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German Pages [415] Year 1992
Francisco J. Varela · Evan Thompson mit Eleanor Rosch
Der MittlereWeg der Erkenntnis Die Beziehung von Ich und Welt in der Kognitionswissenschaft der Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Theorie und menschlicher Edahrung
Scherz
1. Auflage 1992 Einzig berechtigte Übersetzung aus dem Amerikanischen von Hans Günter Holl, Redaktion: Adrian Leser. Titel der Originalausgabe «The Embodied Mind». Copyright© 1991 by Massachusetts Institute of Technology. Gesamtdeutsche Rechte beim Scherz Verlag, Bern, München, Wien. Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen, photomechanische Wiedergabe, Tonträger aller Art sowie durch auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten. Schutzumschlag von Zembsch' Werkstatt unter Verwendung eines Fotos von Image Bank.
Inhalt
Vorwort
9
Erster Teil: Die Ausgangsbasis 1. Die Zirkularität im Geist des Wissenschaftlers 2.
Wissenschaft und die verkörperte Erfahrung
19 33
Zweiter Teil: Varianten des Kognitivismus 3. Symbole - Die kognitivistische Hypothese 89
61
4. Das Ich als Auge des Wirbelsturms
Dritter Teil: Spielarten der Emergenz 5. Konnektivismus - Wie ein Netzwerk Eigenschaften hervortreten läßt 123 6. Der ichlose Geist 149
Vierter Teil: Schritte zu einem Mittleren Weg 7. Die kartesianische Angst 187 8. Inszenierung - Die verkörperte Kognition 205 9. Wegbereitende Evolution und natürliches Driften
253
Fünfter Teil: Welten ohne Grund 10.
11.
Der Mittlere Weg 295 Der Weg als Vollzug des Gebens
321
5
AnhangA: Meditationsterminologie
345
AnhangB: In der Achtsamkeit/Gewahrseins-Tradition verwendete Kategorien für Ereignisse der Erfahrung 347 AnhangC: Werke über den Buddhismus und seine Achtsamkeit/ Gewahrseins-Tradition 351 Danksagung 355 Anmerkungen 359 Literaturverzeichnis 385 Personenregister 405 Sachregister 407
6
Die Verfechter der Substanz sind wie Kühe, die Anhänger der Leere noch schlimmer. Saraha (ca. 9. Jh. n. Chr.)
Vorwort
Dieses Buch beginnt und endet mit der Überzeugung, daß die neuen Wissenschaften des Geistes ihren Horizont erweitern müssen, um sowohl die gelebte menschliche Erfahrung als auch die darin angelegten Möglichkeiten der Transformation erschließen zu können. Andererseits muß auch die alltägliche, gewöhnliche Erfahrung ihren Horizont erweitern, um die speziellen Einsichten und Analysen der Wissenschaften des Geistes nutzen zu können. Diese Möglichkeit des zirkulären Austausches zwischen den Wissenschaften des Geistes (der Kognitionswissenschaft) und der menschlichen Erfahrung wollen wir in diesem Buch erforschen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, hatte die Kognitionswissenschaft bisher fast nichts darüber zu sagen, was es bedeutet, sich als Mensch in alltäglichen Situationen zu bewegen. Andererseits müssen jene Überlieferungen, die sich auf die Analyse, das Verständnis und die Möglichkeiten einer Transformation des gewöhnlichen Lebens konzentriert haben, heute in einem Kontext dargestellt werden, der sie wissenschaftlichem Denken zugänglich macht. In diesem Buch möchten wir ein Forschungsprogramm fortsetzen, das der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty vor gut einer Generation begründet hat. 1 Fortsetzen bedeutet jedoch nicht, daß wir die Gedanken Merleau-Pontys im Kontext der heutigen Kqgnitionswissenschaft in akademischer Manier erörtern wollen. Wir möchten nur betonen, daß die Schriften Merleau-Pontys unseren Ansatz inspiriert und geprägt haben. 9
