle ist keine semantische Aufgabe im Sinne eines Vergleichs von Sätzen des einfachen Rechts mit Verfassungssätzen, um festzustellen, ob sie grammatisch zueinander in Widerspruch stehen1. Ein einfaches Gesetz beispielsweise, welches gegen den Wortlaut des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vorsehen würde, daß „Forschung und Lehre nicht frei sind", ist praktisch unvorstellbar. Die Normenkontrolle ist vielmehr ein Vergleich von Tatsachen: Einerseits von Tatsachen, die von einer Verfassungsnorm vorgestellt werden und von ihr, ausdrücklich oder auch sinngemäß, verboten, geboten oder nur zugelassen werden; andererseits von Tatsachen, die durch die Anwendung einer einfachgesetzlichen Vorschrift verursacht werden. So liegt ζ. B. der Schwerpunkt einer Normenkontrolle am Maßstab des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG auf der Feststellung, daß die tatsächlichen Auswirkungen der zu kontrollierenden Norm den Zustand, der von der Verfassung als freie Kunst, Wissenschaft, Forschung und/oder Lehre konzipiert wird, beeinträchtigen oder nicht. Erst durch diese Feststellungen gewinnt auch die abstrakte Verfassungsvorschrift konkreten Gehalt. Die Zuständigkeit zur Tatsachenfeststellung ist daher von eminenter Bedeutung für die Normenkontrolle. Es ist zutreffend bemerkt worden, daß eine eventuelle allgemeine Bindung des BVerfG an die Tatsachenfeststellungen des Gesetzgebers2 „einer Abschaffung der Normenkontrolle gleichkäme" 3 . Insbesondere die Feststellung allgemeiner Tatsachen (legislative facts) ist nicht nur - und nicht einmal in erster Linie - für die Bildung des Untersat(BVerfGE 36,1, 17, BVerfGE 1, 14, 52). Man könnte also davon sprechen, daß die beiden Vorschriften nicht in vollem Umfang justitiabel sind, d. h. nicht in vollem Umfang als Kontrollmaßstäbe dienen. Vgl. ausführlicher unter I, 6 a. 142 Eine andere Frage ist, ob gewisse Verfassungsnormen sich in anderen Zusammenhängen als gewissermaßen unjustitiabel erweisen. Vgl. zur Problematik des Gnadenrechts BVerfGE 27, 352ff. ι « Vgl. Bryde, 312. 1 Vgl. Ossenbühl, 468; Ehmke I, 95 f. 2 Ein entsprechender Entwurf des Abgeordneten Dichgans während der Beratungen des 4. Gesetzes zur Änderung des BVerfGG scheiterte im Rechtsausschuß des 6. Bundestages. Vgl. die Nachweise bei Geck, s. V.ff. 3 Ossenbühl, 468 f. 1
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
zes bei der Normenkontrolle (d. h. für die Beurteilung der tatsächlichen Auswirkungen des einfachen Gesetzes) von Belang, sondern vielmehr schon für die Bildung des Obersatzes, d. h. für die Verfassungsauslegung. Solche allgemeinen Tatsachen bilden den Hintergrund der systematischen und teleologischen Interpretation 4 . Tatsachenermittlung und Normauslegung sind daher „innig . . . miteinander verwoben" 5 . Demnach hängt die Dichte der Normenkontrolle entscheidend von den Bedingungen und Grenzen der Tatsachenfeststellungskompetenz ab 6 . Je mehr das BVerfG die Tatsachenannahmen und die Prognosen des Gesetzgebers korrigieren darf, desto dichter wird die Kontrolle sein.
2. Abstufung der Normenkontrolldichte in der Rechtsprechung des Bundesverfasssungsgerichts Im Mitbestimmungsurteil hat sich das BVerfG ausdrücklich zu einer Differenzierung der Kontrolle der Prognosen des Gesetzgebers bekannt: Es habe auch vorher, so das Gericht, in seiner Rechtsprechung „bei der Beurteilung von Prognosen des Gesetzgebers differenzierte Maßstäbe zugrunde gelegt, die von einer Evidenzkontrolle . . . über eine Vertretbarkeitskontrolle . . . bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen" 7 . Die Kontrolldichte verändert sich also je nachdem, ob man den Vertretbarkeitsmaßstab statt des Inhaltsmaßstabs oder ferner den Evidenzmaßstab statt des Vertretbarkeitsmaßstabs benutzt. a) Evidenzkontrolle Es wird nichts näheres dazu ausgeführt, welche Anforderungen der Evidenzmaßstab stellt, sondern nur auf frühere Urteile hingewiesen, denen dieser Maßstab zugrunde liege. Als erstes wird dabei das Grundlagenvertragsurteil erwähnt. Dort heißt es, das BVerfG könne dem Gesetzgeber erst dann entgegentreten, wenn er den ihm durch das Wiedervereinigungsgebot überlassenen breiten Raum politischen Ermessens „eindeutig" überschreite, wenn seine Maßnahme also der Wiedervereinigung „offensichtlich" entgegenstehe8. Wie aber bereits bemerkt 9 , ist eine offensichtliche Überschrei4
Vgl. hierzu I, 6 c und d. Ossenbühl, 461. 6 Vgl. Schiaich II, 233: „Die Bedeutung der Kontrolle der Sachverhalts- und Prognosefeststellungen für den Ausgang von Normenkontrollverfahren kann man gar nicht überschätzen". 7 BVerfGE 50, 290, 333f. Vgl. die frühere Typologie von Kriele II, 781 und Grabitz, 615f. » BVerfGE 36, 1, 17 f. 9 Unter III, 4. 5
IV. Die Normenkontrolldichte
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tung etwas anderes als eine eindeutige. Das Eindeutigkeitsgebot weist m. E. eher auf eine Vertretbarkeitskontrolle hin. Das Grundlagenvertragsurteil stützt sich jedenfalls weder auf eine Evidenz-, noch auf eine Vertretbarkeits-, noch auf eine Inhaltskontrolle, weil es keinen legitimen Kontrollgegenstand gab: Es ergab sich aus dem Vertrag selbst, daß er keine de jure, sondern nur eine de facto Anerkennung der DDR enthielt. Deshalb hätte die Prüfimg, ob eine de jure Anerkennung mit dem Grundgesetz vereinbar ist oder nicht, unterbleiben müssen 10 . Es w i r d ferner auf das Stabilisierungsfondsgesetzurteil hingewiesen, wo das BVerfG dem Gesetzgeber bei der Entscheidung, eine bestimmte Aufgabe in Angriff zu nehmen und in einer bestimmten Weise zu verwirklichen, einen weiten Spielraum einräumte, der nur dann überschritten werde, wenn die gesetzgeberischen Erwägungen so „offensichtlich" fehlsam seien, daß sie „vernünftigerweise keine Grundlage für gesetzgeberische Maßnahmen abgeben" könnten. In jenem Fall wurde die Frage ohne weiteres verneint, und im Ergebnis blieb das Weinwirtschaftsgesetz aufrechterhalten 11 . Diese Frage stellte sich aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung, und zwar als Prüfung der Sachgerechtigkeit des Gesetzes. Da jedoch eine solche Prüfung einen Einbruch in die Negativchiffre der Zweckmäßigkeit darstellt 1 2 , darf sie selbstverständlich nur als seltene Ausnahme betrachtet und mit äußerster Vorsicht gehandhabt werden. Ein allgemeines Kriterium für die Abgrenzung der Verfassungsmäßigkeitsprüfung vermag sich daraus kaum zu ergeben. Schließlich wird auch auf das Güterkraftverkehrsgesetzurteil hingewiesen, wo sich bei der Prüfung der Erforderlichkeit des Gesetzes für das BVerfG ergab, daß „keiner der Alternatiworschläge diese Voraussetzungen so eindeutig erfüllt, daß ein Gericht in der Lage wäre auszusprechen, der Gesetzgeber habe diese Mittel anstatt des von ihm gewählten einzusetzen". Dies folgt aber aus der Prüfung der Sachfrage, und zwar unter Hinweis auf frühere Entscheidungen, die sich mit ihr ziemlich umfangreich auseinandergesetzt haben 13 . Nur dann und nicht schon beim ersten Blick erweisen sich die Alternatiworschläge als nicht eindeutig, so daß sie der vom Gesetzgeber gewählten Lösung vorzuziehen wären. Es geht also eher um eine (Un-)Vertretbarkeitskontrolle: Die gesetzgeberische Lösung erweist sich als vertretbar.
10
Vgl. ausführlicher unter III, 4. n BVerfGE 37,1, 20f. 12 Vgl. ausführlicher unter III, 5. 13 BVerfGE 40, 196, 223.
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
b) Vertretbarkeitskontrolle Ausführlicher wurde der Vertretbarkeitsmaßstab im Mitbestimmungsurteil behandelt. Er verlange, „daß der Gesetzgeber sich an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung des erreichbaren Materials orientiert hat". Der Gesetzgeber müsse „die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen ausgeschöpft haben, um die voraussichtlichen Auswirkungen seiner Regelung so zuverlässig wie möglich abschätzen zu können und einen Verstoß gegen Verfassungsrecht zu vermeiden". Es handele sich also eher „um Anforderungen des Verfahrens". Man sprach dabei von einer „Einschätzungsprärogative" des Gesetzgebers 14. Es ist allerdings zweifelhaft, ob sich eine solche Änderung des Prüfungsgegenstandes langfristig zugunsten oder zu Lasten des Gesetzgebers auswirkt 1 5 und ob sie überhaupt verfassungsrechtlich zulässig ist. Eine Untersuchung von 49 Gerichtsentscheidungen aus den Bänden 25 bis 48 der Amtlichen Entscheidungssammlung (Anfang 1969 bis Mitte 1978), in denen bundesrechtliche Normen wegen einer Grundrechtsverletzung beanstandet wurden, hat ergeben, daß das Gericht in etwa 37% der Fälle (insgesamt 18mal) an das Gesetzgebungsverfahren als Fehlerquelle seiner Beanstandung anknüpfte 16 . In der Literatur wird sogar die Ansicht vertreten, eine „optimale Methodik der Gesetzgebung" sei „Verfassungspflicht" 17 . Bei der heutigen Massenproduktion von Parlamentsgesetzen treten Rationalitätsmängel beim Gesetzgebungsverfahren aber nicht selten auf. Wenn dies allein ein zureichender Beanstandungsgrund wäre, dann hätte die verfassungsgerichtliche Prüfungsintensität eher zu- als abgenommen. Darüber hinaus würde dies bedeuten, daß sich ein neues Prüfungsfeld für das BVerfG eröffnet, ohne daß es von der Verfassung selbst vorgeschrieben wäre. Dies stellt aber einen Verstoß gegen das Enumerationsprinzip 18 dar 1 9 . Im Mitbestimmungsurteil wurde eine Vertretbarkeitskontrolle unternommen, woraus sich ergab, daß „insgesamt. . . der Gesetzgeber sich . . . an den derzeitigen Stand der Erfahrungen und Einsichten" orientierte. Deshalb könne das BVerfG „nicht von einem anderen Verlauf der Entwicklungen ausgehen und prüfen, ob die angegriffenen Vorschriften des Mitbestimmungsgesetzes zu beanstanden wären" 2 0 . Hier wirkte sich also die Kontrolle der Rationalität des Verfahrens zugunsten des Gesetzgebers aus. Wegen der 14
BVerfGE 50, 290, 333f.; H.-P. Schneider II, 2105, spricht von einer „Vermutimg institutioneller Richtigkeit". 15 Vgl. H.-P. Schneider III, 2105. 16 Bendai, 22 ff. und 44 ff. 17 Schwerdtfeger, 173ff. Dagegen vgl. Gusy, 169ff. 18 Dazu Schiaich II, 5 f. 19 Vgl. in diesem Sinne Schiaich II, 236ff. und, zurückhaltender, Bryde, 327f., der vor einer Vergerichtlichung des parlamentarischen Verfahrens warnt. 20 BVerfGE 50, 290, 334ff.
IV. Die Normenkontrolldichte
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schon erwähnten häufigen Rationalitätsmängel ist aber nicht vorherzusehen, ob dies in der Mehrzahl der Normenkontrollverfahren der Fall sein wird oder nicht. Die Gefahr liegt darin, daß eine Regelung, deren Verfassungswidrigkeit bzw. Verfassungsmäßigkeit sich aus der Sachlage nicht eindeutig begründen ließe, die also einen Grenzfall darstellt, vom BVerfG unter zusätzlicher und somit ausschlaggebender Berufung auf die nicht hinreichende Prüfung der Sachlage im Gesetzgebungsverfahren beanstandet werden könnte. Diese Überlegungen sind freilich nicht gegen die Einschätzungsprärogative als solche gerichtet. Von einer Prärogative kann aber nur in dem Sinne die Rede sein, daß die in Frage kommende Regelung erst dann beanstandet werden darf, wenn sich die gesetzgeberische Tatsachenfeststellung objektiv als unvertretbar erwiesen hat. Die eingehende Prüfung der Sachlage im Gesetzgebungsverfahren wird dabei ein gewichtiges Indiz für die Vertretbarkeit sein, nicht aber umgekehrt. Ferner wurde im Mitbestimmungsurteil auf drei frühere Fälle als Beispiel einer Vertretbarkeitskontrolle hingewiesen 21 . I n allen drei Fällen war die Vereinbarkeit der geprüften Vorschrift mit dem Grundgesetz bestätigt worden. Ausschlaggebend für diese Bestätigung war die Feststellung, daß die Prognose der zukünftigen tatsächlichen Entwicklung aus der Sicht des Gesetzgebers, d. h. „bei Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten im Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes"22, als vertretbar erschien 23 . Die Möglichkeit von Irrtümern über den weiteren Verlauf der Entwicklung sei dabei in Kauf zu nehmen. Sie stelle für sich genommen keinen hinreichenden Beanstandungsgrund dar. Bemerkenswert ist aber, daß die gesetzgeberische Prognose nur nach eingehender Prüfung der Sachlage vom BVerfG als vertretbar angenommen wird. Das Gericht ging gelegentlich so weit, nicht nur die vom Gesetzgeber vorgezogene Lösung zu prüfen, sondern sie im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung auch mit möglichen Alternativen zu vergleichen 24 . Die Vertretbarkeitskontrolle bedeutet also nicht eine weniger sorg-
21 BVerfGE 25, 1, 12 f., 17-Mühlengesetzurteil; 30, 250, 263-Absicherungsgesetzurteil; 39, 210, 225f.-Mühlenstrukturgesetzurteil. 22 BVerfGE 39, 210, 230. 23 Im Mühlengesetzurteil heißt es: „Die Vorstellungen des Gesetzgebers . . . widersprechen nicht in dem Maße wirtschaftlichen Gesetzen oder praktischer Erfahrung, daß sie vernünftigerweise keine Grundlage für gesetzgeberische Maßnahmen abgeben könnten . . . Dem dürfen die Gerichte nicht ihre eigenen - ebensowenig strikt beweisbaren - Überzeugungen über den voraussichtlichen Verlauf einer wirtschaftlichen Entwicklung entgegensetzen" (a.a.O., S. 17). 24 BVerfGE 25, 1, 20f.; 39, 210, 233f. I n dieser Hinsicht wurde das Mühlengesetzurteil von H. Schneider kritisiert; er meint, die Kontrolle dürfe sich „nicht darauf erstrecken, ob die (nachträglich ausgedachten) Alternativen eindeutig dasselbe leisten können", sondern solle „sich darauf beschränken, ob die vom Gesetzgeber getroffene Mittelwahl eindeutig verfehlt war" (H. Schneider, 397).