Vorwort
Wir teilen Merleau-Pontys Auffassung, daß die wissenschaftliche Kultur des Westens fordert, unseren Körper als eine physische und lebendige empirische Struktur aufzufassen - ihn als «äußere» und «innere», biologische und phänomenologische Struktur zu begreifen. Diese beiden Aspekte der Verkörperung bilden keinen Gegensatz. Vielmehr zirkulieren wir unablässig zwischen den beiden Polen. Merleau-Ponty erkannte, daß wir diese Kreisbewegung nur verstehen, wenn wir ihre Hauptachse genau untersuchen: die Verkörperung von Wissen, Erkenntnis und Erfahrung. Für ihn wie für uns bedeutet Verkörperung also zweierlei; sie umfaßt den Körper zum einen als lebendige, empirische Struktur und zum anderen als Kontext oder Milieu der Kognitionsmechanismen. Die Kognitionswissenschaft - ob als philosophische Reflexion oder praktische Forschung - hat Verkörperung praktisch nie in diesem Doppelsinn begriffen. Daher berufen wir uns auf MerleauPonty, um zu betonen, daß sich die Kreisbewegung zwischen Kognitionswissenschaft und menschlicher Erfahrung nur angemessen erforschen läßt, wenn der Doppelsinn von «Verkörperung» im Zentrum der Analyse steht. Das ist nicht primär ein philosophisches Postulat. Vielmehr behaupten wir, daß sowohl die Entwicklung der Kognitionswissenschaft als auch ihre Relevanz für das menschliche Leben eine bewußte Reflexion dieses Doppelsinnes von Verkörperung voraussetzt. Wir verstehen unser Buch als einen ersten Schritt in diese Richtung. Obwohl wir uns von Merleau-Ponty inspirieren lassen, erkennen wir die große historische Differenz zwischen seiner und unserer Zeit. Diese Differenz liegt sowohl in der Wissenschaft selbst als auch in der menschlichen Erfahrung begründet. Als Merleau-Ponty - in den vierziger und fünfziger Jahren - seine Werke schrieb, waren die potentiellen Wissenschaften des Geistes in getrennten Disziplinen isoliert: Neurologie, Psychoanalyse und behavioristische Experimentalpsychologie. Heute entsteht ein neuer, interdisziplinärer Nährboden namens Kognitionswissenschaft, der nicht IO
Vorwort
nur die Hirnforschung, sondern auch die Kognitionspsychologie, die Linguistik, die Künstliche Intelligenz und interessanterweisein vielen Forschungszentren auch die Philosophie umfaßt. Zudem wurde ein Großteil der Kognitionstechnik, die inzwischen vor allem exemplifiziert durch digitale Computer - eine bedeutende Rolle für die zeitgenössische Wissenschaft des Geistes spielt, erst in den letzten vierzig Jahren entwickelt. Außerdem untersuchte Merleau-Ponty die Lebenswelt der menschlichen Erfahrung aus philosophisch-phänomenologischer Sicht. Heute knüpfen viele Denker direkt an die Phänomenologie an. In Frankreich setzen Autoren wie Michel Foucault, Jacques Derrida und Pierre Bourdieu die Tradition Heideggers und Merleau-Pontys fort. 2 In Nordamerika gilt Hubert Dreyfus seit langem als die heideggerianische Natter am Busen der Kognitionswissenschaft', jetzt in seiner Kritik von anderen unterstützt, die Verbindungen zu unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen herstellen: Terry Winograd, Fernando Flores4, Gordon Globus 5 und John Haugeland 6 • Daneben hat D. Sudnow die Phänomenologie jüngst bei seinen Improvisationsstudien als Ethnomethodologie verwendet. 7 Schließlich prägte die Phänomenologie auch eine Tradition der klinischen Psychologie.8 Diese Ansätze bleiben jedoch den Methoden ihrer Mutterdisziplinen verbunden dem logischen Vorgehen der Philosophie, der deutenden Geschichts- und Gesellschaftsanalyse sowie der Behandlung von Patienten in der Therapie. Trotz dieser Strömungen ist die Phänomenologie - besondes in Nordamerika, wo ein Großteil der Kognitionsforschung getrieben wird - nach wie vor relativ wirkungslos. Wir meinen, die Zeit sei nun reif dafür, Merleau-Pontys Ideen mit einer ganz neuen Methode anzuwenden. In diesem Buch führen wir daher MerleauPontys Grundidee der doppelten Verkörperung in aktualisierter Form weiter. Vor welchen Herausforderungen steht die menschliche Erfahrung, wenn wir den Geist wissenschaftlich erforschen? Das existenII
Vorwort
tielle Anliegen, das dieses ganze Buch durchzieht, resultiert daraus, daß die Kognitionswissenschaft uns deutlich vor Augen geführt hat, wie zutiefst fragmentiert, gespalten oder uneinheitlich das Ich oder Kognitionssubjekt ist. Zwar ist diese Erkenntnis für die westliche Kultur nichts Neues, denn spätestens seit Nietzsche haben viele Philosophen, Psychiater und Sozialwissenschaftler unseren überkommenen Begriff des Ich oder des Subjekts als Epizentrum des Wissens, des Erkennens, der Erfahrung und des Handelns kritisiert. Aber das Eindringen dieses Themas in die Naturwissenschaft markiert einen bedeutenden Einschnitt, da ihr in unserer Kultur viel mehr Autorität zugesprochen wird als anderen Praktiken und Institutionen. Außerdem setzt die Naturwissenschaft - wiederum anders als sonstige Praktiken und Institutionen - ihr Verständnis in technische Artefakte um. Im Fall der Kognitionswissenschaft sind diese Artefakte zunehmend anspruchsvolle Denkmaschinen und Automaten, die unseren Alltag möglicherweise stärker verändern werden, als das philosophische Bücher, Gedanken von Sozialwissenschaftlern oder therapeutische Analysen der Psychiater bisher getan haben. Dieses zentrale, grundlegende Thema - der Status des Ich oder des Kognitionssubjekts - ließe sich natürlich als ein Problem von bloß wissenschaftlichem Interesse abtun. Es rührt jedoch direkt an unser Leben und Selbstverständnis. Daher überrascht es nicht, daß die wenigen ihm gewidmeten Bücher - etwa Einsicht ins Ich von Hofstadter/Dennett oder Sherry Turkles Die Wunschmaschine sehr gut beim Publikum ankommen. 9 Im akademischen Bereich wurde die Kreisbewegung zwischen Wissenschaft und Erfahrung in Untersuchungen über «Jedermanns-Psychologien» oder zur «Gesprächsanalyse» erörtert. Ein noch systematischerer Versuch, die Beziehung zwischen Wissenschaft und Erfahrung zu klären, findet sich in Ray Jackendoffs Buch Consciousness and the Computational Mind, wo er die Erfahrung bewußter Wahrnehmung rechnerisch begründen will. 12
Vorwort
Wir teilen die Fragestellungen dieser Werke, aber nicht ihre Methoden und Antworten. Der heutige Forschungsstil ist aus unserer Sicht theoretisch und empirisch zu begrenzt und daher unbefriedigend, weil es hier in Ergänzung zur wissenschaftlichen Analyse keinen direkten, praktisch-pragmatischen Zugang zur Erfahrung mehr gibt. Daher werden sowohl die spontanen als auch die reflektierten Aspekte der menschlichen Erfahrung fast nur in flüchtiger, faktischer Manier behandelt, was kaum zur Tiefe und Komplexität der wissenschaftlichen Analysen paßt. Wie wollen wir diese Schwäche beheben? Weit zurückreichende Erfahrungen aus verschiedenen Kulturen beweisen, daß man die Erfahrung diszipliniert untersuchen kann, wobei sich die entsprechenden Fertigkeiten im Laufe der Untersuchung immer weiter verfeinern lassen. Wir beziehen uns dabei auf Erfahrungen, die in einer Tradition gesammelt wurden, die im Westen leider noch viel zu unbekannt ist - die