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
fältige gerichtliche Überprüfung der Sachlage, sondern nur, daß höhere Anforderungen an die Eindeutigkeit des Ergebnisses gestellt werden. 25 c) Inhaltskontrolle Bei der „intensivierten inhaltlichen Kontrolle" w i r d dagegen gefordert, „daß die Auswirkungen des Gesetzes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit oder gar Sicherheit übersehbar sein müßten" 2 6 . Als Beispiel wird die frühere Rechtsprechung zum Art. 12 Abs. 1 angeführt 27 , wo stets die Rede davon war, daß gesetzgeberische Eingriffe zum Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter nur dann zulässig seien, wenn die Gefährdung dieser Güter sich „mit hinreichender Wahrscheinlichkeit" 28 oder sogar „mit einiger Sicherheit" 29 prognostizieren ließe 30 . Dies würde also bedeuten, daß in Zweifelsfällen das Gesetz nicht wie bei der Vertretbarkeitskontrolle aufrechterhalten, sondern beanstandet wird. Eine nähere Analyse der in Frage kommenden Entscheidungen zeigt aber, daß sie möglicherweise auch den Anforderungen der Vertretbarkeitskontrolle genügen. Sowohl im Apotheken - als auch im Kassenärzteurteil prüft das BVerfG unter Verwendung statistischer Daten 3 1 eingehend die Sachlage, woraus sich in den beiden Fällen ein Modell zur Prognose der zukünftigen Entwicklung ableiten läßt 3 2 . Im Apothekenurteil werden noch die Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern mit einem System voller Niederlassungsfreiheit zur Kenntnis genommen 33 (sog. „Testverfahren") 34 . Obwohl das Gericht in den beiden Fällen nur den Schluß gezogen hat, die vom Gesetzgeber befürchteten Gefahren seien nicht in höchstem Grade wahrscheinlich bzw. ihr Eintritt nicht sicher, könnte man auch den weitergehenden Schluß ziehen, daß es höchstwahrscheinlich nicht zu einer solchen Gefährdung kommen würde. Dies ist durch die tatsächliche Entwicklung nach Erlaß der verfassungsgerichtlichen Urteile, die die ein25 Vgl. auch BVerfGE 37,104,118-Staatsvertrag über die Vergabe von Studienplätzen; 43, 291, 347-Hochschulrahmengesetz, wo ein Gebot verfassungsgerichtlicher „Zurückhaltung" festgestellt wird, wonach dem Gesetzgeber das „benefit of doubt" bei der Beurteilung komplexer Sachverhalte zugute komme, wenn in der Zeit der verfassungsgerichtlichen Prüfung keiner der miteinander kollidierenden Standpunkte belegbar ist. 26 BVerfGE 50, 290, 333. 27 BVerfGE 7, 377, 415-Apothekenurteil; 11, 30, 45-Kassenärzteurteil; 17, 269, 2 7 6 ff. -Tierarzneimittelurteil. 28 BVerfGE 7, 377, 145. 29 BVerfGE 11, 30, 45. 30 Kritisch dagegen Ehmke I, 96: Das Gericht habe „nicht zu fragen, ob eine schwere Gefahr . . . sicher oder höchstwahrscheinlich ist, sondern ob eine Gefahr ausgeschlossen oder ganz unwahrscheinlich ist". 31 BVerfGE 7, 377, 417f., 420f.; 11, 30, 43ff. 32 BVerfGE 7, 377, 417ff.; 11, 30, 45f. 33 BVerfGE 7, 377, 416. 34 Dazu Philippi, 149 ff.
IV. Die Normenkontrolldichte
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schränkenden Gesetze beanstandeten, bestätigt worden 35 . Im übrigen ist zu bemerken, daß die gesetzgeberischen Prognosen im Gegensatz zu jenen des Gerichts nicht empirisch, sondern intuitiv fundiert waren 36 . Beachtenswert ist auch der Unterschied zu der den beiden Mühlenbeschlüssen zugrunde liegenden Sachlage: Da war man von der „ i n der deutschen Mühlenwirtschaft seit langem bestehende(n) strukturelle(n) Überkapazität" und von der ähnlichen Lage in den EWG-Mitgliedsstaaten ausgegangen37. Als dagegen das BVerfG das Bayerische Apothekengesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit hin überprüfte, bestand in Bayern ein zumindest „erträgliches Verhältnis zwischen der Zahl der Apotheken und der von ihnen zu versorgenden Bevölkerung" 38 . Auch das Einkommen der Kassenärzte könnte, als sich das Gericht mit der Frage der freien Zulassung beschäftigte, keineswegs als unbefriedigend bezeichnet werden 39 . Ein Beispiel inhaltlicher Kontrolle stelle, so daß BVerfG im Mitbestimmungsurteil, auch das Abtreibungsurteil dar. Da hieß es, der Gesetzgeber sei zwar frei, „die grundgesetzlich gebotene Mißbilligung des Schwangerschaftsabbruchs auch auf andere Weise zum Ausdruck zu bringen als mit dem Mittel der Strafdrohung", aber die Gesamtheit der dazu getroffenen Maßnahmen solle „einen der Bedeutung des zu sichernden Rechtsgutes entsprechenden tatsächlichen Schutz" gewährleisten. Es bestehe also eine „aus der Einsicht in die Unzulänglichkeit aller anderen Mittel erwachsende relative Verpflichtung zur Benutzung der Strafdrohimg" 40 . Die Unzulänglichkeit der anderen Mittel und die Tauglichkeit der Strafandrohung wurde aber nicht empirisch begründet. Statistische Daten aus Deutschland und aus anderen vergleichbaren westlichen Ländern wurden nicht verwendet 41 ; stattdessen wurde nur - und zwar erst an späterer Stelle (im Untersatz) auf die „generalpräventive Funktion des Strafrechts" 42 und ganz allgemein auf die ideologische Wirkung des Gesetzes43 hingewiesen. Die abweichende Meinung der Richter Simon und Rupp-v. Brünneck nimmt dagegen Bezug auf die Berichte des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform und auf die öffentlichen Anhörungen von Sachverständigen vor diesem Sonderausschuß, wonach mit 75 000 bis 300 000 illegalen Abtreibungen pro Jahr zu
35 Vgl. Philippi, 168 ff. 36 Philippi, 163 ff. 37 BVerfGE 25, 1, 13; 39, 210, 227. 38 BVerfGE 7, 377, 418. 39 BVerfGE 11, 30, 46: Das durchschnittliche Einkommen der Kassenärzte pro Jahr betrug D M 32 000,- im Jahre 1957, das Nettoeinkommen D M 17 700,- (nur aus der Kassenpraxis, wobei noch Einnahmen aus der Freipraxis hinzukamen). 4 0 BVerfGE 39, 1, 46f. 41 Vgl. aber die abweichende Meinung, BVerfGE 39, 91 (Anm. 3). 42 BVerfGE 39, 1,57. 43 BVerfGE 39, 1, 59.
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
rechnen sei 44 . Demgegenüber standen 184 Verurteilungen im Jahre 1971,154 im Jahre 1972, d. h. 0,05 bis 0,2 v. H. Unter diesen Umständen hätte zumindest die Sachlage näher untersucht werden müssen, bevor man von einer generalpräventiven Funktion der so oft durchbrochenen Strafnorm sprechen könnte. Auch die ideologische Wirkung 4 5 des § 218 StGB wurde vom BVerfG nicht näher analysiert. Es handelt sich dabei nicht um eine beliebige Straf Vorschrift, sondern vielmehr um einen Ausnahmefall, da sie in der Öffentlichkeit heftig umstritten war. Es ist offensichtlich zweifelhaft, welches Rechts- und Unrechtsbewußtsein eine in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung gerückte Norm hervorbringen könnte; denn es könnte so sein, daß sie nur jenen was Recht und Unrecht ist zu sagen in der Lage ist, die aus politischer, religiöser oder ethischer Überzeugimg auch ohne diese Norm Gegner der Abtreibung bleiben würden; ferner wäre möglich, daß der § 218 StGB in seiner alten Fassung die der Frauenbewegung angehörenden Frauen gar nicht dazu bewegen könnte, die Abtreibung als moralisches Unrecht zu sehen. Dies alles bedürfte also ebenfalls einer Untersuchung, bevor man aus den möglichen ideologischen Auswirkungen des § 218 StGB verfassungsrechtliche Konsequenzen zieht. Das Abtreibungsurteil stellt also ein Beispiel mißglückter inhaltlicher Kontrolle dar. Denn Inhaltskontrolle kann jedenfalls keine Ermächtigung zu intuitiver Tatsachenfeststellung und dadurch zu dezisionistischer Rechtsprechung sein. Auch bei der Inhaltskontrolle soll das BVerfG so weit wie möglich seine Tatsachenfeststellungen, insbesondere die Feststellungen von „legislative facts", empirisch anhand von Realdaten begründen und so konsensfähig machen. Und wenn dies aufgrund der besonderen Sachlage nicht möglich ist, so sollte man wenigstens diese Feststellungen auf einen breiten sozialen Konsens stützen können. Insoweit ähnelt die Inhalts- an die Vertretbarkeitskontrolle; der Unterschied zwischen ihnen ist eher quantitativ als qualitativ: Bei der Inhaltskontrolle braucht das BVerfG nicht überzeugend nachzuweisen, daß die gesetzgeberischen Annahmen unzutreffend und sachwidrig sind (wie es bei der Vertretbarkeitskontrolle der Fall ist), sondern nur, daß begründete (im oben beschriebenen Sinne) Zweifel an ihrer Sachgemäßheit bestehen. Bei der Inhaltskontrolle kann ferner nicht verlangt werden, daß die gesetzgeberische Prognose (oder allgemeiner: Tatsachenfeststellung, da Tatsachenfeststellungen in der Regel auch Prognosecharakter haben) 46 mit absoluter Sicherheit zutreffend ist. Eine solche Sicherheit über zukünftige Tatsachen ist im Grunde nie erreichbar, und eine solche Forderung würde die Gesetzgebungstätigkeit auf dem entsprechenden Gebiet praktisch läh44 BVerfGE 39, 1, 82. 45 Im Sinne der Erzeugung sozial wirksamer Werthaltungen (vgl. Ebsen, 64). 46 Wie noch unter IV, 4, nachzuweisen ist.
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men - mit der Konsequenz, daß der status quo ein für allemal gerichtlich sanktioniert würde. Damit würden aber die bestehenden einfachgesetzlichen Regelungen mit Verfassungskraft ausgestattet, was zu einer weitgehenden Versteinerung des Rechtszustandes im entsprechenden Bereich und zu lebensfremden Lösungen führen könnte. Sinnvollerweise kann dagegen nur gefordert werden, daß die gesetzgeberische Feststellung eine hohe Wahrscheinlichkeit für sich in Anspruch nehmen kann. Dies ist dann der Fall, wenn - wie bereits bemerkt - begründete Zweifel an der Sachgemäßheit jener Feststellung geltend gemacht werden können. Schließlich wird im Mitbestimmungsurteil als Beispiel einer Inhaltskontrolle auch das Urteil zur lebenslangen Freiheitsstrafe erwähnt. Dort war die Stellungnahme des Gerichts aber eher schwankend: Unter Hinweis auf zwei frühere, eher auf eine Vertretbarkeitskontrolle sich beschränkende, Urteile 4 7 , wird zwar ein Zurückhaltungsgebot festgestellt, demzufolge „das Gericht. . . sich . . . über . . . Wertungen und tatsächliche Beurteilungen des Gesetzgebers . . . nur (dann) hinwegsetzen. . . kann, wenn sie widerlegbar sind". Dennoch scheine es bedenklich, „Unklarheiten in der Bewertung von Tatsachen zu Lasten des Grundrechtsträgers" gehen zu lassen, „wenn schwere Grundrechtseingriffe in Frage stehen" 48 . Trotz dieser Unklarheiten hielt das BVerfG die lebenslange Freiheitsstrafe aufrecht. Wenn also die hier ausgeübte Kontrolle als Inhaltskontrolle zu gelten hat, dann bedeutet dies für die Inhaltskontrolle, daß auch sie nicht zur verfassungsgerichtlichen Beanstandung führen kann, wenn irgendein Zweifel an der Berechtigung der gesetzlichen Regelung entsteht, sondern erst dann, wenn die Zweifel eine bestimmte, (wenn auch nicht hohe) Wahrscheinlichkeitsebene erreichen. Damit wird offenbar, daß zwischen der Vertretbarkeits- und der Inhaltskontrolle nur quantitative Unterschiede bestehen 49 . Zusammenfassend wäre vielleicht zutreffender von einer zwei - als von einer dreistufigen Kontrolle zu sprechen, denn es ist (mit der möglichen Ausnahme der Sachgeeignetheitsprüfung im Rahmen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit) nicht zu sehen, wo eine bloße Evidenzkontrolle stattfindet. Im übrigen ist der Vertretbarkeits- und der Inhaltskontrolle gemein, daß sie eine eingehende Prüfung der Sachlage verlangen, deren Ergebnis durch konsensfähige Feststellungen, vorzüglich durch empirische Daten, gestützt werden muß. Unterschiedlich sind nur die Anforderungen, die sie an die Eindeutigkeit des Prüfungsergebnisses stellen.
47
BVerfGE 37, 104, 118; 43, 291, 347. ® BVerfGE 45, 187, 237f. 49 Vgl. Schiaich II, 234. 4
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3. Maßstäbe für die Abstufung der Normenkontrolldichte Im Mitbestimmungsurteil ist nur wenig dazu angemerkt worden, nach welchen Maßstäben die Abstufung der Kontrolldichte zu erfolgen hat. Eine Inhaltskontrolle w i r d jedenfalls im Falle des Mitbestimmungsgesetzes nicht für erforderlich gehalten, weil „Rechtsgüter wie das des Lebens oder der Freiheit der Person nicht auf dem Spiele stehen". Es wird ferner nicht klargestellt, ob dem Gesetz gegenüber eine Vertretbarkeitskontrolle oder eine bloße Evidenzkontrolle auszuüben wäre, denn die Prognose des Gesetzgebers genüge sogar den (strengeren) Anforderungen der Vertretbarkeit 50 . Aus den Entscheidungen, die vom BVerfG als Beispiele für die Verdeutlichung seiner Stufenlehre vorgebracht werden, läßt sich ebenfalls nur wenig für die Maßstäbe der Abstufung entnehmen. Auf allen drei Stufen gibt es Entscheidungen, in denen Art. 12 Abs. 1 GG der Prüfungsmaßstab war. Im Grundlagenvertragsurteil, wo dem Gericht zufolge eine Evidenzkontrolle vorgenommen wurde, diente die Präambel des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab, in zwei anderen - als Beispiele für Inhaltskontrolle angeführten Entscheidungen wurde die Prüfung am Maßstab des Art. 2 Abs. 1 Satz 1 (Abtreibungsurteil) und Satz 2 (Lebenslange Freiheitsstrafe) vorgenommen. Aus alledem könnte man schließen, daß die Inhaltskontrolle eine Ausnahme darstellt und nur dann stattfindet, wenn von der zu prüfenden einfachgesetzlichen Regelung wichtige grundgesetzlich geschützte Rechtsgüter, die einigermaßen die natürliche Grundlage jeder anderen menschlichen Tätigkeit sind, betroffen werden. Es geht also hauptsächlich um persönliche Freiheitsrechte (Leben, körperliche Unversehrtheit, Bewegungsfreiheit), denen man der Typisierung H.-P. Schneiders zufolge auch die Absicherung menschlicher Grundbedürfnisse hinzufügen könnte (Nahrung, Kleidung, Wohnung) 51 . Dagegen scheint der neueren Rechtsprechung des BVerfG zufolge Art. 12 Abs. 1 GG aus dieser Gruppe schon ausgeschieden zu sein, worauf auch im Mitbestimmungsurteil selbst hingewiesen wird. In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, daß bereits frühere Entscheidungen wie das Apotheken- und das Kassenärzteurteil, in denen dem Anspruch nach eine Inhaltskontrolle vorgenommen wurde, auch den Anforderungen der Vertretbarkeitskontrolle genügten. Offenbar wird bei der Inhaltskontrolle die liberale, individuelle Abwehrfunktion der Grundrechte wirksam 5 2 . In diesen Fällen tritt die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers zurück. Nicht zu sehen ist dagegen, wann eine Vertretbarkeitskontrolle und wann eine bloße Evidenzkontrolle stattzufinden hat. Aufgrund der Prämisse, daß 50
BVerfGE 50, 290, 333. si H.-P. Schneider i i i , 2105. 52 Vgl. H.-P. Schneider III, 2105: „Fragen des Individualrechtsschutzes . . . stehen . . . im Vordergrund".