buddhistische Tradition meditativer Übung und pragmatisch orientierter philosophischer Forschung. Obwohl sie dem westlichen Menschen weniger vertraut ist als andere pragmatische Untersuchungsmethoden, etwa die Psychoanalyse, spielt die buddhistische Tradition in unserem Kontext eine sehr wichtige Rolle, weil das Konzept einer uneinheitlichen oder dezentralen Kognitionsinstanz (gewöhnlich spricht man in diesem Zusammenhang von Selbst- oder Ichlosigkeit) den Grundstein der buddhistischen Lehre bildet. Zudem ist dieses Konzept - auch wenn es in den philosophischen Diskurs der buddhistischen Tradition eingegangen ist - prinzipiell Ausdruck der direkten Erfahrung von Meditierenden, die in ihrem täglichen Leben ein hohes Maß an Aufmerksamkeit oder «Achtsamkeit» erreichen. Daher regen wir an, eine Brücke zwischen dem Geist in der Wissenschaft und dem Geist in der Erfahrung zu schlagen, indem wir einen Dialog zwischen diesen beiden Traditionen - der westlichen Kognitionswissenschaft und der buddhistischen Meditationspsychologie - ausformulieren. Wir möchten hervorheben, daß wir mit diesem Buch in erster 13
Vorwort
Linie pragmatische Ziele verfolgen. Weder schwebt uns eine großartige, einheitliche - wissenschaftliche oder philosophische - Theorie zur Beziehung zwischen Körper und Geist vor, noch streben wir eine vergleichende Abhandlung an. Vielmehr möchten wir einen Raum von Möglichkeiten eröffnen, in dem der Kreislauf zwischen Kognitionswissenschaft und menschlicher Erfahrung begreifbar wird und die Wege der Transformation menschlicher Erfahrung in unserer wissenschaftlich-technischen Kultur gestärkt werden. Diese pragmatische Orientierung verbindet die beiden kulturellen Ansätze unseres Buches: Die Wissenschaft schreitet voran, weil sie pragmatisch an die Erscheinungswelt gebunden bleibt und daraus ihre Geltung ableitet. Die überlieferten Meditationspraktiken profitieren, weil sie auf systematische und disziplinierte Weise in die heutige menschliche Erfahrung eingebunden werden; die Geltung dieser Tradition resultiert daraus, daß sie unsere Lebenserfahrung und unser Selbstverständnis fortschreitend weiterentwickeln kann. Bei der Arbeit an diesem Buch haben wir eine Abstraktionsebene angestrebt, die unterschiedlichen Leserschichten zugänglich sein soll. Wir richten uns also nicht nur an praktizierende Kognitionsforscher, sondern auch an gebildete Laien mit einem allgemeinen Interesse am Dialog zwischen Wissenschaft und Erfahrung sowie an jene, die sich für buddhistisches oder vergleichendes Denken interessieren. Infolgedessen könnten Angehörige dieser unterschiedlichen (und, wie wir hoffen, sich überschneidenden) Leserkreise gelegentlich wünschen, wir hätten wissenschaftliche, philosophische oder vergleichende Probleme hier und da genauer ausgeführt. Zwar haben wir versucht, einige dieser Aspekte zu berücksichtigen, unsere Kommentare jedoch in Fußnoten oder Anmerkungen verbannt, um den Lesefluß nicht zu stören. Nachdem wir nun unser zentrales Thema vorgestellt haben, möchten wir vorab die Entwicklung unseres Buches in seinen fünf Teilen skizzieren:
Vorwort