IV. Die Normenkontrolldichte
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„der Evidenzmaßstab nur in den Fällen Anwendung finden . . . kann, wo die Verfassung selbst ein hinreichendes Maß an Offenheit und Unbestimmtheit aufweist" 5 3 , kann man nur schwer differenzieren, da fast alle Verfassungsnormen und die Grundrechte insbesondere ein hohes Maß an Offenheit und Unbestimmtheit auf weisen. Auch diese Schwierigkeit spricht m. E. dafür, nicht von einer besonderen Evidenzkontrolle zu sprechen, sondern alles, was nicht „inhaltlich" kontrolliert wird, der Vertretbarkeitskontrolle zuzuordnen 54 , die dadurch zur allgemeinen Regel der Kontrolldichte wird. In der Literatur gibt es zahlreiche Vorschläge für Kriterien, die als Leitfäden für Differenzierungen der Kontrolldichte dienen könnten 55 . Schon vor dem Mitbestimmungsurteil hatte F. Ossenbühl eine Reihe solcher Kriterien aufgestellt. Ihnen zufolge könnte der Gesetzgeber „bei Gesetzesvorhaben mit weittragenden, unabsehbaren Folgen für die Gesellschafts- und Staatsordnung verpflichtet sein, nicht einer unsicheren Prognose zu folgen, sondern schrittweise vorzugehen". Dies gelte insbesondere „für sozialpolitische Gesetze, die keinem gegenwärtigen existentiellen Entscheidungszwang entspringen und überdies als Jahrhundertentscheidung das unüberschaubare Risiko der Systemänderung in sich bergen" 56 . Fragwürdig ist aber, wonach die Existenz eines gegenwärtigen existentiellen Entscheidungszwangs beurteilt wird. Daneben ist ein solcher Maßstab deutlich reformfeindlich und insoweit konservativ geprägt. Ein Verfassungsgericht, das seine Entscheidungen auf diese Weise begründet hätte, würde sich leicht dem Vorwurf der politischen Einseitigkeit aussetzen, dadurch seine Autorität gefährden und die Implementation seiner Urteile selbst erschweren, da es sich nicht als politisch neutral präsentieren könnte 57 . Differenzierungen der Kontrolldichte nimmt Ossenbühl auch je nach „Sachinhalt der Prognose" vor. So sind ζ. B. außenpolitische oder w i r t schaftliche Prognosen wegen der der Sachlage innewohnenden Unabwägbarkeiten und Komplexitäten weniger intensiv zu prüfen. Diese Besonderheiten betreffen aber m. E. eher das Kontrollergebnis als die Kontrolldichte. Wegen der komplexen Sachlage ist es nämlich für das Gericht schwieriger, den Anforderungen sowohl der Vertretbarkeitskontrolle als auch einer eventuellen Inhaltskontrolle zu genügen, um ein Gesetz beanstanden zu können. Für die Höhe der Anforderungen läßt sich aber daraus nichts schließen, insbesondere nicht, daß sie höher sein müßten, d. h. daß die komplexen Sachlagen der Vertretbarkeitskontrolle zuzuordnen seien. Denn es ist nicht einzusehen, warum eine für das BVerfG bereits schwierige Auf53
So H.-P. Schneider III, 2105. s4 Vgl. Schiaich II, 234. 55 Vgl. bereits Grabitz, 571ff. und 615f. 56 Ossenbühl, 513. 57 Vgl. unter I, 5.
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
gäbe, nämlich die Beanstandung von Gesetzen in komplexen Sachlagen, gerade wegen dieser Schwierigkeit weiter erschwert werden sollte. Schließlich wird von Ossenbühl auch auf die „Wertigkeit" und „Stärke" der jeweils betroffenen Grundrechte als Kriterien einer Differenzierung hingewiesen. Für eine Werthierarchisierung der Grundrechte lassen sich aber kaum normative Kriterien finden. Wenn man unter Rückgriff auf die Verfassungsprinzipien Kriterien für die Kontrolldichte in bezug auf bestimmte Grundrechte zu finden sucht 58 , dann bedeutet dies keineswegs, daß jene Grundrechte einen höheren „Wert" besitzen, sondern nur, daß strenger kontrolliert wird, weil dies dem Sinn der Normenkontrolle besser dient. Eine Ausnahme stellen allerdings die bereits erwähnten persönlichen Freiheitsrechte dar, die eine tatsächliche Grundlage für alle anderen Rechte bilden und daher eine intensive Kontrolle erfordern. Der Gedanke, daß die Kontrolldichte von der „Stärke" des betroffenen Grundrechtes abhängig gemacht werden kann, deutet auf ein materiellrechtliches Denken hin. Als etwa repräsentativ dafür dürfte die neueste Formulierung von K. Schiaich gelten: Die drei Stufen der Kontrolldichte seien „materiell-rechtlich gesteuert und so auch akzeptabel: Der Umfang der Nachprüfung wird problembezogen dosiert, das Problem aber ergibt sich für den Richter aus der Qualität und Schwere der betroffenen Verfassungsnorm". Und ferner: „Es ist der Prüfungsmaßstab, der zurückhaltend oder deutlich greifend i s t . . . Das BVerfG bestimmt seine jeweilige Kontrolldichte nach dem jeweiligen materiellen Recht" 5 9 . Wenn man diese Auffassung zugrunde legt, ist es aber kaum zu erklären, warum das BVerfG am Maßstab derselben Vorschrift, nämlich des Art. 12 Abs. 1 GG, manchmal eine Inhaltskontrolle, manchmal eine Vertretbarkeitskontrolle und manchmal nur eine Evidenzkontrolle in Anspruch nimmt. Schließlich ist es schwierig, zwischen stärkeren und schwächeren Grundrechten zu unterscheiden. In anderer Richtung orientiert sich der funktionellrechtliche Vorschlag von G. F. Schuppert. Ihm zufolge ist „der Nachprüfungsspielraum des Bundesverfassungsgerichts . . . um so größer, je mehr der S t a a t . . . als Anwalt von Gemeinschaftsbelangen in der Rolle des Angreifers auf grundrechtliche Positionen des einzelnen Bürgers handelt. . . Die Intensität der Prüfung" habe dagegen „um so geringer zu sein, je mehr der Gesetzgeber von der Verfassung nicht vorgezeichnete Abwägungsprobleme löst, also mehrdimensionale Freiheitsprobleme regelt" 6 0 . Richtig an dem Ansatz ist, daß der Gesetzgeber nicht aufgrund einer vom BVerfG selbst und ausschließlich vorge58 59 60
Vgl. im ersten Teil III, 5, IV, 7. Schiaich II, 234. Vgl. Gusy, 176 und mit Vorbehalt Simon, 1285. Schuppert, 56f.
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nommenen Verfassungskonkretisierung zum Vollstrecker von Aufträgen des Gerichts auf den wichtigsten Problemfeldern des Gemeinwesens werden darf. Fragwürdig erscheint dagegen die Terminologie. Wenn mit „eindimensionalen Freiheitsproblemen" die Funktion der Grundrechte gemeint sein soll, als Unterlassungspflichten des Staates begründende Abwehrrechte zu dienen, dann ist dagegen nichts einzuwenden. Wegen des fließenden Charakters der Übergänge zwischen Ein- und Mehrdimensionalität 61 ist es aber möglich, solche Probleme auch als „mehrdimensionale" zu qualifizieren und die Kontrolle, in Fällen, in denen sie dicht sein sollte, abzudichten. Als Beispiel kann Art. 8 GG angeführt werden. Es handelt sich hier offensichtlich um ein Abwehrrecht im oben beschriebenen Sinne, welches für eine demokratische politische Willensbildung von größter Bedeutung ist. Dementsprechend sollte die Kontrolle hier sehr intensiv sein. Nichtsdestoweniger könnte sich aber die Versammlungsfreiheit besonders für Versammlungen unter freiem Himmel als ein mehrdimensionales Freiheitsproblem erweisen, weil die Bewegungsfreiheit, die Ruhe und unter Umständen sogar die Sicherheit Dritter von der Ausübung dieses Rechts berührt werden könnten. Es sollte nicht zwischen ein- und mehrdimensionalen Problemen, sondern eher zwischen subjektiven und objektiven Dimensionen der Grundrechte unterschieden werden, wobei darunter die Herleitung positiver Handlungspflichten für den Staat oder (nur) negativer Unterlassungspflichten, denen auf der Seite der Bürger subjektive Rechte entsprechen, verstanden wird.
4. Der Umfang der Abstufung der Kontrolldichte Das Abstufungsmodell, wie es im Mitbestimmungsurteil entwickelt worden ist, betrifft nur die Kontrolle von Prognosen des Gesetzgebers. Das Gericht erläuterte aber nicht, auf welche Gründe die Beschränkung seiner Kontrolltätigkeit zurückzuführen ist und warum sie nur gegenüber gesetzgeberischen Prognosen und nicht allgemeiner für die Feststellung von „legislative facts" stattfindet. Dies wäre nur dann zu erklären, wenn die Abstufung aus rein kognitiven Gründen, nämlich wegen der besonderen Schwierigkeit der Kunst der Prognose vorgenommen würde, die die Mängel des Gerichts an Informationsstand und Sachkenntnisse stärker hervortreten ließen 62 . Eine solche Antwort ist aber wiederum schon deshalb unbefriedigend, weil es sich dann nicht um die Kontrolldichte, sondern vielmehr um das Kontrollergebnis handeln würde. Welches auch immer die Anforderungen an die Eindeutigkeit des Ergebnisses der verfassungsgerichtlichen Kontrolle als Voraussetzung der Beanstandung des Gesetzes wären, sie könnten wegen der Informationsdefizite des Gerichts nur selten erfüllt werden. Ein 61 62
Das wird von Schuppert selbst, 46, zugegeben. So anscheinend Hesse III, 269.
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solches „Kontrolldichte"-Theorem wäre dann nur Beanstandungsstatistik 63 . So ist es aber offenbar nicht gemeint: Mit der Abstufung der Kontrolldichte ist vielmehr gemeint, daß die Anforderungen, die an die Eindeutigkeit der Widerlegung der gesetzgeberischen Prognose gestellt werden, auszudifferenzieren sind. Dies ist aber in erster Linie nicht auf kognitive, sondern auf normative Gründe zurückzuführen. Demokratie, Gewaltenteilung und Sozialstaat heißen hier die Stichworte 64 . Wenn dies so ist, dann ist nicht einzusehen, warum die Abstufung nicht auch für die Feststellung von „legislative facts" gelten kann. Darüber hinaus ist es aber kaum möglich, gegenwärtige und zukünftige generelle Tatsachen wie durch eine chinesische Mauer voneinander zu trennen. Zutreffend wurde dazu von E. Stein bemerkt, daß „sich hinter dem Ausdruck generelle Tatsachen Aussagen über gesellschaftliche Zusammenhänge verbergen, die . . . regelmäßig in die Zukunft weisen, also (wenn auch versteckt) Prognosecharakter tragen" 6 5 . Aus alledem läßt sich schließen, daß das Kontrolldichtetheorem sich nicht nur auf Prognosen beschränken kann, sondern sich auf das gesamte Feld der legislative facts erstreckt. Da aber diese facts die Grundlage der teleologischen Verfassungsinterpretation bilden, bezieht sich die Abstufung der Kontrolldichte auf die Verfassungsinterpretation selbst. Diese Auffassimg vertritt H.-P. Schneider, wenn er schreibt, daß „die Interpretationsmacht des BVerfG . . . am weitesten . . . bei der Inhaltskontrolle . . . reicht" 6 6 . Gleiches gilt für G. F. Schuppert, wenn er allgemein vom „Nachprüfungsspielraum" 6 7 oder noch deutlicher von „funktionellrechtlichen Grenzen der Verfassungsinterpretation" spricht.
5. Ein alternatives Kontrollmodell Im Ergebnis ist daran festzuhalten, daß das BVerfG in allen Fällen der Normenkontrolle zu einer eingehenden Prüfung der Sachlage verpflichtet ist. Es kann die der zu kontrollierenden einfachgesetzlichen Regelung zugrunde liegenden Tatsachenannahmen des Gesetzgebers nur dann nicht akzeptieren, wenn sich aus dieser Prüfung entweder aufgrund empirischer Daten über die in der entsprechenden „scientific community" (ζ. Β. zwischen den Wirtschaftswissenschaftlern, wenn es sich um wirtschaftliche Daten handelt, Mediziner, wenn es um medizinische Daten geht usw.). Kon6
3 Vgl. unter IV, 3. Vgl. dazu im ersten Teil unter III, IV, V. 65 Stein II, 120 (RdNr. 58). 66 H.-P. Schneider III, 2105. Hervorgehoben von mir. 67 Schuppert, 56. 64
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sens herrscht, oder jedenfalls (auch ohne vorliegende empirische Daten) aufgrund eines solchen wissenschaftlichen Konsenses oder, falls es um Fragen von allgemeinerer gesellschaftlicher Bedeutung geht, zu denen gesellschaftliche und politische Gruppen und Kräfte irgendwie ihre Auffassungen geäußert haben, aufgrund eines breiten gesellschaftlichen Konsenses ergibt, daß jene Annahmen entweder mit hoher Wahrscheinlichkeit unzutreffend (Vertretbarkeitskontrolle) oder mit geringer Wahrscheinlichkeit zutreffend (Inhaltskontrolle) sind. Dementsprechend w i r d auch die Kompetenz des BVerfG zur Verfassungsauslegung begrenzt, insofern dieser Auslegung Feststellungen von legislative facts zugrunde liegen. Eine Inhaltskontrolle dürfe nur am Maßstab des traditionellen Kerns der persönlichen Freiheitsrechte, wie Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (Leben und körperliche Unversehrtheit), Art. 11 Abs. 1 (Freizügigkeit im Bundesgebiet) und Art. 104 (Verbot willkürlicher Freiheitsentziehung), vorgenommen werden. Dieser Gruppe könnte auch Art. 13 (Unverletzlichkeit der Wohnung) als Ausdruck der Absicherung eines menschlichen Grundbedürfnisses zugeordnet werden 68 . Ferner ließe sich die Inhaltskontrolle an einer Reihe von Verfassungsvorschriften durchführen, die sich als unmittelbar demokratiebezogen erweisen: 69 Art. 3 Abs. 3 (insofern es die Gleichbehandlung ungeachtet der politischen Anschauungen betrifft), Art. 5 Abs. 1 Satz 1 (Freiheit der Meinungsäußerung und der passiven Information), Art. 5 Abs. 1 Satz 3 (Zensurverbot), Art. 8 Abs. 1 (Versammlungsfreiheit), Art. 9 Abs. 1 (Vereinigungsfreiheit), Art. 9 Abs. 3 (Gewerkschaftsfreiheit), Art. 21 Abs. 1 Satz 2 (Parteigründungsfreiheit), Art. 38 Abs. 2 (aktives und passives Wahlrecht) und Art. 2 Abs. 1, soweit es das Recht auf informationelle Selbstbestimmung betrifft 7 0 . Selbst am Maßstab dieser Verfassungsnormen dürfte aber nur dann eine Inhaltskontrolle vorgenommen werden, wenn es um die Abwehr gegen staatliche Eingriffe im geschützten Freiheitsbereich geht, nicht dagegen, wenn dem Gesetzgeber bestimmte Handlungen positiv vorgeschrieben werden sollen 71 , wie dies beispielsweise im Abtreibungsurteil der Fall war. Im übrigen ist an der Vertretbarkeitskontrolle als allgemeiner Regel festzuhalten 72 . Dies kann zunächst an praktischen Beispielen aus der Rechtsprechung des BVerfG verdeutlicht werden:
68 Vgl. unter IV, 3. 69 Vgl. Krislov, 114f.: "The ballot box is the remedy for ills that can be cured by voting. The Court, however, must act to preserve the ballot box". 70 Vgl. im ersten Teil unter IV, 7. 71 Vgl. im ersten Teil unter III, 5. 72 Vgl. unter IV, 3. 13 Chryssogonos
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a) Hochschulurteil
(BVerfGE
35, 79ff.)
Im Hochschulurteil führt das Gericht aus, der Gesetzgeber müsse bei der Zusammensetzung der kollegialen Organe der Hochschulverwaltung „alle erforderlichen und geeigneten organisatorischen Vorkehrungen treffen, um . . . die Möglichkeit funktionsschädigender oder die freie wissenschaftliche Betätigung unzulässig beeinträchtigender Fehlentscheidungen . . . auszuschließen" 73 . Insbesondere bei der Gruppe der Hochschullehrer müsse er „durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherstellen, daß Störungen und Behinderungen ihrer freien wissenschaftlichen Tätigkeit durch Einwirkungen anderer Gruppen soweit wie möglich ausgeschlossen werden" 7 4 . Offensichtlich nimmt das Gericht eine Inhaltskontrolle vor. Dem Urteil zufolge sei nicht nur festzustellen, ob das Gesetz durch die Zusammenstellung der Hochschulorgane mit hoher Wahrscheinlichkeit die Gefahr funktionsschädigender oder die Wissenschaftsfreiheit beeinträchtigender Gefahren in sich birgt, sondern ob es diese Gefahren ausschließt, obwohl zuvor zugestanden wurde, daß sich wegen der „ambivalente(n) Natur von Organisationsnormen" solche Gefahren „nicht von vornherein ganz ausschließen" lassen 75 . Ferner sei es nicht zu prüfen, ob Störungen der wissenschaftlichen Tätigkeit der Hochschullehrer in hohem Maße wahrscheinlich sind, sondern ob ihr Ausschluß sichergestellt ist. Es ist aber nicht einzusehen, weshalb in diesem Fall eine Inhalts- anstelle einer Vertretbarkeitskontrolle vorzuziehen wäre. Kommt etwa den Hochschulen eine im Vergleich mit Großunternehmen soviel höhere Bedeutung zu, sei es für die Gesellschaft insgesamt oder für die Freiheit der Einzelpersonen, daß das Niedersächsische Vorschaltgesetz auf seinen Inhalt hin, das Mitbestimmungsgesetz dagegen nur auf seine Vertretbarkeit hin überprüft werden müßte? Wenn man dagegen die Regel zugrunde legt, daß eine Inhaltskontrolle nur im Kernbereich der persönlichen Freiheitsrechte stattfindet 7 6 , dann ist es folgerichtig, daß hier nur die Vertretbarkeit hätte kontrolliert werden dürfen 77 . Aber auch den niedrigeren Anforderungen einer Inhaltskontrolle genügt das Hochschulurteil nicht. Das Gericht geht davon aus, daß „wegen der langen Verzögerung einer durchgreifenden Universitätsreform .. . die Interessengegensätze zwischen der Gruppe der Hochschullehrer und den anderen . . . Gruppen . . . sehr stark hervorgetreten" seien. Die Gruppenuniversi73
BVerfGE 35, 79, 128. BVerfGE 35, 79, 128. 75 BVerfGE 35, 79, 124. 76 Vgl. hierzu unter IV, 3. 77 Vgl. schon das Sondervotum, BVerfGE 35, 148, 165 und später BVerfGE 55, 37, 66, wo das Gericht sich ausdrücklich darauf beschränkt zu kontrollieren, ob die dem Bremischen Hochschulgesetz zugrunde liegende Prognose vertretbar ist. 74
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tät könne „diese Interessengegensätze durch ihre Gruppentypik noch deutlicher" machen und sie „unter Umständen sogar verfestigen" 78 . Wie sich aber bereits aus der historischen Darstellung im Hochschulurteil ergibt, war gerade die Forderung nach einer Gruppenuniversität, und zwar mit einer „wirksame(n) Mitbestimmung", ein zentrales Ziel der Studentenbewegung der 60er Jahre und einer der Hauptgründe der Auseinandersetzungen in den Hochschulen 79 . Es liegt näher, anzunehmen, daß die krisenhafte Situation in den Universitäten, die sich bis zu gewaltsamen Aktionen gesteigert hatte, entschärft werden könnte, wenn dieser Forderung stattgegeben würde; das trüge zur Funktionsfähigkeit der Universitäten bei. Zumindest wären die im Zeitpunkt der verfassungsgerichtlichen Prüfung (mündliche Verhandlung vom 5. bis 7. Dezember 1972, Urteil am 29. Mai 1973) bereits vorhandenen Erfahrungen mit der Mitbestimmung im Hochschulbereich daraufhin zu untersuchen gewesen, ob es zu Funktionsstörungen und Freiheitsbeeinträchtigungen gekommen war oder ob die Neuregelung eher zum Frieden in den Hochschulen und zur Steigerung ihrer Funktionsfähigkeit beigetragen hatte 80 . Nach Auffassung der Senatsmehrheit werde die angebliche Verstärkung der Interessengegensätze „Gruppensolidarisierung und Fraktionsbildung mit einer oft mehr ideologischen als wissenschaftsorientierten Zielsetzung" begünstigen. Da aber verhindert werden müsse, daß „wissenschaftlicher Sachverstand bei der Entscheidung von Fragen der Forschung und Lehre in den Beschlußorganen der Wissenschaftsverwaltung überspielt w i r d " 8 1 , solle der Gesetzgeber den Hochschullehrern einen „maßgebende(n) Einfluß" in bezug auf Fragen aus dem Gebiet der Lehre und einen weitergehenden, „ausschlaggebenden Einfluß" in bezug auf solche aus dem Gebiet der Forschung und der Berufungsangelegenheiten sichern 82 . Was aber als wissenschaftsorientierte Zielsetzung und was als ideologische gelten darf, bleibt dabei ungeklärt. In ihrem Sondervotum bemerkten H. Simon und W. RuppV. Brünneck, daß „gerade dort Gefahr für die Wissenschaftsfreiheit im Verzuge ist, wo autoritativ vorgeschrieben werden soll, was innerhalb des eigengesetzlichen Sachbereichs Wissenschaft als wissenschaftsgerecht und was als ideologisch zu gelten hat" 8 3 . Selbst wenn man mit der Senatsmehrheit davon ausgeht, daß eine solche Unterscheidung sinnvoll und fruchtbar ist, ist doch nicht einzusehen, warum die Fraktionsbildung und die Gruppensolidarisierung nur die Studenten, nicht aber die Hochschullehrer zu wissenschaftsfremden, „ideologischen" Zielsetzungen verleiten kann. Die Mög™ BVerfGE 35, 79, 129. ™ BVerfGE 35, 79, 110f. 8° Vgl. das Sondervotum, BVerfGE 35, 148, 167. ei BVerfGE 35, 79, 130. 82 BVerfGE 35, 79, 132 ff. 83 BVerfGE 35, 148, 168. 13*
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lichkeit, daß die Entscheidungen der Hochschullehrer „durch sachfremde Motive beeinflußt werden" können, w i r d zwar zugegeben, sie sei aber bewußt „bei einer typisierenden Regelung in Kauf zu nehmen" 84 . Weswegen ist also diese Möglichkeit nur in bezug auf die Hochschullehrer, nicht aber in bezug auf die Studenten und Assistenten in Kauf zu nehmen? Ein Hinweis auf den überlegenen Sachverstand der Hochschullehrer würde hier nicht genügen. Denn die Befürchtungen „ideologischer" Zielsetzungen beruhen nicht nur auf mangelndem Sachverstand der anderen Gruppen, sondern vielmehr auf der „Fraktionsbildung", die aber ebensogut auf die Hochschullehrer zutrifft. Wenn es nur auf den mangelnden Sachverstand ankäme, dann könnte man sich damit begnügen, daß „sich Qualifikation durch das sachliche Gewicht von Argumenten ausweist und nicht eine formalisierte Entscheidungsposition beansprucht " 8 5 . Das Hochschulurteil war mithin nicht vom richtigen Kontrollmaßstab ausgegangen, da es anstelle der Vertretbarkeitskontrolle eine Inhaltskontrolle in Anspruch nahm. Selbst bei dieser war die Beanstandung des niedersächsischen Vorschaltgesetzes unzulässig. Die Prognose des Gerichts über die tatsächliche Entwicklung erfolgte intuitiv und ohne die erforderliche Berücksichtigimg der tatsächlichen Erfahrungen. Diese Prognose, die im wesentlichen den einseitigen Auffassungen und Zielsetzungen einer Gruppe von Hochschullehrern (allerdings nicht aller Hochschullehrer, wie selbst die Mehrheit einräumt 8 6 ! ) entspricht, wird dann in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG hineininterpretiert, um sodann festzustellen, daß sie den (teilweisen) Ausschluß einer angeblich funktionsschädigenden und freiheitsbeeinträchtigenden Mitbestimmung bezwecke. Es ist also schon die Verfassungsinterpretation im Hochschulurteil, die sich als mangelhaft erweist. Unter diesen Umständen ist dem Vorwurf von H. Simon und W. Rupp-v. Brünneck, daß „mit dieser Entscheidung .. . das Bundesverfassungsgericht. . . sich . . . unter Überschreitung seiner Funktion an die Stelle des Gesetzgebers . . . setzt" 8 7 , voll zuzustimmen. b) Kriegsdienstverweigerungsurteil
(BVerfGE
48, 127ff.)
Im Kriegsdienstverweigerungsurteil erklärte der Zweite Senat des BVerfG das Gesetz zur Änderung des Wehrpflichtgesetzes und des Zivildienstgesetzes vom 13. Juli 1977 für nichtig. Die beanstandete Regelung führte zur Abschaffung des Anerkennungsverfahrens als Kriegsdienstver84
BVerfGE 35, 79, 133. Diesen Wegen wolten H. Simon und W. Rupp-v. Brünneck gehen, BVerfGE 35, 148, 161. Vgl. auch etwa BVerfGE 55, 37, 66. 86 BVerfGE 35, 79, 111. 87 BVerfGE 35, 148, 150. 85
IV. Die Normenkontrolldichte
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weigerer für nichteinberufene Wehrpflichtige. Für die Anerkennung sollte nunmehr eine schriftliche Erklärung genügen, wonach man sich aus Gewissensgründen der Beteiligung an jeder Waffenanwendung zwischen den Staaten widersetze und deshalb den Kriegsdienst verweigere 88 . Der Vorschrift lag die Annahme zugrunde, die Pflicht zum Zivildienst sei eine im Verhältnis zum Wehrdienst unangenehme Alternative, die gewährleiste, daß unechte Kriegsdienstverweigerer noch zuverlässiger als im alten Prüfungsverfahren ausgeschieden würden 8 9 . Der Senat geht in seiner Prüfung von der Annahme aus, das Grundgesetz 90 verbiete, „ i n den als Ersatz des Wehrdienstes eingerichteten Zivildienst andere als solche Wehrpflichtige einzuberufen, d i e . . . den Dienst mit der Waffe aus Gewissensgründen verweigern". Deswegen müsse „zur Überzeugimg der Behörde hinreichend sicher erkennbar werden, daß die Verweigerung auf einer nach Art. 4 Abs. 3 GG relevanten Gewissensentscheidung beruht" 9 1 . Schon dieser Ansatz ist fragwürdig, denn in solchen Gewissensfragen wird letzte Sicherheit nie erreichbar sein 92 . Wenn dies zutrifft, dann ist es kaum einzusehen, weshalb die Beweislast zu Lasten des Bürgers gehen sollte. Selbst der Senat geht davon aus, daß „der demokratische Rechtsstaat . . . Erklärungen seiner Bürger über ihr Gewissen und den daraus folgenden . . . Verhaltensgeboten nicht von vornherein mit der Unterstellung der Unwahrhaftigkeit begegnen . . . darf" 9 3 . Dann wäre es aber folgerichtig, nicht eine hinreichend sichere Überzeugung der Behörden, daß die Verweigerung auf einer nach Art. 4 Abs. 3 GG relevanten Gewissensentscheidung beruht, sondern eine hinreichende Überzeugung, daß die Verweigerung nicht auf einer solchen Entscheidung beruht, zu verlangen. Es zeigt sich hier, daß bereits die grammatische Auslegung einer Verfassungsvorschrift (hier des Art. 12 a Abs. 2 GG) nicht ohne Rücksicht auf die tatsächliche Situation erfolgen darf. Denn gerade aus der Unsicherheit der Feststellbarkeit echter Gewissensentscheidungen ergibt sich, welche Anforderungen der Wortlaut des Art. 12 a Abs. 2 GG sinnvoll stellen kann. Das Urteil leidet ferner darunter, daß nicht festgestellt wird, welchen Grad an Sicherheit die einfachgesetzliche Regelung verlangt (d. h. ob jene „hinreichend sichere Überzeugung" der Behörden in hoher Wahrscheinlichkeit oder Gewißheit bestehen soll), um als verfassungsgemäß gelten zu kön88
BVerfGE 48, 127, 131 ff. BVerfGE 48, 127, 154f. (Äußerung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung). 9 Vornehmlich Art. 12 a Abs. 2 Satz 1 GG (BVerfGE 48, 127, 165). Die Vorschrift lautet: „Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden". 91 BVerfGE 48, 127, 166. 92 Vgl. das Sondervotum des Richters M. Hirsch, BVerfGE 48, 185, 193. 93 BVerfGE 48, 127, 168. 89
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nen. Es werden mit anderen Worten weder Prüfungsmaßstab noch Kontrolldichte expliziert. Dem bereits entwickelten Kontrolldichteschema gemäß dürfte hier nur eine Vertretbarkeitskontrolle in Anspruch genommen werden. Im Ergebnis wird jedenfalls die Tatsachenfeststellung, die der zu prüfenden Regelung zugrunde liegt, als unzutreffend bezeichnet. „Die Ersatzdienstpflicht . . . kann . . . gegenwärtig nicht als eine im Verhältnis zur Wehrdienstpflicht auch nur gleichermaßen aktuelle und gleichbelastende Pflicht angesehen werden", stellte das Gericht fest 94 . Zum einen entspreche der 18 Monate dauernde Zivildienst der Dauer des Wehrdienstes nicht voll, da dieser einschließlich der in § 6 Wehrpflichtgesetzes vorgesehenen Wehrübungen 24 Monate betrage 95 . In der Tat beträgt aber die Gesamtdauer der Wehrübungen, die dem 15 Monate dauernden Grundwehrdienst (§ 5 Abs. 1 WpflG) folgen können, höchstens neun Monate bei Mannschaften (§ 6 Abs. 2 WpflG). Es ist offensichtlich eine falsche Analogie, realen Zivildienst mit nur möglichem Wehrdienst gleichzusetzen 96 . Man muß vielmehr die durchschnittliche Dauer des Wehrdienstes berechnen, um ihn dann mit der ebenfalls wirklichen Dauer des Zivildienstes vergleichen zu können 97 . Zum anderen reiche nach Auffassung des Gerichts „die Zahl der vorhandenen Zivildienstplätze für die Unterbringung d e r . . . Kriegsdienstverweigerer offensichtlich nicht aus" 9 8 . Auch diese Feststellung ist aber statistisch eher umstritten, zumal die Bundesregierung bereits beschlossen hatte, 60.000 neue Zivildienstplätze innerhalb von zwei Jahren bereitzustellen 99 . Abgesehen davon gab es den unwiderlegt gebliebenen Ausführungen des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung zufolge auch ein Überangebot an 94