0 Der erste Teil führt die beiden Partner des angestrebten Dialogs ein. Dabei definieren wir, was unter «Kognitionswissenschaft» und «menschlicher Erfahrung» zu verstehen ist; außerdem markieren wir die einzelnen Schritte des geplanten Dialogs. 0 Der zweite Teil präsentiert das Rechenmodell des Geistes, auf dem die Kognitionswissenschaft in ihrer klassischen Form (des Kognitivismus) beruht. Hier zeigen wir, wie die Kognitionswissenschaft die Uneinheitlichkeit des Kognitionssubjekts aufdeckt und daß die fortschreitende Einsicht in die Uneinheitlichkeit des Ich den Grundstein der buddhistischen Meditationspraxis und ihrer psychologischen Ausformulierung darstellt. 0 Im dritten Teil untersuchen wir, wie Phänomene, die gewöhnlich einem Ich zugeschrieben werden, ohne ein wirkliches Ich entstehen können. Innerhalb der Kognitionswissenschaft, besonders in konnektivistischen Modellen, geht es in diesem Zusammenhang um Begriffe wie Selbstorganisation und die emergenten (in Erscheinung tretenden) Eigenschaften kognitiver Prozesse, in der buddhistischen Psychologie das In-Erscheinung-Treten der Struktur mentaler Faktoren in einem Moment der Erfahrung und um die Emergenz des karmischen Kausalitätsmusters in der Zeit. 0 Im vierten Teil gehen wir einen Schritt weiter und stellen einen neuen Ansatz der Kognitionswissenschaft dar. Im Rahmen dieser neuen Methode benutzen wir den Begriff des Inszenierens. Mit diesem Programm soll eine - in der Kognitionswissenschaft vorherrschende - Annahme in Frage gestellt werden, nach der Kognition bedeutet, daß ein unabhängig von der Welt existierendes System eine Welt repräsentiert, die unabhängig von seinen Wahrnehmungs- und Kognitionsfähigkeiten besteht. Demgegenüber sehen wir die Kognition als verkörpertes Handeln und greifen damit erneut auf die oben erwähnte Idee der Verkörperung zurück. Außerdem stellen wir diese Sicht der Kognition in den Kontext der Evolutionstheorie und argumentieren, daß
Vorwort
Evolution nicht auf optimaler Anpassung basiert, sondern auf natürlichem Driften. Diesen vierten Schritt begreifen wir als unseren wichtigsten Beitrag zur modernen Kognitionsforschung. 0 Der fünfte Teil kreist um die philosophischen und empirischen Konsequenzen der Inszenierungsthese, wonach die Kognition nur ihre eigene Geschichte der Verkörperung als Basis oder Grundlage hat. Diese Konsequenzen stellen wir zunächst in den Kontext der zeitgenössischen westlichen Kritik am Objektivismus und an der Substanzmetaphysik. Dann präsentieren wir das vielleicht radikalste substanzkritische Denken der Geschichte, die Mä.dhyamika-Schule des Mahä.yä.na-Buddhismus, auf deren Einsichten sich alle wichtigen Gedanken des späteren Buddhismus stützen. Wir beschließen unsere Erörterung mit einigen ethischen Maximen, die aus dem Denkweg dieses Buches folgen. Der fünfte Teil dürfte unser bedeutendster Beitrag zum allgemeinen kulturellen Kontext sein. Diese fünf Teile sollen einen fortlaufenden Dialog darstellen, in dem wir Erfahrung und Geist in einem weiten Kontext untersuchen, der sowohl die meditative Aufmerksamkeit in der alltäglichen Erfahrung als auch die wissenschaftliche Untersuchung des Geistes in der Natur umfaßt. Letzten Endes ist dieser Dialog von einer Sorge motiviert: Wird die Relevanz der alltäglichen Erfahrung mißachtet, könnte die mächtige, hochentwickelte Kognitionswissenschaft unserer Zeit eine gespaltene wissenschaftliche Kultur hervorbringen, in der zwischen unseren theoretischen Auffassungen vom Leben und vom Geist sowie dem alltäglich gelebten Selbstverständnis eine nicht mehr überbrückbare Kluft läge. Wir meinen also, daß die erörterten Probleme zwar wissenschaftlich-technischer Natur sind, sich aber nicht von wesentlichen ethischen Belangen ablösen lassen, die uns zwingen, die Würde des menschlichen Lebens in einem neuen Sinne zu verstehen.
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Erster Teil:
Die Ausgangsbasis
1.