BVerfGE 48, 127, 173. BVerfGE 48, 127, 171. 96 Daran hält aber auch die neueste Entscheidung des Zweiten Senats zur Kriegsdienstverweigerung (BVerfGE 69, Iff.) fest. Ihr zufolge bestehe „das normative Ziel des Art. 12 a Abs. 2 Satz 2 GG . . . darin, ein Gleichgewicht der Belastung von Wehrund Ersatzdienstleistenden sicherzustellen". Der Gesetzgeber könne aber „angesichts der vorgegebenen Unterschiede zwischen Wehr- und Ersatzdienst. . . den Zivildienst nur dann als eine im Verhältnis zum Wehrdienst gleichbelastende Pflicht ausgestalten, wenn ihm bei der Festlegung der Dauer des Ersatzdienstes ein gewisser Spielraum zur Verfügung steht" (BVerfGE 69,1, 30). Das normative Ziel wird hier dezisionistisch und ohne jegliche Begründung festgestellt. Jenes „Ziel" steht ferner in krassem Widerspruch sowohl zum Wortlaut von Art. 12 Abs. 2 Satz 2 GG, der von „Dauer" und nicht von „Belastung" spricht (und zwar nicht davon, daß jene Dauer unbedingt gleich, sondern davon, daß die Dauer des Zivildienstes entweder gleich oder im Vergleich zur Dauer des Kriegsdienstes kürzer sein darf) als auch zur Entstehungsgeschichte (vgl. dazu das Sondervotum Mahrenholz / Böckenförde, BVerfGE 69, 57, 69 ff.). Ferner begründet der Senat seine Auffassung mit keinem den Bedenken aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte entgegenstehenden objektiv-teleologischen Argument. 97 Ebenso das Sondervotum Mahrenholz / Böckenförde (BVerfGE 69, 57, 69) zum neuesten Kriegsdienstverweigerungsurteil (BVerfGE 69, Iff.). 98 BVerfGE 48, 127, 171 ff. 99 Vgl. das Sondervotum, BVerfGE 48, 185, 203. 95
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IV. Die Normenkontrolldichte
Grundwehrdienstleisteftden 100 . Insoweit bestand für diese kein Nachteil. Als Beleg für seine These, der Zivildienst sei keine reale, geschweige denn lästige Alternative zum Wehrdienst, beruft sich das Gericht schließlich hilfsweise auf den ständigen Anstieg der Zahl der Kriegsdienstverweigerungsanträge. Da aber eine genaue Untersuchung der Gründe für diesen Anstieg unterbleibt, läßt sich bezweifeln, ob er auf den nichtbelastenden Charakter des Zivildienstes zurückzuführen war. Selbst das Gericht verbindet mit ihm die politischen und sozialen Anschauungen der „jüngeren Gener a t i o n " 1 0 1 und relativiert damit die Überzeugungskraft seines Arguments. Es mag sehr wohl sein, daß der Anstieg der Anträge auf den Wechsel dieser Anschauungen und die Infragestellung herkömmlicher Werte und Institutionen einschließlich der Bundeswehr und nicht auf den nicht belästigenden Charakter des Zivildienstes zurückzuführen ist. Das Urteil genügt also nicht einmal den Anforderungen einer Inhaltskontrolle: An der gesetzgeberischen Feststellung, der Zivildienst sei eine „lästige Alternative" zum Militärdienst 1 0 2 könnte das Gericht keine begründeten Zweifel äußern, da die empirischen Daten (Dauer der beiden Dienste, Zahl der vorhandenen Plätze) die geäußerten Zweifel nicht stützten, sondern sie geradezu widerlegten. Von einem Konsens konnte ferner in dem Fall keine Rede sein. Im übrigen unterließ' es das Gericht unzulässigerweise, die Sachlage eingehend zu prüfen, da es sich überhaupt nicht mit der Frage der Lästigkeit der vom Wehrdienstleistenden und vom Zivildienstleistenden zu erfüllenden unterschiedlichen Pflichten beschäftigte. Zusammenfassend stellt das Kriegsdienstverweigerungsurteil in bezug auf die Berücksichtigung entscheidungserheblicher allgemeiner Tatsachen ein Beispiel methodenloser Rechtsprechung dar. Tatsachen, die für die Auslegung der einschlägigen Verfassungsnorm (Art. 12 a Abs. 2 Satz 1 GG) bedeutsam sind, werden nicht zur Kenntnis genommen; das Maß der Kontrolldichte gegenüber den Tatsachenfeststellungen des Gesetzgebers bleibt unbestimmt und selbst die Tatsachenfeststellungen des Gerichts sind unbegründet. Wenn man von der richtigen Fragestellung ausgegangen wäre und eine Vertretbarkeitskontrolle in Anspruch genommen hätte, dann wäre das Gesetz zur Änderung des Wehrpflichtgesetzes kaum zu beanstanden gewesen. c) Volkszählungsurteil
(BVerfGE
65, Iff.)
Im Volkszählungsurteil wurden mehrere Vorschriften des Volkszählungsgesetzes vom 25. März 1982 vom Bundesverfassungsgericht (Erster Senat) 100 BVerfGE 48, 127, 173f. 101 BVerfGE 48, 127, 173f. 102 Vgl. die Äußerungen des Vertreters des Bundestages, BVerfGE 48, 127, 148.
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
für nichtig erklärt 1 0 3 . Das Gericht ging davon aus, daß die „freie Entfaltung der Persönlichkeit... unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraussetzt". Dieses „Recht auf informationelle Selbstbestimmung" folge aus dem Art. 2 Abs. 1 i. V.m. Art. 1 Abs. 1 GG 1 0 4 . Beide Vorschriften werden unter Berücksichtigung der sozialen Wirklichkeit interpretiert, die durch den technischen Fortschritt charakterisiert ist, durch einen Fortschritt, „an dessen Ende die völlige Schutzlosigkeit der Privatsphäre stehen könnte" 1 0 5 . Wenn auch der Interpretation des Gerichts im Ergebnis zuzustimmen ist, ist doch zu bemerken, daß die Begründung eher sparsam ausfällt. Die Gefahren, die sich aus dem unkontrollierten Gebrauch verfassungsrechtlich geschützter Rechtsgüter ergeben könnten, werden sehr knapp und grob dargestellt. Weder wurden vom Gericht Sachverständige angehört noch wurde die einschlägige Literatur aus dem Bereich der „Computer-Science" berücksichtigt. Auch relevante Erfahrungen aus anderen Länderen wurden nicht zur Kenntnis genommen. Noch wesentlicher ist vielleicht die Nichterwähnung der öffentlichen Diskussion über den Datenschutz. Man könnte etwa auf das hohe öffentliche Problembewußtsein hinweisen, das auch in Parlament und Regierung seinen Niederschlag gefunden hat; Regelungen wie das Gesetz zum Schutz vor Mißbrauch personenbezogener Daten bei der Datenverarbeitung (Bundesdatenschutzgesetz) vom 27.1.1977 und Institutionen wie die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder legen davon Zeugnis ab. Selbst die Bewegung gegen das Volkszählungsgesetz könnte dabei insoweit relevant sein, als sie das hohe Problembewußtsein in der Bevölkerung belegte 106 . A l l dies belegt die Existenz eines breiten sozialen und politischen Konsenses darüber, daß sich aus der Datenmacht nicht zu unterschätzende Gefahren sowohl für den einzelnen Bürger als auch für die Gesellschaft insgesamt ergeben können 1 0 7 . Auch eine Auseinandersetzung mit den in der Literatur vertretenen Gegenansichten 108 wäre dabei nicht unwichtig. Ferner fehlt im Volkszählungsurteil die ausdrückliche Feststellung der in Anspruch genommenen Kontrolldichte. Tatsächlich wurde eher eine Inhaltskontrolle praktiziert. Dies kommt schon bei der Begründung des loa BVerfGE 65, 1, 3. 104 BVerfGE 65, 1, 43. los Benda IV, 123. i° 6 Die Relevanz dieser Volksbewegung ist um so höher je sicherer ist, daß ohne die Bereitschaft des Bürgers, wahrheitsgemäße Angaben zu machen, die Funktionsfähigkeit der amtlichen Statistik langfristig ernsthaft gefährdet würde, wie das Gericht selbst sagt (BVerfGE 65, 1, 50). i° 7 Auch auf internationaler Ebene wurden vom Europarat und von der OECD Vorkehrungen dagegen getroffen, vgl. Benda IV, 123. 108 v g l d i e Hinweise bei Simitis, Anm. 11.
IV. Die Normenkontrolldichte
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Rechts auf informationelle Selbstbestimmimg zum Ausdruck, insofern hier nur die Rede von „Möglichkeiten einer Einsicht und Einflußnahme,... welche auf das Verhalten des einzelnen schon durch den psychischen Druck öffentlicher Anteilnahme einzuwirken vermögen" 109 ist, nicht aber davon, daß diese Einflußnahme sicher oder in hohem Maße wahrscheinlich wäre. Es wurde ferner festgestellt, daß „die Volkszählungen tendenziell d i e . . . Gefahr einer persönlichkeitsfeindlichen Registrierung und Katalogisierung des einzelnen mit sich . . . bringen" 1 1 0 . Es geht also eher um eine allgemeine Tendenz, nicht um eine konkrete hic et nunc eingetretene Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Dasselbe gilt auch in bezug auf die Bestimmungen des Volkszählungsgesetzes, die deshalb beanstandet werden, weil dadurch Personendaten der Volkszählung unzulässigerweise „zu einem Verwaltungsvollzug verwandt werden /cönnen" 111 , oder weil „eine ausschließlich für statistische Zwecke vorgesehene Nutzung der Daten nicht als ausreichend gewährleistet angesehen werden k a n n " 1 1 2 . In diesem Fall werden zu Recht jene hohen Anforderungen an den Gesetzgeber gestellt; entsprechend niedrig sind freilich die an das Gericht gestellten Anforderungen. Der Grund dafür ist, daß sich die informationelle Selbstbestimmung als demokratiebezogen erweist, wie das BVerfG erkennt 1 1 3 . Charakteristisch hat A. Podlech geschrieben, daß „der uneinholbare Informationsvorsprung staatlicher Stellen vor den B ü r g e r n . . . das Prinzip der Demokratie, nach dem die Regierenden der Kontrolle durch die Bürger unterliegen, weil unkontrollierte Machtausübung freiheitszerstörend i s t , . . . in das Prinzip des Überwachungsstaates .. . umgewandelt. . . hätte . . . nach dem die Behörden die Bürger kontrollieren, weil Bürger für den Staat potentiell gefährlich sind" 1 1 4 . Deshalb war eine Inhaltskontrolle in Anspruch zu nehmen. Zusammenfassend ist dem Volkszählungsurteil zwar im Ergebnis, nicht aber in vollem Maße in der Begründung, die ausführlicher sein sollte, zuzustimmen. d) Wahlkreiseinteilungsurteil
(BVerfGE
16, 13Off)
Im Wahlkreiseinteilungsurteil des Zweiten Senats vom 22. Mai 1963 ging es um die Frage, ob die der Wahl zum 4. Bundestag vom 17. September 1961 109
BVerfGE 65, 1, 42. BVerfGE 65, 1, 48. 111 BVerfGE 65, 1, 64. Hervorgehoben von mir. 112 BVerfGE 65, 1, 68. Hervorgehoben von mir. 110
113 BVerfGE 65, 1, 43: „Funktionsbedingungen eines auf Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens". Vgl. zustimmend Simitis, 399 f. 114 Podlech II, 86.
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
zugrunde gelegte Wahlkreiseinteilung gemäß Bundeswahlgesetz vom 7. Mai 1956 i.d.F. v. 23. Dezember 1956 mit dem Verfassungssatz der Gleichheit der Wahl vereinbar war. Nach Auffassung des Gerichts genügte als Voraussetzung der Beanstandung der betroffenen Vorschrift nicht, daß „die Größe der Wahlkreise. .. nicht mehr in vollem Umfang dem Erfordernis der Wahlrechtsgleichheit Rechnung getragen h a t " 1 1 5 , weil „die Verfassungswidrigkeit der Wahlkreiseinteilung . . . am 17. September 1961 noch nicht so eindeutig erkennbar . . . w a r , . . . daß diese schon zu jenem Zeitpunkt als ungültig angesehen werden" sollte 1 1 6 . Das BVerfG scheint also hier eine bloße Evidenzkontrolle in Anspruch zu nehmen. Schon in dieser Hinsicht erweist sich die Entscheidung als fragwürdig; wegen seiner unmittelbaren Nähe zum Demokratieprinzip sollte Art. 38 GG als Prüfungsmaßstab eher zu einer Inhaltskontrolle führen. Aber selbst den eingeschränkten Anforderungen der Evidenzkontrolle genügte die Wahlkreiseinteilung nicht. Wie die Entscheidung selbst angibt, war bereits in dem Bericht der Wahlkreiskommission vom 20. Juni 1958 deutlich geworden, daß die Wahlkreiseinteilung schon damals nicht mehr dem vom Bundeswahlgesetz selbst gesetzten und vom BVerfG als verfassungsgemäß akzeptierten Maßstab genügte, wonach die äußerstenfalls zulässige Abweichung von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise auf 33V3 v.H. nach unten und oben begrenzt ist (§ 3 Abs. 3 Satz 2 Β WG). Schon bei der vorherigen Bundestagswahl am 15. September 1957 waren drei Überhangmandate angefallen, die bei einer rechtzeitigen Anpassung der Wahlkreiseinteilung an die inzwischen erfolgten Bevölkerungsverschiebungen hätten vermieden werden können 1 1 7 . In den Wahlen am 17. September 1961 kam es dann erneut zu drei zusätzlichen Überhangmandaten, die der Mehrheitspartei im Bundestag (CDU) zugefallen waren. „Da diese Überhangmandate aber nur durch das Zusammentreffen zweier Faktoren, der unterdurchschnittlich kleinen Wahlkreise in Schleswig-Holstein einerseits und der relativen Mehrheit an Erststimmen einer Partei in allen Wahlkreisen dieses Bundeslandes andererseits, zustande gekommen waren, kann nicht behauptet werden, daß mit einer Wiederholung des Zusammentreffens dieser beiden Vorgänge bei den. . . Bundestagswahlen von 1961 gerechnet werden mußte", meinte das BVerfG 1 1 8 . Gerade dies kann aber sehr wohl behauptet werden: Von den dreizehn schleswig-holsteinischen Wahlkreisen, die die bundesdurchschnittliche Bevölkerungszahl unterschritten, waren zehn um mehr als 20 v.H. von diesem Durchschnitt entfernt, sechs unter ihnen um mehr als 33V3 v. H. Hinzu kommt, daß Schleswig-Holstein im Jahre 115 116 117 118
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
16, 16, 16, 16,
130, 130, 130, 130,
141. 142. 143. 143.
V. Die Berücksichtigung der konkreten Spruchfolgen
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1949, als die Wahlkreise eingeteilt wurden, mit Vertriebenen und Flüchtlingen bevölkerungsmäßig überlastet war. Jene Vertriebenen waren aber danach in andere Bundesländer umgesiedelt, so daß nicht ernsthaft davon die Rede sein konnte, daß eine rückläufige Bevölkerungsentwicklung zu erwarten sei 1 1 9 . Unter Hinweis auf vergangene Wahlergebnisse in Schleswig-Holstein ließ sich auch mit hoher Wahrscheinlichkeit eine relative Mehrheit an Erststimmen für die CDU voraussagen. Wäre die Prüfung am Inhaltsmaßstab vollzogen worden, hätte man die Wahlkreiseinteilung sicherlich beanstandet. Selbst am Evidenzmaßstab hätte das Gericht zum gleichen Ergebnis gelangen können. In der Literatur zum Wahlkreiseinteilungsurteil wurde die Vermutung zum Ausdruck gebracht, das BVerfG habe den schwerwiegenden Entscheidungsfolgen eine ausschlaggebende Rolle zugemessen120. Eine Ungültigkeitserklärung der Wahl von 1961 hätte die Frage aufgeworfen, welcher Gesetzgeber eine neue, verfassungsmäßige Wahlkreiseinteilung per Wahlgesetz zu erlassen hätte, da der bestehende Bundestag als rechtlich nicht mehr existent zu betrachten war. Nun ist aber eine Verfassungsinterpretation, die von den konkreten Folgen der Entscheidung (mit-)bestimmt wird, der denkbar schlechteste Weg, die Folgenerwägung in den Entscheidungsprozeß einzubeziehen: Denn dadurch könnte eine Verfassungsdurchbrechung verhüllt und politisch legitimiert werden. Das BVerfG hätte vielmehr die Verfassungswidrigkeit in der Entscheidungsbegründimg feststellen, sich aber gleichzeitig außerstande erklären müssen, als Konsequenz der Verfassungswidrigkeit die Nichtigkeit der Wahl festzustellen; dies gerade wegen der Folgen einer solchen Entscheidung. Dann hätte wenigstens die Bundestagsmehrheit, die es unterlassen hatte, die Wahlkreiseinteilung während der 3. Legislaturperiode in eine verfassungsmäßige Form zu bringen, die politischen Kosten dafür tragen müssen.
V. Die Berücksichtigung der konkreten Spruchfolgen 1. Die Folgenproblematik in der Weimarer Zeit Die Berücksichtigung der konkreten Spruchfolgen bei Fragen der Staatsgerichtsbarkeit 1 war schon unter der Weimarer Reichsverfassung diskutiert worden. Der Staatsgerichtshof, der sich allerdings gemäß Art. 19 WRV nur mit Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes, zwischen verschiedenen Ländern oder zwischen Reich und einem Land, nicht aber mit Normen119 BVerfGE 16, 130, 138. 120 Klein, 12f.; Wittig, 150. ι Zu jenem Begriff siehe Friesenhahn I, 523 ff.
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
kontrollverfahren befaßte, erklärte in seinem Urteil vom 27. Dezember 1927, er habe die Ergebnisse, zu denen er aufgrund des Rechts gelangt, auszusprechen, ohne die politischen Folgen seines Spruchs in Betracht ziehen zu dürfen 2 . Ähnlich äußerte sich sein Präsident W. Simons: „Wenn . . . dem Staatsgerichtshof empfohlen wird, bei der Entscheidung verfassungsmäßiger Streitigkeiten die politischen Folgen zu bedenken, so legt man die Axt an die Wurzel seiner Autorität" 3 . Nichtsdestoweniger hat aber der Staatsgerichtshof den konkreten politischen Folgen seines Spruchs im Prozeß Preußen vs. Reich im Jahre 1932 offenkundig Rechnung getragen und sich darum bemüht, zu einem politisch annehmbaren Ergebnis zu kommen 4 . Andernfalls hätte der damalige Reichspräsident, der von Art. 19 Abs. 2 WRV zum Vollstrecker der Urteile des Gerichtshofs bestellt wurde, die Entscheidung höchstwahrscheinlich ignoriert. Die Folgenproblematik bewegte H. Triepel auf der Wiener Tagung der Staatsrechtslehrer im Jahre 1928 zu der These, daß „das Wesen der Verfassung . . . bis zu gewissem Grade mit dem Wesen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Widerspruch . . . steht. Je politischer die Frage, je mehr das Irrationale im staatlichen Leben . . . in Betracht kommt, um so stärker . . . ist die Abneigung, sich das Gesetz des Handelns von fremder Entscheidung vorschreiben zu lassen", meinte er. Verfassungsstreitigkeiten seien „immer politische Streitigkeiten", die „einer Entscheidung in prozeßförmiger A r t . . . widerstreben" 5 . Alle diese Überlegungen könnten zu der überspitzten Formulierung zusammengefaßt werden, „maxima non curat praetor" 6 . Triepel nahm also insgesamt eine eher zurückhaltende Position zur Institution Verfassungsgerichtsbarkeit ein, ohne daraus jedoch ausdrücklich konkrete Folgerungen in bezug auf die verfassungsgerichtlichen Entscheidungsspielräume zu ziehen. Ungeklärt bleibt, ob deswegen etwa eine Justizverweigerung des Verfassungsgerichts unter Umständen zulässig sein könnte oder ob zumindest eine vorübergehende Suspendierung der Bindungswirkung der Entscheidung durch das Gericht selbst in Frage käme. In der Diskussion jedenfalls stieß die Triepelsche These eher auf Skepsis7. Besonders die Erwiderung von H. Kelsen zu Triepel dürfte von Interesse sein: Er meinte, jene Abneigung, sich das Gesetz des Handelns von fremder Entscheidung vorschreiben zu lassen, bestehe „nicht nur bei jenen Gegen2
Lammers / Simons I, 352. Lammers / Simons II, S. VII. 4 Vgl. Drath, 176. 5 Triepel III, 52 f. 6 Vgl. Dopatka II, 273, Anm. 231. 7 Vgl. die Diskussionsbeiträge von Laun, W D S t R L 5, S. 88; W. Jellinek, S. 95; Merkl, S. 98ff. 3
V. Die Berücksichtigung der konkreten Spruchfolgen
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Sätzen, die Herr Triepel als politische auszeichnet..., (sondern) schlechthin bei allen Gegensätzen, die Interessengegensätze sind". Darum stehe Verfassungsgerichtgsbarkeit nach Kelsen „mit dem Wesen der Verfassung nicht mehr in Widerspruch als überhaupt Gerichtsbarkeit mit dem Wesen menschlicher Beziehungen, die durch das Recht geregelt... werden" 8 . Darin steckt sicherlich ein richtiger Ansatz: Nicht nur Verfassungsgerichte, auch andere Gerichtszweige sind von Zeit zu Zeit gezwungen, Entscheidungen über wichtige Fragen des Gemeinschaftslebens, ggf. sogar in besonders kontroversen Sachlagen, zu treffen, die schwerwiegende Folgen haben können. Es sollte aber nicht geleugnet werden, daß Verfassungsstreitigkeiten diese Problematik in besonderer Schärfe aufwerfen 9 . Von daher gewinnt das Problem der konkreten Entscheidungsfolgen bei der Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich zur Gerichtsbarkeit im allgemeinen besonderes Gewicht. Dies gilt naturgemäß auch für die Normenkontrolle. 2. Die Position des Bundesverfassungsgerichts Bei der Eröffnung des BVerfG erklärte sein Präsident Höpker-Aschoff in deutlicher Abkehr von der Auffassung Simons, das BVerfG müsse „sich bei seinen Entscheidungen der politischen Folgen seiner Entscheidungen bewußt bleiben" 1 0 . Dies wurde dann im Bericht zur Status-Frage von G. Leibholz bestätigt. Es gehöre zu den Pflichten des BVerfG, „die politischen Folgen und Wirkungen seiner Entscheidungen in den Bereich seiner Gesamterwägungen einzubeziehen". Leibholz stellte die sich daraus ergebenden Konsequenzen ausdrücklich fest: „Ein solches Verfahren erscheint auch rechtlich geboten, um der Auslegung bedürftige, zweifelhafte Bestimmungen der Verfassung zugleich juristisch richtig auszulegen" 11 . Diese Stelle des Statusberichts wurde dann von R. Thoma heftig kritisiert („Diese Lehre, welche dem BVerfG die Befugnis beilegen will, aus eigener politischer Meinung heraus das geltende Recht zu biegen und zu beugen, ist eine Irrlehre! " 1 2 ) Jene K r i t i k wurde vom BVerfG mit der Begründung zurückgewiesen, „es wäre eine Illusion und ein unzulässiger formalistischer Positivismus, zu meinen, daß es im Bereich des Verfassungsrechts möglich wäre, eine Norm . . . aus sich heraus auszulegen, ohne daß man gleichzeitig versuchte, 8
Im Schlußwort, S. 120. Dies ist freilich keineswegs immer so. Erwähnt sei einerseits das Beispiel der Normenkontrolle durch den österreichischen Verfassungsgerichtshof, welche wegen der großen Zurückhaltung des Gerichts nur eingeschränkte Bedeutung hat, andererseits das Beispiel einer Anfechtungsklage bei einem Verwaltungsgericht gegen die Genehmigung eines Kernkraftwerks, die große Bedeutung für Wirtschaft und Umwelt haben kann. 10 In BVerfG III, 1 (3 f.). h Leibholz II, 122. 12 Thoma II, 171. 9
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
(sie)... zu der politischen Wirklichkeit in sinnvolle Beziehung zu setzen". Richtig verstanden besage also der Statusbericht „nichts anderes, als daß ein Richter, der seiner richterlichen Aufgabe gerecht werden w i l l , . . . in den Kreis seiner Erwägungen auch einbeziehen muß, welche Rechtsauffassung der in der Verfassung getroffenen konkreten politischen Entscheidung in Folge und Wirkung am besten gerecht w i r d " 1 3 . Diese letzte Aussage läßt aber eher ungeklärt, welche Position das BVerfG in der Diskussion um die Folgenberücksichtigung einnimmt. Denn die Folgenerwägung betrifft nicht die Interpretation einer Verfassungsvorschrift in abstracto. Diese Interpretation kann und soll freilich nur mit Rücksichtnahme auf ihre Folgen, d. h. unter Einbeziehung der sozialen Wirklichkeit, erfolgen 14 . Hier steht aber in Frage, ob die verfassungsgerichtliche Entscheidung nur aufgrund der so interpretierten einschlägigen Verfassungsnorm getroffen werden oder ob der Richter auch die Folgen seines Spruchs in concreto berücksichtigen sollte. Die Frage ist also, wie man verfährt, wenn die juristisch richtige Auslegung von abstrakten Verfassungssätzen zu unerwünschten konkreten Ergebnissen im Einzelfall führt. Jene Frage wird auch nicht dadurch aus der Welt geschaffen, daß man in die Verfassungsinterpretation die soziale Wirklichkeit einbezogen hat. Mit besonderer Deutlichkeit wird die Frage dagegen vom Zweiten Senat (in seiner Entscheidung vom 7.3.1953 betreffend den EVG-Vertrag) beantwortet. „Ob und welche politischen Konsequenzen sich daraus ergeben, daß die Anträge der Antragsteller als unzulässig verworfen werden, darf für das Bundesverfassungsgericht keine Rolle spielen. Es hat allein nach dem Recht zu entscheiden", meinte der Senat 15 . Der Nachfolger von Höpker-Aschoff, S. Wintrich, hatte ferner vor der Verkündung des KPD-Urteils 1 6 eine Erklärung abgegeben, wonach das Gericht seine Entscheidungen nach rein rechtlichen Gesichtspunkten zu treffen habe und ihm politische Zweckmäßigkeitserwägungen versagt seien 17 . Damit schien also das Gericht die Auffassung zu vertreten, es sei irrelevant, welche Folgen seine Entscheidungen in concreto haben könnten. So einfach war die Lage jedoch nicht. Etwa zwei Jahre nach dem EVG-Vertragsurteil des Zweiten Senats stellte der Erste Senat im Saarstatut-Fall fest, zur Verfassungsmäßigkeit genüge es, „daß die im Vertrag vorgesehenen Maßnahmen mit dem Willen unternommen sind und die Tendenz in sich tragen, dem voll verfassungsmäßigen Zustand wenigstens so weit, wie es politisch erreichbar ist, näher zu kommen"; dies, weil das BVerfG „die politische Ausgangslage, aus der der Vertrag erwach13 14 15 16 17
BVerfG II, 201 f. Vgl. hier zum im zweiten Teil I, 5. BVerfGE 2, 143, 181. BVerfGE 5, 85 ff. Ausführlich dazu v. Brünneck, 118 f.
V. Die Berücksichtigung der konkreten Spruchfolgen
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sen ist, die politischen Realitäten,... nicht aus dem Blick verlieren" dürfe. „Politische Verträge, die eine besatzungsrechtliche Ordnung schrittweise abbauen, ohne zugleich eine auf Dauer berechnete völlige Neuordnung an ihre Stelle zu setzen,. . . rücken . . . für ein Verfassungsgericht weithin in den Bereich der Nichtjustitiabilität. Die verfassungsrechtlichen Grenzen . . . liegen dort, wo unverzichtbare Grundprinzipien des Grundgesetzes klar verletzt würden" 1 8 . Das Urteil besagt mit anderen Worten, daß das Grundgesetz nicht den einzigen Prüfungsmaßstab bilden kann. Daneben gibt es als Maßstab die politische Ausgangslage. Der eine Maßstab darf gegen den anderen ausgespielt werden, so daß eine an sich verfassungswidrige Lösung sich auch verfassungsrechtlich rechtfertigen läßt, weil sie die politische Lage zu verbessern geeignet ist. Das BVerfG interpretiert nicht die einschlägige Verfassungsnorm auf eine Art und Weise, daß jene Lösung als mit ihr vereinbar angesehen werden könnte; es erklärt vielmehr, daß die (mittelbar) zugegebene Verfassungswidrigkeit wegen der in concreto unerwünschten politischen Folgen eines entsprechenden Urteils nicht ausgesprochen werden kann. In diesem Sinne führte das Gericht aus, daß „die vertragschließenden Organe der Bundesrepublik... bis zu den angedeuteten Grenzen... nur politisch verantwortlich sind" 1 9 . Da diese unerwünschten Folgen die Erreichung des verfassungsmäßigen Zustandes erschweren würden statt ihn näherzubringen, erscheint das Vorgehen des Gerichts auch verfassungsrechtlich gerechtfertigt: „Das Schlechte darf dem Besseren nicht weichen, weil das Beste.. . nicht erreichbar ist. Das kann vom Grundgesetz nicht gewollt sein" 2 0 . Noch deutlicher tritt dieser Denkmodus im Allphasenumsatzsteuergesetzurteil hervor. Das BVerfG stellte da fest, das Umsatzsteuergesetz genüge der verfassungsrechtlich (Art. 3 Abs. 1 GG) gebotenen Steuergerechtigkeit insoweit nicht, als es die Außenumsätze der einstufigen den Außenumsätzen der mehrstufigen Unternehmen ausnahmslos gleichstellte. Jedoch lasse es „die besonders große Bedeutung, die das Umsatzsteuergesetz für die Einnahmen des Bundes, aber auch für die Selbstkosten der Unternehmen und die allgemeine Preisgestaltung hat,. . . nicht zu, das ganze Gesetz nur (!) deshalb für nichtig zu erklären, weil besondere, wenn auch nicht unbedeutende Gruppen gegenüber anderen viel zahlreicheren Gruppen ungleich behandelt sind" 2 1 . Dies besagt mit anderen Worten, daß der festgestellte Verfassungsverstoß keine ausreichende Voraussetzung für eine Nichtigerklärung ist, wenn sich aus einer Abwägung zwischen wirtschaftlichen und 18
BVerfGE 4, 157, 168ff. BVerfGE 4, 157, 170. 20 BVerfGE 4, 157, 170. Vgl. Pestalozza II, 547f. 21 BVerfGE 21, 12, 39. 19
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
sozialen Vor- und Nachteilen ergibt, daß im Falle einer Nichtigkeitserklärimg die Nachteile bei weitem überwögen. Es handelt sich nicht darum, daß die gesetzgeberische Lösung sich als minus malus im Vergleich mit den bestehenden Verhältnissen erweist und dem verfassungsmäßigen Zustand näher kommt, wie das bei der vertraglichen Lösung im Saarurteil der Fall war. Deshalb geht das Allphasenumsatzsteuergesetzurteil über das Saarurteil hinaus und verlangt vom Gesetzgeber, innerhalb einer nicht näher definierten zeitlichen Grenze 22 die Reform des Umsatzsteuerrechts, die damals in Vorbereitung war, ohne Verzögerungen abzuschließen23. In dieser Hinsicht was das Urteil äußerst erfolgreich: Es wurde am 20.12.1966 veröffentlicht, am 29.5.1967 wurde die von ihm angeregte Reform vollzogen 24 . Aus den beiden schon besprochenen Entscheidungen wird eine Tendenz der verfassungsgerichtlichen Judikatur ersichtlich, die darauf hinausläuft, die konkreten Entscheidungsfolgen zu berücksichtigen und so - überspitzt formuliert - den Prüfungsmaßstab zu erweitern: Nicht allein die Verfassung, auch die Erträglichkeit der konkreten Entscheidungsfolgen dient als Maßstab. Das hier zum Ausdruck kommende Problem unterscheidet sich grundsätzlich von dem Problem der Berücksichtigung politischer, wirtschaftlicher usw. Faktoren bei der Verfassungsinterpretation. Denn es ist möglich, daß eine unter Berücksichtigung der sozialen Wirklichkeit durchaus treffend interpretierte Verfassungsvorschrift, wie der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und das daraus abgeleitete Steuergerechtigkeitsgebot im Allphasenumsatzsteuergesetzurteil, bei Anwendung im konkreten Fall zu unerträglichen Ergebnissen führen kann.