Die Zirkularitätim Geist des Wissenschaftlers
Phänomenologisch orientierte Kognitionsforscher, die über den Ursprung der Kognition nachdenken, könnten folgendermaßen argumentieren: Der menschliche Geist erwacht in einer Welt. Wir haben unsere Welt nicht entworfen, sondern fanden uns damit vor; wir erwachten nicht nur zu uns selbst, sondern auch zu der Welt, in der wir leben. Wachsend und lebend, reflektieren wir schließlich über eine Welt, die nicht geschaffen, sondern vorgefunden ist, und doch befähigt uns auch unsere Struktur, über diese Welt nachzudenken. In der Reflexion finden wir uns also in einem Zirkel: Wir leben in einer Welt, die der Reflexion vorauszugehen scheint, aber nicht von uns getrennt ist. Dem französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty eröffnete die Anerkennung dieses Zirkels einen Raum zwischen Ich und Welt, zwischen Innen und Außen. Dieser Raum war keine trennende Kluft; er umfaßte die Unterscheidung zwischen Ich und Welt, stellte jedoch gleichzeitig die Kontinuität beider her. Seine Offenheit enthüllte einen Mittleren Weg, ein entre-deux. Im Vorwort zur Phänomenologie der Wahrnehmung schrieb MerleauPonty: Beginne ich einmal zu reflektieren, bezieht sich meine Reflexion auf eine unreflektierte Erfahrung und kann sich darüber hinaus nicht als ein Ereignis verkennen. Und so erscheint sie sich selbst als wahrhaft kreativer Akt, als Wandlung in der Struktur des
Die Ausgangsbasis
Bewußtseins, und muß doch anerkennen, daß die Welt, die dem Subjekt damit gegeben ist, daß es sich selbst gegeben ist, Vorrang vor ihren Operationen hat ... Wahrnehmung ist nicht Wissenschaft von der Welt, ist nicht einmal ein Akt, eine wohlerwogene Stellungnahme; sie ist der Hintergrund, von dem sich alle Akte abheben und den sie voraussetzen: Die Welt ist nicht ein Objekt in dem Sinne, daß das Gesetz ihrer Schöpfung mein Besitz wäre; sie ist die natürliche Szene und das Feld für alle meine Gedanken und meine deutlichen Wahrnehmungen. 1 Gegen Ende des Buches heißt es: «Die Welt ist unabtrennbar vom Subjekt, von einem Subjekt jedoch, das selbst nichts anderes ist als ein Entwurf der Welt, und das Subjekt ist untrennbar von der Welt, doch von einer Welt, die es selbst entwirft.,/ Die Naturwissenschaften (und die Philosophie) lassen den möglichen Gehalt eines solchen entre-deux oder Mittleren Weges meist außer acht. Dafür könnte man Merleau-Ponty mitverantwortlich machen, denn zumindest in seiner Phänomenologie betrachtete er die Naturwissenschaft als primär unreflektiert, da sie Geist und Bewußtsein naiv voraussetzte. Dies ist tatsächlich eine der extremen Haltungen, die man in der Naturwissenschaft einnehmen kann. Der Beobachter, der Physikern im 19. Jahrhundert vorschwebte, wird oft als körperloses Auge mit objektivem Blick auf das Spiel der Phänomene dargestellt. Man könnte ihn auch mit einem Kognitionsagenten vergleichen, der am Fallschirm auf der Erde abgesetzt wird und diese als unbekannte objektive Realität kartographieren soll. Die Kritik an dieser Position kann jedoch leicht ins andere Extrem umschlagen. Zum Beispiel wird die Unschärferelation der Quantenmechanik häufig verwendet, um eine Art Subjektivismus zu vertreten, worin der Geist aus eigener Kraft die Welt «konstruiert». Besinnen wir uns aber auf uns selbst, um unsere Kognition wissenschaftlich zu erforschen, ist keine dieser Positionen (körperloser Beobachter oder weltloser Geist) angemessen. 20
Die Zirkularität im Geist des Wissenschaftlers
Diese Frage werden wir später detailliert erörtern. Zunächst geht es jedoch speziell um die Wissenschaft, in der die genannte Wende vollzogen wurde. Wie ist diese neue Disziplin beschaffen?