3. Die Stellungnahme der Literatur Das Problem w i r d in der Literatur des öfteren behandelt, wobei aber anzumerken ist, daß die Folgenerwägung auf der Ebene der Verfassungsinterpretation manchmal mit der Folgenerwägung auf der Ebene des konkreten Falles gesetzt wird, was zu einer gewissen Verwirrung führen kann. Dies kommt ζ. B. in der Äußerung von M. Drath zum Ausdruck, daß „die möglichst zutreffende Berücksichtigung aller denkbaren Folgen der Entscheidung . . . zu den grundlegenden Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit" gehöre, womit „weitgehend die Möglichkeit, zwischen Verfassungsauslegung und Verfassungswandlung... klar zu unterscheiden", entfalle 25 . 22
BVerfGE 21, 12, 40. BVerfGE 21, 12, 41. 24 Vgl. Kommers, 274 und Anm. 25. 25 Drath, 170. Vgl. Bachof II, 302: „Ein Verfassungsgericht. . . darf gegenüber den politischen Folgen seiner Entscheidung . . . nicht blind sein . . . Insoweit besteht zweifellos ein gewisser Einfluß der politischen Auswirkungen des Spruchs auf die rechtliche Interpretation." 23
V. Die Berücksichtigung der konkreten Spruchfolgen
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Ebenso verwirrend kann es sich m.E. auswirken, wenn man ausschließlich von „politischen" Folgen der Entscheidung spricht 2 6 ; dies nicht nur, weil der Begriff „politisch" mehrdeutig ist, sondern auch, weil es sich zuweilen wie im Allphasenumsatzsteuergesetzurteil - um finanzielle Folgen handeln kann. Von diesen Bedenken abgesehen, scheint überwiegend die Auffassimg vertreten zu werden, das BVerfG müsse die Spruchfolgen auch in concreto zur Kenntnis nehmen, wenn sie zur Gefährdung der Grundlagen der staatlichen Ordnung, der Funktionsfähigkeit des Staatsganzen oder des politischen Systems führen 27 . Weder beim Saarurteil noch beim Allphasenumsatzsteuergesetzurteil könnte aber im Ernst die Rede davon sein, daß im Falle einer Beanstandung die Bundesrepublik Deutschland zum Untergang verurteilt wäre. Insofern könnte man von einer Überdramatisierung der ganzen Fragestellung in der Literatur sprechen. Vom Erfordernis der Berücksichtigung der Spruchfolgen ausgehend schlug H.-H. Klein vor, dem BVerfG unter entsprechender Anwendung des § 35 BVerfGG die Befugnis zuzusprechen, „die bindende Wirkung seiner Entscheidung . . . zu suspendieren, eine Rechtsfoge, die sich aus der von ihm erkannten Rechtslage an sich ergäbe, nicht oder in modifizierter Form auszusprechen oder. . . eine selbständige Übergangsregelung zu erlassen" 28 . Damit ist das Problem m.E. im Prinzip richtig erfaßt: den Schwierigkeiten, die sich aus dem konkreten Fall ergeben, kann und darf nur auf der Ebene der Rechtsfolgen für den bestimmten Fall, nicht auf der allgemeineren Ebene der Verfassungsauslegung begegnet werden. Ansonsten würde verfassungswidriges Handeln oder Unterlassen der Gesetzgebungsorgane wie im Wahlkreiseinteilungsurteil vom BVerfG unzulässigerweise verfassungsrechtlich und teilweise auch politisch gerechtfertigt. Das BVerfG würde sein institutionelles Prestige zugunsten von Verfassungsdurchbrechungen aufs Spiel setzen! 4. Strategien zur Überwindung des Problems Anders als dem Supreme Court in den USA steht dem BVerfG nicht die Möglichkeit zu, die Ausübung seiner Kompetenzen abzulehnen 29 . Das Justizverweigerungsverbot schränkt aber die Möglichkeiten zur Bewältigung krisenhafter Situationen, in denen der Gehorsam dem verfassungsgerichtlichen Urteil gegenüber nicht als gesichert gelten kann, oder in denen
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So aber Dürig I, 54, Anm. 113; Steffani, 387. Vgl. Denninger II, 200; Klein, 15, 32f.; Krüger II, 348; Larenz, 349; Wittig, 149. Klein, 34ff.; vgl. auch Denninger II, 200. Vgl. dazu unter III, 7.
14 Chryssogonos
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2. Teil: Normenkontrolle u d Methode
das Urteil schlechthin unerträgliche politische, wirtschaftliche, finanzielle usw. Folgen hervorbringen wird, beträchtlich ein. Stattdessen sind verschiedene Strategien zur Überwindung des Problems entwickelt worden. Vornehmlich ist auf die verfassungskonforme Auslegung hinzuweisen: Sie gleicht einer „teilweise(n) Nichtigerklärung ohne Normtextreduzierung" 30 . Ein solcher Spruch ändert den status quo ante weniger als eine volle Nichtigkeitserklärimg und hat deswegen weniger weitgehende Folgen. Es ist also möglich, daß Gesetze, die wegen der schwerwiegenden konkreten Spruchfolgen nicht für nichtig erklärt werden könnten, durch verfassungskonforme Auslegung stillschweigend reduziert werden 31 . Eine andere Strategie besteht in der bloßen Verfassungswidrigkeitsanstelle der Nichtigkeitserklärung, wonach das dem Entscheidungstenor zufolge für verfassungswidrig erklärte Gesetz bis zur gesetzlichen Neuregelung anwendbar bleibt 3 2 , denn dadurch w i r d das durch eine ex tunc Nichtigerklärung entstehende Rechtsvakuum vermieden. Nicht weit davon ist die Entscheidungsvariante entfernt, wonach das BVerfG feststellt, ein Gesetz sei noch verfassungsmäßig, zugleich aber an den Gesetzgeber appelliert, tätig zu werden, um die einfachgesetzliche Regelung in vollen Einklang mit dem Grundgesetz zu bringen oder eine in der Zukunft drohende Verfassungswidrigkeit abzuwenden 33 . Man könnte ferner daran denken, dem BVerfG durch entsprechende Auslegung des § 35 BVerfGG die Befugnis zur Suspendierung der Bindungswirkung einer Entscheidung zuzusprechen 34 . Das Bedenkliche an all diesen Strategien ist aber, daß sie den ohnehin weiten interpretatorischen Spielraum des BVerfG auch hinsichtlich der konkreten Folgen seiner Sprüche erweitern. Unter diesen Umständen hat das BVerfG nicht nur „einen Anteil an der obersten Staatsleitung" 35 , sondern möglicherweise ein Zuviel davon. 30 Schiaich II, 186. Vgl. III, 4. 31 Vgl. das zum Grundlagenvertragsurteil bereits Ausgeführte (oben III, 4.). Vgl. auch Moench, 29f. 32 Vgl. Schiaich II, 174ff, 178. 33 Vgl. Schiaich II, 181 ff. m.w.N. Zum ganzen vgl. Pestalozza II, 53 8 ff. und Moench, 94, der konstatiert, daß nach der Rechtsprechung des BVerfG „eine Nichtigerklärung nur dann i n Betracht kommt, wenn der unvermittelte Fortfall des Gesetzes nicht zu einem Regelungsdefizit führt, das sich i n Rechtsunsicherheit oder anderweitigen chaotischen sozialen (finanziellen) Folgen für den einzelnen wie das Gemeinwesen manifestiert." - Über Techniken des Supreme Court, das Folgenproblem i n concreto zu überwinden und/oder die Implementationsbedingungen seiner Sprüche zu sichern, berichtet ausführlich Kirchheimer, 99 ff. 34 Wie der bereits erwähnte Vorschlag von H.-H. Klein (unter I, 3.), der auf den Vollstreckungsbegriff von A. Arndt hinweist, demzufolge Vollstreckung der „Inbegriff aller Maßnahmen, die erforderlich sind, um solche Tatsachen zu schaffen, wie sie zur Verwirklichung des vom BVerfG gefundenen Rechts notwendig sind", sei (vgl. BVerfGE 6, 300, 304). 35 Hesse II, 263.
Ausblick Aus der bisherigen Untersuchung hat sich ergeben, daß das staatsrechtliche Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts, oberstes Bundesorgan oder Verfassungsorgan und Hüter der Verfassung zu sein, verfassungsrechtlich bedenklich und für seine Verortung im Gefüge der Staatsfunktionen unzureichend ist. Deswegen kann dieses Selbstverständnis zur Fixierung der Legitimitätsgrenzen der Normenkontrolle ebensowenig beitragen wie ihre Klassifizierung als logische, unpolitische Tätigkeit, bei der das Gericht lediglich als Mund der Verfassung fungiert. Diese Klassifizierung erweist sich schon deswegen als fiktiv, weil die herkömmliche staatsrechtliche Methode 1 keine Trennung zwischen Recht und Politik, also zwischen Verfassungsinterpretation und richterlicher Ausübung politischer Macht, gewährleisten kann. Grenze der Verfassungsinterpretation bei der Normenkontrolle ist in der Tat nicht die Methode, sondern das Bedürfnis nach Sicherstellung der Bedingungen der Implementation verfassungsgerichtlicher Urteile. Neuere Methodenansätze, die als Leitfaden der Verfassungsinterpretation dienen und zugleich deren Grenzen bestimmen wollen, reichen für eine methodische Grenzziehung bei der Normenkontrolle allein nicht aus; manche zwischen ihnen können dazu beitragen (Topik, funktionell-rechtlicher Ansatz, partiell auch strukturierende Methodik), andere aber können sich irreführend auswirken (Theorie der Rechtsgewinnung, offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten und partiell strukturierende Methodik). Das geschilderte Methodenchaos wird durch die beiden Arcana der Verfassungsinterpretation, die Wertordnungsformel und das Rechtsstaats„prinzip", noch vergrößert. Dagegen erweisen sich viele Argumentationsfiguren, die auf die Begrenzung der Normenkontrolle zielen (Verfassungsmäßigkeitsvermutung, verfassungskonforme Gesetzesauslegung, gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit, judicial self-restraint, politicial questions doctrine) als wenig effektiv. Aus alledem ergibt sich das Bild eines Bundesverfassungsgerichts, das bei der Ausübung seiner Normenkontrollbefugnisse rechtlich im wesentlichen unkontrolliert und ungehemmt seinen dezidierten politischen Willen durch1 Womit sowohl der staatsrechtliche Positivismus und Neopositivismus, als auch der Savignysche Methodenkanon in der Form, in der das BVerfG sich zu ihm bekannte, gemeint sind.
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Ausblick
setzt, sofern er politisch durchsetzbar ist. Dabei wäre es verfehlt anzunehmen, es handele sich um einen beliebigen Willen. Eine Durchsicht der politisch wichtigsten Normenkontrollfälle (besonders in der Zeit nach 1969, in der sie häufiger als zuvor zu Auseinandersetzungen zwischen Karlsruhe und Bonn Anlaß gegeben haben), ließe möglicherweise eine gezielte Politik des Gerichts 2 ans Licht treten. Während der 70er Jahre hat das Bundesverfassungsgericht der Reformpolitik der damaligen sozialliberalen Koalition in mehreren Bereichen des öffentlichen Lebens Grenzen gezogen, vornehmlich durch das Hochschulurteil, das Grundlagenvertragsurteil, das Abtreibungsurteil und das Kriegsdienstverweigerungsurteil 3 . Allen diesen Fällen von Normenkontrolle war gemeinsam, daß sie Reformvorhaben der sozialliberalen Koalition betrafen, die zwischen Koalition und parlamentarischer Opposition (und manchmal auch zwischen einflußreichen sozialen Gruppen wie Professoren und Studenten beim Hochschulurteil, Kirchen und Frauenbewegung beim Abtreibungsurteil) heftig umstritten waren. Es war also ein Konfliktpotential vorhanden, das zu vergleichsweise weitgehenden Reformen geführt hatte. Vielleicht mit Ausnahme des Kriegsdienstverweigerungsurteils 4 hat das BVerfG jeweils einer Art von Kompromißlösung den Weg geebnet, die zwar die Reform im Prinzip oder zum Teil rechtfertigte, ihr aber zugleich Grenzen zog5. So wurde einerseits der Grundlagenvertrag bestätigt, andererseits aber eine eventuelle zukünftige de jure Anerkennung der DDR verboten; die Gruppenuniversität war im Prinzip angenommen, den Professoren jedoch ein maßgebender oder ausschlaggebender Einfluß bei der Zusammensetzung der kollegialen Organe sichergestellt; die Fristenlösung wurde beanstandet, die soziale Indikation dagegen legitimiert. Damit war es dem BVerfG gelungen, die Konflikte zu absorbieren und in diesem Sinne der 2 Dies ist allerdings insoweit problematisch, als die Feststellung von Zielen bei der verfassungsgerichtlichen Tätigkeit auch die Erforschung der subjektiven Motive der Richter voraussetzen würde, was im Rahmen der vorliegenden Studie nicht unternommen werden kann und in jedem Fall auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen würde. Es handelt sich also hier nur um eine Vermutung aufgrund der Rechtsprechung des Gerichts. 3 BVerfGE 35, 79; 36, 1; 39, 1; 48, 127. 4 Ebsen, 357 f., sieht dagegen den Kompromißcharakter auch dieser Entscheidung darin, daß „der Grundansatz der Reform, die Ersetzung der Gewissensprüfung durch den Ersatzdienst als . . . lästige Alternative im Prinzip legitimiert wurde und lediglich aufgrund der tatsächlichen Verhältnisse . . . als nicht gegeben angesehen wurde." Da aber das Gericht sich gar nicht im Ernst bemühte, jene tatsächlichen Verhältnisse zu prüfen, sondern dezisionistisch konstatierte, daß der Zivildienst keine lästige Alternative sei, war die prinzipielle Annahme der Möglichkeit der Ersetzung der Gewissensprüfung für den Reformgesetzgeber ohne Wert. Vgl. im zweiten Teil unter IV, 5 b. 5 Vgl. Massing III, 40f.: „ I n systematisch-beschreibender Absicht käme (dem BVerfG) die. . . Aufgabe z u , . . . kontrollierte gesellschaftliche Wandlungsprozesse durch Eröffnung lizenzierter und/oder durch Blockierung nicht-lizenzierter Wege sicherzustellen."