Was ist Kognitionswissenschaft? Im weitesten Sinne besagt der Terminus Kognitionswissenschaft, daß die Erforschung des Geistes an sich ein lohnendes wissenschaftliches Unterfangen darstellt. 3 Derzeit ist die Kognitionswissenschaft noch nicht als reife Disziplin etabliert. Weder besteht ein klarer Konsens über ihre Ziele, noch gibt es eine breite Forschergemeinschaft, wie etwa im Fall der Atomphysik oder Molekularbiologie. Heute bildet die Kognitionswissenschaft eher eine lockere Verbindung mehrerer Disziplinen als eine eigenständige Disziplin. Interessanterweise nimmt die Künstliche Intelligenz einen wichtigen Pol ein - das Computermodell des Geistes spielt also eine wichtige Rolle. Als die weiteren Disziplinen gelten meist Linguistik, Hirnforschung, Psychologie, manchmal auch Anthropologie, und die Philosophie des Geistes. Jede dieser Disziplinen beantwortet die Frage nach dem Wesen des Geistes oder der Kognition eigenständig und hebt damit ihre jeweiligen Interessenschwerpunkte hervor. Daher erscheint die Zukunft der Kognitionswissenschaft noch völlig ungewiß, auch wenn ihre bisherigen Resultate schon große Wirkung zeigen und diese Entwicklung anhalten dürfte. Von Alexandre Koyre bis Thomas Kuhn haben moderne Historiker und Philosophen argumentiert, daß sich die wissenschaftliche Phantasie von einer Epoche zur anderen grundlegend verändert und daß die Geschichte der Wissenschaft eher an einen phantastischen Roman als an eine lineare Progression erinnert. Es gibt, mit anderen Worten, eine menschliche Geschichte der Natur, die sich ganz unterschiedlich erzählen läßt. Parallel dazu verläuft eine Geschichte der Ideen über die menschliche Selbsterkenntnis man denke etwa 21
Die Ausgangsbasis
an die griechische Physik und die sokratische Methode oder an Montaignes Essays und die Frühphase der französischen Naturwissenschaften. Im Westen muß diese Geschichte der Selbsterkenntnis erst noch genau erforscht werden. Gleichwohl kann man sagen, daß es schon immer Vorläufer dessen gab, was wir heute Kognitionswissenschaft nennen, da der menschliche Geist das beste und vertrauteste Beispiel für Kognition und Wissen liefert. In dieser parallelen Geschichte von Geist und Natur könnte die aktuelle Phase der Kognitionswissenschaft eine besondere Mutation darstellen. Derzeit erkennt die Wissenschaft (d. h. die Gemeinschaft der Wissenschaftler, die definiert, was Wissenschaft zu sein hat) nicht nur, daß die Untersuchung des Erkennens selbst zulässig ist, sondern faßt Erkenntnis auch interdisziplinär auf und überschreitet damit die traditionellen Grenzen der Erkenntnistheorie und der Psychologie. Diese Mutation, kaum mehr als dreißig Jahre alt, vollzog sich mit dem «kognitivistischen» Programm (das wir später erörtern) auf spektakuläre Weise, ähnlich wie erst das darwinistische Programm die wissenschaftliche Erforschung der Evolution einleitete, obwohl sich schon andere Denker zuvor damit befaßt hatten. Außerdem wurde Erkenntnis durch diese Mutation unlösbar mit einer Technik verbunden, die alle ihre gesellschaftlich-praktischen Voraussetzungen verändern - dafür ist die Künstliche Intelligenz das augenfälligste Beispiel. Die Technik wirkt uhter anderem als Verstärker. Man kann die Kognitionswissenschaft nicht von der Kognitionstechnik trennen, ohne jedem der beiden Bereiche sein konstitutives Gegenstück zu rauben. Mit der Technik hält die wissenschaftliche Erforschung des Geistes der Gesellschaft auf bisher beispiellose Weise einen Spiegel vor; damit verläßt sie die Sphäre des Philosophen, des Psychologen, des Therapeuten oder irgendeines Individuums, das nach Einsicht in seine Erfahrung strebt. Der Spiegel offenbart, daß die westliche Welt in ihrem Alltag erstmals mit Fragen folgender Art konfrontiert wird: Besteht Gei22
Die Zirkularität im Geist des Wissenschaftlers
stestätigkeit in der Verarbeitung von Symbolen? Können Maschinen Sprache verstehen? Solche Fragen berühren das Leben der Menschen unmittelbar, sind also nicht bloß theoretischer Natur. Es überrascht deshalb nicht, daß die Medien ständig über neue Entwicklungen der Kognitionswissenschaft und damit verwandte Techniken berichten, und daß die Künstliche Intelligenz durch Computerspiele und Science-fiction großen Einfluß auf die Jugend nimmt. Dieses öffentliche Interesse zeugt von einem tiefgreifenden Bewußtseinswandel: Der Mensch hatte jahrtausendelang ein spontanes Verständnis seiner Erfahrung, ein Verständnis, das in den größeren Kontext der jeweiligen Zeit und Kultur eingebettet war und von diesem genährt wurde. Heute ist dieses spontane Jedermanns~Selbstverständnis jedoch unlösbar mit der Wissenschaft verbunden und wird daher durch wissenschaftliche Konstruktion verändert. Viele beklagen diese Entwicklung, andere genießen sie. Unleugbar ist nur, daß sie stattfindet, sich beschleunigt und immer tiefer dringt. Wir alle spüren, daß der kreative Austausch zwischen Forschern, Technikern und Öffentlichkeit das menschliche Bewußtsein tiefgreifend zu verändern vermag. Wir sehen darin eine faszinierende Möglichkeit, eines der interessantesten, für alle zugänglichen Abenteuer. Mit diesem Buch möchten wir einen (hoffentlich) sinnvollen Beitrag zu diesem geistigen Wandel leisten. Im folgenden betonen wir immer wieder, daß es in der Kognitionswissenschaft sehr unterschiedliche Ansätze gibt. Aus unserer Sicht ist die Kognitionswissenschaft kein monolithisches Feld, hat aber - wie alle gesellschaftlichen Bereiche - gewisse Machtpole, so daß sich die einzelnen Stimmen im Lauf der Zeit unterschiedlich stark durchsetzen können. Dieser gesellschaftliche Aspekt der Kognitionswissenschaft ist sehr auffällig, denn die «kognitive Revolution» der vergangenen vier Jahrzehnte war, besonders in den USA, nachhaltig durch bestimmte Forschungslinien und Finanzierungsstrategien beeinflußt. 23
Die Ausgangsbasis
Gleichwohl möchten wir im folgenden die.Vielfalt betonen. Wir regen an, die bisherige Geschichte der Kognitionswissenschaft in drei Phasen zu unterteilen, mit denen wir uns im zweiten, dritten und vierten Teil genauer befassen wollen. Um die Orientierung zu erleichtern, geben wir bereits hier einen kurzen Überblick. Wir stellen die Phasen in Form einer «polaren» Karte mit drei konzentrischen Kreisen dar (Abbildung r.r), worin sie der Bewegung vom Zentrum zur Peripherie entsprechen. Jeder der Ringe markiert eine wichtige Veränderung im theoretischen Gerüst der Kognitionswissenschaft, deren wichtigste Disziplinen wir im äußeren Umkreis aufführen. Dadurch haben wir ein grobes Begriffsraster, in dem die Namen verschiedener Forscher stehen, deren Arbeit repräsentativ ist und die im folgenden häufig erwähnt werden. Im zweiten Teil des Buches behandeln wir zuerst das Zentrum oder den Kern der Kognitionswissenschaft, meist als Kognitivismus bezeichnet. 4 Als wichtigstes Instrument und zentrale Metapher des Kognitivismus dient der digitale Computer. Der Computer ist ein Gerät, welches so konstruiert ist, daß man bestimmte der darin ablaufenden Vorgänge als Rechenvorgänge deuten kann. Diese Rechenvorgänge basieren auf Symbolen, also Elementen, die etwas repräsentieren. (Zum Beispiel repräsentiert das Symbol «7» die Zahl 7.) Vereinfachend können wir sagen: Der Kognitivismus beruht auf der Hypothese, daß Kognition - auch die menschliche - aus einer Syinbolverarbeitung wie im digitalen Computer besteht. Demnach wäre Kognition mentale Repräsentation: Der Geist verarbeitet Symbole, die Eigenschaften der Welt oder die ganze Welt in einer bestimmten Weise repräsentieren. Nach dieser Hypothese bildet die Untersuchung der Kognition als mentale Repräsentation den Kernbereich der Kognitionswissenschaft, einen Bereich, in dem sie von der Neurobiologie einerseits, aber auch von der Soziologie und Anthropologie andererseits unabhängig sein soll. Der Kognitivismus ist ein wohldefiniertes Forschungsprogramm mit angesehenen Institutionen und Zeitschriften, angewandten
Die Zirkularität im Geist des Wissenschaftlers Künstliche Intelligenz
Neurologie Linguistik
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Kognitions psychologie
Emergenz
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