Ausblick
Integration der politischen Gemeinschaft zu dienen; Reformbestätigung gleichzeitig aber auch Reformblockade sind hier die Stichworte. Beim Mitbestimmungsurteil 6 war es dagegen ein bereits im Bundestag erzielter Kompromiß, der in Gestalt des Mitbestimmungsgesetzes zur Prüfung gelangte. In diesem Fall führte das Verfahren vor dem BVerfG selbst zu Konflikt und Desintegration, da die Verfassungsbeschwerden der Arbeitgeber von den Gewerkschaften als Kompromißdurchbrechung angesehen wurden und entsprechende Reaktionen hervorriefen 7 . Die verfassungsgerichtliche Bestätigung des Mitbestimmungsgesetzes und die gleichzeitige Weigerung des Gerichts, sich zur umstrittenen Frage der paritätischen Mitbestimmung zu äußern, führten also auch hier zu Konfliktabsorption 8 . Beim Volkszählungsurteil 9 war die Situation zwar insoweit der des Mitbestimmungsurteils ähnlich, als ein einstimmig im Bundestag beschlossenes Gesetz, also ein bereits zwischen den politischen Parteien vereinbarter Kompromiß, vom BVerfG zu prüfen war. Der Unterschied lag jedoch darin, daß erst nach Verabschiedung des Volkszählungsgesetzes eine massive Boykottbewegung gegen die Volkszählung plötzlich entstand, die die Gesetzesimplementation zweifelhaft werden ließ und sich darüber hinaus insoweit als allgemeiner systembedrohend erwies, als sie den Beweis dafür lieferte, daß „der Funktionsmodus der parlamentarischen Willensbildung und Entscheidungsfindung . . . in seinem materialen Gehalt, die Vernunft der allgemeinen Gesetzesnorm betreffend,... in Frage gestellt, als Vorwand entlarvt und in seiner Legitimierungsfunktion außer Kraft gesetzt werden konnte" 1 0 . Unter diesen Umständen fungierten zunächst die einstweilige Anordnung und dann die teilweise Nichtigerklärung des Volkszählungsgesetzes durch das BVerfG als Notbremse für das politische System, welches dadurch von aufgestautem Konflikt- und Desintegrationspotential entlastet wurde. Zugleich hat das verfassungsgerichtliche Eingreifen zur zukünftigen Durchsetzbarkeit der Volkszählung beigetragen 11 . Allen diesen äußerst wichtigen verfassungsgerichtlichen Urteilen, in denen Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin geprüft wurden, war also gemeinsam, daß sie der Integration im Rahmen des bestehenden politischen Systems dienten 12 . Zugleich sollte aber betont werden, daß es sich nicht um 6
BVerfGE 50, 290. Vgl. Ebsen, 268, Anm. 58 und 59, 358. 8 Bezüglich der bisher geschilderten Fälle vgl. Ebsen, 353 ff. 9 BVerfGE 65, 1. 10 Massing VII, 18. 11 Vgl. im ersten Teil unter IV, 5. 12 Dem Integrationswert w i r d freilich nicht nur durch Reformparallele (Unterstützung von Reformen) und Reformblockade (Verhinderung von Reformen), sondern auch durch Reforminduktion (Aufforderung an den Gesetzgeber, tätig zu werden, um den bestehenden Zustand in bestimmter Weise zu ändern) gedient (vgl. im letzteren 7
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Ausblick
interessenneutrale Integration um der Integration willen handelt, sondern um eine Integration bestimmter politischer Prägung. Die „Tendenz zur Einhaltung einer mittleren Linie zwischen den Kontrahenten und zur Respektierung wesentlicher Interessen", welche sich feststellen läßt 1 3 , bedeutet, daß wirklich bedeutende, ggf. „systemüberwindende" Reformen, die vom parlamentarischen Gesetzgeber initiiert werden könnten und in aller Regel entgegengesetzte Interessen ignorieren würden, durch die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle verhindert werden können. Zugleich werden Konflikte absorbiert, die aber gerade den Anlaß für solche Reformen darstellen. Im Ergebnis handelt es sich um Integration, die eher auf dem Proporzgedanken beruht und sich strukturell konservativ auswirkt. Dies ist weder demokratisch unbedenklich noch politisch ungefährlich. Denn der Proporzgedanke könnte in seiner letzten Konsequenz zu einer „zunehmende(n) Entdemokratisierung des öffentlichen Lebens . . . unter entsprechend autoritär-bürokratischer Verfestigung von bestehenden Herrschaftsverhältnissen einschließlich $er wachsenden Gefahr eines revolutionär-dissoziativen Fundamentalkonflikts" führen 14 . Demgegenüber ist festzustellen, daß „demokratische Konsoziation. .. verfassungsrechtlich primär nicht durch kooperative (proporzmäßige), sondern durch alternative (majoritäre) Konfliktregelung und Partizipation geboten ist" 1 5 . Daher hätte das Verfassungsgericht innerhalb eines demokratischen Gemeinwesens weniger für die Sicherstellung einer aus Kompromissen resultierenden Integration und mehr für die Aufrechterhaltung des offenen Prozesses demokratischer politischer Willensbildung, wodurch die Integration bewirkt werden soll, zu sorgen 16 . Hier liegen auch die Legitimitätsgrenzen des der Normenkontrolle aufgegebenen Minderheitenschutzes. Abgesehen aber davon, ob das vorgeschlagene Erklärungsmodell zutrifft, ist jedenfalls festzustellen, daß die Normenkontrolle verfassungstheoretisch weitgehend nicht fundiert und methodisch in der Tat kaum abgesichert ist. Damit wird der verfassungsrichterlichen Dezision breiter Raum im Sinne einer unkontrollierten Ausübung politischer Macht überlassen. Deswegen ist es erforderlich, die Stellung der Normenkontrolle im Gefüge der Staatsfunktionen zu erörtern und auf dieser Grundlage eine Methode zu entwikkeln, die als Leitfaden und Kontrollinstrument für die bei der Normenkontrolle zu leistende Verfassungsinterpretation dienen könnte. Sinne BVerfGE 16, 130 - Wahlkreiseinteilung; 21, 12 - Allphasenumsatzsteuergesetz; 25, 167 - Gleichstellung von unehelichen Kindern). 13 Ebsen, 353. 14 H.-P. Schneider VI, 408, bezüglich der Möglichkeit einer permanenten Allparteienregierung oder großen Koalition. 15 H.-P. Schneider, a.a.O. 16 Diese Überlegungen gelten auch als K r i t i k an Ebsen, der meint, daß eben wegen der Einhaltung dieser mittleren Linie, „daß Bundesverfassungsgericht seiner normativen Funktion als Regulator . . . weitgehend gerecht geworden ist." (Ebsen, 359).
Ausblick
Dabei ist davon auszugehen, daß die Normenkontrolle sowohl wegen ihrer Stellung im Grundgesetz als auch wegen ihrer Legitimationsstruktur und Funktionsweise dem Bereich der materiellen Funktion Rechtsprechung zuzuordnen ist. Ihre Grenzen sollten unter Berücksichtigung der Grundprinzipien der Verfassungsordnung des Grundgesetzes (Demokratie, Gewaltenteilung, Sozialstaat) gezogen werden. Daraus folgt, daß ein umfassender Verantwortungszusammenhang bezüglich der Ausübung richterlicher Interpretationsmacht herzustellen ist, was durch eine konsensorientierte 1 7 Methode der Verfassungsinterpretation bei der Normenkontrolle zu erreichen ist. Daraus folgt ferner, daß das Bundesverfassungsgericht vor allem dafür zu sorgen hat, daß der grundgesetzlich vorgesehene Prozeß demokratischer politischer Willensbildung intakt bleibt (Konsequenzen aus dem Demokratieprinzip). Bei der Verfassungsinterpretation ist eine Realanalyse der sozialen Situation vorzunehmen, um zu gesellschaftlich funktionsfähigen Lösungen zu gelangen und ferner dem Umstand Rechnung zu tragen, daß die vom Grundgesetz, insbesondere von den Grundrechten, gewährleistete Freiheit nicht nur die Beschränkung staatlicher Macht, sondern unter Umständen auch und gerade staatliches Eingreifen fordern kann, damit die Freiheit nicht nur fiktiv bleibt (Konsequenzen aus dem Sozialstaatsprinzip). Nichtsdestoweniger sollte aber die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle dem Gesetzgeber gegenüber primär eine abwehrende Rolle spielen und nicht als Weg benutzt werden, um ihm beliebige Handlungsaufträge zu erteilen (Konsequenz aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung). Allen diesen Anforderungen muß die Methode der Verfassungsinterpretation bei der Normenkontrolle genügen. Dies kann durch die Umformung des Methodenkanons besorgt werden. Demnach sind die Auslegungskriterien als Mittel zur Erkenntnis des methodisch relevanten Konsenses zu verstehen. Die grammatische Auslegung zielt auf die Erkenntnis des Sprachkonsenses über die Bedeutung grundgesetzlicher Begriffe. Die entstehungsgeschichtliche Auslegung zielt auf die Erkenntnis des im Parlamentarischen Rat herrschenden Konsenses über die Bedeutung jener Begriffe. Das historische Kriterium zielt ferner auf die Erkenntnis eines Konsenses, der in der Zeit vor Inkrafttreten des Grundgesetzes über Verfassungsbegriffe in Staatsrechtslehre und/oder Rechtsprechung bestand und der vom Grundgesetzgeber ausdrücklich oder stillschweigend zugrundegelegt wurde; das kann ebenfalls durch die Erörterungen im Parlamentarischen Rat 1 8 , oder
17 Und zwar eine an einem Konsens außerhalb der primären und sekundären Verfassungsinterpreten orientierte Methode, da sie gerade als Kontrollmittel gegenüber diesen Verfassungsinterpreten dienen soll. 18 Insofern stellt die historische Auslegung einen Sonderfall der entstehungsgeschichtlichen dar.
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Ausblick
gegebenenfalls auch durch Vergleich mit anderen Vorschriften des Grundgesetzes, belegt oder widerlegt werden. Das systematische Kriterium zielt nur mittelbar auf Konsenserkenntnis, da es von der teleologischen Auslegung abhängig ist: logisch-systematische Schlüsse müssen teleologisch begründet sein. Durch die teleologische Auslegung soll sichergestellt werden, daß die auszulegende Norm ihrer Aufgabe, nämlich die soziale Wirklichkeit zu regeln, gerecht wird. Dies setzt aber voraus, daß bei der Interpretation die tatsächlichen Verhältnisse berücksichtigt werden, um nicht zu lebensfremden, gesellschaftlich funktionsunfähigen Lösungen zu gelangen. Dazu müssen allgemeine Tatsachen (legislative facts) festgestellt und bewertet werden. Dieselben Tatsachen und eine bestimmte Bewertung von ihnen liegen aber in aller Regel auch der zu prüfenden gesetzlichen Vorschrift zugrunde. Es stellt sich also das Problem, wann der Verfassungsrichter die gesetzgeberischen Tatsachenannahmen zurückweisen und bei der teleologischen Auslegung von anderen Annahmen ausgehen darf. Die Frage wird durch das Normenkontrolldichtetheorem beantwortet: Insofern es sowohl am Maßstab des traditionellen Kerns der persönlichen Freiheitsrechte als auch am Maßstab von Verfassungsvorschriften, deren Bedeutung für die Aufrechterhaltung des demokratischen Prozesses politischer Willensbildung ausschlaggebend ist, kontrolliert wird (und zwar hinsichtlich ihrer Abwehrdimension), können die gesetzgeberischen Annahmen auch dann nicht akzeptiert werden, wenn an ihnen begründete Zweifel bestehen, wenn es also nicht in hohem Maße wahrscheinlich ist, daß diese gesetzgeberischen Annahmen zutreffen (Inhaltskontrolle). In den übrigen Fällen der Normenkontrolle können sie nur dann nicht akzeptiert werden, wenn sie mit hoher Wahrscheinlichkeit unzutreffend sind (Vertretbarkeitskontrolle) 19 . Ob die gesetzgeberischen Annahmen zutreffen oder nicht, soll bei speziellen Themen, die in aller Regel nur Gegenstand wissenschaftlicher Erörterungen sind, aufgrund des Konsenses der entsprechenden „scientific community" festgestellt werden. Dafür kann man auf die Fachliteratur zurückgreifen; es können vom Gericht auch Sachverständige angehört werden. Wenn aber kein allgemeiner Konsens, sondern lediglich eine vorherrschende Meinung oder wenn ein Dissens besteht, dann kommt es gerade darauf an, ob eine Inhalts- oder eine Vertretbarkeitskontrolle in Anspruch zu nehmen ist. Entsprechendes gilt, wenn es sich nicht um solche speziellen Themen, sondern um Themen von allgemeinem Interesse handelt. In diesem Fall bildet aber nicht nur die Fachwelt, sondern auch die öffentliche Meinung insgesamt die maßgebliche Instanz. Die Auffassungen der sozialen und politischen Kräfte (Parteien, Massenverbände usw.), die sich zum in Frage kommenden Thema geäußert 19 Diese ausdifferenzierte Ausgestaltung der teleologischen Auslegung entspricht den sich aus den Verfassungsprinzipien ergebenden Anforderungen.
Ausblick
haben, sind sämtlichst zu berücksichtigen. Das Bundesverfassungsgericht darf sich nicht eine dieser Auffassungen zu eigen machen und die anderen nicht zur Kenntnis nehmen 20 . Von Gewicht können ferner die empirischen Daten sein, sofern ihre Verwendung keine besonderen Fachkenntnisse voraussetzt, denn in diesem Fall wäre wiederum der Konsens der Fachleute maßgeblich. Ein empirisches Vorgehen bei der Festellung von „legislative facts" ist aber nicht immer möglich 21 . Im übrigen ergänzen sich die Auslegungskriterien (grammatisches, historisch-entstehungsgeschichtliches, logisch-systematisches, teleologisches Kriterium) gegenseitig, wobei jedem einzelnen Kriterium eine Grenzfunktion zukommt. Wenn bei Verwendung dieser Kriterien die Verfassungsinterpretation nicht ergibt, daß die geprüfte einfach-gesetzliche Vorschrift verfassungswidrig ist, dann bleibt kein Raum für richterliche Dezision übrig: Die Vorschrift muß als verfassungsmäßig anerkannt werden. Ein derartiges Modell der Verfassungsinterpretation bei der Normenkontrolle würde freilich die Spielräume des Bundesverfassungsgerichts und damit auch seinen politischen Einfluß erheblich einschränken. Ob dies von den verschiedenen Faktoren des politischen Lebens in der Bundesrepublik gewünscht wird und ob es politisch durchsetzbar ist, kann hier dahingestellt bleiben. Dieses Modell entspricht aber dem Grundgesetz sehr viel eher als die heutige, methodisch willkürliche Interpretationspraxis des Gerichts bei der Normenkontrolle.
20 Wie es dies beispielsweise beim Hochschulurteil getan hat, indem es ausschließlich die Auffassungen der reformgegnerischen Hochschullehrer seiner Interpretation zugrunde legte. 21 In dem von Philippi untersuchten Zeitraum (9.9:1951 bis 7.5.1969) waren nur 162 von insgesamt 269 Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts empirisch getroffen, d. h. etwa 60% (Philippi, 77).
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